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German Pages 290 Year 2014
Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III
Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III Deduktion oder Faktum?
Herausgegeben von Heiko Puls
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-036028-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036589-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038627-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Deduktion oder Faktum? Kants Freiheitstheorie im dritten Abschnitt der Grundlegung VII Ein Geleitwort von Birgit Recki (Hamburg) Vorwort
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Dieter Schönecker (Siegen) Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente
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Heiko Puls (Hamburg) Quo errat demonstrator – warum es in der Grundlegung eine Faktum-These gibt. 15 Drei Argumente gegen Dieter Schöneckers Interpretation Dieter Schönecker (Siegen) Quare errat disceptator. Eine Erwiderung auf Heiko Puls
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Heiko Puls (Hamburg) Quare errat disceptator? Eine Erwiderung auf Dieter Schöneckers Replik
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Heiner F. Klemme (Halle-Wittenberg) Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung (und seine Kritik an Christian Garves Antithetik von 59 Freiheit und Notwendigkeit) Stephan Zimmermann (Bonn) Faktum statt Deduktion. Kants Lehre von der praktischen Selbstrechtfertigung 103 des Sittengesetzes Bernhard Milz (Bochum) Kants Deduktion des kategorischen Imperativs in entwicklungsgeschichtlicher 133 Perspektive Ina Goy (Tübingen) Die Deduktion des Sittengesetzes in den Jahren 1785, 1788 und 1788 – 90 und 167 der Wandel in Kants Naturbegriff
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Inhalt
Jochen Bojanowski (Groningen und Mannheim) 189 Kants Disjunktivismus in GMS 446 f. Manfred Baum (Wuppertal) Sittengesetz und Freiheit. Kant 1785 und 1788
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Bernd Ludwig (Göttingen) Die Freiheit des Willens und die Freiheit zum Bösen. Inhaltliche Inversionen und terminologische Ausdifferenzierungen in Kants Moralphilosophie zwischen 227 1781 und 1797 Sachregister Personenregister
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Deduktion oder Faktum? Kants Freiheitstheorie im dritten Abschnitt der Grundlegung Ein Geleitwort von Birgit Recki (Hamburg) Der vorliegende Band, einer der wichtigsten Stationen in der Genese der kantischen Freiheitstheorie gewidmet, ist hervorgegangen aus einer Expertentagung am 11. und 12. Oktober 2012 im Hamburger Warburg-Haus. Als Mitveranstalterin war es mir eine besondere Freude, die Vortragenden im historischen Lesesaal des 1926 von Aby Warburg als Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) eingerichteten Hauses willkommen heißen zu dürfen – zudem bei freundlichem Himmel, sodass die beiden Veranstalter sich nicht gleich bemüßigt fühlen mussten, ihre Gäste für „Hamburger Wetter“ um Entschuldigung zu bitten. Zwar ist die kantische Philosophie, so hat es meine Hamburger Kollegin Dorothea Frede in ihrem Festvortrag bei einer Examensfeier im Lesesaal der KBW einmal gültig formuliert, durch die starke Normativität ihrer Ethik eine „Allwetterphilosophie“:¹ Der Kantianer hat einen starken Begriff gleichermaßen von Pflicht wie von Autonomie, die ihn jeglicher Wetterlage wenn nicht heiter, so zumindest unbeeindruckt entgegentreten lassen. In der Einschätzung als Allwetterphilosophie ist auch in wünschenswerter Weise dem Missverständnis vorgebeugt, dass wir auf schlechtes Wetter geradezu Wert legten, es womöglich für das autonome Handeln brauchten. Askese ist eine „Mönchstugend“, auf die Mitteilung dieser Einsicht legt Kant Wert,² und gibt damit in exemplarischer Abbreviatur etwas zu erkennen, das von misstrauischen und oberflächlichen Kant-Lesern immer wieder verkannt worden ist: Die Unterdrückung der sinnlichen Neigungen ist nicht das Kriterium moralischen Handelns.³ Die Hamburger Expertentagung „Deduktion oder Faktum? Kants Begründung von Freiheit und Moralität im dritten Abschnitt der
Dorothea Frede: „Vom Nutzen und Nachteil der Philosophiehistorie für das Leben. Festvortrag bei der Examensfeier des Philosophischen Seminars 2006“ (unveröffentlichtes Manuskript). Immanuel Kant: Eine Vorlesung über Ethik. Hrsg. von Gerd Gerhardt. Frankfurt am Main 1990; vgl. ders.: Moralphilosophie Collins, Akademie-Ausgabe Bd. XXVII, S. 393. Siehe insbesondere Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Erster Abschnitt (1785), Akademie-Ausgabe Bd. IV, S. 395 ff.; ders.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 26 f.; S. 34 f. – Vgl. Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glücks. Berlin, New York 2003; Birgit Recki: „Kant über das Glück“. In: Ozren Zunec und Petar Segedin (Hrsg.): Zblizavanja [„Annäherungen“]. Festschrift für Damir Barbaric. Zagreb 2012, S. 103 – 121.
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Grundlegung“ durfte entsprechend ohne Risiko einer Entgegensetzung zum Geist ihres Referenzautors unter den freundlichen und komfortablen Bedingungen des Hauses stattfinden. Zu den freundlichen, komfortablen und anregenden Bedingungen des Hauses gehört auch die architektonische Situation, die ausdrücklich dafür geschaffen ist, dass man sich hier an Freiheit erinnert sieht und über Freiheit nachdenkt. Aby Warburg hatte bei der Einrichtung seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek 1926 mit Bedacht der Decke des Lesesaales die Form der Ellipse gegeben und ihr das elliptische Oberlicht einsetzen lassen, das diesem Raum sein auffälliges und gefälliges Format gibt. Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg war mit ihren 60 000 Bänden der Erforschung des Nachlebens der Antike gewidmet,⁴ insbesondere der Renaissance. Für die Denker der Renaissance war die von Johannes Kepler 1605 entdeckte, 1609 veröffentlichte elliptische Form von Planetenumlaufbahnen ein Zeichen dafür, dass es Freiheit im Kosmos gäbe,⁵ und Aby Warburg hat sich – durch den befreundeten Philosophen Ernst Cassirer darin ausdrücklich bestätigt – für die Ellipse entschieden, um diese kosmologische Freiheitsidee der Renaissance im Bewusstsein zu halten. Für die in der Forschungstradition Aby Warburgs stehenden Kunsthistoriker und für die Cassirer-Forscher, die sich, seitdem die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle für die Edition der zu Lebzeiten veröffentlichten Gesammelten Werke Cassirers zwischen 1997 und 2009 im Warburg-Haus ihre Arbeitsräume hatte,⁶ hier mit einiger Regelmäßigkeit versammeln, gehört dieses schöne symbolische Detail der Architektur inzwischen zu den Selbstverständlichkeiten des Biotops. Bei allen anderen Gästen darf man dies nicht voraussetzen. Bei einer Expertentagung über Kants Freiheitsbegriff sollte es allein deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil Kant in seiner dritten Kritik in der Spekulation auf eine zweckmäßige Natur, eine Natur mithin, deren Formen wenigstens in reflektierenden Urteilen ein Zwecke setzender Wille unterlegt werden darf, einen Gedanken entwickelt, der auf die Vorstellung von Freiheit in der Natur hinausläuft. Unter der Voraussetzung seiner Explikation zur Zweckbestimmung, dass wir „ein Object, oder Gemüthszustand, oder eine Handlung auch“ nur deshalb als zweckmäßig bezeichnen, „weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Causalität nach
Siehe dazu Martin Warnke: „Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm“. In: Michael Diers (Hrsg.): Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London. Hamburg 1993, S. 29 – 34. Siehe Johannes Kepler: Astronomia Nova: Neue, ursächlich begründete Astronomie. Hrsg. und eingeleitet von Fritz Krafft (Bibliothek des verlorengegangenen Wissens). 2005. Ernst Cassirer: Gesammelte Werke in 25 Bänden. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Birgit Recki. Hamburg 1998 – 2007 [ECW].
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Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen“⁷, haben wir seine Reflexionsmaxime, die Natur so zu denken, als ob sie zweckmäßig sei, so zu verstehen, dass wir die Natur so zu denken hätten, als ob in ihr Freiheit am Werke sei. ⁸ Die kosmologische Freiheitsidee der Renaissance scheint hier auf dem Niveau eines kritisch reflektierten Naturbegriffs aufgehoben. Für Ernst Cassirer war das Werk Kants nicht allein in seinen erkenntniskritischen und wissenschaftstheoretischen Grundlegungsgedanken maßgeblich: im Kritizismus der Methode, in der Kopernikanischen Wende, dem Transzendentalismus, den Funktionsbegriffen einer tätigen und produktiven Vernunft; insbesondere die Erträge der dritten Kritik bilden den methodischen Nukleus seiner eigenen Philosophie der symbolischen Formen, seiner Philosophie der Kultur, die er als eine Theorie der Freiheit entwickelt⁹ und damit den kantischen Reflexionsgedanken der dritten Kritik als Modell aufnimmt. Der damit skizzierte Zusammenhang bildet den spekulativen Horizont der Frage, um die es an den beiden Tagen im Oktober 2012 im Hamburger WarburgHaus ging. Die Erweiterung der Freiheitstheorie im Gedanken von Freiheit in der Natur ist nicht das einzige Element in Kants Freiheitsdenken, an dessen angemessener Interpretation im Kontext noch Arbeit zu leisten ist. Kants Begriffe und seine Theorie der Freiheit gehören zu den epochalen Leistungen der neuzeitlichen Philosophie; sie gehören aber durch ihre innere Differenzierung, durch die Vielfalt ihrer historischen Entwicklungsstationen wie ihrer systematischen Dimensionen auch zu deren dauerhaften Herausforderungen. Oft wird dieser Begriff der Freiheit auf die sich aus der Schwierigkeit in der Legitimation der Annahme von Willensfreiheit ergebende ethische Zuspitzung auf Freiheit als Autonomie festgelegt. Doch wir wissen, dass dieser Zusammenhang, wiewohl er sich Kant in der Vermeidung eines zufallsaffinen Begriffs vom liberum arbitrium indifferentiae als notwendig aufdrängt,¹⁰ keinesfalls alle Aspekte und Dimensionen des Freiheitskonzepts umfasst – weder systematisch noch in Kants eigenem, der gleichursprünglichen Begründung von Freiheit und Moralität vorausgehenden wie ihr folgenden Denken.
Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V [KU], § 10, S. 220. Siehe Birgit Recki: „Die Realität der Freiheit“. In: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hrsg.): Freiheit. Geist und Geschichte Band 1, Stuttgarter Hegel-Kongress 2011. Frankfurt am Main 2013, S. 241– 257. Siehe Birgit Recki: Cassirer. Reihe Grundwissen Philosophie. Stuttgart 2013. Siehe Jens Timmermann: Sittengesetz und Freiheit. Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens. Berlin, New York 2003.
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Die Begriffe von Spontaneität und Autonomie greifen schon in der Auflösung der dritten Antinomie auffällig selbstverständlich ineinander. Nachdem Kant in der dritten Antinomie noch gleichsam in der Defensive gegen den Determinismus der Kausalität die Denkmöglichkeit und Denknotwendigkeit der (transzendentalen) Freiheit im Begriff einer „absoluten Spontaneität der Ursache“ zu qualifizieren beansprucht, indem er diese absolute Spontaneität im Überschritt von deren Funktion als erstem Anfang einer ansonsten nicht abschließbaren Kausalerklärung zur Möglichkeit ihres ubiquitären Vorkommens in der Reihe der Erscheinungen, im Argument der Vereinbarkeit von Kausalität im nexus rerum und Kausalität durch Freiheit, dabei im Rekurs auf die bloße Tätigkeit des Von-selbstAnfangens, und in der Darstellung an einem moralisch wenig einschlägigen Beispiel verteidigt hatte,¹¹ bringt der Text der Auflösung der Antinomie schon wenige Seiten später und ohne große diskursive Umstände das moralisch einschlägige Beispiel dessen, der durch eine bösartige Lüge einige Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat: Wir beurteilen ihn, so macht Kant geltend, niemals bloß gemäß dem (hier soziologisch informierten) Kausaldenken, mit dem wir seine schlechte Gesinnung auf widrige Einflüsse auf seine Entwicklung zurückzuführen suchen, sondern immer auch als zurechnungsfähigen Täter seiner Tat. Wir brauchen daher den Begriff der Freiheit als absolute Spontaneität der Ursache, um am Begriff der moralischen Verantwortung im Handeln festhalten und ihn qualifizieren zu können.¹² Kant empfiehlt es dringend der theoretischen Aufmerksamkeit an („Es ist überaus merkwürdig“), „daß auf diese transscendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe“.¹³ Schon hier, im fließenden Übergang von einer kosmologisch begründeten transzendentalen Freiheit,¹⁴ an der die schöpfungstheologische Implikation, die erst im Kontext der dritten Kritik elaboriert werden sollte, ins Auge sticht, zu einer moralischen, auf die Selbstbestimmung des Akteurs gegründeten Freiheit,¹⁵ wird Kants vordringliches systematisches Interesse erkennbar. Es ist auf den Begriff von Freiheit als Autonomie gerichtet. Spontaneität und Autonomie: Wie lassen sie sich unterscheiden und wie ihr Zusammenhang sich einsichtig machen? In der Metaphysik Pölitz hatte es 1779/80
„Wenn ich jetzt zum Beispiel völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), Akademie-Ausgabe Band III, S. 312). KrV, S. 375. KrV, S. 363. Kant spricht deshalb auch von „Freiheit im kosmologischen Verstande“ (KrV, S. 363). Vgl. KrV, S. 310 ff.
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kühn geheißen: „Das Ich beweiset aber, daß ich selbst handele; ich bin ein Princip und kein principiatum […] Wenn ich sage: Ich denke, ich handele usw.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei“.¹⁶ Dieses kühne egologische Freiheitsargument, das, wie man an der gleichwertigen Aufzählung von Denken und Handeln sehen kann, keineswegs auf die Ableitung der Freiheit aus dem Denken zielt, sondern vielmehr auf die Konsequenz aus der Semantik und Pragmatik des Wortes „Ich“ – in welchem Verhältnis steht es zu dem methodisch defensiven, metaphysisch höchst anspruchsvollen Dualismus, mit dem Kant in der dritten Antinomie und ihrer Auflösung die Freiheit verteidigt? Zu jener Argumentation aus dem Selbstverständnis, mit der Kant auf den Freiheitsbeweis zugunsten der Auswertung der Anerkennung eines „Factums“ der Vernunft verzichtet, indem er ebenjenes Bewusstsein von der Geltung des Sittengesetzes als ratio cognoscendi der Freiheit anerkennt, dürfte es in einem engen Verhältnis, mutmaßlich dem der Grundlegung stehen. Was aber wird aus der Einsicht, die sich aus einer solchen Grundlegung gewinnen lässt, und was wird aus den Begriffen von transzendentaler Freiheit, von negativer Freiheit, von Willkürfreiheit, wenn die Identifizierung von Freiheit und Autonomie erst einmal geleistet ist? Offenbar war diese Gleichsetzung von Kant nie als total im Sinne von restloser Kongruenz gemeint, sonst müsste er wirklich (wie von einigen Kantinterpreten behauptet wird) bis auf Weiteres gedacht haben, böse Handlungen fielen aus der Verantwortung des Handelnden, weil dieser nicht frei wäre, indem er etwas tut, das nicht im Einklang mit dem Sittengesetz steht.¹⁷ So denkt Kant offenbar nicht, wie es zumindest die Überschrift über den Kategorien der Freiheit, der Kategorientafel der Kritik der praktischen Vernunft, dokumentiert: „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen.“¹⁸ Auch könnte Kant unter der Voraussetzung restloser Kongruenz von Freiheit und Autonomie weder in den kleinen geschichts- und kulturphilosophischen Schriften der 1780er-Jahre von einer ursprünglich noch rohen und wilden Freiheit sprechen – noch im § 83 der Kritik der Urteilskraft sagen, die Kultur sei „die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwe-
Immanuel Kant: Metaphysik Pölitz (1779/80), S. 268 f. So etwa Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt am Main 1983, der die Lehre vom radikalen Bösen in der Religionsschrift für eine späte Reparatur dieses Konstruktionsfehlers hält. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie-Ausgabe Band V [KpV], S. 66; Hervorhebung von mir; siehe Stephan Zimmermann: ‚Kants Kategorien der Freiheit‘. Berlin, Boston 2011; Heiko Puls: Funktionen der Freiheit. Die Kategorien der Freiheit in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Berlin, Boston 2013.
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cken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)“;¹⁹ denn beliebige Zwecke überhaupt – das ist gerade einmal nur die Beschreibung der Willkürfreiheit, die hier in der kulturphilosophischen Dimension seiner Vernunftkritik offenkundig eine legitime Rolle spielt. Schließlich: Wie ist es möglich – also: wie ist es mit seinem in der theoretischen und praktischen Philosophie in unterschiedlichen Reichweiten begründeten Freiheitsbegriff vereinbar, dass Kant in der Analytik des Schönen der dritten Kritik von einem „freien Spiel der Erkenntniskräfte“²⁰ spricht und mit diesem ganz neuen Blick auf die Spontaneität des Verstandes in der ästhetischen Reflexion (im „freien Schematisieren“, wie es auch heißt)²¹ dann sagen kann, das Schöne sei das Symbol des Sittlichguten?²² Und schließlich: Wie steht jener in der Kritik der teleologischen Urteilskraft angedeutete spekulative Begriff einer Freiheit, die in einer zweckmäßig verfassten Natur am Werke zu sein scheint, zu den Begriffen von Spontaneität und Autonomie in handlungstheoretischem und moralphilosophischem Verständnis, von denen Kant ausgegangen ist? Diese kleine Aufzählung offener oder zumindest im Gesamtprospekt der kantischen Philosophie noch nicht allseitig erschlossener Fragen kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen. Sie kann aber eine Vorstellung vermitteln von der Komplexität seiner Theorie der Freiheit und damit des Rahmens, in dem die gegenwärtige Fragestellung ihren Ort hat. Noch gibt es keine entwicklungsgeschichtliche Gesamtdarstellung des kantischen Freiheitsbegriffs, die diesen in allen seinen Phasen und Elementen rekonstruiert, geschweige denn den Zusammenhang dieser Phasen als Elemente einsichtig gemacht hätte. Aber wir haben ein deutliches Bewusstsein davon, an welchen systematisch folgenreichen Stellen dieses Freiheitsdenkens die genauere Untersuchung besonders lohnend und besonders dringend erforderlich ist. Eine dieser Stellen ist der Übergang oder besser der Umschwung von dem Bemühen um einen Freiheitsbeweis in jene methodische Bescheidenheit, mit der Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den Beweis der Freiheit verabschiedet: Ein Freiheitsbeweis ist unmöglich, als einzig möglich, aber auch als erforderlich erscheint daraufhin die Argumentation aus dem Selbstverständnis, der Kant die Form der bereits erwähnten Lehre vom „Factum“ der Vernunft gibt: dass „das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt
Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V [KU], § 83. KU, S. 296 u. ö. KU, S. 287; vgl. S. 313 f. Siehe Birgit Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt am Main 2001.
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halten, so etwas, als Freiheit ist […] anzunehmen.“²³ Dieses Bewusstsein vom moralischen Gesetz wird er später, in der Anmerkung zum § 7, ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist.²⁴
Wieso man diese Position als eine Argumentation aus dem Selbstverständnis des Handelnden bezeichnen kann, das erschließt sich bereits daran, dass Kant das Bewusstsein von der Geltung des Sittengesetzes und damit von der Moraldifferenz des Handelns phänomenal als etwas Selbstverständliches, gleichsam Natürliches beim Handelnden vorzufinden meint (schon der gemeine Mann, den Kant gelegentlich anführt, denke so); es lässt sich zudem dadurch erläutern, dass sich nach Kant das Bewusstsein von der Geltung des moralischen Gesetzes am Gefühl der Achtung vor diesem Gesetz kundtut, in dem gleichursprünglich die Selbstachtung des vernünftigen Wesens zur Geltung kommt. „Nun sage ich“ – und nun sagen einige Interpreten, dass die Argumentation aus dem Selbstverständnis sich schon in der Schrift deutlich ankündigt, in der Kant sich noch an einer Freiheitsdeduktion abmüht – dass schon im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Elemente oder die Tendenz zur Argumentation mit einem „Factum“ der Vernunft vorhanden sind. Um diese These drehte sich die Hamburger Expertentagung im Oktober 2012. Die Autoren des von meinem Hamburger Mitveranstalter Heiko Puls hier vorgelegten Bandes setzen sich in ihren Aufsätzen mit der Frage auseinander, ob sich der dritte Abschnitt der Grundlegung noch aus der Intention der Freiheitsdeduktion oder ob er sich bereits aus der Faktums-Argumentation für die Freiheit begreifen lässt. In der Auseinandersetzung mit diesem Text dürfen wir hoffen, in der Rekonstruktion des kantischen Freiheitsbegriffs ein Stück weiterzukommen, da wir nach einer Grundlegung des Freiheitsbegriffs, die es an umsichtigem Problembewusstsein und Gründlichkeit mit der kantischen aufnehmen könnte, historisch wie zeitgenössisch noch immer vergebens suchen; aber auch, dass mit dem, was sich am Denken eines Klassikers an Klärung gewinnen lässt, ein weiterer Beitrag zu einer systematischen Theorie der Freiheit geleistet werden kann.
KpV, S. 4. KpV, S. 31.
Vorwort Kein Text der praktischen Philosophie Kants ist in den letzten Jahrzehnten mit solch philologischer Gründlichkeit diskutiert und interpretiert worden wie der dritte Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Bis heute gilt die Grundlegung als Kants wichtigster moralphilosophischer Text, wenn nicht sogar als der bedeutendste Text zur Ethik überhaupt. Die Grundlegung enthält eine besonders konzise Darstellung des kategorischen Imperativs und wird daher gemeinhin nicht nur als Grundlage von Kants praktischer Philosophie, sondern auch als ein Einführungstext in seine Begründung von Moral angesehen. Die Interpretation des dritten Abschnitts hat sich unabhängig von dieser rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung und der didaktischen Qualität der Grundlegung als Ganzer zu einem eigenen Forschungsgebiet der Kantexegese entwickelt. Denn das zentrale Argumentationsziel des Abschnitts lässt sich aus diesem selbst auch auf den zweiten Blick nur schwer erkennen und an einigen Stellen wirft der Text mehr Fragen auf, als er Antworten bietet. Liegt Kants Absicht tatsächlich in einem am Modell der transzendentalen Deduktion orientierten Beweis des kategorischen Imperativs? Was bedeutet der Terminus der Deduktion im Kontext der praktischen Philosophie? Wie ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf eine synthetische oder analytische Methode der Argumentation zu deuten? An welcher Stelle im Text beginnt und wo endet dieser mögliche Versuch einer Ableitung des kategorischen Imperativs? Und in welcher argumentativen Verbindung stehen die fünf Sektionen des dritten Abschnitts zueinander? Diese und andere Probleme bestimmen seit einigen Jahrzehnten die exegetischen Bemühungen; ein Konsens im Hinblick auf die Beantwortung dieser Fragen ist nicht absehbar. Unabhängig von der detaillierten Interpretation einzelner Argumentationsziele und der Deutung von Kants stellenweise opaken Begriffen, ergibt sich der interpretatorische Dissens aber auch aus einer entwicklungsgeschichtlichen Spannung: Während Kant in der „Vorrede“ zur Kritik der praktischen Vernunft mit der Selbstgewissheit eines Theoretikers schreibt, der das systematische Tableau seiner Theorie zu überblicken scheint, wirkt die Argumentation im zentralen dritten Abschnitt der Grundlegung tentativ und unsicher. Damit stünden sich die Bemühungen um eine Deduktion des Sittengesetzes in der Grundlegung und die These vom Faktum der Vernunft der zweiten Kritik als sich widersprechende entwicklungsgeschichtliche Stadien gegenüber. Obgleich dieser Eindruck grosso modo bis heute geteilt wird, gibt es Einwände gegen diese Position, denen einige Autoren dieses Bandes größere Aufmerksamkeit schenken als sonst in der Literatur üblich. Auch wenn sich nicht alle Beiträge explizit der Frage ‚Deduktion oder Faktum?‘ und damit dem eben skizzierten Problem eines mög-
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Vorwort
lichen Positionswechsels in der Begründung des Sittengesetzes zwischen 1784 und 1788 zuwenden, bildet doch der Fokus auf entwicklungsgeschichtliche Fragestellungen den Rahmen der hier publizierten Texte. Die Beiträge dieses Bandes enthalten damit zum einen neue Einsichten im Hinblick auf Interpretationsprobleme des dritten Abschnitts, die sich durch einen hohen Grad an Differenziertheit der Textauslegung auszeichnen. Zum anderen versuchen sie, Kants Überlegungen im dritten Abschnitt in den Kontext der Vernunftkritik überhaupt einzuordnen, in dem sie Zusammenhänge zwischen der Grundlegung und anderen kantischen Schriften herstellen. Die Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die vom 11. bis 12. Oktober 2012 an der Universität Hamburg durchgeführt wurde. Mein Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die diese Tagung durch ihre engagierte Diskussion zu einem lehrreichen Erlebnis gemacht haben. Ich danke den Mitarbeitern des Warburg-Hauses für ihre Hilfe vor und während der Veranstaltung. Ein besonderer Dank gilt Birgit Recki, die mich nicht nur mit vielen guten Ratschlägen bei der Planung und Durchführung unterstützt hat, sondern die auch bereit war, die Gäste mit einer Rede zu begrüßen, die nun als ein Geleitwort diesem Vorwort vorangestellt ist. Cathrin Nielsen (Frankfurt) und Katharina Unteutsch (Hamburg) danke ich herzlich für ihre Unterstützung bei der editorischen Arbeit.
Dieter Schönecker (Siegen)
Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente Endlose Streitigkeiten darüber, ob Kant in dieser und jener Schrift dieses oder jenes behauptet habe, begleiten die Kant-Interpretation von Anfang an. Ist ein Schuft zu nennen, wer dabei übelwollend dächte, die Endlosigkeit dieser Streitigkeiten entspringe der Natur der Texte selbst? Ich denke schon. Denn nur ein Schuft zieht aus der unbestreitbaren Tatsache der Meinungsdifferenzen hinsichtlich etwa der Frage, ob Kant nicht erst in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV), sondern schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) behaupte, dass es ein „Faktum der Vernunft“ (05:31.24) gebe, den genetischen Fehlschluss, diese Frage wäre gar nicht zu beantworten und vielmehr auf die Unergründlichkeit der Texte zurückzuführen. Ich vertrete dagegen die Auffassung, dass die Frage sehr wohl klar und eindeutig beantwortbar ist, und zwar so: Nein, so etwas wie eine Faktum-These – Es gibt ein Faktum der reinen praktischen Vernunft – wird in der GMS nicht aufgestellt. Ich gebe mich natürlich nicht der naiven Hoffnung hin, mit diesem Beitrag diesen Streit zu beenden. Ich will meine Antwort auf jene Frage aber so knapp und präzise formulieren, dass diejenigen, die eine andere Antwort vorschlagen, zumindest klar erkennbar machen können, worin der Fehler meiner Antwort liegt. Deswegen spreche ich ausdrücklich von ‚Argumenten‘. Argumente im engeren Sinne haben zwar den unschönen Nachteil, zuweilen nicht triftig zu sein; aber wenn sie als solche erkannt werden, weiß man immerhin, warum sie nicht triftig sind. Der Anspruch, in diesem Sinne einen Beweis zu führen, ist also so zu verstehen, dass durch klare Argumente deutlich werden soll, warum es in der GMS keine Faktum-These gibt und zwar so, dass diejenigen, die anderer Meinung sind, genau erklären können, warum sie anderer Meinung sind.¹ Doch was ist überhaupt das Faktum der reinen praktischen Vernunft? Es versteht sich von selbst, dass diese Frage in einem umfassenden Sinne nicht ohne großen Aufwand beantwortet werden kann. Wie auch immer genau die Antwort ausfällt: Kants These besagt jedenfalls, dass das moralische Gesetz die „ratio cognoscendi“ (05:04, Fn.) der Freiheit sei. Wir „wissen“ (05:04.10), dass das mo-
Wohl vor allem die Arbeiten Henrichs (1954/55, 1955, 1973, 1975) haben die These prominent und stark gemacht, dass Kant in der GMS im Grunde schon die Faktum-Theorie der KpV vertrete; jüngst hat (z. B.) auch Puls (2011) sich wieder dieser Lesart angeschlossen. Die Literatur ist uferlos und kann hier nicht diskutiert werden.
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Dieter Schönecker
ralische Gesetz gilt, und daher dürfen wir uns auch für frei halten; die Idee der Freiheit „offenbart sich durchs moralische Gesetz“ (05:04.05). Aber wie wissen wir um die Geltung des moralischen Gesetzes? Die Antwort darauf ist umstritten; unsere Ausgangsfrage (ob Kant nicht erst in der KpV, sondern schon in der GMS die Faktum-These aufstellt) hängt mir ihr unmittelbar zusammen. Der Kerngedanke der Faktum-These, wie auch immer genau interpretiert, besteht aber jedenfalls darin, dass wir um die Geltung des moralischen Gesetzes „unmittelbar“ (05:29.34, Hervorhebung D. S.) und „unleugbar“ (05:32.02, Hervorhebung D. S.) wissen. Ob diese Unmittelbarkeit darin besteht, dass wir um das moralische Gesetz durch ein Gefühl (der Achtung) wissen,² oder sonst irgendwie, spielt für unsere Zwecke keine Rolle.Wichtig ist, dass die Geltung des moralischen Gesetzes nicht abgeleitet wird; vielmehr haben wir ein „Bewusstsein“ (05:31) des moralischen Gesetzes, das zu haben notwendig und hinreichend ist, um die Geltung des moralischen Gesetzes so zu ‚wissen‘, dass sich dadurch die Idee der Freiheit durch ebendieses moralische Gesetz ‚offenbart‘; das moralische Gesetz steht „für sich selbst fest“ (05:47). Dagegen wird in einer Deduktion ein Nachweis geführt, dass das moralische Gesetz gilt, und dieser Nachweis erschöpft sich nicht darin, allein auf das Bewusstsein des moralischen Gesetzes zu verweisen; im Rahmen eines solchen Ansatzes steht das moralische Gesetz nicht ‚für sich selbst fest‘, sondern es muss etwas hinzukommen (weitere Propositionen, ein Argument). Wichtig ist außerdem, dass das Gesetz, so Kant, ‚unleugbar‘ ist. Die Geltung des kategorischen Imperativs ist im Bewusstsein dieses Gesetzes unbestreitbar (selbstevident) „g e g e b e n“ (05:31.32), damit gewiss und bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung.³ Nun besteht nicht der geringste Zweifel, dass nicht nur in der KpV, sondern auch in der GMS immer wieder auf das moralische Bewusstsein der (aller) Menschen verwiesen wird, insbesondere auch derjenigen, die nicht philosophisch gebildet sind. So wird im ersten Abschnitt der GMS nicht zufällig der erste „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“ (04:392) vollzogen und dabei ausdrücklich betont, dass mit dem moralischen Gesetz (dem kategorischen Imperativ) ein Gesetz gefunden sei, das die gemeine Menschenvernunft „zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht“ (04:403); und auch der zweite Abschnitt setzt mit dem Hinweis
So meine Interpretation in Schönecker (2013). Die Unmittelbarkeit und Unleugbarkeit des moralischen Gesetzes schließen nicht aus, es dennoch als gerechtfertigt zu verstehen, wenn der Begriff der Rechtfertigung im Sinne einer nicht-deduktiven Rechtfertigung (genauer: als warrant) verstanden wird (wie ich in Schönecker 2013 vorschlage); aber für unsere Fragestellung ist das irrelevant.
Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente
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ein, dass Kant den „bisherigen Begriff der Pflicht aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen habe“ (04:406). Ganz passend dazu schreibt Kant in einer Fußnote der KpV, ein Rezensent [der GMS] hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: dass darin kein neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt, in dem, was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre (05:08).
Sowohl die GMS wie auch die KpV beziehen sich also auf so etwas wie das (gemeine) „Bewusstsein eines Gesetzes“ (04:449.07) bzw. auf das (gemeine) „Bewusstsein dieses Grundgesetzes“ (05:31.25); in dieser Hinsicht besteht also in der Tat kein Unterschied zwischen diesen beiden Schriften. Dennoch wäre es falsch, diesen Befund als Evidenz dafür heranzuziehen, dass Kant schon in der GMS die Faktum-These vertrete; zunächst muss die Frage gestellt und beantwortet werden, wie Kant sich in der GMS auf das moralische Bewusstsein bezieht. Der Bezug auf ein solches ‚Bewusstsein des moralischen Gesetzes‘ – dies ist der entscheidende Punkt – fällt nämlich in beiden Schriften ganz anders aus:Während Kant in der GMS das Bewusstsein des moralischen Gesetzes so versteht, dass durch es allein das moralische Gesetz keineswegs ‚für sich selbst feststeht‘,⁴ gilt eben dies für das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, so wie Kant es in der KpV begreift: Durch dieses Bewusstsein wissen wir ‚unmittelbar‘ und zugleich ‚unleugbar‘ um die Geltung des moralischen Gesetzes, so dass dieses ‚für sich selbst feststeht‘. In diesem Bewusstsein wird das moralische Gesetz in seiner absoluten Geltung ‚gegeben‘, und deswegen nennt Kant das Bewusstsein des moralischen Grundgesetzes „ein Faktum der Vernunft“ (05:31.24). Wenn man nun zeigen kann, dass genau dies – wir wissen um die Geltung des moralischen Gesetzes unmittelbar und unleugbar – für das moralische Gesetz bzw. das Bewusstsein von ihm in der GMS nicht zutrifft, dann ist auch gezeigt, dass in der GMS kein Faktum geltend gemacht wird. Nun gibt es ohne Zweifel Textpassagen in GMS III, die auf den ersten Blick nahezulegen scheinen, Kant vertrete sehr wohl schon in der Grundlegung die Faktum-These.⁵ Wer behauptet, dem sei nicht so, muss zeigen, dass diese Pas-
Zur Frage, warum Kant überhaupt mit der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis den Anfang macht, vgl. Schönecker (1999 und 2009). Es sind dies (vor allem) diese acht Stellen: (1) „Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. […] da hingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles,
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sagen anders gedeutet werden können; das habe ich an anderer Stelle getan, oder vielmehr, ich habe versucht zu zeigen, dass sie sogar anders gelesen werden müssen. ⁶ Umgekehrt stehen diejenigen, die behaupten, Kant vertrete schon in der Grundlegung (vor allem in GMS III) die Faktum-These, in der Pflicht, diejenigen Argumente zu entkräften, die das Gegenteil zu beweisen beanspruchen, dass nämlich Kant in der GMS keineswegs schon die Faktum-These aufstellt. Ich werde nun drei solche, miteinander im Zusammenhang stehende Argumente vorstellen: Das Hirngespinstargument, das Unterwerfungsargument und das Bestätigungsargument. Ein weiteres Argument will ich hier, obwohl es m. E. sehr stark und auch in der Rezeptionsgeschichte sehr prominent ist, nur erwähnen, weil es sehr komplex
was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann“ (04:452.07, Hervorhebung D. S.). (2) „Diese bessere Person glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich nötigt, und in welchem er sich eines guten Willens bewusst ist“ (04:454.37). (3) „Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff […] Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist“ (04:455.11). (4) „Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewusstsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektiv-bestimmenden Ursachen, die insgesamt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört“ (04:457.04). (5) „Daher kommt es, dass der Mensch sich eines Willens anmaßt“ (04:457.25). (6) „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken; welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch notwendig ist, sofern ihm nicht das Bewusstsein seiner Selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache abgesprochen werden soll. Dieser Gedanke führt freilich die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung als die des Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei und macht den Begriff einer intelligiblen Welt (d. i. das Ganze vernünftiger Wesen als Dinge an sich selbst) notwendig“ (04:458.19). (7) Die Idee der Freiheit „gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten zu bestimmen) bewusst zu sein glaubt“ (04:459.09). (8) „Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Prinzip der Naturnotwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu geraten) ganz wohl möglich (wie die spekulative Philosophie zeigen kann), sondern auch sie praktisch, d. i. in der Idee allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Kausalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewusst ist, ohne weitere Bedingung notwendig“ (04:461.17). (Kants Hervorhebungen z. T. getilgt; hervorgehoben sind die Formulierungen, die scheinbar im Sinne einer Faktum-These zu lesen sind.) Vgl. Schönecker (1999).
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ist und weil es dazu bereits Gegenargumente gibt, auf die ich eingehen müsste, was ich aber hier nicht kann: das Deduktionsargument. Es sieht so aus: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann gibt es in der GMS keine Deduktion des kategorischen Imperativs. 2. In der GMS gibt es aber eine Deduktion des kategorischen Imperativs. Also: Kant vertritt in der GMS nicht die Faktum-These. Mir scheint offenkundig, dass der Begriff der ‚Deduktion‘ von Kant als Gegenbegriff zum Begriff ‚Faktum‘ verwendet wird; in der GMS wird der kategorische Imperativ eben nicht ‚unmittelbar‘ durch den Verweis auf das Bewusstsein des moralischen Gesetzes begründet, sondern durch ein deduktives Argument. Dazu gäbe es viel zu sagen; ich werde diesen Strang, wie gesagt, hier nicht weiter verfolgen. Sollten aber die anderen Argumente triftig sein, ist dies ein deutliches Indiz dafür, dass auch das Deduktionsargument triftig ist (und umgekehrt).
1. Das Hirngespinstargument Das Hirngespinstargument arbeitet mit dem wesentlichen Gehalt der FaktumThese: Die Geltung des kategorischen Imperativs ist im moralischen Bewusstsein ‚unmittelbar‘ und vor allem: ‚unleugbar‘ gegeben. Weil das so ist (bzw. weil Kant behauptet, dass es so sei), finden wir in der KpV keine Stelle, an der Kant irgendwie diese Geltung infrage stellen würde; schon in der Vorrede bezieht Kant sich auf das „Faktum“ (05:06.12). Und in der Tat wäre es ein eklatanter Widerspruch, in einem und demselben Buch einerseits die Faktum-These aufzustellen, also einerseits zu sagen, dass die Geltung des moralischen Gesetzes im (gemeinen) Bewusstsein dieses Gesetzes unmittelbar und unleugbar gegeben ist; andererseits aber das Bewusstsein dieses Gesetzes und damit das Gesetz selbst dann doch in Zweifel zu ziehen. Genau dies tut Kant aber nun in der GMS: Er zieht in der GMS das Bewusstsein dieses Gesetzes und damit das Gesetz selbst in Zweifel. Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes und seine Geltung ‚infrage zu stellen‘ oder ‚in Zweifel zu ziehen‘ soll dabei natürlich nicht bedeuten, dass Kant selbst, er persönlich als Mensch und Philosoph, tatsächlich echten, anhaltenden Zweifel an der Geltung des kategorischen Imperativs hätte; das hat er nicht (und hatte er wohl Zeit seines Lebens nicht). Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes und seine Geltung infrage zu stellen bedeutet, den Zweifel für möglich, real und so sehr für eine ernsthafte philosophische Herausforderung zu halten, dass demjenigen, der zweifelt, ein Argument gegeben wird, seinen Zweifel zu überwinden.
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Weil es nun aber ein eklatanter Widerspruch wäre, wenn Kant in einem und demselben Buch, sagen wir jetzt: der Grundlegung, die Faktum-These aufstellen und zugleich aber das moralische Gesetz (den kategorischen Imperativ) in Zweifel ziehen würde, muss nur noch gezeigt werden, dass Kant genau dies, eben Letzteres, tut: Er zieht in der GMS die Geltung des moralischen Gesetzes in Zweifel – weshalb er eben nur bei Strafe jenes eklatanten Widerspruchs zugleich die Faktum-These aufstellen könnte. Die vielleicht prominenteste Stelle für einen solchen möglichen und geäußerten Zweifel an der Geltung des kategorischen Imperativs gibt dem ersten Argument seinen Namen. Kant stellt nämlich am Ende von GMS II fest, dass nur, wer „Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält“ (04:445.05), seine bisherigen Analysen und damit den kategorischen Imperativ „einräumen“ (04:445.07) müsse. Ebendies (Sittlichkeit ist „Etwas“ und keine „chimärische Idee ohne Wahrheit“) sei aber noch nicht ausgemacht; es sei am Ende von GMS II noch nicht klar, dass der kategorische Imperativ als synthetischer Satz a priori „kein Hirngespinst sei“ (04:445.08, Hervorhebung D. S.).⁷ Diese Stelle am Ende von GMS II ist eine Parallelstelle zu derjenigen Stelle in GMS II, an der Kant zur Metaphysik der Sitten übergeht. Auch dort betont Kant, dass, „wenn Pflicht“ (04:425.01, Hervorhebung D. S.) ein Begriff mit Bedeutung und Realität ist, er im Sinne eines kategorischen Imperativs verstanden werden muss; aber ob es so ist, sei noch nicht ausgemacht: Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, dass dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, dass es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und dass die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei (04:425.07– 11, Hervorhebung D. S.).
Nicht nur sagt Kant hier ausdrücklich, dass er später (in GMS III) die Realität des kategorischen Imperativs „beweisen“ wolle. Ein solcher Beweis⁸ – oder wie Kant schon in der Vorrede sagt: eine „Festsetzung“ (04:392.04, Hervorhebung D. S.) – wäre nicht notwendig, wenn der kategorische Imperativ ein Faktum wäre; ganz offenkundig ist eben noch nicht ausgemacht, dass es den kategorischen Imperativ wirklich ‚gibt‘.⁹ Und welchen Sinn würde dieser Zweifel ergeben, wenn Kant Von Sittlichkeit als einem „Hirngespinst“ war bereits zu Anfang von GMS II (04:407.17) die Rede. Kant spricht nicht nur von einer ‚Deduktion‘, sondern vom zu vollziehenden ‚Beweis‘ usw.; vgl. 04:392.04, 392.13, 403.27, 412.02– 08, 425.08, 425.15, 427.17, 431.33, 440.20 – 28, 445.01, 447.30 – 448.04, 449.27. Kant spricht in der GMS (ähnlich wie in der KpV) auch von der Verbindlichkeit (vgl. 04:389.12, 389.16, 391.11, 432.31, 439.31, 439.33, 448.34), von der Realität (vgl. 04:425.14, 449.26) des kategorischen Imperativs, von seiner Wirklichkeit (04:420.01, vgl. 406.15), Geltung (vgl. besonders
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gleichzeitig beanspruchen würde, der kategorische Imperativ sei ein Faktum und als solches ‚unleugbar‘? Das Hirngespinstargument können wir also so formulieren: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann hält Kant es in der GMS zu keinem Punkt der Argumentation für möglich, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst ist. 2. Kant hält es in GMS II zu einem Punkt der Argumentation für möglich, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst ist. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These. Prämisse 2 in diesem Argument kann offenkundig nicht bestritten werden. Dagegen könnte ein Einwand gegen Prämisse 1 zunächst plausibel scheinen: Es sei zwar wahr, dass Kant es noch in GMS II für möglich halte, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst sei, und insofern sei es auch wahr, dass in der GMS bis dahin (also bis zum Ende von GMS II) die Faktum-These nicht aufgestellt werden könne; das schließe aber nicht aus, dass eine solche These in GMS III aufgestellt werde. – Die Replik darauf ist zweifach: Erstens werden wir gleich sehen, dass Kant sogar noch in GMS III ausdrücklich infrage stellt, ob es den kategorischen Imperativ wirklich ‚gibt‘. Zweitens widerspräche es eben dem Grundgedanken der Faktum-Theorie, einerseits die Unleugbarkeit des kategorischen Imperativs (gerade auch unter Verweis auf die gemeine Vernunft)¹⁰ zu behaupten (und sei es auch spät am Ende eines Buches), andererseits aber durch das Infragestellen dieses Imperativs auch jene Unleugbarkeit selbst zu leugnen; wenn der kategorische Imperativ bzw. das Bewusstsein seiner Geltung ein Faktum ist, lässt sich schlechterdings eben dieses Bewusstsein nicht leugnen.¹¹ (Bei einem Beweis ist das anders: Solange der Beweis nicht geführt ist, ist unklar, ob die Konklusion wahr ist; und selbst wenn er geführt ist, kann er aus Darstellungsgründen so behandelt werden, als wäre er noch nicht geführt. Das Faktum auch nur zeitweise zu leugnen wäre so, als hätte man aktual eine Farbwahrnehmung, hätte keinen
04:389.12, 389.14, 403.07, 408.18, 412.03, 424.35, 425.18, 442.08, 447.32, 448.06, 448.32, 449.29, 460.25, 461.03, 461.01), Richtigkeit, (04:392.13), objektiven Notwendigkeit (vgl. besonders 04:442.09, 449.26, 449.30), davon, dass er wirklich stattfinde (04:425.09) und dass der Mensch ihm unterworfen (04:449.12) sei. Alle diese Begriffe und Wendungen lassen sich unter die spätere Formel von der „Gültigkeit dieses Imperativs“ (04:461.12) subsumieren. Ich komme darauf zurück. Man kann das Faktum in dem Sinne hypothetisch leugnen, dass man sich vorstellen kann, was der Fall wäre, wenn es das Faktum nicht gäbe; das ist aber etwas anderes als realer Zweifel an diesem Faktum. – Ich danke Elke Schmidt für einen kritischen Hinweis zu diesem Punkt.
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anderen Grund für die Überzeugung, dass man eine Farbwahrnehmung habe – und würde eben diese vorübergehend leugnen, ohne aber einen anderen Grund für jene Überzeugung zu nennen oder auch nur nennen zu können.)
2. Das Unterwerfungsargument Wie schon bemerkt: Kant stellt in GMS III ausdrücklich und wiederholt die Frage, ob es den kategorischen Imperativ wirklich ‚gibt‘. Er tut dies vor allem in Sektion 3 von GMS III. Dort fasst er den bisherigen Stand der Argumentation zusammen und schreibt: Es floss aber aus der Voraussetzung dieser Ideen auch das Bewusstsein eines Gesetzes zu handeln: dass die subjektiven Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, dass sie auch objektiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen können (04:449.07– 11).
Es ist nicht ohne Weiteres klar, was hier mit den ‚Ideen‘ gemeint ist: Sind es die in der Überschrift von Sektion 3 genannten „Ideen der Sittlichkeit“ (04:448.23)? Aber dann lautete die These ja, dass aus den ‚Ideen der Sittlichkeit‘ das ‚Bewusstsein‘ des moralischen Gesetzes folgte. Oder ist es die in Sektion 2 behandelte „Idee der Freiheit“ (04:448.25), die im ersten Satz von Sektion 3 rekapitulierend aufgegriffen wird? Aber die steht im Singular. Oder sind es vielleicht die Ideen der Sittlichkeit selbst im Sinne einer gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis und ihren sittlichen Begriffen?¹² Sei dem, wie es sei – liest man diese Stelle, ohne darauf zu achten, wie Kant im nächsten Satz fortfährt, könnte man tatsächlich denken, Kant nähme hier ein Faktum in Anspruch, also eben ein ‚Bewusstsein eines Gesetzes zu handeln‘, also ein Bewusstsein des kategorischen Imperativs. Während aber in der KpV ein solches „Bewusstsein“ (05:31.24) als ‚unmittelbares‘ und ‚unleugbares‘ ‚Faktum der reinen praktischen Vernunft‘ gedeutet wird, schließt Kant in der GMS direkt an die eben zitierte Stelle und trotz des anerkannten ‚Bewusstseins‘ die immer noch zweifelnde Frage an, ob denn nun wirklich dieser Imperativ Geltung hat, sodass der Mensch sich ihm unterwerfen muss. Kant fährt nämlich fort (und diese Geltungsfrage lautet): Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabten Wesen? (04:449.11).
Für diesen Vorschlag danke ich Elke Schmidt.
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Und was dann in diesem und in den nächsten beiden Absätzen folgt, ist ein kaum schärfer formulierbares Fragen nach der Geltung des kategorischen Imperativs; die Frage, ob es den kategorischen Imperativ ‚gibt‘ oder ob er nicht doch ein ‚Hirngespinst‘ sei, ist noch immer nicht beantwortet. Den Gedanken aus GMS II (04:428, 445) – die Begriffsanalyse und nähere Bestimmung des moralischen Gesetzes mögen befriedigend sein, aber für seine Realität ist bisher nichts gewonnen – noch einmal wiederholend schreibt Kant nun: […] da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, dass wir wenigstens das echte Prinzip genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit aber und der praktischen Notwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, […] keine genugtuende Antwort geben (04:449.27– 450.02, Hervorhebung D. S.);
dass wir uns „für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen […] mithin woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch nicht einsehen“ (04:450.12, Hervorhebung D. S.). All dies sind Fragen,¹³ die niemand stellt oder auch nur diskutiert, der das Bewusstsein der Geltung des kategorischen Imperativs für ‚unleugbar‘ hält. Das Unterwerfungsargument (das seinen Namen aus jener Geltungsfrage aus GMS 04:449 gewinnt: „Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen“?) lautet also so: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann stellt Kant in der GMS nicht die Frage, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll. 2. Kant stellt Kant in der GMS die Frage, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These. Prämisse 2 in diesem Argument kann offenkundig ebenso wenig bestritten werden wie Prämisse 2 im Hirngespinstargument. In der Tat ist ja die in verschiedenen Formulierungen gestellte Frage nach der Geltung des kategorischen Imperativs in Sektion 3 nur eine Variante der Hirngespinstfrage aus GMS, und das Unterwerfungsargument bringt im Kern die gleiche Überlegung zum Ausdruck wie das Hirngespinstargument: Kant stellt den kategorischen Imperativ auf eine Art und
Kant skizziert ausdrücklich jemanden, „der uns fragte“ (04:449.31, Hervorhebung D. S.) und für den er noch „keine genugtuende Antwort“ (04:450.02) habe.
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Weise infrage,wie sie mit der Faktum-These nicht verträglich ist.Wieder könnte ein Einwand auf den ersten Blick plausibel scheinen: Es sei zwar wahr, dass Kant die Geltungsfrage stelle; aber die Antwort auf jene Frage sei eben die Faktum-These. – Die Replik ist leicht: Wenn es in der GMS das ‚Faktum der reinen Vernunft‘ als ‚Bewusstsein‘ der Geltung des kategorischen Imperativs gibt, dann entsteht die Geltungsfrage erst gar nicht; die Geltungsfrage wird aber in der GMS gestellt; also gibt es in der GMS auch keine Faktum-These. Und tatsächlich wird die Geltungsfrage in der GMS ja auch mit einer Deduktion beantwortet; sie ist die Antwort auf die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, und diese Frage wird in Sektion 4 beantwortet.
3. Das Bestätigungsargument Es wurde bereits kurz daran erinnert, dass Kant in der KpV mehrmals¹⁴ auf die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis und die moralische Erfahrung verweist. Er verknüpft dabei die Faktum-These mit der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis. Das ist natürlich kein Zufall. Denn das Faktum – also das Bewusstsein der absoluten Geltung des kategorischen Imperativs – ist ja keine spezielle Erkenntnis entsprechend ausgebildeter Philosophen, sondern eine Grunderfahrung menschlicher Existenz. Nachdem Kant die Faktum-These in der Anmerkung zum § 7 eingeführt hat, schreibt er: Das vorher genannte Faktum ist unleugbar. Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen […] (05:32.02).
Später thematisiert er diesen Zusammenhang ausdrücklich, wenn er schreibt: Man musste ihn [den kategorischen Imperativ, D. S.] zuerst, der Reinigkeit seines Ursprungs nach, selbst im Urteile dieser gemeinen Vernunft bewähren und rechtfertigen, ehe ihn noch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte, um Gebrauch von ihm zu machen, gleichsam als ein Faktum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht. Aber dieser Umstand lässt sich auch aus dem kurz vorher Angeführten gar wohl erklären; weil praktische reine Vernunft notwendig von Grundsätzen anfangen muss, die also aller Wissenschaft, als erste Data, zum Grunde gelegt werden müssen, und nicht allererst aus ihr entspringen können. Diese Rechtfertigung der moralischen Prinzipien, als Grundsätze der reinen Vernunft, konnte aber auch darum gar wohl, und mit genugsamer Sicherheit, durch bloße Berufung auf das Urteil des gemeinen Menschenverstandes geführt werden […] (05:91).
Vgl. 05:27, 32, 35, 44, 91, 105, 155.
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Das Faktum wird also im ‚Urteil‘ der gemeinen Vernunft selbst nachgewiesen; es zeigt sich darin, wird darin manifest. In GMS III ist das anders. Nachdem Kant dort (Sektion 4) eine Deduktion als Antwort auf die Frage durchgeführt hat, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, schreibt er: „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion“ (04:454.20). Das heißt: Anders als in der KpV besteht der Nachweis der absoluten Geltung des kategorischen Imperativs nicht in einem Faktum, das sich in einem solchen ‚praktischen Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft‘ zeigt, sondern dieser Gebrauch ‚bestätigt‘ nur die Deduktion. Obwohl nach Kant auch und sogar der ärgste Bösewicht „sich eines guten Willens bewusst ist“ (04:455.04), ist dieses Bewusstsein als solches kein hinreichender Grund, die Geltung des kategorischen Imperativs für ‚unleugbar‘ zu halten. Kant bestreitet in der GMS natürlich nicht, dass wir Menschen ein Bewusstsein des moralischen Gesetzes haben – wie und warum sollte er dies auch tun? Aber im Unterschied zur Faktum-These aus der KpV weist Kant diesem Bewusstsein noch nicht die epistemologische Funktion zu, ‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ die Erkenntnis der absoluten Geltung des kategorischen Imperativs zu gewährleisten. Das Bestätigungsargument sieht nun so aus: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann wird der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit der Deduktion des kategorischen Imperativs nicht nur bestätigen. 2. Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt nur die Richtigkeit der Deduktion des kategorischen Imperativs. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These.
Ein möglicher Einwand könnte auf die KpV verweisen: Kant spricht dort ebenfalls davon, dass die moralische „Erfahrung“ (05:30.21), wie sie dann anhand des berühmten Galgenbeispiels exemplifiziert und beschrieben wird, etwas „bestätigt“ (05:30.21). Wenn aber es möglich sei, dass die moralische Erfahrung in einem Kontext etwas ‚bestätigt‘, obwohl in diesem Kontext (indirekt) auf das Faktum der Vernunft verwiesen wird, dann zeige dies, dass die GMS-Stelle zur ‚Bestätigung‘ (in 04:454) nicht aussagekräftig ist. – Ich räume ein, dass das Bestätigungsargument für sich allein vielleicht relativ schwach wäre; zugleich meine ich aber, dass es im Lichte der beiden anderen Argumente an Stärke gewinnt (und erst recht im Lichte des Deduktionsargumentes, das ich hier jedoch ausdrücklich aus Raumgründen nicht geltend mache). Zur Parallelstelle in der KpV kurz nur so viel: Was hier ‚bestätigt‘ wird, ist „diese Ordnung der Begriffe“ (05:30.21 f.). Die im Galgenbeispiel beschriebene Erfahrung gibt zwar auch wieder, worin das Faktum als das
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„Bewusstsein jenes moralischen Gesetzes“ (05:30.03) besteht.¹⁵ Was hier aber ‚bestätigt‘ wird, ist nicht das Faktum selbst, sondern die ‚Ordnung der Begriffe‘ von Moral und Freiheit hinsichtlich der von Kant so nachdrücklich beschriebenen Ordnung der Erkenntnisse der Begriffe von Freiheit und Gesetz zueinander: Das moralische Gesetz ist ratio cognoscendi der Freiheit, nicht umgekehrt. Entsprechend resümiert Kant im Beispiel über den Untertan: „Er urteilt also, dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (05:30, Hervorhebung D. S.). Ein Verteidiger der Faktum-Interpretation muss zeigen, dass Kant in der GMS die Faktum-These vertritt und er zugleich die Möglichkeit offenlässt, das moralische Gesetz sei ein Hirngespinst; dass er zugleich noch Raum hat für die Frage, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen solle; und dass er zugleich schreiben kann, der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft ‚bestätige‘ nur die Richtigkeit der Deduktion des kategorischen Imperativs. Natürlich ist es richtig, dass Kant in der GMS das moralische Gesetz nicht für ein Hirngespinst hält, und natürlich hat er eine Antwort auf die Unterwerfungsfrage. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass für solche Zweifel in der KpV kein Raum mehr ist, und zwar eben deshalb, weil das Bewusstsein des moralischen Gesetzes und mit ihm die Geltung des moralischen Gesetzes ein ‚Faktum‘ sind. Würde Kant ein Faktum in der GMS geltend machen, oder anders gesagt, würde er in der GMS die Faktum-These aufstellen, dann wäre für solcherlei Zweifel kein Raum mehr, selbst wenn diese Zweifel schlussendlich behoben werden; es ist aber in der GMS noch Raum für solcherlei Zweifel; also stellt Kant in der GMS nicht die Faktum-These auf. Ist es erlaubt zu sagen: q. e. d.?
Literatur Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe mit Seiten- und Zeilenangaben zitiert; Rechtschreibung und Interpunktion wurden angepasst. Allison, Henry E. (1990): Kant’s Theory of Freedom. Cambridge. Henrich, Dieter (1954/55): „Das Prinzip der Kantischen Ethik“. In: Philosophische Rundschau 2, S. 20 – 38. Henrich, Dieter (1955): „Über die Einheit der Subjektivität“. In: Philosophische Rundschau 3, S. 28 – 69.
Ich habe das Galgenbeispiel ausführlich in Schönecker (2013, S. 97– 100) beschrieben.
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Henrich, Dieter (1960): „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“. In: Dieter Henrich/Walter Schulz /Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Hrsg.): Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag. Tübingen, S. 404 – 431. Henrich, Dieter (1975): „Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. In: Alexander Schwan (Hrsg.): Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag. Darmstadt, S. 55 – 112. Puls, Heiko (2011): „Freiheit als Unabhängigkeit von bloß subjektiv bestimmten Ursachen. Kants Auflösung des Zirkelverdachts im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 65 (2011), S. 534 – 562. Schönecker, Dieter (1997): „Die Methode der Grundlegung und der Übergang von der gemeinen sittlichen zur philosophischen Vernunfterkenntnis“. In: Hariolf Oberer (Hrsg.): Kant: Analysen – Probleme – Kritik, Bd. III. Würzburg, S. 81 – 98. Schönecker, Dieter (1999): Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg, München. Schönecker, Dieter (2009): „The Transition from Common Rational to Philosophical Rational Moral Knowledge in the Groundwork“. In: Karl Ameriks/Otfried Höffe (Hrsg.): Kant’s Moral and Legal Philosophy. Cambridge, S. 93 – 122 [Übersetzung von: „Gemeine sittliche und philosophische Vernunfterkenntnis. Zum ersten Übergang in Kants Grundlegung“. In: Kant-Studien 88 (1997), S. 311 – 333.]. Schönecker, Dieter (2013): „Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (2013), S. 91 – 107.
Heiko Puls (Hamburg)
Quo errat demonstrator – warum es in der Grundlegung eine Faktum-These gibt. Drei Argumente gegen Dieter Schöneckers Interpretation Bis heute geht der Mainstream der Kantforschung davon aus, dass man einen Wechsel in Kants Begründung von Sittengesetz und Freiheit zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft nachweisen kann. Während Kant in der ersten Schrift noch eine Deduktion des kategorischen Imperativs stark gemacht habe, so die vorherrschende Meinung, sei diese Begründungsabsicht in der zweiten Kritik zugunsten eines Hinweises auf ein unmittelbares Bewusstsein, auf ein Faktum der Vernunft, aufgegeben worden.¹ Die Deduktion der GMS und die Faktum-Theorie der KpV stünden sich daher wie zwei konträre Begründungsansätze gegenüber. Die Strategie der Freiheits- und Moralbegründung von 1785 müsse als eine ganz andere Art der Argumentation aufgefasst werden als diejenige von 1788 – und die spätere Begründungsbemühung der Geltung des kategorischen Imperativs als eine Revision der früheren Position. Wenn dies zuträfe, dürfte sich in der GMS auch nicht im Ansatz so etwas finden wie die Theorie vom Faktum der Vernunft, d. h., Kant dürfte hier noch nicht erkennen lassen, dass er von der Möglichkeit eines unmittelbaren und unleugbaren Bewusstseins der Geltung des Sittengesetzes ausgeht. Das Sittengesetz könnte an dieser Stelle noch nicht als jene ratio cognoscendi der Freiheit aufgefasst werden, als die es in der KpV ausgezeichnet wird. Dieter Schönecker hat in seinem Aufsatz „Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt“² für diese These drei präzise Argumente formuliert. Sie sollen
Einen summarischen Überblick gibt Schönecker (1999, S. 398). Vgl. S. 1– 13 dieses Bandes (Schönecker 2014). Ich spreche im Folgenden der Einfachheit halber immer nur von der ‚Faktum-These‘ und nicht von „so etwas wie eine[r] Faktum-These“ (Schönecker 2014, S. 1), obwohl diese Differenzierung wichtig ist. Selbst wenn Kant in der GMS schon eine solche These vertritt, ist unstrittig, dass er sie noch in einer – verglichen mit der zweiten Kritik – weniger ostentativen Art formuliert. Es soll also nur dafür argumentiert werden, dass Kant der Sache nach eine solche These bereits in der KpV vertritt, d. h., dass Kant schon an dieser Stelle die Annahme eines unmittelbaren Bewusstseins des Sittengesetzes möglich erscheint und dass sie bereits hier dieselbe argumentative Funktion hat wie in der KpV. Gründe für Unterschiede in der Art der Formulierung dieser These werden im Text später ansatzweise beleuchtet. Des Weiteren wende ich mich in diesem Aufsatz auch keiner Betrachtung des Be-
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die Annahme stützen, dass in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten der Gedanke eines Faktums der Vernunft noch nicht präsent gewesen sein kann. Die drei Argumente beschreibt er als: 1.) das Hirngespinstargument, 2.) das Unterwerfungsargument und 3.) das Bestätigungsargument.³ Das erste Argument (‚Hirngespinstargument‘) besagt, dass Kant in der GMS unmöglich von einem unmittelbaren Bewusstsein des Sittengesetzes ausgegangen sein könne, weil er am Ende der Sektion 2 vom Sittengesetz als einem ‚Hirngespinst‘ spreche und sich auch an anderen Stellen skeptisch frage, ob der kategorische Imperativ tatsächlich Geltung habe. Diese Zweifel stehen für Schönecker in Kontrast zur Faktum-These, da diese von einer unmittelbaren und unleugbaren Geltung des kategorischen Imperativs ausgehe. Das zweite Argument (‚Unterwerfungsargument‘) hängt mit dem ersten zusammen: Da Kant in GMS III mehrfach die Frage stelle, ob es den kategorischen Imperativ als Handlungsgesetz wirklich gebe und warum ein vernünftiges Wesen sich diesem Gesetz unterwerfen solle, könne in der GMS noch kein Rekurs auf ein unmittelbares Bewusstsein des kategorischen Imperativs vorliegen. Die Geltungsfrage könne gar nicht entstehen, wenn diese Geltung dem Subjekt bewusst sei. Das dritte Argument (‚Bestätigungsargument‘) bezieht sich auf Kants Hinweis in GMS III, nach dem der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit der von Kant als Deduktion bezeichneten Argumentation in GMS III bestätige. Wenn Kant in GMS III schon über die Faktum-Theorie verfügte, so Schönecker, dann läge genau in dem Hinweis auf das Bewusstsein der gemeinen
griffs der Faktum-These zu, sondern teile die Interpretation Schöneckers, dass diese These die „ratio cognoscendi der Freiheit sei“ (Schönecker 2014, S. 1) und dass der „Kerngedanke der Faktum-These, wie auch immer genau interpretiert, […] darin [besteht] […], dass wir um die Geltung des moralischen Gesetzes ‚unmittelbar‘ (05:29.34, Hervorhebung D. S.) und ‚unleugbar‘ (05:32.02, Hervorhebung D. S.) wissen“ (Schönecker 2014, S. 2). Weiter nehme ich wie Schönecker an, dass diese These dadurch ausgezeichnet ist, dass „wir ein ‚Bewusstsein‘ (05:31) des moralischen Gesetzes“ haben, dass die „Idee der Freiheit durch ebendieses dieses moralische Gesetz ‚offenbart‘“ wird (Schönecker 2014, S. 2) und dass der Hinweis richtig ist, dass das moralische Gesetz „für sich selbst feststeht“ (Schönecker 2014, S. 3). So wie Schönecker spare ich in meiner Argumentation genauere Textanalysen und die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur nahezu vollständig aus. Außerdem gehe ich auch nicht näher auf Schöneckers Interpretation bestimmter Aspekte der GMS ein (Deduktionsproblematik, analytische vs. synthetische Methode, die Auflösung des Zirkels etc.), die in seinen drei Argumenten zumindest implizit enthalten sind. Ich paraphrasiere diese Argumente hier zur Einführung nur kurz. Eine genaue Wiedergabe erfolgt dann im Zuge des Versuchs der Widerlegung jedes einzelnen dieser Argumente.
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Menschenvernunft vom Sittengesetz die Deduktion – und diese würde durch den Verweis auf jene Vernunft nur bestätigt. Ich werde im Folgenden zeigen, dass alle drei Argumente Schöneckers gegen die Annahme einer Faktum-These in der GMS nicht überzeugen, weil sie teilweise auf falschen Prämissen beruhen. Das Hauptproblem der Argumente Schöneckers liegt – unabhängig von individuellen Kritikpunkten – in der Ausblendung der spezifischen Darstellungsstrategie und Rhetorik der GMS: Man darf sowohl Kants dort vorgetragene Einwände gegen die Möglichkeit der Geltung des kategorischen Imperativs als auch den generell eher tentativen Charakter der Argumentation (hierzu gehört vor allem auch die Benennung der Gefahr eines möglichen Zirkels und dessen Auflösung) nicht als Zeichen einer Unsicherheit Kants missverstehen. Die zahlreichen Kautelen des Textes sind nicht Ausdruck einer argumentativen Unsicherheit oder einer Unentschlossenheit in systematischer Hinsicht, sondern diese Bescheidenheitsvorbehalte sind in erster Linie rhetorischer Natur: Sie dokumentieren, dass Kant mögliche Einwände gegen seine Argumente antizipiert und in seine Darstellung aufnimmt, um sie im Verlauf des Textes zu widerlegen, aufzulösen oder wenigstens zu relativieren. Dieser Dramaturgie der Darstellung der zentralen Argumente in GMS III muss man bei der Interpretation Aufmerksamkeit schenken.
1. Zum ‚Hirngespinstargument‘ Schöneckers ‚Hirngespinstargument‘ geht vom Inhalt der Faktum-These aus und setzt ihn in Verhältnis zu Kants Äußerungen in GMS III, nach denen Sittlichkeit in bestimmter Perspektive nur eine „chimärische Idee ohne Wahrheit“ (04:445.06) oder nur ein „Hirngespinst“ (04:445.08) sein könne. Sein Argument fasst Schönecker folgendermaßen zusammen: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann hält Kant es in der GMS zu keinem Zeitpunkt für möglich, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst ist. 2. Kant hält es in GMS II zu einem Punkt der Argumentation für möglich, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst ist. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These (Schönecker 2014, S. 7).
In der Tat wäre es ein Widerspruch, wenn Kant in GMS III einerseits die FaktumThese verträte, d. h. davon ausginge, dass es ein unmittelbares und unleugbares Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes gibt, es aber andererseits selbst wirklich für möglich hielte, dass das moralische Gesetz nur ein Hirngespinst ist. Die beiden Aussagen ‚A existiert‘ und ‚Es ist möglich, dass A nicht existiert‘ wi-
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dersprechen sich. Auf den ersten Blick ist Schöneckers Argument also überzeugend, da Kant ja am Ende von GMS II tatsächlich vom Sittengesetz als einem Hirngespinst spricht. Auf den zweiten Blick – vor allem dann, wenn man den Kontext dieser Äußerung miteinbezieht und den Begriff des Hirngespinstes näher betrachtet – wird deutlich, dass die Überzeugungskraft von Schöneckers ‚Hirngespinstargument‘ auf einer Ausblendung des Argumentationszusammenhangs in GMS 04:445 und in gewisser Weise auch auf dem Nichterläutern des Begriffs ‚Hirngespinst‘ selbst beruht. Bevor wir uns Kants Argumentation in GMS 04:445 näher zuwenden, soll dieser Begriff, der die Grundlage für Schöneckers Darstellung bildet, genauer analysiert werden. Was versteht Kant unter einem ‚Hirngespinst‘? Dieser Ausdruck taucht – abgesehen von recht unspezifischen Verwendungsweisen in unterschiedlichen Schriften Kants⁴ – vor allem in den Prol (04:292, 327), der KrV (03:103, 145, 368, 04:110), der GMS (04:407, 445) und der KpV (05:154) auf. Hirngespinst ist hier ein Oberbegriff für zwei andere Begriffe: Sowohl ‚Gedankendinge‘ als auch ‚Undinge‘ werden von Kant als Hirngespinste bezeichnet.⁵ Gedankendinge (ens rationis) sind bloß gedachte Sachverhalte, die nicht auf ihre Wirklichkeit hin überprüft, aber jederzeit wirklich möglich sind, Undinge sind bloß gedachte Sachverhalte, die weder widerspruchsfrei denkmöglich noch real sind. Beide Vorkommnisse werden von Kant als Hirngespinste bezeichnet. Sowohl Gedankendinge als auch Undinge sind nämlich Produkte des Gehirns, seine Gespinste. ⁶ In welchem Sinne spricht Kant also in der GMS von dem Sittengesetz als einem Hirngespinst? Der Äußerung, dass das Sittengesetz ein Hirngespinst sein könne, begegnet man in der GMS an zwei Stellen. Zunächst in 04:407.17– 23 in folgender Formulierung: Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit als bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung verlachen, keinen gewünschteren Dienst thun, als ihnen einzuräumen, daß die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Gemächlichkeit gerne überredet, daß es auch mit allen übrigen Begriffen bewandt sei) lediglich aus der Erfahrung gezogen werden mußten; denn da bereitet man jenen einen sicheren Triumph.
Ferner findet sich dieser Ausdruck in der von Schönecker teilweise zitierten Passage in 04:445.02– 15: Vgl. z. B. 02:320, 05:472, 08:307, 20:76. Vgl. Ludwig 2013, S. 164. Zur Verwendung des Begriffs ‚Hirngespinst‘ in der Schulphilosophie zur Zeit Kants vgl. Knebel (2011, S. 77 ff.).
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Wir zeigten nur durch Entwickelung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit: daß eine Autonomie des Willens demselben unvermeidlicher Weise anhänge, oder vielmehr zum Grunde liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Princip derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also eben so, wie der erste bloß analytisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, von welcher wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge darzustellen haben.
Die erste Passage soll später näher betrachtet werden. In welchem Sinne spricht Kant nun in 04:445.02 – 15 vom Sittengesetz als einem Hirngespinst? Eingedenk der begrifflichen Differenzierung des Hirngespinstes in Gedankending und Unding verwendet Kant diesen Begriff hier eindeutig in der ersten Bedeutungsvariante, denn es geht an dieser Stelle nicht um einen potenziellen Widerspruch im Begriff der Sittlichkeit, d. h. nicht um eine Widersinnigkeit des Sittlichen, sondern um dessen möglichen Charakter als reines Gedankending. Kant resümiert in GMS II seine vorangegangene Argumentation, in der er die Möglichkeit der Ableitung einer sittlichen Verpflichtung aus dem in diesem Zusammenhang vorausgesetzten Begriff menschlicher Freiheit dargelegt hatte. In der Begriffsanalyse des möglichen moralischen Gesetzes hatte Kant gezeigt, dass sich dieses Gesetz einer absoluten Verpflichtung aus der Freiheitsidee begrifflich folgern lässt. Der Terminus der Autonomie folgt, so Kant, wenn wir uns ein Wesen als frei und unter Handlungsgesetzen stehend vorstellen. Kant schreibt, dass dieser Abschnitt bloß analytisch gewesen sei, d. h., dass es sich bis zu diesem Punkt der Argumentation um Feststellungen im Kontext einer reinen Analyse von Begriffen und deren Folgerungen gehandelt habe. Kants Formulierung im nächsten Satz muss man besonders genau betrachten. Im Mittelpunkt steht zweifellos der Begriff der Sittlichkeit. Die Sittlichkeit, d. h. die Geltung des kategorischen Imperativs, hatte Kant vorher in Form der begrifflichen Analyse so weit bestimmt, dass er zeigen konnte, wie sich diese Verpflichtung aus dem Begriff der Freiheit ergibt. Wenn der kategorische Imperativ und die Autonomie, die sich aus dem Begriff der Freiheit schließen lassen, wahr sind, dann müsste es auch Sittlichkeit geben. Begriffsanalytisch ist dieses Verhältnis klar und zugestanden. Es ist bisher aber noch nichts darüber gesagt worden, ob dieses Bedingungsverhältnis auch wirklich besteht. Zwar könnte man auf die Ableitbarkeit der Geltung des kategorischen Imperativs und der Autonomie aus der Idee der Freiheit verweisen und daher auch auf die damit verbundene Sittlichkeit. Aber diese wäre im Kontext einer solchen Argumentation bloß ein Gedanke, ein Ge-
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dankending – und damit eben ein Hirngespinst. Damit es nicht bei der Sittlichkeit als einer bloßen begrifflichen Folgerung, d. h. bei einem Gedankending, bleibt, muss ein möglicher synthetischer Gebrauch⁷ der reinen praktischen Vernunft ins Blickfeld rücken – und diese Untersuchung nimmt Kant in GMS III vor. Man könnte in Kants Satz in 04:445.08 das einleitende „Daß“ durch ein „Damit“ ersetzen: Damit die Vorstellung von Sittlichkeit nicht bloß ein Ergebnis auf rein begrifflicher und gedanklicher Ebene bleibt, muss die Untersuchung zum synthetischen Vernunftgebrauch vordringen. Täte sie das nicht, dann bliebe Sittlichkeit zwangsläufig ein bloßer Gedanke, d. h. ein bloßes Hirngespinst. Kant spricht an dieser Stelle also nicht vom Sittengesetz als einem Hirngespinst, weil er die Vorstellung der Sittlichkeit für entweder widersinnig, fantastisch oder womöglich nicht real hält, sondern er weist lediglich darauf hin, dass reine Begriffszergliederung uns keine Auskunft über die Wirklichkeit der Sittlichkeit gibt. Selbst wenn Kant von der Geltung des Sittengesetzes – und damit auch von einem Bewusstsein desselben – bereits in der GMS ausginge, wäre es in dieser Hinsicht nicht widersprüchlich hervorzuheben, dass Sittlichkeit bloß eine rein begriffliche Folgerung bliebe, wenn wir nicht über die Begriffsanalyse hinausgingen und den synthetischen Vernunftgebrauch betrachteten. Der Abschnitt in 04:445.02– 15 stellt nicht ansatzweise ein Indiz für einen Zweifel Kants an der Geltung des kategorischen Imperativs dar, weil sich in diesem Absatz nur eine Abwägung der Methoden zwecks Lösung eines philosophischen Begründungsproblems findet, aber keine Aussage über die Möglichkeit/Wahrscheinlichkeit/ Wirklichkeit der Sittlichkeit selbst. Die zweite ‚Hirngespinststelle‘ in 04:407.17– 23 zeigt zudem, dass Kant seine Argumente vielfach in indirekter Auseinandersetzung mit möglichen Gegenpositionen entwickelt, d. h. in Auseinandersetzung mit Positionen, die der Annahme von Freiheit und Moral skeptisch gegenüberstehen. In diesem Sinne konstatiert er
Worin dieser hier angesprochene synthetische Gebrauch der Vernunft besteht, ist schwer zu beantworten, da Kant zumindest dem Wortlaut nach auf diesen Gebrauch nicht zurückkommt und es so gut wie keine Parallelstellen zu diesem Abschnitt gibt (vgl. Schönecker 2012, S. 231 ff.). Im Zusammenhang mit dieser Formulierung ergibt sich am Ende der Sektion die schwer zu beantwortende und umstrittene Frage nach der Analytizität oder Synthetizität von GMS III. Die ‚Standardinterpretation‘ (vgl. Schönecker 2012, S. 225) geht davon aus, dass Kant in GMS I/II noch einer analytischen Methode folgt, während GMS III dann nach synthetischer Methode verfährt. Schönecker hat dagegen in verschiedenen Arbeiten eingewandt, dass man Kants Rekurs auf die analytische Methode im Lichte von Prol 04:294.11 auch ganz anders auffassen kann. Die Zergliederung der Begriffe in GMS I/II wäre dann nicht zu verwechseln mit der analytischen Methode. Man müsste sagen, dass die GMS als Ganzes analytisch verfährt (vgl. u. a. Schönecker 1999, S. 398 f., Schönecker 2012, S. 241 f.). Zu einer Kritik an Schöneckers Deutung vgl. Milz (1998).
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in der eben genannten Passage, dass man denen, die Sittlichkeit als ein bloßes Hirngespinst betrachten, keinen größeren Gefallen tun könne, als die Prinzipien der Sittlichkeit der Erfahrung zu entnehmen. Auch hier zieht Kant (wenngleich aus anderen Gründen) nicht selbst in Betracht, dass Sittlichkeit in irgendeiner Weise fragwürdig sei, sondern er weist nur darauf hin, dass man für die Vorstellung von Sittlichkeit nicht nur in einer bestimmten Weise argumentieren dürfe. Wenn man dennoch nur in dieser Weise argumentiert, tut man denen, die Sittlichkeit für eine falsche oder unsinnige Annahme halten, einen Gefallen. Auch hier liegt also eher die Beurteilung einer spezifischen Argumentationsperspektive vor als eine Aussage über die Sittlichkeit selbst. Die von Schönecker zitierte Passage aus GMS II, in der Kant zur Metaphysik der Sitten übergeht, ist aus ähnlichen Gründen nicht aussagekräftig im Hinblick auf die Frage, ob Kant in der GMS tatsächlich an bestimmten Stellen die Möglichkeit einer Fragwürdigkeit des Sittengesetzes erwägt (ich zitiere diese Stelle wieder in vollem Umfang): Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß, wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keinesweges aber in hypothetischen ausgedrückt werden könne; imgleichen haben wir, welches schon viel ist, den Inhalt des kategorischen Imperativs, der das Princip aller Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten müßte, deutlich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt. Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei. Bei der Absicht, dazu zu gelangen, ist es von der äußersten Wichtigkeit, sich dieses zur Warnung dienen zu lassen, daß man es sich ja nicht in den Sinn kommen lasse, die Realität dieses Princips aus der besondern Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen. Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Nothwendigkeit der Handlung sein; sie muß also für alle vernünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ treffen kann) gelten und allein darum auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein (04:425).
Kant resümiert hier seine Differenzierung der Imperative in kategorische und hypothetische Imperative. Wenn es eine Gesetzgebung für unsere Handlungen geben soll, dann könne diese nur in einem kategorischen und nicht in einem hypothetischen Imperativ bestehen. Er weist gleichzeitig darauf hin, dass er den Inhalt dieses Imperativs begrifflich – „welches schon viel ist“ – bereits bestimmt habe und dass dieser „das Princip aller Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten müßte“. In Abgrenzung zu dieser Bestimmung des begrifflichen Gehalts fährt Kant dann im nächsten Satz fort: „Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde […]“ (Hervor-
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hebung H. P.).⁸ Schönecker wertet auch diese Passage im Kontext seines ‚Hirngespinstarguments‘ als ein zögerliches Zugeständnis Kants, dass es möglicherweise das Sittengesetz nicht wirklich gebe. Aber auch an dieser Stelle muss man den Argumentationskontext näher betrachten. Es geht Kant hier nicht um eine eventuelle Fragwürdigkeit der Möglichkeit oder Realität des Sittengesetzes, sondern er hält inne und lässt seine bisherige Argumentation Revue passieren: Er betont, dass er den rein begrifflichen Gehalt des kategorischen Imperativs schon befriedigend dargelegt habe, d. h., der Leser wisse zu diesem Zeitpunkt bereits,wie ein kategorisch gebietender Imperativ als ein selbst gegebenes und für unsere Handlungen verbindliches Gesetz formuliert werden müsste, er wisse aber noch nichts über die potenzielle Wirklichkeit dieses Gedankens. Das, was der Transzendentalphilosoph an Begriffen aufstellt und daraus folgert, sagt noch nichts darüber aus, ob „dergleichen Imperativ wirklich stattfinde“ (04:425). Wir können also aus dieser reinen Begriffsanalyse heraus noch nicht sagen, ob es ein solches praktisches Gesetz wirklich gibt (selbst wenn es dieses Gesetz wirklich geben sollte). Diese Frage wird hier noch zurückgestellt. Ähnlich wie Kant in 04:407.17– 23 und 445.02– 15 nur eine Differenzierung der Methoden, das Sittengesetz zu erläutern und zu begründen,vorgenommen und die damit verbundenen Grenzen der jeweiligen Methode bzw. die Konsequenzen einer gewissen Art der Begründung aufgezeigt hatte (‚Wenn wir nur in der Weise x über das Sittengesetz denken, dann könnte es ein Gedankending bleiben‘), macht er auch in 04:425.01– 19 streng genommen keine Angaben zur Wahrscheinlichkeit der Realität des kategorischen Imperativs. Er sagt an dieser Stelle lediglich, dass er über die Realität des Sittengesetzes bisher – da er bis zu diesem Zeitpunkt nur begrifflich argumentiert hat – keine Angaben machen konnte. Die Feststellung, zum Realitätsgehalt eines Sachverhaltes in einer bestimmten Perspektive nichts sagen zu können bzw. an einem bestimmten Punkt des Gedankenganges noch nichts gesagt zu haben, ist etwas anderes, als diesen Sachverhalt tatsächlich und ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Beide Prämissen von Schöneckers ‚Hirngespinstargument‘ sind angesichts des genauen Wortlauts der relevanten Textstellen fragwürdig. Prämisse 1 – „Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann hält Kant es in der GMS zu keinem
Schönecker weist an dieser Stelle auf den Begriff ‚beweisen‘ hin und sieht in dieser Begriffswahl ein weiteres Indiz dafür, dass Kant in GMS III nicht die Faktum-These vertreten haben könne, denn ein solcher Beweis „wäre nicht notwendig, wenn der kategorische Imperativ ein Faktum wäre“ (Schönecker 2014, S. 6). Kant benutzt den Begriff eines Beweises allerdings häufig sehr unscharf. ‚Beweisen‘ kann auch so viel heißen wie ‚bestätigen‘ oder ‚darlegen‘. So schreibt Kant z. B. in der KpV davon, dort „Gründe ausfindig machen [zu] können, zu beweisen, daß diese Eigenschaft [d. h. die Freiheit] dem Willen […] in der That zukomme […]“ (05:15.21– 23).
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Zeitpunkt der Argumentation für möglich, dass das moralische Gesetz ein Hirngespinst ist“ (Schönecker 2014, S. 7) – mag auf den ersten Blick einleuchten. Es wäre ein Widerspruch, wenn Kant die These ‚Es gibt ein Faktum der Vernunft‘ verträte und gleichzeitig behauptete: ‚Es ist möglich, dass es das Faktum der Vernunft nicht gibt‘.Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann könnte er es in der Tat nicht ernsthaft für möglich halten, dass es das Faktum eventuell nicht gibt. Wie wir gesehen haben, stellt Kant selbst aber an keiner der von Schönecker angeführten Stellen die These auf, dass das Sittengesetz nicht möglich oder nicht wirklich sei. Der Begriff des Hirngespinstes ist lediglich im Sinne eines Gedankendings zu verstehen – und Kant behauptet auch nicht einmal, dass das Sittengesetz bloß ein solches Gedankending sei. Er weist nur darauf hin, dass Sittlichkeit eine rein begriffliche Folgerung aus der Idee der Freiheit bliebe, wenn wir nicht zu der Ebene des synthetischen Vernunftgebrauchs übergingen. Er sagt an anderer Stelle auch nicht, dass er selbst es für möglich erachte, dass das Sittengesetz ein Hirngespinst sei, sondern nur, dass man denen, die das Sittengesetz für ein solches Hirngespinst halten, keinen besseren Dienst tun könnte, als dieses Gesetz aus der Erfahrung zu gewinnen (vgl. 04:407). Ebenso wenig stellt er den kategorischen Imperativ dadurch infrage, dass er feststellt, an einem bestimmten Punkt der Argumentation noch nicht so weit zu sein, beweisen oder zeigen zu können, dass dieser Imperativ Wirklichkeit sei. Genau besehen hält Kant es also an keiner der von Schönecker angeführten Abschnitte der GMS für möglich, dass das Sittengesetz bloß ein Hirngespinst sein könnte. Ein Hirngespinst ‚ist‘ das Sittengesetz zunächst wie jeder andere Begriff, einfach in dem Sinne, dass es einen Gedanken darstellt, der auf seine Realität überprüft werden kann (dazu geht Kant dann in der Sektion 3 über). In einer bestimmten Perspektive ist der kategorische Imperativ also ein Gedankending – aber das gilt wie gesagt für jeden Begriff. Die Frage ist darum nicht, ob Kant es für möglich hält, dass das Sittengesetz ein Hirngespinst ist (denn das ist es in gewisser Weise), sondern ob es nur ein solches Hirngespinst, bloß ein reines Produkt des Verstandes ist oder ob es auch Realität hat. Diese Realität stellt Kant zu keinem Zeitpunkt der Argumentation wirklich infrage, er schließt vielmehr bestimmte Methoden/Argumente aus, mit denen man der Frage nach der Realität des Sittengesetzes nicht nachgehen kann.⁹
Schönecker formuliert ergänzend mögliche Einwände gegen seine Prämisse 1. Diese sind streng genommen nur von Bedeutung, wenn man Schöneckers nicht wirklich explizite Auffassung des Hirngespinstes und seine Definition in 04:425 teilt, aber sie sollen an dieser Stelle trotzdem kurz analysiert werden. Es wäre der Einwand denkbar, dass Kant es zwar in GMS II noch für möglich halte, dass das Sittengesetz ein Hirngespinst sei, und bis zu GMS II die FaktumThese nicht aufgestellt habe, er diese These aber in GMS III vertrete. Schöneckers Replik darauf ist zweifach: Zum einen behauptet er, dass Kant „sogar noch in GMS III ausdrücklich infrage
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Prämisse 2 – „Kant hält es in GMS II zu einem Punkt der Argumentation für möglich, dass das moralische Sittengesetz ein Hirngespinst ist“ (Schönecker 2014, S. 7) – ist aus denselben Gründen falsch wie Teile der Prämisse 1. Der Einwand muss auch hier lauten: An den Stellen, die Schönecker anführt, hält es Kant nicht für möglich, dass es Sittlichkeit nicht gebe und diese vielleicht bloß eine Idee oder Fantasterei des Menschen sei, sondern er weist lediglich darauf hin, dass über die Realität der Sittlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt der Argumentation noch keine Feststellungen getroffen wurden und getroffen werden konnten, da sich die Untersuchung bisher nur auf der Ebene der reinen Begriffsanalyse abgespielt habe: Daß [Damit!, Anm. H. P.] nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft […] (04:445, Hervorhebungen H. P.).
stellt, ob es den kategorischen Imperativ wirklich ‚gibt‘“, zum anderen widerspräche es der Faktum-These, „einerseits die Unleugbarkeit des kategorischen Imperativs […] zu leugnen, andererseits aber durch das Infragestellen dieses Imperativs auch jene Unleugbarkeit selbst zu leugnen“ (Schönecker 2014, S. 7). Wenn das Bewusstsein der Geltung des kategorischen Imperativs ein Faktum wäre, dann ließe sich dieses auch nicht leugnen oder infrage stellen (vgl. Schönecker 2014, S. 7). Der erste von Schönecker antizipierte Einwand würde, wenn man ihn im Hinblick auf den Begriff des Hirngespinstes etwas umdeutete, etwas Richtiges ausdrücken. Es ist richtig, dass Kant in GMS II noch nicht zeigt, dass Sittlichkeit etwas Wirkliches ist. Er ist sich dieses Umstandes bewusst, was darin deutlich wird, dass er immer wieder darauf hinweist, bisher nur eine Begriffsanalyse geleistet zu haben, aber noch nicht zum synthetischen Gebrauch der Vernunft gelangt zu sein. Sittlichkeit ist bis zu diesem Zeitpunkt der Argumentation ein Gedankending und damit in gewisser Weise auch ein Hirngespinst. Kant erwägt aber an keiner Stelle selbst ernsthaft die Gefahr, das Sittengesetz könnte bloß ein solches Gedankending sein. Er sagt nur, dass er an einem bestimmten Punkt der Argumentation noch nicht mehr über die mögliche Realität der Sittlichkeit gesagt habe. Unabhängig davon halte ich die Einschätzung für falsch, dass Kant noch in GMS III infrage stelle, dass es den kategorischen Imperativ ‚gebe‘. Auch hier muss man sich genauer auf den Argumentationskontext einlassen: Wie am Ende von GMS II schreibt Kant an den betreffenden Stellen lediglich (ich gehe auf diese Passagen bei der Analyse von Schöneckers Unterwerfungsargument näher ein), dass er bis zu diesem Punkt der Argumentation noch nicht gezeigt habe, dass wir wirklich ein Vernunftvermögen in uns finden, das tatsächlich auf die in der begriffsanalytisch orientierten Argumentation bloß vorausgesetzte Freiheit hinweist. Wieder handelt es sich um ein Resümee des bisherigen Standes der Argumentation, aber nicht um ein grundsätzliches Infragestellen der Realität der Sittlichkeit.
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2. Zum ‚Unterwerfungsargument‘ Schöneckers ‚Unterwerfungsargument‘ schließt an das ‚Hirngespinstargument‘ an. Dieses Argument bringe „im Kern die gleiche Überlegung zum Ausdruck wie das Hirngespinstargument“ (Schönecker 2014, S. 9), nämlich die Unvereinbarkeit der Sittlichkeit als eines unleugbaren Faktums und die Infragestellung des kategorischen Imperativs durch die Frage, warum der Mensch sich diesem unterwerfen sollte: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann stellt Kant in der GMS nicht die Frage, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll. 2. Kant stellt in der GMS die Frage, warum man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These (Schönecker 2014, S. 9).
Schönecker zitiert zur Stützung dieses Arguments Textstellen aus GMS III, in denen Kant davon spricht, dass es noch fraglich sei, ob es den kategorischen Imperativ wirklich gebe. Laut Schönecker wäre es ein Widerspruch, wenn Kant einerseits selbst davon überzeugt wäre, dass es ein unmittelbares Bewusstsein des Sittengesetzes gebe, und dann Fragen wie diese formulierte: „Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch alle andere mit Vernunft begabte Wesen?“ (04:449.11). Auch folgende Feststellung im Kontext der Zirkelproblematik in GMS III ergäbe demnach einen Widerspruch (ich zitiere den von Schönecker angeführten Abschnitt wieder im Kontext): Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Princip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, daß wir wenigstens das ächte Princip genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit aber und der praktischen Nothwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei, keine genugthuende Antwort geben. Zwar finden wir wohl, daß wir an einer persönlichen Beschaffenheit ein Interesse nehmen können, die gar kein Interesse des Zustandes bei sich führt, wenn jene uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden, im Falle die Vernunft die Austheilung desselben
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bewirken sollte, d. i. daß die bloße Würdigkeit, glücklich zu sein, auch ohne den Bewegungsgrund, dieser Glückseligkeit theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber dieses Urtheil ist in der That nur die Wirkung von der schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze (wenn wir uns durch die Idee der Freiheit von allem empirischen Interesse trennen); aber daß wir uns von diesem trennen, d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustande einen Werth verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch nicht einsehen (04:449 f.).
Schönecker zufolge sind das „Fragen, die niemand stellt oder auch nur diskutiert, der das Bewusstsein der Geltung des kategorischen Imperativs für unleugbar hält“ (Schönecker 2014, S. 9). Gegen Schöneckers Behauptung greift an dieser Stelle derselbe Einwand wie bei der Kritik des ‚Hirngespinstarguments‘. Zur Stützung seiner Interpretation zitiert Schönecker nur einzelne Sätze, ohne auf den vollständigen Kontext, in dem diese Sätze stehen, näher einzugehen. Kants gesamte Argumentation in GMS II und GMS III arbeitet beständig mit einer Dramaturgie des „noch nicht“¹⁰. Offenbar möchte Kant etwas zeigen, aber er hält dieses eigentliche Ergebnis zurück, um zuvor deutlich zu machen, worin das Ergebnis nicht liegen kann bzw. durch welche Methode man zu diesem Ergebnis nicht gelangen kann. Dies gilt in besonders starkem Maße für die Auflösung des Zirkelverdachts in GMS III, aus dessen Kontext die oben zitierten Passagen stammen. Kant bezieht sich dort immer wieder auf seine Analyse des Freiheitsbegriffs und des kategorischen Imperativs zurück. Durch diese Analyse haben wir schon „etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, daß wir wenigstens das ächte Princip genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt“ (04:449) haben. Wir wissen, wie sich der Gedanke einer sittlichen Verpflichtung aus der Idee eines freien Wesens ergibt, und wir sehen auf dieser begrifflichen Ebene ein, dass das Handlungsgesetz eines solchen Wesens der kategorische Imperativ wäre. Noch keine Aussage konnte aber im Hinblick auf die „praktische[ ] Nothwendigkeit“, sich diesem zu unterwerfen, vorgenommen werden. Wir wären, wenn wir nur mit dem Instrumentarium der Vgl. 04:431: „Daß es aber praktische Sätze gäbe, die kategorisch geböten, könnte für sich nicht bewiesen werden, so wenig wie es überhaupt in diesem Abschnitte auch hier noch nicht geschehen kann […]“; 04:447: „Was aber dieses dritte sei, worauf uns die Freiheit weiset, und von dem wir a priori eine Idee haben, lässt sich hier noch nicht sofort anzeigen […]“; 04:450: „[…] aber daß wir uns von diesem trennen, d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustande einen Werth verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch nicht einsehen.“; 04:456: „Doch man kann hier noch nicht sagen, dass die Grenze […]“ (alle Hervorhebungen H. P.).
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Begriffsanalyse argumentierten, „um nichts weiter gekommen“ (04:449). Wir könnten die mögliche Gültigkeit des kategorischen Imperativs zwar abstrakt erklären, aber einem Skeptiker, der uns fragte, warum sich ein sinnlich-vernünftiger Mensch diesem Gesetz unterwerfen sollte, könnten wir keine Antwort geben. Es ist damit noch nicht gezeigt, wie und warum der Mensch sich tatsächlich diesem Imperativ unterwirft, d. h., warum er dessen Anspruch aus Freiheit anerkennt.Wie das moralische Gesetz verbindet, kann „auf solche Art“ (04:450) noch nicht eingesehen werden. Selbst wenn Kant schon in der GMS von einem unmittelbaren Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes ausgeht, ist es nicht widersprüchlich festzustellen, dass dieses Bewusstsein hier noch nicht gezeigt wird bzw. gezeigt werden konnte. Die Beobachtung, dass ein Argument oder Beweis an einer bestimmten Stelle der Argumentation noch nicht gezeigt werden kann oder soll, bedeutet nicht, dass es diesen Beweis oder dieses Argument nicht gibt oder dass es unmöglich ist. Auch ein Autor, der davon überzeugt ist, dass es ein unleugbares und unmittelbares Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes gibt, kann innerhalb seiner Argumentation für die Geltung dieses Bewusstseins feststellen, dass an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation dieser Nachweis aus bestimmten Gründen noch nicht erbracht ist (obwohl er ihn später erbringen wird). Auch an dieser Stelle sind Schöneckers Prämissen fragwürdig. Richtig ist aber seine Prämisse 2, denn Kant stellt die Geltungsfrage – und die Antwort auf diese Geltungsfrage ist der Hinweis auf die Faktizität des Sittlichen, der Hinweis auf ein Vermögen, das wir wirklich in uns finden und das in einer Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektiv bestimmenden Ursachen besteht. Schöneckers Replik auf diesen von ihm antizipierten Einwand lautet, dass Kant, wenn er von einem Bewusstsein der Geltung des kategorischen Imperativs ausginge, die Frage nach dessen Gültigkeit überhaupt nicht stellte. Aber auch dieser Einwand wird der spezifischen Dramaturgie der Darstellung von Kants Argumenten in GMS III nicht gerecht: Kant stellt diese Geltungsfrage nämlich nur und immer wieder in rhetorischer Absicht – und damit nicht ernsthaft. In der gesamten Sektion 3 des dritten Abschnitts finden sich zahlreiche solcher rhetorischen Fragen oder in rhetorischer Absicht vorgetragenen Probleme.¹¹ Auch der Zirkel, d. h. die Möglichkeit, dass wir die Gegebenheit der Freiheit vielleicht nur annehmen, um daraus die Sittlichkeit abzuleiten, ist kein Fehler Kants. Er benennt mit diesem Zirkel eine Gefahr, die drohen würde, wenn wir nur mit Begriffen und Folgerungen aus diesen Begriffen argumentierten. Es ist aber nicht so, dass Kant an dieser Stelle eine tatsächliche
„Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Princip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit nicht für sich beweisen“ (04:449.24– 27).
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Gefahr für seine Argumentation oder seine Erklärungsabsicht vermutet, sondern er nutzt diesen Hinweis auf den Zirkel als ein Moment der Dramaturgie seiner Darstellung. Schon die Formulierung „Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist“ (04:450) deutet darauf hin, denn es „scheint“ hier nur ein Zirkel vorzuliegen. Es liegt kein wirklicher Zirkel, keine tatsächliche Gefahr für die Stichhaltigkeit seiner Argumentation vor, weil Kant natürlich schon weiß, dass es einen Ausweg aus diesem Zirkel gibt. Dies gilt auch für die Auflösung desselben, die Kant mit der dramatischen Formulierung „Eine Auskunft aber bleibt uns noch übrig“ (04:450) einleitet, und damit auf ein ihm wohlbekanntes Theorieelement rekurriert, nämlich die Ergebnisse der Auflösung der dritten Antinomie.¹² Ein sehr einprägsames Beispiel für diese Art der Darstellung ist auch der Beginn der Sektion 5, wo Kant erneut einen möglichen Widerspruch zwischen der Idee der Freiheit und dem Begriff einer kausalmechanisch verfassten Natur benennt und eine mögliche Dialektik der Vernunft in sehr drastischer Weise schildert – nur um wenige Zeilen später wieder auf die Auskunft des transzendentalen Idealismus als Lösung zu
Kant könnte z. B. auch den möglichen Zirkel anders darstellen. Er könnte bündig darauf hinweisen, dass dieser Zirkel dann droht, wenn man die Freiheit nur voraussetzt, um aus ihr die Geltung des Sittengesetzes abzuleiten, und er könnte dann argumentieren, dass man auf die Auskunft des transzendentalen Idealismus sowie das Bewusstsein einer Geltung dieses Gesetzes hinweisen kann, die diesen möglichen Zirkel nichtig machen. Entgegen dieser Möglichkeit der Darstellung formuliert er die ‚Hinführung‘ zum und die Auflösung des Zirkels aber über mehrere Seiten und mit dramatischem Gestus, so als drohte hier tatsächlich eine Gefahr, auf deren Bannung er dann selbst erst im Verlauf der Argumentation zu kommen scheint. Im Sinne der ersten zwei Argumente Schöneckers gegen die Annahme einer Faktum-These könnte man dann auch fragen, ob Kant die Auflösung des Zirkelverdachts durch die Ergebnisse der Auflösung der dritten Antinomie erst in 04:450.30 bewusst geworden ist, denn vorher hatte er ja Zweifel geäußert, ob es einen Ausweg aus diesem Zirkel gebe („Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist“, 04:450.18 f.). Kant hält also die Unauflösbarkeit des Zirkels (scheinbar) für möglich. Niemand würde aber ernsthaft behaupten, dass das wirklich der Fall sei und dass Kant nicht, als er diesen Zirkelverdacht formulierte, die Antwort (nämlich den Verweis auf die Auskunft des transzendentalen Idealismus) längst selbst als Lösung im Hinterkopf gehabt hätte. Auch die Formulierung des Zirkels ist rhetorisch geprägt und gibt nicht Zweifel wieder, die Kant an dieser Stelle noch unüberwindlich oder tatsächlich relevant erscheinen. Sie könnten aber seinem Leser bedeutsam erscheinen und darum nimmt sich Kant diesem scheinbaren Problem an. Wenn Kant in der GMS Vorbehalte formuliert, immer wieder seine Ergebnisse resümiert und scheinbar sich selbst und dem Leser bestimmte Fragen stellt, dann darf man darin keine tastende Unsicherheit sehen, sondern eine mäeutische Methode der Explikation seiner zentralen Argumentationsabsichten. Diese Art der Darstellung – man muss nur einmal den Text mit diesem Gedanken bewusst lesen – ist in der GMS besonders signifikant und der Text wird nur durch die Brille dieser Differenzierung von Kants Argumentationsperspektiven tatsächlich verständlich.
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verweisen. Man könnte unzählige weitere Beispiele nennen, die zeigen, dass Kant aus Gründen der Darstellungsdramaturgie Probleme und Fragen aufwirft, deren Auflösung oder Beantwortung bereits vorher völlig klar sind. Selbstverständlich stellt Kant in GMS II und GMS III immer wieder die Frage, ob es so etwas wie den kategorischen Imperativ wirklich gibt. Das könnte – und das ist die Einschätzung Schöneckers – befremdlich oder sogar widersprüchlich erscheinen, denn wenn Kant bereits hier fest davon ausgeht, dass es ein unleugbares und unmittelbares sittliches Bewusstsein gibt, dann müsste er streng genommen nicht mehr fragen, ob es gilt. Der Leser des Textes könnte anderer Meinung sein. Kant nimmt diese Vorbehalte von jemandem, ‚der uns fragte‘, immer wieder in seine Darstellung und die dann folgenden argumentativen Erwiderungen auf.¹³
3. Das ‚Bestätigungsargument‘ Das ‚Bestätigungsargument‘ formuliert einen ganz anderen Einwand als die beiden ersten Argumente. Schönecker zufolge würde es einen Widerspruch darstellen, wenn Kant bereits in der GMS von einem Faktum der Vernunft ausginge, aber in 04:454.20 nur schreibt: „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit der Deduktion“. Während Kant den Nachweis der Geltung des kategorischen Imperativs in der KpV in einem Faktum, das sich selbst in der gemeinen Menschenvernunft finde, begründet sehe, bestätige diese gemeine Menschenvernunft in der GMS nur diese Geltung oder diese Deduktion.¹⁴ Dem sittlichen Bewusstsein, das Kant in GMS III immer wieder zum Thema macht, sei damit noch nicht die „epistemologische Funktion“ zugewiesen, „‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ die Erkenntnis der absoluten Geltung des kategorischen Imperativs zu gewährleisten“ (Schönecker 2014, S. 11). Daraus ergibt sich für Schönecker folgende Argumentation: 1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann wird der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit der Deduktion des kategorischen Imperativs nicht nur bestätigen. 2. Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt nur die Richtigkeit der Deduktion des kategorischen Imperativs. Also: In der GMS vertritt Kant nicht die Faktum-These (Schönecker 2014, S. 11).
Der Begriff der ‚Unterwerfung‘ begegnet uns auch noch in der zweiten Kritik im Zusammenhang mit Kants Lehre von den Kategorien der Freiheit. Obwohl Kant hier schon von der Faktum-These ausgeht, schreibt er, dass das Mannigfaltige unserer Begehrungen der reinen praktischen Vernunft unterworfen werden muss (vgl. Puls 2013, S. 45 f.). Wie Schönecker klammere auch ich die ‚Deduktionsproblematik‘ in diesem Aufsatz aus.
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Ich zitiere zu Beginn wieder die Stelle, auf die Schönecker mit seinem dritten Argument Bezug nimmt: Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein (04:454).
Den zweiten und dritten Satz dieses Abschnitts muss man als eine Explikation des ersten auffassen. D. h., der Satz, der mit „Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht“ beginnt, und der Satz, der sich an diesen anschließt, sind eine Erläuterung der Feststellung, dass der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit von Kants Deduktion bestätige. Offenbar ist nicht nur die Vernunft des Philosophen geeignet, um Kants Deduktion nachzuvollziehen, sondern das, was diese Deduktion zeigt, findet sich bereits in der gemeinen Menschenvernunft. Das Urteil des Philosophen kommt mit demjenigen des ‚gemeinen Mannes‘ überein und letzteres bestätigt die Deduktion. Schönecker stört sich an dem Verb ‚bestätigt‘.Wenn Kant schon hier von einem Faktum der Vernunft ausginge, dann müsste er laut Schönecker nicht nur schreiben, dass der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Geltung des Sittengesetz bestätige, sondern vielmehr, dass dieser die Geltung des Sittengesetzes beweise oder zeige, nämlich durch das Vorhandensein dieses Bewusstsein in der gemeinen Menschenvernunft (vgl. Schönecker 2014, S. 11). Das schon in der gemeinen Menschenvernunft enthaltene Faktum der Vernunft, so könnte man mit Schönecker formulieren, hat die epistemische Funktion, etwas zu zeigen oder zu beweisen – und nicht nur etwas zu bestätigen. Allerdings wäre es merkwürdig, wenn die Passage, die sich an den ersten Satz anschließt und die im Prinzip in nuce die epistemische Funktion des Faktum-Gedankens zusammenfasst (selbst der ärgste Bösewicht wünscht moralisch zu sein, weil sich ihm diese Moralität als richtig ‚aufdrängt‘)¹⁵ hier nur als Bestätigung aufgefasst würde.
Eine Parallelstelle zum ‚Bösewicht-Abschnitt‘ findet sich in der Sektion 5 (04:457.35 – 37– 458.1), wo Kant schreibt, dass die moralischen Gesetze den Menschen „unmittelbar und kategorisch angehen, so daß wozu Neigungen und Antriebe […] anreizen, den Gesetzen seines Wollens als Intelligenz keinen Abbruch thun kann […]“ (Hervorhebung H. P.). Auch hierin drückt sich eine epistemologische Funktion dieses sittlichen Bewusstseins aus.
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Besteht tatsächlich ein so großer Unterschied zwischen dem von Kant gewählten Verb ‚bestätigen‘ in 04:454.20 und dem von Schönecker geforderten ‚zeigen‘, ‚beweisen‘ oder ‚gewährleisten‘? Dass dies kein überzeugendes Argument ist, zeigt ein Blick auf die KpV und Kants dortige Verwendung des Begriffs ‚Bestätigung‘. Zunächst ist es richtig, dass KpV 05:30.03 kein Indiz für die Vermutung darstellt, dass Kant im Zusammenhang mit dem Faktum der Vernunft im Kontext des ‚Galgenbeispiels‘ davon spricht, dass eine bestimmte moralische Erfahrung das Faktum der Vernunft oder dieses Faktum etwas bestätige. Im Hinblick auf das Galgenbeispiel weist Schönecker zu Recht darauf hin, dass hier nicht das Faktum selbst durch moralische Erfahrung bestätigt wird, sondern nur die Ordnung der Begriffe, d. h. die Einsicht, dass das moralische Gesetz die ratio cognoscendi der Freiheit ist und nicht umgekehrt (vgl. Schönecker 2014, S. 11 f.). Andere Stellen, die Schönecker nicht zitiert, sprechen aber dafür, dass es durchaus im Sinne Kants ist zu sagen, dass der Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft etwas wie das Faktum der Vernunft bestätigt. Kant schreibt schon in der Vorrede, dass nun in der zweiten Kritik praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt (05:06.07– 12, Hervorhebung H. P.).
Mit ähnlicher Berechtigung wie Schönecker in Bezug auf 04:454.20 fragt, warum Kant hier schreibe, dass der Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Geltung des kategorischen Imperativs nur bestätige und nicht zeige, beweise oder dem Handlungssubjekt bewusst mache, kann man an dieser Stelle fragen, warum denn das Faktum der Vernunft selbst die Idee der Freiheit nur bestätige. Liegt die Funktion des Faktums nicht gerade darin, dass es als ratio cognoscendi der Freiheit diese Idee im Sinne der von Schönecker angeführten epistemologischen Funktion bewusst macht, beweist, zeigt oder gewährleistet? Liegt die Leistung des Faktums nicht darin, dass wir durch die unmittelbare Einsicht in die Geltung des Sittengesetzes uns auch der Freiheit bewusst sind und uns diese nicht nur bestätigt wird? Es finden sich weitere Stellen in der KpV, die nahelegen, dass Kant keinen starken Gegensatz zwischen ‚bestätigen‘ und ‚zeigen‘, ‚bewusst machen‘ oder ‚gewährleisten‘ sieht, der die Stichhaltigkeit von Schöneckers Interpretation des „bestätigt“ in 04:454.20 belegen könnte. In KpV 05:43 erörtert Kant (ähnlich wie in GMS III) den Gedanken einer intelligiblen Welt und einer in ihr wirksamen moralischen Gesetzgebung. Er schreibt dann in 05:44.35 – 37: „Daß diese Idee wirklich unseren Willensbestimmungen gleichsam als Vorzeichnung zum Muster liege, bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit auf sich selbst“ (Hervorhebung H. P.).
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In den dann folgenden Abschnitten verweist Kant darauf, dass wir „uns durch die Vernunft eines Gesetzes bewußt [sind]“ (05:44.19 f.), d. h., es geht um den Gedanken eines Faktums der Vernunft, eines unmittelbaren Bewusstseins des Sittengesetzes. Die Formulierung in 05:44.35 – 37 ist ganz deutlich eine Variation des Faktum-Gedankens: Dass wir uns wirklich als freie Wesen begreifen, die der Idee der Gesetzgebung einer intelligiblen Welt folgen, bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit auf uns selbst, d. h. der Blick auf das eigene moralische Selbstverständnis, das durch das Bewusstsein des Sittlichen ausgezeichnet ist. Es fällt nicht schwer, in dieser Passage eine Parallelstelle zu 04:454.20 zu sehen. Ob es nun der Rekurs auf die gemeine Menschenvernunft oder die gemeine Aufmerksamkeit auf sich selbst ist, die eine bestimmte moralische Erfahrung verständlich machen soll, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der gemeinsame Sinn dieser Abschnitte ist klar. Nun könnte man, ähnlich wie beim ersten Beispiel, fragen, warum denn diese gemeine Aufmerksamkeit auf sich selbst die Wirklichkeit der Idee einer intelligiblen Handlungsbestimmung wieder nur bestätigt. Kant spricht ja im Kontext dieser Passage kurz darauf davon, dass wir uns des Sittengesetzes bewusst seien. Müsste Kant – im Sinne von Schöneckers Anmahnung der begrifflichen Differenz zwischen einer bloßen Bestätigung und einem epistemologisch erweiterten Zugang in Form eines Bewusstseins – nicht schreiben, dass die Idee einer intelligiblen Welt und ihrer Handlungsgesetze uns durch gemeinste Aufmerksamkeit auf uns selbst (d. h. das eigene moralische Selbstverständnis, das durch ein Faktum der Vernunft bestimmt ist) bewusst oder unmittelbar evident ist? Warum bestätigt die „gemeinste Aufmerksamkeit“ (05:44) auf unser moralisches Selbstverständnis, dem das Faktum der Vernunft zugrunde liegt, nur die Idee einer intelligiblen Welt und ihrer Handlungsgesetze? Unabhängig von der Diskussion der Frage, inwieweit sich die genannten Passagen aus der KpV sachlich auf die ‚Bestätigungsstelle‘ in der GMS beziehen lassen, zeigen diese Abschnitte, dass Kant den Begriff der Bestätigung in Zusammenhängen benutzt, in denen man auch Ausdrücke wie ‚zeigen‘, ‚bewusstmachen‘, ‚gewährleisten‘ oder ‚beweisen‘ einsetzen könnte. Schöneckers Konklusion im ‚Bestätigungsargument‘ ist somit falsch, weil seine Prämissen auf der nicht zutreffenden Annahme beruhen, dass Kant mit dem Ausdruck ‚bestätigt‘ keine solche epistemologische Funktion einschließt, wie sie notwendig ist, um schon in der GMS von der Faktum-These auszugehen. Meine Analyse der drei Argumente Schöneckers konnte zeigen, dass es keinen Grund gibt, nicht anzunehmen, dass Kant schon in der GMS eine Art Faktum-These vertritt. Anders als Schönecker es in seinen Prämissen zum ‚Hirngespinstargument‘ nahelegt, schreibt Kant an der verhandelten Stelle am Ende von GMS II nicht, dass Sittlichkeit möglicherweise eine bloße Fantasie, ein Hirngespinst sei.
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Vielmehr weist er darauf hin, dass Sittlichkeit ein bloßes Gedankending bliebe (und dieses bezeichnet Kant auch als Hirngespinst), wenn wir nicht zu einer bestimmten Art, für diese Sittlichkeit zu argumentieren, übergingen, nämlich zum „synthetischen Gebrauch“ (04:445) der Vernunft (was immer das auch genau heißen mag). Das ‚Unterwerfungsargument‘ ist aufgrund falscher Prämissen ebenso wenig plausibel. Es ist kein Widerspruch, wenn Kant immer wieder bis zu einem gewissen Zeitpunkt der Argumentation in rhetorischer Absicht fragt, warum sich der Mensch dem Sittengesetz unterwerfen soll, obwohl er bereits der Meinung ist, dass es so etwas wie ein Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes gibt. Kants Geltungsfrage in GMS III ist zweifellos ein rhetorisches Zugeständnis an jemanden, ‚der uns fragte‘, aber keine Frage, die Kant tatsächlich sich selbst stellt oder selbst als ein Problem betrachtet – ebenso wenig wie der Zirkel ein Fehler Kants, d. h. eine tatsächliche ‚Gefahr‘ für seine Argumentation ist, sondern lediglich ein aus dramaturgischen Gründen eingesetzter Gedanke. Besonders unplausibel ist Schöneckers ‚Bestätigungsargument‘. Dass Kant schreibt, der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätige die Richtigkeit seiner Deduktion, d. h. seine Überlegung zur Geltung des kategorischen Imperativs, steht nicht im Widerspruch zu der Annahme, dass Kant in GMS III schon die Faktum-These vertritt.Wie wir gesehen haben, gebraucht er den Begriff ‚bestätigen‘ in der KpV auch in einer Weise, die man als ‚zeigen‘ oder ‚beweisen‘ verstehen kann. Kant schreibt, dass die Idee der Freiheit durch ein Faktum bestätigt werde, obwohl man eher erwarten würde, dass das Sittengesetz als Faktum (als ratio cognoscendi) die Freiheit bewusst machte oder in praktischer Rücksicht bewiese und nicht nur bestätigte. In derselben Weise gebraucht Kant das Wort in der Feststellung, dass die gemeinste Aufmerksamkeit auf uns selbst, d. h. auf unsere gemeine moralische Vernunft, die Annahme einer intelligiblen Welt, in der das Sittengesetz gilt, bestätige, obwohl man auch hier erwarten würde, dass er schriebe, diese Aufmerksamkeit zeigte oder bewiese in praktischer Rücksicht, dass es diese intelligible Welt gäbe. Zwar sieht Schönecker deutlich, dass Kant in der GMS „das moralische Gesetz nicht für ein Hirngespinst hält“ und er eine „Antwort auf die Unterwerfungsfrage“ hat. Aber er zieht aus dieser Einschätzung die falsche Konsequenz, dass solange „Raum“ für „solcherlei Zweifel“ sei, die Einsicht in das Faktum der Vernunft noch nicht erreicht sein könne (Schönecker 2014, S. 12). Das Hauptproblem der Interpretation und der Einwände Schöneckers liegt darin, dass er die GMS zur sehr im Lichte der KpV und des möglichen Widerspruchs zu ihr liest: „Würde Kant ein Faktum in der GMS geltend machen, oder anders gesagt, würde er in der GMS die Faktum-These aufstellen, dann wäre für solcherlei Zweifel kein Raum mehr, selbst wenn diese Zweifel schlussendlich
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behoben werden […]“ (Schönecker 2014, S. 12). Wie wir gesehen haben – und wie Schönecker indirekt selbst zugesteht –, sind die ‚Zweifel‘, für die Kant in der GMS ‚Raum‘ lässt, nicht tatsächlich die Zweifel Kants. Diese nur scheinbaren Zweifel des Autors könnten aber wirkliche Zweifel desjenigen Adressaten sein, den Kant beim Verfassen der GMS im Sinn hatte. Die GMS verwendet eine andere Strategie der Darstellung als die KpV. Sie ist in weiten Teilen in der Präsentation ihrer Argumente didaktischer als die zweite Kritik, darin aber auch rhetorischer, und sie bietet in einigen Passagen keine direkte Vermittlung der Auffassung ihres Autors. Man darf sich von ‚Kants Zweifeln‘ also nicht in die Irre führen lassen. Ist es angesichts der hier vorgetragenen ‚Argumente‘ gegen Schöneckers Interpretation erlaubt zu sagen: quo errat demonstrator?
Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe zitiert. Knebel, Sven K. (2011): Suarezismus. Erkenntnistheoretisches aus dem Nachlass des Jesuitengenerals Tirso González de Santalla (1624 – 1705). Abhandlung und Edition [Bochumer Studien zur Philosophie 51]. Amsterdam, Philadelphia. Ludwig, Bernd (2012): „Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786“. In: Mario Brandhorst/Andree Hahmann/Bernd Ludwig (Hrsg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg, S. 155 – 194. Milz, Bernhard (1998): „Zur Analytizität und Synthetizität der Grundlegung“. In: Kant-Studien 89 (Heft 2), S. 188 – 204. Puls, Heiko (2011): „Freiheit als Unabhängigkeit von bloß subjektiv bestimmenden Ursachen. Kants Auflösung des Zirkelverdachts im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.“ In: Zeitschrift für philosophische Forschung 65, S. 534 – 562. Puls, Heiko (2013): Funktionen der Freiheit. Die Kategorien der Freiheit in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Berlin, Boston. Schönecker, Dieter (1999): Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg, München. Schönecker, Dieter/Gregor Damschen (2012): Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch. Berlin. Schönecker, Dieter (2014): „Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente“. S. 1 – 13 [dieses Bandes].
Dieter Schönecker (Siegen)
Quare errat disceptator. Eine Erwiderung auf Heiko Puls Es gehört zu den wohl unausrottbaren Irrtümern der Kantforschung, dass Kant schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als ‚Faktum der reinen praktischen Vernunft‘ begreife. In meinem Beitrag „Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente“¹ habe ich versucht, mit möglichst klaren Argumenten dieser Interpretation einen weiteren, wenn auch wohl kaum finalen Hieb zu versetzen. Mit großer Dankbarkeit habe ich jetzt die Kritik von Heiko Puls an diesem Versuch zur Kenntnis genommen. Er legt mit bemerkenswerter argumentativer Offenheit seine Karten auf den Tisch; Trümpfe sind aber, so meine ich dennoch, nicht dabei. Ich halte also an meiner These – in der GMS begreift Kant das Bewusstsein des moralischen Gesetzes nicht als ‚Faktum der reinen praktischen Vernunft‘ – weiter fest, und auch wenn sie nicht als bewiesen gelten darf (doch was in der Philosophie oder Philosophiehistorie verdiente schon diese Auszeichnung?), so würde ich doch behaupten wollen, dass der kenntnisreiche Kritiker irrt. Ich werde nun zeigen, warum und worin Heiko Puls irrt.²
1. Zum Hirngespinstargument Beginnen wir mit einer semantischen Beobachtung: Puls behauptet (S. 18 dieses Bandes), dass Kant den Begriff ‚Hirngespinst‘ als Oberbegriff für zwei weitere Begriffe verwende, nämlich für ‚Undinge‘ und für ‚Gedankendinge‘. Als ‚Undinge‘ bezeichne Kant „bloß gedachte Sachverhalte, die weder widerspruchsfrei denkmöglich noch real sind“ (Puls, S. 18); unter ‚Gedankendingen‘ begreife Kant „bloß gedachte Sachverhalte, die nicht auf ihre Wirklichkeit hin überprüft, aber jederzeit wirklich möglich sind“ (Puls, S. 18). Dazu zunächst drei Hinweise: Erstens gibt Puls diese Unterscheidung vielleicht nicht richtig wieder. Denn nach Bernd Ludwig,³ auf den Puls sich bezieht, ist auch ein ‚Gedankending‘ ein solches, das
Vgl. S. 1– 13 dieses Bandes. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die Leserinnen und Leser dieses Beitrages mit den vorangehenden Texten von Dr. Puls und mir vertraut sind. Ludwig, Bernd (2012): „Was weiß ich vom Ich. Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kri-
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„nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden“ darf (Ludwig zitiert hier A 290 f., Hervorhebung D. S.), wenn auch aus nicht-logischen Gründen; auch ein Gedankending hat keine ‚objektive Realität‘ (die entsprechende Stelle in der KrV ist allerdings sehr dunkel). Zweitens führt Puls für seine These (‚Hirngespinst‘ sei der Oberbegriff für ‚Gedankending‘ und ‚Unding‘) keinen Beleg mit einer kantischen Textstelle an; er verweist nur auf eine Fußnote bei Ludwig, der aber jene These seinerseits wiederum einfach nur behauptet, nicht aber belegt. Drittens bedenkt Puls weder den zu Kants Zeiten üblichen Gebrauch von ‚Hirngespinst‘ (bzw. ‚Hirngespenst‘)⁴ noch berücksichtigt er in angemessener Weise die nicht wenigen Stellen im kantischen Werk, in denen dieser Ausdruck Verwendung findet. Wirft man etwa einen Blick in das für Kant zeitgenössische Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung, so findet man dort ‚Hirngespinst‘ erläutert als „Werk der bloßen Einbildungskraft, welches entweder gar nicht, oder doch nicht auf die eingebildete Art vorhanden ist, im verächtlichen Verstande; eine Chimäre“⁵; klarerweise wird hier ‚Hirngespinst‘ als Terminus gedeutet, mit dem man sich auf Gegenstände bezieht, die gar nicht oder jedenfalls nicht so, wie man sie sich denkt, ‚objektive Realität‘ besitzen. Dieses Verständnis wird auch dadurch bestätigt, dass in der Definition von Adelung ‚Chimäre‘ als Synonym oder zumindest als stark verwandter, alternativer Begriff zu ‚Hirngespinst‘ aufgeführt wird.⁶ Zugleich ist dies ein zusätzlicher Beleg dafür, dass Kant zumindest an der umstrittenen Stelle in 04:445⁷ ‚Hirngespinst‘ in eben der Weise verwendet, wie Adelung das Wort definiert. Denn an dieser Stelle werden ja ‚Hirngespinst‘ und ‚Chimäre‘ (bzw. ‚chimärische Idee ohne Wahrheit‘) von Kant gleichbedeutend verwendet:
tischen Metaphysik im Jahre 1786“. In: Mario Brandhorst/Andree Hahmann/Bernd Ludwig (Hrsg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg, S. 164. Es ist übrigens bemerkenswert, dass nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuchs der Ausdruck ‚Hirngespenst‘ eine u. a. von Kant eingeführte Variante von ‚Hirngespinst‘ ist. ‚Hirngespinst‘ wird bei Grimm aber mit doppeltem ‚n‘ geschrieben (,Hirngespinnst‘). Diese Schreibweise findet sich in Kants Texten auch, sodass nicht auszuschließen ist, dass der Variante ‚Hirngespinst‘ in der GMS insofern ein Druckfehler zugrunde liegen könnte, als es vielleicht ‚Hirngespinnst‘ hätten heißen müssen oder eben ‚Hirngespenst‘. Ganz ähnlich sind auch die Ausführungen im Grimmschen Wörterbuch; auch die darin angeführten Zitate aus Kants Werk bezeugen Kants Verwendung von ‚Hirngespinst‘ im Sinne Adelungs. ‚Chimere‘ wiederum wird in Adelungs Wörterbuch im Rückgriff auf das Wort ‚Hirngespinst‘ erläutert als „eine neue von der Einbildungskraft ohne Wahrscheinlichkeit zusammen gesetzte Idee“. Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe mit Seiten- und Zeilenangaben zitiert; Rechtschreibung und Interpunktion wurden angepasst.
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Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Princip derselben zugleich einräumen. […]. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr [usw.] (04:445, Hervorhebung D. S.).
Ganz offenkundig benutzt Kant hier in der zweiten Formulierung, um sprachliche Redundanz zu vermeiden, ‚Hirngespinst‘ als Variante für ‚chimärische Idee ohne Wahrheit‘ (er hätte sonst ja sehr hölzern schreiben müssen: Daß nun Sittlichkeit keine chimärische Idee ohne Wahrheit sei …). Es ist daher auffällig und kritikwürdig, dass Puls diese Stelle zur ‚chimärischen Idee ohne Wahrheit‘ zwar zweimal zitiert, aber nicht einmal kommentiert. Puls hat also durchaus recht damit, dass es in der Hirngespinst-Stelle in 04:445 nicht um einen „potenziellen Widerspruch im Begriff der Sittlichkeit“ (Puls, S. 19) geht; sie handelt also in der Tat nicht von der drohenden Gefahr, als wäre ‚Sittlichkeit‘ vielleicht ein ‚Unding‘ im Sinne Puls’ (also ‚weder widerspruchsfrei denkmöglich noch real‘). Es geht aber auch nicht um ein ‚Gedankending‘ im Sinne Puls’. Puls interpretiert die Hirngespinst-Stelle so: Kant habe bisher nur durch analytische Begriffszergliederungen gezeigt, wie Autonomie und Sittlichkeit (der kategorische Imperativ) zusammenhängen. Puls fährt dann fort: Damit die Vorstellung von Sittlichkeit nicht bloß ein Ergebnis auf rein begrifflicher und gedanklicher Ebene bleibt, muss die Untersuchung zum synthetischen Vernunftgebrauch vordringen. Täte sie das nicht, dann bliebe Sittlichkeit zwangsläufig ein bloßer Gedanke, d. h. ein bloßes Hirngespinst (Puls, S. 20);
es bliebe dann „bei der Sittlichkeit als einer bloß begrifflichen Folgerung, d. h. bei einem Gedankending“ (Puls, S. 20), also eben, in Puls’ Sinne, einem ‚Hirngespinst‘. Als Kritik am Hirngespinstargument ist dies aber nicht überzeugend. Denn erstens bleibt es ja dabei, dass nicht nachvollziehbar wäre, warum Kant, wenn er denn in der GMS das moralische Bewusstsein im Sinne der Faktum-These als „unmittelbar“ (05:29.34) und „unleugbar“ (05:32.02) begriffe, den in der Tat bloß analytischen Begriffszusammenhang zwischen Autonomie und kategorischem Imperativ zum Anlass nehmen würde – und dass es einen solchen Begriffszusammenhang auch im Kontext der Faktum-These der KpV gibt, bestreitet ja niemand –, den kategorischen Imperativ (oder weiter gefasst: ‚die Sittlichkeit‘) für ein mögliches ‚Hirngespinst‘ und eine ‚chimärische Idee ohne Wahrheit‘ zu halten. Gewiss, aus der Begriffsanalyse etwa von „Einhorn“ mag sich ergeben, dass ein solches Ding ein „weißes Pferd mit einem sich nach vorne verjüngenden Horn auf der Stirn“ ist, wenn es ein solches Ding denn gibt (was natürlich nicht aus der Begriffsanalyse folgt); aber wenn man bereits ‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ als Faktum wüsste, dass es Einhörner gibt, böte die bloße Tatsache, dass eine ana-
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lytische Begriffszergliederung vorgenommen oder aufgewiesen wird, weder systematisch noch rhetorisch Anlass zu dem Hinweis, Einhörner könnten ja, wenn man allein die Begriffszergliederung voraussetzt, ‚Hirngespinste‘ sein – denn warum sollte man so tun, als wäre uns allein diese Begriffszergliederung gegeben? Zweitens zeigt auch die von Puls angebotene Begriffsbestimmung von ‚Gedankendingen‘ als ‚bloß gedachte Sachverhalte, die nicht auf ihre Wirklichkeit hin überprüft, aber jederzeit wirklich möglich sind‘, dass die Bezeichnung der Sittlichkeit als ein solches ‚Gedankending‘ (in der semantischen Gestalt des ‚Hirngespinstes‘) mit der Faktum-These unverträglich ist; denn das Faktum der Vernunft kann ja, als Faktum, gar nicht ‚auf seine Wirklichkeit hin überprüft‘ werden. Puls geht auch auf die Stelle ein, in der Kant schreibt, er sei noch „nicht so weit, a priori zu beweisen, dass dergleichen Imperativ wirklich stattfinde“ (Puls, S. 21 f.). Er gibt meine Deutung dieser Stelle folgendermaßen wieder: „Schönecker wertet auch diese Passage im Kontext seines ‚Hirngespinstarguments‘ als ein zögerliches Zugeständnis Kants, dass es möglicherweise das Sittengesetz nicht wirklich gebe“ (Puls, S. 22). Aber das ist nicht meine Position. Kant selbst glaubt ja einen erfolgreichen ‚Beweis‘ (die ‚Deduktion‘) geführt zu haben, sodass es widersprüchlich wäre, ihm ein ‚zögerliches Zugeständnis‘ zu unterstellen, ‚dass es möglicherweise das Sittengesetz nicht wirklich gebe‘; was er an dieser Stelle sagt, ist, dass dieser Beweis eben ‚noch nicht‘ geführt worden ist. Ich behaupte vielmehr, dass diese Stelle (und viele andere verwandte Stellen zum ‚Beweis‘ des kategorischen Imperativs) aus zwei Gründen nicht mit der Lesart kompatibel ist, dass Kant bereits in der GMS die Faktum-These vertrete. Denn wenn es einen ‚Beweis‘ für den kategorischen Imperativ gibt, dann ist er kein Faktum (und umgekehrt); und selbst wenn Kant nicht einen ‚Beweis‘ im Sinn gehabt hätte, sondern die Faktum-These, bliebe es widersprüchlich, wenn er hier feststellen würde, die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs sei durch das Faktum der Vernunft „noch nicht“ (04:450.17, Hervorhebung D. S.) erwiesen; denn das Faktum als Faktum ist ja dem Bewusstsein des Menschen jederzeit gegeben. Es ist wahr, „aus der reinen Begriffsanalyse heraus [können wir] noch nicht sagen, ob es ein solches praktisches Gesetz wirklich gibt“ (Puls, S. 22); aber eine „Frage“ (Puls, S. 22) nach der Wirklichkeit des Gesetzes kann es trotzdem nicht geben, weil es ja, wenn Kant das moralische Gesetz in der GMS bereits als Faktum begriffe, ‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ gegeben wäre und dieses Gegebensein des moralischen Gesetzes keinen Raum lässt für eine ‚Frage‘ nach seiner Wirklichkeit.
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2. Zum Unterwerfungsargument Puls schreibt, dass ich „nur einzelne Sätze“ (Puls, S. 26) zitiere, und zwar „ohne auf den vollständigen Kontext, in dem diese Sätze stehen, näher einzugehen“ (Puls, S. 26). Ich bilde mir aber durchaus ein, mir, allgemein gesprochen, der Wichtigkeit von Kontexten bewusst zu sein (und habe sogar, im Besonderen gesprochen, ein gewisses Vertrauen darin, Text und Kontexte von GMS-Stellen zu kennen), und die Tatsache, dass ein Autor in bestimmten Kontexten des eigenen Textes Sätze aus anderen Texten zitiert und diskutiert, ohne deren Kontexte dabei unmittelbar zu berücksichtigen, beweist nicht, dass er die Letzteren nicht kennt oder prinzipiell vernachlässigt. So oder so, die Frage ist, was für einen Kontext die für das Unterwerfungsargument maßgeblichen Stellen denn haben könnten, der es ermöglichte, sie anders zu lesen, als ich es vorschlage. Aber Puls, so scheint mir, hat dazu kaum mehr anzubieten als den recht vagen Hinweis auf eine angebliche „Dramaturgie des ‚noch nicht‘“ (Puls, S. 26), die Kant entfalte; Kant stelle die Geltungsfrage (‚woher das moralische Gesetz verbinde‘, warum wir uns ihm, ‚unterwerfen‘ sollen) „nämlich nur und immer wieder in rhetorischer Absicht – und damit nicht ernsthaft“ (Puls, S. 27). Aber was genau ist denn jene ‚Dramaturgie‘? Und worin genau besteht denn diese ‚rhetorische Absicht‘? Nicht nur sagt Puls dazu nichts; was er sagt, steht im Widerspruch zum Kern der Faktum-These. Zunächst: Puls hat durchaus recht mit seinem Hinweis, dass Kant in der GMS wiederholt Fragen stellt und Probleme thematisiert, so wie auch und besonders im Kontext des sogenannten Zirkelverdachts (dieser ist Puls’ wichtigstes Beispiel). Aber erstens ist nun gerade der Zirkelverdacht kein Verdacht, den Kant nur in ‚rhetorischer Absicht‘ formulierte, denn das würde ja nach der Auskunft von Puls auch bedeuten, dass Kant diesen Verdacht ‚nicht ernsthaft‘ thematisierte. Aber der Zirkelverdacht ist natürlich ernsthaft. (Und erneut: Worin besteht diese ‚rhetorische Absicht‘ bei der Geltungsfrage oder auch beim Zirkelverdacht? Darauf gibt Puls keine Antwort.) Zwar „scheint“ (04:450.19) es nur, wie Kant schreibt, dass man das Problem nicht lösen könne; aber immerhin nimmt die Aufhebung des Zirkelverdachts dann ja fast drei Seiten und die ganze Kraft des transzendentalen Idealismus samt seiner Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung in Anspruch – will Puls ernsthaft behaupten, dies geschehe nicht ernsthaft? Offenkundig impliziert doch die Überzeugung eines Autors, ein Problem lösen zu können, nicht, dass er dieses Problem nicht ernst nimmt oder eben ‚nicht ernsthaft‘ diskutiert (wäre dem so, hätte Kant sich z. B. die ganze Antinomienlehre samt seiner Lösung der Antinomien auch sparen können); vielmehr ist geradezu umgekehrt die ausführliche Behandlung eines Problems Beweis seiner Relevanz auch für den Autor, für den es ein – wenn auch lösbares – Problem ist. Anders gesagt:
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Ein Problem ernsthaft zu behandeln bedeutet nicht, es für unlösbar zu halten; und es für lösbar zu halten, oder zu beanspruchen, es gelöst zu haben, wiederum bedeutet nicht, es nicht ernsthaft zu behandeln. Zweitens ist bereits das Stellen der Geltungsfrage – das war mein Haupteinwand, auf den Puls aber, wie sich jetzt zeigt, nicht antwortet – vor dem Hintergrund der Faktum-These weder sachlich noch (irgendwie) rhetorisch sinnvoll. In der Erläuterung zu der ‚Dramaturgie‘ schreibt Puls: Selbst wenn Kant schon in der GMS von einem unmittelbaren Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes ausgeht, ist es nicht widersprüchlich festzustellen, dass dieses Bewusstsein hier noch nicht gezeigt wird bzw. gezeigt werden konnte. Die Beobachtung, dass ein Argument oder Beweis an einer bestimmten Stelle der Argumentation noch nicht gezeigt werden kann oder soll, bedeutet nicht, dass es diesen Beweis oder dieses Argument nicht gibt oder dass es unmöglich ist (Puls, S. 27).
Nun kann man zwar in der Tat, und man möchte sagen: trivialerweise, daraus, dass ein ‚Argument oder Beweis‘ noch nicht gezeigt worden ist, nicht folgern, dass es ein solches Argument oder einen solchen Beweis ‚nicht gibt‘. Aber der Witz am Faktum der reinen praktischen Vernunft besteht doch gerade darin, dass es, als Faktum, eines ‚Argumentes oder Beweises‘ weder fähig noch bedürftig ist; es steht eben ‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ ‚für sich selbst‘ fest. Puls fährt folgendermaßen fort: Auch ein Autor, der davon überzeugt ist, dass es ein unleugbares und unmittelbares Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes gibt, kann innerhalb seiner Argumentation für die Geltung dieses Bewusstseins feststellen, dass an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation dieser Nachweis aus bestimmten Gründen noch nicht erbracht ist (obwohl er ihn später erbringen wird) (Puls, S. 27).
Dies ist aber in sich widersprüchlich, weil es nicht noch einmal für die ‚Geltung dieses Bewusstseins‘, wie Puls schreibt, einen ‚Nachweis‘ geben kann; wollte oder müsste man diesen erbringen, wäre das Bewusstsein eben kein ‚Faktum‘ (nichts Gegebenes). Und aus diesem Grund gibt es in der GMS auch nicht jene ‚Dramaturgie des noch nicht‘; der wiederholte Hinweis auf den ‚noch nicht‘ erbrachten Beweis der Geltung des kategorischen Imperativs ist nur sinnvoll, wenn diese Geltung nicht bereits im Bewusstsein des kategorischen Imperativs ‚unmittelbar‘ und ‚unleugbar‘ gegeben ist. Es ist daher auch kein Zufall, dass Kant in der KpV schon im allerersten Absatz der Vorrede festhält, dass die „Realität“ (05:03) der Freiheit „durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist“ (05:03); dass die Freiheit sich durch dieses Gesetz „offenbart“ (05:04), und zwar deshalb, weil die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, „welches wir wissen“ (05:04, Hervorhebung D. S.) – und deswegen ist schon in dieser
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Vorrede davon die Rede, dass die Realität der Freiheit „durch ein Faktum bestätigt“ (05:06, Hervorhebung D. S.) wird.
3. Zum Bestätigungsargument Bei seiner Kritik an meinem Bestätigungsargument zitiert Puls zuerst die Stelle, die auch ich hier zunächst wiederholen möchte: Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zustande bringen; wobei er dennoch zugleich wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein (04:454).
Puls schreibt dann, dass der zweite und dritte Satz dieser Stelle (‚Es ist niemand […] frei zu sein‘) die „Feststellung, dass der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit von Kants Deduktion bestätige“ (Puls, S. 30), erläuterten. Aber das ist falsch. Diese Sätze explizieren, worin der im ersten Satz der Stelle genannte ‚praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft‘ besteht, nicht aber, dass dieser Gebrauch die Deduktion ‚bestätigt‘; das tut er zwar, aber das ist es nicht, was die Sätze als Explikation des ersten Satzes explizieren. Aber dies ist nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr weist Puls unter Bezugnahme auf diverse andere Stellen in Kants Schriften (wie etwa auf die von mir eben zitierte Stelle aus der KpV: „durch ein Faktum bestätigt“, 05:06) darauf hin, dass der Ausdruck ‚bestätigen‘ bei Kant nicht nur den noch heute üblichen Sinn von ‚bestätigen‘ hat (im Sinne von ‚bekräftigen‘ oder ‚als richtig erklären‘), sondern auch den deutlich stärkeren Sinn von ‚zeigen‘, ‚beweisen‘, ‚bewusstmachen‘ oder ‚gewährleisten‘. Und weil er diesen deutlich stärkeren Sinn habe, sei der umstrittene erste Satz aus jener Stelle auch nicht als Indiz im Sinne des Bestätigungsargumentes verwertbar. Nun bin ich Heiko Puls zwar sehr dankbar für den wirklich wichtigen Hinweis, dass ‚bestätigen‘ die deutlich stärkere Bedeutung oder zumindest Konnotation von ‚beweisen‘ (usw.) haben kann; und ein Blick in Adelungs Wörterbuch gibt Puls in der Tat recht. Aber aus dieser Tatsache lässt sich keineswegs das ableiten, was Puls ableiten will. Denn auch wenn ‚bestätigen‘ an manchen Stellen diese starke Bedeutung haben kann oder vielmehr hat, ist doch die Frage, ob dieser Ausdruck an dieser Stelle (04:454) diese Bedeutung hat oder vielmehr haben kann.Wir erinnern
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uns: Kant kündigt mehrmals und zwar schon in GMS II eine Antwort auf die Frage an, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei. Diese Antwort nennt er wiederholt ‚Beweis‘ oder ‚Deduktion‘ des kategorischen Imperativs. Die Überschrift von Sektion 4 besteht in jener Frage: Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? Kant liefert die Antwort, also eben einen ‚Beweis‘ oder eine ‚Deduktion‘. Es spielt nun für unsere gegenwärtige Frage keine Rolle, worin genau diese Deduktion besteht, und in welchem Sinne genau sie ein Beweis ist (als echter deduktiver Beweis, als transzendentaler, oder auch als bloßer Nachweis der epistemischen Möglichkeit). Jedenfalls aber schreibt Kant dann (04:454): (B) Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion.
Nimmt man nun Puls’ Vorschlag beim Wort und versteht ‚bestätigt‘ hier im stärkeren Sinne, so erhält man: (B)* Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft beweist die Richtigkeit dieser Deduktion.
Aber welchen Sinn soll es ergeben, dass etwas (was auch immer es ist) eine Deduktion beweist? Diese Deduktion ist ja selbst der Beweis; in Puls’ Lesart erhalten wir also tatsächlich: (B)** Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft beweist die Richtigkeit dieses Beweises.
Und das ergibt eben keinen rechten Sinn; denn ein Beweis ist ja dadurch Beweis, dass er etwas beweist, und er bedarf nicht, als Beweis, eines Beweises (natürlich kann man Voraussetzungen oder Prämissen eines Beweises wieder als wahr erweisen, aber darum geht es hier offenkundig nicht, da ja selbst in der Pulsschen Lesart der ‚praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft‘ nicht die Voraussetzungen oder Prämissen der Deduktion beweist). Es ergibt aber sehr wohl großen Sinn, wenn ein Beweis durch etwas anderes noch eine Bestätigung oder Bekräftigung erfährt. Genau so ist es an der Stelle in 04:454 auch gemeint; und weil das so ist, kann das Bewusstsein des moralischen Gesetzes auch kein Faktum sein – es hätte dann eben selbst als Faktum beweisende Kraft. Ich habe in meinem Beitrag ausdrücklich, aber nur aus ökonomischen Gründen, auf eine Präsentation des Deduktionsargumentes verzichtet; das war vielleicht ein Fehler, weil die wiederkehrende Rede vom Beweis usw. im engen Zusammenhang steht mit dem Hirngespinst- und Unterwerfungsargument. Immerhin habe ich das Deduktionsargument aber kurz formuliert:
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1.
Wenn Kant in der GMS die Faktum-These vertritt, dann gibt es in der GMS keine Deduktion des kategorischen Imperativs. 2. In der GMS gibt es aber eine Deduktion des kategorischen Imperativs. Also: Kant vertritt in der GMS nicht die Faktum-These. Nimmt man dieses Argument zusammen mit den von mir präsentierten Argumenten, so scheint mir nach wie vor die These, dass Kant in der GMS mit einem Faktum der Vernunft operiert, eindeutig falsch. Wenn schon nicht gilt: quod erat demonstratum, so doch immerhin: quare errat disceptator.
Heiko Puls (Hamburg)
Quare errat disceptator? Eine Erwiderung auf Dieter Schöneckers Replik Dieter Schönecker hat auf meine Replik „Quo errat demonstrator – warum es in der Grundlegung eine Faktum-These gibt“ (vgl. S. 15 – 34 dieses Bandes) mit einer Gegenreplik geantwortet („Quare errat disceptator. Eine Erwiderung auf Heiko Puls“, vgl. S. 35 – 43 dieses Bandes). In dieser versucht er zu zeigen, dass meine Einwände gegen sein ‚Hirngespinstargument‘, sein ‚Unterwerfungsargument‘ und sein ‚Bestätigungsargument‘ nicht überzeugend sind. In meiner nun folgenden zweiten Replik halte ich trotz Schöneckers scharfsinniger Kritik an meiner These fest, dass Kant in der GMS bereits von einem Bewusstsein des Sittengesetzes im Sinne eines Faktums der Vernunft ausgeht.¹
1. Zu Schöneckers Replik auf meine Kritik am ‚Hirngespinstargument‘ Ich stimme Dieter Schönecker zu, dass meine Interpretation des Begriffs ‚Hirngespinst‘ bei Kant weiterer Vertiefung bedarf. Zur Klärung der Frage, was Kant unter einem Hirngespinst versteht und in welchen Bedeutungsschattierungen er diesen Begriff verwendet, müsste man in der Tat alle Stellen, in denen dieser Begriff auftaucht, näher betrachten. Eine kurze Übersicht über relevante Stellen habe ich in meinem ersten Beitrag gegeben.² Im Folgenden möchte ich kurz deutlich machen, dass Kant eine Identifikation der Begriffe ‚Hirngespinst‘ und ‚Gedankending‘ nicht nur in der von Schönecker als ‚dunkel und unklar‘ bezeichneten Passage aus der KrV vornimmt. Die Beobachtung von Bernd Ludwig, auf die ich mich in R1³ beziehe, nach der Kant in der KrV auch das Gedankending (ens rationis) als Hirngespinst bezeichnet, lässt sich auch an anderer Stelle verifizieren. In der Metaphysik von Schön heißt es:
Für Schöneckers Interpretation der GMS siehe Schönecker (1999), für meine Puls (2011 und 2015). Vgl. S. 18 dieses Bandes. R1 verwende ich in diesem Text als Abkürzung für meine erste Replik (S. 15 – 34 dieses Bandes) auf Schöneckers ersten Beitrag.
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[W]as sich nicht widerspricht, davon ist der Gedanke zwar möglich, allein ich kann nicht schließen von der Möglichkeit des Gedankens auf die Möglichkeit des Objects selbst; denn sonst verfalle ich in neue Widersprüche Hirngespinste und Chimaeren. […] Ein logisches Etwas nennt man Ens rationis ein Ding leerer Vernünfteley (28:477 f.).
Diese Passage ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Zunächst weist Kant an dieser Stelle auf mögliche Konsequenzen falscher Schlüsse aus der Begriffsanalyse hin: Es wäre fatal, wenn wir aus der logischen Möglichkeit eines Gedankens auf die reale Möglichkeit des Objekts selbst schließen würden. Ein solcher Schluss führe möglicherweise zu Hirngespinsten. Kurz darauf schreibt Kant, dass man ein „logisches Etwas“, zu dem man anhand eines solchen Schlusses gelangt, ein ens rationis nennt, also ein „Ding leerer Vernünfteley“. Interessanterweise deutet sich an dieser Stelle auch noch eine mögliche Differenzierung zwischen den Begriffen ‚Hirngespinst‘ und ‚Chimäre‘ an, denn Kant spricht von ‚Widersprüchen, Hirngespinsten und Chimären‘,was nahelegt, dass die Bedeutung eines Hirngespinstes und einer Chimäre nicht in allen Aspekten deckungsgleich sind. Während meine Interpretation des Hirngespinstes in 04:445 im Sinne von VMet/Schön (28:477 f.) den Aspekt des gedanklich-logischen Konstrukts und damit dessen Charakter als Gedankending betont, steht bei Schöneckers Definition dieses Begriffs eher der erdichtete Charakter und damit eine pejorative Bedeutungsschattierung im Vordergrund. Das eine Mal haben wir es beim Hirngespinst mit einem (möglicherweise auch aus logischen Gründen) bloß erdachten Ding zu tun, das andere Mal mit dem Produkt einer ausschweifenden Phantasie. Obwohl es – wie ich noch zeigen werde – für die Widerlegung von Schöneckers ‚Hirngespinstargument‘ streng genommen keine Rolle spielt, in welcher Bedeutungsvariante Kant in 04:445.06 – 08 von einem Hirngespinst spricht, halte ich die Verwendung des Begriffs des Hirngespinstes im Sinne eines ens rationis (04:445.08) weiterhin für plausibler. Zwar heißt es in 04:445.06 zunächst, dass derjenige, der Sittlichkeit nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit halte, die Richtigkeit der von Kant zuvor angeführten Begriffszergliederung einräumen müsse, aber diese chimärische Idee ist nicht identisch mit dem Begriff ‚Hirngespinst‘ im Satz darauf. Kant verwendet hier augenscheinlich zwei verschiedene Bedeutungsvarianten des Begriffs ‚Hirngespinst‘, und dies aus inhaltlichen Gründen. Wer annimmt, dass es Sittlichkeit wirklich gibt und sie nicht von vornherein für ein bloßes Produkt menschlicher Phantasie hält, der muss die von Kant in GMS I/II angeführten begrifflichen Überlegungen einräumen. Das sagt Kant in 04:445.05 – 07 und dieser Gedanke bildet ein abgeschlossenes Argument. Kant bezieht sich an dieser Stelle eindeutig auf die Bedeutung des Hirngespinstes als menschliches Phantasieprodukt. In diesem Satz geht es um das logische Verhältnis zwischen der Annahme einer Sachhaltigkeit des Gedankens der Sitt-
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lichkeit und der zuvor geleisteten Begriffsanalyse. Das ist nachvollziehbar, denn wie sollte etwas möglicherweise wirklich sein, wenn es bereits begrifflich unklar oder sogar widersprüchlich wäre? In dem Satz, der in 04:445.08 auf die eben erläuterte Feststellung folgt, wendet sich Kant einem anderen Gedanken zu, der aber mit der genannten Feststellung in einem engen Zusammenhang steht: Damit Sittlichkeit nicht ein Hirngespinst sei, was bloß folgt, wenn man die Richtigkeit der Begriffszergliederung voraussetzt, muss der synthetische Gebrauch der reinen praktischen Vernunft hinzugezogen werden. Während sich Kant in 04:445.06 also zum logischen Bedingungsverhältnis zwischen der Annahme der Richtigkeit der Begriffsanalyse und der Annahme einer Realität des Sittlichen äußert (‚wer Sittlichkeit nicht für eine bloße Phantasie halten will, muss die Richtigkeit der Begriffsanalyse einräumen‘), äußert er sich in 04:445.08 zum Verhältnis zwischen der Begriffsanalyse und der möglichen Realität des Sittlichen. Die beiden Sätze in 04:445.06 – 08 kann man in ihrem Zusammenhang so paraphrasieren: 1) Derjenige, der Sittlichkeit nicht für ein menschliches Phantasieprodukt, d. h. eine chimärische Idee ohne Wahrheit (1. Bedeutungsvariante des Hirngespinsts) hält oder halten will, muss zunächst die Richtigkeit der kantischen Begriffsanalyse einräumen; 2) aus der Richtigkeit der Begriffsanalyse folgt jedoch noch nicht automatisch die Realität des Sittengesetzes. Es könnte – wie Kant es in V-Met/Schön (28:477 f.) grundsätzlich erläutert – der unzureichende Schluss aus der Richtigkeit dieser Analyse auf die Realität des Sittlichen gezogen, d. h. „von der Möglichkeit des Gedankens auf die Möglichkeit des Objects selbst“ (28:477 f.) geschlossen werden. Die Annahme der Realität der Sittlichkeit könnte nämlich bloß aus der Richtigkeit eines Gedankens ‚folgen‘ und damit ein Hirngespinst in Sinne eines bloßen Gedankendings (2. Bedeutungsvariante des Hirngespinsts im Sinne des ens rationis in 28:477 f.) bleiben. Kant verwendet in 04:445.06 – 08 also genau besehen beide Bedeutungen des Begriffs ‚Hirngespinst‘, wie sie sich auch in der Differenzierung aus Met/Schön (28:477 f.) andeuten. Wie bereits erwähnt, kommt es jedoch bei der Beurteilung von Schöneckers Replik auf meine Widerlegung seines ‚Hirngespinstargumentes‘ streng genommen nicht auf diese Differenzierung an, sondern auf Kants tatsächliche Aussageabsicht und die grammatische Struktur der Sätze in 04:445.05 – 12. Ich habe in R1 dafür argumentiert, dass Kant an dieser Stelle nicht schreibt, dass er selbst das Sittengesetz möglicherweise für ein bloßes Hirngespinst halte, sondern nur, dass der Gedanke der Sittlichkeit ein Hirngespinst (ein Gedankending oder eine bloße Einbildung des Menschen) bliebe, wenn (!) nicht zu einem synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft übergegangen wird. Schönecker wendet dagegen ein (ich zitiere in voller Länge):
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Gewiss, aus der Begriffsanalyse etwa von „Einhorn“ mag sich ergeben, dass ein solches Ding ein „weißes Pferd mit einem sich nach vorne verjüngenden Horn auf der Stirn“ ist,wenn es ein solches Ding denn gibt (was natürlich nicht aus der Begriffsanalyse folgt); aber wenn man bereits ,unmittelbar‘ und ,unleugbar‘ als Faktum wüsste, dass es Einhörner gibt, böte die bloße Tatsache, dass eine analytische Begriffszergliederung vorgenommen oder aufgewiesen wird, weder systematisch noch rhetorisch Anlass zu dem Hinweis, Einhörner könnten ja, wenn man allein die Begriffszergliederung voraussetzt, ,Hirngespinste‘ sein – denn warum sollte man so tun, als wäre uns allein diese Begriffszergliederung gegeben? (Schönecker 2014b, S. 37 f. dieses Bandes).
Ob es Einhörner wirklich gibt, lässt sich aus der bloßen Begriffsanalyse nicht erschließen; wir müssen uns der synthetischen Perspektive zuwenden, um diese Frage zu beantworten. Ebenso, wie wir anhand der reinen Begriffsanalyse nicht sagen können, ob das Sittengesetz tatsächlich Realität hat. Dieser Gedanke ist zugebenermaßen ein grundsätzlicher, keinesfalls aber ein trivialer.⁴ Man kann beispielsweise für die Vorstellung Gottes rein begrifflich argumentieren, indem man die Legitimität dieses Gedankens aus bestimmten logischen Prämissen ableitet und dabei nach der logischen Verknüpfung der mit ihm verbundenen Attribute fragt. Selbst dann, wenn man voraussetzt, dass die Annahme der Existenz Gottes eigentlich keiner Argumentation bedarf, da es eine Art divinatorischen Sinn, ein unmittelbares Bewusstsein des Gottes im Menschen gibt,⁵ kann man dennoch nach der Möglichkeit und Wirklichkeit der Existenz Gottes fragen. Selbst wenn man also davon ausgeht, dass es ein unleugbares Bewusstsein Gottes im Menschen gibt, kann man in einem philosophischen Aufsatz feststellen, dass die reine Begriffsanalyse nichts über die Wirklichkeit Gottes aussagt. Der Begriff Gottes könnte ein bloßes Hirngespinst⁶ sein, wenn ich rein begrifflich argumentiere und keine weiteren Gründe anführe oder Untersuchungen anstelle. Ein weiterer Einwand Schöneckers im Kontext meiner Replik auf das ‚Hirngespinstargument‘ lautet, dass Kant in GMS III die These vom Faktum der Vernunft noch nicht vertreten haben könne, da er wiederholt die Frage stelle, ob es das Sittengesetz wirklich gebe. Ich hatte in meiner ersten Replik auf Schöneckers Genau diesen Gedanken erörtert Kant in V-Met/Schön (28:477 f.). Eine solche Position wird tatsächlich vertreten, und zwar von Alvin Plantinga (vgl. Plantinga 2000). Ich erhebe allerdings in meinem Beispiel keinen Anspruch, dessen Theorie korrekt wiederzugeben. Mein Beispiel ist fiktiv. Meiner Differenzierung des Begriffs ‚Hirngespinst‘ in 04:445.06 und 04:445.08 folgend, könnte Gott im Hinblick auf zwei unterschiedliche Aspekte als Hirngespinst bezeichnet werden. Einmal im Sinne eines Produkts der bloßen menschlichen Phantasie und damit eher in abschätziger Weise (also in der Bedeutung des Hirngespinstes als chimärischer Idee) und das andere Mal als bloßes Produkt des Verstandes, z. B. in einem als logisch schlüssig erachteten Gottesbeweis (dies wäre dann das Hirngespinst im Sinne des Gedankendinges, des ens rationis).
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Interpretation argumentiert, dass die Frage eines Theoretikers, ob ein bestimmtes Bewusstsein im Menschen vorliegt, nicht in einem echten Widerspruch zu dessen Annahme steht, dass es ein solches Bewusstsein im Menschen gebe. Eine Frage nach der Wirklichkeit des Sittengesetzes kann es Schönecker zufolge für Kant jedoch nicht geben, wenn Kant bereits hier von einem unmittelbaren Bewusstsein des Sittengesetzes ausginge: Weil es – so Schönecker –, „wenn Kant das moralische Gesetz in der GMS bereits als Faktum begriffe, ,unmittelbar‘ und ,unleugbar‘ gegeben wäre und dieses Gegebensein des moralischen Gesetzes kein Raum lässt für eine ,Frage‘ nach seiner Wirklichkeit“ (vgl. Schönecker 2014b, S. 38 dieses Bandes). Diese Einschätzung halte ich für unplausibel; sie scheint mir auf einer Verwechslung der Argumentationsebenen zu beruhen. Um bei unserer Gottesanalogie zu bleiben: Wenn der Mensch ein unmittelbares Bewusstsein Gottes hat, dann braucht er für seine Überzeugung keine weiteren Argumente anzugeben. Es wäre auf dieser Ebene auch widersinnig, in einem echten Sinne nach dessen Existenz zu fragen oder sie infrage zu stellen. Ein solches Faktum Gottes ließe in dieser Perspektive in der Tat keinen Raum für einen echten Zweifel des gläubigen Subjekts. Als Religionsphilosoph, der für die Existenz Gottes argumentiert, kann ich aber sehr wohl nach diesem Bewusstsein, seiner Beweiskraft und seiner Quelle fragen. Ich könnte in dem Wissen, das unmittelbare Bewusstsein Gottes zu haben, und eingedenk der Vermutung, dass auch andere Menschen dieses Bewusstsein in sich tragen, eine Grundlegungsschrift zur Existenz Gottes schreiben, in der ich verschiedene Weisen untersuche, für Gott zu argumentieren. Ich könnte dabei anführen, dass eine rein begriffliche Argumentation uns nichts über die tatsächliche Realität Gottes sagen kann. Ich könnte schreiben, dass bis zu einem bestimmten Punkt in meinem Buch noch nicht gezeigt wurde, inwiefern die Annahme Gottes wirklich gerechtfertigt ist und dass diese Frage bis zu diesem Zeitpunkt meiner Argumentation noch nicht beantwortet ist (weil ich lediglich begriffsanalytisch argumentiert und das Faktum Gott noch nicht expliziert habe). Und es wäre dies kein Widerspruch zu dem Vorliegen dieses Bewusstseins Gottes, dass ich dann als Auflösung oder Pointe einbringe, dass das eigentliche ‚Argument‘ für die gerechtfertigte Annahme Gottes eben in diesem Bewusstsein Gottes liegt, das jeder Mensch genau besehen die ganze Zeit in sich trägt. Die Existenz Gottes folgte in diesem Beispiel also nicht aus philosophisch-begrifflichen Darlegungen, naturwissenschaftlichen Untersuchungen oder metaphysischen Überlegungen. Mein Argument würde vielmehr lauten: Wir als Menschen haben einen eingepflanzten Erkenntnissinn für Gott, wir wissen durch ein bestimmtes epistemologisches Vermögen, dass Gott existiert. Als Philosoph kann ich versuchen, dieses Bewusstsein näher zu explizieren und begrifflich einzuordnen – als Faktum oder wie auch immer. Natürlich muss der Mensch in seinem Selbst- und Alltagsverständnis
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(im Rahmen unseres Beispiels) keine weiteren Argumente für die Existenz Gottes anführen – denn dessen Existenz ist ihm genau besehen bewusst bzw. er hat die epistemologischen Möglichkeiten, sich diese bewusst zu machen. Ebenso verhält es sich mit dem Bewusstsein des Sittengesetzes. Selbst wenn Kant davon ausgeht, dass das Sittengesetz als ein Faktum gleichsam für den Menschen feststeht und moralisches Handeln damit keiner weiteren Argumente bedarf, so bleibt dieses Faktum für den Philosophen dennoch ein Untersuchungsgegenstand, den er analysieren, als Argument innerhalb einer Theorie anführen, verteidigen oder (in welchem ersten Sinne auch immer) auch infrage stellen kann. Das ist aber nur eine Feststellung am Rande. Erneut wichtig erscheint mir im Zusammenhang mit Schöneckers Interpretation vor allem der Hinweis, dass Kant an dieser Stelle in 04:445 gar nicht sagt, was Schönecker in den Text hineinliest. Noch einmal zurück zum Text: Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Princip derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also eben so, wie der erste bloß analytisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, von welcher wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge darzustellen haben (04:445).
Wer Sittlichkeit für eine sachhaltige Idee und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, der muss die in GMS I/II getroffenen Begriffsbestimmungen und die analytischen Verbindungen dieser Begriffe zugestehen. Der zweite Abschnitt war ebenso wie der erste rein analytisch, d. h., es ging Kant um eine bloße Begriffsanalyse. Wichtig ist nun die Betrachtung der Konjunktion „daß“, mit der der nächste Satz beginnt und die als ein Synonym für ‚damit‘ gelesen werden kann: Kant schreibt in diesem Satz daher nicht, dass das Sittengesetz in seinen Augen tatsächlich ein Hirngespinst und damit eine wie auch immer zustande gekommene Einbildung des Menschen darstelle. Er stellt vielmehr fest, dass wir philosophisch nicht in einer bestimmten Weise für das Sittengesetz argumentieren dürfen, wenn wir nicht wollen, dass das Sittengesetz für ein Hirngespinst (im Sinne des ens rationis) gehalten werden könnte! Diese Feststellung ist aber etwas ganz anderes als die Behauptung, das Sittengesetz sei ein Hirngespinst. Ich paraphrasiere den Satz: Damit Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches aus der Annahme der Wahrheit eines kategorischen Imperativs bzw. der Autonomie des Willen analytisch folgt, benötigen wir einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft.
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Selbst wenn ein Kritiker und Gegner die Richtigkeit der in GMS I/II vollzogenen begriffsanalytischen Argumentation zugestände, bestünde immer noch die Gefahr, dass er daraus schlösse, dass Sittlichkeit aus bestimmten Begriffen „alsdann [bloß! H. P.] folgt“ (04:445). Gegen diesen Einwand kann Kant zufolge nur ein möglicher synthetischer Gebrauch der Vernunft Abhilfe schaffen. Schönecker geht auf diesen tragenden Aspekt meiner Replik mit nicht einem Wort ein. Eine Widerlegung meiner Replik auf das ‚Hirngespinstargument‘ müsste zeigen, dass die dort vorgeschlagene Lesart – das Sittengesetz könnte für ein Hirngespinst gehalten werden, wenn wir nicht zur Untersuchung des möglichen synthetischen Gebrauchs der Vernunft fortschritten – durch eine plausiblere Lesart, die Schöneckers Deutung (nach der Kant selbst es für möglich hält, dass das Sittengesetz ein bloßes Hirngespinst ist) stützt, ersetzt werden kann.
2. Zu Schöneckers Replik auf meine Kritik am ‚Unterwerfungsargument‘ Schöneckers Einwand auf meine Replik auf sein ‚Unterwerfungsargument‘ beruht auf demselben Missverständnis wie bei der Replik auf meine Kritik am ‚Hirngespinstargument‘. Schönecker sieht einen Widerspruch darin, dass Kant in GMS III einerseits die Frage nach der Geltung des kategorischen Imperativs aufwerfe (‚woher‘ der Imperativ seine Verbindlichkeit gewinne und wie diese Unterwerfung ‚zuginge‘) und gleichzeitig von einem Faktum der Vernunft ausgehe. Ich habe in diesem Zusammenhang folgendermaßen argumentiert: Auch ein Autor, der davon überzeugt ist, dass es ein unleugbares und unmittelbares Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes gibt, kann innerhalb seiner Argumentation für die Geltung dieses Bewusstseins feststellen, dass an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation dieser Nachweis aus bestimmten Gründen noch nicht erbracht ist (obwohl er ihn später erbringen wird) (R1, S. 27 dieses Bandes).
Schönecker besteht weiterhin darauf, dass es sich bei dieser Feststellung um eine widersprüchliche handle: Dies ist aber in sich widersprüchlich, weil es nicht noch einmal für die ,Geltung dieses Bewusstseins‘, wie Puls schreibt, einen ,Nachweis‘ geben kann; wollte oder müsste man dies tun, wäre das Bewusstsein eben kein ,Faktum‘ (nichts Gegebenes). Und aus diesem Grund gibt es in der GMS auch nicht jene ,Dramaturgie des noch-nicht‘; der wiederholte Hinweis auf den ,noch nicht‘ erbrachten Beweis der Geltung des kategorischen Imperativs ist nur sinnvoll, wenn diese Geltung nicht bereits im Bewusstsein des kategorischen Imperativs ,unmittelbar‘ und ,unleugbar‘ gegeben ist (Schönecker 2014b, S. 40 dieses Bandes).
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Möglicherweise beruht Schöneckers Auffassung meiner Interpretation auf einer terminologischen Unklarheit, nämlich meiner recht weiten Verwendung des Begriffs ‚Nachweis‘. Dazu jedoch später. Wenn Kant in GMS III fragt, woher das moralische Gesetz seine Verbindlichkeit gewinne, warum wir uns ihm unterwerfen sollen, wie das zugeht, dass wir einen größeren Wert unserer eigenen Person empfinden, wenn wir uns sittlich verhalten, ja wie es sein kann, dass selbst der ärgste Bösewicht zumindest wünscht, sittlich zu handeln, obwohl er es nicht zustande bringt, dann liegt kein Widerspruch darin, anzunehmen, dass Kants Antwort auf diese Frage, quasi die Pointe seiner Argumentation in dem Hinweis auf das Faktum der Vernunft als einer Tat der reinen praktischen Vernunft liegt. Der wesentliche Gehalt von Schöneckers Gegenreplik auf meine Kritik am ‚Unterwerfungsargument‘ scheint mir an dieser Stelle auf einer Verwechslung der Explikationsebene des analysierenden Theoretikers mit der Ebene des Betrachtungsgegenstandes (des vernünftigen Handlungssubjekts), und d. h. mit dem Faktum der Vernunft selbst, zu beruhen. Angenommen Kants Pointe bestünde, wie von mir behauptet, in GMS III tatsächlich in dem Hinweis auf ein wie immer geartetes faktisches Bewusstsein des Sittlichen, dann stellt es keinen Widerspruch dar, dass Kant, bevor er als Pointe seiner Argumentation auf dieses besondere Vermögen hinweist, die Frage aufwirft, wie, woher und warum das Sittengesetz verbindet. Er stellt die Frage genau aus dem Grund, um eine Antwort darauf zu geben, und diese lautet: Weil der Menschen wirklich ein Vermögen in sich findet, aufgrund dessen ihm das, was vorher in der Begriffsanalyse entwickelt wurde, tatsächlich bewusst ist. Um beim Beispiel aus dem vorangehenden Abschnitt zu meiner Kritik am ‚Hirngespinstargument‘ zu bleiben: Ein Theoretiker, der die Existenz Gottes dadurch als gerechtfertigt oder bewiesen ansieht, dass es ein bestimmtes epistemologisches Vermögen im Menschen gibt, Gott zu erkennen, kann trotzdem ein Buch schreiben, in dem er wiederholt die Frage stellt, ob und wie Gott erkannt oder bewiesen werden kann, obwohl er selbst die ganze Zeit davon ausgeht, dass die Antwort auf diese Frage nur in dem Nachweis oder Hinweis auf dieses divinatorische Erkenntnisvermögens liegt. Er könnte, wie bereits erwähnt, unterschiedliche Gottesbeweise behandeln und dann im zweiten Kapitel seines Buches darauf hinweisen, dass diese Analysen zwar logisch und begrifflich stimmig seien, dass dadurch jedoch noch nicht der Verdacht ausgeräumt sei, Gott könnte als bloß logische Folgerung ein Gedankending, ein leerer Begriff, sein. Zu Beginn des dritten Kapitels könnte er resümierend feststellen, dass wir in der gerechtfertigten Annahme der Existenz Gottes um nichts weitergekommen sind, und er könnte dann seine Pointe und eigentliche systematische Aussage präsentieren: Die Frage nach der Existenz Gottes kann nur durch den Hinweis auf ein Vermögen, eine Art Erkenntnisvermögen für das Göttliche, das der Mensch wirklich in sich findet,
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beantwortet werden. Die Pointe seiner Argumentation würde in dem Hinweis liegen, dass der Mensch gar keine Spekulationen anstellen und metaphysische Beweisverfahren bemühen muss; die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Annahme der Existenz Gottes ist gewissermaßen bereits in unserem Erkenntnisapparat verankert. Im Sinne der Kritik Schöneckers an meiner Replik auf sein ‚Bestätigungsargument‘ müsste man im Kontext dieses Beispiels dann auch fragen: Warum hat der Autor unserer imaginierten Grundlegungsschrift im zweiten Kapitel gefragt, wie wir die Annahme der Existenz Gottes rechtfertigen können, obwohl er selbst die ganze Zeit davon ausgeht, dass der Mensch einen unmittelbaren Erkenntnissinn der Existenz Gottes hat? Warum stellt er diese Frage im zweiten Kapitel, obwohl er bereits über die Antwort verfügt? Ganz einfach: Unser Autor verfolgt eine bestimmte Dramaturgie in der Darstellung seiner Argumente. Zu diesem Zweck stellt er vielleicht traditionelle Ansätze dar, die die Annahme der Existenz Gottes rechtfertigen (obwohl er diese vielleicht für falsch hält), und er setzt sich mit logischen und begrifflichen Verhältnissen auseinander, die aber, was er auch wiederholt feststellt, nicht zu dem gewünschten Ziel geführt haben. Der Autor präsentiert uns dann zur Auflösung der von ihm selbst immer wieder gestellten Frage nach der Existenz Gottes sein Argument, die Rechtfertigung Gottes durch den Hinweis auf ein jedem Menschen innewohnendes epistemologisches Vermögen. Dieses Bewusstsein selbst bedarf natürlich keines Argumentes mehr, d. h., der Mensch gelangt zu diesem Bewusstsein nicht durch irgendwelche Gründe oder Argumente. Denn es steht für sich selbst fest, unmittelbar und unleugbar. Sonst wäre es kein Bewusstsein. Und doch ist der Hinweis des Theoretikers auf dieses mögliche Bewusstsein (dessen argumentative Aussagekraft man dann wieder diskutieren kann) ein philosophisches Argument! Um zum Faktum der Vernunft zurückzukommen: Es ist zwar richtig, dass das Faktum als Faktum (als unmittelbares Bewusstsein des Sittengesetzes) selbst keiner Argumente oder Beweise mehr bedarf; es ist aber nicht richtig zu behaupten, dass der Hinweis auf dieses Faktum oder die Behauptung dieses Faktums durch Kant kein Argument oder kein ‚Beweis‘ für die Geltung des Sittengesetzes sei. Bedürfte das Faktum selbst wiederum eines Beweises, wäre es in der Tat kein Faktum, kein unmittelbares Bewusstsein des Sittengesetzes, und doch kann der Hinweis auf dieses Faktum sehr wohl als ein Argument gebraucht werden. Ebenso wie der Hinweis auf ein unmittelbares Bewusstsein der Existenz Gottes selbst keiner Verteidigung durch Argumente mehr bedarf – sonst würde ja gerade der spezifische Status als epistemologisches Bewusstsein verloren gehen – und doch als ein wie auch immer starkes philosophisches Argument für die Berechtigung der Annahme der Existenz Gottes aufgefasst werden kann.
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Die ‚Geltungsfrage‘ vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Annahme der Faktum-These zu stellen, ist somit weder sachlich noch rhetorisch sinnlos, wie Schönecker unterstellt. Schönecker missversteht meine Behauptung, dass die Tatsache, dass auf eine bestimmte Möglichkeit, einen Sachverhalt zu rechtfertigen, an einer bestimmten Stelle im Argumentationsgang noch nicht hingewiesen wurde, keineswegs bedeutet, dass es diese Möglichkeit der Rechtfertigung nicht gibt oder dass sie unmöglich ist. Er bezieht den von mir behaupteten, von Kant aus dramaturgischen Gründen bis in Sektion 3 hinausgezögerten Hinweis ⁷ auf das sittliche Bewusstsein des Menschen auf das Faktum der Vernunft selbst. Der von mir behauptete ‚Nachweis‘ eines bestimmten Sachverhaltes durch die argumentative Inanspruchnahme der Tatsache des Faktums, also durch den Hinweis darauf, dass es ein solches Vermögen im Menschen gibt, impliziert jedoch nicht die Behauptung, dass dieses Faktum selbst eines Argumentes bedürftig sei. Das Faktum selbst kann weder erwiesen noch bewiesen werden, es kann lediglich auf dieses Faktum hingewiesen werden. Dieser Hinweis ist dann aber ein Argument, das im Verlauf eines Textes auch zurückgehalten werden kann.
3. Zu Schöneckers Replik auf meine Kritik an seinem ‚Bestätigungsargument‘ Schöneckers ‚Bestätigungsargument‘ besagt, dass Kant in der GMS noch nicht die These vom Faktum der Vernunft vertreten haben könne, weil er in 04:454.20 schreibe, dass der Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die „Richtigkeit der Deduktion“ (im Sinne Schöneckers: den Beweis des kategorischen Imperativs) bestätige. Würde Kant bereits an dieser Stelle die These vom Faktum der Vernunft vertreten, bestünde die Rechtfertigung oder der Beweis (in einem wie auch immer starken Sinne) dann gerade in dem Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft. Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft dürfte dann nicht nur die Geltung des kategorischen Imperativs bestätigen, sondern müsste diese beweisen. Ich habe mich in meiner Replik auf die Bedeutung des Wortes „bestätigen“ in 04:454.20 konzentriert und gezeigt, dass Kant ‚bestätigen‘ durchaus auch im Sinne von ‚rechtfertigen‘ oder ‚beweisen‘ benutzt. Damit wollte ich Schöneckers Einschätzung entgegentreten, dass der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft in GMS III nur eine Bestätigung darstelle, nicht aber über dieselbe
Vielleicht wurde dieses Missverständnis tatsächlich durch meine Verwendung des Begriffs ‚Nachweis‘ hervorgerufen.
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epistemologische Qualität verfüge, wie das Faktum der Vernunft.⁸ Schönecker wendet dagegen ein, dass der Nachweis dieser kantischen Verwendungsweise des Wortes ‚bestätigen‘ für die Widerlegung des ‚Bestätigungsarguments‘ keinen Aufschluss bringe. Ersetze man in dem Satz „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion“ das ‚bestätigen‘ durch ‚beweisen‘, dann erhalte man den Satz ‚Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft beweist die Richtigkeit dieser Deduktion‘, ergo (in Schöneckers Deutung): ‚Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft beweist die Richtigkeit dieses Beweises‘. Mit diesem Einwand modifiziert Schönecker unter der Hand seine ursprüngliche Argumentation. In dieser war davon die Rede, dass nach Kant der „Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft“ die Deduktion bloß bestätige (d. h. nicht etwa beweise) und dieser gemeine Gebrauch der Vernunft daher keine so starke epistemologische Funktion habe wie das Faktum der Vernunft. Schönecker störte sich offenbar an dem Wort „bestätigt“. In seiner Gegenreplik verlagert er daher seinen Einwand von der Differenz zwischen den Begriffen ‚bestätigen‘ und ‚beweisen‘ auf das logische Verhältnis zwischen dem Begriff der ‚Deduktion‘ (als einem ‚Beweis‘) und der ‚Bestätigung‘ dieses Beweises durch die gemeine Menschenvernunft. Dass ich in meiner Interpretation ebenso wie Schönecker die ‚Deduktionsproblematik‘ gänzlich ausgespart habe, erweist sich spätestens bei der Widerlegung des ‚Bestätigungsarguments‘ als ein Fehler. Denn die Überlegungen zu einer angemessenen Deutung des Abschnitts in 04:454 hängen in erster Linie von der Klärung der Fragen ab, 1.) in welchem Sinne Kant den Terminus ‚Deduktion‘ im Kontext seiner praktischen Philosophie verwendet, und 2.) welche Deduktion Kant hier in der Sektion 4 im Sinn, d. h., welches Deduktionsobjekt er vor Augen hat. Setzt man wie Schönecker voraus, dass der Terminus ‚Deduktion‘ tatsächlich als ein Beweis im engeren Sinne aufgefasst werden muss, dann ergibt mein Vorschlag, dass ‚bestätigen‘ in 04:454 (wie von Schönecker in seiner Replik gefordert) eigentlich die Bedeutung von ‚beweisen‘ haben müsste, damit diese Deutung mit der Annahme eines Faktums schon in der GMS vereinbar sei, wenig Sinn, weil dann vom Beweis eines Beweises die Rede wäre. Man muss sich also bei der Interpretation speziell dieser Passage doch der Deduktionsfrage zuwenden (das habe ich, Schöneckers Beispiel folgend, bisher nicht getan und werde mich dazu gleich nur sehr skizzenhaft äußern). Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Kant an dieser Stelle nicht, wie durchweg angenommen, die Deduktion des kategorischen Vgl. Schönecker (2014a, S. 11 dieses Bandes): „Anders als in der KpV besteht der Nachweis der absoluten Geltung des kategorischen Imperativs nicht in einem Faktum, das sich in einem solchen, praktischen Gebrauch der ‚gemeinen Menschenvernunft‘ zeigt, sondern dieser Gebrauch ‚bestätigt‘ nur die Deduktion“.
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Imperativs im Sinn hat, wenn er davon spricht, dass der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit der Deduktion bestätige. Das Deduktionsobjekt ist an dieser Stelle keinesfalls so einfach zu identifizieren, wie Schönecker es in seiner Interpretation voraussetzt.⁹ Nimmt man wie z. B. Bernd Ludwig¹⁰ an, dass sich Kant an dieser Stelle auf die Deduktion der Idee eines reinen Willens bezieht, dann wäre die Passage „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion“ (nämlich die Rechtfertigung der Idee eines reinen intelligiblen Willens) wieder mit der Annahme des Faktums der Vernunft schon in GMS III vereinbar. Die Rechtfertigung dieses reinen Willens zeigt sich erneut im Faktum der Vernunft. Selbst der ärgste Bösewicht verfügt wirklich über einen solchen Willen. Ich meine aber, dass es selbst dann, wenn man voraussetzt, dass Kant in GMS III immer, wenn er von einer Deduktion spricht, eine Deduktion des Sittengesetzes selbst in Form des kategorischen Imperativs im Sinn hat, gute Argumente gegen Schöneckers Einwand gibt. Diesen Einwand kann man folgendermaßen skizzieren: Kant rechtfertigt die Geltung des Sittengesetzes, den kategorischen Imperativ, durch den Hinweis auf die Vernunft als ein Vermögen, das von subjektiv bestimmenden Ursachen frei ist. Der Mensch setzt also nicht bloß die Freiheit voraus, um daraus die Geltung des Sittengesetzes abzuleiten, sondern er trägt ein sittliches Bewusstsein in sich und damit ein epistemologisches Vermögen, das moralisch Gute zu tun, ohne dass das Subjekt dafür weiterer Argumente bedürfte. Diese Erläuterung der Rechtfertigung des Sittengesetzes kann man als eine Deduktion bezeichnen, die Kant als Theoretiker vollzieht: Er erläutert, dass es so etwas wie ein sittliches Bewusstsein im Menschen gibt. Ich kann daher nicht sehen, warum die Tatsache, dass Kant in der Sektion 4 noch einmal schreibt, dass die gemeine Menschenvernunft (selbst der ärgste Bösewicht) die Richtigkeit der zuvor von Kant als Transzendentalphilosophen in Sektion 3 geleisteten philosophischen Explikation und Rechtfertigung des Sittengesetzes (Deduktion) bestätigt oder beweist, mit der Annahme des Faktums inkompatibel sein sollte. Zwar nimmt Kant in gewisser Weise immer schon in Anspruch, dass das, was er in Sektion 3 dem Menschen zuschreibt – nämlich ein quasi epistemologisches Vermögen, das moralisch Richtige zu erkennen (eben eine Art Faktum der praktischen Vernunft) –, auch in der Vernunft jedes Menschen nachweisbar sei, aber es stellt kein Problem für die These einer Annahme des Faktums der Vernunft schon in GMS III dar, wenn er schreibt, dass die gemeine Menschenvernunft die Richtigkeit dieser
Vgl. Schönecker (1999, S. 107– 146). Ludwig (2008, S. 457).
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Rechtfertigung des Sittengesetzes¹¹ bestätige oder beweise. Auf unser Gottesbeispiel übertragen: Der Autor unserer religionsphilosophischen Grundlegungsschrift könnte in der dritten Sektion des dritten Abschnitts seines Werkes philosophisch argumentieren, dass der Mensch Gott nicht nur begriffsanalytisch erschließt, sondern dass er ein ganz spezifisches Vermögen in sich trägt, Gott in Form eines Bewusstseins zu erkennen. Der Autor macht also in abstrakt-philosophischer Perspektive Aussagen zu einem spezifischen Vermögen im Menschen. Er analysiert, expliziert und verteidigt dieses Vermögen.Warum sollte es nun einen Widerspruch darstellen, wenn er in einem anderen Zusammenhang noch einmal quasi phänomenologisch feststellt, dass das, was er argumentativ und explikativ behauptet hat, vom gemeinen Mann auf der Straße bestätigt oder bewiesen wird? Selbst der schlimmste Atheist und Gottesleugner wird in unserem Beispiel, wenn man ihn näher befragt, zugeben, dass es Gott gibt, weil er ein einfach nicht zu leugnendes Bewusstsein Gottes hat, obwohl er ihn möglicherweise aus anderen Gründen weiter leugnet. Es stellt das Ergebnis der Deduktion dieses divinatorischen Vermögens (das vielleicht bestimmte philosophische Aussagen zu Erkenntniskräften des Menschen und zur Teilhabe an einer intelligiblen, geistigen Welt beinhaltet) nicht nachträglich infrage, wenn der Religionsphilosoph an anderer Stelle noch einmal feststellt: Das, was ich philosophisch expliziert habe, das bestätigt jederzeit auch der gemeine Menschenverstand. Der Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt oder beweist auf eine phänomenologische Weise die von mir versuchte argumentative Rechtfertigung Gottes durch die Theorie eines bei jedem Menschen vorauszusetzenden divinatorischen Vermögens. In vollem Umfang stimme ich Dieter Schöneckers Schlussbemerkungen in seiner Replik auf R1 zu: Die Diskussion der Frage, ob Kant bereits im dritten Abschnitt der GMS eine Faktum-These vertritt, hätte durch die Erörterung der Bedeutung und Funktion des Deduktionsbegriffs wesentlich an Tiefe gewonnen. Es war also ganz bestimmt ein Fehler, dass beide Interpreten diesen wichtigen Aspekt gleich zu Beginn der Auseinandersetzung aus Platzgründen ausgeklammert haben. In meinen Repliken habe auch ich an einigen Stellen von der ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ gesprochen und mit Schönecker vorausgesetzt, dass es so etwas wie eine Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III tatsächlich gibt. Diese Position teile ich in Wirklichkeit nicht. Ich bin nicht der
Die Deduktion besteht zwar in gewisser Hinsicht in dem Hinweis auf die gemeine Menschenvernunft, aber trotzdem ist es mit diesem bloßen Hinweis nicht getan, sondern Kant expliziert dieses Vermögen durch philosophische Begriffe und Überlegungen. Er erklärt philosophisch, wie so etwas wie ein Bewusstsein des Sittlichen denkbar ist (u. a. rekurriert er in diesem Kontext auf das Theorieelement der Auskunft der dritten Antinomie).
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Meinung, dass Kant im dritten Abschnitt eine solche ‚Imperativ‘-Deduktion versucht und dann in der vierten Sektion der GMS beendet. Was Kant in GMS III deduziert und welche Bedeutung der ‚praktische Deduktionsbegriff‘ (der sich auch in der KpV findet) bei Kant tatsächlich hat, ist meines Erachtens in hohem Maße unklar und erläuterungsbedürftig.¹² Kant verwendet den Terminus ‚Deduktion‘ in GMS III an insgesamt drei Stellen, ohne dass eindeutig ist, dass das Deduktionsobjekt an diesen Stellen tatsächlich der kategorische Imperativ ist. Es sprechen m. E. gute Gründe für die Annahme Bernd Ludwigs, dass es sich bei der These einer Imperativ-Deduktion um ein bloßes interpretatorisches Konstrukt handelt. Aus diesem Grunde halte ich auch das von Schönecker in den Schlussbemerkungen seiner zweiten Replik skizzierte ‚Deduktionsargument‘ nicht für einen Einwand, der die Annahme einer Faktum-These in GMS III grundsätzlich verunmöglicht. Ich bleibe daher bei dem Fazit meiner ersten Replik: Dieter Schönecker vermag nicht zu zeigen, dass Kant in der GMS nicht schon von einem Bewusstsein des Sittengesetzes im Sinne des Faktums der Vernunft ausgeht.
Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe zitiert. Ludwig, Bernd (2008): „Was wird in Kants Grundlegung eigentlich deduziert? – Über einen Grund der vermeintlichen Dunkelheit des ‚Dritten Abschnitts‘“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 16, S. 431 – 463. Plantinga, Alvin (2000): Warranted Christian Belief. Oxford. Puls, Heiko (2011): „Freiheit als Unabhängigkeit von bloß subjektiv bestimmenden Ursachen. Kants Auflösung des Zirkelverdachts im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 65 (4), S. 534 – 562. Puls, Heiko (2015): Sittliches Bewusstsein und kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung. Ein Kommentar zum dritten Abschnitt. Berlin, Boston [forthcoming]. Schönecker, Dieter (1999): Kant. Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg, München. Schönecker, Dieter (2014a): „Warum es in der Grundlegung keine Faktum-These gibt. Drei Argumente“. S. 1 – 13 [dieses Bandes]. Schönecker, Dieter (2014b): „Quare errat disceptator. Eine Erwiderung auf Heiko Puls“. S. 35 – 43 [dieses Bandes].
Dieser Frage gehe ich nach in Puls (2015).
Heiner F. Klemme (Halle-Wittenberg)
Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung (und seine Kritik an Christian Garves Antithetik von Freiheit und Notwendigkeit) „Nun ist die Frage wie ist ein categorischer Imperativ möglich wer diese Aufgabe auflöset der hat das echte princip der Moral gefunden […] ich werde die Auflösung in Kurzem darlegen“ (23:60).
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der gegen Ende der Sektion 1 („Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“) von Abschnitt 3 („Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“) der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) angekündigten „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“, von der Kant behauptet, dass mit ihr „auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich“¹ gemacht werden kann. Es wird die These vertreten, dass Kant die Frage nach der Möglichkeit der vom Moralgesetz ausgehenden unbedingten Verbindlichkeit in den ersten beiden Absätzen von Sektion 4 („Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“) beantwortet. Der Schlüssel zum
04:447; vgl. 463. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Beweis und Deduktion siehe A 233/B 286 und 06:395 („Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduction aus der reinen praktischen Vernunft“). Gelegentlich wird in der Literatur auch behauptet, dass Kant den kategorischen Imperativ und nicht bloß seine Möglichkeit zu deduzieren beabsichtigte (siehe u. a. Schönecker/Wood 2002, S. 180, und Porcheddu 2013). – Sollte die Datierung der Reflexion 6725 zutreffen, fragt Kant bereits 1772 nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs (ohne ihn allerdings als einen synthetischen Satz a priori zu bezeichnen): „Die Gantze Schwierigkeit bey dem Streit über das principium der moral ist: wie ein categorischer imperativus möglich sey, der nicht conditional ist, weder sub conditione problematica noch apodictica (der Geschicklichkeit. Klugheit). Ein solcher imperativus sagt, was ursprünglich, primitive Gut ist. Es ist zu bewundern, daß das primitive Gut: die condition von allem, was gefällt, nur einem Willen zukome. Die Ursache ist, weil alle Vollkomenheit eine idee und die Wirklichkeit derselben einen Willen voraus setzt, und weil alles Zufällige und aller Ursprung sich auf Freyheit gründet. Alle Nothwendigkeit der Urtheile gründet sich auf die Allgemeinheit oder diese auf jene. Mithin ist der Grund der Nothwendigkeit, welche moralische Sätze enunciiren, in der Allgemeingültigkeit der Gründe des Wollens zu setzen (schlechthin nothwendig, absolute, bedeutet nicht innerlich, sondern überhaupt nothwendig)“ (19:141 f.).
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Heiner F. Klemme
Verständnis dieser Deduktion ist der Begriff eines freien, aber zugleich „durch sinnliche Begierden affizierten Willens“ (04:454). Menschen unterliegen der durch das Moralgesetz beschriebenen Kausalität, weil sie sich „dem Willen nach als frei“ (04:455) denken. Und sie denken sich dem Willen nach als frei, weil sie sich unter der „Idee der Freiheit“ einer Spontaneität ihres Willens bewusst sind, mit der der „Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden“ (04:453) ist. Dass sich Menschen dem Willen nach überhaupt als frei denken können, erklärt sich nach Kant durch den Begriff der reinen Vernunft, die praktisch ist, weil sie den Willen unmittelbar (aber „nicht hinlänglich“²) bestimmt. Wie die reine Vernunft praktisch sein kann, entzieht sich Kants Auffassung nach unserer Einsichtsfähigkeit. Weil allerdings die objektive Realität der Freiheit theoretisch nicht bewiesen und aus diesem Grunde der kategorische Imperativ, wie Kant in der Sektion 6 („Schlußanmerkung“) schreibt, „seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich“ (04:463) gemacht werden, droht nach Kant die Gefahr des Fatalismus. Der Fatalist tritt mit dem Anspruch auf, mit den Mitteln der theoretischen (spekulativen) Philosophie die Unmöglichkeit der Idee der Freiheit (und damit eines freien Willens) förmlich beweisen zu können.³ Würde ihm dies gelingen, müssten wir Kants Ansicht nach den praktischen Gebrauch der Idee der Freiheit als chimärisch zurückweisen. Weil die Deduktion der Idee der Freiheit unmittelbar (d. h. ohne Vermittlung des spekulativen Vernunftgebrauchs) aus der reinen praktischen Vernunft erfolgen muss (wenn sie denn überhaupt erfolgen kann), muss Kant im Anschluss an die Deduktion der Möglichkeit des kategorischen Imperativs zeigen, dass der theoretische Anspruch der Fatalisten prinzipiell unbegründet ist.Wir sind berechtigt, uns in praktischer Absicht als Urheber unserer Handlungen zu denken, weil die Unmöglichkeit eines Unmöglichkeitsbeweises der Idee der Freiheit bewiesen werden kann. In der Sektion 5 („Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“) führt Kant diesen Beweis zwar nicht selbst durch, aber er verweist auf die in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit den Mitteln des transzendentalen Idealismus (der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung) geleistete Auflösung der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Entsprechend einer in der Tradition bekannten Unterscheidung zwischen der positiven und der negativen Deduktion eines Anspruchs, kann die Deduktion der Möglichkeit des kategorischen Imperativs als positive, die Kritik am Fatalismus als negative Deduktion beschrieben werden. Eine negative Deduktion hat zum Ziel, Einwände gegen einen faktisch erhobenen und in einem gewissen Maße bereits im Rahmen einer positiven Deduktion gerechtfertigten
04:412 („Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich“). Siehe 08:13.
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Anspruch abzuweisen. Die Grundlegung als Ganze erhebt demnach nicht den Anspruch, Moral begründen oder beweisen zu können. Sie versucht vielmehr zu erläutern, wie es möglich ist, wovon selbst der ‚gemeinste Menschenverstand‘⁴ überzeugt ist, nämlich dass im Zentrum der Moral der Gedanke eines unbedingt gebietenden moralischen Gesetzes steht. Wir sind verpflichtet, dem Moralgesetz Folge zu leisten, weil wir dies selbst als Vernunftwesen wollen. H. J. Patons These, dass Kants Projekt einer Deduktion des obersten Prinzips der Moral misslingt, mutet daher seltsam an, weil Paton Kant unterstellt, was dieser gar nicht beabsichtigt hat, nämlich das Prinzip der Moral mit der Freiheit des Denkens aus einer nicht-moralischen Voraussetzung abzuleiten.⁵ Der Argumentationsgang von Abschnitt 3 der Grundlegung umfasst somit drei Schritte: In einem ersten Schritt muss die Idee der Freiheit deduziert werden. Es muss gezeigt werden, dass für uns Menschen ein Grund besteht, uns als unter der Idee der Freiheit handelnde Subjekte zu denken, d. h. uns einen eigenen Willen beizumessen. In einem zweiten Schritt ist zu zeigen, wie diese Idee eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs (einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit) zu geben erlaubt. Kant formuliert die Frage
Kant teilt somit die Auffassung der von der schottischen Moralphilosophie stark beeinflussten Popularphilosophie, dass die Moralphilosophie als Analyse unserer allgemein geteilten moralischen Dispositionen, Überzeugungen und Einstellungen betrieben werden muss. Die Grundlegung kann als der Versuch verstanden werden, paradoxerweise deshalb eine überzeugende Analyse unseres Moralbewusstseins vorzulegen, weil in dieser Schrift die „Reinigkeit und Echtheit“ des „sittlichen Gesetzes“ herausgestellt und die „Idee und Prinzipien eines möglichen reinen Willen“ (04:390) untersucht werden, wodurch ein Beitrag selbst zur Verbesserung unserer moralischen Praxis geleistet wird. Zu Kants Verhältnis zu Johann Georg Sulzer und seiner Bedeutung für die Grundlegung siehe Klemme (2011). Siehe Paton (1947, S. 244). Diese Ansicht wird auch von Schönecker/Wood vertreten: „Aufgrund der behaupteten Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft schließt Kant von der theoretischen auf die praktische Freiheit“ (Schönecker/Wood 2002, S. 205; vgl. Schönecker 2005, S. 67; dagegen Puls 2011, S. 540). Wenn es eine Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft gibt, muss man nicht von der einen auf die andere schließen. Schließlich gibt es nicht etwa zwei Spontaneitäten, sondern nur eine einzige der Vernunft bzw. des Verstandes, die in unterschiedlichen Hinsichten gebraucht werden kann (vgl. dazu auch Klemme 2014). In der Kritik der praktischen Vernunft findet sich hierzu der folgende bemerkenswerte Hinweis: „Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnisse) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist“ (05:55). Es ergibt nach der kantischen Vermögenslehre keinen Sinn, auf der einen Seite zu behaupten, dass die Idee der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft deduziert wird, und auf der anderen Seite Kant zu unterstellen, dass er den praktischen Begriff der Freiheit aus dem theoretischen Begriff ableiten würde. Mir ist keine Textstelle bekannt, in der Kant ein derartiges Ableitungsverhältnis explizit thematisieren würde.
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nach der Möglichkeit des nicht unter Bedingungen des Glückseligkeitsprinzips stehenden und „unbedingt“ gebietenden, d. h. „categorischen“ oder „moralischen“ Imperativs erstmals in einer Vorarbeit zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783) als Frage nach der Möglichkeit eines synthetischen Satzes a priori. Seiner eigenen Auskunft nach ist die Frage nach dem „echten princip der Moral“⁶ bisher noch von keinem Philosophen – auch nicht von ihm selbst – beantwortet worden. Wenn es nun richtig ist, dass der Gebrauch der Idee der Freiheit aus einer spezifisch praktischen Perspektive berechtigt ist, die unsere reine Willensbestimmung als vernünftige Subjekte betrifft, dann muss in einem dritten Schritt der Nachweis geführt (oder an einen derartigen, andernorts gegebenen Beweis erinnert) werden, dass diese Idee unmöglich mit den Mitteln der theoretischen Philosophie als ein widersprüchlicher Begriff bewiesen werden kann.⁷ Es muss gezeigt werden, dass wir in keinen Widerspruch mit dem Begriff einer unter der causa efficiens stehenden Sinnenwelt geraten, wenn wir uns durch das Gesetz der Kausalität aus Freiheit (das Moralgesetz) zum Handeln bestimmen. Im Folgenden werde ich zunächst unter der Überschrift „Kants Ethik der Verbindlichkeit“ die Bedeutung und die Spezifika des kantischen Begriffs der (moralischen, unbedingten) Verbindlichkeit in Abgrenzung vor allem zu Alexander Gottlieb Baumgarten skizzieren (Abschnitt 1), um mich dann der Deduktion der Idee der Freiheit und der Möglichkeit einer unbedingten Verbindlichkeit, der wir Menschen im Wollen unterliegen, in der Sektion 4 zuzuwenden (Abschnitt 2). Sodann möchte ich mich unter der Überschrift „Freiheit und Verbindlichkeit“ mit den ersten drei Sektionen des dritten Abschnitts in der Absicht zuwenden, Auskunft über Kants These zu erhalten, wonach die „Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält“ (04:454). Obwohl sie für die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs essenziell zu sein scheint, äußert sich Kant zu der Bedeutung dieser These in der Sektion 4 nur unzureichend (Abschnitt 3). In einem weiteren Schritt beschäftige ich mich etwas
23:60. In der Grundlegung formuliert Kant diese Frage erstmals im zweiten Abschnitt: „Dagegen wie der Imperativ der Sittlichkeit möglich sei, ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung bedürftige Frage, da er gar nicht hypothetisch ist und also die objektiv-vorgestellte Notwendigkeit sich auf keine Voraussetzung stützen kann, wie bei den hypothetischen Imperativen“ (04:419). Genau dies ist auch Kants These in der Ende 1787 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft. Die Aufgabe der spekulativen Philosophie besteht darin, den Begriff der Freiheit als möglich nachzuweisen („die spekulative Vernunft aber (um unter ihren kosmologischen Ideen das Unbedingte seiner Causalität nach zu finden, damit sie sich selbst nicht widerspreche) wenigstens als möglich annehmen mußte, nämlich das der Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen“, 05:47).
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ausführlicher mit der Gedankenführung von Sektion 5, in der Kant den praktischen Gebrauch der Idee der Freiheit gegen den Fatalismus verteidigt (Abschnitt 4). Im Anschluss daran beleuchte ich die Exposition des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit bei Christian Garve, auf die sich Kant in der Sektion 5 kritisch zu beziehen scheint. Garve ist wie Kant der Auffassung, dass die Tugend (die Moral, die Verbindlichkeit) den Begriff der Freiheit voraussetzt, sieht sich aber außerstande, ihn mit dem Begriff der Notwendigkeit der Naturgesetze zu vereinigen. Wäre Garve zuzustimmen, dass die Antithetik zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit nicht aufgelöst werden kann, würde dies Kants Verständnis nach dem Fatalismus zuspielen (Abschnitt 5). Abschließend wende ich mich unter der Überschrift „Praktisches Selbstverhältnis oder Werterkenntnis?“ erneut der Frage nach dem Grund unserer moralischen Verbindlichkeit zu. Ich werde die These zu plausibilisieren versuchen, dass Kants Rede von der Verstandeswelt als dem „Grund“ (04:454; vgl. 04:450) der Sinnenwelt nicht so zu verstehen ist, als ob wir die Verstandeswelt als absolut wertvoll erkennen würden. Vielmehr schreiben wir uns selbst als Vernunftwesen deshalb einen absoluten Wert oder eine Würde⁸ zu, weil die Vernunft selbst unseren Willen nötigt, ihre Gesetzgebung uneingeschränkt zu achten. Das Moralgesetz ist in seinem Kern ein Selbsterhaltungsprinzip unserer reinen Vernunft unter den Bedingungen unserer sinnlichen Existenz (Abschnitt 6).
1. Kants Ethik der Verbindlichkeit Um den Stellenwert von Kants Versuch einer Deduktion der Idee der Freiheit und der Möglichkeit unbedingter moralischer Verbindlichkeiten in der Grundlegung angemessen einschätzen zu können, ist zunächst daran zu erinnern, dass Kant spätestens seit den 1760er-Jahren davon überzeugt ist, dass der Begriff der Verbindlichkeit (obligatio) im Zentrum der praktischen Philosophie⁹ steht. Damit stellt er sich in eine Tradition, für die zu diesem Zeitpunkt vor allem Alexander Gottlieb Baumgarten¹⁰ steht. So bestimmt Baumgarten den von ihm als „Ver-
Zum Begriff der Würde bei Kant siehe umfassend Sensen (2011). Zu den frühen Quellen siehe u. a. Schmucker (1961). In der Vorrede zur Grundlegung schreibt Kant: „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse“ (04:389). Zu Baumgarten und Kants Verhältnis zu ihm siehe Schwaiger (1999 und 2011). Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass vereinzelt auch innerhalb der Ethik moralischer Gefühle die Begriffe der Pflicht und der Verbindlichkeit in das Zentrum der Moralphilosophie gerückt worden sind. So vertritt Henry Home, Lord Kames, vor allem gegenüber Shaftesbury, Francis
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pflichtung“ und „Verbindung“ ins Deutsche übersetzten Begriff der „obligatio“ in seiner Metaphysica (1739) als „moralische Nötigung“¹¹, versteht die Ethik in seiner Ethica philosophica (1740) als Wissenschaft von den inneren Verpflichtungen des Menschen im Naturzustand¹² und erklärt den Begriff der „obligatio“¹³ in seinen Initia philosophiae practicae (1760) zum obersten Begriff der gesamten praktischen Philosophie. Obwohl Kant mit dem Begriff der Verbindlichkeit bereits Jahrzehnte vor der Publikation der Grundlegung den Dreh- und Angelpunkt seiner moralphilosophischen Überlegungen gefunden hat, ist er in den 1760er-Jahren noch Lichtjahre davon entfernt, eine überzeugende Klärung seiner Bedeutung anbieten zu können.¹⁴ Erst in der Grundlegung formuliert er die Frage nach der Möglichkeit einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit als Frage nach der Möglichkeit eines synthetischen Satzes a priori.¹⁵ Betrachten wir Kants Lehre vom kategorischen Imperativ entwicklungsgeschichtlich, ist es der Begriff der Autonomie, mit
Hutcheson und dem namentlichen nicht genannten David Hume („Dem Verfasser von der Abhandlung über die menschliche Natur“, Home 1786, S. 54) die folgende Auffassung: „Obgleich diese Ausdrücke [sc. „Pflicht und Verbindlichkeit“, H. K.] von der äußersten Wichtigkeit in der Sittenlehre sind, so weiß ich doch keinen Schriftsteller, der es versucht hätte, sie zu erklären, und die Grund-Ideen und Vorstellungen zu entwickeln, die darin enthalten sind. Diesen Mangel, will ich mich bemühen, zu ersetzen, indem ich diesen Ausdrücken bis zu ihrer eigentlichen Quelle nachspüre. Denn solange dieses nicht geschieht, kann das System der Sittenlehre nicht vollständig seyn, weil diese Ausdrücke uns den wichtigsten und wesentlichsten Zweig aller Sittlichkeit entdecken“ (Home 1786, S. 51 f.). Die Parallele zu Kants analytischer Methode in der Grundlegung liegt auf der Hand: Ausgehend vom Begriff des „natürlichen gesunden Verstandes“ analysiert Kant den Begriff der „Pflicht, […] der den eines guten Willens […] enthält“ (04:397). Lord Kames ist davon überzeugt, dass das „Gewissen, oder das moralische Gefühl“, die „Stimme Gottes in uns“ ist, „die den genauesten Gehorsam von uns fordert, eben so nachdrücklich, als ob sein Wille uns durch eine besondere Offenbarung bekannt gemacht wäre“ (Home 1786, S. 58 f.). Baumgarten (2011, § 723, „Necessitatio moralis est OBLIGATIO“). Siehe Baumgarten (1763, § 1). Baumgarten (1760, § 3). Siehe die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1762), 02:298 („Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig. Um dieses deutlich zu machen, will ich nur zeigen, wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist, und wie entfernt man also davon sein müsste, in der praktischen Weltweisheit die zur Evidenz nöthige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundsätze zu liefern“) und 02:300 („Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz zu erreichen, gleichwohl die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die ersten Grundsätze dazu entscheide“). Siehe 04:420; vgl. 23:60 sowie das Naturrecht-Feyerabend 27:1324.
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dem er das Problem der Verbindlichkeit zu lösen beansprucht. Erstmalig wird dieser Zusammenhang von Verbindlichkeit und Autonomie im Naturrecht-Feyerabend herausgestellt: Verbindlichkeit ist moralische Neceßitation der Handlung, d: i: die Abhängigkeit eines [nicht] an sich guten Willen vom Princip der Autonomie, oder objectiv nothwendigen praktischen Gesetzen. Pflicht ist die objective Nothwendigkeit der Handlung aus Verbindlichkeit (27:1326).¹⁶
Worin besteht das Spezifikum des kantischen Begriffs der Verbindlichkeit in der Grundlegung? Wenn Kant unter Verbindlichkeit die „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)“ versteht, will er damit zum Ausdruck bringen, dass sie nicht auf ein „heiliges Wesen […] bezogen werden kann“¹⁷. Anders als in der Wolff-BaumgartenTradition bezeichnet bei Kant die Verbindlichkeit nicht mehr grundsätzlich das Verhältnis zwischen einem Willen und seinem Bewegungsgrund.¹⁸ Kennzeichnendes Element der Verbindlichkeit ist vielmehr ein bestimmter Begriff der Nö-
Kant folgt mit seiner Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit (obligatio) und Pflicht (officium) („Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“, 04:439) ebenfalls der Tradition. So schreibt Wolff in seiner Deutschen Ethik: „Durch die Pflicht verstehen wir eine Handlung, die dem Gesetze gemäß ist. Da nun kein Gesetze ohne Verbindlichkeit ist; so sind die Pflichten Handlungen, die wir zu vollbringen verbunden sind. Und daher pflegen wir zu sagen: Es ist meine Pflicht dieses zu thun, wenn wir andeuten wollen, daß wir es zu thun verbunden“ (Wolff 1733, § 221). 04:439. Auf ein „heiliges Wesen“, d. h. auf einen „vollkommen guten Willen“, kann der Begriff der Nötigung nicht angewendet werden: „Ein vollkommen guter Wille würde also ebensowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjektiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens auszudrücken“ (04:415; zur partiellen Revision dieser Position die hypothetischen Urteile betreffend in der Kritik der Urteilskraft siehe Klemme 2014b). Die ‚klassische‘ Definition bei Christian Wolff: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anders als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpffen“ (Wolff 1733, § 8). Siehe auch Johann August Eberhard: „Es ist ein Grundgesetz des freyen Willens, daß er dasjenige begehrt, was er sich deutlich als gut, und verabscheut, was er sich deutlich als Böse vorstellt. Dasjenige also, wodurch der freye Wille zum Begehren oder Verabscheuen bewegt wird, ist die Vorstellung des Guten, oder der Bewegungsgrund, das Motiv“ (Eberhard 1781, S. 33).
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tigung. Zwar greift bereits Baumgarten den Begriff der Nötigung (necessitatio, coactio: Erzwingung, Zwang) bei seiner Definition der Verbindlichkeit auf und verweist auf einen zwischen Vernunft und Fleisch bestehenden Streit oder Dissens.¹⁹ Aber Baumgartens Begriff der Nötigung ist rein psychologisch zu verstehen: Ich folge in Freiheit demjenigen Vermögen, das nach meiner den Streit schlichtenden Überlegung (deliberatio) die Oberhand gewonnen hat.²⁰ Völlig fremd ist Baumgarten schon allein deshalb der Begriff einer Nötigung meiner selbst durch die reine praktische Vernunft, weil er nicht streng zwischen dem unteren und dem oberen Begehrungsvermögen²¹ zu unterscheiden vermag. Dass der Mensch „nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen“ (04:432) ist, Verbindlichkeit also auf das Prinzip der Autonomie verweist, muss ihm ein völlig fremder Gedanke sein. Die Differenz zwischen einem rein psychologischen und einem, wie wir es nennen können, rationalen Begriff der Nötigung, wird auch durch Kants paradox anmutende These deutlich, dass der freie Wille nach der Vorstellung von Begriffen handeln kann, aber nicht muss, die ihren Ursprung in der reinen Vernunft haben.²² Kant ist davon überzeugt, dass der Grund unserer moralischen Pflichten nicht in dem bestehen kann, wozu wir immer schon geneigt sind. Neigungen treiben uns zu Handlungen an, aber sie können uns nicht unbedingt verpflichten.²³ Sie können nicht begründen, warum wir nach einer Maxime bloß deshalb handeln sollen, weil sie sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert.²⁴ Weil nach Kant unter Philosophen unbestritten ist, dass wir uns als zur Sinnenwelt gehörig und der Bildung von Maximen und hypothetischen Imperativen fähig erkennen, hängt der Möglichkeitsbeweis einer unbedingten, von der einen Vernunft selbst ausgehenden Verbindlichkeit an vier problematischen Voraussetzungen: Kant muss erstens zeigen, dass wir tatsächlich unter der Idee der Freiheit handeln.
Vgl. Baumgarten 2011, § 693. Siehe Baumgarten 2011, §§ 693, 696, 697, 714, 727. Zu Kants (in der Grundlegung nur unzureichend erläuterter) Vermögenslehre siehe Klemme (2014a). Ganz im Sinne von Baumgarten interpretiert Georg Friedrich Meier den Begriff der Nötigung im Sinne eines alternativlosen psychologischen Zwanges: „Moralisch nöthigen heißt also nichts anders, als eine Handlung moralisch nothwendig machen. […] Der freye Wille kann, vermöge seiner Natur, nicht anders, er muß die Handlung thun oder unterlassen; er wird also genöthiget, so oder so zu handeln“ (Meier 1764, S. 140, § 66). Diese zentrale Unterscheidung findet sich bereits in einer Reflexion Kants zu Baumgartens Initia aus der zweiten Hälfte der 1760er-Jahre: „Causa motivi moralis obligat, motivi pragmatici impellit“ (19:12, Reflexion 6459; vgl. Schmucker 1961, S. 283). Zu Kants Konzeption hypothetischer Imperative siehe Klemme (2014b). Siehe 04:439.
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Wären wir nicht frei, könnten wir uns keinen Begriff von einem zugleich freien und reinen Willen machen, gäbe es auch keine unbedingte moralische Verbindlichkeit. Zweitens muss Kant (was er für trivial zu halten scheint²⁵) nachweisen, dass Freiheit eine Form der Kausalität eines Willens ist, die nach einem Gesetz sui generis wirkt. Dieses Gesetz nennt er das Moralgesetz. Und weil die Vernunft sich selbst dieses Gesetz gegeben hat, spricht Kant von Autonomie (04:452). Drittens muss er deutlich machen, dass die Idee der Freiheit unsere gleichzeitige Mitgliedschaft in der Verstandeswelt und in der Sinnenwelt und damit die Möglichkeit impliziert, sich selbst (seinen Willen) durch zwei verschiedene Arten von Kausalität zum Handeln zu bestimmen.²⁶ Und viertens muss Kant erläutern, warum wir als Menschen nicht nur entsprechend dem Gesetz der Verstandeswelt handeln können, sondern dies auch sollen. Wenn wir (wie Baumgarten, Johann August Eberhard und andere in der Tradition von Leibniz und Wolff stehende Autoren behaupten) prinzipiell nach der Vorstellung unserer besten Gründe handeln müssten, gäbe es zwar eine praktische Notwendigkeit, aber eben keine praktische Nötigung.²⁷ Die Differenz in unserem guten und schlechten Wollen erklärt sich nach Kant also nicht durch den Grad unserer Erkenntnis, sondern durch den Akt unserer praktischen Selbstbestimmung: Der Wille ist frei, sich sowohl zum Guten wie zum Schlechten zu bestimmen.²⁸ Diese Wahlmöglichkeit gehört zur kanti Kant spricht an einer Stelle auch von der „Deduktion des obersten Prinzips der Moralität“ (04:463). Diese Passage sollte jedoch nicht so verstanden werden, als ob der Begriff des Moralgesetzes als solcher deduktionsbedürftig wäre. Er folgt vielmehr unmittelbar aus dem Begriff der Freiheit; vgl. 04:452 f. Siehe auch die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in der Kant darauf hinweist, dass wir Freiheit ohne Gesetz nicht widerspruchsfrei denken können: „Sich als ein frei handelndes Wesen und doch von dem einem solchen angemessenen Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht“ (06:35). Mir ist keine Textstelle bekannt, in der Kant das Gegenteil behaupten würde. In der Kritik der Urteilskraft findet er hierfür eine gelungene Formulierung: „Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag tun darf“ (05:175). „1. Obligatio est necessitatio, ergo oppositum actionis potest esse subjective moraliter possible“ (19:13, Ref. 6463). Der Autor, der Kants Konzeption des freien Willens vielleicht am nächsten steht, ist Christian August Crusius. In seiner Anweisung vernünftig zu leben schreibt Crusius: „Demnach ist die Freyheit nicht nothwendig eine Kraft, nach den besten Vorstellungen des Verstandes zu handeln, sondern da, wo unter den vorgestellten Handlungen wircklich eine die beste ist, da soll sie nur eine Kraft seyn, das beste erwehlen zu können, und nach der göttlichen Absicht soll sie zu der wircklichen Ergreiffung desselben angewendet werden“ (Crusius 1744, § 52, S. 64 f.; siehe weiterführend Klemme 2006 und 2013). Siehe auch Henry Home, Lord Kames, der über den Willen schreibt: „[…] die Vernunft hat die Kraft, ihn zurückzuhalten, sie giebt ihm Bewe-
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schen Definition der Nötigung eines Sinnenwesens durch seine reine Vernunft. In der zeitgleich mit der Grundlegung entstandenen Nachschrift seines Kollegs über Naturrecht (Naturrecht-Feyerabend) führt Kant erläuternd den Begriff eines ‚zufälligen Willens‘ ein: „Der Mensch kann das Gute und Böse wählen, also ist der gute Wille bei dem Menschen ein zufälliger Wille“. Der „zufällige Wille“ ist ein „unvollkommner Wille“²⁹. Es ist wichtig zu sehen, dass die Frage nach dem Grund unserer Verbindlichkeit zwar mit der Frage nach unserer subjektiven Disposition, dem Moralgesetz Folge zu leisten, verwandt, aber mit ihr keineswegs identisch ist.³⁰ Wir erkennen nach dem Theoriebestand der Grundlegung den Grund unserer moralischen Verbindlichkeit, während unsere Motive bestimmte Gefühle (insbesondere das Gefühl der Achtung) zur Voraussetzung haben, ohne die wir subjektiv dem Moralgesetz nicht Folge leisten würden. Dementsprechend schreibt Kant auch nicht, dass wir
gungsgründe, die aus der richtigen Betrachtung des Guten und Bösen benommen sind“ (Home 1768, S. 134). Siehe aber auch Georg Friedrich Meier: „Wenn ein vernünftig freyes Wesen in den Fall kommt, eine freye Handlung zu thun: so befindet es sich an einem Scheidewege, und es kann durch eigene Wahl, so wohl den Weg zur Linken, als auch den Weg zur Rechten wählen. Damit es nun den einen und nicht den andern wähle, soll es durch die Verbindlichkeit zu der Wahl des einen moralisch genöthigt werden“ (Meier 1764, § 72, S. 154). Kant nimmt das Wort „Scheideweg“ auf im Zusammenhang einer Wahl zwischen formalem und materialem Prinzip; vgl. 04:400 sowie 02:34 und 06:380. – Der Sache nach kennt Kant bereits 1785 die Differenz zwischen Wille und freier Willkür, siehe Klemme (1999) und Steigleder (2006, S. 244 f.). 27:1323. Im zweiten Abschnitt der Grundlegung definiert Kant die „Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens […] von Prinzipien der Vernunft“ als „ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man kein Interesse gedenken. Aber auch der menschliche Wille kann woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln. Das erste bedeutet das praktische Interesse an der Handlung, das zweite das pathologische Interesse am Gegenstande der Handlung“ (04:413, Anm.). Die Frage nach der Möglichkeit einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit ist gerade nicht mit der Frage identisch, warum ich moralisch sein soll, wie Schönecker und Wood (siehe 2002, S. 204) meinen (zur Kritik an dieser Position siehe Ludwig 2008, S. 458 ff.). Bevor ich mich fragen kann, ob ich moralisch handeln will, muss erst einmal klar sein, wie Moral (im Sinne unbedingt bestehender Verbindlichkeiten) möglich ist. Für meine Frage danach, ob ich moralisch handeln will, sind dann erstens meine moralischen Gefühle (vgl. z. B. 04:401, Anm., 05:446) und zweitens mein (letztlich auch für mich selbst) unerklärlicher Willensentschluss relevant (siehe 04:407, 06:59, Anm. und A 551/B 579, Anm.). Beide stehen im dritten Abschnitt der Grundlegung schon deshalb nicht im Zentrum von Kants Analyse, weil sie schlicht die Theorieebene nicht betreffen, auf der sich Kant in ihm bewegt. Im Naturrecht-Feyerabend heißt es: „Ich soll das thun, heißt eine durch mich nothwendige Handlung würde gut seyn. Daraus folgt noch nicht, daß ich es thun werde: denn ich habe auch subjektive Gegengründe. Ich stelle mir daher jene als nothwendig vor. Gebothe sind also für einen unvollkommnen Willen“ (27:1323).
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uns verpflichtet fühlen, sondern dass wir uns „als verpflichtet“ denken ³¹. Weil das moralische Gesetz „absolute Notwendigkeit“ bei sich führt, kann der „Grund der Verbindlichkeit“ nicht in der Erfahrung (z. B. in Gefühlen), sondern muss vielmehr „a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“ (04:389) gesucht werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht auch Gefühle benötigten, um subjektiv motiviert zu sein, dem Gesetz Folge zu leisten.³² Von den genannten drei Voraussetzungen zur Erkenntnis der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs kommt der ersten eine Schlüsselfunktion zu. Nicht ohne Grund spricht Kant von der „Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ (04:447). Mit dieser Deduktion soll „auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich“ (04:447) gemacht werden. Weil es keine Verbindlichkeit ohne Freiheit³³ geben kann, muss Kant also den Gebrauch
Es wäre deshalb zu untersuchen, ob es nicht zwei verschiedene Konzeptionen moralischer Verbindlichkeit bei Kant gibt, wobei er mit dem Begriff der Achtung eine gegenüber dem dritten Abschnitt alternative Konzeption entwickelt. Zu den vier Dimensionen (kognitiv-formal, emotiv, existenziell, autonomistisch) moralischer Motivation bei Kant siehe Klemme (2006, S. 136 ff.). Kant vertritt hier keine originelle Position. So schreibt Baumgarten (1760, § 11): „Obligatio non potest esse, ubi non est libertas“. Georg Friedrich Meier formuliert das zwischen Freiheit und Verbindlichkeit bestehende Problem auf eine Weise, die auch Kant hätte unterschreiben können: „Wenn man nun, die Natur der Verbindlichkeit überhaupt, genauer erklären will: so muß man, aus der Natur des freyen Willens, die Art und Weise bestimmen, wie eine freye Handlung, moralisch nothwendig gemacht werden kann“ (Meier 1764, § 68). Ferner schreibt Meier (1764, § 67): „Die Verbindlichkeit, oder die Verpflichtung, ist die moralische Nöthigung zu freyen Handlungen. Oder, wenn eine freye Handlung moralisch nothwendig gemacht wird, so muß sie geschehen; derjenige, von dessen freyem Willen die Handlungen anhanget, kann nicht anders, er muß etwas frey thun oder unterlassen, und dieses so und nicht anders verrichten; sein freyes Verhalten ist dergestalt eingerichtet, daß das Gegentheil durch seinen freyen Willen nicht mehr geschehen kann.“ Dass es keine Verbindlichkeit ohne Freiheit geben kann (die Frage ist natürlich immer: welche Freiheit?), wird auch von Crusius anerkannt: „Die Freyheit soll dasjenige seyn, welches uns tüchtig macht, einem Gesetze und Verbindlichkeit unterworffen zu seyn, und von der Einrichtung unserer Handlungen Rechenschaft zu geben. Wenn man diese vorausgesetzte Eigenschaften zusammen nimmt, so kann ein freyes Wesen nichts anders seyn als ein solches, welches zu einerley Zeit und bey einerley Umständen etwas thun und lassen, oder an dessen statt etwas anders thun kann, und die Kraft, vermöge welcher es darzu fähig ist, muß die Freyheit heissen“ (Crusius 1744, § 38, S. 47 f.). Auch Henry Home, Lord Kames, ist davon überzeugt, dass „die Moralität die Freyheit in den Handlungen voraussetzt“ (Home 1786, Vorbericht 1 n–p.). Weiter führt er aus: „Der Philosoph mag in seiner Studierstube abstrakten Wahrheiten noch so scharf nachdenken, er mag von der festgesetzten Folge der Ursachen und Wirkungen, die, eigentlich zu reden, nichts in seiner Gewalt läßt, noch so gut überzeugt seyn, so ist er doch kaum in die Welt zurückgekehret, da er den Augenblick als ein frey handelndes Wesen verfährt: und ob er hierinn gleich nach seiner falschen Voraussetzung verfährt, so wird er
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eines Begriffs von Freiheit rechtfertigen (deduzieren), der dazu qualifiziert ist, eine unbedingte Verbindlichkeit ihrer Möglichkeit nach zu denken.
2. Die Deduktion der Idee der Freiheit und der Verbindlichkeit (in Sektion 4) Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der neueren Kantliteratur, die Frage nach der Deduktion der Idee der Freiheit und des kategorischen Imperativs überwiegend mit Blick auf die ersten vier Sektionen von Abschnitt 3 der Grundlegung beantworten zu wollen.³⁴ Sicherlich intendiert Kant die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ in der gleichnamigen Sektion zu beantworten. Doch dies sollte nicht überinterpretiert werden. Weder ist zu erwarten, dass Kant in der Sektion 4 nicht auf Einsichten zurückgreift, die er bereits in den ersten drei Sektionen begründet oder plausibilisiert hat (sodass Sektion 4 eher Einzelargumente zu einem Beweisgang zusammenfügt und schulgerecht präsentiert, als neue Argumente zu entwickeln³⁵), noch wäre es verwunderlich,wenn Kant in der Sektion 5 wichtige Erläuterungen zur Deduktion der Idee der Freiheit bzw. des kategorischen Imperativs gäbe, ohne deren Kenntnisnahme das Argumentationsziel der Grundlegung als Ganzer vom Leser falsch eingeschätzt würde.Verwunderlich wäre dies nur dann, wenn man in der Sektion 4 einen Möglichkeitsbeweis im Sinne der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft erwartete. Wenden wir uns zunächst der obligationstheoretischen Funktion der Idee der Freiheit zu, so wie sie von Kant in der Sektion 4 erläutert wird. Von zentraler Bedeutung ist hier die Auskunft, dass die „Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist“ (04:454). Kant zieht hieraus zwar die Konsequenz, dass ich mich aufgrund der gesetzgebenden Funktion der Verstandeswelt „der Autonomie des Willens unterworfen erkenne, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen“ (04:454) muss. Aber aus seiner Überlegung in Absatz 1 wird für den Leser nicht deutlich, inwiefern es
doch, welches zu verwundern ist, dadurch von den Endzwecken seiner Handlungen im geringsten nicht abgeleitet, sondern er erfüllt sie noch weit vortheilhafter“ (Home 1786, S. 170 f.). Eine Ausnahme stellt vor allem Puls (2011) dar. Dagegen unterstellt Schönecker (2006, S. 318), dass sich in der Sektion 4 ein völlig neues Argument finden muss.
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sich hierbei um einen synthetischen Satz a priori handelt. Dazu müsste Kant nicht nur zeigen, dass ich mich als der Autonomie unterworfen erkenne. Er müsste darüber hinaus erläutern, wie ein menschlicher Wille sich dem Moralgesetz so unterworfen denkt, dass er sich auch³⁶ unter die Gesetzlichkeit der Natur stellen könnte. Diese Erklärung dessen, was nach Absatz 1 bereits als praktisch wirklich behauptet wird, erfolgt erst in dem zweiten Absatz von Sektion 4.³⁷ In ihm wechselt Kant die Perspektive. Erst jetzt formuliert er die Frage nach der Möglichkeit kategorischer Imperative explizit und beantwortet sie im Ausgang von unserem „durch sinnliche Begierden affizierten Willen“ (04:454). Ein sinnlich affizierter Wille handelt als ein solcher mit Notwendigkeit nach den Gesetzen der Natur. Er steht nicht nur unter, sondern er wirkt auch nach den Naturgesetzen. Damit sich der Mensch als unter dem Moralgesetz stehend erkennen kann, muss zu diesem Begriff seines sinnlich affizierten Willens noch etwas ‚hinzukommen‘, und zwar etwas, das die Bedingung enthält, unter der der sinnlich affizierte Wille gebraucht werden soll. Und genau das ist die „Idee der Freiheit“ und die mit ihr verbundene Autonomie eines reinen Willens. Der Mensch erkennt sich qua seiner Vernunft als
Jens Timmermann sieht hier ein Problem: „If Kant assumes that the will wholly belongs to the world of understanding and consequently is free to act to its laws, it seems quite impossible to understand the reasons why the human beings ever fail to live up to these standards. The mere fact that the human will is affected by sensuous inclinations cannot be the (whole) reason for occasional moral failure, for the will would not otherwise be (negatively) free. Yet if it is (positively free to do the right thing it is – as Kant at times admits – unintelligible why it does not realise its freedom. The executive will (Willkür) would have to occupy a third standpoint mediating between the two others; and this standpoint is as uncertain as that of empiricism (IV 425.33), perhaps even more so“ (Timmermann 2007, S. 143). Genau das ist aber Kants Position: Wir können nicht erklären, warum der Mensch nicht immer nach dem Moralgesetz handelt (vgl. dazu Klemme 2013). Aber wir können nach Kant ein Argument gegen den Empiristen nennen: Dieser kann sich nicht als Urheber seiner Handlungen begreifen. Zur Argumentation von Absatz 2 siehe ausführlich Pieper (1989) und Ludwig (2008, S. 447– 449). Allison vertritt die Ansicht, dass die „actual deduction“ im ersten Absatz stattfindet, der zweite Absatz aber erklärt, „how this deduction accounts for the possibility of categorical imperatives and relates it to the problem of the synthetic a priori and the manner in which the latter was treated in the first Critique; the third argues that this deduction is confirmed by the practical use of common human reason“ (Allison 2011, S. 331). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kants Formulierungen zum genauen Ort der Deduktion hätten präziser ausfallen können. Allerdings bleibt an Allisons These (der die Position von Schönecker 1999, S. 365, aufnimmt) unklar, wie die Deduktion tatsächlich durchgeführt worden sein kann, ohne dass dem Leser deutlich wird, inwiefern es sich beim kategorischen Imperativ um einen synthetischen Satz a priori handelt. Beide Absätze sind deshalb im Zusammenhang zu lesen. Nach Timmermann ist die Deduktion im zweiten Absatz „finally accomplished“ (Timmermann 2011, S. 141).
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ein Wesen, dessen Wille „unter“³⁸ dem Moralgesetz steht. Als Vernunftwesen soll er, und als Vernunftwesen kann er seinen Willen durch die Kausalität aus Freiheit zum Handeln bestimmen. Anders formuliert: Der menschliche Wille steht zugleich unter den Naturgesetzen und dem Moralgesetz. Er kann sich entweder nach den Ersteren oder nach dem Zweiten zum Handeln bestimmen, soll dies aber nach dem Moralgesetz tun. Es ist kein Zufall, dass Kant im zweiten Absatz von Sektion 4 zweimal das Wort ‚hinzukommen‘ verwendet: Zu unserem sinnlich affizierten Willen muss der Begriff eines reinen Willens hinzukommen. Erst mit diesem Gedanken wird verständlich, warum der Mensch verbunden ist, etwas zu tun, zu dem er als Sinnenwesen genötigt werden muss. Der kategorische Imperativ ist ein synthetischer Satz a priori, weil er die Verbindlichkeit durch das Verhältnis erklärt, in dem der Wille zu sich selbst als sinnlich affizierter und als reiner Wille steht. Die Möglichkeit des kategorischen Imperativs erklärt sich durch das Verhältnis, in dem der Wille als sinnlich affizierter Wille zu sich selbst als reiner Wille steht. Im anschließenden dritten Absatz von Sektion 4 verweist Kant zur Bestätigung der „Richtigkeit dieser Deduktion“ auf den „praktischen Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft“³⁹. Man kann diese Bestätigung im Sinne der Aufnahme eines Gedankens verstehen, den Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft geäußert hat⁴⁰ und den er in der Kritik der Urteilskraft (1790) zu wiederholen nicht müde wird. Dieser Gedanke besagt, dass wir uns nicht nur als unter der Idee der Freiheit handelnd denken, sondern dass unser Handeln in praktischer Hinsicht beweist,
04:447. Nach der Auffassung zahlreicher Autoren möchte Kant hiermit zum Ausdruck bringen, dass nur ein moralisch guter Wille ein freier Wille ist. Träfe diese Interpretation zu, könnte Kant nicht erklären, wie man sich aus Freiheit für eine moralisch schlechte Handlung entscheiden kann. Ich halte diese Interpretation für nicht überzeugend, weil sie missversteht, was Kant mit dem Wort ‚unter‘ zum Ausdruck bringen will. Der Gegenbegriff zu ‚unter‘ ist ‚nach‘: Steht der Wille unter dem Moralgesetz, kann er als ein freier Wille nach dem Moralgesetz handeln, muss es aber nicht. Das ‚unter‘ zeigt also ein Vermögen an, keine praktische Notwendigkeit. Ganz in diesem Sinne äußert sich Kant in der Kritik der Urteilskraft: „Ich sage mit Fleiß: unter moralischen Gesetzen. Nicht der Mensch nach moralischen Gesetzen, d. i. ein solcher, der sich ihnen gemäß verhält, ist der Endzweck der Schöpfung“ (05:448 f., Anm.). Siehe auch 05:449 f. und 05:445 („Denn der Begriff von Weltwesen unter moralischen Gesetzen ist ein Prinzip a priori, wonach sich der Mensch notwendig beurteilen muß“). Zur Kritik an Schöneckers Lesart der sogenannten Analytizitätsthese siehe Steigleder (2006, S. 241 ff.) und Puls (2011, S. 537). 04:454. Kant beruft sich auf „die gemeine Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze“ auch als Rechtfertigungsgrund für die Durchführung einer „reinen Moralphilosophie“ (04:389) in der Grundlegung. „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ (A 803/B 831).
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dass die Freiheit unseres Willens eine von den „Naturursachen in der Welt“⁴¹ ist. Die reine Vernunft wird nicht etwa in Gestalt eines bloß gedachten guten Willens praktisch, wir beurteilen unser Handeln vielmehr so, dass wir uns selbst als Urheber⁴² der Handlungen in der Verantwortung sehen, die wir aufgrund unseres freien Willens getan haben oder hätten tun sollen. Wäre es uns nicht möglich, unseren eigenen Willensentschluss als Ursache von Handlungen in Raum und Zeit zu begreifen, wäre die ganze Moral chimärisch. Im dritten Absatz der Sektion 4 findet sich somit zwar nicht die Deduktion des kategorischen Imperativs, wohl aber der Hinweis darauf, dass das, was in den ersten beiden Sätzen als möglich gerechtfertigt wurde, durch den Gebrauch unserer „gemeinen Menschenvernunft“ als praktisch wirklich bestätigt wird. Unser Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit wird von Kant als ein Bewusstsein realer Handlungsalternativen interpretiert, an dem kein Mensch ernsthaft zweifelt. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten von Kants Deduktion der Idee der Freiheit und der Möglichkeit des kategorischen Imperativs, dass er in den ersten beiden Absätzen von Sektion 4 kein Argument dafür zu nennen scheint, was denn so besonders an unserer Existenz in der intelligiblen Welt sein sollte, dass sie den Grund einer unbedingten Verbindlichkeit darstellt. So schreibt Dieter Henrich (1975, S. 97): „Kant bietet nicht die Spur eines Vorschlags an, wie sich die Subordination des sinnlichen unter die intelligible Welt als die Subordination des sinnlich affizierten Willens unter den intelligiblen Willen denken läßt“. Würde Henrichs Diagnose zutreffen, darf der Beweisgang der Grundlegung mit Fug und Recht als gescheitert angesehen werden. Wenn sich Kant nicht in der Sektion 4 zu dieser Frage direkt äußerte, wäre zu erwarten, dass sie in den vorhergehenden drei Sektionen beantwortet und diese Antwort in der Sektion 4 als bekannt voraus-
05:171; vgl. 05:468 („Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besonderen Art von Kausalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt“), 05:474 (die Idee der Freiheit ist „der einzige Begriff des Übersinnlichen […], welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben möglichen Wirkung beweist“) und 05:475 („zum Freiheitsbegriffe, der seine Realität durch die Kausalität der Vernunft in Ansehung gewisser durch sie möglichen Wirkungen in der Sinnenwelt, die sie im moralischen Gesetze unwiderleglich postuliert, hinreichend dartut“). In der Schulz-Rezension weist Kant darauf hin, dass uns nach Maßgabe des Fatalismus „nichts übrig bleibt, als abzuwarten und zu beobachten, was Gott vermittelst der Naturursachen in uns für Entschließungen wirken werde, nicht aber was wir von selbst als Urheber thun können und sollen“ (08:13).
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gesetzt würde. Wenden wir uns also dem Gedankengang der ersten drei Sektionen zu, in denen sich, wie sich zeigen wird, bereits alle wesentlichen Elemente der späteren Deduktion der Möglichkeit des kategorischen Imperativs finden.
3. Freiheit und Verbindlichkeit (in den Sektionen 1 – 3) In der Sektion 1 vertritt Kant die Auffassung, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (04:447) sei. Der Wille könnte also nicht frei sein, wenn dieser Wille nicht nach dem Moralgesetz wirken würde. Doch mit dieser Auskunft über das Verhältnis von Freiheit, Wille und Moralgesetz ist der Begriff eines guten Willens noch nicht erklärt. Denn der menschliche Wille ist kein notwendig guter Wille. Dieser Wille steht zwar „unter sittlichen Gesetzen“, aber er handelt nicht notwendig nach dem Moralgesetz. Um zu verstehen, unter welchen Bedingungen der menschliche Wille ein guter Wille – nicht bloß seiner Möglichkeit, sondern vielmehr seiner Wirklichkeit nach – ist, muss nach der Bedingung gefragt werden, unter der der menschliche Wille ursprünglich tätig wird: Der menschliche Wille handelt nach Maximen. Sie sind oberste Regeln, in denen sich der Mensch einen Begriff davon macht, was zu tun gut und schlecht für ihn ist. Ihr Ursprung sind unsere Neigungen.⁴³ Weil der kategorische Imperativ nun die unbedingte moralische Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt, nur nach denjenigen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren⁴⁴, ist nach dem Grund zu fragen, der den Menschen in seinem Wollen entsprechend bindet. Warum soll ich bloß nach solchen Maximen handeln, die dem Kriterium eines „allgemeines Gesetzes“ (04:447) genügen? Kant weist darauf hin, dass diese Maximen gründet jeder „auf seine Neigungen“ (05:67). Kant widmet dem Begriff der Maxime (sie ist „das subjektive Prinzip des Wollens“, 04:400, Anm.) schon deshalb keine große Aufmerksamkeit, weil er beim Leser eine Vertrautheit mit diesem Begriff voraussetzen kann. So schreibt Wolff in seiner Deutschen Ethik: „Wir wissen, daß der Mensch weder etwas wollen, noch nicht wollen, und also auch weder etwas thun und lassen kann ohne einen Bewegungs-Grund […]. Da nun der Bewegungs-Grund so wohl des Willens als der sinnlichen Begierde die Vorstellung des Guten ist […]: hingegen des Nicht-Wollens und des sinnlichen Abscheues die Vorstellung des Bösen […]: dazu aber, daß wir urtheilen, als etwas gut oder böse ist, eine Maxime erfordert wird […]; so muß auch der Mensch gewisse Maximen oder allgemeine Regeln haben, danach er sein Thun und Lassen einrichtet, ob er sie gleich selbst nicht deutlich erkennet […]. Unser gegenwärtiges Vorhaben gehet demnach dahin, wie wir die Maximen entdecken, nach welchen einer gewohnet ist das Gute und Böse zu beurtheilen“ (Wolff 1733, § 190). In der Grundlegung schreibt Kant, dass das „objektive Prinzip“ des Wollens „das praktische Gesetz“ (04:400, Anm.) ist.
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Eigenschaft der Maxime, nämlich sich zu einem allgemeinen Gesetz zu qualifizieren, nicht „durch Zergliederung“ (04:447) des Begriffs eines guten Willens gefunden werden kann. Warum der Wille gerade nach Maximen handeln soll, die sich zu einem allgemeinen Gesetz qualifizieren, setzt vielmehr ein „Drittes“ (04:447)⁴⁵ voraus. Dieses ‚Dritte‘ erklärt, warum es sich beim kategorischen Imperativ um einen synthetischen Satz a priori handelt. Kants Möglichkeitsbeweis des kategorischen Imperativs zielt demnach darauf ab, einen Begriff des Willens zu finden, in dem der Begriff der neigungsbasierten Maximen mit dem Begriff des allgemeinen Gesetzes ‚verbunden‘ wird. Die Verbindung beider Begriffe (oder Sätze) steht zur Debatte: „Solche synthetischen Sätze sind aber nur dadurch möglich, daß beide Erkenntnisse dadurch die Verknüpfung mit einem Dritten darin sie beiderseits anzutreffen sind, untereinander verbunden werden“ (04:447). Und Kant klärt seine Leser auch schon darüber auf, was dieses ‚Dritte‘ nicht sein kann, nämlich die „Natur der Sinnenwelt“ (04:447). Als Alternative zu dieser bleibt, wie Kant an dieser Stelle allerdings noch nicht verrät, die Verstandeswelt. Für die Einschätzung von Kants Argumentation ist nun sein Hinweis darauf aufschlussreich, dass wir diese Verstandeswelt nicht etwa unmittelbar anschauen oder (in theoretischer Perspektive) erkennen können. Ganz im Gegenteil. Kant verweist auf den positiven Begriff der Freiheit: „Der positive Begriff der Freiheit schafft dieses Dritte“, er „weiset“ auf es hin als etwas, „von dem wir a priori eine Idee haben“ (04:447). Damit ist angedeutet, dass das Verhältnis von Freiheit und Verstandeswelt ein prekäres ist: Auf der einen Seite handeln wir unter der Idee der Freiheit, die mit dem Moralgesetz nach einer gegenüber der Natur alternativen Form der Kausalität wirkt. Auf der anderen Seite ist es diese Idee selbst, die den Begriff einer Welt, in der diese Kausalität ihren Ort und zugleich ihren Grund hat, schafft oder anzeigt. Würden wir die Freiheit des Willens förmlich erkennen können, erübrigte sich diese Argumentation. Damit nun die Freiheit diese Verweisfunktion auf das gesuchte ‚Dritte‘ als dem Grund einer unbedingten Verbindlichkeit im Wollen erfüllen kann, muss gezeigt werden, dass wir einen „hinreichenden Grund haben“, sie „allen vernünftigen Wesen beizulegen“ (04:447). Nur wenn alle vernünftigen und mit einem Willen begabten Wesen einen freien Willen haben, kann es eine an alle Vernunftwesen adressierte Forderung sein, ihren Willen entsprechend dem Moralgesetz zu bestimmen. Mit welchem Argument versucht Kant diesen Nachweis in der Sektion 2 („Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden“) zu erbringen? Das Argument umfasst zwei Schritte: In einem ersten Schritt behauptet Kant, dass ein „jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee
Siehe zu diesem Wort auch A 217/B 264.
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der Freiheit handeln kann, […] eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei“ ist, „d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille, auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde“ (04:448). Während nach der Kritik der reinen Vernunft erstens die Begriffe des Verstandes nur dann objektive Bedeutung haben, wenn wir sie auf ein Mannigfaltiges der uns in unserer Sinnlichkeit gegebenen Vorstellungen beziehen, und zweitens die Ideen der Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch, gerade weil sie diesen unmittelbaren Anschauungsbezug nicht aufweisen, eine bloß regulative Funktion haben, zeichnet sich die Idee der Freiheit in ihrem praktischen Gebrauch dadurch aus, dass sie ihre eigene Wirklichkeit hervorbringt. Wer unter der Idee der Freiheit handelt, verschafft dieser Idee eine praktische Wirklichkeit. Er beurteilt seine Handlungen so, als ob er ihr Urheber wäre. Besonders bemerkenswert an dieser Aussage Kants ist nicht zuletzt der Hinweis auf die theoretische Philosophie: Der Beweis der Wirklichkeit der Freiheit aus ihrer für Vernunftwesen praktischen Unvermeidlichkeit ist so zu verstehen, als ob die Freiheit des Willens in der theoretischen Philosophie bewiesen worden wäre. Kant betont diese durch und durch praktische Bedeutung der Idee der Freiheit ausdrücklich: Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn dieses letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir können uns hier also von der Last befreien, die die Theorie drückt (04:448, Anm.).
Es gibt deshalb keinen Grund anzunehmen, dass Kant unsere Freiheit in ‚theoretischer Hinsicht‘ in einer späteren Sektion von Abschnitt 3 (beispielsweise unter Rückgriff auf den Begriff der Spontaneität in Sektion 3) zu beweisen beabsichtigt. In einem zweiten Schritt behauptet Kant, daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen (04:448).
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Warum können wir uns keine Vernunft denken, die in einem mit einem Willen begabten Wesen nicht praktisch ist? Dieser Gedanke ist für uns nicht möglich, weil sich die Vernunft selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen [muß], unabhängig von fremden Einflüssen, folglich⁴⁶ muß sie als praktische Vernunft oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden, d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden (04:448).⁴⁷
Man könnte dies Kants performative Deduktion der Idee der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft nennen: Betrachten wir uns als Urheber unserer Handlungsprinzipien (Maximen), können wir dies nur unter der Idee der Freiheit tun. Diesen Anspruch auf Urheberschaft können wir nicht aufgeben, ohne uns zugleich als Vernunftwesen zu negieren. Kant ist sich im Klaren darüber, dass dieser zwischen dem Begriff eines Vernunftwesens und unserem Willen bestehende normative Zusammenhang nur erklärt werden kann, wenn man der Vernunft selbst ein bestimmtes Interesse zuschreibt, aufgrund dessen sie auf uns Menschen nötigend wirkt. Dieses Interesse thematisiert Kant in der Sektion 3 („Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt“). Zu Beginn dieser Sektion äußert er einen bemerkenswerten Gedanken: Wir haben zwar in der Idee der Freiheit den Grund der Sittlichkeit gefunden. Wer sich einen eigenen Willen zuschreibt, kann dies nur unter Bedingungen der Idee der Freiheit und der mit ihr verknüpften Gesetzlichkeit tun. Eine Frage wurde aber bisher noch nicht beantwortet: „Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle anderen mit Vernunft begabten Wesen?“ (04:449). Tatsächlich handelt es sich um zwei Aspekte, die mit dieser Frage verbunden sind: Zum einen steht nach Kant noch nicht fest, ob die Idee der Freiheit etwas „Wirkliches […] in uns selbst und in der menschlichen Natur“ (04:448) ist, und zweitens ist nicht klar, warum ich so handeln soll, wie es das Prinzip der Sitt Zur Interpretation von „folglich“ siehe Henrich (1975, S. 68 f.), der eine Parallele zur SchulzRezension zieht, in der Kant von einem „eben so“ (08:14) spricht. Dabei „verwischt“ Henrich allerdings „die Unterschiede zwischen theoretischer und praktischer Vernunft“ (Steigleder 2002, S. 83). In der zweiten Kritik schreibt Kant: „Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheiten derselben, macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“ (05:32).
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lichkeit zum Ausdruck bringt. Kant geht offenbar davon aus, dass beide Aspekte in ein und demselben Gedankengang zu beantworten sind: Kann ich die Idee der Freiheit als etwas Wirkliches in mir und in jedem Vernunftwesen nachweisen, habe ich auch einen Grund gefunden, warum ich mich dem Moralgesetz „unterwerfen“ (04:449, vgl. 450) soll. Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs stellt sich also als die Frage danach dar, „woher das moralische Gesetz verbinde“ (04:450). Diese Frage mutet seltsam an. Kant fragt nicht, weshalb uns dieses Gesetz verpflichtet, sondern bindet die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit an eine Ortsbestimmung. Oder anders formuliert: Die Frage nach dem Grund unserer Verbindlichkeit, dem Moralgesetz unbedingt Folge zu leisten, wird mit dem Verweis auf einen Standpunkt beantwortet, den wir uns selbst gegenüber einnehmen. Bevor er die Frage nach diesem Standpunkt beantwortet, weist Kant auf „eine Art von Zirkel“ (04:450) hin, in den wir uns argumentativ begeben zu haben scheinen. Kant erhöht damit die Dramatik des argumentativen Geschehens. Er möchte darauf hinweisen, dass wir nach den bisherigen Ausführungen noch nicht verstanden haben,wie denn der Begriff der Freiheit den Begriff der Verbindlichkeit zu erklären vermag. „Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben“ (04:450). Hierbei handelt es sich um „eine Art von Zirkel“, weil „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe [sind], davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben“ (04:450). Wie immer dieser „Zirkel“ im Einzelnen zu interpretieren sein mag, seine Funktion im Argumentationsgang scheint relativ eindeutig zu sein: Kant sucht nach einem „Grund“ dafür, warum wir dem Moralgesetz „unterworfen“ sind. Und dieser Grund kann nur dann gefunden werden, wenn wir uns selbst als Handelnde aus zwei verschiedenen Standpunkten „vorstellen“: Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen (04:450).
Die Frage nach dem Grund unserer moralischen Verbindlichkeit fällt mit der Befähigung zusammen, uns selbst als durch Freiheit wirkende Ursachen von Handlungen zu denken, die ihrerseits auch unter der Kausalität der Natur stehen. Genau dies behauptet Kant jedenfalls mit seiner Unterscheidung zwischen der „Verstandeswelt“ und der „Sinnenwelt“ (04:451). Kant schreibt nicht, dass etwas in
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der „Verstandeswelt“ die Ursache von etwas anderem in der „Sinnenwelt“ ist, weil die Kategorien von Ursache und Wirkung in theoretischer Perspektive nur dann verwendet werden dürfen, wenn sie auf ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit bezogen werden. Deshalb können wir auch niemals behaupten, dass wir uns selbst als Ding an sich und als Ursache unserer Handlungen theoretisch zu erkennen vermögen (das ist Thema von Kants Kritik an der rationalen Psychologie in der ersten Kritik). Aber in der Verstandeswelt muss doch immerhin insofern der (quasikausale, durch den Begriff der Spontaneität bezeichnete) Grund der Sinnenwelt zu finden sein, als es in der ersteren etwas geben muss, das der Grund des in der Erscheinung Gegebenen ist.⁴⁸ Zu beachten bei Kants Verwendung des Wortes ‚Grund‘ ist allerdings auch, dass es die deutsche Übersetzung des lateinischen ratio ist, eines Wortes also, das in der Tradition von Leibniz und Wolff synonym mit causa verwendet wird.⁴⁹ Gründe sind Ursachen. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Verhältnisses von Grund und Erscheinung ist die in der Kritik der reinen Vernunft begründete Differenz zwischen Tätigkeit und Spontaneität auf der einen Seite und Affektivität und Passivität auf der anderen Seite.⁵⁰ Vorstellungen werden uns in den Anschauungsformen von Raum und Zeit gegeben. Raum und Zeit sind Vermögen der Rezeptivität, nicht aber
Siehe 04:450 ff. In einer Passage der Kritik der Urteilskraft verweist Kant auf die spezifische Bedeutung von Grund und Ursache. „Obzwar das Wort Ursache, von dem Übersinnlichen gebraucht, nur den Grund bedeutet, die Kausalität der Naturdinge zu einer Wirkung, gemäß ihren eigenen Naturgesetzen, zugleich aber doch auch mit dem formalen Prinzip der Vernunftgesetze einhellig, zu bestimmen, wovon die Möglichkeit zwar nicht eingesehen, aber der Einwurf von einem vorgeblichen Widerspruch, der sich darin fände, hinreichend widerlegt werden kann“ (05:195). Ich denke, sie passt inhaltlich sehr gut zu den Ausführungen in der Grundlegung. – Kants Frage nach dem Woher? ist zugleich eine solche nach dem Ort und nach dem Grund (vgl. dagegen Ludwig 2008, S. 451). Siehe beispielsweise Wolffs Unterscheidung zwischen der historischen und der philosophischen Erkenntnis in seinem Discursus praeliminaris de philosophia in genere (1728). Während die historische Erkenntnis „in der bloßen Kenntnis einer Tatsache [facti notitia]“ besteht, reicht die philosophische Erkenntnis „weiter und deckt den Grund der Tatsache [rationem facti] auf, so daß verständlich wird, warum etwas Derartiges geschehen kann […]. Offensichtlich besteht hier aber ein großer Unterschied. Die Kenntnis einer bloßen Tatsache und die Erkenntnis des Grundes dieser Tatsache sind nämlich keineswegs ein und dasselbe“ (Wolff 1996, § 7). Wolffs Unterscheidung dürfte, obwohl dies m. W. bisher in der Literatur nicht verfolgt wurde, nicht irrelevant für das Verständnis von Kants Lehre vom „Faktum der reinen Vernunft“ (05:31) in der Kritik der praktischen Vernunft sein. Dass reine Vernunft praktisch ist, stellt ein Faktum dar, dessen wir gewahr werden, sobald wir „das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen“. Die philosophische ‚Zergliederung‘ führt auf den wahren Grund dieser Urteile: die reine Vernunft, die praktisch ist. „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen“ (A 68/B 93).
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der Spontaneität. Aus diesem Grunde ist es ausgeschlossen, dass uns das Bewusstsein des Denkens in der Anschauung gegeben wird. Uns muss etwas in der Anschauung gegeben werden, damit wir den Aktus des Denkens vollziehen können. Das Denken selbst aber drückt eine Tätigkeit, eine Spontaneität aus. Die Vorstellung ‚Ich denke‘ wird hervorgebracht durch die transzendentale Apperzeption.⁵¹ Haben wir also Anlass, uns selbst auch im Wollen als etwas Tätiges zu denken, das als ein solches nicht den Bedingungen der „bloßen Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen“ unterworfen ist, „zählen“ wir uns auch insofern „zur intellektuellen Welt“ (04:451). Für die praktische Philosophie bedeutet dies, dass wir gegenüber unseren Handlungen einen zweifachen Standpunkt einnehmen: Als Wirkungen stehen sie unter den Gesetzen der Sinnenwelt, ihre Ursache liegt jedoch in unserem unter dem Moralgesetz stehenden „eigenen Willen“⁵². Wer sich dem Willen nach als frei denkt, sich also einen „eigenen Willen“ anmaßt, denkt sich als ein in der Verstandeswelt existierendes Wesen. Nun mag es zutreffen, dass Vernunftwesen sich nur unter der Voraussetzung ihrer eigenen Kausalität als Autoren ihres eigenen Handelns verstehen können.⁵³ Aber was genau berechtigt uns zu der Behauptung, in praktischer Hinsicht vernünftig zu sein? Wie lautet der zweite Schritt der Deduktion der Idee der Freiheit? In der Sektion 3 verweist Kant auf unser Bewusstsein unserer ‚reinen Selbsttätigkeit‘ und ‚Spontaneität‘, aufgrund derer wir uns von den uns affizierenden Dingen unterscheiden. Mit dem Hinweis darauf, dass
Siehe B 131 f., § 16. 04:448; vgl. Naturrecht-Feyerabend 27:1322 („Würde unsre Vernunft nach allgemeinen Gesetzen eingerichtet seyn, so wäre mein Wille nicht mein eigner, sondern der Wille der Natur“). Unmittelbar vor Abfassung der Grundlegung drückt Kant diesen Gedanken im NaturrechtFeyerabend unter Rückgriff auf den Begriff des Zweckes aus (der allerdings zwar im zweiten, nicht aber im dritten Abschnitt der Grundlegung eine exponierte Stellung einnimmt): „Aber die Freiheit, nur die Freiheit allein, macht, daß wir Zweck an sich selbst sind. Hier haben wir Vermögen, nach unsrem eignen Willen zu handeln. Würde unsre Vernunft nach allgemeinen Gesetzen [sc. der Natur, H. K.] eingerichtet seyn, so wäre mein Wille nicht mein eigner, sondern der Wille der Natur. – Wenn die Handlungen des Menschen im Mechanism der Natur liegen; so wäre der Grund davon nicht in ihm selbst, sondern außer ihm. – Die Freiheit des Wesens muß ich voraussetzen, wenn es soll ein Zweck vor sich selbst seyn. Ein solches Wesen muß also Freiheit des Willens haben. Wie ich sie begreifen kann, weiß ich nicht; es ist doch aber eine nothwendige Hypothesis, wenn ich vernünftige Wesen als Zwecke an sich denken soll. Ist es nicht frei, so ist es in der Hand eines andern, also immer der Zweck eines andern, also bloß Mittel. Freiheit ist also nicht nur oberste, sondern auch hinreichende Bedingung. Ein freihandelndes Wesen muß Vernunft haben; denn würde ich von Sinnen bloß affizirt, wo würde ich von ihnen regiert. Unter welcher Bedingung kann ein freies Wesen Zweck an sich selbst seyn? Daß die Freiheit sich selbst ein Gesetz sey“ (27:250 – 252).
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die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihm [sc. dem Verstand, H. K.] Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäft darin beweist, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden⁵⁴, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen (04:452)⁵⁵,
ist die Idee der Freiheit unmittelbar aus der reinen praktischen (und nicht etwa speziell aus der spekulativen⁵⁶) Vernunft deduziert.⁵⁷ Weil alle Gebrauchsformen unserer Vernunftideen eine Spontaneität dieser Vernunft belegen, gilt dies speziell auch für den praktischen Gebrauch der Idee der Freiheit.
Reinhard Brandt vertritt die Auffassung, dass Kant erst in der Kritik der praktischen Vernunft „mit dem Faktum des sittlichen Selbstbewußtseins und dem Machtspruch seines Grundgesetzes […] die Differenz von Ding an sich und Erscheinung“ einführt und auf diese Weise die praktische Vernunft „den Vorgang vor der theoretischen“ (Brandt 2007, S. 367) erringt. Diese sollte m. E. jedoch im Umkehrschluss nicht so verstanden werden, als ob in der Grundlegung die theoretische einen Primat vor der reinen praktischen Vernunft hätte. Brandt legt diese Interpretation jedoch nahe, wenn er schreibt, dass Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung „im Rückgriff auf Ergebnisse der KrV das moralische Gesetz als wirklich (und nicht nur einzig möglich) deduzierte“ (Brandt 2007, S. 366). Siehe auch Kants Ausführungen in den Prolegomena: „Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei“ (04:315, § 32). Bereits in der Kritik der reinen Vernunft trennt Kant eindeutig zwischen der praktischen und der spekulativen (bzw. der spekulativ-transzendentalen) Bedeutung der Vernunftideen: „Unsere Absicht gemäß setzen wir aber hier die praktischen Ideen bei Seite, und betrachten daher die Vernunft nur im spekulativen, und in diesem noch enger, nämlich nur im transzendentalen Gebrauch“ (A 329/B 386; vgl. A 799 ff./B 827 ff.). Weder in der ersten Kritik noch in der Grundlegung gibt es so etwas wie eine „praktisch-transzendentale Freiheit“, wie Porcheddu ausführt (Porcheddu 2013, S. 96). Kant schließt nicht von der theoretischen (oder logischen) Freiheit auf die praktische, wie u. a. Schönecker behauptet: „Once the human being understands himself as a member of the world of understanding because of his theoretical faculty, he also may understand his reason as a practical faculty, i. e. he may understand his will to be a member of the world of understanding and hence to be free“ (Schönecker 2006, S. 310; siehe auch Henrich 1975, S. 68 ff. und Porcheddu 2013, S. 93). Schlussfolgerungen dieser Art gibt es im dritten Abschnitt der Grundlegung nicht. In der Sektion 5 ist ebenfalls von einem praktischen Selbstbewusstsein als Intelligenz die Rede („wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner Selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige d.i. frei wirkende Ursache abgesprochen werden soll“, 04:458). – Zur genuin praktischen Bedeutung der Vernunftspontaneität siehe auch Kants Ausführungen in den Prolegomena (04:344 f.), auf die Puls (2011, S. 557 ff.; siehe auch Schmitz 1989, S. 109) hinweist.
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Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit (04:452).
Hier ist keine Rede davon, dass diese Unabhängigkeit der Vernunft mit den Mitteln der theoretischen Philosophie bewiesen werden müsste. Ganz im Gegenteil findet offenbar ein Rückbezug auf die Eingangsüberlegungen der Sektion 1 statt, in der der Begriff des Willens – und zwar voraussetzungslos – eingeführt wird: „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (04:446). Wir sind uns nach Kant unmittelbar einer Spontaneität praktischer Selbstbestimmung bewusst, die nicht unter der „Naturnotwendigkeit“ (04:446) steht. Aufgrund der kantischen Lehre von den drei Vermögen des Erkennens, der Lust und Unlust sowie des Begehrens wäre es auch ein geradezu abenteuerlicher Gedanke Kants, von der Spontaneität des Denkens auf die Spontaneität des Wollens schließen zu wollen. Bereits in der ersten Kritik schreibt Kant, dass die „menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität […] im Sittlichen“ zeigt. Im Sittlichen werden „Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände)“⁵⁸. Mit Bedacht erwähnt die Grundlegung nicht den „transzendentalen Gebrauch der reinen Vernunft“ (A 319/B 376) und spricht auch nicht von „transzendentalen Ideen“⁵⁹. Die Auflösung der A 317/B 373; vgl. 04:208. „Demnach ist die praktische Idee jederzeit höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich notwendig. In ihr hat die reine Vernunft sogar Kausalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält“ (04: 208; vgl. 436, Anm.: „Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß zu Stande zu bringen“). A 321/B 377. Ich sehe daher nicht, dass Kants ethische Freiheitslehre erst seit 1787 „nicht weiterhin Teil der Transzendentalphilosophie“ ist und nunmehr „auf einem rein-praktischen Fundament“ (Ludwig 2013, S. 378; vgl. Ludwig 2010) steht. Der Typus des Freiheitsbegriffs ändert sich nicht dadurch, dass praktische Freiheit 1785 im Ausgang vom praktischen Freiheitsbewusstsein und 1787 vom Ausgang des Bewusstseins des Moralgesetzes entwickelt wird. Ludwigs These passt auch nicht gut zu einer Passage in der Kritik der praktischen Vernunft: „Diese Analytik [sc. ‚der reinen praktischen Vernunft‘, H. K.] tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d. i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – und dieses zwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur Tat bestimmt. – sie zeigt zugleich, daß dieses Faktum mit dem Bewußtsein der Freiheit unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei, wodurch der Wille eines vernünftigen Wesens, das, als zur Sinnenwelt gehörig, sich, gleich anderen wirksamen Ursachen, notwendig den Gesetzen der Kasualität unterworfen erkennt, im Praktischen, doch zugleich sich auf einer andern Seite, nämlich als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligibelen Ordnung der Dinge bestimm-
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dritten Antinomie fungiert nicht als Voraussetzung der durch die Vernunftideen erzwungenen Unterscheidung zwischen Verstandes- und Sinnenwelt, sondern wird erst nachträglich in der Absicht ihrer Absicherung in Sektion 5 eingeführt.⁶⁰ Mit der Idee der Freiheit und der durch sie erzwungenen Differenz zwischen Verstandeswelt und Sinnenwelt ist im Prinzip bereits die Möglichkeit einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit einsichtig geworden: Weil erstens Freiheit eine Form der Kausalität ist, Kausalität zweitens mit dem Begriff der gesetzlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung einhergeht, und es sich bei diesem Gesetz drittens um ein Gesetz der intelligiblen Welt handelt, ist die Autonomie als Vermögen und als Prinzip des Wollens eine notwendige Folge. Denken wir uns als frei, „so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig“ (04:453). Die Verstandeswelt mit ihrer Gesetzlichkeit stellt für mich als Menschen deshalb eine unbedingte Norm meines Handelns dar, weil ich mir dieses Gesetz als Vernunftwesen selbst gegeben habe. Die Vernunft nötigt mich im Sinne eines (wie Kant in der Religionsschrift schreibt) „freien Selbstzwangs“⁶¹, nur nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. Und indem sie dies tut, fordert sie von mir, nach Prinzipien zu handeln, durch die ich mich selbst als Vernunftwesen in der Welt erhalte und darstelle. Das ‚Dritte‘, auf das mich die Idee der Freiheit verweist bzw. das sie „schafft“ (04:447), ist die unter einer Gesetzlichkeit sui generis stehende Verstandeswelt. Ich erkenne mich dieser Gesetzlichkeit nur deshalb unterworfen, weil ich sie mir selbst gegeben habe. Dies ist der zentrale Gedanke, der Kants Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs trägt und der keiner weiteren Begründung zugänglich ist: Wir schätzen unsere Autonomie, weil wir uns nur als unter der Idee der Freiheit handelnde Subjekte einen eigenen Willen zuschreiben können. Wir glauben, eine „bessere Person“ zu sein, wenn wir uns aus uns selbst zum Handeln nach einer Norm bestimmen, die von allen Vernunftwesen erkannt baren Daseins bewußt ist“ (05:42). Wenn eine Identität („einerlei“) zwischen dem „Faktum“ und dem „Bewußtsein der Freiheit des Willens“ besteht, dann ist Kants zuvor in der Anmerkung zu § 6 geäußerte Auffassung, dass die „Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke“ (05:30) jedenfalls nicht so zu verstehen, als ob die Erkenntnis des einen der Erkenntnis des anderen vorhergehen würde (wie auch, es liegt ja kein Zeitverhältnis vor). Vielmehr möchte Kant darauf hinweisen, dass wir uns nur deshalb einen freien Willen anmaßen können, weil wir unter dem Moralgesetz stehen (und nicht etwa deshalb, weil die objektive Realität der Idee der Freiheit im Rahmen der spekulativen Philosophie gesichert wird). So auch Puls (2011, S. 551). 06:383, vgl. 05:83 und 06:379 – 381.
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und gebilligt werden kann. „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“ (04:455). Mit dem Verweis auf die Verstandeswelt ist Kants Frage, „woher das moralische Gesetz verbinde“ (04:450), beantwortet. Wenn Kant im ersten Absatz der Sektion 4 allgemein ausführt, dass „die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält“, und speziell darauf hinweist, dass sie deshalb auch „in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist“ (04:454), bezieht er sich auf die Eigenschaft vernünftiger Subjekte, aufgrund ihrer Spontaneität der Sinnenwelt gegenüber gesetzgebend zu sein. Ich erkenne mich als Sinnenwesen der Gesetzgebung meiner selbst als Vernunftwesen unterworfen. Die Analogie zur Idee politischer Autonomie ist schlagend: So wie ich in einem bürgerlichen Gemeinwesen nur denjenigen Gesetzen unterworfen bin, als deren Urheber ich mich verstehen können muss, bin ich als Mensch in moralischer Perspektive nur meiner eigenen Autonomie unterworfen. Hier stellt sich nicht die Frage, warum ich meinen eigenen Gesetzen folgen sollte. Wer sie stellt, verlangt eine Antwort auf die Frage, warum man das tun soll, was man vernünftigerweise tun will. Ganz in diesem Sinne geht Kant auch immer davon aus, dass der moralisch schlechte Mensch nicht die Gültigkeit des Moralgesetzes als solche bezweifelt, sondern vielmehr versucht, Ausnahmen von ihrer Reinheit und Strenge in der Absicht zu begründen, seine Neigungen zu befriedigen.⁶²
4. Die negative Deduktion der Idee der Freiheit (in Sektion 5) Der Gedankengang von Sektion 5 kann nicht nur als kritische Schlichtung von Spannungen verstanden werden, die dem theoretischen und praktischen Gebrauch der reinen Vernunft immanent sind. Weil Kants Überzeugung nach Eigenarten unserer Vernunft immer in konkreten philosophischen Positionen ihren Ausdruck finden (man denke nur an die in der ersten Kritik präsentierte Trias von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus), ist diese Sektion auch gegen zwei philosophische Positionen gerichtet: Die erste Position ist die des epistemologischen Skeptikers. Sie wird von Christian Garve vertreten. Garve ist davon überzeugt, dass wir einerseits frei handelnde Subjekte, andererseits aber zugleich den Gesetzen der naturmechanisch determinierten Welt unterworfen sind. Im Ge-
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gensatz zu Kant sieht sich Garve aber außerstande, eine Theorie zu formulieren, mittels derer Freiheit und Notwendigkeit miteinander vereinigt werden können. Die zweite Position ist die des Fatalisten. Sie wird (beispielsweise) von Johann Heinrich Schulz in seinem Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (1783) vertreten, die Kant noch im Jahr ihres Erscheinens rezensiert.⁶³ Der Fatalist nimmt für sich in Anspruch, die Unmöglichkeit des Begriffs der Freiheit beweisen und sie als Chimäre ausweisen zu können: Wenn es nemlich wahr ist, daß alle meine Empfindungen und Vorstellungen von den Eindrücken herrühren, die auf meine äussern und inneren Sinne gemacht werden, so folgt unwiedersprechlich daraus, daß ich mit allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken und Urtheilen dem strengsten und unvermeidlichsten Gesetze der Nothwendigkeit unterworfen, daß ich an dem Reichthume und an der Armuth meiner Empfindungen und selbst meiner deutlichen Vorstellungen im strengsten Verstande unschuldig bin. […] In dem allen habe ich keine Wilkühr, keine Freyheit, keine Eigenmächtigkeit, die sich den Natur-Gesetzen, welche mit unbeschränkter Nothwendigkeit weit über mich gebiethen, wiedersetzen könnte (Schulz 1783, S. 49 f.).⁶⁴
Zwischen der Position des epistemologischen Skeptikers und des Fatalisten besteht ein enger argumentativer Zusammenhang. Kant zeigt sich in der Sektion 5 davon überzeugt, dass ‚der Fatalist‘ der Nutznießer von Garves zögerlich-skeptischer Haltung gegenüber der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit ist. Wird ihr „scheinbarer Widerspruch“ nicht aufgehoben, „ist die Theorie hierüber bonum vacans, in dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne Titel besessenen vermeinten Eigentum verjagen kann“ (04:456). Wer das Deduktionsprogramm der Grundlegung verstehen will, muss also berücksichtigen, dass sich Kant mit seiner (positiven) Deduktion der Idee der Freiheit und der mit ihr verbundenen Deduktion der Möglichkeit eines kategorischen
Kant diskutiert in dieser Rezension auch Ehlers Schrift Über die Lehre von der menschlichen Freyheit (1782). – Zur Schulz-Rezension siehe auch Steigleder (2002, S. 83 – 85), Puls (2011, S. 553 – 557) und Klemme (2015). Vgl. auch Schulz (1783, S. 66 f.: „so habe ich also keinen freyen Willen, der ungebunden und unabhängig von Bewegungs-Gründen, wählen und verwerfen, sich entschliessen oder seine Entschliessungen aufschieben, oder auf irgend eine Art eigenmächtig oder als eine unabhängige, souveraine Kraft aus sich selbst würken könnte“). Kant überzeugt der Fatalismus nicht, weil „er alles menschliche Thun und Lassen in bloßes Marionettenspiel verwandelt, den Begriff von Verbindlichkeit gänzlich aufhebe, daß dagegen das Sollen oder der Imperativ, der das practische Gesetz vom Naturgesetz unterscheidet, uns auch in der Idee gänzlich außerhalb der Naturkette setze, indem er, ohne unseren Willen als frei zu denken, unmöglich und ungereimt ist, vielmehr uns alsdann nichts übrig bleibt, als abzuwarten und zu beobachten, was Gott vermittelst der Naturursachen in uns für Entschließungen wirken werde, nicht aber was wir von selbst als Urheber thun können und sollen“ (08:13).
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Imperativs keineswegs der Aufgabe enthoben sieht, eine Antwort auf die Position des Fatalisten zu geben. Was könnte Kant dem Fatalisten entgegenhalten, der einwendet, dass Freiheit eine Chimäre oder Illusion ist?⁶⁵ Prinzipiell hat Kant zwei Möglichkeiten: Er könnte erstens darauf hinweisen, dass der Fatalist die Wirklichkeit der moralischen Verbindlichkeit anerkennt. Wer anerkennt, dass es unbedingt gebietende moralische Verpflichtungen gibt, kann die Idee der Freiheit als notwendige Voraussetzung dieser Verpflichtungen nicht negieren. Tatsächlich gibt es Ansätze in Kants Philosophie vor und nach 1785, die in diese Richtung weisen. Etwa wenn er in der Kritik der reinen Vernunft davon spricht, dass unser Bewusstsein moralischer Imperative die Idee der Freiheit impliziert⁶⁶, oder auch in der Schulz-Rezension von 1783 – und natürlich in der Ende 1787 publizierten Kritik der praktischen Vernunft mit der Lehre vom Faktum der reinen Vernunft. Und selbst die Grundlegung weist gelegentlich in diese Richtung, etwa wenn sich Kant auf die gemeine Menschenvernunft als die die Deduktion des kategorischen Imperativs bestätigende Autorität beruft⁶⁷, oder wenn er (wie wir noch sehen werden) zu Beginn der Sektion 5 einen geltungslogischen Zusammenhang zwischen unserer Freiheit und unseren moralischen Sollens-Urteilen herstellt. Zweitens könnte Kant auf unser unmittelbares Bewusstsein einer Spontaneität und Selbsttätigkeit verweisen, die den Gebrauch der Idee der Freiheit in praktischer Hinsicht rechtfertigt. Und genau so argumentiert Kant auch in den zentralen, die Argumentation tragenden Passagen des dritten Abschnitts der Grundlegung. Die Strategie, Freiheit als Implikation unseres Bewusstseins praktischer Vernunft zu begreifen, ist allerdings mit einem Mangel behaftet: Die Beweiskraft dieses Arguments ist schwächer als ein durch die theoretische Philosophie geführter Beweis für die objektive Realität der Naturkausalität. Sollte die theoretische Philosophie die Idee der Freiheit als einen mit der Naturkausalität im Widerspruch stehenden Begriff beweisen können, müsste sie als chimärisch aufgegeben werden. Bei einer Widersprüchlichkeit zwischen einem Beweis aus reiner praktischer und spekulativ gebrauchter Vernunft obsiegt nach Kant immer der letztere. Kant steht also vor der Aufgabe, die aus der reinen praktischen Vernunft geführte Deduktion der Idee der Freiheit ihrerseits als eine mögliche, weil
Jahre später wird Christoph Andreas Leonhard Creuzer eine klare Alternative formulieren: „Aber Freyheit als absolutes Vermögen zu handeln lässt sich weder anschauen, noch nach versinnlichten Verstandesbegriffen denken. Das ursprüngliche Bewusstsein derselben ist also entweder bloße Täuschung oder der Grund derselben muß ausserhalb der Erfahrung gesucht werden“ (Creuzer 1793, S. 71 f.). Siehe A 802/B 830. Siehe 04:454 f.
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nicht mit der spekulativen Vernunft in Widerspruch stehende Argumentation nachzuweisen. Kants Strategie besteht nun darin, dem Gegner die Beweislast aufzubürden. Der Fatalist muss beweisen, dass die Freiheit in theoretischer Hinsicht unmöglich ist. Dies kann ihm jedoch nicht gelingen, weil in der Kritik der reinen Vernunft die scheinbare Antinomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit durch die Lehre vom transzendentalen Idealismus aufgehoben worden ist.⁶⁸ Damit ist zwar methodisch ausgeschlossen, dass wir die objektive Realität einer Vernunftidee förmlich beweisen können; ebenso ausgeschlossen ist aber auch jeglicher Versuch eines theoretischen Beweises der Unmöglichkeit der Idee der Freiheit. Mit diesen Überlegungen hat sich bereits gezeigt, dass die positive Deduktion der Idee der Freiheit nicht im Ausgang von der theoretischen Philosophie und ihres Freiheitsbegriffs geleistet wird, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird.⁶⁹ Die Aufgabe der theoretischen Philosophie in der Grundlegung besteht vielmehr darin, die Unmöglichkeit eines Unmöglichkeitsbeweises der Idee der Freiheit in ihrem praktischen Gebrauche nachzuweisen. Kants Rede von der „äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ in Sektion 5 hat diesen doppelten Sinn: Einerseits hat die Deduktion der Idee der Freiheit keinen transzendentalen Status. Unsere Freiheit kann zwar gedacht, aber nicht streng bewiesen werden.
Ähnlich Kant noch in der Kritik der Urteilskraft: „Die Möglichkeit, das Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subjekt sich wenigstens ohne Widerspruch zu denken, bewies die Kritik der reinen Vernunft, indem sie die Einwürfe dawider durch die Aufdeckung des dialektischen Scheins in denselben vernichtete.“ Beide Gesetzgebungen schränken sich allerdings „in ihren Wirkungen in der Sinnenwelt unaufhörlich“ (05:175) ein. So beispielsweise Schmucker (1961, S. 381) (siehe auch Henrich 1975). Allerdings formuliert Schmucker gegen seine Interpretation auch schon ein gutes Gegenargument, ohne es zu bemerken: Wenn die Freiheit theoretisch aus dem Spontaneitätsbewusstsein bewiesen worden wäre, bedürfte es „jener bloß praktischen Annahme nicht mehr, daß ein vernünftiges Wesen seiner Kausalität nur unter der Idee der Freiheit denken kann“ (Schmucker 1961, S. 381). Wie konnte Kant nach seiner Kritik an der rationalen Psychologie im Paralogismuskapitel und nach der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1785 nur meinen, einen theoretischen Freiheitsbeweis geben zu können, der uns trotzdem nur berechtigen soll, die Idee der Freiheit zu denken? – In der neueren Literatur wiederholt Schönecker Schmuckers These in verschiedenen Variationen: „It is important to see that Kant’s argument both in Sec. 3 and Sec. 4 begins with reason as a theoretical (epistemic) faulty. […] Once the human being understands himself as a member of the world of understanding because of his theoretical faculty, he also may understand his reason as a practical faculty, i. e. he may understand his will to be a member of the world of understanding and hence to be free“ (Schönecker 2006, S. 309 f.; vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 205). Zu einer Kritik an dieser Position siehe Steigleder (2002, S. 81– 85); vgl. auch Wyrwich (2011, S. 42 ff.).
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Andererseits muss die praktische Philosophie aber auch nicht befürchten, durch Angriffe auf ihren Begriff der Freiheit von Seiten der theoretischen Philosophie beschädigt zu werden. Ganz im Gegenteil obliegt es der theoretischen Philosophie, die Grenze zu sichern. Die reine praktische Vernunft „fordert“ von der spekulativen Vernunft, daß diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten (04:456 f.).
Kants Verteidigung⁷⁰ der Idee der Freiheit in der Sektion 5 erschöpft sich somit im Prinzip in dem Hinweis auf die Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft. ⁷¹ Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum nicht nur ihre Bedeutung für den Beweisgang der Grundlegung in der Regel⁷² übersehen, sondern damit auch das Argumentationsziel dieser Schrift falsch beurteilt wird. Wenden wir uns den Überlegungen der Sektion 5 etwas näher zu. Kant setzt in ihr mit der Behauptung ein, dass sich alle Menschen „dem Willen nach als frei“⁷³ denken. Woher weiß Kant das? Zur Begründung verweist er auf das – wie wir es nennen können – Faktum unserer Urteilspraxis. „Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind“ (04:455). Das ‚daher‘ ist nicht zeitlich, sondern geltungslogisch als ‚aus diesem Grunde‘ zu verstehen. Während Kant in der Sektion 3 das Verhältnis, in dem das Denken der Freiheit zum Sollen steht, von der Seite des Bewusstseins dieser Freiheit als Spontaneität an-
„Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, d. hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Verteidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum dreist die Freiheit für unmöglich erklären“ (04:459). Siehe auch die Kritik der praktischen Vernunft 05:48 („so konnten wir nur den Gedanken von einer frei handelnden Ursache … verteidigen“). Dies passt auch sehr gut mit Kants These im Kanonkapitel der Kritik der reinen Vernunft zusammen, wonach die „Frage wegen der transzendentalen Freiheit […] bloß das spekulative Wissen [betrifft], welches wir als ganz gleichgültig bei Seite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist“ (A 803 f./B 831 f.). Der Begriff der praktischen Freiheit setzt also die Auflösung der dritten Antinomie insofern voraus, als er ohne sie keinen Sinn ergeben würde (vgl. auch Schmitz 1989, S. 109 f.). Wichtige Ausnahmen sind Wolff (2009) und Puls (2011). 04:455. Sich dem Willen nach als frei zu denken, meint natürlich etwas anderes als die Freiheit des Denkens. Die „Freiheit zu denken“ ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die „Freiheit des Willens“ (08:14). Letztere setzt einen Willen voraus, der „unter“ dem Moralgesetz steht.
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geht, setzt er in der Sektion 5 mit dem Hinweis auf Urteile ein, in denen wir ein Sollen ausdrücken.Weil wir Urteile äußern, die ein Sollen zum Ausdruck bringen, müssen wir uns dem Willen nach als frei denken: Der Begriff des Sollens impliziert den Begriff der Freiheit des Willens. Obwohl die Freiheit also „nur eine Idee der Vernunft [ist], deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist“ (04:455), ist sie auch nicht nichts. Ihre Realität wird in praktischer Hinsicht durch Urteile verbürgt, die wir als vernünftige und mit einem Willen begabte Wesen über Handlungen treffen, die zwar geschehen sind, aber nicht hätten geschehen sollen.⁷⁴ Uns als frei zu denken und ein Bewusstsein davon zu haben, dass man anders hätte handeln sollen (das Bewusstsein der Verbindlichkeit), sind zwei Aspekte ein und desselben Sachverhalts. Wenn die praktische Wirklichkeit der Idee der Freiheit durch das Bewusstsein unserer Spontaneität als Vernunftwesen verbürgt ist, wie können wir dann noch ihre praktische Wirklichkeit sinnvoll in Zweifel ziehen? Der Zweifel ist bekanntlich ein Kind unserer Erwartungen. Und wir erwarten, dass dasjenige, was in einem Urteil behauptet wird, auch erklärt werden kann. Erklärungen sind nach Kant Aussagen, in denen eine Kausalität zum Ausdruck gebracht wird. Ein Ereignis ist genau dann erklärt, wenn sein erster Grund, seine erste Ursache genannt wird. Es genügt uns also nicht zu erfahren, was der Fall ist.Wir wollen auch wissen, warum oder wie etwas der Fall sein kann. Doch diese Erwartung wird im Falle der Idee der Freiheit enttäuscht. Wir können feststellen, dass sich alle Menschen dem Willen nach als frei betrachten. Wir können auch feststellen, dass wir normative Urteile fällen, deren Geltungsgrund die Idee der Freiheit ist. Dies alles können wir feststellen. Aber wir können nicht erklären, warum bzw. wie die reine Vernunft praktisch werden kann, „wie Freiheit möglich“ (04:459) ist, weil wir von dieser Freiheit keine Anschauung haben können. Weil der Vernunftbegriff der Freiheit kein Erfahrungsgegenstand ist und somit nicht erklärt werden kann, wie sie praktisch wird, muss die objektive Realität der Freiheit in theoretischer Hinsicht zweifelhaft bleiben.Wie die transzendentale Freiheit möglich ist, können wir nicht wissen. Und weil die objektive Realität der Freiheit aufgrund der Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit zweifelhaft bleiben muss, hängt das Damoklesschwert des Fatalismus über unserem Freiheitsbewusstsein. Gelänge ein theoretischer Beweis der Unmöglichkeit der Idee der Freiheit, würde das Schwert fallen und sich die Idee der Freiheit als leblose Chimäre erweisen. Kant muss also zeigen, dass das Schwert nur in den verblendeten Augen des Fatalisten existiert. Dessen Angriffe
Mit diesem Gedanken nähert sich Kant der Position der Kritik der praktischen Vernunft, dergemäß der „Grundsatz der Sittlichkeit“ (05:105) die Wirklichkeit der Freiheit als eines intelligiblen Vermögens verbürgt.
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müssen so pariert werden, dass selbst der Fatalist die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens einsieht. Kant greift in der Sektion 5 auf eine Argumentationsstrategie zurück, die meines Wissens in der bisherigen Literatur zur Grundlegung nicht beachtet worden ist, obwohl es für sie historische Vorbilder gibt. Neben direkten und positiven kennt diese nämlich auch indirekte und negative Deduktionen, wie beispielsweise die „Deductio ad impossibile“ und die „Deductio ad absurdum“, die, so ein Eintrag in Zedlers Universal-Lexicon, auch „Demonstrationes indirectae seu negatiuae“⁷⁵ genannt werden. Wir ahnen, was diese Unterscheidung für das Verständnis der Grundlegung bedeutet: Suchen wir in ihr nach einer direkten oder positiven Deduktion im Sinne unseres theoretischen Vernunftgebrauchs der objektiven Realität der Idee der Freiheit, werden wir nicht fündig. In theoretischer oder spekulativer Hinsicht kann die Idee der Freiheit nicht einmal ansatzweise als Möglichkeitsgrund einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit deduziert werden. Kant versucht (wie bereits erwähnt) vielmehr, den aufgrund ihres Bewusstseins einer praktischen Selbsttätigkeit von vernünftigen Wesen erhobenen praktischen Anspruch, Urheber ihrer Handlungen zu sein, zu verteidigen.Wir sind nicht etwa deshalb berechtigt, diesen Anspruch in praktischer Absicht zu erheben, weil wir ein infallibles und selbst mit Gründen der theoretischen Philosophie nicht in Zweifel zu ziehendes Bewusstsein unserer Spontaneität und Selbsttätigkeit als handelnde Wesen haben. Wir können diesen Anspruch vielmehr nur deshalb erheben, weil über dieses Bewusstsein hinaus „es der subtilsten Philosophie ebenso unmöglich [sein wird] wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln“ (04:456). Und genau dies hat Kant dem eigenen Anspruch nach in der ersten Kritik bewiesen, auf deren Resultat er sich 1785 berufen kann: Obwohl wir die objektive Realität der Idee der Freiheit nicht beweisen können, kann doch gezeigt werden, dass „die Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite“ (A 558/B 586). Die Idee der Freiheit ist in transzendentallogischer Hinsicht ein möglicher Begriff. Kant verwendet das Wort ‚Anspruch‘ nur ein einziges Mal im dritten Abschnitt der Grundlegung, und zwar als Teil des Wortes ‚Rechtsanspruch‘ in der Sektion 5: Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewusstsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektiv-bestimmenden Ursachen, die insgesamt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört (04:457).
Zedler (1732, Band VII, Sp. 537).
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Kant interpretiert diesen Anspruch auch als Anmaßung: „Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört […]“ (04:457). Wir rechnen uns nur diejenigen Handlungen zu, die nicht ausschließlich Teil unserer natürlichen Existenz sind, also ‚bloß‘ zu unseren Begierden und Neigungen gehören. Angesichts dieses Umstands besteht die Aufgabe des Philosophen darin, die begrifflichen und philosophischen Strukturen und Voraussetzungen dieses von der gemeinen Menschenvernunft erhobenen Rechtsanspruchs zu prüfen, seine begrifflichen und philosophischen Voraussetzungen zu benennen und gegen Kritik in Schutz zu nehmen. Mehr kann die praktische Philosophie nicht leisten. Insbesondere kann sie keine Deduktion geben, durch die, wie es in der „Schlußanmerkung“ der Grundlegung heißt, der kategorische Imperativ „seiner absoluten Notwendigkeit nach […] begreiflich“ (04:463) gemacht werden kann. Es sei an dieser Stelle nicht versäumt darauf hinzuweisen, dass Kant den Begriff einer negativen Deduktion der Sache nach bereits in der Kritik der reinen Vernunft in Anschlag bringt. Im Abschnitt über „Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen“ nimmt er eine klare Trennung zwischen dem spekulativen und dem praktischen Gebrauch unserer Vernunftideen vor: Die Vernunftbegriffe sind, wie gesagt, bloße Ideen, und haben freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung, aber bezeichnen darum noch nicht gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände. Sie sind bloß problematisch gedacht, um, in Beziehung auf sie (als heuristische Fiktionen), regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen. Geht man davon ab, so sind es bloße Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist, und die daher auch nicht der Erklärung wirklicher Erscheinungen durch eine Hypothese zum Grunde gelegt werden können (A 771/B 799).
Diese Aussage trifft auf die Idee der Seele zu, aber eben auch auf die Idee der Freiheit (vgl. A 773/B 801). Mit einem expliziten Verweis auf das nachfolgende Kanonkapitel gibt Kant dann den entscheidenden Hinweis: Es wird sich aber in der Folge zeigen, daß doch, in Ansehung des praktischen Gebrauchs, die Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation, ohne hinreichende Beweisgründe, vorauszusetzen befugt wäre; weil alle solche Voraussetzungen der Vollkommenheit der Spekulation Abbruch tun, um welche sich aber das praktische Interesse gar nicht bekümmert. Dort ist sie also im Besitze, dessen Rechtmäßigkeit sie nicht beweisen darf, und wovon sie in der Tat den Beweis auch nicht führen könnte. Der Gegner soll also beweisen. Da dieser aber eben so wenig etwas von dem bezweifelten Gegenstande weiß, um dessen Nichtsein darzutun, als der erstere, der dessen Wirklichkeit behauptet: so zeigt sich hier ein Vorteil auf der Seite desjenigen, der etwas als praktischnotwendige Voraussetzung behauptet (melior est conditio possidentis). Es steht ihm nämlich frei, sich gleichsam aus Notwehr eben derselben Mittel für seine gute Sache zu bedienen, die
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gar nicht dazu dienen sollen, um den Beweis derselben zu verstärken, sondern nur zu zeigen, daß der Gegner viel zu wenig von dem Gegenstande des Streits verstehe, als daß er sich eines Vorteils der spekulativen Einsicht in Ansehung unserer schmeicheln kann. Hypothesen sind also im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gründen, sondern nur es zu verteidigen. Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen (A 777/B 805).⁷⁶
„In dubio melior est conditio possidentis“ bezeichnet im Recht den Grundsatz, dass in einem Streit über den wahren Eigentümer einer Sache dem faktischen Besitzer der Vorzug zu geben ist. Handeln wir unter der Idee der Freiheit, sind wir dazu berechtigt, solange uns nicht ihre Unmöglichkeit bewiesen wird. Weil der transzendentale Idealismus auf die These der Unmöglichkeit des Beweises der Unmöglichkeit der Freiheit hinausläuft, können wir sicher sein, dass jede Kritik an der Idee der Freiheit in praktischer Hinsicht ins Leere läuft. Genau das ist die Strategie, die Kant auch in der Schrift von 1785 einschlägt.
5. Christian Garve über Freiheit und Notwendigkeit Kant ist nicht der erste und er ist nicht der einzige Autor, der davon ausgeht, dass wir uns unserer Freiheit bewusst sind, ohne uns erklären zu können, wie sie (in theoretischer Perspektive) möglich ist. So schreibt Christian Garve 1772 in seinen Kommentaren zu Adam Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie: „Ich weiß nicht wie ich frey bin, aber ich weiß, wie ich vollkommen seyn soll“ (Garve 1772, S. 198). Garve folgt prinzipiell der Wolffschen Ethikauffassung: Wir sind verpflichtet, uns zu vervollkommnen.⁷⁷ Obwohl diese Pflicht unsere Freiheit zur Voraussetzung hat, verfügt Garve dem eigenen Bekenntnis nach nicht über eine Theorie, die uns verständlich machen würde, wie Freiheit und Notwendigkeit miteinander vereinigt werden könnten. Garve umreißt das Grundproblem der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit mit folgenden Worten: Dieß ist nun eben die Schwierigkeit. Die eine Empfindung sagt mir: ich handele nach Vorstellungen; und eben darinn besteht meine Tugend, daß ich durch die Vorstellung des Guten angetrieben werde es zu bewirken. Die menschliche Natur weiß von keiner andern Entstehung der Begierden, und die Natur der Tugend läßt keine andre zu. Denn eine gute, d. h. eine nützliche Handlung, wenn sie nicht grade um der Bewegungsgründe dieses Nutzens willen geschieht, ist nicht mehr Tugend.
Vgl. auch Wolff (2009, S. 544). Zu Wolffs Vollkommenheitsimperativ und seinen philosophischen Schwächen siehe Klemme (2007).
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Eine andre Empfindung sagt mir: ich bin selbst der Urheber meiner Handlungen; und ich bin nur insofern tugendhaft, als ich Urheber des Guten bin was ich thue. Ich bin aber nur Urheber, wenn meine Handlung von nichts außer mir abhängt; also auch von meinen eignen Vorstellungen nicht, denn diese hängen zuletzt selbst von Dingen außer mir ab. Diesen Schwierigkeiten abzuhelfen, hat Ein Theil der Philosophen bloß die erste Empfindung sammt ihrer Theorie angenommen, und die andre Empfindung gänzlich als eine Illusion verworfen; das sind die eigentlichen Fatalisten. Ein andrer Theil, worunter scharfsinnige und rechtschafne Männer von jeher gewesen sind, haben sich bloß an die letztre Empfindung gehalten, und die erste entweder nicht bedacht, oder für trüglich gehalten. Dieß sind die, welche die Freyheit der Gleichgültigkeit annehmen. Ein dritter Theil hat beyde Empfindungen zugegeben, (und wer wollte sie läugnen, der sich selbst Acht gegeben hat?) und hat ihre Theorie zu vereinigen gesucht. Aber wie ist dieß möglich? Sollen unsre Handlungen ganz unabhängig seyn, so müssen sie es auch von unsern eignen Vorstellungen seyn, denn diese sind selbst zuletzt abhängig. – Sollten unsre Handlungen gut seyn; so müssen sie nach Gründen geschehn; so müssen sie von den Ideen abhängen, die diese Gründe in sich enthalten (Garve 1772, S. 294– 296).
Wenn Kant in der Grundlegung auf die beiden Aspekte unseres Selbstbewusstseins, auf das Bewusstsein unserer selbst „als durch Sinne affizierten Gegenstandes“ und das Bewusstsein unserer selbst „als Intelligenz“, verweist und das letztere als das Bewusstsein unseres „eigentlichen Selbst“ (04:457) begreift, ist unschwer zu erkennen, dass er ein Anhänger der dritten von Garve genannten Position ist. Unschwer zu erkennen ist auch, dass Kants Deduktion der Idee der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft primär gegen die Freiheitsfatalisten gerichtet ist, denen auch Garves (allerdings stumpfe) Waffen der Kritik gelten. Mit Garve ist er sich einig: Wir alle glauben das Daseyn der Tugend. Dieser Glaube ist früher als alle Systeme. Er hat sie erst hervorgebracht; um ihn zu rechtfertigen, haben wir sie erfunden; die Heftigkeit des Streits selbst ist aus dem Eifer für diejenige Sache entstanden, in welcher alle überein kommen (Garve 1772, S. 296 f.).
Die Frage ist nur, wie die Theorie lautet, die unsere Überzeugung von der Wirklichkeit der Moral adäquat zum Ausdruck und den Fatalisten zum Schweigen bringt. Eine explizite Auseinandersetzung mit der Position von Garve findet sich in Kants Aufsatz „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ von 1793. Kant stimmt mit Garve darin überein, dass die Wirklichkeit oder objektive Realität der Freiheit niemals mit den Mitteln der theoretischen Philosophie bewiesen werden kann. (Und unter ‚Wirklichkeit‘ versteht er das, was er in der Grundlegung die ‚objektive Realität‘ der Freiheit genannt hat.) Doch Garve hat nach Kant versäumt, Zuflucht zu einem Begriff der Freiheit zu
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suchen, durch den ‚wenigstens‘ die Möglichkeit des kategorischen Imperativs hätte ‚gerettet‘ werden können. Kants Ausführungen lesen sich wie ein nachträglicher Kommentar zu den Sektionen 4 und 5 der Grundlegung. Dabei wiederholt Garve in seinen 1783 publizierten Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten nur, was er bereits in seinen Anmerkungen zu Ferguson im Jahre 1772 ausgeführt hatte. Im Gemeinspruch schreibt Kant: Hr. P. Garve thut (in seinen Anmerkungen zu Cicero’s Buch von den Pflichten S. 69. Ausg. von 1783) das merkwürdige und seines Scharfsinns werthe Bekenntniß: ‚Die Freiheit werde nach seiner innigsten Überzeugung immer unauflöslich bleiben und nie erklärt werden‘.⁷⁸ Ein Beweis von ihrer Wirklichkeit kann schlechterdings nicht, weder in einer unmittelbaren noch mittelbaren Erfahrung, angetroffen werden; und ohne allen Beweis kann man sie doch auch nicht annehmen. Da nun ein Beweis derselben nicht aus bloß theoretischen Gründen (denn diese würden in der Erfahrung gesucht werden müssen), mithin aus bloß praktischen Vernunftsätzen, aber auch nicht aus technisch-praktischen (denn die würden wieder Erfahrungsgründe erfordern), folglich nur aus moralisch-praktischen geführt werden kann: so muß man sich wundern, warum Hr. G. nicht zum Begriffe der Freiheit seine Zuflucht nahm, um wenigstens die Möglichkeit solcher Imperativen zu retten (08:285, Anm.).
Obwohl wir die Möglichkeit der Freiheit nicht begreifen können, ist die Freiheit der Grund der Möglichkeit des kategorischen Imperativs, dessen Existenz für Kant (und in dessen Wahrnehmung auch für Garve) außer Frage steht.
6. Praktisches Selbstverhältnis oder Werterkenntnis? Kant erhebt in der Grundlegung nicht den Anspruch, die Idee der Freiheit in theoretischer Hinsicht deduziert zu haben. Und genauso wenig kann seine Kritik an der Deduktion der Idee der Freiheit mit den Mitteln der spekulativen Philosophie in der Kritik der praktischen Vernunft als Selbstkritik⁷⁹ an seiner Position
Garve schreibt: „Nun kann ich zwar diese Schwierigkeit [sc. in Bezug auf die Tugend das Freiwillige vom Natürlichen zu unterscheiden, H. K.] nicht heben. Sie ist wie alles, was den Artikel der Freyheit berührt, unauflöslich; und wird, nach meiner innigsten Ueberzeugung, immer unauflöslich bleiben, so lange wir nicht zugleich unser eigenes Wesen, und die Art unsrer Verbindung mit dem ganzen Universo, vollkommen kennen“ (Garve 1784, S. 69 f.). In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant: „Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori be-
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von 1785 begriffen werden. Der Grund der Verbindlichkeit des Moralgesetzes ist die reine Vernunft, die praktisch ist, weil sie uns das Gesetz gibt. Das moralische Gesetz hat nicht darum für uns Gültigkeit […], weil es interessiert (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte), sondern […] es interessiert, weil es für uns Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist (04:460 f.).
Warum ist unser Wille als Intelligenz (reiner Wille) unser ‚eigentliches Selbst‘? Weil wir nur aufgrund seiner einen „eigenen Willen“⁸⁰ haben können. Diese These kann (im Sinne Kants) nur zum Preis praktischer Selbstwidersprüchlichkeit negiert werden: Negiert ein Mensch die Bedingung, unter der er einen eigenen Willen haben kann, kann er sich auch nicht als Autor seiner Handlungen begreifen. Es ist bemerkenswert, dass Kant in der sechsten und letzten Sektion von Abschnitt III der Grundlegung auf die Unbegreiflichkeit der „praktischen unbedingten Notwendigkeit des moralischen Imperativs“⁸¹ hinweist, aber zugleich hervorhebt, dass diese Unbegreiflichkeit nicht die unbedingte Verbindlichkeit dieses Imperativs außer Kraft setzt. Die epistemologische Skepsis gegenüber der Freiheitsidee hätte nur dann eine negative Wirkung auf die Geltung des kategorischen Imperativs, wenn wir keinen Anlass hätten, uns als Subjekte zu begreifen,
wiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest“ (05:47). Diese Aussage ist nicht als Selbstkritik an der Position der Grundlegung zu verstehen, weil Kant in dieser niemals behauptet hatte, eine theoretische Deduktion geben zu wollen oder zu können (siehe Klemme 2003, S. xxxi, Wolff 2009, S. 540 f. und Puls 2011, S. 543, Anm. 19, S. 550; vgl. dagegen Horn/Scarano/ Mieth 2007, S. 148). Offensichtlich denkt Kant hier an eine Deduktion, die dem Beweisgang der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft analog wäre. 04:448. Diesen Gedanken hat Kant Anfang der 1760er-Jahre in Rousseaus Emile kennengelernt: „Das Triebwerk aller Handlungen ist in dem Willen eines freyen Wesens; über das kann man nicht hinaus gehen. Nicht das Wort Freyheit bedeutet nichts, sondern das Wort Nothwendigkeit. Setzet man irgend eine Handlung, irgend eine Wirkung, die nicht aus einem thätigen Grundwesen herkömmt: so setzet man wahrhaftig Wirkungen ohne Ursache, so fällt man in einen fehlerhaften Zirkel“ (Rousseau 1762, S. 56). Und weiter: „Wenn der Mensch thätig und frey ist, so handelt er für sich selbst; alles, was er frey thut, kömmt nicht in das von der göttlichen Vorsehung geordnete System, und kann ihr nicht beygemessen werden. Sie will das Böse nicht, welches der Mensch thut, indem er die Freyheit misbrauchet, die sie ihm gegeben hat; sie hindert ihn aber nicht, es zu thun, entweder weil von Seiten eines so schwachen Wesens dieß Uebel in ihren Augen nichts ist, oder weil sie es, ohne seine Freyheit zu zwingen, und ein größeres Uebel durch Heruntersetzung seiner Natur zu thun, nicht hindern kann. Sie hat ihn frey gemacht, damit er aus Wahl, nicht das Böse, sondern das gute, thue“ (Rousseau 1762, S. 56). 04:463; vgl. bereits 04:460 f.
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die sich unter der Idee der Freiheit zum Handeln bestimmen. Dass wir tatsächlich unter dieser Idee handeln, versteht Kant als einen Anspruch, den die reine Vernunft selbst an uns als wollende Subjekte stellt. Wer sich seinem Willen nach als frei denkt, behauptet nicht, über eine theoretische Erkenntnis seiner Freiheit zu verfügen. Aber er formuliert auch nicht bloß einen beliebigen widerspruchsfreien (und somit trivialen) Gedanken. Dieses Denken gründet vielmehr auf dem Bewusstsein einer Spontaneität unserer Vernunft, die unmittelbar als willensbestimmend wahrgenommen wird. Die Idee der Freiheit enthält ihre Bedeutung in einem Aktus der Selbstbestimmung. Ihre Bedeutung erschließt sich in ihrem Vollzug. Aus unseren Überlegungen geht aber nicht nur hervor, dass Kant keinen theoretischen Beweis der Möglichkeit der Idee der Freiheit und/oder des kategorischen Imperativs zu geben beabsichtigt. Es wird auch deutlich, dass Kant die Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs nicht auf einer Werterkenntnis⁸² begründet. Der kategorische Imperativ verpflichtet uns nicht deshalb, weil wir einen Wert in der noumenalen Welt erkennen, sondern weil wir uns in bestimmter Weise zu uns selbst praktisch verhalten. Der Grund der unbedingten Verbindlichkeit ist die reine Vernunft im Aktus ihrer Gesetzgebung für einen Willen, der sich selbst zum Handeln bestimmen kann. In dieser Form der praktischen Selbstbezüglichkeit besteht unser ‚eigentliches Selbst‘. Selbstverständlich setzt der Begriff der Verbindlichkeit die ‚metaphysische‘ Unterscheidung zwischen Verstandeswelt und Sinnenwelt voraus, und zwar in der Weise, dass wir uns als Vernunftwesen als Subjekte denken, die durch die Kausalität aus Freiheit (die „Ordnung der Zwecke“, 04:450) wirken können, als Sinnenwesen aber der Naturkausalität („die Ordnung der wirkenden Ursachen“, 04:450) unterliegen. Wir denken uns dem Gesetz der ersten nur deshalb ‚unterworfen‘, weil wir uns selbst im Bewusstsein unserer Spontaneität einen Willen „anmaßen“ (04:457). Es ist dieser „Wille als Intelligenz“ (04:461), den Kant als unser „eigentliches Selbst“ (04:457) bezeichnet. An anderer Stelle führt Kant den Begriff des ‚Selbstbesitzes‘⁸³ ein: Wir sollen als Menschen so handeln, dass wir uns als Vernunftwesen nicht verlieren.
Dies ist die These von Schönecker/Wood (2002, S. 205) und von Allison (2011, S. 360). Schönecker schreibt: „In other words, the moral law is binding upon the human being because it stems from the pure will as the authetic self, which, as such, is of higher ontic value (not ‚only appearances of himself‘)“ (Schönecker 2006, S. 317). Das vollständige Zitat lautet: „Furcht ist eine Art von kränklichem Zustande – Bangigkeit, Angst, Traurigkeit, Grauen – Entsetzen sind verschiedene Ausbrüche der Furcht. Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verlohren“ (Anthropologie-Dohna, S. 232, unveröffentlicht). Wenn ich richtig sehe, wird in keiner Druckschrift Kants die Bedeutung des Selbstbesitzes
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Als Bestätigung unserer These, dass wir nicht deshalb verpflichtet sind, dem Moralgesetz Folge zu leisten, weil wir unseren Wert als Vernunftwesen buchstäblich erkennen, sei an Kants vermögenstheoretische Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft erinnert. In ihr macht Kant deutlich, dass der „absolute Wert“ (05:442), den wir einem Ding in der Welt zuschreiben, weder auf unserem Erkenntnisvermögen (im engeren Sinne als Vermögen der theoretischen Vernunft) noch auf unserem Gefühl der Lust und Unlust beruhen kann. Weil es nur drei Erkenntnisvermögen (im weiteren Sinne des Wortes) gibt, muss der Wert durch unser Begehrungsvermögen erklärt werden: Also ist es nur das Begehrungsvermögen, aber nicht dasjenige, was ihn von der Natur (durch sinnliche Antriebe) abhängig macht, nicht das, in Ansehung dessen der Wert seines Daseins auf dem,was er empfängt und genießt, beruht; sondern der Wert,welchen er allein sich selbst geben kann, und welcher in dem besteht, was er tut, wie und nach welchen Prinzipien er, nicht als Naturglied, sondern in der Freiheit seines Begehrungsvermögens handelt, d. h. ein guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Wert, und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann (05:443).
Genau das ist auch die Eingangsthese von Abschnitt I der Grundlegung: Der gute Wille allein, nämlich als Vermögen und als realisiertes Vermögen, ist es, der uns einen absoluten Wert gibt. Der ‚absolute Wert‘ des guten Willens erklärt sich durch das Verhältnis, in dem der Wille als sinnlich affizierter und als reiner Wille zu sich selbst steht.⁸⁴ Fragen wir aber,warum wir unsere Freiheit schätzen, warum also die reine Vernunft praktisch ist und uns nötigt, die Welt nach dem Moralgesetz zu gestalten, stellen wir eine Frage zu viel.⁸⁵
(unter diesem Namen) ähnlich stark hervorgehoben. Inhaltlich verwandt mit dem Selbstbesitz ist die von Kant häufig erörterte „Achtung vor sich selbst“ (06:399, 459, 462), die „Selbstschätzung“ (05:73, 79, 128 u. ö.) und die „Selbstbilligung“ (05:81) und damit seine Lehre von der Würde des Menschen und der Menschheit in mir. Wer sich selbst achten will, darf sich jedoch zuvor nicht verloren haben. Insofern geht der Selbstbesitz Fragen der Selbstachtung vorher. – Sachlich verwandt mit diesen Überlegungen sind Kants Ausführungen zum angeborenen Freiheitsrecht in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (vgl. 06:237 f.). Vgl. Klemme (2013) u. Brandt (2007, S. 145 – 154). Etwas unglücklich ist m. E. die Formulierung von Ludwig, der von einer „synthetischen Einheit von Wert und moralischem Gesetz im guten Willen“ (2008, S. 452 f.) spricht. Kant formuliert diese Auffassung erstmals in der Kritik der reinen Vernunft – und wird sie niemals wieder aufgeben: „Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben. Daher kann man nicht fragen: warum hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? Sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich“ (A 556/B 584).
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Stephan Zimmermann (Bonn)
Faktum statt Deduktion. Kants Lehre von der praktischen Selbstrechtfertigung des Sittengesetzes* Einige Interpreten haben öfters bemerkt, dass sich unter Aufbietung einer gewissen hermeneutischen Anstrengung bereits in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das freilegen lasse, was anderen gerade als originelle Neuerung erst der Kritik der praktischen Vernunft gilt. Unter der Oberfläche einer wenigstens streckenweise auf Deduktion des obersten Sittenprinzips abstellenden Ausdrucksweise liege im dritten Abschnitt in Wahrheit schon jene vermeintlich spätere Lehre verborgen, wonach jede philosophische Verständigung über Moral von der unhinterschreitbaren Faktizität des Sittlichen im menschlichen Dasein auszugehen habe. Dafür hat sich prominent Dieter Henrich und neuerdings Heiko Puls stark gemacht.¹ Sollte diese Diagnose korrekt sein, würde die Kritik in dieser Hinsicht viel weniger eine gereifte Einsicht vortragen, als im Großen und Ganzen lediglich Früheres erneut, jedoch nun mit voller sprachlicher Klarheit und sachlicher Ausdrücklichkeit zur Geltung bringen. Auf der anderen Seite haben sich etliche gefunden, die wie etwa Dieter Schönecker und Henry E. Allison darauf beharren, dass sich in dieser Sache die Innovation der Kritik keineswegs nur auf die äußerliche Seite der Darstellung abdrängen lasse.² So besagt ein Gegeneinwand, dass auf diese Weise gar nicht verständlich würde, von wem Kant sich abzugrenzen bemüht ist, wenn er in der Kritik entschieden feststellt, die Gültigkeit des Sittengesetzes könne durch keinerlei Deduktion dargetan werden. Denn wer außer Kant hat in der Geschichte moralphilosophischen Denkens jemals einem derartigen theoretischen Bedürfnis zu entsprechen versucht? Wen anders könnte Kant hier also vor Augen haben als sich selbst? Seine Opposition gegen die argumentative Fundierung der Moral vermittels einer Deduktion ihres höchsten Grundsatzes lasse sich folglich sinnvollerweise allein als Selbstkritik begreifen; sie sei das nachträgliche Zeugnis aus Kants eigener Feder, dass er selber ehedem eine solche Strategie verfolgt, dass sein
* Entscheidende Anregungen zu diesem Aufsatz gehen auf Vorträge von und Diskussionen mit Dieter Schönecker und Sebastian Rödl während einer Tagung in Pamplona (Spanien) zurück. Beiden gilt mein Dank. Vgl. Henrich (1975), Puls (2011). Vgl. Schönecker (1999), Allison (2011).
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Denken seit der Niederschrift und Veröffentlichung der Grundlegung allerdings einen Wandel vollzogen hat. Beide Parteien kommen indes darin überein, dass sie die Konzeption eines sogenannten „Factums der reinen Vernunft“ (05:31) als Kants eigentliche Überzeugung würdigen – ‚eigentlich‘ entweder in dem Sinne, dass es sich dabei um eine Konstante in Kants Denken handelt, deren erstes Auftreten in der Grundlegung noch vage und missverständlich ausgefallen ist, oder aber so, dass sie Kants revidierte und abschließende Haltung zur Frage nach dem Gültigsein des Sittengesetzes darstellt. Ich möchte daher im Folgenden die ebenso reizvolle wie heikle Aufgabe beiseiteschieben, den erwähnten exegetischen Streit für die eine oder andere Partei zu entscheiden, und will mir stattdessen die Faktum-Lehre in ihrer letztverbindlich publizierten Gestalt vornehmen, das heißt, wie sie die Kritik der praktischen Vernunft vorträgt, und darüber einige Überlegungen anstellen – wohl wissend, dass viel Scharfsinniges dazu bereits gesagt wurde, aber dennoch vermutend, dass weitere Aufklärung angezeigt ist. Denn hat Kant dem menschlichen Selbstverständnis hier nicht einen Weg geöffnet, der uns noch heute fragwürdig ist, indem er die Versuchung einer Gewinnung des Moralischen aus moralindifferenten Voraussetzungen einer ausdrücklichen Kritik unterwirft? Hat er nicht das sittliche Bewusstsein zu einer Art eigenem Standpunkt befreit, dessen Prätention auf Unmittelbarkeit sich auch in den Grenzen moralphilosophischen Argumentierens nur zu deutlich widerspiegelt?
1. Die Beschäftigung mit dem Sittengesetz ist mehr als ein Thema neben anderen, sie ist der erste und beständige Bezugspunkt des von Kant in den 1780er-Jahren zunächst noch in Aussicht gestellten Systems der Pflichten, wie es die erst im Jahre 1797 veröffentlichte Metaphysik der Sitten zumindest in seinen Anfangsgründen entfalten wird. Es ist die Obliegenheit der beiden Grundlegungsschriften, das Fundament zu sichern, auf dem sich die doktrinal ausgeführte Sittenlehre dereinst aufzupflanzen hat. Warum Kant nach der Grundlegungs-Schrift noch die Kritik der praktischen Vernunft nachzuschieben für nötig erachtet hat, mag hier außer Acht bleiben.³ Jedenfalls ist das Problem, auf das Kant mit der Faktum-Lehre reagiert, derart elementar, dass es sich gleich zu Anfang der Durchführung jenes Rechtfertigungsprogramms stellt, dessen Erledigung eine Moralphilosophie aus reiner praktischer Vernunft allererst in ihre Möglichkeit bringen soll.
Vgl. Beck (1995, S. 16 ff.).
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In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schickt Kant der gesamten Untersuchung die richtungsweisende Bemerkung voran, dass die Möglichkeit einer künftigen Metaphysik der Sitten davon abhängt, dass sich zuvörderst zwei Aufgaben erfolgreich bewältigen lassen. Diese bezeichnet Kant hier als „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“; und dabei handelt es sich, so Kant weiter, um „ein, in seiner Absicht, ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte“ (04:392). Diese Bemerkung ist auch noch für die Kritik der praktischen Vernunft gültig. „Aufsuchung“ des obersten Moralprinzips bedeutet, das Sittengesetz begrifflich zu entwickeln und explizit zu formulieren. Die Kritik spricht in einer für den Leser vertrauteren Sprache von der „Exposition des obersten Grundsatzes der praktischen Vernunft“ (05:46).⁴ „Festsetzung“ hingegen meint, das so aufgewiesene Sittengesetz auszuweisen. Die moralphilosophische Grundlagenreflexion darf es nicht dabei bewenden lassen, den höchsten Grundsatz der Moral nur anzugeben, sie muss imgleichen seine Richtigkeit dartun, also zeigen, dass ein jeder unter seinem Herrschaftsanspruch steht. Diese Zweifältigkeit der Aufgabenstellung lässt sich leicht an der Gliederung sowohl der Grundlegung wie auch der Kritik festmachen. So notiert Kant in der Grundlegung gegen Ende des zweiten Abschnitts: Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er nothwendig sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen den Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt, auch haben wir seine Wahrheit hier nicht behauptet, viel weniger vorgegeben, einen Beweis derselben in unserer Gewalt zu haben (04:444 f.).
Was hier zu seinem zufriedenstellenden Ende gelangt, ist allein die Aufsuchung des obersten Moralprinzips, wie sie Kant im ersten und zweiten Abschnitt des Werkes in mehreren Anläufen unternommen hat. Es könnte an dieser Stelle des Überlegungsgangs indes noch sein, dass Sittlichkeit nur eine „chimärische Idee“, ein „Hirngespinst“ (04:445) ist, wie Kant sich ausdrückt.⁵ Erst der dritte und letzte Abschnitt der Grundlegung wird dem entgegentreten. Dort ist es, dass die Festsetzung des Sittengesetzes ihren Ort hat, „von welcher wir“, wie Kant auch eigens
Darunter will Kant die Darlegung verstanden wissen, „erstlich, was er enthalte, daß er gänzlich a priori und unabhängig von empirischen Principien für sich bestehe, und dann, worin er sich von allen anderen Grundsätzen unterscheide“ (05:46). Vgl. 04:420, 425.
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ankündigt, „in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge darzustellen haben“ (04:445).⁶ Ähnlich, wenn auch kompositorisch nicht ganz so eindeutig, in der Kritik der praktischen Vernunft. Dort gipfelt die Exposition des Sittengesetzes ersichtlich in § 7. Dieser Paragraf formuliert, wie schon die Überschrift verrät, das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (05:30), nachdem die Analyse der vorausgegangenen Paragrafen auf die Einsicht in das wechselseitige Aufeinanderverwiesensein von Freiheit und praktischem Gesetz hingearbeitet hat.⁷ Dagegen begegnet der Terminus ‚Faktum‘ im Haupttext das erste Mal in der „Anmerkung“, die dem Paragrafen beigefügt ist. Hier schließt Kant die Frage nach dem Gültigsein des Sittengesetzes ab – wenn sie auch bereits in der „Anmerkung“ zu § 6, wie noch näher zu sehen sein wird, ausdrücklich gestellt wird. Das Ergebnis lautet in § 7, wie Kant unter dem Titel einer „Folgerung“ präsentiert, dass reine Vernunft für sich allein praktisch ist. Damit ist das vordringliche Beweisziel erreicht, welches Kant von Beginn an dem gesamten „Ersten Hauptstück“ gesteckt hat.⁸ Der menschliche Wille darf nunmehr als frei im starken, transzendentalen Sinne und der Mensch als praktischen Gesetzen unterstellt gelten. Der Faktum-Lehre lässt sich sonach ihre präzise Funktion anweisen. Der Gedanke von der Faktizität des Sittlichen begegnet nicht nur sehr früh innerhalb jenes unverzichtbaren Einsetzungsaktes der Moralphilosophie als Ganze, der nach Kant eine eigenständige Untersuchung verlangt und dem System der Sitten vorausgeschickt werden muss. Sondern die Alternative zwischen Faktum und Deduktion, die Kant eröffnet, hat der Sache nach ihren Ort des Näheren in der Auseinandersetzung speziell mit der substanziellen und für alles Weitere maßgeblichen Frage nach der Geltung des Moralprinzips. Nicht der begriffliche Gehalt des Sittengesetzes steht auf dem Spiel, wenn es zur Entscheidung zwischen den beiden Standpunkten kommt; dieser hat sich von der Grundlegung hin zur Kritik nicht oder nicht wesentlich verändert.⁹ Faktum und Deduktion sind stattdessen
Kant ordnet den beiden Aufgaben eine je andere methodische Vorgehensweise zu, die er analytisch bzw. synthetisch nennt (vgl. 04: 392). Wie diese Methodik genau zu verstehen ist und wo die eine in die andere übergeht, darüber hat die Kantforschung bislang keine letzte Klarheit schaffen können. Es sei hier nur verwiesen auf Brandt (1988, S. 171 ff.). Allison (1995, S. 201 ff.) spricht diesbezüglich von einer „reciprocity thesis“. Vgl. 05:19. Zwar setzt die Kritik „die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voraus, aber nur in so fern, als diese mit dem Princip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angiebt und rechtfertigt; sonst besteht es durch sich selbst“ (05:08). Man kann diese Passage aber auch so lesen, dass Kant sich lediglich auf die erste Aufgabe des moralphilosophischen Grundlegungsprogramms bezieht: Der begriffliche Gehalt des Sittengesetzes ist in der Grundlegung angegeben worden und kann in der Kritik vorausgesetzt werden. Die Geltung des
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zwei oder die zwei Weisen, wie sich der Moralphilosoph nach der gelungenen Exposition des Sittengesetzes nun zu dessen infrage stehender Verpflichtungskraft für endliche Vernunftwesen wie den Menschen verhalten kann. Die FaktumLehre begegnet mithin im Kontext eines grundlegenden moralphilosophischen Rechtfertigungsbedürfnisses.
2. Was aber will hier die Rede von einer Deduktion besagen? Man täte sich keinen Gefallen, wollte man das Verständnis von Deduktion, wie es die Kritik der reinen Vernunft einführt, schlicht in den gegenwärtigen Überlegungszusammenhang importieren. Denn, worüber bisweilen hinweggelesen wird, Kant bringt seine vielleicht prominenteste Theoriefigur nicht nur ein einziges Mal zum Einsatz, sondern spricht desgleichen bezüglich der Begriffe des Raumes und der Zeit¹⁰ sowie der reinen Vernunftbegriffe¹¹ von einer transzendentalen Deduktion. Zwar lässt sich die gemeinsame Absicht grosso modo dahingehend angeben, jeweils die den genannten Vorstellungen eigentümliche objektive Realität a priori zu dokumentieren. Aber wie das jeweils von Kant ins Werk gesetzt wird, unterscheidet sich doch erheblich, was Kant auch einräumt. Man hat zwar richtig beobachtet, dass in der Transzendentalphilosophie eine Deduktion nicht so sehr das zwingende Entwickeln von Sätzen aus Sätzen gemäß dem syllogistischen Vorbild bedeutet, sondern dass das Modell der Deduktion, das Kant einem Usus der Jurisprudenz seiner Zeit entlehnt, vielmehr auf die Herleitung von Rechtsansprüchen durch das Zurückverfolgen von Legitimationstiteln zielt: Wie vor Gericht diejenige rechtsschöpferische Tat namhaft zu machen ist, von der sich ein strittiger Eigentumsanspruch ableiten lässt, so ist auch vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft eine Handlung herbeizubringen, allerdings eine Handlung vernünftiger Subjektivität, ein actus synthetischer Spontaneität, der gewissen Begriffen ihre nötige Legitimation verschafft.¹² Jedoch scheint die Kritik der reinen Vernunft kaum eine einheitliche Technik transzendentaler Deduktion zu praktizieren. Das Verfahren einer potenziellen Deduktion des Sittengesetzes lässt sich daher nicht ohne Weiteres von der theoretischen Philosophie her aufhellen.
Sittengesetzes hingegen und wie sie zu rechtfertigen ist, die zweite Aufgabe also, wäre damit noch oder wieder offen. Vgl. 03:101. Siehe dazu Baum (1986, S. 55 ff.). Vgl. 04:442. Siehe dazu Caimi (1995). Vgl. Bubner (1986, S. 39 f.).
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Allein, das ist auch gar nicht nötig, denn Kant macht einige Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft, denen durchaus zu entnehmen ist, was er in diesem spezifischen Kontext unter Deduktion verstanden wissen möchte. In einem kurzen Kapitel gegen Ende des „Ersten Hauptstückes“, in dem er Erörterungen über die Erfolgsaussichten einer Deduktion des höchsten Grundsatzes der Moral nachreicht, erklärt er: Die Deduktion des Sittengesetzes wäre die „Rechtfertigung seiner objectiven und allgemeinen Gültigkeit“ (05:46). Das Ziel ist damit zumindest klar benannt. Das Gegenteil zu ‚objektiv‘ ist subjektiv, und zwar in dem Sinne, dass das, was dadurch bezeichnet wird, als untrennbar von der konkreten Lebensgeschichte, von der Erziehung und Erfahrung des Einzelnen vorgestellt wird. Was bloß subjektiv ist an einem Menschen, bleibt allemal durch dessen Eigenart und die Verflochtenheit mit anderen Zügen seines Wesens so nachhaltig bestimmt, dass es kaum herauslösbar und als verbindendes Merkmal einer größeren Anzahl vorstellbar ist. Darum aber geht es; das Sittengesetz soll gerade jenseits aller lebensgeschichtlich anfallenden individuellen Bestimmtheiten als etwas schlechthin Objektives und insofern allen vernünftigen Subjekten Gemeinsames erkennbar werden. Aufgabe einer Deduktion des Sittengesetzes wäre, dessen universalen Geltungsanspruch vor all seinen Adressaten als einen unabweisbar berechtigten zu legitimieren. Auf welche Weise jedoch die Deduktion dieses Ziel erreichen soll, ist damit noch nicht gesagt. Hier hilft eine frühe Äußerung weiter, die Kant in der bereits erwähnten „Anmerkung“ zu § 7 macht. Diese Äußerung besagt, dass man das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft „nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann“ (05:31).¹³ Die Wendung „aus vorhergehenden Datis“ ist bedeutsam, denn sie bringt zum Ausdruck, dass eine Deduktion des Sittengesetzes anscheinend darin bestände, dessen Gültigkeit von etwas anderem abzuleiten: Die Verbindlichkeit des höchsten Prinzips der Moral müsste auf etwas aufgebaut werden, das der menschlichen Vernunft vor diesem Prinzip und ganz unabhängig von ihm bereits in seiner Gültigkeit feststeht und diese dann an jenes weiterzugeben vermag. Doch eben eine solche Herleitung aus Voraussetzungen soll es laut Kant nicht geben; eine deduktive Vorgehensweise weist er kategorisch zurück. Seine Deduktionserörterungen am Ende des „Ersten Hauptstückes“ münden in die unmissverständliche Konklusion: „Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction […] bewiesen […] werden“ (05:47).¹⁴ Das ist gewiss eine Behauptung, die aufhorchen lässt. Immerhin scheint Kant sagen zu wollen, dass das moralische Gesetz überhaupt
Vgl. 05:43, 91; 06:26, Anm. Vgl. 05:47, 93.
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keiner Ausweisung fähig ist. Es sieht so aus, als erachte Kant den obersten Grundsatz aller Sittlichkeit und damit auch des späteren Systems der Pflichten für nicht rechtfertigbar: Dass er objektiv und allgemein gilt, ließe sich demnach schlichtweg nicht belegen. Das ist aber mitnichten das letzte Wort. Man muss hier genauer zusehen, denn Kant expliziert sehr wohl etwas mehr ins Detail gehend, was er unter dem Namen einer ‚Deduktion‘ des Sittengesetzes abweist – und was nicht. Alle menschliche Einsicht ist zu Ende, so hebt er an, „so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelanget sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden“ (05:46 f.). Im „theoretischen Gebrauche der Vernunft“, so fährt Kant fort, ist es die „Erfahrung“, die uns berechtigt, „sie anzunehmen“ (05:47). Darin spiegelt sich der allgemeine Ansatz der kantischen theoretischen Philosophie als einer Reflexionsphilosophie. Sie geht, grob gesprochen, von unserer sachhaltigen Erfahrung aus und fragt alsdann hinter diese zurück nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, welche sie ihrerseits nicht wiederum als in der Erfahrung auffindbar vermutet. Die erste Kritik spricht diesbezüglich von transzendentaler Reflexion.¹⁵ So ist es der Ankerpunkt der Erfahrung, an den das philosophische Nachdenken zurückgebunden bleibt, welcher verstattet, Kräfte oder Vermögen des menschlichen Gemüts weder mit begrifflicher Notwendigkeit noch mit wahlloser Beliebigkeit dort einzuführen, wo es die regressive Erklärung unseres Erfahrungslebens nötig macht. Dieser Weg aber ist der Moralphilosophie verlegt. „Dieses Surrogat“, schreibt Kant, „empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens […] benommen“ (05:47). Denn das zu unternehmen, bedeutete, im Ausgang von Situationen eindeutig identifizierter Pflichterfüllung argumentieren, dass diese überhaupt nur unter der Bedingung des Vermögens reiner praktischer Vernunft möglich seien. Doch solche Situationen gibt es nicht. Nach Kants moralepistemologischem Verständnis ist das Sittliche an einer Handlung etwas rein Intelligibles, sodass sich, ob eine Handlung tatsächlich aus Pflicht entsprungen ist, durch Wahrnehmung und Beobachtung nie mit letzter Sicherheit herausbringen lässt. Stets könnte es sein, dass sie in Wahrheit aus subjektiven Neigungen und privaten Interessen herrührt und nur ganz zufällig der Pflicht gemäß ist.¹⁶ Wenn es aber keine untrügliche Erfahrung gelebter Sittlichkeit gibt, die uns neben dem empirischen Gebrauch der praktischen Vernunft auf ein Vermögen reiner prak-
Vgl. 03:216. Siehe dazu Leitner (1994). Vgl. 05:47, 48, 104 f.; 29:896 f.
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tischer Vernunft zurückschließen lässt, dann scheidet Erfahrung als Voraussetzung der Rechtfertigung moralischer Geltungsansprüche aus.¹⁷ Mit einer geringfügigen Abwandlung findet sich diese Überlegung bereits in der „Anmerkung“ zu § 6. Nachdem Kant das analytische Verhältnis von Freiheit und praktischem Gesetz konstatiert hat, bringt er die Frage auf, „wovon unsere Erkenntniß des unbedingt-Praktischen anhebe, ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze“ (05:29). Von der Freiheit kann es nicht anheben, lässt sich doch die Wirklichkeit der Freiheit nicht „aus der Erfahrung schließen“; denn, so Kants Begründung, „Erfahrung giebt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanism der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen“ (05:29). Das entspricht dem Argument, das wir bereits kennen, nur dass es jetzt nicht auf das Sittengesetz, sondern auf die diesem noch einmal zugrunde liegende Idee der Freiheit abstellt. Der Gedanke aber bleibt der gleiche: In unserer Erfahrungswelt kann grundsätzlich keine Objektivation des menschlichen Willens zu finden sein, die von sich her einen unzweideutigen Anhaltspunkt an die Hand gibt, dass sie aus der absoluten Spontaneität reiner praktischer Vernunft resultiert. Wie Kant hier etwas näher aufschlüsselt, ist transzendentale Freiheit weder der „reinen“ noch der „empirischen Anschauung“ (05:31) jemals zugänglich. Darüber hinaus kommt – und das ist der zweite Fall, auf den Kant eingeht – auch die Vernunftidee der Freiheit nicht in Betracht, um die Verbindlichkeit des Sittenprinzips zu dokumentieren. Denn wir können uns, wie Kant ebenfalls in der „Anmerkung“ zu § 6 feststellt, der Freiheit unseres Willens nicht „unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist“ (05:29). Der Begriff der Freiheit, wie er der Auflösung der dritten Antinomie entstammt, ist ein metaphysischer Begriff und bedeutet im Gegensatz zum jederzeit raumzeitlich bedingten Anfangen der Naturkausalität den schlechthinnigen Neubeginn einer Kausalkette, mithin die nicht weiter zurückführbare kausale Unabhängigkeit einer ersten Ursache. Die Wirksamkeit einer solchen Ursache im Hinblick auf den menschlichen Willen und sein moralisches Obligiertsein einsehen zu wollen, hieße, wie Kant vermerkt, sich „intellectuelle Anschauung“ (05:31) anmaßen. Indem das menschliche Erkennenwollen, so hat es die Kritik der reinen Vernunft gelehrt, stets auf etwas angewiesen ist, das ihm von anderswoher gegeben werden muss, nämlich in sinnlicher Anschauung, ist es außerstande, die Wirklichkeit der Freiheit unseres Wollens direkt einzusehen. So wenig man also aus Handlungen in der äußeren Welt auf die objektive Realität des Sittengesetzes zurückschließen „Denn, was den Beweisgrund seiner Wirklichkeit von der Erfahrung herzuholen bedarf, muß den Gründen seiner Möglichkeit nach von Erfahrungsprincipien abhängig sein, für dergleichen aber reine und doch praktische Vernunft schon ihres Begriffs wegen unmöglich gehalten werden kann“ (05:47).
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kann, so wenig lässt sich diese aus der vorausgesetzten Idee der Freiheit schlussfolgern. Was Kant unter einer Deduktion des Sittengesetzes versteht, tritt nun klarer hervor. ‚Deduktion‘ heißt ihm hier offenbar nicht Rechtfertigung schlechthin, sondern eine, die auf die eine oder andere Weise durch die theoretische Vernunft geführt wird. Die Alternativen, mit denen Kant sich auseinandersetzt, sind allesamt von dieser Art. Es sei hier noch einmal Kants bereits zitierte Konklusion angeführt, nun aber ohne die vorigen Auslassungen: Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht thun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden (05:47, Hervorhebung S. Z.).
Abgesehen von intellektueller Anschauung, die dem Menschen ohnehin nicht zur Verfügung steht, kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes nicht unter Rekurs auf das menschliche Erkenntnisvermögen im engeren Sinne ausgewiesen werden: weder durch die „empirisch unterstützte Vernunft“, das heißt mittels empirischer Anschauung, noch durch reine Anschauung und genauso wenig durch die „speculative“ Vernunft selbst, in welcher die Idee der Freiheit ursprünglich beschlossen liegt, aber nur als ein regulatives Ordnungsprinzip theoretischer Subjektivität. Und man wird die Reihe dieser von Kant vorgebrachten und verworfenen Optionen für vollständig halten dürfen, ist doch durch sie das Repertoire unseres theoretischen Erkenntnisvermögens erschöpft. Weder kraft irgendeiner Anschauung noch rein aus sich selbst heraus vermag die Vernunft qua theoretische sich der Legitimität des höchsten Prinzips der Moral zu versichern.¹⁸ Halten wir fest: Deduktion des Sittengesetzes meint in der Kritik der praktischen Vernunft eine Rechtfertigung der Verpflichtungswirksamkeit desselben aus theoretischen Voraussetzungen. Allein gegen diese ist es, dass Kant sich wendet.¹⁹ Ob der menschliche Wille frei und sittlichen Gesetzen unterworfen ist,verbleibt im Rahmen der theoretischen Philosophie eine bloße Denkmöglichkeit und lässt sich
Anders formuliert: Die Geltung des Sittengesetzes kann weder von dessen Bedingung, der zugrunde liegenden Freiheitsidee, hergeleitet noch kann sie durch die etwaigen Folgen, die das Sittengesetzes in Gestalt unserer Handlungen in der äußeren Welt auslösen mag, dargetan werden. Da es neben Grund und Folge, Bedingung und Bedingtem kein Drittes gibt, ist der Moralphilosoph so auf das Sittengesetz und die reine praktische Vernunft selbst verwiesen. Das bestätigt gleichfalls eine Stelle in der Metaphysik der Sitten, wo Kant bemerkt, dass „der Begriff der Freiheit […] keiner theoretischen Deduction seiner Möglichkeit fähig ist“, sondern „nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden kann“ (06:252).
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mit ihren Bordmitteln nicht entscheiden – anders noch als Kant in der Grundlegung versucht hat, wo der Argumentationsgang ja tatsächlich mit dem „positive[n] Begriff der Freiheit“ unseres Willens anhebt und dann auf jenes „dritte“ (04:447) führt, von wo aus sich der obligatorische Charakter des Sittengesetzes soll einsehen lassen. Das also ist die wahre Bedeutung der konsequenten Absage, die Kant einer argumentativen Fundierung der Moralphilosophie mittels einer Deduktion ihres obersten Grundsatzes erteilt.²⁰
3. Während aber Kants Diskussion einer etwaigen Deduktion des Sittengesetzes durchweg ablehnend ist, bringt die Faktum-Lehre demgegenüber ersichtlich etwas Positives ins Spiel. Denn wenn auch die verbindliche Geltung des Moralprinzips darzutun außerhalb des Theoriefähigen liegt, ist damit nicht schon der Verzicht auf jedwede Art der Rechtfertigung erklärt. Und so spricht Kant an einigen der insgesamt elf Stellen, an denen der Terminus ‚Faktum‘ in der Kritik fällt, mit eigenen Worten davon, dass durch das Faktum etwas gegeben werde, dessen wir uns auf diese Weise a priori bewusst sind und das uns apodiktisch gewiss ist, dass das Faktum etwas ankündige, dass durch es etwas dargetan, beglaubigt, bestätigt, gewusst, gerechtfertigt, ja sogar bewiesen werde.²¹ Was auch immer das sogenannte Faktum sein mag, auf das sich der Moralphilosoph anstelle einer Deduktion zu berufen hat – durch es erschließt sich uns etwas. Und das, was sich uns da erschließt, soll nach Kant offensichtlich gerade der verpflichtende Charakter des Sittengesetzes sein. Man wird also nicht vorschnell aus der Unmöglichkeit einer Deduktion des höchsten Moralprinzips folgern dürfen, dass schlechterdings keine Ausweisung seines Gültigseins zu haben ist. Ganz im Gegenteil, Kant hat sehr wohl eine solche vor Augen. An der justifikatorischen Absicht, mit der die Kritik die Faktum-Lehre einführt, lässt sich kaum rütteln, wie einige Interpreten versucht haben.²² Allerdings muss man, um Missverständnisse zu vermeiden, eben eingedenk sein, dass es sich dabei um eine nichttheoretische Art der Rechtfertigung handeln muss. So schreibt Kant beispielsweise gegen Ende des „Ersten Hauptstückes“:
Dass die historischen Voraussetzungen dieser kantischen Einsicht vor allem in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Wolffs und der Kritik von Crusius an Wolff liegen, zeigt Henrich (1973, S. 237). Vgl. 05:03, 06, 31, 42, 47, 55, 91, 104. So neuerdings Wolff (2009, S. 537 ff.).
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Dagegen giebt das moralische Gesetz […] ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Factum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese so gar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt (05:43, Hervorhebungen S. Z.).
Das sogenannte Faktum bleibt für die anschauungsbezogene wie die spekulative Betätigung der Vernunft letzthin „unerklärlich“. Mit all ihren empirischen oder reinen oder gar transzendentalen Erkenntnissen vermag sie es nicht zu ergründen. Ins Positive gewendet, besagt dies, dass mit dem Faktum etwas Neues und Eigenes zum Tragen kommt, das sich nicht auf das – im engeren Sinne des Wortes – Erkenntnisvermögen des Menschen reduzieren lässt. Mit der Anerkennung der Faktizität des Sittlichen wird die gesamte Moralphilosophie einschließlich des auszuarbeitenden Systems aller Pflichten in einer Metaphysik der Sitten von falschen Ansprüchen entlastet und zu einem eigenständigen Standpunkt freigesetzt. Moral hat für Kant insofern etwas Unmittelbares an sich, als sie sich nicht weiter auflösen und auf den theoretischen (oder einen anderen) Weltbezug des Menschen zurückrechnen lässt. Wenn die Legitimierung des obersten Moralgesetzes ansteht, ist das praktische Vernunftvermögen ganz auf sich gestellt. So soll der Verweis auf ein Faktum zwar einem Bedürfnis nach Rechtfertigung Genüge tun, aber es kann sich dabei überhaupt nur um eine genuin praktische Weise der Rechtfertigung des Sittenprinzips handeln. Und alles kommt meines Erachtens darauf an zu verstehen, was das genau bedeutet.²³ Zunächst einmal ist dadurch der Weg aus der Theorie hinaus gewiesen, weg von der philosophischen Begriffsebene und hin zum subjektiven Bewusstsein der Menschen oder, wie Kant in der „Kritischen Beleuchtung der Analytik“ sagt, zum „gemeinsten praktischen Vernunftgebrauche“ (05:91). Denn wie Kant sein eigenes Vorgehen rückblickend kommentiert, musste er den höchsten Grundsatz der Moral zuerst […] im Urtheile dieser gemeinen Vernunft bewähren und rechtfertigen, ehe ihn noch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte, um Gebrauch von ihm zu machen, gleichsam als ein Factum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht (05:91, Hervorhebungen S. Z.).
Was der „Wissenschaft“ vorhergeht, nennt Kant die „gemeine Vernunft“. „Wissenschaft“, das kann hier nichts anderes meinen als die philosophische Analyse
Den Unterschied zwischen einer theoretischen und einer praktischen Begründungsstrategie übersieht Schwemmer (1986, S. 279), wenn er Kant einen „idealistischen Fehlschluß“ vorhält, nämlich eine „normative Definition des Faktischen“ vorgenommen zu haben.
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der Grundlagen und des Systems der Moral – Kants eigenes Unternehmen also. Und es gibt offenbar einen Punkt, an dem diese wissenschaftliche Bemühung trotz aller Anstrengungen, die sie auf sich nimmt, auf etwas ihr Vorausliegendes sich gestoßen sieht und an den „gemeinsten praktischen Vernunftgebrauche“, das alltägliche Urteil der Menschen also, appellieren muss. Dieses vorphilosophische Urteil stellt etwas bereit, was die Moralphilosophie nicht aus sich erzeugen kann, worauf sie aber angewiesen ist, um ihre Aufgaben zu erledigen: die objektive Realität des obersten Grundsatzes der Sittlichkeit. Diese kann der Philosoph nicht aus einer Prinzipiensphäre heraus dekretieren, welche er sich vorbehält. Hier ist die entscheidende Stelle für das Verständnis des ganzen Problems. Welchen Gang muss die Beweisführung nehmen? Wenn wir so fragen, verstehen wir das Problem nicht. Denn der ‚Beweis‘ ist schon geführt. Das zu begreifen ist das Wesentliche. Moralität muss nicht erst auf den wissenschaftlich disziplinierten Theoretiker warten, um ihre Forderungen den Menschen mitzuteilen; die rechtschaffene Einfalt der „gemeinen Vernunft“ weiß immer schon, was selbst die praktische Philosophie sie nimmermehr zu lehren imstande ist. Nicht, dass Kant sich leichthin einer Beweislast entledigen wollte, indem er die soziologische Tatsache eines durchschnittlichen oder annähernden consensus omnium zitiert. Kants These besagt, dass das Sittengesetz zwar keiner Deduktion fähig ist, dass es eine solche aber auch gar nicht benötigt,²⁴ weil sich seine Geltung auf anderen Wegen kundtut: Sie kann nur durch den davon unmittelbar Betroffenen selbst bezeugt werden. Bei dieser Bezeugung kommt es überhaupt nicht auf Art und Grad des theoretischen Wissens oder gar philosophischen Reflexionswissens an. Nicht der von allem Handlungs- und Entscheidungsdruck entlastet sinnierende Philosoph, der das Moralprinzip in objektivierender Einstellung analysiert, bringt dessen Verpflichtungskraft mit begrifflicher Allgemeinheit heraus, die so mit einem Schlag für alle Subjekte zugleich erwiesen wäre. Diese lässt sich ebenso wenig auf der Basis guter Gründe von anderen erborgen wie sie sich anderen mitteilen lässt, sondern sie erschließt sich nur dem in Handlungszusammenhängen stehenden einzelnen Akteur, sprich nur in der Perspektive der 1. Person Singular: sobald ich wirklich will und mir meines Wollens bewusst werde. Und von diesem Selbstbewusstsein muss alle Begriffsarbeit des Moralphilosophen ihren Ausgang nehmen. Darin scheint mir das Charakteristische einer praktischen Rechtfertigung des Moralprinzips zu liegen.²⁵
Vgl. 05:47. In der Tat rekurriert Kant nicht nur hier auf die allgemeine Menschenvernunft, sondern bemerkenswerterweise in mehreren Passagen der Kritik, die sich mit dem Faktum beschäftigen. Vgl. 05:32, 105. Siehe ebenso 06:399 f.
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Das lässt sich gleich in mehreren Hinsichten am Text der Kritik festmachen und weiter vertiefen. Einen ersten Wink liefert eine prima facie ganz unscheinbare Formulierung, die Kant mehrfach im Zusammenhang mit der Faktum-Lehre heranzieht. Im Deutschen ist es eine geflügelte Wendung, etwas mit Nachdruck auszusprechen dadurch, dass man etwa sagt ,Das ist in der Tat schwierig‘ oder ‚In der Tat, du hast recht‘. Weit davon entfernt, wortwörtlich etwas mit einer Tat im Sinne einer zurechenbaren Handlung zu tun zu haben, bringt diese Redensart mit bekräftigender Zustimmung zum Ausdruck, dass etwas wirklich und unbestreitbar so ist, wie behauptet, dass es wahrhaftig und definitiv sich so verhält. Kant hingegen verwendet die Formulierung im Kontext der Faktum-Lehre bisweilen doppelsinnig. So heißt es etwa in der „Vorrede“, reine praktische Vernunft „beweiset […] ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich“ (05:03, Hervorhebung S. Z.). Und gegen Ende des „Ersten Hauptstückes“ resümiert Kant, die Analytik habe dargetan, dass reine Vernunft praktisch ist, und zwar „durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That praktisch beweiset“ (05:42, Hervorhebung S. Z.).²⁶ Die Fügung „durch die That“ bzw. „in der That“ mag hier durchaus so gelesen werden, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes eine Tat im Sinne einer Handlung meint, jedoch einer Handlung der reinen Vernunft. Reine Vernunft beweist ihre Realität oder ihr Praktischsein nicht anders als durch sich selber, nämlich durch ihr tätiges Am-Werk-Sein in Anbetracht anstehender praktischer Festlegungen, bezüglich derer sie ihre Forderungen geltend macht.²⁷ Damit hängt unmittelbar das vielschichtige semantische Feld des Wortes ‚Faktum‘ zusammen.²⁸ Beachtenswerterweise schreibt Kant im Original – was in den heutigen Editionen der Kritik verloren gegangen ist – „Factum“ mit ‚c‘. So bleibt die etymologische Herkunft des Ausdrucks einigermaßen erhalten. Unser deutsches Lehnwort ‚Faktum‘ stammt bekanntlich von dem lateinischen Verb facere,was so viel wie tun oder machen bedeutet.Wörtlich übersetzt ist ein Faktum also etwas Gemachtes oder Getanes; und wirklich bedeutet es dem Lateiner Tat, Handlung, Ereignis und als juristischer Fachausdruck die in einem strafrechtlichen Gerichtsprozess festzustellende Handlung des Angeklagten. Andererseits meint ‚Faktum‘ aber auch, was seit Herder in den deutschen Wortschatz als Tat-
Für ähnliche Verwendungen des Wortes ‚Tat‘ siehe 05:77, 137. Kants Begriff des Handelns ist allgemeiner, als wir gemeinhin von Handlungen zu sprechen pflegen. Er ist nicht an den Bereich des Praktischen oder gar Moralischen gebunden. Die Kritik der reinen Vernunft erörtert ihn in unmittelbarer Nähe zur Kausalkategorie, als einen davon abgeleiteten reinen Verstandesbegriff, eine Prädikabilie (vgl. 03:94, 176, 369). So kann Kant auch von Handlungen des Gemüts sprechen. Siehe dazu Gerhardt (1986). Für das Folgende siehe Willaschek (1992, S. 177 f.).
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sache eingegangen ist: etwas, das nachweislich feststeht und woran niemand zu rütteln vermag, eine unübersehbare und unabänderliche Gegebenheit. So erklärt man beispielsweise, man lasse sich in seinem Tun nur von den Fakten leiten, oder man stellt fest, dass eine wissenschaftliche Hypothese von den Fakten desavouiert würde. Kant selbst waren beide Gebrauchsweisen des Wortes durchaus geläufig, verwendet er doch das lateinische Fremdwort factum, nun kleingeschrieben, ausdrücklich in doppelter Weise. In der Metaphysik der Sitten zum Beispiel definiert er, eine Handlung heiße „That (factum)“, wenn sie „unter Gesetzen steht“ (06:227) und daher jemandem als Urheber zurechenbar ist.²⁹ Und in der Kritik der Urteilskraft stipuliert er, „Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität […] bewiesen werden kann, sind (res facti) Thatsachen“ (05:468).³⁰ Das Eigentümliche ist nun aber, dass Kant beide Bedeutungsdimensionen zusammenfließen lässt, wo er vom Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft als einem Faktum spricht.³¹ Dabei handelt es sich freilich um eine uneigentliche Verwendung des Wortes, denn die buchstäbliche Bedeutung geht hüben wie drüben verloren; und doch schwingt von beiden Seiten etwas mit.Vermutlich ist es deshalb, dass Kant sich verschiedentlich etwas zaghaft ausdrückt, es handle sich „gleichsam“³² um ein Faktum. Auch lässt Kant den Satz in § 7, der das Faktum erstmals ausdrücklich ins Spiel bringt, mit den Worten anheben: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen“ (05:31). Wir müssen das Sittengesetz demnach nicht auf diese Weise wiedergeben; da Kant selbst dies jedoch fortgesetzt tut, wird er diesen Terminus trotz aller Missverständnisse, zu denen er Anlass bieten mag, für angemessen gehalten haben, zum Mindesten ist er überaus griffig. Und ein solches „Factum“, jetzt groß- und mit ‚c‘ geschrieben, scheint es ausschließlich im Falle der reinen praktischen Vernunft
Vgl. 06:223, 223 f., 269 f., 371. Siehe ebenso R 3579, 6783, 6784, 7288, 7292. Kant merkt in einer Fußnote an, er erweitere „den Begriff einer Thatsache über die gewöhnliche Bedeutung dieses Worts. Denn es ist nicht nöthig, ja nicht einmal thunlich, diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken, […] da eine bloß mögliche Erfahrung schon hinreichend ist, um von ihnen bloß als Gegenständen einer bestimmten Erkenntnißart zu reden“ (05:468, Anm.). Siehe ebenso 06:371. Einmal bezeichnet Kant anstelle des moralischen Gesetzes das Bewusstsein dieses Gesetzes als Faktum: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen“ (05:31). Im Verfolg des Satzes bezieht sich Kant jedoch mehrmals mithilfe des Pronomens ‚es‘ darauf zurück, und es ist unzweideutig, dass er damit ausschließlich das Gesetz selbst meint. So schreibt er etwa, dass „es sich für sich selbst aufdringt als synthetischer Satz a priori“ (05:31). Als Satz kann man aber kaum das Bewusstsein des Sittengesetzes, sondern lediglich dieses selbst ansprechen. Es ist eben das Gesetz, das sich unserem Bewusstsein aufdrängt. 05:47, 55, 91, 104.
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und ihres Grundgesetzes zu geben. Der Ausdruck ‚Factum‘ avanciert innerhalb der kantischen Moralphilosophie (der 1780er-Jahre) nachgerade zum Eigennamen.³³ Mit dem Terminus „Factum“ soll einesteils zum Ausdruck gebracht sein, dass das Sittengesetz, wie Kant in diesem Zusammenhang unter anderem schreibt, „unleugbar“ (05:32) ist, „unwidersprechlich“ (05:105) und „unvermeidlich“ (05:55), dass es „als gegeben anzusehen“ (05:31)³⁴ ist und dass es „für sich selbst fest[steht]“ (05:47). Anderenteils nimmt Kant mit seiner Wortwahl bewusst auch jenen anderen Aspekt des Tätigseins auf. Es ist allein „durch die That“ oder „in der That“, das heißt qua sich betätigendes Am-Werk-Sein der reinen Vernunft, dass uns das Sittengesetz in seiner unleugbaren und unwidersprechlichen Obligationskraft als unvermeidliche Gegebenheit unseres Lebens feststeht.³⁵ Das bloße Gegebensein des Moralprinzips also, das Kant mehrfach betont, ist für sich nicht schon hinreichend, um die sachliche Bedeutung des Ausdrucks „Factum“ voll auszumessen. Imgleichen genügt es nicht hervorzukehren, dass es sich um ein Sich-selbst-Geben der reinen Vernunft handelt; so kontrastiert Kant unter anderem in der „Anmerkung“ zu § 7 das „Factum der Vernunft“ mit den „Datis der Vernunft“, weil es sich beim Faktum um eine Art selbst gemachtes Datum handelt, insofern es gerade nicht von außen, etwa durch sinnliche Anschauung, gegeben ist.³⁶ Auch sinnliche Anschauungen sind für endliche Wesen etwas Gegebenes; ihre Subsumtion unter Begriffe bleibt jedoch stets irrtumsanfällig. Dagegen soll das Gegebensein des Sittengesetzes, ja dass reine Vernunft sich dieses selber gibt, gerade solcherart sein – und das darf man eben nicht vernachlässigen –, dass sich bezüglich seiner der Einzelne Kant zufolge nicht gut irren kann. Neben das Moment des Tätigseins reiner praktischer Vernunft tritt im Terminus „Factum“ das Moment des Tatsächlichseins dieser Betätigung.³⁷ Der Umstand, dass der Name „Factum der reinen Vernunft“ verschiedene semantische Anleihen in sich aufnimmt und in eins sowohl als eine besondere Tat wie auch als eine Art Tatsache verstanden werden muss, macht eine scheinbar unentschiedene, weil wechselhafte Ausdrucksweise Kants erklärlich. Denn Kant spricht im Fortgang der Kritik bald davon, das Bewusstsein von der Verpflich-
In Schriften aus den 1790er-Jahren finden sich allerdings auch Ausnahmen, etwa 06:23, Anm., und 08:255, wo „Factum“ schlicht eine imputable Handlung meint, oder 05:371, da es sich ausdrücklich um eine Tatsache handelt. Vgl. 05:47, 55, 105. Diese beiden Aspekte des kantischen Wortgebrauchs unterscheidet Beck (1960, S. 279) durch die Wendungen „Faktum der Vernunft“ und „Faktum für die Vernunft“, wobei er sich gerade dafür ausspricht, Kant habe ausschließlich ersteres gemeint. Siehe ebenso 05:43. Das übersieht Schönecker (2013, S. 95 ff.).
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tungswirksamkeit des Moralprinzips sei „durch ein Factum“ (05:42)³⁸ der reinen Vernunft gegeben, bald davon, es selbst sei „als ein Factum“ (05:47)³⁹ der reinen Vernunft gegeben. Doch man muss dies ganz und gar nicht als ein Anzeichen begrifflicher Verworrenheit betrachten oder gar als einen handfesten Widerspruch. Denn nach dem bisher Gesagten lässt sich das sinnvoll dahingehend auflösen, dass das „Factum der reinen Vernunft“ in seinem Kern beides zugleich ist: eine Betätigung der reinen Vernunft, deren Tatsächlichkeit sich nicht in Zweifel ziehen lässt. Durch ein Faktum im Sinne von Tat wird dem Subjekt das Bewusstsein dieser Tat als ein Faktum im Sinne einer unumstößlichen Gewissheit.⁴⁰
4. Was aber ist das für eine Tat? Und inwiefern nötigt sie dem Einzelnen Gewissheit ab? In der „Anmerkung“ zu § 6, nachdem Kant die Frage aufgeworfen hat, wovon unsere Erkenntnis des „unbedingt-Praktischen“ anhebt, und er eine Möglichkeit verneint hat, schreibt er über die nun noch als einzige verbleibende: „Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet, und […] gerade auf den Begriff der Freiheit führt“ (05:29 f.). Da die moralphilosophische Reflexion nicht bei der Freiheit des menschlichen Willens zu beginnen und von dieser aus die Legitimität des Moralgesetzes zu entwickeln vermag, muss es umgekehrt das moralische Gesetz sein, dessen wir „uns unmittelbar bewußt werden“ und das uns in der Folge auf die Realität der Freiheit führt. Das entspricht Kants viel zitierter Behauptung, Freiheit sei wohl die ratio essendi des moralischen Gesetzes, dieses aber erst die ratio cognoscendi von jener.⁴¹ Wie wir indes dieses Bewusstsein der objektiven Realität des Sittenprinzips haben können, das heißt unter welchen Bedingungen, wird Kant sodann selber zum Problem: „Wie ist“, fragt er, „das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich?“ (05:30) Interessant ist in diesem Zusammenhang bereits der zuvor zitierte Klammerzusatz „so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen“. Das scheint eine erste Antwort auf die ausgegebene Frage zu sein: Wir werden uns des obersten Grundsatzes der
Vgl. 05:03, 06, 31, 43, 55, 104. Vgl. 05:31, 91. Im letzten Satz der „Anmerkung“ zu § 7 nimmt Kant sogar beide Ausdrucksweisen zusammen. Dort heißt es zunächst, dass das „Gesetz“ das „einzige Factum der reinen Vernunft sei“, und sodann, dass reine Vernunft „sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt“ (05:31, Hervorhebungen S. Z.). Vgl. 05:04, Anm.
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Moral und seines Verbindlichseins für unser Wollen und Handeln dann bewusst, wenn wir uns Maximen entwerfen.⁴² Das ist aber noch nicht alles. Einige Zeilen darauf führt Kant seine berühmte Galgenerzählung an. Dieses Beispiel steht nach wie vor im Dienst der Lösung jener Schwierigkeit, wann wir uns des moralischen Gesetzes als für uns verpflichtend bewusst werden. Es handelt sich um ein phänomenologisches Lehrstück. Ein Mann wird von seinem Landesherrn angehalten, wider eine ehrliche, rechtschaffene Person vor Gericht falsches Zeugnis abzulegen und diese so ins Verderben zu stürzen. Schon bevor der Fürst dieses Ansinnen an ihn richtet, hegt der Mann Animositäten gegen den Betreffenden und ist ohnedies geneigt, ihm unter falschen Vorwänden zu schaden; es zu tun, entspräche seinem eigenen Interesse. Obendrein droht der Regent aber auch, dass, sollte er sich weigern, er die unverzügliche Anwendung der Todesstrafe zu gewahren habe. „Fragt ihn“, so wirft Kant nun ein, „ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte“ (05:30). Und Kant analysiert die Situation bekanntlich folgendermaßen: Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre (05:30).
Ausschlaggebend ist die Wendung „weil er sich bewußt ist, daß er es soll“. Hier, in dieser konkreten Situation konkreter moralischer Versuchung kommt dem Mann das Sollen zu Bewusstsein. Eigentlich möchte er dem anderen auch unabhängig von der ihm angedrohten Todesstrafe schaden, vor allem aber ist ihm daran gelegen, sich sein Leben zu erhalten. Doch das moralische Gesetz erhebt exakt in dem Augenblick seine imperativische Stimme, da die Neigung dem Mann eine Kant selbst beantwortet die Frage zunächst so: „Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben. Der Begriff eines reinen Willens entspringt aus den ersteren, wie das Bewußtsein eines reinen Verstandes aus dem letzteren“ (05:30). Bedauerlicherweise führt Kant nicht weiter aus, worin das von ihm erwähnte Achthaben besteht. Problematisch bleibt vor allem, dass „reine theoretische Grundsätze“, womit Kant die transzendentalen Verstandesgrundsätze in der Kritik der reinen Vernunft meint, keineswegs durch einen simplen Akt der Aufmerksamkeit ihre apriorische Geltungsweise preisgeben. Immerhin stehen sie in der Kritik am Ende eines langen und diffizilen Argumentationsganges, der mit der transzendentalen Ästhetik anhebt und über die metaphysische und transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbergriffe sowie die Schematismuslehre führt und der sie als synthetische Urteile a priori legitimiert.
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Richtung weist, die mit dem Gesetz unvereinbar ist. Im Angesicht akuter sittlicher Verfehlung stemmt es sich dagegen und wird so auffällig, es „dringt“ sich,wie Kant kurz darauf schreibt, „uns auf“ (05:31).⁴³ Das ist die „That“, „durch die“ oder „in der“ reine praktische Vernunft sich bemerkbar macht, dass sie das praktische Vermögen jenes Mannes zu etwas bestimmt, das in eklatantem Widerspruch zu seinem Neigungswollen steht und das, da es unerbittlich gar die Drangabe des eigenen Lebens in Kauf nimmt, empirisch sich nicht befriedigend erklären zu lassen scheint.⁴⁴ Wenn sich daher auch die Bildung von Maximen ebenso wie deren Anwendung unter bestimmten Handlungsumständen stets im Horizont des Sittengesetzes und seiner moralischen Forderungen vollziehen mag – ständig bewusst sind wir uns dessen kaum. Aber es drängt sich uns mindestens dann unvermeidlich auf, wenn die praktischen Grundsätze, die wir für unser Leben uns entwerfen, oder die praktischen Regeln, zu denen wir jene in gewissen Situationen fortbestimmen,⁴⁵ dem moralischen Gesetz zuwider sind. Was die Rede von einer praktischen Rechtfertigung des Sittengesetzes besagt, tritt damit in seiner ganzen Merkwürdigkeit hervor. ‚Rechtfertigung‘ heißt üblicherweise, dass jemand, um einem strittigen Satz anderen gegenüber Anerkennung zu verschaffen, auf etwas anderes, nämlich einen weiteren Satz, als Grund rekurriert, der seinerseits nicht strittig ist und darum die Gültigkeit des Ausgangssatzes darzulegen vermag; dabei handelt es sich um Aussagesätze, die mit dem Anspruch geäußert werden, dass es sich mit den Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, genau so verhält, wie behauptet. Um eine derartige Begründung handelt es sich im Falle der Faktum-Lehre allerdings offensichtlich nicht.Weder ist dem Protagonisten der Galgenerzählung das Sollen irgendwie in Form eines Satzes ausdrücklich thematisch, noch leitet er dessen Gültigsein von einem anderen Satz her. ‚Rechtfertigung‘ meint hier gar kein argumentatives Verhältnis unter Sätzen, geschweige unter wahrheitsbeanspruchenden Aussagen. Und es handelt sich auch nicht um eine dialogische Situation, dergestalt, dass einer einem anderen gegenüber Rechenschaft gibt oder diesen zu überzeugen versucht; die FaktumLehre macht insofern keine diskursethischen Anleihen avant la lettre. Die Rechtfertigung des Sittengesetzes wäre von Grund aus falsch verstanden, wollte
Dieselbe Formulierung wählt Kant auch in 06:36. Man muss indessen nicht selbst vor praktischen Aufgaben stehen, es reichen laut Kant bereits fiktive Beispiele wie eben die Galgenerzählung: „[…] daß keiner, auch der gemeinste Menschenverstand, in einem vorgelegten Beispiele nicht den Augenblick inne werden sollte, daß durch empirische Gründe des Wollens ihm zwar ihren Anreizen zu folgen gerathen, niemals aber einem anderen, als lediglich dem reinen praktischen Vernunftgesetze, zu gehorchen zugemuthet werden könne“ (05:92, Hervorhebung S. Z.). Vgl. 05:19.
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man sie als das willentliche Tun eines Individuums an etwas und gegenüber jemandem verstehen. Die praktische Rechtfertigung der Verpflichtungskraft des Sittengesetzes besteht stattdessen in einem argumentationsunabhängigen, will sagen nicht von irgendwelchen als unstreitig akzeptierten Urteilen oder Sätzen herkommenden, sondern situationsabhängigen, das heißt nur unter bestimmten Handlungsumständen sich einstellenden, Evidenzerlebnis: einer unmissverständlichen Selbstoffenbarung der reinen Vernunft vor dem Einzelnen. In einer bestimmten Entscheidungssituation gibt sich die Vernunft von sich her mit unwiderleglicher Gewissheit zu erkennen und meldet ihre Forderungen an das jeweilige Subjekt an. Diesem widerfährt mehr etwas, als dass es etwas tut; dem Akteur kommt die Verpflichtungswirksamkeit des moralischen Gesetzes ohne alle diskursive Vermittlung durch gute Gründe zu Bewusstsein. Reine Vernunft eröffnet sich sogar ohne alle Anstrengung transzendentalen Reflektierens, weshalb diese moralischmetaphysische Erfahrung innerhalb der kantischen Philosophie einen durch und durch außergewöhnlichen Sonderfall darstellt.⁴⁶ Die Formulierung ‚Rechtfertigung des Sittengesetzes‘ ist sonach nicht als ein Genitivus objectivus, sondern subjectivus zu begreifen: Nicht ich rechtfertige das Sittengesetz, dieses selbst rechtfertigt sich mir gegenüber. Und an dieses unvertretbare Selbererleben eines Beteiligten muss ein jeder verwiesen werden, den die Verbindlichkeit des Sittengesetzes irgendwie zweifelhaft anmutet. Ein anderer Weg ist nicht gangbar. Zurück zu Kants Beispiel. Man muss hier bemerken, dass Kant nicht bestimmt erwähnt, was genau der Mann soll oder nicht soll. Der Leser mag sich das leicht hinzudenken, doch scheint es Kant darauf nicht so sehr anzukommen, sondern lediglich auf das, dass der Mann eines Sollens und der Kraft innewird, welche dieses auf ihn ausübt: Was ihm „gegeben“ ist und „feststeht“, ist bloß, dass er soll. Damit ist freilich nicht gesagt, das ‚Du sollst‘ ließe sich von seinem Gehalt separieren, dem also, wozu man verpflichtet ist. Aber beide Aspekte sind doch begrifflich zu unterscheiden; und nur auf das Erstere scheint das Galgenbeispiel abzustellen. Für Kant ist entscheidend, dass dem Mann das Bewusstsein einer von privaten Neigungen und der dieser Neigungen umsichtig sich annehmenden Klugheitsvernunft verschiedenen, weil ebenso drastisch wie „unwidersprechlich“ dagegen gerichteten Dimension der Bestimmung seines Willens wird. Dieses Dass des Sollens, und nur dieses, ist das Faktum der reinen praktischen Vernunft.⁴⁷ Mit dieser Auffassung stimmt auf der einen Seite zusammen, dass es Kant an dieser Stelle nicht um jenen Universalisierungstest zu tun ist, dem wir Absichten
Darauf weist bereits Heidegger hin (1982, S. 265 ff.). Vgl. Schönecker (2013, S. 99 ff.).
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im Zweifelsfall unterwerfen können und müssen, um zu ersehen, was sub specie moralitatis zu tun und zu lassen ist. Das leistet bereits der in der „Anmerkung“ zu § 4 entwickelte berühmt-berüchtigte Depositumfall. Der Mann in Kants Galgenerzählung dagegen tut nichts weniger als sich mit einiger Ruhe und Weltabgewandtheit in jenes Überprüfungsverfahren zurückzuziehen, um sein Wollen auf dessen Sittlichkeit hin zu kontrollieren. Das Galgenbeispiel soll augenscheinlich etwas anderes zur Darstellung bringen. Nicht um die begriffliche Bestimmung des Gehalts einzelner praktischer Gesetze und damit dessen, was der Mann soll, geht es, sondern die Lehre aus der Galgenerzählung lautet: Während uns das Was des Sollens durchaus unbestimmt und vage, jedenfalls weiter klärungsbedürftig sein kann, haben wir nichtsdestotrotz ein unabweisbares Bewusstsein von einem an uns gerichteten ‚Du sollst‘, das unsere sinnlichen Interessen und unsere innerweltliche Vorteilssuche gegebenenfalls einschränkt oder ganz abweist und sich daher aus gänzlich anderer Quelle zu speisen scheint. Andererseits steht diese Auffassung mit dem Umstand in Einklang, dass laut Kant auch der begriffliche Inhalt des Sittengesetzes selbst dem Menschen gemeinhin nicht klar und deutlich vor Augen steht. Kant glaubt ja, mit dem Sittengesetz nur denjenigen Grundsatz explizit gemacht zu haben, nach dem sich die allgemeine Menschenvernunft im moralischen Testverfahren immer schon implizit richtet.⁴⁸ ‚Implizit‘ aber bedeutet, dass das oberste Moralprinzip jedermann bekannt ist, jedoch keinesfalls von jedem anstandslos artikuliert werden könnte. Hier verläuft die Grenze zwischen dem Praktiker und dem Philosophen, die Kant selber im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als die Grenze zwischen der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ und der „philosophischen“ (04:393) bemüht: Der gemeine Alltagsverstand ist vertraut mit dem Sittengesetz, aber nur aus seiner Anwendung in der gelebten Praxis; nicht ist es ihm in all seiner Formalität und Abstraktheit unmittelbar einsichtig, wie erst der Philosoph es aushebt und präsentiert. Und schließlich macht es auf diese Weise guten Sinn, wenn Kant betont, das infrage stehende Faktum sei nicht eines neben vielen anderen, sondern es sei gerade „das einzige Factum der reinen Vernunft“ (05:31, Hervorhebung S. Z.). Ich verstehe das eben so, dass damit das Sollen gemeint ist, welches in jedem ein-
In einer Fußnote in der „Vorrede“ tritt Kant dem Vorwurf eines namentlich ungenannten Kritikers entgegen, mit dem Sittengesetz eine neue Moralregel inaugurieren zu wollen: „Ein Recensent […] hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Princip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellet worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre“ (05:08, Anm.).
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zelnen moralischen Imperativ wie auch in dem kategorischen Imperativ als dem allgemeinen Sittenprinzip ein und eben dasselbe ist. Das moralische Sollen kennt ja von sich her weder Ausnahmen⁴⁹ noch unterschiedliche Grade an Verpflichtungskraft; der kantische Pflichtbegriff sperrt sich gegen jede gradmäßige Abstufung moralischer Verbindlichkeit. Die begriffliche Trennung von Form und Materie der Pflicht, von verbindendem ‚Du sollst‘ und der Handlung, zu der man verbunden ist, steht im Hintergrund der Behauptung, dass es nur ein einziges Faktum der reinen praktischen Vernunft gibt: das stets identische, ausnahmenlose und gleichverbindliche Sollen als solches. Das Bewusstsein dieser imperativen Form des sittlichen Verpflichtetseins überhaupt ist es, das für Kant allemal klar und unzweifelhaft daherkommt und das zugleich mit jeder anfänglichen, wenn auch im Weiteren behebbaren Dunkelheit oder Ungewissheit des Inhalts unseres Verpflichtetseins kompatibel ist. Hier ist ein kurzer philosophiehistorischer Seitenblick interessant. Denn trotz des viel beschworenen Gegensatzes zwischen der kantischen Pflicht- und der aristotelischen Tugendethik führt Kant hier (wohl unwissentlich) einen Gedanken fort, der sich an einschlägiger Stelle bereits bei Aristoteles findet. Dieser hebt ja seine Überlegungen in der Nikomachischen Ethik mit der Bemerkung an, die πρᾶξις sei nicht nur Gegenstand und Ziel, sondern bereits die Voraussetzung der kommenden Überlegungen; man müsse schon einigermaßen erfahren in den Handlungen und Begebenheiten sein, aus denen das menschliche Leben besteht, um nachvollziehen zu können, worum es in der Ethik geht. Das ist nicht bei allen gleichermaßen gegeben, etwa bei zu jungen oder bei unreifen Menschen nicht. Dieses Dass (ὅτι) einer Empfänglichkeit für moralische Belange setzt Aristoteles als Ausgangspunkt seiner Ausführungen über ethische Themen voraus, weshalb eine darüber hinausgehende Frage nach dem Warum (όιὅτι), wenn es so etwas überhaupt gibt, nicht erforderlich ist.⁵⁰ Ein maßgeblicher Unterschied zwischen Aristoteles und Kant bleibt natürlich, dass dieses Dass für Kant das des Verpflichtetseins ist, Aristoteles hingegen damit das Vorliegen eines durch Erziehung und Bildung geformten guten ἦθος meint.
Wie Kant noch in der Grundlegung gelegentlich der klassifikatorischen Einteilung aller Pflichten in vollkommene und unvollkommene vermutet, später aber korrigiert hat. Vgl. 04:421, Anm. Vgl. Aristoteles (1894, 1095a2 ff.).
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5. Etwas fehlt zuletzt aber noch. Denn Kant nimmt in die Beschreibung solcher Konfliktlagen wie der, vor die sich der Mann in dem Galgenbeispiel gestellt sieht, etwas auf, wovon in der Kritik der praktischen Vernunft eigentlich erst viel später die Rede ist. Gemeint ist das sogenannte moralische Gefühl. So schreibt Kant in der „Kritischen Beleuchtung“, die „Rechtfertigung der moralischen Principien […] konnte aber auch darum gar wohl, und mit genugsamer Sicherheit, durch bloße Berufung auf das Urtheil des gemeinen Menschenverstandes geführet werden“ (05:91, Hervorhebung S. Z.). Und Kant argumentiert expressis verbis, und das ist nun das Neue, dass sich „alles Empirische, was sich als Bestimmungsgrund des Willens in unsere Maximen einschleichen möchte, durch das Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens […] sofort kenntlich macht, diesem aber jene reine praktische Vernunft geradezu widersteht“ (05:91 f.). Die Ausdrücke „sofort kenntlich“ und „widersteht“ sind im Text durch Sperrdruck hervorgehoben. Es ist also ein Gefühl, durch das sich uns der tätige Widerstand der reinen praktischen Vernunft zu erkennen gibt, wo immer wir etwas Empirisches in unsere Maxime aufnehmen, genauer: wo immer wir unseren Willen zu etwas bestimmen, was der Pflicht widerstreitet. Und Kant wird noch deutlicher. Wie er fortfährt, wird die Widerstrebung einer praktisch-gesetzgebenden Vernunft, wider alle sich einmengende Neigung, durch eine eigenthümliche Art von Empfindung, welche aber nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird, nämlich durch das Gefühl einer Achtung […] kenntlich gemacht (05:92, Hervorhebungen S. Z.).
Die Rede vom „Gefühl einer Achtung“ knüpft unverkennbar an die Ausführungen im „Dritten Hauptstück“ der Kritik an, wo Kant das Gefühl der „Achtung fürs moralische Gesetz“ (05:73) als die moraleigene Triebfeder zur Umsetzung dessen, was Pflicht gebietet, entwickelt hat. Jedenfalls wiederholt die zitierte Stelle etliche derjenigen Eigenheiten, durch die Kant das moralische Gefühl vor anderen Empfindungen auszeichnet: einerseits, dass es sich um ein durch reine Vernunft gewirktes Gefühl handelt. Das Interesse, das wir an der Durchführung einer pflichtgebotenen Handlung nehmen, kann seines apriorisch-sittlichen Charakters wegen „nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeh[en]“, sondern muss „durch dieselbe“ allererst im Gemüt ausgelöst werden.⁵¹ Auf der anderen Seite verbirgt sich hinter dem moralischen Gefühl ein durchaus facettenreicher emotionaler Zustand. Sofern die Gebote der Pflicht den Neigungen des
Vgl. 05:73; 04:401, Anm.; 06:211, 212, 378 und passim.
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Subjekts entgegenstehen, haben sie eine niederschmetternde Wirkung und lösen „Schmerz“ und Missvergnügen aus, weil sie den Neigungen ihre Befriedigung zu versagen drohen und daher „Zwang“ bedeuten. Eine konstruktive Wirkung zeitigt das moralische Gesetz aber zugleich dadurch, dass es als Gegenstand größter „Achtung“ das Subjekt Anteil an der Verwirklichung des Pflichtgebotenen nehmen lässt.⁵² Die angeführte Passage stellt nun aber ganz offenkundig einen sachlichen Nexus her zwischen der Ausweisung der Geltung des Sittengesetzes, dem Faktum der reinen praktischen Vernunft und dem Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz. Kant bürdet hier dem moralischen Gefühl über seine kausale Leistung als Triebfeder hinaus eine kognitive Funktion auf: Die „Widerstrebung einer praktischgesetzgebenden Vernunft“ wird „durch das Gefühl einer Achtung […] kenntlich gemacht“.⁵³ Die Festsetzung des obersten Sittenprinzips ist danach im Falle endlicher vernünftiger Wesen keine rein rational zu erledigende Angelegenheit. Die Art und Weise, wie sich mir – da ich auch andere Bestimmungsgründe meines Wollens und entsprechend andere Triebfedern seiner Realisierung kenne – das Bewusstsein aufnötigt, Adressat eines sittlichen Sollens zu sein, ist vielmehr die, dass jenes Sollen ein bemerkenswertes und womöglich einzigartiges Empfinden in mir hervorruft. Dass reine praktische Vernunft sich selbst gibt, bedeutet, dass sie sich selber zu der nötigen Aufmerksamkeit verhilft: Das moralische Gefühl ist für ein endliches Wesen wie den Menschen die genuin praktische Gegebenheitsweise des Sittengesetzes als für mich verbindlich.⁵⁴ Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass sich die obligierende Kraft des obersten Moralgrundsatzes allein in einer Situation des inneren Widerspiels unterschiedlicher Wollungen beweist. Immerhin kennt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ebenfalls das Phänomen einer moralischen „Zufriedenheit“ mit dem eigenen Tun und Lassen; dabei handelt es sich gleichfalls um ein „Gefühl“ (05:38), und vielleicht kann und muss man dieses ähnlich interpretieren, was Kant selber jedoch nicht tut.⁵⁵ Wenn beispielsweise, um die Geschichte weiterzuspinnen, jener bedauernswerte Untertan aus der Galgenerzählung tatsächlich sein Vgl. 05:73, 75; 04:400; 06:402 f. und passim. Diese kognitive Funktion übersieht Goy, wenn sie ansonsten zwischen einer kausalen, evaluativen und bildenden Leistung des moralischen Gefühls differenziert. Vgl. Goy (2007, S. 344 f.). Für diesen Zusammenhang von Faktum der Vernunft und moralischem Gefühl siehe bereits Willaschek (1992, S. 182 ff.). „Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einen Genuß, wie das der Glückseligkeit, bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewußtsein der Tugend nothwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! dieses Wort ist Selbstzufriedenheit“ (05:117). Vgl. 05:38, 88, 118; 04:396.
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Leben hingibt, indem er dem erpresserischen Wunsch seines Regenten widersteht und keine Falschaussage wider einen Unschuldigen ablegt, dann aber trotz des sicher bevorstehenden Todes ein Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Tat, ja Seelenruhe verspürt, wie Kant sich ausdrückt, ist dieses der Handlung nachfolgende moralische Gefühl gewiss mit dem in der dem Handeln vorhergehenden Entscheidungssituation vergleichbar. Das heißt, es lässt sich kaum als eine empirische Empfindung erklärlich machen.⁵⁶ Ferner soll nicht insinuiert sein, dass alle Menschen in der gleichen Situation die gleichen emotionalen Zustände mit der gleichen Intensität durchleben. Kant lehrt nicht nur ganz allgemein fließende Abstufungen und ein kontinuierliches Mehr oder Weniger zwischen emotionalen Lagen. Gefühle besitzen eine intensive „Größe“ und variieren nach verschiedenen „Grade[n]“ (05:23).⁵⁷ Sondern Kant ist insbesondere von der Pflicht eines jeden überzeugt, wie er in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre einschärft, seinen moralischen Sinn, also die emotionale Aufgeschlossenheit für die Stimme der sittlichen Vernunft, beständig zu kultivieren und zu verstärken.⁵⁸ Die Rede vom Kultivieren und Verstärken jedoch impliziert, dass es auch hier gradmäßige Größenunterschiede gibt. Wenn Kant also in der Kritik bemerkt, das moralische Gefühl sei „unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden“ (05:80), kann damit nicht ausgesprochen sein, eine solche Empfindung trete stets mit derselben Stärke und Intensität auf.⁵⁹ Die Selbstrechtfertigung der moralischen Vernunft findet daher nicht ohne Weiteres jedermanns Gehör. Sie ereignet sich nicht bei allen gleich, sondern setzt eine gewisse, etwa auch durch Erziehung geübte, Rezeptivität voraus.
Das Gegenteil, also die moralische Unzufriedenheit, nennt Kant „Seelenunruhe“ (05: 38), in der Grundlegungs-Schrift „Selbstverachtung“ (04:426); und in der Metaphysik der Sitten, und zwar in den „Vorbegriffen“, schreibt Kant mit Blick auf beides, dass mit der „Befolgung oder Übertretung“ einer Pflicht „Lust oder Unlust von besonderer Art (der eines moralischen Gefühls) verbunden ist“ (06:221). Vgl. 05:205 f. In der Mitte dieser Skala gleitender Übergänge findet sich das, was Kant ‚Indifferenz‘ nennt (vgl. 05:21). Jemand ist alsdann innerlich unbeteiligt, die Sache, um die es geht, nimmt ihn weder positiv noch negativ ein. Am deutlichsten in einigen nachgelassenen Reflexionen unterscheidet Kant zwischen „Lust: A; Gleichgültigkeit: non A; Unlust: -A“ (R 669). Vgl. R 364, 520, 537, 622, 710, 813. Vgl. 06:399 f. Siehe ebenso 03:537, Anm; 05:38. Mit ähnlicher Stoßrichtung notiert Kant in der Grundlegung, dass „niemand, selbst der ärgste Bösewicht, […] der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte“ (04:454).
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Darüber hinaus wird mitnichten die Priorität der Vernunft angetastet. Kant nimmt schon früh die britische moral-sense-Philosophie des Earl of Shaftesbury, von Francis Hutcheson und David Hume zur Kenntnis; und er bildet deren Grundlegungsversuch der Moral aus dem Gefühl um, indem er zwar ein unverzichtbares emotionales Moment mit in seine Begründung der Moralphilosophie aufnimmt, dieses aber der Betätigung reiner praktischer Vernunft systematisch nachordnet, auf diese gründet und es so als ein apriorisches denkt. Die praktische Selbstrechtfertigung des Sittengesetzes, wie ich sie nachzuzeichnen versucht habe, stimmt damit völlig zusammen, besagt sie doch lediglich, dass das moralische Gefühl – wohl nicht als Geltungsgrund, doch aber – als Erkenntnisgrund der Gültigkeit des Sittengesetztes fungiert. Man muss sich nur vor einer intellektualistisch allzu überspitzten Interpretation hüten. Wie Kant auch noch in der Religions-Schrift konstatiert: „das moralische, schlechthin gebietende Gesetz […], welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt“ (06:26, Anm.).Vor allem aber in seiner „Einleitung“ zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre streicht Kant heraus: „denn alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriff liegt, bewußt zu werden“ (06:399, Hervorhebungen S. Z.).⁶⁰ Und schließlich muss nicht irritieren, dass in der Komposition der Kritik das moralische Gefühl erst im „Dritten Hauptstück“ Thema ist, wohingegen das oberste Moralprinzip bereits den vorzüglichen Gegenstand des „Ersten Hauptstückes“ bildet. Denn dient Kant im „Ersten Hauptstück“ auch nach der gelungenen Exposition des Sittengesetzes anstelle einer Deduktion der Verweis auf den in praktischen Verhältnissen kundigen Alltagsverstand und das Erleben dessen, was Kant als „Factum der Vernunft“ auf den Begriff bringt, als zureichender, obgleich durch jeden Einzelnen selbst zu erbringender Beleg für die Verpflichtungswirksamkeit des Sittengesetzes, so ist es erst das „Dritte Hauptstück“, das die Beschreibung dessen vollendet, wie sich das Sittengesetz in der Perspektive der 1. Person Singular aufdrängt. Danach gehört zum Begründungsprogramm einer Moralphilosophie aus reiner praktischer Vernunft der Appell an das lebendige Zeugnis moralischen Fühlens, durch welches dem Akteur allererst die Forderung reiner praktischer Vernunft vernehmlich wird. Das aber heißt: Das moralische
Der Mensch „muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (06:403). Insgesamt sind Kants Bemerkungen unter dem Titel „ästhetische Vorbegriff der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“ in dieser Hinsicht recht eindeutig. Und bereits in einer Fußnote der Grundlegung heißt es: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung […]. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (04:401, Anm., Hervorhebung S. Z.).
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Gefühl ist selber essenzieller Bestandteil jenes Faktums der Vernunft. Es wurde gesagt, das Faktum meint eine Tat der Vernunft (da sie nämlich den Willen bestimmt), deren Dass sich uns in einer konkreten Handlungssituation von sich her unweigerlich zu erkennen gibt; der Empfindungszustand, den Kant unter dem Titel eines moralischen Gefühls erörtert, ist aber nichts anderes als eben das Wie, als die Art und Weise, wie sich das tätige Am-Werk-Sein der Vernunft offenbart und dem ‚Du sollst‘ Gehör verschafft. Es findet hier also genau genommen kein Rückschluss von einer Wirkung auf ihre etwaige Ursache statt, welcher jederzeit bloß problematisch bliebe. Dass sich an der Tat der Vernunft nicht rütteln lässt, hängt aufs Innigste mit der Empfindung eines Zwangs zusammen, der den Neigungen des Subjekts widerfährt und der sich nur schwerlich seinerseits wiederum auf ein sinnliches Interesse zurückführen lässt – was eindrücklich besonders solche existenziellen Situationen wie die der Galgenerzählung vor Augen führen sollen. Man kann mithin nicht von der Gewissheit des Sittlichen reden und dabei das moralische Gefühl aussparen. Kants Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen das Bewusstsein des moralischen Gesetzes möglich ist, kommt hier erst zu ihrem Ende.⁶¹ Gewiss hat Kants Faktum-Lehre die Kritik seiner Nachfolger auf sich gezogen. Beim Faktum, so polemisiert Hegel, handle es sich um „den letzten unverdauten Klotz im Magen“⁶². Und Schopenhauer hält Kant gar vor, er kapituliere nur vor der eigentlichen Aufgabe einer Ableitung sittlicher Imperative aus der Vernunft: Das Faktum sei eine „hyperphysische Tatsache“, ein „delphischer Tempel im Gemüt, aus dessen finsterem Heiligtum Orakelsprüche zwar leider nicht, was geschehen wird, aber doch was geschehen soll, untrüglich verkünden“⁶³. Die Unterstellung, Kant schlage dem Irrationalismus Tür und Tor weit auf, hat jedoch, wenn überhaupt, nur ein sehr eingeschränktes Recht. Hat Kant nicht vielleicht vielmehr die Bedingtheit aller Moralphilosophie gesehen, dass, wer das minimale Faktum sittlichen Sollens nicht anerkennt – unausgemacht was genau und wann und wie viel und wem gegenüber gesollt ist –, dass dem mit keinem theoretischen Handstreich, keiner Schlussfolgerung und keinem Beweis beizukommen ist, um ihm sein Unterworfensein unter moralische Gesetze doch anzudemonstrieren?
Was Kant das Faktum der Vernunft nennt, reiht sich demnach ein in die Liste dessen, was reinen Vernunftwesen fremd ist. So wenig wie sie über Maximen oder Triebfedern verfügen, welche ein Kennzeichen endlicher vernünftiger Wesen sind, so unbekannt ist ihnen jenes Vernunftfaktum. Ihnen drängt sich nichts auf, weil sie überhaupt keines sinnlich bedingten Wollens fähig sind, das gegebenenfalls in Opposition stehen kann zu ihrem gesetzlichen Wollen. Für Gott ist Sittlichkeit mithin nicht faktisch. Hegel (1971, S. 369). Schopenhauer (1877, S. 146 f.).
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Man möchte zwar kritisch nachfragen, ob nicht ein Unterschied besteht zwischen dem Bewusstsein der Gültigkeit des Sittengesetzes und der Rechtfertigung dieser Gültigkeit.⁶⁴ Doch die Pointe einer praktischen Selbstrechtfertigung des Moralprinzips scheint gerade darin zu bestehen, dass hier beides zusammenfällt. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft manifestiert sich selbst mitten im menschlichen Leben, oder seine objektive Realität lässt sich gar nicht dartun: Das Sittengesetz rechtfertigt sich letztlich selber, indem es uns zu Bewusstsein kommt.⁶⁵ Dieser begründungslogischen Unhintergehbarkeit hat die Theoriebildung Rechnung zu tragen. Die Beweiskraft einer derartigen Selbstrechtfertigung reiner praktischer Vernunft ist dabei gewiss von anderer Art als die einer syllogistischen oder transzendentalphilosophischen Deduktion. Mit welchem Sinn von Apriorität etwa Kant sagen zu können glaubt, dass wir uns des Faktums „a priori bewußt sind“ (05:47), bleibt eine weiterzuverfolgende Schwierigkeit. Ferner scheint die Bestätigung moralischen Verpflichtetseins, obwohl sie im Selbstbewusstsein des Einzelnen wurzelt, doch über den je Einzelnen hinauszugreifen; wahrscheinlich rechnet Kant mit einer Isomorphie reiner Vernunftsubjektivität über die Differenzen und Idiosynkrasien der empirischen Individuen hinweg, ohne dass er das noch einmal theoretisch einholt oder innerhalb seines reflexionsphilosophischen Ansatzes einholen könnte. Und doch lässt sich wohl nur mit demjenigen, dessen Sinn schon für die schiere Faktizität des Sittlichen als ein nicht aus Gründen geschlossenes oder sogar mit logisch-begrifflicher Notwendigkeit ausgewiesenes, aber gleichwohl hinreichend verlässliches Dass offen ist, über den Wasgehalt sowohl des obersten Moralprinzips als auch einzelner Pflichten streiten. Ja, nur der versteht überhaupt, wovon die Moralphilosophie da handelt.
Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe mit Band- und Seitenangabe zitiert. Allison, Henry E. (1995): Kant’s Theory of Freedom. Cambridge. Allison, Henry E. (2011): Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals. A Commentary. Oxford. Aristoteles (1894): Ethica Nicomachea. Hrsg. von Ingram Bywater. Oxford.
So Williams (1968, S. 103). Es ist eben das bloße „Bewußtsein des moralischen Gesetzes“, wie Kant erklärt, welches „ausweiset“, dass „reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist“ (05:121).
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Faktum statt Deduktion
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Bernhard Milz (Bochum)
Kants Deduktion des kategorischen Imperativs in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive Die Deduktion des kategorischen Imperativs im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ¹ ist von einer eigentümlichen Unklarheit und Undeutlichkeit. Sie löst sich nicht auf, wenn man den Text genauer liest, sondern verstärkt sich, je präziser die Begriffe sind, mit denen man die Argumentation Kants analysiert.Wenn etwas unklar und undeutlich ist, kann das mehrere Ursachen haben. Eine Argumentation kann so komplex sein, dass sie in ihren Implikationen dunkel und unüberschaubar bleibt. Sie kann aber auch inkonsistent sein, Unstimmiges und Widersprüchliches enthalten. Dann sind bestenfalls partielle Rekonstruktionen der Argumentation möglich, die weglassen, was nicht in den Rahmen passt, wobei je nach Interesse und Blickwinkel variiert, was aufgenommen und rekonstruiert wird und was als Ausschuss herausfällt. Die trotz jahrzehntelanger Kantforschung immer noch kontroversen Interpretationen der Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III scheinen, jedenfalls zu einem Teil, eine derartige Situation widerzuspiegeln: Versuche der Interpretation eines Textes mit einer inhomogenen Gemengelage von Motiven und Argumenten, die unzureichend durchschaut ist. Die Mittel, mit denen Kant in GMS III die Geltung des kategorischen Imperativs zu deduzieren sucht, sind das Ergebnis einer Entwicklung der kantischen Freiheitsbegriffe, die sich von den 1770er-Jahren bis zur Kritik der praktischen Vernunft erstreckt. Das genauere Nachzeichnen dieser Entwicklung ist in mehrfacher Hinsicht instruktiv. Es zeigt, wie Kant in seiner Ethik eine Weile mit verschiedenen Freiheitsbegriffen operierte, wie sich diese Begriffe signifikant abwandelten und sich ihr spannungsreiches Verhältnis verschob. Es lassen sich die besonderen Umstände rekonstruieren, die es Kant um 1784 plausibel erscheinen ließen, das Prinzip der Sittlichkeit lasse sich so deduzieren, wie er es in GMS III versucht hat. Schärfere Kontur gewinnt aber auch das argumentative Defizit, an dem dieser Versuch, gemessen an Kants eigenen Begründungsansprüchen, scheitert.
Im Folgenden abgekürzt GMS, wobei I, II und III sich auf die drei Abschnitte beziehen. Mit Ausnahme der Kritiken, bei denen ich der Originalpaginierung folge, zitiere ich Kants Werke nach der Akademie-Ausgabe.
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In einem Aufriss skizziere ich zunächst die entscheidenden Schritte der Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III und werde dann zu dem zentralen Element dieser Deduktion, dem Freiheitsbegriff, in Umrissen die wichtigsten Etappen der Entwicklungsgeschichte nachzeichnen.²
1. Die Deduktion in GMS III Der kategorische Imperativ ist ein synthetischer praktischer Satz a priori der reinen praktischen Vernunft und verlangt als solcher wie die synthetischen Urteile der theoretischen Vernunft eine Rechtfertigung (vgl. 04:420, 440, 447, 454). Synthetisch ist er nach Kant deshalb, weil der „durch sinnliche Begierden afficirte[.] Wille[.] […] mit der Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens“ verknüpft werden soll (04:454). Auffällig ist, dass die Relate der Verknüpfung, der sinnlich affizierte Wille und die Idee eines für sich praktischen Willens in der Verstandeswelt, in keiner der Formeln des kategorischen Imperativs auf der sprachlichen Oberfläche auftauchen – ein Indiz, dass die praktischen synthetischen Sätze a priori eine andere Struktur als die theoretischen synthetischen Sätze haben.³ Was ‚synthetisch‘ hier meint, bedarf einer eigenen Explikation und Erläuterung über das hinaus, was Kant selbst dazu sagt. Dieter Schönecker (1999, S. 105 – 107) schlägt, noch nahe am kantischen Wortlaut, vor: Der kategorische Imperativ ist synthetisch, weil in ihm eine unbedingte moralisch-praktische Norm der reinen Vernunft mit einem sinnlich affizierten Willen „verknüpft“ wird. Was aber kann hier ‚verknüpfen‘ heißen? Nimmt man den Begriff des Verknüpfens, wie er in der Kritik der reinen Vernunft eine Rolle spielt, führt man zwangsläufig neben den Relaten (dem sinnlich affizierten Willen und dem Vernunftgesetz) eine Ebene der Verknüpfung ein und provoziert die Frage, durch welche Synthesisform oder Kategorie die Relate miteinander verbunden werden sollen. Diese Frage geht aber merkwürdig ins Leere; sie unterstellt, hier würden zwei Dinge oder zwei Sachverhalte in einer Erkenntnis miteinander Eine detailliertere Analyse der kantischen Texte und die ausführlichere Diskussion der einschlägigen Interpretationsliteratur bleiben einer größeren Studie vorbehalten, die in Vorbereitung ist. In ersten Versuchen einer Deduktion der Geltung synthetischer praktischer Urteile a priori, wohl kurz nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft entworfen, schreibt Kant den moralischen Regeln in der Tat eine synthetische Funktion zu, die ganz analog zu den Kategorien der theoretischen Vernunft konzipiert ist; ein Entwurf dazu findet sich z. B. in der Reflexion 7202 (19:276 – 282). Die Entsprechung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie reichte um 1781 noch sehr viel weiter. Kant sah aber bald ein, dass die starken Parallelen nicht zu halten waren: Praktische Geltungsansprüche haben aufgrund ihrer Unbedingtheit eine andere Struktur.
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verknüpft. Wegen dieser Schwierigkeit scheint mir ein anderes Verständnis des synthetischen Charakters sinnvoller: In seinem genuin praktischen Sinne genommen, besagt das Synthetische nichts anderes, als dass das moralische Vernunftgesetz für den Willen Geltung hat. Behauptet wird, wenn man so will, die Existenz einer unbedingten Norm im Sinne der kategorischen Geltung dieser Norm für den sinnlich affizierten Willen. Für theoretische Sätze gilt nach Kant, „daß ein jeder Existenzialsatz synthetisch“ ist (A 598/B 626), weil die Existenz jedes Gegenstandes zu seinem Begriff hinzukommt. In einem analogen Sinn kommt auch zu den Formeln des moralischen Prinzips, wie sie mittels der analytischen Methode in GMS I und II gewonnen wurden, ihre Geltung synthetisch hinzu; sie ergibt sich nicht schon aus dem begrifflichen Gehalt dieser Formeln, gleich wie man ihn wendet. Das ist der Grund, warum das Apriorisch-Synthetische des kategorischen Imperativs nicht in der Verbindung irgendwelcher Begriffe liegt, die in seinen Formeln explizit vorkommen, sondern in der unbedingten Geltung ebendieser Formeln. Die Orientierung des Verständnisses von ‚synthetisch‘ nicht am Gebrauch in der Analytik der Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes, sondern am Gebrauch in der Kritik des ontologischen Gottesbeweises der reinen spekulativen Vernunft, passt gut zu dem Umstand, dass wir es beim kategorischen Imperativ mit einem synthetischen Satz der reinen praktischen Vernunft, der Instanz unbedingter Geltung, zu tun haben. Auch der Kontrast kann besser hervortreten. Was der reinen theoretischen Vernunft versagt blieb: die Unbedingtheit ihrer Erkenntnisse, konzediert Kant der reinen praktischen Vernunft: die absolute Geltung ihres Prinzips.⁴ Dieser praktische Geltungsanspruch erfordert eine Rechtfertigung, und sie will Kant in Form einer Deduktion liefern, wie bei der Begründung der Geltung der synthetischen Sätze a priori in der Kritik der reinen Vernunft. Die Parallele reicht noch weiter: Wie in der ersten Kritik ist auch hier ein Drittes notwendig, das die Verknüpfung enthält; und dieses Dritte schafft, so Kant, der Begriff der Freiheit. Zwischen der Freiheit und dem Prinzip der Sittlichkeit besteht für Kant ein analytischer Zusammenhang: Wenn ich die Freiheit des Willens voraussetzen könnte, so wäre mit der Freiheit auch die Sittlichkeit samt der Gültigkeit ihres
Schönecker (2006, S. 306, Anm. 7) resignierte und meinte, „Kant’s repeated claim that the categorical imperative is a synthetic proposition […], strictly speaking, […] does not make sense“. Wie gezeigt, gibt es sehr wohl eine Interpretation des synthetischen Urteils, die es erlaubt, „Kant’s repeated claim“ einzulösen. Sie macht sogar einen überraschend guten Sinn und lässt sich stimmig in Kants Philosophie vernetzen; sie bewährt sich auch unter den Bedingungen der Lehre vom Faktum des sittlichen Bewusstseins. Das ist freilich kein Beweis, dass Kant selbst diese Zusammenhänge vor Augen gehabt und sich von ihnen leiten lassen hat. Seine eigenen Erläuterungen bleiben in der Tat unbefriedigend.
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Prinzips gegeben. Eine Deduktion der Geltung wäre demnach möglich, wenn man zeigen könnte, dass der menschliche Wille frei ist oder wir zumindest die Freiheit des Willens annehmen müssen. Die Freiheit würde dann nicht nur jenes Dritte schaffen, das für die synthetische Verbindung benötigt wird, sondern sie selbst leistete schon jene Verbindung zwischen dem Willen und dem sittlichen Prinzip, sofern „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ ist (04:447). Ganz in diesem Sinne argumentiert Kant zunächst dafür, dass die Freiheit „zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt“ gehört. Aus der bewiesenen oder notwendig anzunehmenden Freiheit als „Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen“ (04:447 f.) soll dann gemäß der analytischen Implikation die Gültigkeit des Sittengesetzes als „nothwendige Folge“ hergeleitet werden (so noch im Resümee 04:461). Als vernünftige Wesen handeln wir, so Kant, notwendig „unter der Idee der Freiheit“ (04:448). Die Idee der Freiheit fungiert hier, so könnte man sagen, als ‚quasi-transzendentale‘ Bedingung unseres Handelns. Was genau die Voraussetzung der Freiheit notwendig macht, sagt Kant nicht; er bleibt hier auffallend undeutlich. Sicher ist aber, dass er nicht (nur) die Freiheit in moralisch-praktischen Handlungen im Auge hat, sondern das Handeln überhaupt vernünftiger Wesen, vor der Differenzierung von technisch-praktischen, pragmatischen und moralisch-praktischen Handlungen. Kant bezieht sogar die Freiheit des Denkens und Urteilens mit ein und verweist auf die Vernunft als „Urheberin ihrer Principien“, die unabhängig ist, sofern sie keine „Lenkung“ ihrer Urteile „anderwärts her“ (04:448) duldet. Er erinnert an die „reine Selbstthätigkeit“ des Verstandes und insbesondere der Vernunft, die „unter dem Namen der Ideen eine […] reine Spontaneität“ zeigt (04:452). Kant beruft sich also auf einen sehr weiten Freiheitsbegriff, der auf alle Formen von Spontaneität im Praktischen wie im Theoretischen anwendbar ist. Bemerkenswert ist auch die Zurückhaltung und Vorsicht Kants, Freiheit nur insofern anzunehmen, als sie „von den vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt“ wird (04:448, Anm.*, Hervorhebung im Original). Diese Beschränkung soll ihn von der Verpflichtung entbinden, Freiheit, „deren objective Realität an sich zweifelhaft ist“ (04:455), theoretisch zu beweisen; sie befreit „von der Last, die die Theorie drückt“ (04:448, Anm.*). Dennoch soll aus dem Handeln bloß „unter der Idee der Freiheit“ (04:448) dieselbe Verbindlichkeit folgen wie aus der theoretisch gültigen Erkenntnis ihrer Realität. Wenn nun erstens aus der Voraussetzung der Freiheit des Willens „die Sittlichkeit sammt ihrem Princip“ (04:447) folgt, wenn zweitens wir als vernünftige Wesen nicht anders als unter der Idee der Freiheit unseres Willens handeln können, wir also unsere Freiheit „in der Idee“ notwendig voraussetzen, und wenn
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drittens bereits die schwächere Bedingung, dass wir notwendig „unter der Idee der Freiheit“ handeln, für die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes ausreicht, dann müsste die Deduktion schon am Ziel sein. Wenn man alle Prämissen akzeptiert – und das tut Kant hier –, ist die Geltung des Sittengesetzes hergeleitet. Kant selbst sieht sich aber keineswegs schon am Ziel. Das bislang skizzierte Argument bildet nur den Auftakt zur Deduktion. Was aber kann fehlen? Begründet werden soll die sittliche Verbindlichkeit, wie sie der kategorische Imperativ aussagt. Ohne schon auf den Fortgang der Deduktion in GMS III zu blicken, könnte man zu bedenken geben, dass es grundsätzlich ein Problem ist, wie aus einem analytisch-deskriptiven Satz ein normativer abgeleitet werden kann. Wie soll aus der Feststellung oder Voraussetzung, dass wir frei sind, eine normative Geltung folgen? Ein analytischer Zusammenhang leistet diesen Übergang nicht, gleichgültig, ob die normative Geltung die Gestalt eines Gesetzes oder eines Imperativs hat. Es ist nicht nur das spezifisch Imperativische, was auf diese Weise nicht ‚folgt‘, sondern moralisch-normative Geltung überhaupt. Das Problem besteht schon bei einem heiligen Willen, der aufgrund seiner Natur stets nach dem moralischen Gesetz handelt und auf den offensichtlich die These ‚ein Wille, sofern er frei ist, handelt gemäß dem Prinzip der Sittlichkeit als dem Gesetz seiner Kausalität‘ anwendbar ist. Dieser Satz unterscheidet sich nicht von einem physikalischen Satz wie ‚Masse wirkt gemäß dem Gravitationsgesetz‘: Wenn ich weiß, dass etwas eine Masse hat oder ist, dann weiß ich, dass es eine Wirkung auf andere Massen gemäß dem Gravitationsgesetz ausübt; und wenn ich weiß, dass etwas einen freien Willen besitzt, dann weiß ich, dass es, sofern es frei handelt, nach dem moralischen Gesetz handelt. In beiden Schlüssen wird keinerlei normativer Sinn begründet; die Aussagen bleiben rein deskriptiv. Ich kann nach der Analytizitätsthese nur auf die Wirklichkeit des Sittengesetzes als Bestimmungsgrund schließen; eine praktische Geltung ließe sich aus der Beschreibung des „modus operandi“ (Allison 2011, S. 276, 279) eines freien Willens nur um den Preis eines „naturalistischen Fehlschlusses“ deduzieren. Nach Kant sind aber auch die Handlungen nach dem moralischen Gesetz für einen Willen, der durch das Gesetz „unausbleiblich bestimmt“ wird, nicht nur „subjectiv nothwendig“, sondern sie werden auch als „objectiv nothwendig“ oder „praktisch nothwendig, d. i. als gut“ erkannt (04:412). Sonst würde sich die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes nicht von der mechanischen Notwendigkeit einer Naturursache unterscheiden. Wenn ein heiliger Wille stets nach dem moralischen Gesetz handelt, dann erfüllt er zugleich eine Norm: die eines unbedingt guten Willens. Dann ist etwas nicht nur so, wie es seiner Natur nach ist, sondern es soll auch unbedingt so sein, wie es ist. Es enthält die Doppelung: Es ist gut so, wie es ist und handelt. Synthetisch ist daher nicht erst der kategorische Imperativ, sondern schon der Satz, der die normative Geltung des moralischen Gesetzes für einen „zur Verstandeswelt gehörigen reinen
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[…] Willen[.]“ (04:454) annimmt oder behauptet⁵, auch wenn der normative Sinn verdeckt und im Ideal eines reinen Willens in der intelligiblen Welt nur dunkel mitgedacht ist.⁶ Das normative Moment in dieser (synthetischen) Einheit von
Wenn Schönecker (1999, S. 403) schreibt: „Wenn die Freiheit des Willens eines rein vernünftigen Wesens vorausgesetzt oder auch der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens bloß in seiner Freiheit und Vernünftigkeit betrachtet wird, folgt daraus das Prinzip der Sittlichkeit als deskriptiv-analytischer Satz“, dann ist zu präzisieren: Analytisch folgt nur, dass ein rein vernünftiges Wesen nach dem Prinzip der Sittlichkeit handelt, ebenso wie ein sinnlich-vernünftiger Wille, wenn er nur als ein freier und vernünftiger Wille betrachtet wird. In keinem Fall folgt eine praktisch-normative Geltung des Prinzips der Sittlichkeit. Auch Allison (2011, S. 274, vgl. 279) reklamiert, dass das moralische Gesetz ein synthetischer Satz a priori sei und es als „a descriptive practical principle can be normative for Kant“ (Allison 2011, S. 300). Er beschränkt die Synthetizität aber nicht auf die Geltung des moralischen Gesetzes, sondern bezieht sie auch auf die Formel des Gesetzes. Ausdruck des moralischen Gesetzes ist für ihn der Satz 04:447.10 – 12: „Ein schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann“ (Allison 2011, S. 281 f.). Allison übernimmt Kants These, dass dieser Satz synthetisch sei, und verteidigt sie gegen Kritik (Allison 2011, S. 279 – 282): Aus dem Begriff eines absolut guten Willens lasse sich nicht ableiten, dass seine Maximen notwendig die Eigenschaft haben, sich selbst zu enthalten, wenn sie als allgemeine Gesetze betrachtet werden (Allison 2011, S. 282). Für das moralische Gesetz in dieser Form habe Kant eine eigene Deduktion für notwendig gehalten und sie in GMS III auch geliefert (Allison 2011, S. 274, 276, 279, 283, 329 f.). Der fragliche Satz enthält aber nur die elementare Begriffserläuterung, was Kant unter einem schlechterdings guten Willen versteht, ganz im Sinne der vorangehenden Analyse des guten Willens und seines Prinzips der Autonomie, von dem Kant versichert, dass es „sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun“ lässt (04:440.28 – 30). Die Aussage lässt sich so paraphrasieren: Ein Wille, sofern er schlechterdings gut ist, ist ein Wille, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann; oder in prädikatenlogischer Notation: (x) (Wx → (Gx → Ax)), mit W = ist ein Wille, G = ist schlechterdings gut, A = ist ein Wille, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann. Diese Definition des schlechterdings guten Willens ist sowohl auf einen heiligen wie auf einen sinnlich affizierten Willen anwendbar. In keinem Fall resultiert eine synthetische Erweiterung, die über die analytische Erläuterung des Prädikats „schlechterdings gut“ in GMS I und II hinausginge. Insbesondere behauptet der Satz in 04:447.10 – 12, für sich genommen, keinerlei sittliche Normativität, weder für einen heiligen noch für einen unvollkommenen Willen. Man kann den Satz allenfalls als eine Formel des moralischen Gesetzes betrachten, die noch nichts synthetisch über seine Geltung besagt. Auch der Bezug auf den unvollkommenen menschlichen Willen macht den Satz nicht, wie Schönecker (1999, S. 166 – 171; 2006, S. 306 f.) will, zu einem synthetischen Satz. Schönecker (1999, S. 168) paraphrasiert Kants Satz so: „Der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens ist nur dann gut, wenn seine Maxime universalisierbar ist“. Auch dieser Satz besagt nur, dass, sofern der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens schlechterdings gut ist, seine Maxime universalisierbar ist. Er behauptet keine sittliche Geltung, sondern charakterisiert nur den guten Willen eines sinnlich-vernünftigen Wesens. Allenfalls lässt sich der hypothetische Imperativ ableiten: Wenn der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens gut sein will, muss seine
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Realität und Idealität ist aber für sich zu erläutern und zu begründen. Diese Begründung ist im Rahmen einer Deduktion umso wichtiger, als reine Vernunft bei Kant die einzige Quelle unbedingter Geltung ist.Wenn es eine unbedingte sittliche Verbindlichkeit oder Normativität gibt, gleich in welcher Form, hat sie ihren hinreichenden Grund in einem an sich gültigen Prinzip der reinen praktischen Vernunft.⁷
Maxime universalisierbar sein, aber nicht, dass er gut sein soll. Schönecker betrachtet seine Paraphrase aber keineswegs nur als eine mögliche Anwendung des Satzes in 04:447.10 – 12, sondern als die einzig sinnvolle Interpretation des kantischen Satzes, wie seine Begründung dafür zeigt, dass dieser Satz synthetisch ist: „Denn bloß durch Zergliederung des Begriffs des Willens eines sinnlich-vernünftigen Wesens kann die Eigenschaft seiner Maximen, universalisierbar zu sein, nicht gefunden werden“ (Schönecker 1999, S. 168). Schönecker fasst offensichtlich den Bezug auf den sinnlich affizierten Willen so exklusiv, dass er umstandslos dort, wo Kant von der „Zergliederung des Begriffs von einem schlechthin guten Willen“ spricht (04:447.12 f.), „Zergliederung des Begriffs des Willens eines sinnlich-vernünftigen Wesens“ einsetzt und die vermittelnde Qualifikation ‚schlechthin guter Wille‘ schlicht weglässt. Ohne diese Qualifikation schließt der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens natürlich nicht mehr analytisch die Universalisierbarkeit seiner Maximen ein. „Ein durch sinnliche Begierden affizierter Wille“ und „ein schlechthin guter Wille“ sind sicherlich keine konträren Prädikate (Schönecker 1999, S. 169). Aber sie sind auch nicht identisch; man kann das eine Prädikat nicht durch das andere substituieren, ohne dass eine andere Aussage resultiert. Indem Schönecker den sinnlich affizierten Willen als solchen, d. h. ohne die Qualifizierung als ‚schlechthin gut‘, mit der Universalisierbarkeit seiner Maximen konfrontiert, macht er unter der Hand aus einer analytischen Implikation eine moralische Forderung an diesen Willen, die nach Kant in der Tat eine synthetische Verknüpfung beider impliziert (vgl. 04:440, 444 f.). Nur wenn man unterstellt, dass auch Kant bei dem fraglichen Satz irgendwie die normative Geltung mit im Blick gehabt hat, lässt sich begründen, dass der Satz synthetisch ist. So aber, wie er dasteht, gibt der Satz diesen synthetischen Sinn nicht her. Es bleibt der Eindruck zahlreicher Kantinterpreten, dass in 04:447.8 – 14 etwas verunglückt sein muss (siehe dazu den Literaturüberblick bei Schönecker 1999, S. 168 – 171). Indiz dafür ist auch, dass der Gegenstand der Deduktion in GMS III nicht, wie Kant hier insinuiert, der Satz ist, dass ein schlechterdings guter Wille ein Wille ist, „dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann“ (04:447). Was tatsächlich bei Kant noch einer synthetischen Vermittlung in Form einer Deduktion bedarf, ist die Anwendung des analytischen (!) Zusammenhangs des freien (nicht des guten) Willens und des Prinzips der Sittlichkeit auf den menschlichen Willen, nicht der Zusammenhang des guten Willens und der Universalisierbarkeit seiner Maximen. Moralische Geltung nimmt zwar unter der Bedingung eines sinnlich-vernünftigen Willens die Gestalt eines Imperativs an; diese Bedingung ist aber nicht konstitutiv für die moralische Geltung. Diese wird nicht erst in der Verbindung der Idee eines reinen praktischen Willens mit dem sinnlich affizierten Willen generiert, wie Schönecker meint: Es sei genau „das Verhältnis des reinen zum sinnlich affizierten Willen, das den synthetischen Charakter des kategorischen Imperativs ausmacht“ und „der Gültigkeit des kategorischen Imperativs zugrundeliegt“ (Schönecker 1999, S. 361, Hervorhebungen im Original); erst der kategorische Imperativ, der für sinnlichvernünftige Wesen mit einem Sollen verbunden ist, sei ein synthetischer Satz, im Unterschied
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A fortiori stellt sich das Problem der Geltung bei einem sinnlich affizierten Willen eines endlichen vernünftigen Wesens, das nicht aufgrund seiner Natur stets moralisch handelt. Gelten soll für diesen Willen das Gesetz der Sittlichkeit auch dann, wenn es faktisch nicht sein Bestimmungsgrund ist, wenn also der Wille im Sinne der Analytizitätsthese gar nicht frei ist und die sittliche Verbindlichkeit einen kontrafaktischen Sinn erhält. Kant wendet auf den sinnlich affizierten Willen auch nicht die Analytizitätsthese⁸ an, sondern eine These, die einen komplexeren Zusammenhang behauptet: Für einen Willen, der notwendig unter der Idee der Freiheit handelt und sich insofern als frei ansieht, „gelten […] alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind“ (04:448). Mag die These ‚ein freier Wille handelt gemäß dem Prinzip der Sittlichkeit‘ noch ein analytischer Satz sein⁹, der Übergang von einem kognitiven Akt, dem ‚Ansehen als
zum moralischen Gesetz als bloß analytischem Satz (Schönecker 2012, S. 113). Dem liegt anscheinend die Annahme zugrunde, das Synthetische, das in der Gültigkeit des sittlichen Prinzips liegt, resultiere aus der (synthetischen) Verknüpfung der Idee eines reinen Willens in der Verstandeswelt mit dem sinnlich affizierten Willen. Für einen unbedingten kategorischen Imperativ ist aber bereits eine unbeschränkte Geltung des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft erforderlich, unabhängig von der Form, die es unter konkreten Bedingungen annimmt. Sonst hätte der kategorische Imperativ nur eine bedingte Geltung, wie sie die apriorischen Prinzipien der Erkenntnis bei Kant besitzen: Die Kategorien und Grundsätze der Erkenntnis stammen zwar aus dem reinen Verstand; aber Geltung haben sie nicht aus reinem Verstand oder reiner Vernunft, sondern nur in Beziehung auf die empirische Welt als transzendentale Bedingungen der Ermöglichung der Erfahrung; darin liegt ja zugleich die Restriktion ihres Geltungsbereiches. Im Rahmen früherer Deduktionsversuche hatte Kant mit der Absicht gespielt, auch unsere sittliche Einsicht auf das „wahre Gut nur in dieser Welt“ zu beschränken (Refl. Nr. 6883, 19:191), diesen Gedanken aber rasch verworfen. Im Praktischen fehlen konstitutive Bedingungen der Sinnlichkeit, die neben der Vernunft eigenständige Quellen der Geltung synthetischer Prinzipien a priori sein könnten, wie es die apriorischen Anschauungsformen und die (mittels der produktiven Einbildungskraft) schematisierten Verstandesbegriffe in Kants Erkenntnislehre sind. Das einzig geltungsrelevante Sinnliche in Kants Moralphilosophie, die Achtung fürs moralische Gesetz, ist ein unmittelbar von der Vernunft gewirktes Gefühl, das in der Sphäre der Sinnlichkeit die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes repräsentiert, die allein in der reinen praktischen Vernunft ihren zureichenden Grund hat. Würde das sinnlich-vernünftige Wesen nicht schon als ‚Intelligenz‘ mit seinem gedachten reinen Willen unter dem normativ gültigen Gesetz der Verstandeswelt stehen (vgl. 04:453 f.), wäre nicht zu sehen, woher sonst die absolute Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs für den sinnlich affizierten Willen kommen könnte. Dass der Wille durch sinnliche Begierden affiziert ist, bedingt zwar, dass er die moralische Geltung als ein Sollen erfährt, aber das begründet in keiner Weise die unbedingte moralische Geltung, die in diesem Sollen liegt. Von ihr macht Kant Gebrauch nur bei einem heiligen Willen und beim menschlichen Willen, sofern er als reiner Wille in der Verstandeswelt gedacht wird, vgl. bes. 04:453 – 455. Der Satz „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei“ (04:447) beschreibt nur dann, wie Kant reklamiert, ein analytisches Verhältnis, wenn ein Wille unter
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frei‘, zu einer moralisch-präskriptiven Geltung ist sicherlich nicht mehr analytisch. Dieser Übergang provoziert zwei Fragen: Aus welchem Grund und in welchem Sinn von Freiheit muss sich der sinnlich affizierte Wille als frei ansehen? Und wie ist der Übergang von dem ‚Ansehen als frei‘ zu einer moralisch-normativen Geltung zu begründen, die auch dann besteht, wenn der Wille nicht moralisch handelt? Es ist ja diese der Möglichkeit nach kontrafaktische Geltung des kategorischen Imperativs für den sinnlich affizierten Willen, die Kant in GMS III explizieren und begründen will. Es waren nicht Bedenken in dieser grundsätzlichen Form, die Kant daran hinderten zu glauben, so einfach sei die Deduktion der sittlichen Verbindlichkeit zu haben. Sonst hätte er schon hier einhalten und sein Deduktionsvorhaben gründlich überdenken müssen. Aber das Ungenügen, das Kant mehr oder weniger deutlich empfand, betrifft auch den praktisch-normativen Charakter des moralischen Gesetzes. Jedenfalls hält er die Frage „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen?“ (04:449) durch die bisherige Argumentation noch nicht für hinreichend beantwortet. Die Frage nach der normativen Geltung des Sittenprinzips stellt sich für Kant hier offensichtlich ganz allgemein im Hinblick auf alle vernünftigen Wesen, nicht erst auf den sinnlich affizierten Menschen. Und ihn beschäftigt merkwürdigerweise auch der Verdacht, dass die Voraussetzung der Idee der Freiheit nicht wirklich begründet sei und wir „vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde
sittlichen Gesetzen nicht bloß ein Wille unter dem Anspruch sittlicher Gesetze ist, der auch anders handeln kann, wie Steigleder (2006, bes. S. 237, 242 f., 245) behauptet, sondern ein Wille, der notwendig nach sittlichen Gesetzen handelt. Schönecker (1999, S. 162 f.) hat zu Recht geltend gemacht, dass dieser Sinn von „Wille unter sittlichen Gesetzen“ durch den kantischen Sprachgebrauch gedeckt ist (auch wenn Kant gelegentlich zwischen dem Menschen ‚unter moralischen Gesetzen‘ und ‚nach moralischen Gesetzen‘ unterscheidet, vgl. z. B. Kritik der Urteilskraft B 421 f., Anm.*). Nach Kants Verständnis begrifflicher Analytizität und Synthetizität enthält der Begriff eines freien Willens, der sowohl durch sittliche wie durch nicht-sittliche Gründe, die sich gegenseitig ausschließen, bestimmt werden kann, die sittlichen Gesetze nicht analytisch, ebenso wie der allgemeine Begriff des Dreiecks, das sowohl rechtwinklig wie nichtrechtwinklig sein kann, nicht analytisch die Rechtwinkligkeit enthält. Was es heißt und wie es begründet werden kann, dass ein sinnlich affizierter Wille, der auch anders als sittlich handeln kann, unter sittlichen Gesetzen steht, ist gerade die schwierige Aufgabe der Deduktion des kategorischen Imperativs. Wer Kants Analytizitätsthese wie Steigleder liest im Sinne von ‚ein freier Wille und ein Wille, der unter dem Anspruch sittlicher Gesetze steht, ist einerlei‘, hat natürlich leichtes Spiel. Aber er verkennt die doppelte Vermittlung, die Kant zu leisten hat, wenn eine seriöse Deduktion gelingen soll: den Übergang von einem analytischen zu einem synthetischen Satz a priori und den Übergang von einem deskriptiven Satz zu einem moralischnormativen.
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legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen“ (vgl. 04:453), dass wir also für die Voraussetzung der Freiheit keinen anderen Grund hätten als die Absicht, daraus auf die Geltung des moralischen Gesetzes zu schließen. Diesen Verdacht will er mittels der Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt entkräften. Durch die Freiheit, wie sie sich in der Spontaneität seines Vernunftvermögens zeigt, gehört der Mensch zur intelligiblen Welt. Durch das „Bewusstsein seiner selbst als Intelligenz“ (04:457) versetzt er sich in den „Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt“ (04:455), wo er sein „eigentliche[s] Selbst“ (04:457) hat, das nicht nur wie das sinnliche Ich leidend und rezeptiv, sondern aus sich selbst tätig ist. Als Mitglied dieser Welt gehen ihn die moralischen „Gesetze unmittelbar und kategorisch“ (vgl. 04:457 f.) an. Mit der Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt ist ein ontologisches Gefälle verbunden: Die Verstandeswelt enthält den Grund der Sinnenwelt, die als bloße Erscheinung „nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet“ ist (04:461). Die metaphysische Priorität der Verstandeswelt steht hier unvermittelt auch für ein praktisch-normatives Prioritätsverhältnis: Dem moralischen Gesetz der Verstandeswelt ist der Mensch als sinnlich affiziertes Wesen unterworfen. Das soll erklären, warum wir als sinnlich-vernünftige Wesen das moralische Gesetz unserer praktischen Vernunft als Nötigung durch einen kategorischen Imperativ erfahren (vgl. 04:453 f.). In dieser Argumentation ist die Freiheit nicht selbst das Dritte, sondern sie ‚schafft‘ es erst, indem sie uns in die Verstandeswelt, den normativen Grund der Sinnenwelt, versetzt. Nun betont der kritische Kant selbst, der unserer Erkenntnis so scharfe Grenzen gezogen hat, dass unsere Vernunft sich in eine Verstandeswelt nur hineindenken, aber nicht „hineinschauen, hineinempfinden“ (04:458, Hervorhebung im Original) kann. Von der intelligiblen Welt haben wir „nicht die mindeste Kenntniß“ (04:462, vgl. 451); sie ist „nur ein negativer Gedanke“ (04:458), durch den wir die Sinnenwelt als eingeschränkt denken. Wenn die Verstandeswelt jenes vermittelnde Dritte ist, das der positive Begriff der Freiheit schafft, dann haben wir von diesem Dritten keinerlei Anschauung, die unsere Begriffe erweitern könnte, wie das bei den synthetischen Urteilen a priori der theoretischen Vernunft der Fall ist. Im Begriff der Verstandeswelt können wir nicht mehr denken als das, was im Freiheitsbegriff liegt,von dem die Deduktion ihren Ausgang nimmt. Der Begriff der Verstandeswelt kann nicht gehaltvoller sein als die Idee der Freiheit, die wir als Leiter für den Aufstieg benutzen und die uns zu Gliedern „einer intelligibelen Welt“ macht (04:454). Wir sind wieder auf die Freiheit zurückverwiesen, die wir nach Kant in unserem Urteilen und Handeln „in der Idee“ voraussetzen. Und hier ist die entscheidende Frage: Impliziert allgemein unser Handeln und Urteilen als Vernunftwesen (als Intelligenzen) die Voraussetzung eines hinrei-
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chend starken Begriffs der Freiheit, der „die Sittlichkeit sammt ihrem Princip“ (04:447) impliziert? Genau dies bestreitet Kant später mit Nachdruck, und genau dies unterstellt er in GMS III. Das erste ist der Grund, warum die Deduktion des kategorischen Imperativs nach Kants eigenem Urteil scheitern muss. Das zweite ist das, was es aufzuklären gilt. Neben dem Übergang von einem analytisch-deskriptiven zu einem synthetisch-normativen Satz zeigt sich eine zweite kritische Stelle der Deduktion, die Kant selbst durch seine späteren Äußerungen markiert. Wie aber konnte es dazu kommen, dass Kant in GMS III etwas in Anspruch nimmt, was er später vehement als völlig verfehlt zurückweist?
2. Praktische und transzendentale Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft Versetzen wir uns drei Jahre zurück, in das Jahr 1781. Aufmerksameren Lesern war es immer schon aufgefallen, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft unterschiedliche Auskünfte zur Freiheit gibt, die nicht zur Deckung zu bringen sind. In der „Dialektik“ erklärt er die transzendentale Freiheit zur notwendigen Bedingung aller praktischen Freiheit: Man sehe leicht, dass „die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“ würde (A 533 f./B 561 f.). Unter „Freiheit im praktischen Verstande“ versteht Kant hier „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“. Dieses psychologische Vermögen charakterisiert er als ein „arbitrium sensitivum […] liberum“, eine Willkür, die zwar „(durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert“ ist, aber nicht durch sie „necessitiert“ wird (A 534/B 562, Hervorhebung B. M.). Transzendentale Freiheit bedeutet dagegen das Vermögen einer absoluten Spontaneität, eine Handlung unabhängig von jeglicher fremden Determination „ganz von selbst anzufangen“. Wenn wir kontrafaktisch urteilen, etwas „habe geschehen sollen“, obwohl es „nicht geschehen ist“, dann setzen wir, so Kant, eine solche Freiheit im transzendentalen Sinne voraus (A 534/B 562, Hervorhebungen im Original): Nur wenn eine Handlung ihren Anfang im Handelnden selbst nimmt, kann sie ihm als seine Tat nach Schuld oder Verdienst moralisch zugerechnet werden (vgl. A 448/B 476). Kant denkt hier aber nicht nur an das moralische Sollen. Wenn er sagt, die transzendentale Freiheit sei Bedingung aller praktischen Freiheit, dann ist darin auch das Handeln nach hypothetischen Imperativen der Geschicklichkeit und Klugheit mit eingeschlossen. Henry Allison (1982, S. 286; 1986, S. 103) hat darauf zu Recht hingewiesen.
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Der „Kanon“ ist in der Kritik der reinen Vernunft der systematische Ort, an dem Kant vom legitimen Gebrauch der Vernunftideen in der Moral handelt, nachdem er ihren Gebrauch in der theoretischen Philosophie kritisiert und zurückgewiesen hatte (vgl. A 796 f./B 824 f.). Man würde erwarten, dass Kant im „Kanon“ auch vom richtigen Gebrauch der Idee der transzendentalen Freiheit handelt. Immerhin hatte er sie in der „Dialektik“ als einen der „Grundsteine der Moral“ (A 466/B 494) und als notwendige Bedingung aller praktischen Freiheit bezeichnet. Aber es folgt ein bemerkenswerter Bruch: Das Praktische bestimmt Kant zwar auch hier als dasjenige, „was durch Freiheit möglich ist“ (A 800/B 828,vgl. A 314/B 371). Aber er kündigt an, dass er sich „vorjetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstande bedienen werde, und den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem für die Vernunft ist, hier, als oben abgetan, bei Seite setze“ (A 801 f./B 829 f.). Man könnte vermuten, Kant erinnere nur an frühere Klärungen, die er hier voraussetze. Aber im Folgenden hat es der „Kanon“ ausdrücklich nur noch „mit zwei Fragen zu tun, die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen“: „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (A 803/B 831, Hervorhebung B. M.).¹⁰ Die Idee der transzendentalen Freiheit wird aus dem „Kanon der reinen Vernunft“ ausgeschlossen. Zu ihr heißt es jetzt unvermittelt, sie bleibe wegen ihres scheinbaren Widerspruchs mit dem Naturgesetz „ein Problem“; aber sie gehe „uns im Praktischen“ auch gar „nichts an“. Man könne sie „als ganz gleichgültig bei Seite setzen […], wenn es um das Praktische zu tun ist“. Sie betreffe „bloß das spekulative Wissen“, und was das angehe, sei alles Erforderliche schon „in der Antinomie der reinen Vernunft […] zu finden“ (A 803 f./ B 831 f.). Im „Kanon der reinen Vernunft“, der eigentlich vom rechten, nämlich dem praktischen Gebrauch der Vernunftideen handelt, begnügt Kant sich mit dem Begriff der „praktischen Freiheit“, den er deutlich von der transzendentalen Freiheit abgrenzt. Praktische Freiheit ist hier wie in der „Dialektik“ das Vermögen des „arbitrium liberum“, sich „unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“, zu bestimmen, also nicht determiniert durch die momentane Bedürfnislage und die aktuelle Reizsituation zu handeln, sondern motiviert durch Überlegungen „von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d. i. gut und nützlich ist“ (A 802/B 830). Die praktische Freiheit ist keine Idee der reinen Ver-
Vgl. auch schon A 741 f./B 769 f., wo Kant nur von den „zwei Kardinalsätze[n] unserer reinen Vernunft“ spricht: „es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“.
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nunft, sondern ein Begriff der empirischen Psychologie und kann anders als die transzendentale Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden“ (A 802/B 830).¹¹ Die Spannung innerhalb der Kritik der reinen Vernunft könnte also größer kaum sein: In der „Dialektik“ reklamiert Kant die Vernunftidee der transzendentalen Freiheit als Voraussetzung für alle Imperative, auch der hypothetischen. Im „Kanon der reinen Vernunft“ erklärt er dagegen den psychologisch-empirischen Begriff für völlig ausreichend für alle Imperative, ausdrücklich auch für den kategorischen der Moral, und verzichtet auf den Gebrauch der Idee der transzendentalen Freiheit. Eine Rolle für die praktische Philosophie spielen hier nur die Ideen der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes. Die Unstimmigkeit in einem so bedeutenden Werk wie der Kritik der reinen Vernunft hat natürlich beunruhigt. Mit verschiedenen Strategien hat man versucht, das Ärgernis zu beseitigen. Man hat z. B. bestritten, dass es überhaupt ein Problem der sachlichen Vereinbarkeit der Aussagen Kants gebe. Kant klammere im „Kanon“, so Lewis White Beck, einfach nur die Frage nach der transzendentalen Freiheit als rein theoretisches Problem aus,wie er es auch noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten tue (Beck 1960, S. 190, Anm. 40). Marcus Willaschek meint, es gebe in der Sache keinen Widerspruch (Willaschek 1992, S. 99), weil die „scheinbar widersprüchliche[n] Äußerungen“ sich „als Ausdruck zweier unter-
Die Begriffe praktischer Freiheit im „Kanon“ und in der „Dialektik“ sind nicht „grundverschieden“, wie Schönecker (2005, S. 79) meint. Nach Schönecker ist in der „Dialektik“ die praktische Freiheit „eine ‚Idee‘, die nicht ‚durch Erfahrung beweisbar‘ ist. Genau dies (daß sie ‚durch Erfahrung beweisbar‘) und daß sie eine von den ‚Naturursachen‘ ist, wird aber im Kanon von der praktischen Freiheit behauptet“ (Schönecker 2005, S. 168 f.). Tatsächlich verwendet Kant in beiden Fällen denselben Begriff der praktischen Freiheit. In der „Dialektik“ wie im „Kanon“ definiert er „Freiheit im praktischen Verstande“ als Unabhängigkeit der Willkür von der Determination (Nötigung) durch sinnliche Antriebe (vgl. A 534/B 562 und A 802/B 830). In der „Dialektik“ charakterisiert Kant sie sogar ausdrücklich als „arbitrium sensitivum […] liberum“; sie ist also auch hier keine Idee, sondern wie im „Kanon“ ein sinnliches Vermögen in der Erfahrungswelt: Es wird „(durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert“, aber nicht durch sie „necessitiert“ (A 534/B 562, Hervorhebung B. M.). Auch von der anderen Seite her gelingt keine Abgrenzung: Dass die praktische Freiheit „eine von den Naturursachen“ (A 803/B 831) ist, impliziert für Kant nicht, dass sie allein durch Naturkausalität bestimmbar ist und transzendentale Freiheit ausschließt; sie bedeutet nicht eo ipso Unfreiheit (anders Schönecker 2005, S. 86). Für Kant ist es wenigstens denkbar, „daß unter den Naturursachen es auch welche gebe, die ein Vermögen haben, welches nur intelligibel ist, indem die Bestimmung desselben zur Handlung niemals auf empirischen Bedingungen, sondern auf bloßen Gründen des Verstandes beruht“ (A 545/B 573). Durch die Annahme zweier verschiedener Begriffe praktischer Freiheit schwächt Schönecker den Kontrast zwischen „Dialektik“ und „Kanon“. Kant bestimmt das Verhältnis der transzendentalen Freiheit zu ein und derselben praktischen Freiheit auf unvereinbare Weise.
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schiedlicher Deutungen des empirischen Phänomens praktischer Freiheit verstehen“ ließen (Willaschek 1992, S. 101). Eine andere Erklärung unterstellt, dass es in der „Dialektik“ und im „Kanon“ um unterschiedliche praktische Fragen gehe: in der „Dialektik“ um die Imputation von Handlungen, die eine transzendentale Freiheit erfordere, im „Kanon“ dagegen um die von der Vernunft gegebene „Vorschrift des Verhaltens“ (A 803/B 831), für die eine praktische Freiheit genüge. Eine differenziertere, sachlich komplexere Erklärung bietet Henry Allison. Aber auch er meint, es gebe es keinen „substantiellen Konflikt“ zwischen „Dialektik“ und „Kanon“ (Allison 1982, S. 272). Andere Autoren sehen, dass sich der kantische Wortlaut solchen Harmonierungsversuchen widersetzt. Sie vermuten, dass Kant bei der Abfassung des „Kanons“ auf ältere Ausarbeitungen zurückgegriffen habe, ohne ihre Unverträglichkeit mit anderen, jüngeren Partien der Kritik der reinen Vernunft zu bemerken. Sie vertreten die sogenannte „patchwork–These“, dass die erste Kritik aus ‚Flicken‘ unterschiedlicher Phasen zusammengesetzt sei.¹² Mit einer „gemäßigten patchwork-These“ will Dieter Schönecker die Unstimmigkeit erklären. Anders als die starke patchwork-These enthält sie keine Annahme zur Textkomposition, sondern zum gleichzeitigen Nebeneinander von überholten und gültigen Motiven in Kants Denken: Kant verwende im „Kanon“ einen Begriff praktischer Freiheit, „der aus vor- bzw. semikritischer Zeit stammt, jedenfalls aus einer Zeit vor der Veröffentlichung der KrV“ (Schönecker 2005, S. 96 f.); Kant sei „im Kanon durch eine ältere und eigentlich überwundene Phase seines Denkens beeinflußt, und zwar so stark, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt“ habe (Schönecker 2005, S. 98, vgl. S. 101 und 173, Hervorhebung B. M.). Die starke wie die gemäßigte „patchwork-These“ lässt zwar den Aussagen Kants in der „Dialektik“ und im „Kanon“ ihre Unvereinbarkeit, aber sie entschärft den Konflikt, weil sie nicht annimmt, dass Kant die unvereinbaren Positionen gleichzeitig vertreten hat. Alle genannten Erklärungen haben ihre größeren oder kleineren Probleme (was im Einzelnen hier nicht diskutiert werden kann). Die kantischen Texte zeigen sich resistent gegen Versuche, die Unstimmigkeit von „Dialektik“ und „Kanon“ durch Interpretation sachlich aufzulösen oder sie durch Annahmen zur Komposition des Werkes oder zu obsolet gewordenen Relikten in Kants Denken zu entschärfen. Es spricht einiges dafür, dass Kant alles, was in der Kritik der reinen Vernunft zur praktischen und transzendentalen Freiheit und zu ihrem Verhältnis zu lesen ist, 1781 nicht nur gedacht, sondern aus angebbaren Gründen auch so gemeint hat.
Vgl. zu dieser These Albrecht (1978, S. 20, Anm. 19); Allison (1982, S. 272); Allison (1986, S. 99 f.); Allison (1990, S. 56 und S. 256, Anm. 2.); Sims (1981).
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Der Befund, dass Kant sich in der Kritik der reinen Vernunft nicht konsistent zur Freiheit äußert, lässt sich durch den Nachweis erhärten, dass es sowohl vor wie nach der ersten Kritik ein gleichzeitiges Nebeneinander diskrepanter Aussagen zur Freiheit gibt. Untersuchungen zu den Vorlesungsnachschriften (insbesondere der Metaphysik L1 und Metaphysik Pölitz) und zu den Reflexionen belegen, dass wir in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre von folgender Konstellation auszugehen haben: Kant operiert gleichzeitig mit zwei disparaten Begriffen der Freiheit: der Idee der transzendentalen Freiheit als absoluter Spontaneität und dem empirischpsychologischen Begriff der praktischen Freiheit. (1) Der Begriff der transzendentalen Freiheit des Menschen hat noch ein breites Anwendungsfeld und ist nicht auf das Moralisch-Praktische beschränkt. Transzendentale Freiheit ist im Gebrauch aller Arten von Imperativen vorausgesetzt, auch der Imperative der Geschicklichkeit und Klugheit: Nun giebt es aber solche Imperativos, nach denen ich etwas thun soll; mithin müssen alle praktische Sätze sowohl problematisch, als pragmatisch und moralisch, in mir eine Freiheit voraussetzen; folglich muß ich die erste Ursache seyn von allen Handlungen (Metaphysik L1, 28.1:269)¹³;
„erste Ursache von Handlungen sein“ ist aber bei Kant eine Umschreibung für transzendentale Freiheit. Allgemein gilt: Transzendentale Freiheit ist notwendig, sofern das Handeln regelgeleitet ist: „Die transscendentale Freyheit ist die nothwendige Hypothesis aller Regeln, mithin alles Gebrauchs des Verstandes“ (Refl. Nr. 4904, 18:24). In dieser Hinsicht enthält sogar der theoretische Verstandesgebrauch, also das Denken und Erkennen, die Voraussetzung der transzendentalen Freiheit: Man soll gemäß einer Regel „so und so denken […] folglich muss diese Handlung frey seyn, d. i. nicht von selbst schon (subiectiv) bestimmt seyn, sondern nur objektiven Grund der Bestimmung haben“ (Refl. Nr. 4904, 18:24, Entstehungszeit 1776 – 78). Begünstigt wurde die weite Anwendung der transzendentalen Freiheit durch ihren ursprünglichen systematischen Ort. In den 1770er-Jahren war sie noch nicht genuiner Gegenstand der rationalen Kosmologie wie in der Kritik der reinen Vernunft, sondern des „transcendentale[n] Theil[s] der rationalen Psychologie“, in der die Seele nach allgemeinsten reinen Vernunftbegriffen als substantia spontanea betrachtet wird (vgl. Metaphysik L1, 28.1:263 – 265). Frei ist nicht die allgemeine Vernunft, sondern die Seele als individuelle Substanz, das Ich, und zwar
Vgl. auch Metaphysik L1, 28.1:332: „[A]lle praktischen Sätze setzen solche [sc. transzendentale] Freiheit voraus“.
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noch vor der Unterscheidung einzelner Seelenfunktionen: Die Akte des handelnden und des erkennenden Subjekts sind gleichursprünglich frei, das ‚ich denke‘ nicht weniger als das ‚ich tue‘. Diese Allgemeinheit hängt unmittelbar damit zusammen, dass die Freiheit hier ein transzendentaler Begriff der rationalen Psychologie ist, in der reine Vernunftbegriffe von einem ganz allgemeinen Begriff der Seele noch vor der Differenzierung ihrer verschiedenen Vermögen ausgesagt werden. Darin wirkt der Gebrauch des Terminus ‚transzendental‘ bei Christian Wolff nach.¹⁴ In der Paralogismenkritik der Kritik der reinen Vernunft entzieht Kant zwar der rationalen Psychologie und dem Ich als einer erkennbaren substantia spontanea den Boden. Aber die Ausdehnung des Begriffs der transzendentalen Freiheit auf das Handeln und Denken überhaupt hat sich noch eine Zeitlang erhalten, mit Nachwirkungen bis in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. (2) In der praktischen Philosophie möchte Kant allerdings keinen Gebrauch von der Idee der transzendentalen Freiheit machen. Hier begnügt er sich mit dem empirisch-psychologischen Begriff der praktischen Freiheit, deren Realität an den „gemeinsten Handlungen“ der Menschen abzulesen ist (Refl. Nr. 6578, 19:93).¹⁵ Dieser Begriff deckt den gesamten Bedarf der praktischen Philosophie an Freiheit, nicht nur des rationalen Handelns nach hypothetischen Imperativen der Geschicklichkeit und Klugheit, sondern er ist ausdrücklich „auch zur Moralität hinreichend genug“ (Metaphysik L1, 28.1:267)¹⁶: In der Moral bedürfen wir keinen andern Begrif von freyheit, als dass unsere Handlungen der Erfahrung gemäß nicht am faden des Instinkts fortlaufen, sondern Reflexionen des Verstandes sich unter die triebfedern einmischen (Refl. Nr. 6859, 19:182, Hervorhebung B. M.).
Das ist die Position, die wir noch im „Kanon“ der ersten Kritik finden. Wir erfahren auch etwas über die Gründe Kants. Die transzendentale Freiheit ist ein mit schweren metaphysischen Problemen belasteter Begriff. Da ist erstens die Frage, wie sich Freiheit und Naturkausalität miteinander vereinbaren lassen. Dieses Problem lässt sich zwar lösen, aber die Antwort erfordert viel philosophische Subtilität, die nicht von allen Menschen erwartet werden kann. Da ist zweitens das Problem, dass selbst dann, wenn man die transzendental-idealistische Lösung des Problems in Anspruch nimmt und Freiheit wenigstens für denkmöglich hält, die Unfähigkeit des Verstandes bleibt, ein bedingungsloses Anfangen zu begreifen, da ihm „die Bedingungen fehlen, unter denen er allein im
Vgl. dazu Hinske (1970, S. 45 – 55, bes. S. 52 Anm. 156). Vgl. auch Refl. Nr. 4338 (17:510). Vgl. auch Metaphysik L1, 28.1:269; Refl. Nr. 4725 (17:688) u. ö.
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Stande ist, solches einzusehen“ (Metaphysik L1, 28.1:340 f.).¹⁷ Begriffe wie „erste Ursache“ und absolute Spontaneität sind „Grenzbegriffe“ (Metaphysik L1, 28.1:195)¹⁸, die für etwas schlechthin Unbegreifliches stehen. Da ist drittens das metaphysisch-theologische Problem der Freiheit eines geschaffenen Wesens. Wie kann, fragt sich Kant, ein abhängiges, kreatürliches Wesen absolute Spontaneität haben? „Der Freyheit in aller Absicht ist nichts mehr entgegen, als daß der Mensch einen fremden Urheber hat“ (Refl. Nr. 1021, 15:458), notiert sich Kant. Der Gedanke der absoluten Spontaneität eines abhängigen Wesens ist schon begrifflich spannungsreich bis an die Grenze des Widersprüchlichen und Unmöglichen, „weil es das Ursprüngliche im derivativo ist“ (Refl. Nr. 4725, 17:688, Hervorhebung im Original). Diese Schwierigkeit wird meist weniger beachtet und gewürdigt, hat aber Kant noch in der Kritik der praktischen Vernunft beschäftigt (vgl. A 179 – 184). Sie ist für ihn stets das dunkelste der Probleme geblieben, von dem er bekennt, dass er es nicht wirklich auflösen kann (vgl. Metaphysik L1, 28.1:332). Seiner Transzendentalphilosophie hält er nur zugute, „daß dieselbe Schwierigkeit viel stärker“ die vorkritischen Systeme (insbesondere die leibniz-wolffsche Metaphysik) ‚drückt‘, unter deren theoretischen Voraussetzungen die transzendentale Freiheit des Menschen nicht nur ein Problem ist, sondern gänzlich unmöglich bleibt (vgl. KpV A 179 f.). Von diesem mit schwerer Hypothek belasteten Freiheitsbegriff wollte Kant in der praktischen Philosophie nach Möglichkeit keinen Gebrauch machen. Er befürchtete, durch die metaphysischen Probleme der transzendentalen Freiheit könnten auch die Moral und ihre Verbindlichkeit in Mitleidenschaft gezogen werden. Die These Walter Sims’ (1981, S. 19 – 23) ist plausibel, dass es die metaphysisch-theologischen Schwierigkeiten waren, die Kant bewogen haben, die Idee der transzendentalen Freiheit aus dem „Kanon der reinen Vernunft“ auszuklammern und sich in der Ethik mit der praktischen Freiheit zu bescheiden, die den Menschen durch die Erfahrung vertraut ist.¹⁹ Die Wahl,vor der Kant stand, hält eine Reflexion in zugespitzter Form fest:
Vgl. auch Metaphysik L1, 28.1:268, 270 f.; Refl. Nr. 4180 (17: 446), Nr. 4184 (07:448). Vgl. auch Refl. Nr. 4039 (17:394) und Nr. 4180 (17:446). D. Schönecker, der ausführlicher auf das theologische Problem der Freiheit eines ens derivativum eingeht (vgl. Schönecker 2005, S. 19, 21 f., 31– 38, 167), verwirft die Erklärung, der transzendentale Freiheitsbegriff werde im „Kanon der Kritik der reinen Vernunft“ „deswegen ‚beiseite gesetzt‘, weil er ein ‚Problem bleibt‘ oder weil er bereits ‚erörtert‘ wurde. Denn mit dieser Begründung müßte man auch den Gottes- und Unsterblichkeitsbegriff aus dem Kanon ausschließen“ (Schönecker 2005, S. 172). Die mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff verbundenen Probleme seien nicht größer als diejenigen, welche die „‚Kardinalsätze‘ über Gott und die Unsterblichkeit der Seele belasten“ (Schönecker 2005, S. 140 f., vgl. 150 f.). Diese Bewertung verkennt die Problem- und Diskussionslage im 18. Jahrhundert, in dem gerade der Freiheits-
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Der Practische Begrif der Freyheit ist, der zureicht, um Handlungen nach regeln der Vernunft zu thun, der also dieser ihren imperativen die Gewalt giebt; der speculative oder vernünftelnde Begrif der Freyheit ist, der zureicht, um freye Handlungen nach der Vernunft zu erklären Letzterer ist unmoglich, weil es das Ursprüngliche im derivativo ist (Refl. Nr. 4725, 17:688, Hervorhebung im Original).
Es ist die Wahl zwischen der unproblematischen praktischen Freiheit, die sowohl für die Gesetzgebung wie für die Exekution von Imperativen der Vernunft zureicht, und dem Begriff der absoluten Spontaneität eines abhängigen Wesens, die hier sogar als unmöglich bezeichnet wird. Wie ernst die Unmöglichkeit auch immer gemeint ist: Die Moral wollte der Aufklärer Kant immer aus den philosophischen Kontroversen heraushalten. Niemand sollte sich mit Berufung auf die Probleme des metaphysischen Freiheitsbegriffs dem sittlichen Anspruch entziehen können. Zum Verhältnis von praktischer und transzendentaler Freiheit macht Kant auch in den 1770er-Jahren unvereinbare Angaben. Er reklamiert einerseits die Vernunftidee der transzendentalen Freiheit als notwendige Bedingung aller praktischen Freiheit und als Hypothesis allen regelgeleiteten Verstandes- und Vernunftgebrauchs. Andererseits sagt er, dass für ebendiesen regelgeleiteten Verstandes- und Vernunftgebrauch im Praktischen der empirische Begriff der psychologischen Freiheit völlig ausreiche und man nicht auf die transzendentale Freiheit angewiesen sei. Beides hat Kant gleichzeitig vertreten. Sehr deutlich zeigt dies die Metaphysik L1. Mitten in den Erörterungen zur „spontaneitas absoluta im
begriff durch engagiert geführte Debatten und heftige Kontroversen stark belastet war, selbst unter denen, die sich über die Existenz Gottes und die Seelenunsterblichkeit noch verständigen konnten, wie der Streit zwischen Christian Wolff und Joachim Lange zeigt (vgl. dazu Bianco 1989 und Kawamura 1996). Kant akzentuiert den Problemcharakter der Freiheit durch den Wechsel ihres systematischen Ortes: Er versetzt die transzendentale Freiheit aus der rationalen Psychologie, wo sie in den 1770er-Jahren noch Gegenstand einer intellektuellen Anschauung war, in die Antinomienlehre der rationalen Kosmologie, wo die Widersprüche der reinen Vernunft erörtert werden. Zwar sind alle drei Ideen für die spekulative Vernunft „äußerst schwere Anstrengungen“ (KrV A 799/B 827) und bedeuten „eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit“ (A 798/B 826). Aber nur von der Idee der transzendentalen Freiheit betont Kant im „Kanon“ mit Nachdruck, dass sie „ein Problem für die Vernunft ist“ (A 802/B 830) und „ein Problem bleibt“ (A 803/B 831). Nie apostrophiert er in vergleichbarer Weise die Idee Gottes oder die Seelenunsterblichkeit als Problem. Der Gedanke der absoluten Spontaneität eines geschaffenen Wesens ist schon begrifflich spannungsreich bis an die Grenze des Paradoxen und Widersprüchlichen. Die Freiheit steht im 18. Jahrhundert unter einem besonders starken Problemdruck, der verständlich macht, warum Kant lieber auf einen unstrittigen, erfahrungsgestützten Begriff der Freiheit ausweicht.
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transscendentalen Verstande“ als der notwendigen Bedingung allen Denkens und Handelns²⁰ versichert Kant unvermittelt: Da wir aber in der empirischen Psychologie die practische Freiheit erwiesen haben, nachdem wir frei sind von der necessitatione a stimulis, so können schon dadurch die practischen Sätze statt finden; mithin ist in Ansehung dessen die Moral sicher, welches auch unser vornehmster Zweck ist (Metaphysik L1, 28.1:269, Hervorhebung im Original).
Die Positionen der „Dialektik“ und des „Kanon“ der Kritik der reinen Vernunft stehen hier unmittelbar nebeneinander. Kant verzichtet in der Moral auf den Gebrauch der transzendentalen Freiheit trotz der Bedeutung, die er der transzendentalen Freiheit zuschreibt; der unvermittelte Rückzug auf die psychologisch-empirische Freiheit entspringt der erklärten Absicht, die auch 1781 noch akut und keineswegs überholt ist: Die Moral soll sicher sein, ohne Abhängigkeit von einem höchst problematischen metaphysischen Begriff, selbst wenn diese Sicherheit um den Preis einer Unstimmigkeit erkauft ist. Die Wahrnehmung der Unstimmigkeit wird subjektiv gemildert durch die besondere Perspektive des Handlungsbewusstseins, die Kant in einer Reflexion geltend macht: Es ist „ein anderes zu speculiren und practisch zu denken; ienes zum erklären, dieses zum handeln“ (Refl. Nr. 4223, 17:463, Entstehungszeit 1769 – 70). Die transzendentale Freiheit bedeutet die Unabhängigkeit von etwas, das im praktischen Kontext gar nicht wahrgenommen werden kann, sondern in der metaphysisch-spekulativen Verlängerung über den praktisch bedeutsamen Erfahrungszusammenhang hinaus existiert: die Unabhängigkeit von der Determination durch „höhere[.] und entferntere[.] Ursachen“ (KrV A 803/B 831), sei es Natur, sei es Gott. Practisch ist dasienige Nichts, was ich gar nicht warnehmen kan. […] Denn das komt nicht in Anschlag der Bewegungsgründe. Werde ich wohl um dieser vorherbestimung willen in ansehung der absichten des Lebens gleichgiltig seyn oder anders verfahren (Refl. Nr. 4223, 17:463).
Der Handelnde hat es mit bestimmten Bedürfnissen, Neigungen, Anreizen von außen etc. zu tun. Er weiß, dass er durch all diese erfahrbaren Determinanten nicht genötigt wird; kraft seines Verstandesvermögens erfährt er sich ihnen gegenüber als praktisch frei, frei auch für „die bewegende Kraft der intellectualen Gründe vom Guten“ (Refl. Nr. 4338, 17:510). Das genügt für das Handeln und für die Moral. Der transzendentale Begriff der Freiheit antwortet dagegen auf abgehobene
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Fragen, die sich erst in einem spekulativen Kontext stellen. In dieser Perspektive liegt wohl die psychologisch plausibelste Begründung, sich in der Moral mit einem bloß praktischen Begriff der Freiheit zu bescheiden, auch wenn Kant selbst sich mit dieser Erklärung, in der kompatibilistische Motive der vorkritischen Zeit nachwirken²¹, später nicht mehr zufriedengab. Ein weiterer Umstand kommt hinzu, der den Verzicht auf die transzendentale Freiheit in der Moral erleichterte: Kants Ethik ist in den 1770er-Jahren und auch noch 1781 eine Vernunftethik nur hinsichtlich ihres Beurteilungsprinzips; die Autonomie der praktischen Vernunft ist in der ersten Kritik noch keineswegs voll ausgereift, wie D. Schönecker meint.²² In der Frage der Ausführung, der „Triebfeder“ moralischen Handelns ist sie noch eudämonistisch. Die Triebfedern müssen „alle von der Glükseeligkeit […] hergenommen seyn“ (Refl. Nr. 6858, 19:181), auch die moralischen. Ohne die Postulate der Existenz Gottes und eines künftigen Lebens, ohne religiöse „Verheißungen und Drohungen“ als die moralisch „a priori angemessene[n] Folgen“ des Handelns (KrV A 811/B 839) bliebe die Moral eine bloße Chimäre, verlören für uns „die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit“ (A 468/B 496)²³. Die Lehre der ‚Achtung vor dem Sittengesetz‘, die als vernunftgewirktes Gefühl allein legitime Triebfeder des moralischen Handelns ist, hatte Kant noch nicht entwickelt. Hinweise auf den markanten Wechsel in der Triebfedernlehre finden wir erst in den Vorlesungsnachschriften des Sommersemesters 1784 (Naturrecht Feyerabend) und des Wintersemesters 1784/85 (Moral Mrongovius II).²⁴ Solange die reine praktische Vernunft nicht auch selbst sittliches Ausführungsprinzip war (nicht nur autonom, sondern auch ‚autokratisch‘ war²⁵), war der Druck noch geringer, die transzendentale Freiheit als unverzichtbar für moralisches Handeln zu reklamieren.²⁶ Es macht einen Unterschied, ob ich ein hinreichendes Motiv für moralisches Handeln nur dank der Hoffnung habe, dass die Moral mich auch der Glückseligkeit „theilhaftig machen werde“ (Refl. Nr. 5477,
Vgl. dazu Milz (2005, S. 137– 142). Vgl. Schönecker (2005, S. 121– 134). Schönecker (2005, S. 127 und 130 f.) verwirft m. E. zu Unrecht die These Allisons, dass man im „Kanon“ nur von einer „semi-critical moral theory“ sprechen kann. Zur „semi-critical moral theory“ vgl. Allison (1986). Vgl. auch Refl. Nr. 6674 (19:130); Refl. Nr. 7279 (19:301); Moralphilosophie Collins, 27.1:308 (Parallelstelle Moral Mrongovius, 27.2.2:1453); Religionslehre Pölitz, 28.2.2:1012 und 1072; Danziger Rationaltheologie, 28.2.2:1284. Zum Stand der ethischen Prinzipienlehre in der Kritik der reinen Vernunft vgl. Milz (2002, bes. S. 284– 324). Vgl. Moral Mrongovius II, 29:612 f., 625 f., 629. Ganz ähnlich auch Allison (1982, S. 277); Allison (1986, S. 107– 109); Allison (1990, S. 64– 70).
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18:193), oder ob ich allein aus Achtung für das formale Gesetz der reinen praktischen Vernunft ohne jede Rücksicht auf die Folgen handeln soll. Von den 1770er-Jahren bis zur Kritik der reinen Vernunft findet sich also eine unaufgelöste Spannung zwischen einem transzendentalen Begriff der Freiheit, die in allem regelgeleiteten theoretischen und praktischen Gebrauch des Verstandes und der Vernunft vorausgesetzt ist, von der Kant aber in der Moral keinen Gebrauch machen will, und einem empirischen Begriff der Freiheit, die zureicht für die gesamte praktische Philosophie einschließlich der Moral. Die Unstimmigkeit zwischen der „Dialektik“ und dem „Kanon“ der ersten Kritik als Folge dieser Spannung ist mehr als ein flüchtiger Fehler. Sie ist Indiz, dass Kant 1781 mit der Freiheit noch nicht im Reinen ist und um den angemessenen Begriff der Freiheit in seiner Moralphilosophie ringt. Dieser Befund schärft den Blick für die bedeutsamen Wandlungen der Bedeutung und des Gebrauchs der Freiheitsbegriffe, die sich nach der Kritik der reinen Vernunft vollziehen.
3. Praktische und transzendentale Freiheit nach 1781 Auch nach der Kritik der reinen Vernunft zeigt Kant eine Weile noch auffallendes Interesse, sich für praktische Zwecke mit einem eigenen praktischen Begriff der Freiheit, den er gezielt vom spekulativen abhebt, zufriedenzugeben. Zwei Jahre nach der Kritik der reinen Vernunft, 1783, heißt es in der Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre noch dezidierter als im „Kanon der reinen Vernunft“, dass „der praktische Begriff der Freiheit […] in der That mit dem speculativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu thun“ habe (08:13). ‚Spekulativer Begriff der Freiheit‘ steht hier sicherlich für den mit metaphysischen Schwierigkeiten belasteten transzendentalen Begriff der Freiheit, wie sie Thema in der rationalen Kosmologie ist. Allerdings hat sich in der Schulz-Rezension der „praktische Begriff der Freiheit“ erheblich verschoben: Erstens ist die praktische Freiheit nun „eine nothwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann“ (08:13, Hervorhebung B. M.), sie ist also kein Erfahrungsbegriff mehr. Zweitens setzt uns diese Freiheit „in der Idee gänzlich außerhalb der Naturkette“; es ist also in neuerer Terminologie ein inkompatibilistischer Freiheitsbegriff. Und drittens verleiht Kant dieser Idee ‚fiktionalistische‘ Züge: „Selbst der hartnäckigste Sceptiker“ muss handeln, „als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor und kann sie auch allein her-
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vorbringen“ (08:13, Hervorhebung im Original). Vergleichbare Charakterisierungen der praktischen Freiheit finden wir auch in Vorlesungsnachschriften aus der Zeit zwischen 1782 und 1784.²⁷ Dort wird nun auch expressis verbis bestritten, dass die praktische Freiheit bewiesen werden kann²⁸, was in direktem Widerspruch zum Begriff der praktischen Freiheit im „Kanon“ der ersten Kritik steht. Die praktische Freiheit nimmt also in der Schulz-Rezension von 1783 schon sehr deutlich Merkmale der transzendentalen Freiheit an, aber merkwürdigerweise grenzt Kant beide immer noch entschieden voneinander ab. Der transzendentale Begriff der Freiheit ist derjenige, der nicht vereinbar ist oder scheint mit spekulativen Grundsätzen (vgl. 08:14) und deswegen ein Problem ist. Von den Widersprüchen der spekulativen Vernunft ist die praktische Freiheit auch hier nicht betroffen.²⁹ In der Religionslehre Pölitz aus dem Wintersemester 1783/84 heißt es: Zum Handeln nach der Idee, als ob man frei wäre, reicht es, dass die praktische Freiheit in Bezug auf Menschen „ohne die mindeste Schwierigkeit gedacht werden“ (Religionslehre Pölitz, 28.2.2:1068, Hervorhebung B. M.) kann, ebenso wie die transzendentale Freiheit von Gott (nicht vom Menschen!) ohne Schwierigkeit gedacht werden kann. Für das Denkenkönnen der praktischen Freiheit des Menschen bezieht sich Kant bezeichnenderweise nicht auf die Kritik der spekulativen Vernunft und die Auflösung der Freiheitsantinomie. Im Vorbehalt, zwar Gott, aber nicht dem Menschen transzendentale Freiheit zuzusprechen,wirkt noch das metaphysisch-theologische Problem nach, wie ein endliches, kreatürliches Wesen absolute Spontaneität besitzen, also ein erster Anfang sein kann. In der Schulz-Rezension argumentiert Kant für die praktische Freiheit als Idee der Vernunft auch mit dem Hinweis auf die „Freiheit des Denkens“: In unserem Erkennen setzen wir voraus, „daß der Verstand nach objektiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe“. „Eben so“, sagt Kant, setzen wir im Handeln „Freiheit des Willens“ im Sinne der Unabhängigkeit von subjektiven „Instincte[n] und Neigungen“ (08:14) und die Bestimmbarkeit durch objektive Gründe voraus. Auch hier darf man nicht allein an moralisch relevantes Handeln denken. Unter die objektiven Handlungsgründe fallen bei Kant auch die hypothetischen Imperative; auch ihr Gebrauch enthält die Idee der praktischen Freiheit. Damit ist hier keine Deduktion der praktischen Freiheit aus der Freiheit der theoretischen Vernunft gemeint, wie Dieter Henrich (1960, S. 108) einmal be Vgl. Metaphysik Mrongovius (1782/83), 29.1.2:896 ff.; Religionslehre Pölitz (1783/84), 28.2.2:1067 f.; Danziger Rationaltheologie (1784), 28.2.2:1280). Vgl. Metaphysik Mrongovius, 29.1.2:896, und Danziger Rationaltheologie, 28.2.2:1280. Vgl. Metaphysik Mrongovius, 29.1.2:900 f.
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hauptet hat. Kant parallelisiert vielmehr beide Formen der Freiheit, wie er es schon in den 1770er-Jahren getan hat, als theoretische und praktische Freiheit in der einen individuellen Seelensubstanz ihren Grund hatten. Henrich (1975, S. 68 f.) selbst betont später, dass es sich nur um eine „Analogie“ und „Parallelität“ handle. Die praktische Freiheit und die „logische“, wie Kant gelegentlich die Freiheit des Denkens nennt, beinhalten ein vergleichbares Vermögen der Unabhängigkeit des Verstandes und der Vernunft von bloß subjektiven Bestimmungsgründen. Sie sind in dieser Hinsicht gleich starke Freiheitsbegriffe. Insofern kommt dem Hinweis auf die Freiheit des Denkens durchaus Bedeutung für die Annahme der praktischen Freiheit zu. Wir finden also in der Schulz-Rezension eine äußerst spannungsreiche Konstellation, die bislang kaum wahrgenommen und gewürdigt wurde. Sie ist charakterisiert durch einen hybriden Begriff der Freiheit: eine praktische Freiheit, die nun aber kein Erfahrungsbegriff mehr ist, sondern eine praktisch notwendige Idee von Freiheit, die aber wiederum mit der transzendentalen Freiheit der Metaphysiker nichts gemein hat. Im selben Jahr, in dem die Schulz-Rezension erscheint, erscheinen auch die Prolegomena; und darin heißt es von „genau de[m] Begriff [sc. der Freiheit], der das Problem der Metaphysik ist“ (04:344, Anm.), dass durch ihn „die praktische Freiheit, nämlich diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität hat, gerettet“ werde (04:346). Mehr noch als in der „Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft setzt Kant praktische und transzendentale Freiheit, die in der Schulz-Rezension miteinander „gar nichts zu thun“ (08:13) haben sollten, in engsten Zusammenhang. Die praktische Freiheit verlangt hier nicht nur die transzendentale Freiheit als ihre notwendige Bedingung, sondern sie ist transzendentale Freiheit. Bei allen einschneidenden Differenzen zur Kritik der reinen Vernunft arbeitet Kant also auch 1783 noch mit zwei Freiheitsbegriffen und verfährt zweigleisig. Im Kontext der praktischen Philosophie redet er von der Rolle der transzendentalen Freiheit für die praktische Freiheit anders als in der theoretischen Philosophie. Auch hier sind die Angaben nicht kompatibel. In der praktischen Philosophie schirmt Kant die praktische Freiheit immer noch gegen die mit metaphysischen Problemen belastete transzendentale Freiheit ab, indem er beide separiert; in der theoretischen Philosophie ist die praktische Freiheit eine Form transzendentaler Freiheit.
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4. Freiheit in GMS III Ein Jahr später, 1784, schreibt Kant die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (erschienen 1785).Welche Freiheit ist es hier, deren notwendige Voraussetzung wir einsehen können (vgl. 04:461)? Die transzendentale Freiheit, wie die meisten Interpreten annehmen? Der Terminus „transzendentale Freiheit“ kommt in der gesamten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht vor. Reinhard Brandt (1988, S. 183) hat denn auch bestritten, dass in GMS III die transzendentale Freiheit gemeint sei. Einige Formulierungen und Motive erinnern in der Tat eher an die praktische Freiheit in der Schulz-Rezension, so wenn Kant sich damit begnügt,von der Freiheit auszugehen, die „von den vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt“ wird, um „sich von der Last [zu] befreien, die die Theorie drückt“ (04:448, Anm.*, Hervorhebung im Original). Scheut sich Kant auch hier noch, die transzendentale Freiheit in Anspruch zu nehmen, weil er die Moralphilosophie gegen die Probleme des metaphysischen Begriffs der Freiheit abschotten will? Dagegen spricht, dass sich die Charakterisierung der negativen und positiven Freiheit gleich zu Beginn von GMS III (04:446 f.) sachlich mit der Beschreibung der transzendentalen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft deckt (vgl. § 8, A 58 f.). In der zweiten Kritik lässt Kant von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es um „Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen, Verstande“ (§ 5, A 51) geht, in genau „derjenigen absoluten Bedeutung […], worin die spekulative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Kausalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten“ (A 4). Ein starkes Indiz dafür, dass Kant auch in GMS III die transzendentale Freiheit meint, liegt darin, dass er hier die ‚spekulative Philosophie‘ für die Möglichkeit der Freiheit in die Pflicht nimmt. Die Absicherung durch die spekulative Philosophie ist aber nur erforderlich, wenn Kant den metaphysisch starken Freiheitsbegriff verwenden will. Blieb in der Schulz-Rezension der spekulative Begriff der Freiheit noch „den Metaphysikern gänzlich überlassen“, weil der praktisch erforderliche Begriff der Freiheit mit dem spekulativen „gar nichts zu thun“ (08:13) habe, heißt es nun, es sei keineswegs „in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit [sc. zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit] heben, oder ihn unangerührt lassen will“. Die spekulative Philosophie hat die Aufgabe, „der praktischen freie Bahn“ (04:456) zu schaffen und den „Rechtsanspruch […] selbst der gemeinsten Menschenvernunft auf Freiheit des Willens“ (04:457) zu sichern, weil sonst der Fatalist „alle Moral aus ihrem ohne Titel besessenen vermeinten Eigenthum verjagen kann“ (04:456, vgl. 459). Freiheit, wie sie Thema und Problem der spekulativen Philosophie ist,
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wird nun zum ersten Mal auch im praktischen Kontext als unabdingbar für die Moral reklamiert.³⁰ Die bewusste und gewollte Zweigleisigkeit in der Verwendung eines praktischen und eines metaphysischen (transzendentalen) Freiheitsbegriffs findet in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ihr Ende. Die Entwicklung des Verhältnisses beider Begriffe im Rahmen der Moralphilosophie zeigt eine klare Richtung. Praktische und transzendentale Freiheit, die noch in der Kritik der reinen Vernunft spezifisch verschieden waren, sind schon in der Schulz-Rezension sachlich kaum mehr voneinander unterscheidbar und fließen schließlich in einen Begriff zusammen. In GMS III verzichtet Kant ganz auf eine Differenzierung: Die in der Moral erforderliche Freiheit ist transzendentale Freiheit. Damit ist die Spannung und Unstimmigkeit, die in der ersten Kritik zwischen „Dialektik“ und „Kanon“ bestand, beseitigt. In GMS III ist also von der transzendentalen Freiheit die Rede. Mit Blick auf die Vorgeschichte und Nachgeschichte stellt sich aber die Frage: von welcher transzendentalen Freiheit? Noch in der Schulz-Rezension ist die Idee der Freiheit notwendige Voraussetzung in allem Urteilen und Handeln des Verstandes und der Vernunft, sofern sie „nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen“ (08:13 f.) stehen. In der Kritik der praktischen Vernunft identifiziert Kant dagegen die transzendentale Freiheit mit moralisch-praktischer Freiheit: Freier Wille und moralisches Gesetz implizieren sich streng wechselseitig (§§ 5 – 6, A 51 f.). Frei ist allein der Wille, dessen letzter Bestimmungsgrund das Gesetz der reinen Vernunft ist. Diese Einengung transzendentaler Freiheit auf die Autonomie reiner praktischer Vernunft hat bei Kant durchaus ihre Logik und Konsequenz. Transzendentale Freiheit hatte er bereits in den 1770er-Jahren als absolute Spontaneität definiert, als Tätigkeit nach einem rein inneren Prinzip, unabhängig von jeder äußeren Determination.³¹ In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) sieht Kant eine derartige Tätigkeit nur noch in Handlungen realisiert, deren letzter Bestimmungsgrund allein in der Vernunft liegt und nichts Empirisches enthält. Das ist nur der Fall, wenn ein rein formales Kriterium, die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, den Willen bestimmt. Mittels des sittlichen Gefühls der „Achtung fürs moralische Gesetz“ besitzt die rein formale Vernunft für Kant jetzt auch die Macht, ohne jede Hilfe sinnlicher Triebfedern, die in der ersten Kritik noch unverzichtbar waren, praktisch zu werden. Jetzt erst hat er etwas konzipiert, das voll und ganz seinem Begriff einer absoluten Spontaneität reiner Vernunft gerecht wird. Das Handeln nach hypothetischen Imperativen setzt Man kann also die Annahme der Freiheit bloß „in praktischer Rücksicht“ (04:448.6) nicht, wie es häufig geschieht, mit den Ausführungen der Schulz-Rezension erläutern, so z. B. Allison (2011, S. 307, Anm. 16). Vgl. z. B. Metaphysik L1, 28.1:267 f.
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dagegen bei aller Spontaneität noch ein empirisch bedingtes Interesse am Zweck der Handlung als Triebfeder voraus. Es enthält noch eine äußere Determination und ist deswegen kein Beispiel mehr für ein Handeln aus absoluter Vernunftspontaneität. Die Identifikation von Freiheit mit sittlicher Autonomie findet sich auch in GMS III, in der These, dass der positive Begriff der Freiheit des Willens das Prinzip der Sittlichkeit analytisch enthalte und beides Wechselbegriffe seien (04:447 und 450). Das Argument war ja: Wenn man zeigen könnte, dass der menschliche Wille frei ist, so wäre damit auch sein Bestimmungsgrund, das Sittengesetz, in seiner Geltung gegeben. In diesem Sinne kündigt Kant in Sektion 1 an, dass er den Begriff „der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ deduzieren wolle (04:447.22 f., Hervorhebung B. M.). In Sektion 2 aber beruft er sich darauf, dass wir generell bei unseren Handlungen und Urteilen die Freiheit „in der Idee“ notwendig voraussetzen (04:448). Damit rekurriert er auf den älteren Freiheitsbegriff, der nicht exklusiv auf den Gebrauch reiner praktischer Vernunft festgelegt war, sondern in jedem theoretischen und praktischen Gebrauch von Regeln des Verstandes und der Vernunft vorausgesetzt war. Diese Freiheit und sittliche Gesetzgebung sind keine „Wechselbegriffe“. Transzendentale Freiheit im Sinne der Autonomie des Willens ist eine besondere Spontaneität, die an den Gebrauch einer sehr spezifischen Regel, das moralische Gesetz mit der Forderung der Verallgemeinerbarkeit der Maximen, gebunden ist. Nur im Gebrauch dieser Regel ist für Kant die reine praktische Vernunft absolut spontan und ein erster Anfang. In einer unspezifischen Spontaneität des Verstandes und der Vernunft, die jeder Art von theoretischem und praktischem Regelgebrauch zugrunde liegt, ist dagegen „die Sittlichkeit sammt ihrem Princip“ (04:447) nicht analytisch enthalten. Es ist nicht plausibel, dass wir in allem Verstandes- und Vernunftgebrauch unter der Idee einer absoluten Spontaneität der reinen praktischen Vernunft handeln, sie also darin voraussetzen. Sonst müssten wir jeden Verstandes- und Vernunftgebrauch, jeden Akt einer Erkenntnis als eine moralisch relevante Handlung ansehen. Um zu seinem Ziel, der Ableitung der Sittlichkeit „aus der Eigenschaft der Freiheit“ (04:447) vernünftiger Wesen, zu gelangen, operiert Kant in GMS III mit einem hybriden Begriff transzendentaler Freiheit. Er macht zunächst Gebrauch vom weiten Begriff, um zu zeigen, dass wir die Freiheit in unserem Denken und Handeln bereits notwendig voraussetzen, ohne dass er für diesen Nachweis schon auf spezifische moralische Überzeugungen und Geltungen, die ja erst begründet werden sollen, zurückgreifen muss. Dann aber setzt er den engen Begriff der transzendentalen Freiheit als Autonomie reiner praktischer Vernunft ein, um mittels der Analytizitätsthese von der Voraussetzung der Freiheit zum moralischen Gesetz zu gelangen, das im weiten Begriff der Freiheit nicht enthalten ist. Wenn
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dieser Übergang vom weiten Begriff der transzendentalen Freiheit zum engeren gelänge, wäre dies ein entscheidender Schritt in der Verknüpfung der Freiheit vernünftiger Wesen im Allgemeinen mit der Geltung des sittlichen Prinzips. Diesen Übergang aber „erschleicht“ Kant sich (um es unfreundlich, aber mit seinem eigenen Vokabular zu sagen) unter dem Deckmantel eines einheitlich scheinenden, in Wirklichkeit jedoch mehrdeutigen Begriffs der Freiheit. Von der Subreption ist auch die Legitimität der weiteren Deduktionsschritte betroffen: Eine allgemeine, unspezifische Spontaneität des Verstandes und der Vernunft eröffnet keine intelligible Welt der reinen praktischen Vernunft als Grund absoluter sittlicher Geltungen. Kant konnte nur glauben, dass ihm die Deduktion gelungen sei, solange er sich über folgendes Dilemma hinwegtäuschte: Entweder setzt er wie bisher bei einem allgemeinen Spontaneitäts- und Freiheitsbegriff an, der sich auch ohne Bezug auf die Moral als Voraussetzung in allem Handeln und Urteilen vernünftiger Wesen ausweisen lässt; der aber enthält in seiner Allgemeinheit nicht analytisch die sittliche Verbindlichkeit (genauso wenig, wie der allgemeine Begriff des Dreiecks analytisch das rechtwinklige Dreieck enthält). Oder er verwendet den Freiheitsbegriff in der Engführung als moralische Autonomie, mit der „das allgemeine Princip der Sittlichkeit“ „unzertrennlich verbunden“ (04:452) ist; der aber ist nicht in allem Denken und Handeln vernünftiger Wesen vorausgesetzt. Vorausgesetzt wird er allein in moralisch gebotenen Handlungen; deren sittliche Notwendigkeit (und damit auch die reale Möglichkeit sittlicher Handlungen) soll aber gerade begründet werden. In seinem Verdacht eines „geheime[n] Cirkel[s]“ oder der „Erbittung eines Princips“ (04:453) ahnte Kant mehr den kritischen Punkt seiner Deduktion, als dass er ihn klar durchschaute: dass er dem allgemeinen Begriff der transzendentalen Freiheit, den er bis dahin wie selbstverständlich verwendet hatte, einen spezifischen unterschob, der analytisch das Sittengesetz enthält. In der Entwicklung der Freiheitslehre nach 1781 war eine große Spanne zu überbrücken. In der ersten Kritik hatte Kant die transzendentale Freiheit noch ganz aus dem Kanon des praktischen Gebrauchs der Ideen ausgeschlossen. In der Kritik der praktischen Vernunft macht er gleich in der Vorrede ohne Umschweife klar, dass das Vermögen einer reinen praktischen Vernunft Freiheit in der „absoluten Bedeutung“ (A 4), „im strengsten, d. i. transzendentalen, Verstande“ (§ 5, A 51) verlangt. Zwischen 1781 und 1788 hat es also einschneidende Revisionen gegeben. In dieser Entwicklung bedeutet die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den wichtigsten Schub in Kants Moralphilosophie seit den 1760er-Jahren. Kant identifiziert Freiheit im positiven Sinne mit moralischer Autonomie des Willens. In GMS III macht er zum ersten Mal innerhalb der praktischen Philosophie Gebrauch von der transzendentalen Freiheit und verteidigt sie mit den Mitteln seiner
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Transzendentalphilosophie gegen fatalistische Einwände. Aber man merkt der Inanspruchnahme der transzendentalen Freiheit in GMS III noch die Überwindung an, die sie Kant gekostet hat. Sie geschieht noch mit Vorbehalt (Zugrundelegen der Freiheit „bloß in der Idee“, eine Reminiszenz früherer Abschottung gegen einen metaphysisch belasteten Begriff) und ohne dass Kant die Relikte älterer, unvereinbar gewordener Begriffe der Freiheit klar verabschiedet hätte. Diese instabile Übergangsphase mit ihren neuen begrifflichen Festlegungen und noch nicht ganz verglommenen alten Konzepten bildet den entwicklungsgeschichtlichen Ort der Deduktion der sittlichen Verbindlichkeit in GMS III. Es war die einzigartige Gemengelage undeutlich ineinander verschwimmender Begriffe um 1784, die Kant für einen Augenblick die Möglichkeit vorgaukelte, der kategorische Imperativ lasse sich im Ausgang von der Freiheit ‚ableiten‘.
5. Nach der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In der Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft klingt die entscheidende Bedingung an, von der das Gelingen der Deduktion in GMS III abhing: „Wenn wir […] Gründe ausfindig machen können zu beweisen, daß diese Eigenschaft [sc. der Freiheit] dem menschlichen Willen (und so auch dem Willen aller vernünftigen Wesen) in der Tat zukomme, so wird dadurch […] dargetan, daß reine Vernunft praktisch sein könne“ (A 30). Die Voraussetzung des positiven Begriffs der Freiheit unabhängig vom Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit hält Kant jetzt aber nicht mehr für möglich; dazu wäre nichts weniger als „eine intellektuelle Anschauung erfordert […], die man hier gar nicht annehmen darf“ (A 56). Er entzieht damit der Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III die Basis. Er sieht nun klar, dass transzendentale Freiheit im starken Sinne der moralischen Autonomie nicht mehr im Willen eines vernünftigen Wesens überhaupt impliziert ist und von ihm immer schon in seinem Denken und Handeln vorausgesetzt wird. In einer Anmerkung der Religionsschrift bestreitet Kant der Sache nach direkt die entscheidende Prämisse seiner Deduktion in GMS III: Es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese [sc. die Vernunft] ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualification ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen und also für sich selbst praktisch zu sein: wenigstens so viel wir einsehen können. Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder an-
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kündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 06:26, Anm.*).
Das „allervernünftigste Weltwesen“ könnte sich also bei aller realisierten Vernünftigkeit und Spontaneität seiner Verstandes- und Vernunftfunktionen doch immer noch als bedingt und heteronom bestimmt, als unfrei erweisen.³² Kants Versicherung in GMS III: „Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle“ (04:448.9 – 11) ist jetzt nichts mehr wert. Es gibt keine zur Deduktion hinreichend starke Freiheit, die vorgängig zum Sittengesetz und unabhängig von ihm als notwendige Voraussetzung des Gebrauchs der Vernunft begründbar wäre. „Die wahre Unterordnung unserer Begriffe“ besteht deswegen darin, dass „Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke“ (KpV A 53)³³. „Denn“, so Kant, „wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist […], anzunehmen“ (A 5, Anm., Hervorhebungen im Original). Kant beteuert mit Nachdruck, man könne das Sittengesetz „nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln“, und nennt ausdrücklich auch das „Bewußtsein der Freiheit“, „denn dieses ist uns vorher nicht gegeben“ (A 56). Eine Deduktion des moralischen Gesetzes hält er nun für prinzipiell unmöglich; sie ist „vergeblich gesucht“ (A 81 f.). Transzendentale Freiheit des Menschen meint nun eindeutig und ausschließlich moralische Autonomie des Willens. Ein eigener Begriff ‚praktischer Freiheit‘, auf den Kant vorher so viel Wert gelegt hatte, ist in der Moralphilosophie entbehrlich. Praktische Freiheit geht restlos in der transzendentalen Freiheit auf; der Terminus ‚praktische Freiheit‘ kann nun anstelle von ‚transzendentaler Frei-
Im Opus postumum charakterisiert Kant die Aktivität des Verstandes in der „Verknüpfung der Warnehmungen nach einem Gesetz zur Möglichkeit der Erfahrung“ ausdrücklich als „bedingte Spontaneität“ (22:456). In den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten bestreitet er überhaupt die Möglichkeit, die Freiheit mittels des Bewusstseins einer Spontaneität in uns zu erkennen: „Daß wir frey sind können wir nicht durch unmittelbares Bewustseyn unserer Spontaneität (denn dieser Begrif ist alsdann negativ) sondern nur durchs moralische Gesetz in uns erkennen. Wir erkennen eher daß wir sollen als wir den Bestimmungsgrund unserer Caußalität und daß wir können, erkennen“ (23:245). Vgl. auch A 79 und Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 06:49.
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heit‘ verwendet werden (vgl. A 167 f.). Die empirisch-psychologische Freiheit, die noch im „Kanon“ der ersten Kritik für die ganze praktische Philosophie zureichte, ist jetzt nicht mehr wert als die ‚Freiheit‘ eines automatischen Bratenwenders (A 174).³⁴ Ihre Implikationen sind der Moral abträglich. All dies lässt sich in der Sache nur als Widerrufen der Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III verstehen. Dieter Henrich (1975, S. 62) resümiert korrekt: Kant sieht keine Möglichkeit mehr, „die Geltung […] des Gesetzes im Ausgang von einem Satz von Prämissen zu sichern, in dem diese Geltung noch nicht als akzeptiert unterstellt wird“. Seine Resignation bedeutet das Ende einer Reihe diverser Versuche seit 1781, die Geltung praktischer synthetischer Sätze a priori mit den gleichen oder vergleichbaren transzendentalphilosophischen Mitteln zu begründen wie die synthetischen Urteile a priori der theoretischen Vernunft. Aus dem Scheitern zog Kant den Schluss, dass moralische Geltung grundsätzlich anders begründet muss als theoretische Prinzipien. An die Stelle der Deduktion tritt in der Kritik der praktischen Vernunft die Lehre vom Faktum des moralischen Gesetzes. Kant leitet jetzt nicht mehr die sittliche Verbindlichkeit aus der Eigenschaft der Freiheit ab, sondern verwendet umgekehrt die analytische Implikation beider Begriffe, um die transzendentale Freiheit aus dem Bewusstsein der absoluten Verbindlichkeit zu deduzieren.³⁵ Von nun an insistiert Kant darauf, dass Freiheit „nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden“ (Die Metaphysik der Sitten, 06:252) kann. Da Kant nun das Bewusstsein sittlicher Verbindlichkeit als unableitbares, ursprüngliches Faktum ansieht, ist er auch nicht mehr mit dem Problem konfrontiert, wie er aus dem deskriptiven Satz, dass wir uns als frei betrachten, analytisch eine normative Geltung gewinnen will.³⁶ Diese elementare Schwachstelle seiner Deduktion hat Kant selbst nie thematisiert; er hat immer nur das eine Ungenügen genannt: dass es keinen für die Deduktion hinreichend starken Begriff von Freiheit gibt, der nicht schon das Bewusstsein sittlicher Verpflichtung voraussetzt. Dass nun umgekehrt die Freiheit aus dem Faktum reiner praktischer Vernunft deduziert wird, sichert dem Wissen der transzendentalen Freiheit auch einen höheren Status als zuvor. In der Schulz-Rezension und in GMS III wurde die Freiheit „bloß in der Idee“ (04:448, Anm*) vorausgesetzt; wir handeln, „als ob“ wir frei
Transzendentale Freiheit überhaupt ist jetzt gleichbedeutend mit moralisch-praktischer Freiheit. Diese Engführung hat zur Folge, dass der transzendentale Begriff der Freiheit bei Kant kein Thema einer allgemeinen Handlungstheorie, sondern nur einer Theorie des moralischen Handelns ist. Vgl. z. B. KpV A 4 f., 52 f., 72, 79 und 82 f. Vgl. oben S. 137– 141.
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wären (08:13). Diese von einigen Interpreten besonders geschätzten, modern klingenden Wendungen waren bei Kant eher Ausdruck einer temporären Verlegenheit angesichts „der Last, die die Theorie drückt“ (04:448, Anm.*). Auf solche Kautelen verzichtet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ganz. Jetzt wird die Realität des Begriffs der Freiheit „durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen“ (A 4, Hervorhebung B. M.). Die früheren Bedenken, metaphysisch dunkle Begriffe in der Moralphilosophie zu verwenden, sind ganz geschwunden. In der Kritik der Urteilskraft rechnet Kant die transzendentale Freiheit sogar zu den Tatsachen (res facti), die gewusst werden können: Die Idee der Freiheit ist „die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß“ (B 456 f., vgl. B 467 f.); sie ist der „Grundbegriff“, der den praktischen Gebrauch der anderen Ideen, Gott und Seelenunsterblichkeit, ermöglicht (vgl. B 466 – 468). Die sittliche Verbindlichkeit schlägt in ihrer Absolutheit auch ontologisch so durch, dass Kant die mit ihr verbundene transzendentale Freiheit ohne irgendeinen Vorbehalt zur Realität erklärt – welch ein Kontrast zum „Kanon“ der ersten Kritik, der die Idee der transzendentalen Freiheit, wenn es um das Praktische ging, „als ganz gleichgültig“ beiseitesetzte und es nur mit den beiden anderen Ideen zu tun haben wollte. Als Kant die Ansprüche an das, was als Freiheit gelten sollte, verschärfte und die Spuren älterer Freiheitsbegriffe ausmerzte, brach die entscheidende Stütze der Deduktion weg. Das Argument in GMS III lässt sich unter den Prämissen der Kritik der praktischen Vernunft nicht wiederbeleben, wie dies beispielsweise McCarthy (1982, 1985), Freudiger (1993, S. 92– 117) und andere versucht haben. Die Deduktion in GMS III und die Faktum-Lehre lassen sich nicht miteinander harmonisieren; Kants Gründe für die Faktum-Lehre schließen die Deduktion in GMS III aus. Wir können nur rekonstruieren, wie es zu dem missglückten Argument kam: Es war eine flüchtige Konstellation in einer mehrstufigen Entwicklung zweier Freiheitsbegriffe, die Kant für einen Moment zur Annahme der Möglichkeit der Deduktion sittlicher Verbindlichkeit aus der Freiheit vernünftiger Wesen verleitete, kurz bevor er seine Analytizitätsthese ernst nahm und transzendentale Freiheit nicht mehr jeder Form von Spontaneität der Vernunft zuschrieb, sondern dem durch das moralische Gesetz bestimmten Willen vorbehielt, und er so das Vergebliche seines Unterfangens einsah.
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Bernhard Milz
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Ina Goy (Tübingen)
Die Deduktion des Sittengesetzes in den Jahren 1785, 1788 und 1788 – 90 und der Wandel in Kants Naturbegriff In der theoretischen Philosophie der ersten Kritik beschreibt Kant die fundamentalen Prinzipien des menschlichen Wissens. In der praktischen Philosophie der Grundlegung und der zweiten Kritik bestimmt er das fundamentale Prinzip des moralischen Handelns. Der Geltungsanspruch von Prinzipien dieses letztbegründenden Charakters beruht im kantischen Ansatz einerseits darauf, dass sie die Gestalt synthetischer Sätze a priori haben.¹ Es sind erfahrungsunabhängige Sätze, die etwas Notwendiges, universell Gültiges ausdrücken. Andererseits beruht er darauf, dass diese Prinzipien objektive Realität besitzen. Es handelt sich um Prinzipien für die Erfahrung, um Prinzipien, die im Weltbezug stehen. Eine transzendentale Deduktion, die den Geltungsanspruch dieser Prinzipien rechtfertigen soll, hat daher zwei aufeinander aufbauende Aufgaben. Sie muss die Möglichkeit synthetisch apriorischer Prinzipen aufzeigen und sie muss nachweisen, dass und inwiefern diese objektive Realität besitzen (05:46.20 – 22). Genauer gibt es in der theoretischen Philosophie mehrere synthetisch apriorische Sätze. Sie bilden die Prinzipien des Wissens und beruhen auf einer Verbindung von vorempirischen Elementen im menschlichen Bewusstsein. Als erfahrungsunabhängige Sätze besitzen sie notwendige und allgemeine Geltung. Die vorempirischen Elemente, welche in diesen Sätzen miteinander verbunden
Synthetisch apriorische Sätze sind verschieden von synthetisch aposteriorischen Sätzen, von analytisch apriorischen Sätzen und von analytisch aposteriorischen Sätzen. Analytisch aposteriorische Sätze bilden nach Kant eine leere Klasse. Als synthetisch aposteriorische Sätze würde Kant die Prinzipien des Empirismus bezeichnen. Kennzeichnend für diese Prinzipien ist, dass sie keine vorempirische Geltung haben und keine Universalität und Notwendigkeit besitzen. Es sind Prinzipien, welche die Erfahrung voraussetzen und die nur im Erfahrungsbezug aufgestellt werden können. Als analytisch apriorische Sätze würde Kant die Prinzipien des Rationalismus bezeichnen, die zwar universelle und notwendige Geltung besitzen, weil sie unabhängig von der Erfahrung sind, die jedoch keinen Bezug zur Erfahrung haben. Kant sucht Prinzipien, die einerseits erfahrungsunabhängig sind und damit notwendige und universelle Geltung besitzen, die jedoch andererseits im Bezug zur Erfahrungswelt stehen. Er sucht nach Prinzipien, die als Prinzipien notwendige und universelle Geltung für die und in der Erfahrungswelt haben.
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werden, sind nach Kant sinnliche Formen der Anschauung und begriffliche Kategorien.² In der praktischen Philosophie ist der synthetisch apriorische Satz nur einer, der kategorische Imperativ, oder, wie Kant ihn in der KpV nennt, das praktische Gesetz; er bildet das Prinzip moralischen Handelns. Der Inhalt dieses Prinzips ist gemäß Kants Grundlegung, dass „das Wollen einer Handlung […] mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist,verknüpft“ (04:420.32– 35) wird. Das „Wollen einer Handlung“ ist die je subjektive Maxime für eine Handlung. Der Wille eines vernünftigen Wesens ist das per se Gute, das ein reiner Vernunftwille will. Dass ein subjektiv Gewolltes per se objektiv gut ist, ist etwas, was nicht notwendig schon in einer subjektiven Maxime enthalten ist und was wir hinzudenken müssen, wenn wir eine subjektive Maxime zum Bestimmungsgrund einer moralischen Handlung machen.³ Objektive Realität zu besitzen, der zweite Nachweis in einer Deduktion, bedeutet, dass Prinzipien, obgleich sie unabhängig von der Erfahrung gebildet werden, erst im Erfahrungsbezug ihren Sinn erfüllen. Dies meint in der theoretischen Philosophie, dass das, was wir auf der Grundlage erfahrungsunabhängiger Prinzipien erkennen, in der Erfahrungswelt Gegebenes ist. Dies bedeutet in der praktischen Philosophie, dass unsere moralischen Handlungen, die aus einem erfahrungsunabhängigen Prinzip resultieren, in der Erfahrungswelt stattfinden und ihr entweder eine bestimmte Form und Ordnung geben oder mit entsprechenden Formen und Ordnungen, die in der Erfahrungswelt vorhanden sind, zusammenstimmen. In dieser Abhandlung möchte ich untersuchen, inwiefern die unterschiedlichen Fassungen der Rechtfertigung („Deduction“) des Geltungsanspruchs des Sittengesetzes zwischen den Jahren 1785, 1788 und 1790 aus Verschiebungen im Verständnis der zweiten Aufgabe der Deduktion, des Nachweises der objektiven Realität, der Möglichkeit der Repräsentation des Sittengesetzes in der Erfahrungswelt, resultieren. Ich werde dafür argumentieren, dass Kants verschiedene
Um ein Beispiel zu nennen: Etwa beruht das Kausalprinzip auf einer Synthese der apriorischen Kategorie der Kausalität und der apriorischen, zeitlichen Anschauungsform des Nacheinander. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie genau die synthetisch apriorische Struktur des Moralprinzips gedacht ist; ich rekurriere an dieser Stelle auf die Formulierung in der Grundlegung. Nach der zweiten Kritik wäre der synthetisch apriorische Satz das praktische Gesetz, welches analog zur Gestalt synthetisch apriorischer Sätze in der ersten Kritik in ein sinnliches Element, das moralische Gefühl der Achtung (oder ausbleibenden Achtung), und in ein begriffliches Element, den Begriff des Guten (oder des Bösen), zergliedert werden kann, und damit den theoretischen Prinzipien des Wissens, in denen ein sinnliches mit einem begrifflichen Element verbunden wird, strukturanalog wäre.
Die Deduktion des Sittengesetzes in den Jahren 1785, 1788 und 1788 – 90
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Stellungnahmen zur objektiven Realität des Sittengesetzes auf unterschiedlichen Konzeptionen der Natur beruhen, die Kant zwischen Mitte und Ende der 1780er Jahre entwickelt. In der Grundlegung (1785) verneint Kant die Rechtfertigung der objektiven Realität des Sittengesetzes in der Erfahrungswelt vor dem Hintergrund eines mechanischen Naturbegriffs mit einem Argument aus der theoretischen Philosophie. Mechanische Naturgesetze und Erfahrungsgegenstände, welche durch diese Naturgesetze repräsentiert werden, können Vernunftideen nicht adäquat sein. Dies ist auch Kants Standpunkt in der Kritik der praktischen Vernunft aus dem Jahre 1788, allerdings entdeckt Kant nun, dass wenngleich keine theoretische, so doch eine praktische Rechtfertigung des Sittengesetzes möglich und auch hinreichend ist, da es in der objektiven Realität des Sittengesetzes nicht darum geht, welche bereits gegebene Natur oder Erfahrung dem Sittengesetz als dessen objektive Realität korrespondiert, sondern welche übersinnliche Ordnung der Natur oder Erfahrung durch das Sittengesetz hervorgebracht wird (gegeben werden kann). Die objektive Realität des Sittengesetzes wird 1788 vor allem durch ein praktisches Argument untermauert, nämlich jenem, dass die Kausalität der Freiheit eine Ursache bzw. das Sittengesetz ein Gesetz ist, das die vernünftige übersinnliche Ordnung der Natur erschafft. Dieser Ansatz verschiebt sich nach 1788 ein weiteres Mal, weil Kants Entdeckung der vernunftförmigen Ordnung der sinnlich gegebenen, organisierten Natur den Gedanken zulässt, dass nicht nur die durch das Sittengesetz aufgegebene und durch Freiheit hervorgebrachte übersinnliche Ordnung der Natur mit dem Sittengesetz zur Entsprechung gebracht werden kann, sondern auch die teleologisch beurteilte, sinnlich gegebene Ordnung der organisierten Natur eine Möglichkeit der Rechtfertigung der objektiven Realität des Sittengesetzes enthält. Kant differenziert dabei genauer zwischen der objektiven Realität des Sittengesetzes in einzelnen moralischen Handlungen, die den Status einer Tatsache besitzt, weil ihre sinnliche Repräsentation in der gegebenen, organisierten Natur für uns erfahrbar ist, und der objektiven Realität des höchsten Gutes, die den Status einer Glaubenssache hat, weil ihre sinnliche Repräsentation in der gegebenen, organisierten Natur für uns nicht erfahrbar ist, obgleich wir an ihre Sachhaltigkeit als eine praktische Notwendigkeit glauben. Das Argument der dritten Kritik könnte man als ein theoretisch-praktisches charakterisieren. Theoretisch ist es insofern, als die reflektierende Urteilskraft die physisch teleologische Ordnung auf die moralteleologische bezieht und unter diese als ihre höhere Einheit subsumiert (noch immer theoretisch). Praktisch ist dieses Argument insofern es besagt, dass wir selbst als moralisch Handelnde die physisch teleologische Ordnung der Natur als objektive Realisierungen des Sittengesetzes in unseren Körpern (unserer eigenen
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Natur), zwischen unseren Körpern und externen Naturprodukten oder zwischen externen Naturprodukten in der Erfahrungswelt hervorbringen. Anders als Analysen in der Forschung, die sich in der Frage der Rechtfertigung des Geltungsanspruchs des Sittengesetzes vor allem auf Vergleiche von Textpassagen aus Grundlegung III und der Faktum-Lehre der zweiten Kritik konzentrieren (z. B. Ameriks 2002, Timmermann 2010), oder diese auf spätere Entwicklungen in der RGV projizieren (Guyer 2009), möchte ich in meiner Abhandlung aufzeigen, wie sich die Rechtfertigung des Geltungsanspruchs des Sittengesetzes entlang einer Verschiebung in Kants Naturbegriff wandelt, und dabei einen Akzent auf Kants Standpunkt in der dritten Kritik setzen.
1. Die objektive Realität des Sittengesetzes in der Grundlegung (1785) In der „Deduction“ (04:454.21), der Rechtfertigung des Geltungsanspruches des Sittengesetzes in Teil III der GMS, möchte Kant zeigen, dass das Dasein des Sittengesetzes durch das Vermögen der Freiheit bedingt und begründet ist, obgleich die Idee der Freiheit selbst unerklärbar, da nicht erkennbar bleibt. Kant stellt uns zunächst eine Ableitung des Sittengesetzes aus der Freiheit vor (04:447.26 – 448.22) und begründet anschließend die Unerklärbarkeit der Idee der Freiheit. Dies geschieht auf der Basis der theoretischen Bedingungen für Erfahrungswissen der ersten Kritik. Etwas erklären können wir nur, wenn wir es auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objective Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargethan werden kann, die also darum […] niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann (04:459.03 – 09).
Kant weist die Darlegung der objektiven Realität (des Sittengesetzes bzw.) der Freiheit mit einem Argument zurück, das auf die 1781 in der theoretischen Philosophie festgesetzten Beschränkungen für Erfahrungswissen rekurriert. In der ersten Kritik hat Kant zwischen allgemeinen Naturgesetzen des Verstandes und Ideen der Vernunft unterschieden. Die allgemeinen Naturgesetze des Verstandes sind deskriptive Aussagesätze, die eine Entsprechung in der Erfahrungswelt haben; sie beziehen sich auf den Bereich des empirisch Bedingten; sie bezeichnen etwas, was für den Menschen erkennbar ist. Ideen der Vernunft sind (aus der Perspektive des Menschen) präskriptive Imperative, die keine vollständige Entsprechung in der Erfahrungswelt haben; sie fordern von uns, zum empirisch
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Bedingten ein nicht mehr empirisch Bedingtes, ein Unbedingtes zu suchen, das dazu dient, im Bereich des Bedingten, als ein Erstes in der Reihe aller Bedingungen oder als deren Inbegriff, Einheit zu schaffen. Vernunftideen sind für den Menschen denkbar, nicht aber erkennbar. Nach der ersten Kritik ist die (transzendentale und mitfolgend die praktische) Freiheit eine Idee der Vernunft, d. h. die Idee einer Bedingung, die selbst nicht mehr empirisch bedingt ist. Sie bildet den allerersten Anfang und ermöglicht damit die Auffassung einer vollständigen Reihe von Bedingungen. Sie kann selbst zwar gedacht, nicht aber erkannt werden. Kant rekurriert am Ende des dritten Abschnittes der Grundlegung deutlich auf die Idee der Freiheit aus der ersten Kritik. Die Vernunft kann weder die Nothwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen […], wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist oder geschieht oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie [die Vernunft] rastlos das Unbedingt-Nothwendige und sieht sich genöthigt es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen […]. Es ist also kein Tadel für unsere Deduction des obersten Princips der Moralität, […] daß sie ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann […]. Und so begreifen wir […] aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt, gefordert werden kann (04:463.12– 33).
Warum kann die objektive Realität der Freiheit und des Sittengesetzes auf keine Weise nach Naturgesetzen dargelegt werden? Die Antwort auf diese Frage liegt in Kants mechanistischem Naturbegriff um 1785. Dass Kant um 1785 die Natur in der Regel als eine mechanische konzipiert, wird aus vielen Bemerkungen ersichtlich. So spricht er von der „Naturnothwendigkeit“ als Eigenschaft der „Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden“, d. h. von außen determiniert zu sein (04:446.10 – 12), von der Natur als „Heteronomie der wirkenden Ursachen“ (04:446.22), von den „physischen Ursachen d[er] Natur der Sinnenwelt“ (04:447.18 f.), dem „Naturgesetz der Begierden und Neigungen“ (04:453.28; vgl. 454.12, 27– 28), vom „Naturmechanismus“ (04:458.27) und so fort. Während eine so konzipierte Natur für Kant durch mechanische (empirische und apriorische)⁴ Verstandesgesetze beschrieben wird, und umgekehrt empirische
Kants Auffassung des Mechanismus der Natur wird in der neueren Forschung stärker dis-
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und apriorische Verstandesgesetze ihre „Realität an Beispielen der Erfahrung“ beweisen, ist die „Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objective Realität an sich zweifelhaft ist“ (04:455.24– 27). Die Unerkenn- und Unerklärbarkeit der Freiheit beruht auf ihrer unzureichenden Darstellbarkeit durch Naturgesetze bzw. durch die den Naturgesetzen entsprechenden Erfahrungen in der gegebenen Natur. Freiheit ist eine Idee. Eine Idee impliziert notwendige Einheit, Hinordnung auf eines. Diese ist in mechanischen Naturgesetzen nicht enthalten. Das ist der Schlusspunkt der GMS. Er hinterlässt das unbefriedigende Resultat, dass wir zwar guten Grund haben, an die Freiheit, aber keine guten Gründe haben, an die Verwirklichung der Freiheit in der Natur zu glauben. Moralisches Handeln ist aber, wie Kant später (08:183.07– 09) ausdrücklich sagt, ein Handeln in der Erfahrungswelt. Freiheit muss in der Natur verwirklicht werden können. Eine These, die über dieses unbefriedigende Ergebnis schon in der GMS hinauszugehen versucht, ist jene von der „Verstandeswelt“ (Kant meint damit eine intelligible Welt, die auf Vernunftgesetzen beruht), die „den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält“ (04:453.31– 33). Denn wäre dem so, dass die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt und ihrer Gesetze enthält, wären mit dem Nachweis, dass aus der Freiheit das Sittengesetz (das Grundgesetz der Vernunftwelt) hervorgeht, zugleich der „Grund“ und die „Gesetze“ der Sinnenwelt gelegt. Allerdings bleibt diese These in der Grundlegung thetisch und wird nicht expliziert.⁵
kutiert (vgl. McLaughlin 2014), besonders im Blick auf die dritte Kritik, in welcher Mechanismus und Teleologie einander in der Erklärung der organisierten Natur ergänzen. Guyer (2009, S. 188) diskutiert im Anschluss an diese These, wie, wenn die noumenale (vernünftige) Sphäre Grund der phänomenalen (sinnlichen, empirischen) ist, die phänomenale (sinnliche, empirische) Welt überhaupt von der noumenalen (vernünftigen) verschieden sein kann. Für Guyer wird dieses Problem erst in der RGV durch ein modales Argument gelöst, nämlich jenem, dass das vernünftige Sollen das Können impliziert. Alternativ könnte man Kants These von der „Verstandeswelt“, welche „den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält“ (04:453.31– 33), als einen Vorverweis auf den Standpunkt der KpV lesen, nach dem das Sittengesetz Grund einer übersinnlichen Natur ist, die selbst wiederum der Grund der sinnlichen Natur ist. D. h. nicht die noumenale, vernünftige, moralische Welt ist Grund der phänomenalen, sinnlichen, empirischen Welt (Natur), sondern komplexer: Die noumenale, vernünftige, moralische Welt ist der Grund der noumenalen, d. h. übersinnlichen, vernünftigen Form der Natur, und diese wiederum ist der Grund der sinnlichen, empirischen Natur. Guyers Problem löst sich dann so, dass die Gesetze der noumenalen, übersinnlichen, vernünftigen Form der Natur in den Gesetzen der noumenalen, vernünftigen, moralischen Welt begründet sind. Dies ist insofern unproblematisch, als das vernunftförmige, übersinnliche Urbild der Natur mit der vernunftförmigen, noumenalen, moralischen Welt konform, nämlich vernunftförmig, ist. Es ist zugleich klar, dass die empirische, sinnliche Natur vom vernunftförmigen, übersinnlichen Urbild der Natur durchaus abweichen kann.
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2. Die objektive Realität des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) In den §§ 5 und 6 der „Analytik“ der KpV (05:29.24) betont Kant die wechselseitige Begründung von Freiheit und praktischem Gesetz. Ist, wie Kant schon in der „Vorrede“ der „Analytik“ sagt, die Freiheit der Seinsgrund des Sittengesetzes (ratio essendi), macht uns umgekehrt das Sittengesetz die Freiheit bewusst; das praktische Gesetz ist der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) des moralisch freien Willens (05:04.31– 36): [S]o will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als die Freiheit […] anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.
Während die Begründung des Sittengesetzes aus der Freiheit aus der Grundlegung in der zweiten Kritik erhalten bleibt, betont Kant, der die Erklärbarkeit und Erkennbarkeit der Freiheit in der Grundlegung noch verneinte, in der zweiten Kritik nun neu und anders, dass uns das Sittengesetz die Freiheit bewusst, d. h. in einem gewissen Sinne zugänglich und erkennbar mache. In der sich anschließenden „Deduction der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ (05:42.02 f.) wird dieser Gedanke begründet. Kant argumentiert zunächst wie in der Grundlegung, dass die objektive Realität der Idee der Freiheit auf theoretischer Basis nicht erkannt werden kann (05:48.23 – 27, 49.05 – 07); fügt dann aber neu hinzu, dass der Nachweis der objektiven Realität der Idee der Freiheit an der theoretischen Unerkennbarkeit nicht scheitert, weil man zeigen kann, dass die Freiheit eine praktische, objektive Realität besitzt: [D]as moralische Gesetz beweiset seine Realität dadurch […] genugthuend, daß es einer blos negativ gedachten Causalität, deren Möglichkeit […] [der Kritik der speculativen Vernunft] unbegreiflich und dennoch sie anzunehmen nöthig war, positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar […] bestimmbaren Vernunft, hinzufügt und so der Vernunft, die mit ihren Ideen, wenn sie speculativ verfahren wollte, immer überschwenglich wurde, zum erstenmale objective, obgleich nur praktische Realität zu geben vermag und ihren transscendenten Gebrauch in einen immanenten (im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursachen zu sein) verwandelt (05:48.06 – 16).
Die Rechtfertigung des Sittengesetzes und der Kausalität der Freiheit betrifft nicht die Erkenntnis der Beschaffenheit der Gegenstände, die der Vernunft gegeben
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werden, „sondern ein Erkenntniß, so fern es der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann“ (05:46.32 f.). Wie verhält sich nun dieser Gedanke zu Kants Naturbegriff der zweiten Kritik? In der KpV unterscheidet Kant im unmittelbaren Umfeld der Deduktion vier Bedeutungen von ‚Natur‘. Erstens ist „Natur im allgemeinsten Verstande die Existenz der Dinge unter Gesetzen“ (05:43.13 f.). ‚Natur‘ in diesem Sinne meint die Grundsätze aller Erfahrung aus der ersten Kritik: die Prinzipien, dass alles,was uns als Erfahrungsgegenstand erscheint, als solcher durch seine Extension und seine Intensität konstituiert wird; dass ein Erfahrungsgegenstand als unveränderliche Substanz gegeben ist, die Träger ihrer veränderlichen Eigenschaften ist, dass er in seinen Veränderungen durch eine Kausalität in der Substanz und in der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Substanzen bestimmt ist; schließlich dass er als ein Gegenstand erscheint, der entweder bloß möglich (gedacht), wirklich (gegeben) oder notwendig (immer so und nie anders gegeben) ist. In einer zweiten Bedeutung bezeichnet ‚Natur‘ die „sinnliche Natur“ bzw. Existenz der Natur „unter empirisch bedingten Gesetzen“ (05:43.14– 16). ‚Natur‘ in diesem Sinne umfasst die empirische Mannigfaltigkeit der mechanischen Gesetze der gegebenen Natur, die ein „Naturganzes nach pathologischen (physischen) Gesetzen“ (05:44.17) bildet. In den beiden anderen Bedeutungen von ‚Natur‘ klingen berühmte Theoreme aus dem § 77 der dritten Kritik an. Der Begriff einer „übersinnlichen“ (05:43.12, 44.23) oder „urbildliche[n] (natura archetypa)“ (05:43.27) meint eine Natur, so, wie sie durch die reine Vernunft vorgestellt würde und Teil einer reinen Vernunftwelt sein könnte. Ihr Abbild oder „Gegenbild in der Sinnenwelt“ bezeichnet Kant als „nachgebildete (natura ectypa)“ (05:43.25, 29 f.). Wie verhalten sich diese vier Naturbegriffe der KpV zueinander? Die empirische Mannigfaltigkeit der Natur, beschrieben durch sinnlich-pathologische Gesetze der Natur, ist verschieden von den allgemeinen Naturgesetzen oder Grundgesetzen der Erfahrung; die empirische Mannigfaltigkeit der Natur ist nicht in diesen enthalten. Beide Arten von Naturgesetzen (empirische und allgemeine) wiederum machen das aus, was Kant als natura ectypa bezeichnet, nämlich jene Gestalt der Natur, so, wie sie dem Menschen nach Maßgabe seiner Erkenntnisprinzipien erscheint. Die archetypische Natur dagegen ist das ideale, normative Urbild einer Natur, so, wie sie in der reinen Vernunft vorgestellt wird. Auf welchen dieser vier Naturbegriffe bezieht sich Kants Aussage, dass die Freiheit eine praktische objektive Realität besitze, weil sie „Grund von der Existenz der Gegenstände“ (05:46.33) ist? An dieser Stelle scheint mir eine der Schwierigkeiten der Deduktion der zweiten Kritik offenbar zu werden. Denn man wäre vielleicht geneigt zu sagen, dass die Kausalität der Freiheit die Natur in ihrer ectypischen Gestalt hervorbringt, was bedeuten würde, dass sie eine sinnlich gegebene Natur hervorbringt, die auf den allgemeinen Grundsätzen der Erfahrung
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beruht, die alle Gegenstände der Erfahrung als solche überhaupt erst konstituieren, und dass die Kausalität der Freiheit darüber hinaus die empirischen mechanischen Gesetze der Natur in eine bestimmte,vernünftige Ordnung bringt. Dies scheint aber nicht Kants Aussage zu sein. Denn Kant selbst spricht davon, dass die praktische objektive Realität der Freiheit genau darin bestehe, dass das Sittengesetz uns aufträgt, die Idee einer natura archetypa, das übersinnliche und ideale Urbild der Natur hervorzubringen. Es muss die Idee einer nicht empirisch-gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objective Realität geben, weil wir sie als Object unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen (05:44.22– 26).
Oder an einer zweiten Stelle: Das moralische Gesetz ist in der That ein Gesetz der Causalität durch Freiheit und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur […] und verschafft diesem [dem Gesetz der Causalität durch Freiheit] also zuerst objective Realität (05:47.30 – 37).
Um nachzuweisen, dass das Sittengesetz „im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursache[ ]“ (05:48.15 f.) ist, geht Kant also einen Umweg, nämlich den, dass das Sittengesetz die Idee einer übersinnlichen Natur hervorbringt, und diese (auf zu klärende Weise – und Kant klärt dies nicht) die sinnliche Natur. Dieser Gedanke hat aber insofern etwas Missliches, als der Mensch ja gerade diese übersinnliche Natur nicht hervorbringt. Entweder wird damit der Begriff der praktischen, objektiven Realität der Freiheit bzw. des Sittengesetzes sehr dünn. Denn es hat mit der Wirklichkeit der moralischen Handlung in der empirischen Natur wenig zu tun, wenn wir uns in Gedanken in eine ideale, übersinnliche Natur versetzen, die aus der Autonomie hervorgeht, und uns diese als Muster und Urbild der sinnlichen Natur vorstellen. Auch besitzt der Mensch keine intellektuelle Anschauung, die ihm die vorempirische Erkenntnis der übersinnlichen Natur ermöglichen würde.⁶ Oder die praktische, objektive Realität der Freiheit als Her-
Kant bemerkt diese Schwierigkeit und kommentiert sie wie folgt: „Die Möglichkeit einer solchen übersinnlichen Natur, deren Begriff zugleich der Grund der Wirklichkeit derselben durch unseren freien Willen sein könne, bedarf keiner Anschauung a priori (einer intelligibelen Welt), die in diesem Falle, als übersinnlich, für uns auch unmöglich sein müßte. Denn es kommt nur auf den Bestimmungsgrund des Wollens in den Maximen desselben an […]. Ob die Causalität des Willens zur Wirklichkeit der Objecte zulange, oder nicht, bleibt den theoretischen Principien der Vernunft zu beurtheilen überlassen, als Untersuchung der Möglichkeit der Objecte des Wollens, deren Anschauung also in der praktischen Aufgabe gar kein Moment der-
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vorbringung einer übersinnlichen Natur steht im Konflikt mit der Erkenntnislehre der ersten Kritik. Denn dort wurde gesagt, dass Ideen der Vernunft (und die Idee einer übersinnlichen Natur ist eine solche Idee) keine empirisch adäquate Entsprechung in der Erfahrungswelt haben. In der KpV dagegen scheint es so, als ob der Mensch eine den moralischen Grundsätzen entsprechende, ideale, übersinnliche Natur denken und sie dabei, gleichsam wie Gott, denkend setzen kann. Kant schreibt, das moralische Gesetz versetze uns der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde, und bestimmt unserem Willen die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu ertheilen (05:43.30 – 34).
Im Blick auf die eben geäußerten Bedenken in Bezug auf das Gelingen eines praktischen Nachweises der objektiven Realität des Sittengesetzes in der KpV ist es interessant zu sehen, dass Kant auch in der dritten Kritik die natura archetypa als übersinnliches Urbild der sinnlichen Natur versteht, sie aber – anders als in der zweiten Kritik – als einen Gegenstand des göttlichen intuitiven (archetypischen), zugleich schöpfenden Verstandes deutet und dem menschlichen diskursiven (ectypischen) Verstand sowohl die Einsicht in als auch die Hervorbringung der archetypisch urbildlichen Natur wieder verstellt. In der dritten Kritik steht dem Menschen allein ein Zugang zur natura ectypa offen (vgl. 05:408.18 – 23). Ich resümiere kurz. Anders als in der Rechtfertigung des Sittengesetzes und der Kausalität der Freiheit in der Grundlegung betont Kant in der zweiten Kritik den Gedanken, dass es in der praktischen Philosophie darum geht, eine objektive Realität des Sittengesetzes erst hervorzubringen und den Gegenstand dieses Gesetzes so objektiv real, d. h. zu einem Gegebenen zu machen. Für den Nachweis einer objektiven Realität des Sittengesetzes ist es hinreichend zu sagen, dass der Mensch die vernünftige, übersinnliche Ordnung der Natur selbst erschafft und die Deduktion des Sittengesetzes damit in gewissem Sinne unabhängig davon bleibt, ob die vorgefundene, gegebene Natur eine solche Ordnung besitzt. Obgleich dieser Perspektivenwechsel die Deduktion von einem theoretischen Argument für die Erkennbarkeit des Sittengesetzes entlastet, bleiben Probleme bestehen. Erstens, Kant überfordert die Rechtfertigung der objektiven Realität des Sittengesetzes dadurch, dass sie dem Menschen im Blick auf die Einsicht in die
selben ausmacht“ (05:45.22– 33). Dieser Gedanke ist aber schief, da Kant ja argumentiert, dass wir die übersinnliche Natur hervorbringen und nicht die sinnliche, also auf irgendeine Darstellbarkeit des übersinnlichen Begriffs der Natur in der vorempirischen Anschauung rekurrieren müsste.
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Ordnung der Natur einen göttlichen Standpunkt zuschreiben muss. Zweitens, beinhaltet dieser quasi göttliche Standpunkt vor allem die Hervorbringung der übersinnlichen Natur. Unsere moralischen Handlungen finden aber in der Erfahrungswelt statt. Kant bleibt uns eine Erklärung schuldig, wie die übersinnliche Natur mit der sinnlichen Natur zusammenhängt, etwa wie das Urbild der übersinnlichen Natur das ihm entsprechende sinnliche Abbild der Natur erzeugt. Drittens, dass die vernünftige Ordnung der Freiheit in der Natur nicht vorgefunden, sondern durch die Freiheit erst in ihr hervorgebracht wird, stellt nicht sicher, dass die vernünftige Ordnung der Freiheit in die Natur hineingebracht werden kann. Muss nicht die Natur selbst eine oder wenigstens empfänglich für eine vernünftige Ordnung sein, um die praktische, objektive Realität des Sittengesetzes sein zu können? Viertens, die Erfahrung zeigt, dass der Mensch außer Menschen keine anderen natürlichen Objekte hervorbringen kann. Und so bliebe ihm selbst dann, wenn er die objektive Realität des Sittengesetzes im moralischen Handeln selbst erzeugte, nur die Möglichkeit, vernünftige Ordnungen in menschlichen Naturgegenständen, nicht aber in nicht menschlichen Naturgegenständen hervorzubringen, obgleich er vernünftige Ordnungen zwischen diesen erzeugen kann. Damit hätte Kant ein Argument für die objektive Realität des Sittengesetzes in einzelnen Verhältnissen seiner eigenen Natur, zwischen seiner eigenen Natur und einzelnen externen Naturgegenständen und zwischen einzelnen externen Naturgegenständen, nicht aber für die Möglichkeit einer vernünftigen Ordnung nicht menschlicher Naturgegenstände und der gesamten Natur (Erfahrungswelt). Er kann damit bis zu einem gewissen Grade für die objektive Realität einzelner moralischer Handlungen, nicht aber für die des höchsten Gutes – einer allumfassenden, vernünftigen Naturordnung – argumentieren. Es scheinen besonders diese Problempunkte zu sein, an denen Kant die nach 1788 entwickelten Konzeptionen der objektiven Realität des Sittengesetzes und der Verwirklichung der moralischen Freiheit in der Natur weiterentwickelt.
3. Die objektive Realität des Sittengesetzes zwischen 1788 und 1790 Diese erneute Veränderung in Kants Ansichten über einen möglichen Nachweis der objektiven Realität des Sittengesetzes wird ab 1788 greifbar. Ich beginne mit zwei charakteristischen Zitaten. Das erste Zitat entstammt der kleinen Schrift Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, die Kant im Januar/ Februar-Heft des Jahres 1788 im Teutschen Merkur veröffentlicht. Sie gehört in eine Reihe von anthropologischen Schriften zum Problem der Herkunft des mensch-
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lichen Stammes und seiner Rassen, die Kant in Auseinandersetzung mit Georg Forster in den Jahren 1775, 1785 und 1788 publiziert. Kant entwickelt in dieser Schrift eine teleologische Konzeption der Natur⁷, in der das organisierte Wesen durch Zweck-Mittel-Beziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzen charakterisiert wird. Ein organisiertes Wesen ist ein „materielles Wesen“, das „nur durch die Beziehung alles dessen, was in ihm enthalten ist, auf einander als Zweck und Mittel möglich ist“ (08:181.01– 03). Zur objektiven Realität des Sittengesetzes sagt Kant nun: Allein die Kritik der praktischen Vernunft zeigt, daß es reine praktische Principien gebe, wodurch die Vernunft a priori bestimmt wird, und die also a priori den Zweck derselben angeben. […] Weil aber eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist, so wird sie deren Möglichkeit in derselben […] nicht verabsäumen dürfen, um der praktischen reinen Zweckslehre objective Realität in Absicht auf die Möglichkeit des Objects in der Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, zu sichern (08:182.25 – 183.09, Hervorhebungen teilweise I. G.).
Dieselbe Argumentationsstrategie bestimmt auch Kants Aussagen in der zweiten „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft aus dem Jahre 1790: Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen […] kein Übergang möglich ist […]: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der
Kant rekurriert in seinen Schriften schon wesentlich früher auf teleologische Konzeptionen der Natur. Allerdings werden sie vor 1788 nie als eigene philosophische Ansätze präsentiert oder als eigenständige teleologische Theorien der Natur neben den von Kant vertretenen mechanistischen Naturkonzeptionen entfaltet. Kant bewegt sich in teleologischen Naturkonzeptionen so, wie es in der Populärphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts üblich ist. Einflussreiche teleologische Konzeptionen vertreten etwa Christian Wolff in Deutschland und John Ray oder William Derham in England. Ein deutliches Beispiel für Kants Übernahme naturteleologischer Elemente ist die Frühschrift ANTH aus dem Jahre 1755, in der Kant im Rahmen eines physiko-theologischen (teleologischen) Gottesbeweises eine mechanistische Naturphilosophie präsentiert. Obgleich Kant die Ordnung der Dinge teleologisch-theologisch erklärt, bleibt seine Naturphilosophie newtonianisch-mechanistisch. Gleichzeitig erkennt Kant in derselben Schrift an, dass ihn die Erklärung von Organismen vor ein unlösbares Problem stellt (01:230.14– 26). Die zweckmäßige Ordnung der Natur ist zu diesem Zeitpunkt noch keine philosophische Theorie der Natur selbst. Ebenso setzen die Zweckformeln des kategorischen Imperativs in der Grundlegung teleologische Konzeptionen der Natur voraus, ohne dass Kant diese theoretisch durch eine entsprechende teleologische Naturphilosophie vorbereitet und unterstützt.
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in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme (05:175.36 – 176.09, Hervorhebungen teilweise I. G.).
Beide Zitate verdeutlichen, dass Kant die objektive Realität des Sittengesetzes in der dritten Kritik unter einer neuen Perspektive, jener von Zweck-Mittel-Beziehungen diskutiert. Was ändert sich für den Nachweis der objektiven Realität des Sittengesetzes durch einen auf das Zweckdenken fokussierten, teleologischen Natur- und Moralbegriff? Und kann Kant dadurch die mangelnde Darstellbarkeit des Sittengesetzes in der Natur überwinden? Einen entscheidenden Hinweis gibt Kant am Ende der dritten Kritik durch die Differenzierung verschiedener Weisen der objektiven Realität von Gegenständen und der ihnen korrespondierenden menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. In dieser Differenzierung von Arten der objektiven Realität wird die objektive Realität des Sittengesetzes zweifach und in zweifachem Sinne verortet: zum einen als eine Tatsache in Bezug auf die objektive Realität des sittlich Guten in einzelnen Handlungen, zum anderen als eine Glaubenssache in Bezug auf die objektive Realität des höchsten sittlichen Gutes (d. h. der objektiven Realität des Sittengesetzes für alle moralischen Handlungen). Betrachten wir zunächst diese Einteilung. Kant unterscheidet vier Ebenen der objektiven Realität und ihrer Erkenntnis für den Menschen. Erstens, sind „nicht erkennbare Dinge“ (05:467.17), die überhaupt keine objektive Realität haben, verschieden von der objektiven Realität, zweitens, in „Sachen der Meinung (opinabile)“ (05:467.12 f.). Diese wiederum ist, drittens, verschieden von der objektiven Realität der „Thatsachen (scibile)“ (05:467.13), auch „res facti“ genannt (05:468.16), oder, viertens, der objektiven Realität von „Glaubenssachen (mere credibile)“ (05:467.13 f.), auch „res fidei“ genannt (05:469.13). Im Einzelnen: Es gibt, erstens, nicht erkennbare Dinge, denen jede objektive Realität fehlt, weil sie überhaupt nicht „in irgend einer möglichen Erfahrung dargestellt werden können“ (05:467.16 f.). In Bezug auf diese Gegenstände kann die theoretische menschliche Vernunft weder Meinungen noch Wissen haben. Zu ihnen gehören die spekulativen Ideen der Unsterblichkeit der Seele und die Idee Gottes. Außerdem besitzen bloße Dichtungen, etwa die Vorstellung eines Pegasus, keine objektive Realität für die theoretische Vernunft. Zweitens, gibt es Sachen der Meinung, deren objektive Realität an sich zwar möglich ist, jedoch nicht für uns als Menschen; es sind „Objecte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungserkenntniß (Gegenstände der Sinnenwelt), die aber nach dem bloßen Grade dieses Vermögens, den wir besitzen, für uns unmöglich ist“ (05:467.22 – 24). Die objektive Realität dieser Gegenstände kann weder mit den Mitteln unseres Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens noch durch Experimente in einer ‚erweiterten‘ Erfahrung zugänglich gemacht oder geprüft werden. In Bezug auf Objekte dieser Art können Menschen Meinungen haben, aber kein Wissen. Als
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Beispiele nennt Kant den „Äther der neuern Physiker“ (05:467.24 f.), eine Art Flüssigkeit, die alle Materien durchdringt und mit ihnen innerlich vermischt ist. Die Existenz eines solchen Äthers ist nach Kant eine bloße Annahme, die wir mit den verfügbaren Mitteln unserer Erfahrung (Erkenntnisvermögen, Experimente) nicht bestätigen können. Auch über vernünftige „Bewohner anderer Planeten“ können Menschen Meinungen formulieren, denn „wenn wir diesen näher kommen könnten, welches an sich möglich ist, würden wir, ob sie sind, oder nicht sind, durch Erfahrung ausmachen“ (05:467.29 – 32) können. Solange dies jedoch nicht möglich ist, bleibt es beim Meinen. Drittens – und hier findet sich eine für die Diskussion der objektiven Realität des Sittengesetzes entscheidende Aussage – gibt es Tatsachen oder res facti, welche „Gegenstände für Begriffe“ sind, deren „objective Realität (es sei durch reine Vernunft, oder durch Erfahrung und im ersteren Falle aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen correspondirenden Anschauung) bewiesen werden kann“ (05:468.12– 15). Als Beispiele nennt Kant drei Arten von Tatsachen: a) Tatsachen sind mathematische Eigenschaften der Größen in der Geometrie, deren objektive Realität durch die reine theoretische Vernunft und reine Anschauung bewiesen werden kann. b) Tatsachen sind außerdem Gegenstände, die durch eigene oder fremde Erfahrung bezeugt werden können, deren objektive Realität also durch Erfahrung und empirische Anschauungen und Begriffe bewiesen ist. So ist etwa eigene Erfahrung notwendig, wenn wir ein Objekt unserer Gegenwart identifizieren; und so ist fremde Erfahrung erforderlich, wenn wir Objekte der Geschichte aus der Erfahrung anderer lernen. c) Darüber hinaus ist die objektive Realität der Idee der Freiheit eine Tatsache. Sie ist eine besondere Art der Kausalität, deren objektive Realität sich „durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun“ (05:468.26 – 28) lässt. Anders als die Vernunftideen der Unsterblichkeit der Seele und Gottes, die keiner Darstellung in der Anschauung und keiner theoretischen Beweise fähig sind, ist die Idee der Freiheit eine Tatsache, die unter die „scibilia“ (05:468.29), d. h. unter Gegenstände, von denen der Mensch Erfahrungswissen haben kann, gerechnet werden muss. Eine vierte Art von Gegenständen sind Glaubenssachen oder res fidei. Diese müssen „in Beziehung auf den pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft (es sei als Folgen, oder als Gründe) a priori gedacht werden“; sie sind aber „für den theoretischen Gebrauch derselben überschwenglich“ (05:469.01– 04). Zu dieser Weise einer objektiven Realität von Gegenständen gehört die Idee des höchsten Gutes. Anders als die objektive Realität des Sittengesetzes in einzelnen moralisch guten Handlungen, die eine Tatsache ist, ist die objektive Realität des Sittengesetzes im höchsten Gut etwas, woran der Mensch aus praktischen Gründen glaubt. Weitere Beispiele für Glaubenssachen sind die Ideen der
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Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als Bedingungen des höchsten Gutes. Kant erwähnt sie an dieser Stelle ein zweites Mal, diesmal nicht mehr als Gegenstände und Ideen, die aus der Perspektive der reinen theoretischen Vernunft keine objektive Realität haben, sondern als Gegenstände, „die für uns in praktischer Beziehung objective Realität“ (05:469.30 f.) besitzen. Dabei bestimmt er das Verhältnis der drei spekulativen Vernunftideen so, dass die Idee „der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen“ sei, welcher seine „objective Realität […] an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung“ beweise und dadurch die „Verknüpfung der beiden andern mit der Natur“ (05:474.21– 25) möglich mache. Betrachten wir nun die beiden Thesen zur objektiven Realität des Sittengesetzes in ihrem Status als Tatsache in einzelnen moralisch guten Handlungen und in ihrem Status als Glaubenssache im höchsten Gut und ihr Verhältnis zum Naturbegriff aus den Jahren 1788 – 90.
3.1 Die Verwirklichung des sittlich Guten als Tatsache in einzelnen moralischen Handlungen Die objektive Realität des Sittengesetzes hat für Kant ab 1788 den Status einer Tatsache, denn sie ist in einzelnen sittlich guten Handlungen in der Erfahrungswelt, in der Natur, gegeben. Ihr Nachweis scheitert nicht mehr wie in der Konzeption der Grundlegung daran, dass sie theoretisch „auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargethan“ und darum „niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann“ (04:459.06 – 09). Die objektive Realität des Sittengesetzes ist auch nicht mehr nur durch ein praktisches Argument gesichert, das auf die Darstellung des Sittengesetzes in „einer übersinnlichen [nicht der sinnlichen] Natur“ (05:47.32) rekurriert, die man in Gedanken selbst hervorbringt. Stattdessen ist das Sittengesetz in der KU jener „einzige Begriff des Übersinnlichen“, welcher seine objektive Realität „an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung“ (05:474.22– 24) beweist. Das Sittengesetz und die Idee der Freiheit lassen sich in „wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung“ dartun; die objektive Realität des Sittengesetzes in einzelnen Handlungen gehört nun zu den „scibilia“ – Gegenständen, die man wissen, weil in der Erfahrung erkennen kann (05:468.27– 29). Die entscheidende Veränderung gegenüber der KpV ist, dass Kant in der KU mit dem Terminus ‚Natur‘ die sinnlich gegebene, organisierte Natur meint, die in unsere einzelnen Handlungen involviert ist, und nicht deren übersinnliches Urbild. Die objektive Realität des Sittengesetzes, so Kant 1790, ist in
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einzelnen Handlungen in der organisierten Natur als Gegenstand der Erfahrung gegeben.⁸ Wieso erlaubt der teleologische Naturbegriff der dritten Kritik diese erneute Verschiebung im Status der objektiven Realität des Sittengesetzes in einzelnen Handlungen? Der Grund dafür, dass Kant in der zweiten Kritik für eine Darstellung des Sittengesetzes in der Natur auf den Begriff einer übersinnlichen Natur ausweichen musste, ist, dass ein ausschließlich mechanischer Begriff der sinnlichen Natur als Repräsentation einer sittlichen Vernunftordnung nicht ausreicht.Warum ist das so? Wir hatten oben bereits gesagt, dass Kant vor 1788 glaubt, dass die allgemeinen Naturgesetze Gesetze des Verstandes sind, durch die uns Erfahrungsgegenstände gegeben werden, die eine Entsprechung in der Erfahrungswelt haben. Auch die empirischen und apriorischen mechanischen Naturgesetze beziehen sich auf etwas, was für den Menschen erfahrbar und damit erkennbar ist. Die dem Sittengesetz zugrunde liegende praktische Freiheit dagegen ist eine Idee. Das Sittengesetz ist ein Gesetz der reinen praktischen Vernunft. Es handelt sich um einen Imperativ, der sagt, wie die Welt sein soll und für den es nicht selbstverständlich ist, dass für das, was er uns aufgibt, eine Entsprechung in der Natur und Erfahrungswelt vorhanden ist. Das Sittengesetz und die Vernunftidee der Freiheit sind für den Menschen denkbar. So die erste und die zweite Kritik. Mit teleologischen Gesetzen der Natur führt Kant in der dritten Kritik eine Beurteilung der Natur ein, in der die empirische, gegebene Natur nicht nur als eine solche erscheint, die in allgemeinen Naturgesetzen, so,wie sie ist, konstituiert und für uns erkennbar und in mechanischen Naturgesetzen beschreibbar wird, sondern in physisch-teleologischen Naturgesetzen als eine solche erforscht wird, die so ist, wie sie ist, und zugleich so ist, wie sie sein soll. Sie wird aus der Perspektive der „physische[n] Teleologie“ (05:447.16) beurteilt. Wenn wir einen Baum betrachten, urteilen wir nicht nur mechanisch, dass ein Baum so und so ist, sondern urteilen zugleich physisch-teleologisch, dass der Baum auch jene Bedingungen
Ameriks (2008, S. 336 – 340) interpretiert Kants Aussage, dass das Sittengesetz als Tatsache in einzelnen moralischen Handlungen gegeben ist, sehr zurückhaltend so, dass sich Kant mit dieser These auf die Faktum-Lehre der KpV bezieht und keinen neuen Standpunkt gegenüber der zweiten Kritik einnimmt. Aber in der zweiten Kritik sagt Kant, dass es die Hervorbringung der übersinnlichen Natur ist, welche die objektive Realität des Sittengesetzes rechtfertigt. Dies ist offensichtlich eine andere Aussage als jene der dritten Kritik, dass die objektive Realität des Sittengesetzes durch dessen Hervorbringung in wirklichen Handlungen, d. h. in der Erfahrung, gerechtfertigt werden kann. Ich argumentiere dagegen, dass zwischen der zweiten und dritten Kritik ein Wandel im Naturbegriff Kants stattfindet, der es erlaubt, auf der Verwirklichung und damit Erkennbarkeit einzelner moralischer Handlungen in einer vernunftförmigen Natur und damit auf der Freiheit als Tatsache in der Erfahrungswelt zu insistieren, und das ist es auch, was Kant in der genannten Passage sagt (05:468.24– 30).
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erfüllt (oder nicht erfüllt), die ein Baum erfüllen muss, um so zu sein, wie ein Baum sein soll. Was ist damit gewonnen? Nach Kants Entdeckung der teleologischen Ordnung der sinnlichen Natur 1788 eröffnet sich ein Argument für die objektive Realität des Sittengesetzes, das darauf beruht, dass das Sittengesetz in einzelnen moralischen Handlungen, die der menschlichen Urteilskraft zugänglich sind, in der sinnlichen, vernünftig geordneten Natur dargestellt werden kann. Einer mechanischen Naturordnung an sich selbst fehlt eine Hinordnung sowohl auf empirische Zwecke als auch eine Hinordnung auf den einen, letzten, rein vernünftigen Zweck. Eine physisch-teleologische Ordnung der Natur besitzt sie. Das eine, worauf Naturgegenstände und ihre Gesetze hingeordnet sind, ist ein Naturzweck, und dieser wiederum ist zuletzt auf den moralischen Endzweck gerichtet. Ab 1788 beschreibt Kant die Architektonik von Zweck-Mittel-Beziehungen so, dass empirisch-mechanische Ordnungen (z. B. diese konkreten Gesetze der Bewegungen dieser Gliedmaßen eines Menschen) auf empirische Zwecke in der Natur (z. B. um zu laufen), diese wiederum auf apriorische Zwecke der Vernunft (z. B. um schnell zu einem Menschen zu laufen, den man aus der Not retten möchte) hin geordnet sind. Zweck-Mittel-Beziehungen in der Natur bestehen aus mechanischen Ordnungen als Mittel für empirische, physisch-teleologische Ordnungen als ihrem Zweck. Empirische, physisch-teleologische Ordnungen der Natur wiederum sind Mittel für die apriorisch moralisch-teleologische Ordnung als ihrem Endzweck. Die apriorischen moralischen Zwecke der Vernunft sind der Endzweck der Natur. Unter dieser Perspektive lassen sich physisch-teleologische Naturgesetze als Repräsentationen des Sittengesetzes verstehen. Denn die in der organisierten Natur vorgefundenen Ordnungen repräsentieren nicht nur Gesetze der Natur, sondern zugleich auch ihre Hinordnung auf die moralische Ordnung als Endzweck der Natur. Die objektive Realität im Sinne des Sittengesetzes als Tatsache zeigt sich in der organisierten Natur darin, dass wir den sinnlich gegebenen Naturgegenstand nur dann vollständig verstehen und erklären können, wenn wir ihn als eine Repräsentation der moralischen Ordnung verstehen und wenn wir ihn von dieser übergeordneten Zweckmäßigkeit her verstehen, da wir seine zweckmäßige Ordnung sonst nicht bis zu ihrem letzten Grund denken könnten. Inwiefern wird das Sittengesetz dann in einzelnen Handlungen zur Tatsache? Auf zweierlei Weise: Zum einen, wenn wir die interne Zweckordnung der organisierten Natur unseres eigenen Körpers auf eine bestimmte (physisch-teleologische) Weise bilden und formen, sodass uns unser Körper physischer Zweck an sich selbst sein kann, zugleich aber als physisches Mittel zum moralischen Zweck dienen kann. Zum anderen bringen wir bestimmte physisch-teleologische Verhältnisse zwischen uns selbst und externen organisierten Naturgegenständen oder zwischen organisierten Naturgegenständen in externen Zweckordnungen
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hervor. In diesem Falle finden wir die physisch-teleologische Ordnung der Natur in einzelnen Naturprodukten schon vor (etwa die zweckmäßige Form eines Hundes) und setzen diese zu anderen Natur- und Kunstprodukten (die zweckmäßige Form eines zweiten Hundes, die zweckmäßige Form eines Schlittens) ins Verhältnis, um sie für einen moralischen Zweck als ihren Endzweck zu gebrauchen (z. B. das Hundegespann für einen Rettungsschlitten, der einen verletzten Bergsteiger in Not retten soll).
3.2 Die Verwirklichung des sittlich Guten als Glaubenssache im höchsten Gut Anders als die objektive Realität des Sittengesetzes in einzelnen Handlungen, die für Kant eine Tatsache ist, hat die objektive Realität des Sittengesetzes im höchsten Gut für Kant ab 1788 den Status einer Glaubenssache. Sie ist etwas, was wir aus praktischen Gründen für wahr halten (glauben), ohne es mit den Mitteln der theoretischen Vernunft erkennen zu können. Um besser zu verstehen,was Kant mit dieser Aussage meint, muss man zunächst fragen, was das höchste Gut, der Endzweck (im Sinne der dritten Kritik), ist. Dann muss man erklären, warum und in welchem Sinne das höchste Gut – anders als einzelne moralische Handlungen, die uns als Tatsachen in der organisierten Natur in der Erfahrungswelt gegeben sind – nur die objektive Realität einer Glaubenssache haben kann, und was dies bedeutet. Das höchste Gut ist die Idee des Maximums eines moralisch Guten, das die Menschen aus Freiheit hervorbringen können. Es besteht aus einer subjektiven Komponente, der Glückseligkeit, einem „zu befördernde[n] physische[n] Gut“ im Bereich der Natur, und einer objektiven Komponente, der Glückswürdigkeit, „der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit“ im Bereich der Vernunft (05:450.13 – 16). Im höchsten Gut sollen Glückseligkeit (Natur) und Glückswürdigkeit (Vernunft) aller Handelnden zur Entsprechung kommen. Kants Idee ist, dass in einer idealen Welt das Sittengesetz in der Gesinnung eines jeden moralisch Handelnden mit den entsprechenden physischen Gütern belohnt werden sollte, die alle Handelnden, insofern sie Naturwesen sind, in der Erfahrungswelt glücklich machen. Im höchsten Gut geht es also nicht mehr nur um die Darstellung des Sittengesetzes in der Natur für den Fall einer einzelnen Handlung eines einzelnen moralischen Akteurs, sondern um das Sittengesetz, so wie es in allen moralisch Handelnden je im Bewusstsein vorliegt, und seiner adäquaten Darstellung in der Natur für jede einzelne Handlung jedes einzelnen Akteurs. Warum ist das höchste Gut dann aber für Kant nicht schlicht die Summe aller Tatsachen, d. h. die Summe aller einzelnen Anwendungen des Sittengesetzes in
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moralischen Handlungen und ihre Repräsentation in der organisierten Natur, und damit selbst eine Tatsache? Warum behauptet Kant stattdessen, dass die objektive Realität des höchsten Gutes eine Glaubenssache sei? Dies liegt daran, dass wir als menschliche Wesen die objektive Realität des Sittengesetzes immer nur aus der Perspektive eines einzelnen menschlichen Beobachters feststellen können. Der Bereich der Glückseligkeit (Natur) ist durch empirische Mechanismen und empirische, physisch-teleologische Zwecke der Natur geordnet. Der Bereich der Moral ist durch das Sittengesetz und durch dessen moralteleologische Varianten geordnet. Für beide Elemente des höchsten Gutes bestehen aus der Perspektive des einzelnen Menschen Erkenntnisschranken, welche die Einsicht in die objektive Realität des Sittengesetzes im höchsten Gut zur Glaubenssache machen. Obzwar wir für einzelne Naturprodukte, wie oben beschrieben, feststellen können, dass sie zweckmäßig und damit zuletzt auf die moralische Vernunftordnung hin geordnet sind, ist die Beurteilung der Vernunftförmigkeit der gesamten Natur problematisch, weil dem Menschen die gesamte organisierte Natur als Erfahrungsgegenstand nie gegeben ist. Für die Beurteilung der Moralität oder Sittlichkeit aller Handelnden besteht das analoge Problem, dass wir als einzelne menschliche Urteilende keine Einsicht in die Gesinnungen eines anderen Menschen, geschweige denn aller anderen Menschen haben können und insofern nie sicher wissen, ob das höchste Gute auf Seiten der Sittlichkeit (die moralische Gesinnung aller in moralisch relevanten Situationen handelnden Menschen) eingetreten ist oder nicht. Das höchste Gute besteht damit aus zwei Komponenten, die wir in ihrer Ganzheit denken, aber nur teilweise erkennen können.⁹ Warum ist das höchste Gut trotz der mit ihm verbundenen Erkenntnisschranken in Bezug auf die objektive Realität dennoch eine notwendige Glaubenssache – und damit in einem begrenzten Sinne als Glaubenssache objektiv und real? Kant argumentiert, dass der Glaube an den Begriff eines höchsten Gutes notwendig ist, weil wir nur durch ihn annehmen können, dass die Bewirkung des moralischen Endzwecks, die uns durch „praktische reine Vernunft geboten“ (05:469.09) ist, möglich ist. Glaube ist der „beharrliche Grundsatz des Gemüths, Es ist dabei allerdings bemerkenswert, dass Kant für die Möglichkeit der regulativ-hypothetischen Beurteilung der organisierten Natur im Ganzen als einem physisch-teleologischem System der Zwecke in § 61 der KU relativ aufwendige Argumente bringt: ein Argument, das uns erklärt, wie wir die Idee eines Zwecks in der Beurteilung einzelner organisierter Naturprodukte auf die Beurteilung des Zwecks der organisierten Natur im Ganzen qua Analogie übertragen können (05:380.26 – 381.07), ein Argument aus der Konzeption der organisierten Materie, welche die Beurteilung einzelner organisierter Naturprodukte als Naturzwecke und der organisierten Natur im Ganzen als System der Zwecke rechtfertigt (05:378.35 – 379.04), ein Argument aus der Zweckmäßigkeit auch scheinbar zweckwidriger Dinge in der Natur (05:379.10 – 380.12), ein Argument aus der Schönheit der Natur (05:380.13 – 25).
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das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen nothwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen“ (05:471.05 – 08). Er ist nötig, denn er gibt uns das „Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförderung Pflicht“ ist, selbst wenn „die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist“ (05:472.02– 04).
4. Zusammenfassung Die vorliegende Abhandlung zeigt, inwiefern Kants verschiedene Stellungnahmen zur objektiven Realität des Sittengesetzes zwischen den Jahren 1785, 1788 und 1790 mit unterschiedlichen Konzeptionen der Natur zusammenhängen. Während Kant in der Grundlegung (1785) die Rechtfertigung der objektiven Realität des Sittengesetzes in der Erfahrungswelt vor dem Hintergrund eines mechanischen Naturbegriffs mit dem Argument aus der theoretischen Philosophie verneint, dass mechanische Naturgesetze und Erfahrungsgegenstände, welche durch diese Naturgesetze repräsentiert werden, Vernunftideen nicht adäquat sein können, argumentiert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), dass, wenngleich keine theoretische, so doch eine praktische Rechtfertigung des Sittengesetzes möglich ist, da es in der objektiven Realität des Sittengesetzes nur darum geht, welche übersinnliche Ordnung der Natur durch das Sittengesetz hervorgebracht wird. Die objektive Realität des Sittengesetzes wird durch das praktische Argument untermauert, dass die Kausalität der Freiheit die vernünftige übersinnliche Ordnung der Natur erschafft. Zwischen 1788 und 1790 argumentiert Kant auf der Grundlage der Entdeckung der teleologischen, vernunftförmigen Ordnung der sinnlich gegebenen, organisierten Natur, dass die teleologisch beurteilte, sinnlich gegebene Ordnung der organisierten Natur eine Möglichkeit der Rechtfertigung der objektiven Realität des Sittengesetzes eröffnet. Kant differenziert dabei genauer zwischen der objektiven Realität des Sittengesetzes in einzelnen moralischen Handlungen, die von nun ab den Status einer Tatsache besitzt, weil ihre sinnliche Repräsentation in der gegebenen, organisierten Natur für uns erfahrbar ist, und der objektiven Realität des höchsten Gutes, die den Status einer Glaubenssache besitzt, weil ihre sinnliche Repräsentation in der gegebenen, organisierten Natur für uns nicht erfahrbar ist, obgleich wir an ihre Sachhaltigkeit als eine praktische Notwendigkeit glauben.
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Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe zitiert. Ameriks, Karl (2002): „‚Pure Reason of Itself alone Suffices to Determine the Will‘ (42 – 57)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Berlin, S. 99 – 114. Ameriks, Karl (2008): „Status des Glaubens (§§ 90 – 91) und Allgemeine Anmerkung über Teleologie“. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Berlin, S. 331 – 349. Guyer, Paul (2009): „Problems with Freedom. Kant’s Argument in Groundwork III and its Subsequent Emendations“. In: Jens Timmermann (Hrsg.): Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Cambridge, S. 176 – 202. McLaughlin, Peter (2014): „Mechanical Explanation“. In: Ina Goy/Eric Watkins (Hrsg.): Kant’s Theory of Biology. Berlin, New York, S. 149 – 164. Schönecker, Dieter/Allen W. Wood (2002): „Die Deduktion des kategorischen Imperatives“. In: Dieter Schönecker/Allen W. Wood (Hrsg.): Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein einführender Kommentar. Paderborn, München, Wien, Zürich, S. 170 – 206. Timmermann, Jens (2007): „Transition from the Metaphysics of Morals to the Critique of Pure Practical Reason“. In: Jens Timmermann (Hrsg.): Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Cambridge, S. 120 – 151. Timmermann, Jens (2010): „Reversal or Retreat? Kant’s Deductions of Freedom and Morality“. In: Jens Timmermann/Andrews Reath (Hrsg.): Kant’s Critique of Practical Reason. A Critical Guide. Cambridge, S. 73 – 89.
Jochen Bojanowski (Groningen und Mannheim)
Kants Disjunktivismus in GMS 446 f. Der Begriff der Autonomie ist der Grundbegriff der kantischen Ethik.¹ Folgt man einem landläufigen Verständnis dieses Begriffs, unterscheidet sich Kants Ethik darin nicht eigentlich von anderen Ethiken. Auch sie erklären, was es bedeutet, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das gilt etwa für Aristoteles ebenso wie für Seneca und sogar für Spinoza und Nietzsche. Doch Kants Autonomiebegriff ist anspruchsvoller; er ist so anspruchsvoll, dass Kant behauptet, die gesamte Philosophiegeschichte habe den eigentlichen Grundbegriff der Ethik verfehlt. Nach Kants Auffassung muss Autonomie als das Vermögen verstanden werden, aus reiner praktischer Vernunfterkenntnis heraus zu handeln. Dem Namen nach berufen sich viele in der gegenwärtigen Ethik und politischen Philosophie auf Kants Autonomiebegriff. Doch der Sache nach hat sein anspruchsvoller Begriff keine breite Zustimmung gefunden. Ein Grund dafür ist, dass Kant von ihm behauptet, er sei mit dem positiven Begriff der Freiheit identisch. Kant gelangt letztlich sogar zu der Schlussfolgerung, dass „ein freier Wille und ein Wille unter moralischen Gesetzen einerlei“ sind (04:447). Der vorherrschenden Meinung zufolge muss diese sogenannte Reziprozitätsthese entweder eingeschränkt oder aufgegeben werden. Wenn diese These so verstanden wird, dass ein Willensakt dann und nur dann autonom und frei ist, wenn er das moralisch Gute will, ist die These offensichtlich absurd, weil sie die Möglichkeit moralisch bösen Handelns ausschließt. Mit der Reziprozitätsthese müsste dann aber auch jener Grundbegriff der kantischen Ethik, die Autonomie, aufgegeben oder zumindest revidiert werden. Ich möchte in diesem Aufsatz zunächst drei kritische Reaktionen auf die Reziprozitätsthese erörtern und anschließend für eine alternative Lesart argumentieren. Der Substitutivismus, wie ich ihn nennen möchte, hält die Reziprozitätsthese für grundsätzlich verfehlt. Der Substitutivist vertritt die Auffassung, dass wir Kants Autonomiebegriff durch einen empirischen Autonomiebegriff ersetzen können und damit nicht auf die Reziprozität von einem freien Willen und einem moralisch guten Willen festgelegt sind. Kants Reziprozitätsthese sei das Ergebnis einer unhaltbaren Konzeption praktischer Vernunft. Nur weil Kant fälschlicherweise glaubt, moralische Verpflichtung müsse als kategorische Verpflichtung konzipiert
Bei Pauline Kleingeld, Nico Naeve und Irina Schumski möchte ich mich für ihre konstruktive Kritik bedanken. Für finanzielle Unterstützung danke ich der Netherlands Organization for Scientific Research (NWO).
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werden, müsse er uns auch ein Vermögen zuschreiben, nach reiner praktischer Erkenntnis handeln zu können. Dieses Vermögen ist für Kant das, was unsere Autonomie ausmacht. Autonomie im kantischen Sinne impliziert also eine Kausalität aus reiner Vernunft (absolute Freiheit) und macht so eine strikte Trennung von Naturkausalität und Freiheitskausalität erforderlich. Wenn man dagegen mit dem Substitutivisten bereit ist, Kants metaphysischen Autonomiebegriff durch einen empirischen Autonomiebegriff zu ersetzen, dann ist man auch nicht auf die Reziprozitätsthese verpflichtet. Andere Kritiker teilen die Auffassung des Substitutivisten, dass Kant fälschlicherweise Autonomie und moralisch gutes Handeln identifiziert. Im Unterschied zum Substitutivismus wollen sie an Kants absolutem Freiheitsbegriff und einer Moral mit kategorisch-gebietenden Imperativen festhalten. Doch auch sie glauben, Kants Begriff der Autonomie müsse revidiert werden. Kant selbst habe noch in der Religionsschrift einen Freiheitsbegriff entwickelt, mit dem er eine solche Revision anstrebe. Dort gebe Kant das Implikationsverhältnis von ‚freiem Willen‘ und ‚Willen unter moralischen Gesetzen‘ auf. Er verstehe nun Freiheit als Wahlfreiheit, sich für oder gegen die moralische Triebfeder zu entscheiden. Diese zweite Reaktion auf die Reziprozitätsthese werde ich den ‚starken Revisionismus‘ nennen. Nicht alle Revisionisten sind der Auffassung, die Reziprozitätsthese sei verfehlt. Die einen wollen diese These dahingehend einschränken, dass Kant mit ihr nur die Reziprozität eines heiligen Willens und eines moralisch guten Willens behauptet hat (Schönecker 2013), andere wollen an der Reziprozitätsthese unqualifiziert festhalten, glauben aber, dass der Begriff der Heteronomie einer Revision bedarf (Willaschek 1992). Demnach habe Kant tatsächlich den Freiheitsbegriff zu eng konzipiert, sodass ihm jede Form von moralneutralem und instrumentellem Handeln als ein Fall von bloßer Naturdetermination erscheinen muss. Tatsächlich müssen wir auch heteronomes Handeln als einen Fall von Freiheit verstehen. Diese Position werde ich den ‚schwachen Revisionismus‘ nennen. Ich möchte hier zunächst Kants Argument für die Reziprozitätsthese rekonstruieren. Anschließend sollen die eingangs skizzierten Reaktionen auf die Reziprozitätsthese – Substitutivismus, starker Revisionismus und schwacher Revisionismus – erörtert werden. Schließlich möchte ich eine alternative Lesart der Reziprozitätsthese anbieten. Dabei möchte ich zeigen, dass der Substitutivismus und der starke Revisionismus die Reziprozitätsthese missverstehen. Mit dem schwachen Revisionismus möchte ich an der Reziprozitätsthese festhalten. Ich möchte sie so verstehen, dass Kant behauptet, ein Begehrungsvermögen sei dann und nur dann absolut frei, wenn es ein Vermögen hat, nach der Vorstellung von moralischen Gesetzen zu handeln. Mit dieser Interpretation kann die Reziprozi-
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tätsthese widerspruchsfrei verständlich gemacht werden. Sie knüpft hinsichtlich des Autonomiebegriffes an den schwachen Revisionismus an, geht aber noch über ihn hinaus, indem sie auch an Kants kategorialer Trennung von Autonomie und Heteronomie festhält. Ich denke, dass den Revisionsbestrebungen des schwachen Revisionismus ein falsches Verständnis des Heteronomiebegriffs zugrunde liegt. ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ sind keine Begriffe, die wir auf einzelne Handlungen, sondern auf unterschiedliche Arten von Begehrungsvermögen beziehen sollten. Ein Begehrungsvermögen wie unseres, ein arbitrium liberum, das nach der Vorstellung von reinen praktischen Gesetzen handeln kann, ist autonom. Ein Begehrungsvermögen, das sich nicht aus reiner praktischer Erkenntnis bestimmen kann, ist heteronom. Für die erste Bewährungsprobe der Reziprozitätsthese, die moralisch böse Handlung, folgt daraus, dass sie nicht die Ausübung eines heteronomen Begehrungsvermögens ist. Handlungen eines heteronomen Begehrungsvermögens sind weder gut noch böse. Böses Handeln ist vielmehr ein Missbrauch der absoluten Freiheit eines autonomen Begehrungsvermögens. Moralneutrale Handlungen, die zweite Bewährungsprobe für die Reziprozitätsthese, sind durch den normativen Anspruch des Moralgesetzes informiert. Nur so können sie überhaupt als moralisch erlaubte Handlungen gelten. Auch sie müssen deshalb als Ausübungen unserer Autonomie verstanden werden.
1. Kants Reziprozitätsthese in GMS III Kant definiert die Freiheit des Willens negativ als „diejenige Eigenschaft“ der Kausalität lebender Wesen, „so fern sie vernünftig sind, […] da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (04:446). Negative Freiheit des Willens ist also das Vermögen des Willens, unabhängig von fremden Ursachen wirken zu können. Aus diesem negativen Begriff der Willensfreiheit, schreibt Kant, „fließt“ (04:446) ein positiver Begriff. Das klingt mysteriös, ist aber verständlich, wenn man sich klar macht, dass in der oben genannten negativen Definition der Begriff der Kausalität enthalten ist. Kant setzt einen nomologischen Begriff der Kausalität voraus (kritisch dazu Keil 2000, S. 337). Das Gesetz eines Willens, der durch „fremde“ Ursachen bestimmt ist, ist das Naturgesetz. Deshalb folgt aus der negativen Definition (Unabhängigkeit von Naturursachen) auch, dass der positive Begriff eines freien Willens durch ein Gesetz „besonderer Art“ bestimmt werden „muß“; „denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding“ (04:446). Ein „Unding“, ein nihil negativium, ist ein Begriff, der widersprüchliche Eigenschaften hat (vgl. B 232). Der Begriff des freien Willens wäre unmöglich widerspruchsfrei zu denken, wenn er nicht durch ein Gesetz „besonderer Art“ bestimmt wäre, weil es widersprüchlich ist, über den Willen zu sagen, er sei eine Kausalität aus absoluter
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Freiheit und das Gesetz dieser Kausalität sei Naturnotwendigkeit. Entweder der Wille ist absolut frei und damit durch ein Freiheitsgesetz bestimmt oder der Wille ist absolut unfrei und damit durch Naturnotwendigkeit bestimmt – tertium non datur. Daraus, wie Kant hier die Alternativen darstellt, wird bereits ersichtlich, dass er einen inkompatibilistischen Begriff der Willensfreiheit vertritt: Entweder ist der Wille frei oder er ist naturkausal determiniert. Auch wenn die Auflösung der dritten Antinomie in der ersten Kritik Kant letztlich dazu berechtigt, sowohl an der transzendentalen Freiheit als auch am Naturdeterminismus festzuhalten, ist er damit nicht auf einen kompatibilistischen Freiheitsbegriff festgelegt. Der Kompatibilist glaubt, dass wir die Naturdeterminiertheit gerade darum annehmen müssen, damit wir den freien Willen nicht als zufälligen Willen missverstehen, der in keinerlei Zusammenhang mit der Lebensgeschichte des Handelnden steht. Aus diesem Grund schwächen Kompatibilisten den Freiheitsbegriff ab und verzichten auf das Prädikat der Erstursächlichkeit. Genau das ist aber für Kant ein wesentliches Merkmal eines nicht empirischen Freiheitsbegriffes. Auch sein Autonomiebegriff trägt dieses Merkmal, weil er impliziert, dass unser Handeln auf der Grundlage eines reinen praktischen Vernunftgesetzes erklärt werden muss. Kant behauptet also, dass der Wille nicht frei sein könnte, wenn er durch Naturgesetzlichkeit vollkommen bestimmt wäre. Folglich vertritt Kant einen Inkompatibilismus von Naturdeterminismus und (absoluter) Freiheit. Mit anderen Worten: Wenn unser Wille absolut frei ist, dann kann er nicht vollständig naturkausal determiniert sein. Die Auflösung der dritten Antinomie berechtigt uns gerade dazu, einige Ereignisse in der Welt – nämlich menschliche Handlungen – aus moralischer Perspektive, d. h. so zu betrachten, als ob sie (absolut) frei seien, auch wenn wir sie aus empirischer Perspektive so betrachten müssen, als ob sie vollständig naturkausal determiniert seien. Entscheidend ist aber, dass wir bei der moralischen Beurteilung nicht von der Wahrheit des Naturdeterminismus ausgehen dürfen. Der Kompatibilist bestreitet nicht die These, dass ein starker Freiheitsbegriff mit dem Naturdeterminismus unvereinbar ist. Er behauptet vielmehr, dass der starke Freiheitsbegriff zu Widersprüchen führt, und versucht deshalb einen schwachen Freiheitsbegriff zu etablieren, der mit dem Determinismus verträglich ist (vgl. Bojanowski 2012). Kant hält die Alternative zwischen Naturgesetzlichkeit und Freiheitsgesetzlichkeit für erschöpfend. Entweder ein Wille ist durch Naturgesetze oder er ist durch Freiheitsgesetze bestimmt. Ein weiterer möglicher Kandidat wäre ein Wille, der ‚gesetzlos‘ ist. Es scheint so, als ginge Kant über diese Möglichkeit etwas zu rasch hinweg. Doch Kant kann hier mit dem Kompatibilisten argumentieren, dass ein freier Wille gerade die Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit moralischer Subjekte erklären soll und deshalb ein solcher Wille gerade nicht ohne jedes
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Regelbewusstsein gedacht werden darf. Der Begriff der Verantwortlichkeit impliziert ja gerade, dass wir uns in Bezug auf bestimmte Regeln verantworten müssen. Wenn der Wille ein berechtigter Adressat dieser Regeln sein soll, dann dürfen diese Regeln dem Willen nicht äußerlich sein. Ein vollkommen regelloses Begehrungsvermögen hätte zudem mit unserer Person nichts mehr zu tun. Die ‚Handlungen‘, die auf ein solches Vermögen zurückzuführen sind (wären?), wären nicht der handelnden Person, sondern dem Zufall zuzurechnen. Kant schließt also an dieser Stelle ausdrücklich aus, dass ein freier Wille durch Naturgesetze bestimmt oder gesetzlos sein kann. Deshalb bleibt für ihn nur eine Möglichkeit übrig, nämlich die, dass ein freier Wille als eine Kausalität aus Freiheit die Eigenschaft haben muss, „sich selbst ein Gesetz zu sein“ (04:447). Dieses Vermögen nennt Kant „Autonomie“ (04:447) – Selbstgesetzlichkeit. Der Gegenbegriff zu ‚Autonomie‘ ist ‚Heteronomie‘. Heteronomie ist die Eigenschaft der Kausalität eines Willens durch „den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden“ (04:446). Mit anderen Worten: „[E]twas anderes“ (04:446) als die unmittelbar wirkende Ursache bestimmt die Wirksamkeit dieser Ursache. Heteronomie ist also eine Fremd- oder Andersgesetzlichkeit, bei der die Ursache des Wirkens nicht im Willen selbst liegt.Wir können daher zunächst ganz unspezifisch festhalten, dass ein freier Wille ein Wille ist, der das Vermögen der Autonomie besitzt. Dagegen ist ein unfreier Wille ein Wille, der ausschließlich durch das Naturgesetz bestimmt und also heteronom ist. Diese Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie stellt für viele Interpreten den Kern des Problems dar. Weil Kant diese beiden Kausalitäten kategorial unterscheidet und sie nicht auf einen gemeinsamen Faktor zurückführt, könne seine Theorie letztlich moralisch böses Handeln nicht erklären. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns verdeutlichen, wie Kant aus seinem Begriff der Autonomie die ‚Reziprozitätsthese‘ ableitet: Ein autonomer Wille ist ein Wille, der „sich selbst ein Gesetz“ (04:447) ist. Sich selbst ein Gesetz zu sein, heißt aber nichts anderes – das hatte Kant im zweiten Abschnitt der Grundlegung gezeigt – als nach einer Maxime zu handeln, die zugleich ein allgemeines Gesetz werden kann. Dies ist nun, wie Kant bemerkt, „gerade die Formel des kategorischen Imperativs“ (04:447). Und deshalb schließt Kant auf seine Reziprozitätsthese: „[A]lso ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (04:447). Wörtlich behauptet Kant hier die Identität des ‚freien Willens‘ und des ‚Willens unter sittlichen Gesetzen‘. Die Identität ist aber nicht vollständig, sie betrifft nur einige Merkmale. Kant behauptet genauer ein bikonditionales Verhältnis beider Begriffe. D. h., dass ein Wille dann und nur dann frei ist, wenn er „unter“ moralischen Gesetzen steht. Es gilt also sowohl, dass wenn der Wille frei ist, er unter moralischen Gesetzen steht, als auch, dass wenn ein Wille unter moralischen Gesetzen steht, er frei ist.Wäre das Verhältnis des ‚freien Willens‘ und
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des ‚Willens unter moralischen Gesetzen‘ dagegen nur ein analytisches Verhältnis, wäre es auch möglich, das Implikationsverhältnis nur in eine Richtung zu lesen. Aus dem analytischen Urteil „Alle Junggesellen sind Männer“ folgt ja gerade nicht auch „Alle Männer sind Junggesellen“. Es ist nicht falsch, von der Analytizität von ‚freiem Willen‘ und ‚Willen unter moralischen Gesetzen‘ zu sprechen (Schönecker 1999, 2013), aber man muss ergänzen, dass diese Analytizität in beide Richtungen zu verstehen ist. Genau das soll durch den Begriff der Reziprozität ausgedrückt werden (vgl. Allison 2012, S. 294 f.). Doch selbst wenn so das logische Verhältnis dieser Begriffe angemessen bestimmt ist, haben wir damit die Bedeutung dieser These noch nicht verstanden. Für viele ergibt sich aus ihr unmittelbar das Problem der moralisch bösen Handlung. Wenn ein Wille dann und nur dann frei ist, wenn er nach dem moralischen Gesetz handelt, dann ist ein Wille, der gegen das moralische Gesetz handelt, nicht frei. Ein Wille, der nicht frei ist, ist nicht moralisch zurechenbar. Ein Wille, der nicht moralisch zurechenbar ist, kann auch kein böser Wille sein, weil wir einem bösen Willen ja gerade die Unterlassung der guten Handlung moralisch zurechnen. Kant will die Möglichkeit moralisch bösen Handelns nicht leugnen. Seine Moraltheorie stellt vielmehr gerade den Versuch dar, die Möglichkeit von gutem und bösem Handeln zu erklären. Die Reziprozitätsthese scheint also sein gesamtes moralphilosophisches Projekt infrage zu stellen. Im folgenden zweiten Abschnitt möchte ich drei verschiedene Reaktionen auf die Reziprozitätsthese erörtern, bevor ich im letzten Abschnitt für meine alternative Lesart argumentieren werde.
2. Drei Reaktionen auf die Reziprozitätsthese 2.1 Substitutivismus – bedingte Freiheit Nach einer verbreiteten Auffassung ist Kants Reziprozitätsthese das Resultat einer im Ansatz verfehlten Theorie praktischer Rationalität. Kant gehe demnach von der falschen Annahme aus, dass es reine praktische Erkenntnis gäbe. Dieses Vermögen werde dann zum Definitionsmerkmal der Autonomie und damit sei der Begriff der Autonomie fundamental verfehlt. Ein berechtigter Anspruch auf kategorisch-gebietende Imperative sei für Kant nur auf der Grundlage der Annahme reiner praktischer Vernunfterkenntnis aufrechtzuerhalten. Ohne die Möglichkeit reiner praktischer Vernunfterkenntnis bewiesen zu haben, müsse Kant seinen Anspruch auf kategorisch-gebietende Imperative aufgeben. Nur der Anspruch auf kategorisch-gebietende Imperative sei es auch, der einen absoluten Freiheitsbegriff erforderlich mache. Denn nur dann, wenn wir das Vermögen haben, aus reiner
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praktischer Vernunft zu handeln, muss die Kausalität unseres Willens als empirisch unbedingt und transzendental (absolut) frei gedacht werden.Wenn man nun aber die Idee einer reinen praktischen Vernunfterkenntnis aufgeben muss, so ist man auch nicht mehr auf einen starken Freiheitsbegriff verpflichtet. Der Substitutivist möchte deshalb Kants starken Begriff der Autonomie, der das Vermögen der Erstursächlichkeit impliziert, durch einen schwächeren Begriff ersetzen. Autonomie müsse demnach bloß als das Vermögen verstanden werden, sich selbst zu bestimmen. Das Selbst wird dann aber nicht mehr als ein Vernunftsubjekt mit dem Vermögen zu reiner praktischer Vernunfterkenntnis gedacht, sondern als ein empirisches Subjekt mit einer besonderen Lebensgeschichte. Die Freiheit dieses Subjekts ist eine bedingte Freiheit, weil es seine Entscheidungen nicht von reiner Vernunfterkenntnis abhängig machen kann, sondern nur von biografisch bedingten Präferenzen. Auf diese Weise müssen wir dann auch keine besondere Art der Freiheitsverursachung annehmen. Es gibt nur eine Welt, nämlich die empirische Welt. Kants Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie laufe dagegen letztlich auf einen Zweiweltenparallelismus hinaus. In der Welt der Erscheinungen sind alle Ereignisse durch Naturgesetzlichkeit vollständig determiniert. Nur in der übersinnlichen Welt ist so etwas wie eine Kausalität aus Freiheit denkbar. Nun sind menschliche Handlungen aber Handlungen in der Sinnenwelt. Unsere Handlungen müssen also zugleich als autonom und heteronom und also als überdeterminiert verstanden werden. Kants Begriff der Verbindlichkeit als kategorischer Verbindlichkeit sowie sein Begriff des Bösen und seine retributivistische Straftheorie setzen aber alle einen entschieden inkompatibilistischen Freiheitsbegriff voraus. Wenn die Handlungen bereits durch die Naturnotwendigkeit vollständig determiniert sind, dann ist nicht verständlich zu machen, wie Kant überhaupt noch an diesen Begriffen festhalten kann. Der Substitutivist glaubt, dass die Analytizitätsthese ein Ausdruck derselben Notlage ist: Kant kann den absoluten Freiheitsbegriff nur für ein Handeln nach einem reinen praktischen Vernunftgesetz in Anspruch nehmen. Alle anderen Handlungen, die nicht durch reine praktische Vernunfterkenntnis verursacht sind, müssen als empirisch bedingt und also als heteronom erscheinen. Gerade weil Kant den absoluten Freiheitsbegriff an die reine praktische Vernunfterkenntnis bindet, bleibt ihm letztlich kein anderer Ausweg, als die Analytizität von Freiheit und moralisch gutem Handeln zu behaupten. Der Substitutivist will deshalb nicht nur den Autonomiebegriff modifizieren, sondern grundsätzlicher noch Kants transzendentalen Freiheitsbegriff durch eine bedingte Freiheit ersetzen. Mit seinem Verständnis der Autonomie als Selbstbestimmung empirisch bedingter Subjekte ist er auch bereit, die starken moralischen Ansprüche, die Kant mit seiner Moraltheorie verbindet, fallen zu lassen. Stattdessen will der Substitutivist unsere
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Moral als ein „System von hypothetischen Imperativen“ explizieren (Foot 1972). Gerade weil Kant sich mit ‚Vernunft und Neigung‘, ‚Autonomie und Heteronomie‘ unüberbrückbare Dualismen einhandle, müsse er auch die Reziprozität von freiem Willen und moralisch gutem Willen vertreten. Gibt man dagegen den Dualismus auf, dann gebe es auch keine Notwendigkeit mehr, an der Reziprozitätsthese festzuhalten.
2.2 Starker Revisionismus – Autonomie zur Heteronomie Nicht alle Kritiker wollen Kants Begriff der absoluten Freiheit aufgeben. Sie halten an einem absoluten Freiheitsbegriff fest, wollen aber ebenfalls die Autonomie dieser absoluten Freiheit grundsätzlich revidieren. Der starke Revisionismus setzt bei der Reziprozitätsthese an und möchte diese in eine Synthetizitätsthese umwandeln. Wenn man das Verhältnis von Willensfreiheit und Moralgesetz als ein synthetisches Verhältnis begreift, sei die Möglichkeit nicht bereits a priori ausgeschlossen, dass unser Wille frei ist und wir zugleich nicht notwendig nach dem moralischen Gesetz handeln (Reinhold 1792; Prauss 1983; Schönecker 2007, S. 184 ff.; Timmermann 2007, S. 164– 167). Kants Fehler bestehe darin, dass er jede Art von Handlung, die nicht moralisch gut ist, als ‚heteronom‘ und damit als unfrei missverstehe. Nur wenn man den Begriff der Autonomie des Willens dahingehend erweiterte, dass er auch noch die moralisch bösen Handlungen umfasst, ließen sich die absurden Konsequenzen der Reziprozitätsthese vermeiden. Auf diese Weise hatte schon Carl Leonard Reinhold gegen Kant argumentiert. Bei Kants Autonomiebegriff werde, ein „einzelne[s] Merkmal der Freiheit […] für die ganze Freiheit gehalten“ (Reinhold 1792, S. 294). Nach der stark revisionistischen Lektüre hätte Kant, um den Autonomiebegriff entsprechend zu erweitern, zunächst einen moralneutralen Begriff entwickeln müssen, der nicht nur moralisches, sondern jede Art von menschlichem Handeln umfasst. Diese moralneutrale Autonomie wäre dann der gemeinsame Faktor, der allen Handlungen gleichermaßen zugrunde liegt. Gutes, böses sowie moralneutrales Handeln unterscheiden sich nicht fundamental, sie alle basieren auf einem moralneutralen Freiheitsbegriff der Autonomie. Dabei wird ‚Autonomie‘ nicht wörtlich, sondern in unserem gegenwärtigen, umgangssprachlichen Sinne als Selbstbestimmung verstanden. Nun will der starke Revisionist freilich nicht bestreiten, dass wir, wenn wir unsere Zwecke verwirklichen wollen, uns bei ihrer Verwirklichung an spezielle Kausalgesetze halten müssen. In diesem Sinne bleibe unser Handeln tatsächlich immer heteronom. Nach diesem stark revisionistischen Ansatz bedeutet das aber noch nicht, dass wir damit auch unfrei wären.Wir können uns vielmehr selbstbestimmt dazu entscheiden, heteronom zu handeln. Sowohl das moralisch böse wie auch
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das moralneutrale Handeln müsse demnach als eine „Autonomie zur Heteronomie“ oder als eine „Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung“ gedacht werden (Prauss 1983, S. 106). Nun will Kant, wie wir oben gesehen haben, die Autonomie gerade als eine Selbstgesetzgebung und die Heteronomie als eine Fremd- oder Andersgesetzlichkeit verstanden wissen. Eine „Autonomie zur Heteronomie“ muss nach der ursprünglich kantischen Konzeption notwendig als widersprüchlich erscheinen. Entweder ist ein Begehrungsvermögen ursprünglich durch seine eigenen Gesetze bestimmt oder durch andere. Ein ‚Sowohl-als-auch‘ ist mit Kants inkompatibilistischem Freiheitsbegriff nicht denkbar. Dass wir unser Begehrungsvermögen aus theoretischer Perspektive so betrachten müssen, als ob es vollständig naturdeterminiert wäre, ändert nichts daran, dass es nicht vollständig durch Naturkausalität bestimmt ist, weil sonst Freiheit als Erstursächlichkeit in der empirischen Welt undenkbar wäre. Der starke Revisionist glaubt, Kant habe in der Religionsschrift selbst die Widersprüchlichkeit seines Autonomiebegriffes erkannt und im Gegenzug dazu eine Konzeption der Freiheit als Wahlfreiheit entwickelt. Mit seiner sogenannten Inkorporationsthese habe Kant seinen Autonomiebegriff revidiert und das reziproke Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz wieder aufgegeben: [D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat […]; so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen (06:23 f.).
Henry Allison hat diese These „Inkorporationsthese“ (Allison 1990, S. 51) genannt. Nach der revisionistischen Lesart soll also diese These die Möglichkeit des moralisch bösen Handelns erklären. Demnach werden uns unsere Handlungen genau deshalb als böse zugerechnet, weil wir die unmoralische Triebfeder aus Freiheit in unsere Maxime aufnehmen. Freies Handeln ist damit nicht identisch mit moralisch gutem Handeln.Vielmehr nehmen wir aus Freiheit entweder die Achtung vor dem Gesetz oder die widergesetzliche Neigung in unsere Maxime auf. Es wäre einer genauen Untersuchung wert, wie wir genau das Aufnehmen einer Triebfeder in die Maxime zu verstehen haben, und welche Funktionen der Maxime (motivum) und der Triebfeder (elater animi) in Kants Handlungstheorie zukommen (s. dazu Schadow 2013, S. 208). Die Inkorporationsthese ist für sich genommen äußerst schwierig zu verstehen und interpretationsbedürftig. Hier soll es um das Verständnis von Kants Reziprozitätsthese gehen. Zu diesem Zweck genügt es, wenn wir uns auf das Moment der Wahlfreiheit, das mit der Inkorporationsthese ins Spiel kommt, konzentrieren. Gerade weil dieses Moment durch die Reziprozitätsthese ausgeschlossen werde, plädiert der starke Revisionist für die Aufgabe
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dieser These und will die Inkorporationsthese als eine bewusste und notwendige Korrektur verstehen. Demnach schaffe die Inkorporationsthese den Platz für eine Wahlfreiheit gegen das moralische Gesetz, den die Reziprozitätsthese verstellt hatte. Kants Begriff der Freiheit werde durch diese Korrektur der ausschließlich moralische Gehalt entzogen (Prauss 1983, bes. §§ 12– 16). Nun hat Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten erneut die positive Freiheit durch das Moralgesetz definiert (06:227). Zugleich führt er aber auch eine Unterscheidung zwischen Wille und Willkür ein, mit der gerade jenes Moment der Wahl auf den Begriff gebracht werden soll, das auch die Inkorporationsthese zum Ausdruck bringt. Für die stark revisionistische Lesart muss die Einleitung in die MS inkonsistent bleiben (Prauss 1983, S. 111 ff.). Kant, so behauptet der starke Revisionist, möchte den Biss in den für ihn sauren Apfel vermeiden. Er fällt in die falsche Autonomiekonzeption zurück, will aber zugleich an der Inkorporationsthese festhalten und Freiheit als Willkürfreiheit verstehen. Nach der stark revisionistischen Lesart müssen wir die Aufgabe der Reziprozitätsthese nicht als einen Biss in den sauren Apfel begreifen. Es gibt keinen Grund, an dem reziproken Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz festzuhalten. Stattdessen hätte Kant mit seinem Autonomiebegriff bei der Inkorporationsthese ansetzen sollen.
2.3 Schwacher Revisionismus – Heteronomie als Freiheit Der schwache Revisionist erkennt das Problem an, das die Reziprozitätsthese aufwirft. Um die Absurdität dieser These aufzulösen, bemüht sich der schwache Revisionist zunächst um einen angemessenen Begriff des Gesetzescharakters des moralischen Gesetzes. Das Moralgesetz ist „nicht ein spezielles Kausalgesetz für freie Handlungen, sondern deren allgemeines Kausalprinzip“ (Willaschek 1992, S. 236). So wie alle Ereignisse in der Sinnenwelt dem Kausalprinzip der zweiten Analogie der Erfahrung unterliegen und also eine Ursache haben, so müssen auch alle freien Handlungen auf der Grundlage des Moralgesetzes beurteilt werden. Das Moralgesetz sei das „allgemeine Rationalitätskriterium“ freier Handlungen; es sei der „hinreichende Grund einer freien Entscheidung“ (Willaschek 1992, S. 236). Damit will der schwache Revisionist dem Einwand zuvorkommen, dass alle Handlungen, die nicht aus Pflicht erfolgen, auch nicht als ein Fall von Freiheitskausalität gewertet werden können. Wäre das Moralgesetz tatsächlich ein spezielles Kausalgesetz, dann wären nur diejenigen Handlungen, die aus Pflicht vollzogen werden und damit moralisch gut sind, auch durch eine Kausalität aus Freiheit bestimmt. Alle anderen Handlungen wären keine Fälle dieses speziellen Kausalgesetzes, sondern irgendeines Naturgesetzes. Der schwache Revisionist will also die Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie von der Unter-
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scheidung zwischen Freiheitskausalität und Naturkausalität unterscheiden. „Während nämlich autonome Entscheidungen immer auch naturgesetzlich bestimmt sind, sind sie niemals heteronom“ (Willaschek 1992, S. 236). Der schwache Revisionist weiß, dass Kants Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie es nahelegt, dass wir nur dann autonom sind, wenn wir moralisch gut und nach dem Freiheitsgesetz handeln, wir dagegen heteronom sind, wenn wir gegen das Moralgesetz verstoßen und unser Wille von einem Naturgesetz bestimmt ist. Der schwache Revisionist glaubt, dass dieses Problem seine Wurzeln in einem falschen Verständnis von ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ hat. Diese Unterscheidung betreffe nicht die naturkausale Erklärung, sondern die Rechtfertigung der Handlungen. Bei der Unterscheidung von ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ gehe es allein darum, was als „hinreichender Grund für eine vernünftige Entscheidung gilt“ (Willaschek 1992, S. 237). Es sei also nicht der Autonomiebegriff selbst, wie der starke Revisionist glaubt, der das Verständnisproblem der kantischen Theorie provoziere. Vielmehr sei die Gleichsetzung von „Heteronomie mit einer naturkausalen Determination“ der eigentliche Kern des Problems (Willaschek 1992, S. 233). Mit anderen Worten: Auch heteronome Handlungen müssen als freie Handlungen verstanden werden. Sie unterscheiden sich darin von autonomen Handlungen, dass „reine Vernunft [hier] nicht praktisch“ sei. Dennoch sei es dann „vollkommen vernünftig […] unmoralisch zu handeln“ (Willaschek 1992, S. 237). Unser Begehrungsvermögen sei also „nur insofern vom ‚Naturgesetze‘ abhängig, als das Ziel vernünftigen Handelns und damit indirekt das Kriterium [der] Rationalität, nämlich maximale Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, von ‚pathologischen‘ Faktoren vorgegeben wird“ (Willaschek 1992, S. 237 f.). Das bedeute aber nicht – und damit will der schwache Revisionist dem Absurditätseinwand begegnen –, dass Heteronomie ein Fall von Naturdetermination und damit unfrei sei. Vielmehr müsse eine heteronome Handlung als ein Akt „vernünftiger Spontaneität“ verstanden werden, bei dem sich die Vernunft „für etwas ‚anderes‘ als Vernunft gleichsam in den Dienst nehmen läßt“. In diesem Sinne dürfen wir dann auch davon sprechen, dass heteronome Entscheidungen „fremdbestimmt“ sind (Willaschek 1992, S. 237 f.). Der schwache Revisionist setzt mit seiner Revision also nicht beim Autonomiebegriff an, sondern will stattdessen den Begriff der Heteronomie so verstehen, dass er ebenfalls eine Art von Freiheitskausalität darstellt. Ich denke, dass der schwache Revisionist mit Bezug auf den Autonomiebegriff auf dem richtigen Weg ist. Der Begriff der Heteronomie, so wie ihn der schwache Revisionist entwickelt, scheint mir aber nicht vollständig mit dem kantischen Text vereinbar zu sein. Deshalb kann man auch diese Reaktion auf Kants Reziprozitätsthese wohl noch mit einigem Recht als ‚revisionistisch‘ bezeichnen. Gerade der Heteronomiebegriff, so wie ihn Kant in der hier im Zentrum stehenden Auftakt-
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passage in GMS III entwickelt, lässt sich nicht mit der Interpretation des schwachen Revisionisten vereinbaren: „Die Naturnothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetze möglich, daß etwas anderes die wirkende Ursache zur Causalität bestimmte“ (04:446). Kant identifiziert hier Naturnotwendigkeit mit Heteronomie. Es ist deshalb nicht plausibel ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ als Begriffe anzusetzen, die sich alleine auf die Rechtfertigung einer Handlung beziehen. Wenn sich ‚Heteronomie‘ nicht alleine auf die Rechtfertigung bezieht, bleibt die Frage offen, wie heteronome Handlungen, wenn sie ‚fremdbestimmt‘ sind, dennoch als eine Selbstursächlichkeit verstanden werden können. ‚Bestimmen‘ heißt, etwas so setzen, dass sein Gegenteil ausgeschlossen ist (Princ. prim. cogn. met. sct. II, prop. IV). Naturdetermination oder Naturbestimmung heißt dann, dass, wenn ein bestimmter Zustand vorliegt, notwendig ein anderer Zustand nach einem Naturgesetz daraus folgt. Wenn der schwache Revisionist nun behauptet, autonome Willensbestimmung sei „immer auch naturgesetzlich bestimmt“ (Willaschek 1992, S. 236, Hervorhebung J. B.), dann müssten heteronome Willensbestimmungen als überdeterminiert gelten. Kants transzendentaler Freiheitsbegriff schließt aber, wie im ersten Abschnitt gezeigt wurde, nicht nur eine Überdetermination, sondern auch die ‚Bestimmung‘ einer freien Handlung durch Naturursachen gerade aus. Kants Freiheitsbegriff ist inkompatibilistisch. Autonomie als transzendentale Freiheit setzt voraus, dass die „Ursache in der Erscheinung […] nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Causalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen“ (B 562). Es wäre zweifellos falsch, wenn man behaupten wollte, menschliches Handeln fände ausschließlich in einer übersinnlichen Welt statt. Bei der Verwirklichung unserer Intentionen ist der Erfolg unserer Handlungen wesentlich von naturkausalen Faktoren abhängig; wir machen die empirischen Naturgesetze nicht selbst. Mit dieser Behauptung hat der schwache Revisionist recht. Aber naturkausale Faktoren dürfen bei der Willensbildung des Handelnden „nicht so bestimmend“ sein, dass keine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Wir Menschen haben nach Kant ja gerade ein Vermögen, uns „unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen“ (B 562). Wenn nun der schwache Revisionist so sprechen will, dass wir bei der Willensbestimmung durch ein Naturgesetz ‚bestimmt‘ sind, weil etwa das Bewusstsein bestimmter naturkausaler Verhältnisse bei unseren Entscheidungen eine Rolle spielt, darf der schwache Revisionist den Begriff der Bestimmung gerade nur im Sinne von ‚geneigt machen‘, nicht aber von ‚notwendig machen‘ verstehen. Damit ist dann aber die Willensbestimmung gerade nicht heteronom im kantischen Sinne. Im folgenden Abschnitt möchte ich an den Autonomiebegriff des schwachen Revisionisten anknüpfen und eine, wie ich es nenne, disjunktivistische Lesart von
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Kants Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie vorschlagen. Demnach können menschliche Entscheidungen, die „Willensbestimmung“, wie Kant es nennt, nicht autonom und heteronom zugleich sein.Wenn Kant behaupten würde, dass „etwas anderes“ als unser Wille „die wirkende Ursache zur Causalität bestimmte“ (04:446), dann wären diese Handlungen nicht frei und damit nicht moralisch zurechenbar. Im Unterschied zum schwachen Revisionisten möchte ich ich hier aber so weit gehen und ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ als Begriffe verstehen, die sich auf unterschiedliche Arten von Begehrungsvermögen beziehen. Ein reines praktisches Begehrungsvermögen ist autonom. Dagegen ist ein Begehrungsvermögen, bei dem reine Vernunft nicht praktisch sein kann, bloß heteronom. Um an der Freiheit im bösen oder dem sogenannten moralneutralen Handeln festhalten zu können, müssen wir heteronomes Handeln nicht als einen Fall von freiem Handeln verstehen. Vielmehr können wir mit Kant böses Handeln als einen Missbrauch der transzendentalen Freiheit verstehen, die uns als autonomen Vernunftwesen notwendig zukommt. Heteronomie ist dagegen ein Begriff, der auf uns als reine praktische Vernunftwesen keine Anwendung hat, sondern sich auf solche Begehrungsvermögen bezieht, die zwar nach Vorstellungen, aber nicht nach Vorstellungen von praktischen Gesetzen handeln können.
3. Disjunktivismus von Autonomie und Heteronomie Ich möchte in der Folge zwischen vier unterschiedlichen Lesarten der Reziprozitätsthese unterscheiden. Der Substitutivismus und der starke Revisionismus vertreten beide eine Akt-Lesart der Reziprozitätsthese. Sie lesen Kants Behauptung, ein freier Wille und ein Wille unter moralischen Gesetzen seien identisch, so, dass mit ‚freier Wille‘ ein ‚Willensakt‘ bezeichnet ist. Die Lesart 1 der Reziprozitätsthese lautet demnach: Ein Willensakt ist dann und nur dann frei, wenn er moralisch gut ist. Diese Lesart führt tatsächlich zu den absurden Konsequenzen, die der Substitutivist und der starke Revisionist geltend machen. Nun könnte man zunächst darauf hinweisen, dass diese Lesart ein philologisches Detail in der Reziprozitätsthese unterschlägt. Kant spricht hier gerade nicht von einem moralisch guten Willen, sondern von einem „Wille[n] unter sittlichen Gesetzen“ (04:447, Hervorhebung J. B.). Man könnte hier das „unter“ nicht als eine Ausübung des moralischen Gesetzes, sondern nur als ein Bewusstsein der Verbindlichkeit deuten. Die so modifizierte Lesart 2 lautet dann: Ein Willensakt ist dann und nur dann frei, wenn dieser Akt durch das Bewusstsein der Verbindlichkeit des Moralgesetzes begleitet ist. Damit scheint das Problem der
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bösen Handlung schnell gelöst zu sein (vgl. Potter 1974). Denn sowohl der gute als auch der böse Willensakt müssen von dem Bewusstsein der Verbindlichkeit des Moralgesetzes begleitet sein. Diese These identifiziert freies Handeln nicht mit moralisch gutem Handeln. Doch auch die Lesart 2 hat ihre Schwierigkeiten. Das wird besonders deutlich, wenn man sich den Argumentationszusammenhang von GMS III genauer ansieht. Wenn Kant tatsächlich schon in Sektion 1 der GMS III von einem endlich-vernünftigen Willen ausgehen würde, müsste er in dem Moment, wo er einen Grund hätte, die Freiheit des Willens anzunehmen, auch schon berechtigt sein, auf die Verbindlichkeit des Moralgesetzes zu schließen. Diesen Grund hat er bereits in Sektion 3 der GMS III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs müsste dann auch bereits in Sektion 3 abgeschlossen sein. Tatsächlich betrachtet Kant das Argument aber erst in Sektion 5 als beendet. Und der Unterschied scheint genau darin zu bestehen, dass Kant bis Sektion 3 noch nicht eigentlich auf die Sinnlichkeit des rationalen Begehrungsvermögens reflektiert hat. Bis Sektion 3 hat Kant nur gezeigt, dass das Begehrungsvermögen eines reinen praktischen Vernunftwesens notwendig unter dem Bewusstsein des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft handelt. Er hat aber noch nicht gezeigt, dass dieses Gesetz für sinnlich-vernünftige Wesen einen Imperativ darstellt. Aus diesem Grund darf man das „unter sittlichen Gesetzen“ (04:447) wohl nicht als „unter dem Bewußtsein moralischer Verbindlichkeit lesen“ (Schönecker 2013, S. 230; vgl. Schönecker 1999). Nun kann man die Akt-Lesart noch weiter modifizieren, indem man von der Verbindlichkeit des Moralgesetzes absieht. Die Lesart 3 lautet dann: Ein Willensakt ist dann und nur dann frei, wenn er von dem Bewusstsein des Moralgesetzes begleitet ist. Diese These ist insofern unproblematisch, als sie sowohl für ein nicht-endliches reines praktisches Vernunftwesen als auch für ein endliches reines praktisches Vernunftwesen gilt. Doch sowohl den Substitutivismus als auch den starken Revisionismus würde diese Lesart 3 nicht vollkommen befriedigen. Der Substitutivist lehnt nicht nur den Anspruch auf kategorisch-gebietende Imperative ab, er würde vermutlich auch dem starken Revisionisten darin zustimmen, dass die Lesart 3 keinen Raum für moralneutrale Handlungen lässt. Mit anderen Worten: Ein freier Willensakt ist nicht notwendig von dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes begleitet. Es gibt auch Ausübungen des Willens, die nicht von diesem Bewusstsein begleitet sind: moralneutrale Handlungen. Mit dieser Kritik an der Reziprozitätsthese übersieht man aber, dass auch bei den sogenannten moralneutralen Handlungen ihre moralische Erlaubnis erkannt werden muss. Wir erkennen diese Handlungen nämlich als moralneutrale Handlungen, weil wir keinen moralischen Grund haben, der für oder gegen eine der Optionen spricht. Wir erkennen also, dass beide Optionen, sowohl a als auch
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non-a, moralisch erlaubt sind. Sie als moralneutral zu bezeichnen, kann dann nur bedeuten, dass das Moralgesetz hier nicht die eine oder andere Option als moralisch geboten bestimmt, sondern es moralisch unbestimmt lässt, ob wir a oder non-a tun sollen. Das bedeutet aber gerade nicht, dass ein in diesem Sinne moralneutrales Handeln nicht auch von dem Bewusstsein des Moralgesetzes begleitet ist. Dieses Verständnis der moralneutralen Handlungen ist auch mit Kants expliziter Auffassung diesbezüglich vereinbar. Eine moralisch-gleichgültige Handlung (adiaphoron morale) würde eine bloß aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein, die also aufs sittliche Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht: indem sie kein Factum ist und in Ansehung ihrer weder Gebot, noch Verbot, noch auch Erlaubniß (gesetzliche Befugniß) statt findet, oder nöthig ist (06:22).
Kant behauptet hier, dass es keine moralisch gleichgültigen Ausübungen unseres Willens gibt, weil sie als freie Handlungen immer einen Bezug auf das Moralgesetz haben. An anderer Stelle sagt Kant aber auch, dass derjenige, der keine „moralisch gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt […] phantastisch-tugendhaft“ sei und es „nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre“ (06:409). Diese beiden Aussagen widersprechen sich nicht. In der ersten Passage behauptet Kant, dass alle unsere Handlungen aufs Moralgesetz bezogen werden müssen und sich als geboten, verboten oder erlaubt qualifizieren lassen. In der zweiten Passage behauptet Kant, dass wir nicht alle Handlungen in moralische Gebote und Verbote einteilen können, sondern es auch einen Bereich von moralisch erlaubten Handlungen gibt, in denen es keine moralischen Gründe für die eine oder andere Handlungsoption gibt. Wenn wir also davon ausgehen, dass alle Handlungen als Ausübungen eines vernunftfähigen Begehrungsvermögens sich als moralisch erlaubt erweisen müssen, ist der Vorwurf unbegründet, die Reziprozitätsthese schließe die Möglichkeit moralneutralen Handelns aus. Doch auch die Lesart 3 der Reziprozitätsthese ist letztlich nicht vollkommen befriedigend. Sie lässt noch immer unbestimmt, wie die Bewusstseinsbegleitung genau zu verstehen ist. Wenn dieses Bewusstsein so beschaffen wäre, dass es keinen Einfluss auf unseren Willen als unser Handlungsvermögen hätte, könnte dieser Wille gerade nicht als praktische Vernunft verstanden werden – eine Vernunft, die den Gegenstand ihrer Erkenntnis auch hervorbringt (B ixf.; 05:46). Nun könnte man freilich die Lesart 3 dahingehend modifizieren, dass der Willensakt dann und nur dann frei ist, wenn er durch das Moralgesetz bestimmt ist, wobei ‚bestimmen’ als Handlungswirksamkeit der praktischen Erkenntnis aufgefasst wird. Diese Modifikation erweist sich aber als ein Rückfall in die Lesart 1 und ist damit auch deren Problemen ausgesetzt.
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Allen drei Lesarten liegt das gemeinsame Problem zugrunde, dass sie eine AktLesart von ‚Wille‘ vertreten. Gegen diese Akt-Lesart möchte ich eine VermögensLesart der Reziprozitätsthese geltend machen. Ich möchte ‚Wille‘ in der Reziprozitätsthese nicht als ‚einzelnen‘ Willensakt, sondern als ein ‚der praktischen Vernunft fähiges Begehrungsvermögen‘ verstehen. Mit ‚Wille unter sittlichen Gesetzen‘ ist ein Vermögen gemeint, nach einem praktischen (moralischen) Gesetz zu handeln. Die Lesart 4 der Reziprozitätsthese lautet dann: Ein der praktischen Vernunft fähiges Begehrungsvermögen ist dann und nur dann frei, wenn es nach der Vorstellung von praktischen Gesetzen handelt. Oder, näher am kantischen Text: Ein freies, der praktischen Vernunft fähiges Begehrungsvermögen ist mit einem Vermögen, nach der Vorstellung von moralischen Gesetzen zu handeln, identisch. Diese Lesart 4 kann die absurden Konsequenzen, die der Substitutivismus und der starke Revisionismus fürchten, vermeiden. In der Reziprozitätsthese werden nicht eine moralisch gute Handlung und eine freie Handlung identifiziert, sodass moralisch böses Handeln ausgeschlossen wäre.Vielmehr wird behauptet, dass ein vernunftfähiges Begehrungsvermögen sich nur deshalb auch als ein freies Begehrungsvermögen qualifiziert, weil es nach der Vorstellung eines reinen praktischen Vernunftgesetzes handeln kann. Hätte es dieses Vermögen nicht, dann müsste zu seiner Wirksamkeit ein sinnlich gegebenes Begehren vorausgesetzt werden. Ein solches rationales Begehrungsvermögen wäre dann nicht autonom, sondern heteronom. Es hätte zwar theoretische, aber keine praktische Vernunft. Nur dann also, wenn ein Begehrungsvermögen die Fähigkeit hat, sich unabhängig von einem sinnlich gegebenen Begehren durch reine praktische Vernunfterkenntnis zu bestimmen, ist es nicht nur „comparativ“ (05:96), sondern absolut frei. Grundlos oder willkürlich zu handeln, kann nicht eigentlich als die Fähigkeit eines Begehrungsvermögens mit praktischer Vernunft verstanden werden, weil in diesem Fall das Erkenntnisvermögen (praktische Vernunft) gerade nicht ausgeübt wird. Das Vermögen bleibt auch dann noch präsent, wenn unsere Handlungen nicht durch das Moralgesetz bzw. durch praktische Erkenntnis bestimmt, d. h. moralisch böse, sind. In der moralisch bösen Handlung sind wir uns nicht nur des moralischen Gesetzes bewusst, wir haben auch das Vermögen, kategorial anders, nämlich aus einem reinen Vernunftgrund heraus, zu handeln. Hätten wir nur das Vermögen der Wahlfreiheit, d. i. zwischen zwei sinnlichen Wünschen zu wählen, hätten wir keinen Grund, uns einen nicht-komparativen Freiheitsbegriff zuzuschreiben. Nur weil wir erkennen, dass wir einen Handlungsgrund haben, der aus reiner praktischer Vernunfterkenntnis entspringt und insofern von unserer besonderen Lebensgeschichte unabhängig ist, erkennen wir uns als absolut frei (vgl. 05:30).
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Kant definiert ‚Heteronomie‘ so, dass „jede Wirkung […] nur nach dem Gesetze möglich [ist], daß etwas anderes die wirkende Ursache zur Causalität bestimmte“ (04:446). Im Unterschied zum kompatibilistischen Freiheitsbegriff des Substitutivisten erlaubt es Kants transzendentaler Freiheitsbegriff gerade nicht, dass wir durch ein Naturgesetz zu einer Entscheidung ‚bestimmt‘ sind, wenn ‚bestimmen‘ heißt, dass es unmöglich war, dass die Entscheidung hätte anders ausfallen können. Die Tatsache, dass wir uns nach Naturgesetzen richten müssen, auch wenn wir die Mittel zu unseren moralisch guten Zwecken ergreifen, macht diese Entscheidungen nicht heteronom. Wären die Entscheidungen heteronom, dann wären sie naturkausal notwendig gewesen und also nicht moralisch zurechenbar. Oder, um dem Einwand des Substitutivisten entgegenzukommen, sie wären nicht nach kategorisch-gebietenden Imperativen zurechenbar. Deshalb kann Heteronomie nie das Prinzip unseres Willens sein. Eine Selbstbestimmung zur Heteronomie ist nur dann denkbar, wenn mit ‚Heteronomie‘ nur gemeint ist, dass wir nach der Vorstellung eines Naturgesetzes handeln. Dass wir nach dieser Vorstellung handeln, darf aber selbst nicht durch eine externe Ursache bestimmt werden, sonst wäre die Entscheidung nicht frei. Deshalb sollten wir Kant im Unterschied zum schwachen Revisionismus einen Disjunktivismus hinsichtlich der Gesetzlichkeit des Begehrungsvermögens zuschreiben: Entweder „etwas anderes ist die wirkende Ursache“ unseres Wollens (Heteronomie) oder unser Wille ist „sich selbst ein Gesetz“ (Autonomie) (04:446 f.). Das Gesetz unseres Willens als eines der praktischen Vernunft fähigen Begehrungsvermögens ist das Moralgesetz. Das Moralgesetz ist für uns endliche Wesen ein Imperativ. Moralisch böse Handlungen sind gesetzwidrige, nicht aber auch gesetzlose Handlungen. Diese Handlungen stehen ebenfalls unter dem normativen Anspruch des Moralgesetzes und werden nicht zur heteronomen Naturkausalität. Ich möchte deshalb auch noch so weit gehen und vorschlagen, dass wir die Begriffe ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ nicht auf dasselbe Begehrungsvermögen beziehen. Vielmehr dienen diese Begriffe dazu, den Unterschied zwischen einem der praktischen Vernunft fähigen Begehrungsvermögen und einem Begehrungsvermögen zu bestimmen, das bestenfalls das Vermögen hat, nach theoretischer Erkenntnis zu handeln. Alle menschlichen Handlungen werden durch das Moralgesetz als geboten, verboten oder moralisch erlaubte Handlungen erkannt. Es ist konstitutiv für die moralisch böse Handlung, dass der Handelnde ein Bewusstsein des moralisch Verbotenen hat. Moralisch indifferente Handlungen sind nur insofern indifferent, als das moralische Gesetz sie weder als gesollt noch als verboten, damit aber sehr wohl als moralisch erlaubt ausweist.Wir müssen uns also so betrachten, als wären wir uns sowohl in moralisch bösen als auch bei den sogenannten moralisch indifferenten Handlungen nicht nur des Moralgesetzes, sondern damit auch unserer
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Autonomie bewusst. Dieses Bewusstsein begleitet unser Handeln nicht bloß, sondern es kann selbst der Grund unseres Handelns werden. Nur weil wir uns durch einen moralischen Handlungsgrund bestimmen können, der sich von allen empirischen Handlungsgründen kategorial unterscheidet, sind wir dazu berechtigt, uns die absolute Freiheit des Willens zuzuschreiben. Wenn wir gegen das Moralgesetz verstoßen, verlieren wir dabei nicht das Vermögen, nach moralischen Gesetzen zu handeln. Eine Willensbestimmung durch reine praktische Vernunft wäre möglich gewesen und bleibt auch immer möglich. Wenn wir moralisch böse handeln, verwandelt sich unser Begehrungsvermögen nicht in ein heteronomes Begehrungsvermögen. Moralisch böses Handeln muss vielmehr als ein Missbrauch der transzendentalen Freiheit eines der praktischen Vernunft fähigen Begehrungsvermögens verstanden werden. Es ist ein Missbrauch, weil ein der praktischen Vernunft fähiges Begehrungsvermögen nicht gleichermaßen auf das Gute und Böse gerichtet ist. Vielmehr entwickelt diese Art des Begehrungsvermögens nur in der moralisch guten Handlung seine Fähigkeiten (vollständig). Die moralisch böse Handlung muss deshalb als eine defiziente Ausübung dieses Vermögens gelten. Wie es zu dieser Defizienz kommt, ist, wie Kant oft wiederholt, unerklärlich. Wäre sie erklärlich, müsste es ein ‚Gesetz des Bösen‘ geben, ein Gesetz, das nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann.
4. Schluss Ich habe dafür argumentiert, dass eine Vermögens-Lesart der Reziprozitätsthese nicht die widersprüchlichen Implikationen hat, die der Substitutivist und der starke Revisionist ihr unterstellen. Mit anderen Worten: Die sogenannten moralneutralen (moralisch weder gebotene noch verbotene, sondern bloß erlaubte Handlungen) sowie die moralisch bösen Handlungen sind mit der These vereinbar, dass ein der praktischen Vernunft fähiges Begehrungsvermögen dann und nur dann frei ist, wenn es das Vermögen hat, nach der Vorstellung von praktischen Gesetzen zu handeln. Ich denke, dass ein Großteil der Missverständnisse, die die Reziprozitätsthese betreffen, auf die Akt-Lesart zurückzuführen ist. Sie erschwert meines Erachtens auch ein angemessenes Verständnis des kantischen Heteronomiebegriffs. Ich denke, wir sollten Kant darin ernst nehmen, dass er Heteronomie mit Naturdetermination identifiziert. Und weil Kant einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff vertritt, sollten wir ihm nicht die These zuschreiben, eine Handlung könne zugleich autonom und heteronom sein. Ich habe hier stattdessen für eine disjunktive Vermögens-Lesart dieser Begriffe argumentiert. Demnach sind ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ Begriffe, mit denen wir uns einerseits auf ein freies und andererseits auf ein unfreies Begehrungsvermögen beziehen. Das
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menschliche Begehrungsvermögen wird im bösen Handeln nicht zu einem heteronomen Vermögen. Vielmehr muss die böse Handlung als ein Missbrauch der transzendentalen Freiheit dieses Vermögens verstanden werden. Die These, dass menschliche Handlungen sowohl gut als auch böse sein können, ist richtig, sie verpflichtet uns aber nicht auch darauf, unser freies Begehrungsvermögen als ein Zwei-Wege-Vermögen zu begreifen, das sowohl moralisch gut als auch moralisch böse handeln kann. Man übersieht damit, dass es einen eminenten Gebrauch dieses Vermögens der reinen praktischen Vernunft gibt, auf das es wesentlich gerichtet ist. Des Gesetzes dieses eminenten Gebrauchs können wir uns im Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft a priori bewusst werden. Gerade deshalb ist das menschliche Begehrungsvermögen nicht bloß ein Vermögen der Wahlfreiheit, sondern ein Vermögen, aus reiner Vernunfterkenntnis heraus handeln zu können. Ich habe hier nicht gegen den Substitutivisten gezeigt, dass reine Vernunft tatsächlich für sich selbst praktisch sein kann. Diesen Beweis glaubt Kant in den §§ 1– 7 in der zweiten Kritik erbracht zu haben. Ich habe mich hier darauf beschränkt, gegen den Substitutivisten und den starken Revisionisten zu zeigen, dass sich die Reziprozitätsthese und mit ihr Kants Autonomiebegriff widerspruchsfrei verständlich machen lassen. Die Frage, ob Moral als ein System von kategorisch-gebietenden Imperativen ausbuchstabiert werden kann, ist damit zumindest wieder offen.
Literatur Mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, bei der ich der Originalpaginierung folge, werden Kants Werke nach der Akademie-Ausgabe mit Band- und Seitenzahl zitiert. Allison, Henry E. (1990): Kant’s Theory of Freedom. Cambridge. Bojanowski, Jochen (2012): „Ist Kant ein Kompatibilist?“ In: Mario Brandhorst/Andree Hahmann/Bernd Ludwig (Hrsg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg, S. 59 – 76. Foot, Philippa (1972): „Morality as a System of Hypothetical Imperatives“. In: Philosophical Review 81 (3), S. 305 – 316. Keil, Geert (2000): Handeln und Verursachen. Frankfurt/Main. Potter, Nelson (1974): „Does Kant have Two Concepts of Freedom?“ In: Gerhard Funke/Joachim Kopper (Hrsg.): Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin, S. 590 – 596. Prauss, Gerold (1983): Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt am Main. Reinhold, Carl Leonard (1792): Briefe über die Kantische Philosophie, Bd. 2. Leipzig. Schadow, Steffi (2013): Achtung für das Gesetz. Moral und Motivation bei Kant. Berlin, New York.
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Schönecker, Dieter/Allen W. Wood (2002): Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein einführender Kommentar. Paderborn, München, Wien, Zürich, S. 170 – 206. Schönecker, Dieter (2013), „A Free Will and a Will under Moral Laws Are the Same: Kant’s Concept of Autonomy and His Thesis of Analyticity in Groundwork III“. In: Oliver Sensen (Hrsg.): Kant’s Conception of Autonomy. Cambridge, S. 225 – 245. Timmermann, Jens (Hrsg.) (2007): Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide. Cambridge. Willaschek, Marcus (1992): Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant. Stuttgart, Weimar.
Manfred Baum (Wuppertal)
Sittengesetz und Freiheit. Kant 1785 und 1788 Zwei Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) und der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) bieten sich von selbst an: (1) In der Vorrede der KpV spricht Kant von dieser als einem „System, [das] hier von der reinen praktischen Vernunft aus der Kritik der letzteren entwickelt“ werde (05:08).¹ Dieses System ist, wie es weiter heißt, kein „System der Wissenschaft“, sondern ein „System der Kritik“ (05:08), parallel zu dem „kritischen System der speculativen Vernunft“ (05:07), als welches die Kritik der reinen Vernunft hier bezeichnet wird. Obwohl das Zitat nahelegt, dass die KpV doch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft sei, soll damit die in den Eingangssätzen der Vorrede begründete Veränderung der Benennung des Projekts (statt der früher mehrfach angekündigten Kritik der reinen praktischen Vernunft soll jetzt eine Kritik der praktischen Vernunft geliefert werden) wohl nicht wieder infrage gestellt werden. Dieses kritische System der reinen praktischen Vernunft „setzt zwar die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voraus, aber nur in so fern, als diese mit dem Princip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel desselben [statt: derselben] angiebt und rechtfertigt; sonst besteht es durch sich selbst“ (05:08). Statt der vieldeutigen Formulierung „Princip der Pflicht“ verwendet die dazugehörige Fußnote die Formulierungen „Princip der Moralität“ und „Grundsatz aller Sittlichkeit“, woraus schon erkennbar wird, dass die sogenannten Grundlegungsschriften von der Ethik und nicht vom Recht als Lehre von der Legalität äußerer Handlungen handeln. Da aber auch Rechtspflichten „aus Pflicht“ erfüllt werden können und sollen, worin die Moralität oder Sittlichkeit einer Handlung besteht, und deshalb alle Pflichten, bloß als Pflichten, die auch allein „aus Pflicht“ erfüllt werden können, „mit zur Ethik gehören“ (06:219) und also direkt oder indirekt ethische Pflichten sind (06:221), so muss wohl auch das „Princip der Pflicht“ als ein solches verstanden werden, aus dem sich verstehen lässt, was Pflicht überhaupt (05:08n.) ist, sei es im Bereich der äußeren oder der inneren Handlungen und also einer bloß äußeren oder auch inneren Gesetzgebung für diese Handlungen. Die „vorläufige Bekanntschaft“, die wir in der GMS mit dem Sittengesetz als Pflichtprinzip gemacht haben, soll offenbar in der KpV vertieft werden, aber die
Hier und im Folgenden werden Kants Schriften nach der Akademie-Ausgabe mit Band- und Seitenzahl zitiert.
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eigentümliche „Formel“ dieses Pflichtprinzips, also die allgemeine Formel des obersten kategorischen Imperativs, soll nach Kant in der GMS nicht nur schon angegeben, sondern auch schon „rechtfertigt“ worden sein. Da Kant für eine solche Rechtfertigung oft den juridischen Terminus „Deduktion“ verwendet hat, so enthält diese knappe Bezugnahme auf die GMS auch eine Erinnerung an die dort gegebene Deduktion des Sittengesetzes bzw. Pflichtprinzips, ohne dass zunächst erkennbar wird, ob Kant diese Deduktion in der KpV weiterhin vertritt oder ob er nur die Formel dieses Sittengesetzes für „rechtfertigt“ hält, die dort gegeben wurde. Damit wären wir bei dem zweiten Anknüpfungspunkt für einen Vergleich der beiden Werke. (2) In dem Abschnitt I „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ (05:42 ff.) der Analytik der KpV versichert Kant zunächst: Diese Analytik thut dar, daß [!] reine Vernunft praktisch sein, d. i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – und dieses zwar durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That [als] praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie [die reine praktische Vernunft] den Willen zur That bestimmt (05:42).
Von diesem Faktum heißt es wenig später: [Es] giebt das moralische Gesetz […] ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Factum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt (05:43).
Und Kant fährt unmittelbar fort: Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur, (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener [der sinnlichen Natur] ihrem Mechanism Abbruch zu thun (05:43).
Obwohl die Rede von der „Autonomie“ und von dem „Gesetz“ der „Verstandeswelt“, das der Sinnenwelt in Ansehung ihrer vernünftigen Wesen als Bewohner beider Welten die Form dieser „Verstandeswelt“ verschaffen soll, stark an den dritten Abschnitt der GMS erinnern, so scheint doch in diesem nichts dem hier erwähnten „Factum“ zu entsprechen, als welches der „Grundsatz der Sittlichkeit“ hier bezeichnet wird. Und was die „Rechtfertigung“ oder „Deduktion“ der allgemeinen Formel des obersten kategorischen Imperativs betrifft, so erfahren wir im weiteren Verlauf des erwähnten Abschnitts I der KpV, nach der nun geschehenen „Exposition des obersten Grundsatzes der praktischen Vernunft“ (05:46):
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Mit der Deduktion, d. i. der Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit und der Einsicht der Möglichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori, darf man nicht so gut fortzukommen hoffen, als es mit den Grundsätzen des reinen theoretischen Verstandes anging (05:46).
Nach einigen Ausführungen Kants über „Grundkräfte“ und „Grundvermögen“ heißt es dann: [Es] ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewusst sind, und welches apodiktisch gewiss ist, gegeben […]. Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes [zwar] durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen […] werden, und steht dennoch für sich selbst fest (05:47).
Bevor wir uns dem dritten Abschnitt der GMS zuwenden,weise ich darauf hin, dass (1), wie der Vergleich mit den Grundsätzen des reinen theoretischen Verstandes und der Hinweis auf die Vergeblichkeit aller Anstrengungen der theoretischen Vernunft es deutlich machen, hier nur eine Deduktion des moralischen Gesetzes in Gestalt eines Beweises seiner „objektiven Realität“ durch die theoretisch gebrauchte Vernunft für unmöglich erklärt wird, und (2), dass diese Unbeweisbarkeit gerade damit begründet wird, dass das moralische Gesetz „gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft […] gegeben“ ist. Dieses Faktum ist also auch ein Datum, dessen apodiktische Gewissheit und Unbeweisbarkeit eine starke Ähnlichkeit mit den uns a priori bewussten Axiomen und Postulaten des theoretischen Vernunftgebrauchs in der Geometrie aufweisen.
1. Nun sollte die „Einsicht der Möglichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori“ und die darin bestehende „Rechtfertigung [der] objektiven und allgemeinen Gültigkeit“ des moralischen Gesetzes als eines praktischen Satzes gerade im dritten Abschnitt der GMS erbracht werden (04:454). Schon im Zweiten Abschnitt der GMS hatte Kant mehrfach auf die Wichtigkeit und Schwierigkeit dieser Aufgabe hingewiesen. So heißt es nach der Einführung der Imperative der Geschicklichkeit, der Klugheit und der Sittlichkeit: „[…] wie sind alle diese Imperative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloß die Nöthigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne“ (04:417). Da das Wollen eines Zwecks das Wollen der Handlung als eines zu ihm geeigneten Mittels analytisch
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enthält, ist die Antwort auf die gestellten Fragen für die ersten beiden Imperative leicht zu geben. „Dagegen wie der Imperativ der Sittlichkeit möglich sei“, heißt es dann, „ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung bedürftige Frage“ (04:419). Denn dieser Imperativ ist ein kategorischer, auf keine Voraussetzung gestützter praktischer Satz, bei dem nicht leicht zu erkennen ist, wo die Nötigung des Willens durch ihn herkommen solle. Deshalb heißt es, es sei bei dem „kategorischen Imperativ oder Gesetz der Sittlichkeit“ (04:420) die Schwierigkeit sehr groß, die Möglichkeit desselben einzusehen […]: Er ist ein synthetisch-praktischer Satz a priori, und da die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen soviel Schwierigkeit in der theoretischen Erkenntnis hat, so läßt sich leicht abnehmen, daß sie in der praktischen nicht weniger haben werde (04:420).
So wird in dem moralischen Imperativ „du sollst nicht betrüglich versprechen“ (04:419) nicht nur die Notwendigkeit der Unterlassung einer Handlung ausgesagt, sondern auch geboten, eine solche Handlung nicht zu wollen. In diesem Imperativ wird „mit dem Willen, ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgendeiner Neigung, die That [d. h. die Unterlassung] a priori, mithin nothwendig“ (04:420n.) verknüpft. Dieses ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten [Wollen] analytisch ableitet […], sondern mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist [also synthetisch], verknüpft (04:420n.).
Nachdem Kant aus dem bloßen Begriff eines kategorischen Imperativs auch seine allgemeine Formel abgeleitet hat, heißt es dann: Die Frage [nach der Möglichkeit eines solchen Imperativs] ist also diese: ist es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, dass sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt [und zwar synthetisch!] verbunden sein (04:426).
Also ist auch die allgemeine Formel des moralischen Gesetzes ein synthetischpraktischer Satz a priori. Alle diese Bestimmungen des Imperativs der Sittlichkeit sind bisher nur aus dem Begriff eines kategorischen Imperativs überhaupt und d. h. aus dem Begriff der Pflicht abgeleitet. „Daß es aber praktische Gesetze gäbe, die kategorisch geböten, könnte für sich nicht bewiesen werden, so wenig es überhaupt in diesem [zweiten] Abschnitt […] geschehen kann“ (04:431). Das ist ein Vorverweis auf den dritten Abschnitt, in dem es also um die mögliche Gültigkeit
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eines kategorischen Imperativs gehen wird. Darauf verweist auch eine wenig später folgende Formulierung (04:432): […] wenn es einen kategorischen Imperativ giebt (d. i. ein Gesetz für jeden Willen eines vernünftigen Wesens), so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstande haben könnte,
d. h. der sich selbst als einen durch seine Maxime gebietenden Gesetzgeber wollen könnte. Nach der Erläuterung des obersten Prinzips der Sittlichkeit als eines Prinzips der Autonomie wird dieses explizit formuliert: Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien. Daß diese praktische Regel [faktisch!] ein Imperativ sei, d. i. der Wille jedes vernünftigen Wesens [faktisch!] an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann [aber] durch bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe [also: analytisch] nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist (04:440).
Ferner heißt es über diesen Satz: „[…] völlig a priori muß dieser synthetische Satz, der apodiktisch gebietet, erkannt werden können [sc. wenn seine Gültigkeit überhaupt erkannt werden kann, cf. 04:449]; dieses Geschäft aber gehört nicht in gegenwärtigen [zweiten] Abschnitt“ (04:440). Das wird am Schluss dieses Abschnitts wiederholt: „Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er nothwendig sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen der Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt“ (04:444).Wir erfahren also am Ende des Zweiten Abschnitts, dass wir uns seit geraumer Zeit innerhalb einer Metaphysik der Sitten bewegt haben, die, da sie einer „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ (04:445) vorausgeht, nur eine dogmatische Metaphysik sein kann und nicht diejenige kritische Metaphysik der Sitten, die Kant schon in der Vorrede der GMS gefordert (04:388 ff.) und in einer Fußnote des Zweiten Abschnitts (04:421n.) als „eine künftige“, von ihm selbst zu erwartende angekündigt hatte. Das Verhältnis dieser vorkritischen, aus den Quellen der Stoa und des Platonismus gespeisten Metaphysik der Sitten im Zweiten Abschnitt der GMS zur uns interessierenden Frage nach der Deduzierbarkeit des obersten kategorischen Imperativs wird von Kant dortselbst genau bestimmt: Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen, ihre Handlungen jeder Zeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt [synthetisch!] verbunden sein. Um aber diese Verknüpfung zu entdecken [nicht etwa, um sie
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zu beweisen] muß man, so sehr man sich auch sträubt, einen Schritt hinaus thun, nämlich zur Metaphysik, obgleich in ein Gebiet derselben, welches von dem der speculativen Philosophie unterschieden ist, nämlich in die Metaphysik der Sitten (04:426).
Nach dieser Aufforderung schreitet Kant zur Tat und beginnt mit dem Satz „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst“ (04:428), also mit einem unbewiesenen und unbeweisbaren Satz, seinen kurzen Streifzug durch eine eigenartige und dogmatische Metaphysik der Sitten, der bis kurz vor dem Ende des Zweiten Abschnitts anhält. Zum Schluss dieses Abschnitts heißt es dann: Auch haben wir [die] Wahrheit [des fraglichen synthetischen praktischen Satzes a priori] hier [d. h. im Zweiten Abschnitt] nicht behauptet, viel weniger vorgegeben, einen Beweis derselben in unserer Gewalt zu haben. […] Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses [reinen praktischen] Vernunftvermögens selbst voranzuschicken (04:445).
Die „Hauptzüge“ einer solchen Kritik der reinen praktischen Vernunft soll der dritte Abschnitt enthalten. Erst hier kann also auch die Frage nach der Deduzierbarkeit des Sittengesetzes beantwortet werden. In diesem dritten Abschnitt geht es aber nicht bloß um die mögliche Deduktion des obersten kategorischen Imperativs, sondern auch um den Begriff der positiven Freiheit des Willens, der erst hier, aber sogleich auf der ersten Seite, in die GMS eingeführt wird (04:446). Mit dieser positiven Freiheit des Willens wird der Begriff der Autonomie, der im Zweiten Abschnitt nur Selbstgesetzgebung bedeutete, alsbald gleichgesetzt. Das ergibt einen gegenüber der dogmatischen Metaphysik der Sitten im Zweiten Abschnitt der GMS neuen, einen kritischen Begriff von Autonomie, demgemäß die Idee des Sittengesetzes selbst als zureichender Bestimmungsgrund des Willens gedacht wird, wodurch sich eine Verknüpfung von positiver Freiheit des Willens, als eines Vermögens zu handeln, und Sittlichkeit oder Moralität von Handlungen ergibt, von der in den beiden ersten Abschnitten der GMS nicht die Rede war. Zu Beginn des dritten Abschnitts wird dementsprechend auf eine Verknüpfung der Deduktion des Sittengesetzes mit der der Freiheit hingewiesen und behauptet, dass „die Deduktion des Begriffs der [positiven!] Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ ebenso wie des kategorischen Imperativs „noch einiger Vorbereitung“ bedürfe (04:447), aber „mit ihr“, d. h. mit dieser Deduktion der Freiheit, lasse sich „auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen“ (04:447). Ebenso wie in der späteren KpV hatte Kant am Anfang des Absatzes erklärt: „Wenn […] Freiheit des
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Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs“ (04:447; cf. KpV § 6, 05:29). Allerdings findet sich im Folgenden auch ein Satz, der mit dem in der KpV Gesagten unvereinbar ist: Es floß […] aus der Voraussetzung dieser Ideen [von Freiheit und Sittlichkeit] auch das Bewußtsein eines Gesetzes: [so] zu handeln: dass die subjectiven Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, daß sie auch objectiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen können (04:449).
Die KpV lehrt hingegen, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes ein Faktum ist, das aus nichts anderem „fließt“, sondern das seinerseits den Rückschluss auf die transzendentale Freiheit des Willens erlaubt, und dass Sittlichkeit nichts anderes ist als diejenige Eigenschaft von Handlungen, die sie haben, wenn ihre Maximen um des Sittengesetzes willen angenommen wurden. Aber trotz aller Zusammengehörigkeit von Sittengesetz und positiver Freiheit ist bisher die „Gültigkeit“ bzw. die „Realität und objective Nothwendigkeit“ des moralischen Gesetzes nach Kant noch immer nicht „für sich bewiesen“ (cf. 04:449). Wir können demnach auf die Frage, „warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime als eines Gesetzes die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse […] keine genugthuende Antwort geben“ (04:449 f.). Diese Antwort kann nach dem dritten Abschnitt der GMS erst dann gegeben werden, wenn wir uns durch die positive Idee der Freiheit auf die Verstandeswelt verweisen lassen, zu der wir uns, wie jedes vernünftige Wesen als Intelligenz, „gehörig ansehen“ (04:452) müssen. Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält […] so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren [d. h. der Verstandeswelt] d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben [sc. der Verstandeswelt] enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich [in der Sinnenwelt] als Imperativen und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen (04:454).
Dieser Satz wird ausdrücklich als „Deduktion“, d. h. als Begründung der Möglichkeit a priori von kategorischen Imperativen überhaupt bezeichnet (04:454). Kant interpretiert diese Deduktion so: Wenn ich […] Glied einer intelligibelen Welt […] allein wäre, [so] würden […] alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein […], da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, […] sollen [… alle meine Handlungen der Autonomie des
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Willens …] gemäß sein, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee eben desselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt (04:454).
Die so erreichte, lange gesuchte Antwort auf die Frage nach der Deduktion oder Rechtfertigung des Sittengesetzes beruht also auf der Idee der Abhängigkeit der Sinnenwelt von der Verstandeswelt, wobei dieser letztere mundus intelligibilis als aus reinen Vernunftwesen oder Intelligenzen bestehend gedacht wird, deren Handlungen automatisch dem Gesetz der Gesetzestauglichkeit ihrer Maximen, also dem Gesetz einer möglichen Autonomie durch diese Maximen, gemäß sind, und insofern einerseits in einem positiven Sinne frei sind, als die Idee dieser Autonomie zugleich zureichender Grund ihrer Handlungen ist, und andererseits diesen Handlungen Sittlichkeit zukommt, sofern hier nicht nur die Handlungen selbst, sondern auch die diesen zugrunde liegenden Maximen sittengesetzmäßig sind. Die so gedachte Verstandeswelt braucht also nur als Grund der korrespondierenden Sinnenwelt gedacht zu werden, um eine Erklärung für das „kategorische Sollen“ oder für das Bewusstsein der Nötigung durch das Sittengesetz zu liefern, also dafür, dass es wirklich einen solchen synthetisch-praktischen Satz a priori gibt. Geht man schließlich dieser kantischen Zweiweltenlehre selbst nach, so findet man, dass sie als Befreiung vom gefürchteten Zirkel der wechselseitigen Begründung von Freiheit und Sittengesetz (04:450, 453) und als „Bemerkung“ eingeführt wird, die auch „der gemeinste Verstand […] machen mag“ (04:450 f.). Dieser durch ein vermeintliches „Gefühl“ (04:451) gemachten „rohen Unterscheidung der Sinnenwelt von der Verstandeswelt“ (04:451) soll die Verschiedenheit von passiven, auf Affektion der Sinne beruhenden, und aktiven, aus der Tätigkeit des Verstandes entspringenden, Vorstellungen zugrunde liegen, die den gemeinsten Verstand dazu bringt, dass er „hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich“ (04:451; cf. 04:459), einräume und auch an sich selbst zwischen der „Erscheinung seiner Natur“ in seinem inneren Sinn und seinem „Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag“ (04:451) unterscheide und sich so einerseits zur Sinnenwelt, „in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag [und] unmittelbar zum Bewußtsein gelangt“, sich zur „intellektuellen Welt“ zählen müsse, „die er doch nicht weiter kennt“ (04:451). Diese Zweiweltenlehre des „gemeinsten Verstandes“, die sich zunächst nur auf Erscheinungen und gänzlich unbekannte Dinge an sich bezieht, wird also noch weiter ausgebaut, da dieser „sehr geneigt“ sei, „hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Thätiges zu erwarten“ (04:452), also nicht bloß ein unbekanntes Ding an
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sich. Denn etwas Derartiges finde – jetzt nicht mehr nur der „gemeinste Verstand“, sondern – „der Mensch“ und zwar „in sich wirklich, [nämlich] die Vernunft. Diese als reine Selbstthätigkeit […] zeigt […] unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneittät […], daß sie […] ihr vornehmstes Geschäft darin beweist, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden“ (04:452) und sogar sich selbst, die selbsttätige Vernunft, von der Subjekt- auf die Objektseite zu transportieren. Diese Verstandeswelt besteht dann also nicht mehr bloß aus Lockeschen affizierenden Korpuskeln, die man nicht weiter kennt, sondern aus Leibnizschen spontan handelnden Monaden, die eine nicht bloß intelligible, sondern eine „intellektuelle“ Welt aus Intelligenzen bilden. Wir haben es hier mit einer Popularversion (oder gar mit einer Kinderversion, in Erinnerung daran, dass Kant einmal vorhatte, zusammen mit Hamann eine „Kinderphysik“ zu schreiben: 10:20 f.) der kantischen Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich selbst und seiner kritischen Verwendung der aus dem Platonismus stammenden Zweiweltenlehre zu tun, die alle Züge eines naiven Dogmatismus trägt. In den Hauptwerken seiner theoretischen Philosophie, der Kritik der reinen Vernunft, den Prolegomena und den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft sagt Kant niemals, dass man „hinter den Erscheinungen […] die Dinge an sich einräumen und annehmen müsse“ (04:451) oder eingestehen solle, „daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (ob zwar verborgen) zum Grunde liegen müssen“ (04:459). Kant beweist in seiner transzendentalen Ästhetik vielmehr, dass alle Gegenstände der Sinne bloße Erscheinungen sind und keine Dinge an sich selbst sein können, weil und sofern sie in Raum und Zeit angeschaut werden, von denen sich beweisen lässt, dass sie bloße Formen der menschlichen, d. h. sinnlichen, Anschauung sind. Davon ist in der GMS mit keinem Wort die Rede. Auch sei hier angemerkt, dass die Berufung des „gemeinsten Verstandes“ auf die „reine Tätigkeit“ der „Vernunft“ in ihm bzw. auf deren „so reine Spontanität“, die sich angeblich in ihren „Ideen“ beweist, ihn nicht dazu berechtigt, sich als Bewohner einer nicht bloß intelligiblen, sondern sogar „intellektuellen Welt“ der Intelligenzen zu erkennen. Denn, wie Kant in der zwölf Jahre später erschienenen Metaphysik der Sitten sagt, „die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen […] könnte […] wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein“ (06:418). Hinzu kommt, dass nach der Religionsschrift auch aus der praktischen Vernunft eines Wesens nicht schon folgt, dass es durch das Sittengesetz zum Handeln bestimmbar sei: Denn es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualification ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen und also für sich selbst, praktisch zu sein (06:26n.).
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Es ist hier nicht der Ort, Kants Argumentation außerhalb der beiden sogenannten Grundlegungsschriften nachzuzeichnen. Aber es ist notwendig, darauf hinzuweisen, dass Kant unmöglich angenommen haben kann, dass die Position des „gemeinsten Verstandes“ oder des „nachdenkenden Menschen“ (04:451) in der GMS einer kritischen Untersuchung im Lichte der Einsichten seiner Kritik der theoretischen Vernunft standhält. Deren Skizzierung dient nur dazu, den scheinbaren Zirkel, d. h. die vermutete Diallele, zwischen der Begründung der Freiheit durch das Stehen des Willens „unter sittlichen Gesetzen“ und der Begründung der Unterworfenheit unter diese Gesetze durch die Annahme der Freiheit unseres Willens (04:450) aufzubrechen durch die von diesen beiden Argumenten der praktischen Philosophie ganz unabhängige theoretische Annahme von den zwei Welten, denen sich der menschliche Wille als zugehörig denken kann, sodass Freiheit und Sollensgesetz auf diese zwei Welten verteilt werden könnten. Die Art, in der diese Zweiweltenlehre in der GMS eingeführt wird, lässt klar erkennen, dass es für Kant als Sittenlehrer ganz gleichgültig ist, aus welchen absurden Gründen man diese Lehre für richtig hält, wenn sie sich nur widerspruchsfrei denken lässt und wenn sie den Verdacht des Zirkels beseitigt. Das gilt natürlich auch für die zweite kurze Beschreibung des „geheimen Zirkels“, die Kant nach der Einführung der Popularversion der Zweiweltenlehre gibt. Danach schließen wir „aus der Freiheit auf die Autonomie“ und damit auf das „sittliche Gesetz“, unter dem unser Wille stehe, woraus sich der Verdacht ergeben soll, dass wir uns die Freiheit nur deshalb zuschreiben, um daraus auf das Sittengesetz schließen zu können, das dadurch seinerseits zu einer causa finalis für die Annahme der Freiheit wird. Dann hätten wir es wieder mit einer Diallele zu tun. In beiden Fällen würden wir einen logisch inkorrekten Gebrauch von dem Satz machen: „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie“ (04:450). Also kann der Begriff der Freiheit weder den Grund für das Sittengesetz enthalten (genauer gesagt: dafür, dass wir unter ihm stehen) noch kann das Sittengesetz der Grund für die Freiheit (genauer: für die Annahme unserer Willensfreiheit) sein. Was bei dieser Art der Erklärung des Hineingeratens in einen „Zirkel“ übersehen wird, das ist die Tatsache, dass sich der Verdacht einer Zirkelhaftigkeit der Argumentation nur daraus ergibt, dass in ihr die zweifache Bedeutung von „Autonomie“ verkannt wird. Schon daraus folgt, dass hier kein Begründungszirkel (Diallele) vorliegt. Das sittliche Gesetz der Autonomie heißt so, weil in ihm dem Willen geboten wird, durch seine Maxime selbst der Gesetzgeber für alle vernünftigen Wesen, einschließlich seiner selbst, sein zu können. Autonomie heißt dann „eigene Gesetzgebung des Willens“. Sie wird als mögliche Gesetzgebung im Sittengesetz geboten – das hat mit Freiheit (und gar mit positiver Freiheit) unmittelbar gar nichts zu tun. Dies ist vielmehr der Sinn von Autonomie, von dem im Zweiten Abschnitt der GMS allein die Rede ist, und zwar in den Teilen
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dieses Abschnitts, die die dogmatische Metaphysik der Sitten enthalten. Ab dem Beginn des dritten Abschnitts gibt es aber einen zweiten, den kritischen Sinn von Autonomie, in dem sie dasselbe bedeutet wie der positive Begriff der Freiheit des Willens. Denn kann dieser Wille sich selbst allein durch die Idee der Gesetzestauglichkeit seiner Maxime zur Annahme dieser Maxime, d. h. zum Wollen, und zu dem ihm korrespondierenden Handeln bestimmen, d. h. durch den Gedanken, selbst vermittelst seiner Maxime Gesetzgeber für alle Vernunftwesen einschließlich seiner selbst sein zu können, so ist dieser Wille positiv frei, weil er in der Idee seiner Autonomie dann selbst den zureichenden Bestimmungsgrund seines Handelns in sich enthält. Seinen Handlungen kommt dann Moralität oder Sittlichkeit zu. Also sind dann (positive) „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens“ zwar „beides Autonomie“, aber in einem ganz verschiedenen Sinne. Denn bloße Selbstgesetzgebung und Freiheit als absolute Spontaneität des Handelns sind offenbar völlig verschieden. Nur der kritische Begriff der Autonomie ist mit dem positiven Begriff der Willensfreiheit bedeutungsgleich, aber er impliziert das Rätsel, nicht erklären zu können, wie die bloße Idee der durch mich möglichen Autonomie die wirkende Kraft einer Ursache erhalten kann, die aller Heteronomie der zeitbedingten Naturursachen enthoben ist, uns also nur als einer intelligiblen Ursache zukommen kann. Dieser Doppelsinn von Autonomie erklärt also auch, warum der Verdacht des geheimen Zirkels, von dem an der zweiten Stelle, nach der Einführung der Zweiweltenlehre des „gemeinsten Verstandes“ die Rede ist, unbegründet ist. Denn aus der Freiheit lässt sich nur dann „auf die Autonomie“ schließen, wenn „Autonomie“ hier im positiven und kritischen Sinne der Selbstbestimmung durch die Idee der Selbstgesetzgebung genommen wird, und diese Idee ist nichts anderes als der Inhalt des Kantischen Sittengesetzes, das ja gebietet, vermittelst der eigenen Maxime Selbstgesetzgeber sein zu können. Das entspricht genau dem § 6 der KpV, wo auch aus der vorausgesetzten Freiheit des Willens analytisch auf den Inhalt des den Willen bestimmenden Gesetzes geschlossen wird. Aber dass die Freiheit des Willens nur vorausgesetzt wird, um aus ihr auf das Sittengesetz schließen zu können, ist dennoch ein unbegründeter Verdacht, wenn man einmal annimmt, dass im mundus intelligibilis alles Wollen frei ist, weil es allein durch die Vernunft bestimmt ist. An dieser Stelle liegt allerdings eine Lücke in der kantischen Argumentation vor, die hier nicht geschlossen werden kann. Denn aus der Vernunftbestimmtheit des Handelns, sei es in der Sinnenwelt oder in der Verstandeswelt, folgt nicht die Bestimmbarkeit des Willens durch das Sittengesetz und also auch nicht der positive Begriff der Freiheit des Willens, der mit dem kritischen Begriff der Autonomie gleichbedeutend ist. Aus der Vernunftbestimmtheit folgt nur der negative Begriff der Freiheit als „Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen
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muß)“ (04:452). Es ist also eine nur aus der Luft gegriffene Behauptung des „gemeinsten Verstandes“, wenn Kant in seinem Sinne fortfährt: „Mit der Idee der [negativen!] Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit“ (04:452). Wenn mit der Idee der negativen Freiheit eines vernünftigen Wesens der positive Begriff der Freiheit verbunden wäre, d. h. der kritische Begriff der Autonomie, dann ließe sich daraus „das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit“ allerdings analytisch herleiten, und so wäre der Verdacht in der Tat ausgeräumt, „daß wir […] vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum [analytisch!] zu schließen, mithin von jenem [Gesetz] gar keinen Grund angeben könnten“ (04:453). Das Sittengesetz auf diese Weise zirkelhaft zur causa finalis der Freiheit zu machen, wird also für Kant hier nur dadurch vermeidbar, dass wir der Fiktion des „gemeinsten Verstandes“ Glauben schenken, für den „ein vernünftiges [Wesen]“ eo ipso ein „zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen“ (04:452) und eben darum ein positiv freies Wesen ist. Nimmt man diese Art von Popularphilosophie an, so hat man allerdings zirkelfrei einen „Grund“ für das Sittengesetz „an[ge]geben“ (04:453), der sich vorteilhaft von der Grundlosigkeit eines bloßen Faktums unterscheidet. Es ist unbestreitbar, dass diese popularphilosophische Umgehung der Faktum-Lehre durch die KpV zurechtgerückt wurde und ebendiese Lehre vom Faktum der reinen Vernunft eine der kantischen Philosophie im Ganzen allein angemessene Darstellungsweise seiner Moralbegründung geliefert hat. Die GMS enthält eine populär sein wollende und gleichwohl revolutionäre Theorie der Sittlichkeit, die in der Tat dargetan hat, dass das „Prinzip der Autonomie das alleinige Prinzip der Moral sei“ (04:440), wenn man die Moral als Lehre von der Sittlichkeit versteht. Die Begründung dieses Sittengesetzes vermittelst der Zweiweltenlehre als eines pädagogischen Mittels der Darstellung seiner ebenso revolutionären neuen Freiheitskonzeption ist aber in keiner Weise so zu verstehen, dass Kant selbst diese Popularphilosophie, die u. a. aus der stoischen und mittelplatonischen Tradition schöpft, für philosophisch zureichend und die dort vorgetragene Deduktion des obersten kategorischen Imperativs für etwas gehalten hätte, das einer philosophischen Kritik standhält. Das ergibt sich unzweideutig aus dem auf die Deduktion des Sittengesetzes folgenden Unterkapitel des dritten Abschnitts, das „Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ überschrieben ist und mit dem Satz beginnt: „Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei“ (04:455). Dazu bedarf es offenbar keiner Philosophie und schon gar keiner kritischen Philosophie. Kant ist aber weit entfernt davon, diese Art des Menschen, sich als ein Wesen mit freiem Willen zu denken, für ein bloßes Vorurteil zu halten. Vielmehr heißt es:
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Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektiv-bestimmenden Ursachen [!], die bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehören. Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältniß zu bestimmenden Gründen [!] von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Causalität begabt denkt, als wenn er sich wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt und seine Causalität äußerer Bestimmung nach Naturgesetzen unterwirft. Nun wird er bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, ja sogar müsse (04:457).
Aus dieser kurzen Skizze des vorphilosophischen menschlichen Selbstverständnisses lässt sich schon entnehmen, dass Kant die Zugehörigkeit der Menschen zu zwei Ordnungen der Dinge oder seine Bürgerschaft in zwei Welten inklusive der Unterscheidung von Erscheinungen und Sachen an sich selbst für etwas Allbekanntes und nicht der Begründung Bedürftiges hält. Ebenso steht es mit dem selbstverständlichen Anspruch auf einen freien Willen und dem Wissen darum, dass er unerklärlich ist. Vor diesem Hintergrund resümiert Kant nun seine eigene Deduktion des Sittengesetzes: Die Frage also: wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, kann zwar soweit beantwortet werden, als man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der allein er möglich ist [Hervorhebung M. B.], nämlich die Idee der [positiven!] Freiheit, imgleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraussetzung einsehen kann, welches zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch [!] des sittlichen Gesetzes hinreichend ist; aber wie diese Voraussetzung selbst möglich sei [Hervorhebung M. B.], läßt sich durch keine menschliche Vernunft [also auch nicht durch die Annahme eines bloß denkbaren mundus intelligibilis] jemals einsehen (04:461).
Dann geht Kant die Etappen seiner Beweisführung noch einmal durch und kommt erneut zu dem Ergebnis: „[…] wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren“ (04:461). Denn: „Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte, wie Freiheit selbst als Causalität eines Willens möglich“ ist (04:461). An dieser Stelle findet sich nun eine Art von Abrechnung mit der Idee einer intelligiblen Welt, die bei der gesuchten Deduktion so gute Dienste geleistet hatte. Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehört, von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, bloß um das Princip der Bewegursachen aus dem Felde der Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch daß ich es begrenze und zeige, daß es nicht Alles in Allem in sich fasse, sondern daß außer ihm noch mehr sei; dieses Mehrere aber kenne ich nicht weiter (04:462).
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Das ist es also, was von der Idee der intelligiblen Welt übrigbleibt: ein nichtsinnlicher Bestimmungsgrund meines Willens, der über das gesamte Feld der Sinnlichkeit hinausgeht und im Übrigen unbekannt ist und bleiben muss, ein völlig unbestimmbares Ideal der reinen Vernunft. Diese selbst ist ebenso unbestimmbar, außer dem, dass sie mir „das praktische Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen“ übriglässt „und diesem gemäß die Vernunft […] als mögliche wirkende, d. i. als den Willen bestimmende, Ursache zu denken [!]“ (04:462). Das ist das magere Resultat einer kritischen Sichtung der intelligiblen Welt, in der der Grund für die Deduktion des Sittengesetzes gesucht werden sollte. Diese „oberste Grenze aller moralischen Nachforschung“ zu bestimmen hat eine heilsame Ernüchterung der Vernunft zur Folge, die sie davon abhält, „in dem für sie leeren Raum transzendenter Begriffe unter dem Namen der intelligiblen Welt kraftlos ihre Flügel [zu] schwinge[n], ohne von der Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinste [zu] verliere[n]“ (04:463). Es ist klar, dass sich auf diesen leeren Raum transzendenter Begriffe nichts gründen lässt,vor allem keine Erkenntnis der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs. Und so wird „die Idee einer reinen Verstandeswelt als eines Ganzen aller Intelligenzen“ zwar untauglich als Prinzip der Deduktion des Sittengesetzes, aber immerhin als „eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens“ sein, „wenngleich alles Wissen an der Grenze derselben ein Ende hat“ (04:463). Das Ergebnis der Überprüfung dieser „Deduktion des obersten Prinzips der Moralität“ ist also dasselbe, wie das der KpV: Sie kann den kategorischen Imperativ „seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen“ (04:463).
2. Wenn Kant also auf der letzten Seite der GMS sagt: „Es ist also kein Tadel für unsere Deduktion des obersten Princips der Moralität […], dass sie ein unbedingtes praktisches Gesetz […] seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann“ (04:463), so will er sich nicht gegen den möglichen Vorwurf des Scheiterns eines gut gemeinten Versuchs verwahren. Denn scheitern kann nur etwas, das auch gelingen kann, und es stand für Kant natürlich von vornherein fest, dass diese Deduktion nur unter der unerfüllbaren Bedingung gelingen könnte, dass dem Vulgärplatonismus des „gemeinsten Verstandes“ irgendeine erkenntnisbegründende Bedeutung verliehen werde. Die seit langem erörterte und von vielen ernst zu nehmenden Interpreten der kantischen Moralphilosophie vertretene Annahme, dieses Räsonnement sei Kants eigenes Deduktionsargument, setzt voraus, dass der Kritiker der reinen Vernunft im Jahre 1785 vorübergehend vergessen habe, dass der widerspruchsfrei denkbaren Vernunftidee eines
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mundus intelligibilis mangels korrespondierender Anschauung keinerlei objektive Realität oder Erkenntniswert zukommen könne und sie deshalb auch nicht die Behauptung stützen könne, das in dieser Welt der intelligiblen Intelligenzen allgemein für deren Wollen und Handeln geltende Autonomieprinzip sei seinerseits geeignet, die objektive praktische Realität dieses moralischen Gesetzes als eines kategorischen Imperativs und synthetischen praktischen Satzes a priori im mundus sensibilis zu begründen. Die Unhaltbarkeit einer nur unter unerfüllbaren Bedingungen möglichen Deduktion hat Kant nicht etwa erst nach 1785 eingesehen, sodass er seine Position verändern musste, um die KpV mit ihrer FaktumLehre schreiben zu können. Kant verfasst seine Deduktion in der GMS unter Berufung auf eine Popularphilosophie in der Garveschen Manier eines Synkretismus aus Leibnizischen, Lockeschen, stoischen und vor allem aus dem Platonismus stammenden Quellen, weil es für seinen Zweck gleichgültig ist, ob sie transzendentalphilosophisch haltbar ist oder nicht, wenn sie nur geeignet ist, die für die europäische Vulgäraufklärung unerträglichen revolutionären Neuerungen seiner Ethik halbwegs erträglich zu machen: den Formalismus eines von allen Zwecken unabhängigen Sittengesetzes, der das Ende des 2000-jährigen Eudämonismus und die Verbannung des höchsten Gutes in eine bloße Dialektik der reinen praktischen Vernunft bedeutet, und den mit ihm verknüpften neuen Begriff der Willens- oder Willkürfreiheit, der nur unter den Bedingungen seines transzendentalen Idealismus verteidigt werden kann, von dem in der GMS, im handgreiflichen Unterschied zur KpV, gar keine Rede ist, und der eine ganz andere Art von Platonismus, den Kant für den echten gehalten hat, und eine neue Zeittheorie erfordert, die in der GMS ebenfalls keinen Platz finden können. Kant hat also diese Schrift, die eine nur „vorläufige Bekanntschaft“ mit der neuen Formel des „Prinzips der Pflicht“ (05:08) vermitteln wollte, von vornherein in dem Wissen verfasst, dass er dabei die notwendige Vorbereitung seiner neuen Ethik durch eine Kritik der praktischen Vernunft zunächst unterlassen hat. Die allgemeine Beliebtheit der GMS, die bis heute alljährlich in hunderten von Seminarveranstaltungen weltweit gelehrt wird, zeigt, dass er mit seiner in volkspädagogischer Absicht vorgenommenen Ausklammerung der transzendentalphilosophischen Probleme überaus erfolgreich war. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er sich erst nachträglich von dem unzureichenden Charakter dieser Schrift überzeugt und deshalb eine verbesserte Version seiner Theorie in der KpV vorgelegt habe. Die Faktum-Lehre der KpV ist also nicht nur durch ihre Darstellungsform von der GMS unterschieden, sondern vor allem durch die ständige Bezugnahme auf die Probleme und Lösungen der Kritik der reinen Vernunft. Sie allein steht auf dem theoretischen Niveau der Kritik der reinen Vernunft und hat deshalb als die für uns maßgebliche Begründung der kantischen Theorie der Sittlichkeit zu gelten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Kant seine moralphilosophische Position ge-
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Manfred Baum
genüber dem Kanonkapitel der Kritik der reinen Vernunft schon in der GMS und erst recht in der KpV drastisch verändert hat. Davon soll in diesem Zusammenhang nicht weiter die Rede sein. Am Beginn des Abschnitts I „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ heißt es bekanntlich in der KpV: Diese Analytik thut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d. i. für sich, unabhängig von allem Empirischen den Willen bestimmen könne, – und dieses zwar durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That [als] praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur That bestimmt (05:42).
Ein Faktum ist etwas Wirkliches, von dessen Möglichkeit man nur durch seine Wirklichkeit, also ohne den Grund seiner Möglichkeit einzusehen, überzeugt ist. Die Einsicht, dass die reine Vernunft praktisch sein könne, folgt also aus dem Bewusstsein dessen, dass sie es wirklich ist. Damit ist schon angedeutet, dass wir nicht wissen, wie reine Vernunft praktisch ist und schon gar nicht, was der Grund dieses spezifischen Praktisch-Seins ist. Wenn Praktisch-Sein bedeutet, den Willen zu bestimmen, dann besteht das Faktum also darin, dass die reine Vernunft, für sich, wirklich den Willen bestimmt und dass ich mir dessen bewusst bin oder jedenfalls bewusst sein kann. Dasjenige, dessen ich mir gegebenenfalls als wirkliche Willensbestimmung durch reine Vernunft bewusst bin, wird nun als „Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit“ bezeichnet. Das kann nur heißen, dass ich mir meines Willens als eines solchen bewusst bin, der durch die reine Vernunft und ihr Sittengesetz genötigt ist, in gewisser Weise zu wollen, und wenn Wollen ein Begehren nach Maximen ist und das Grundgesetz der Sittlichkeit ein Gesetz ist, das die Form von Maximen vorschreibt, so bin ich mir im Bewusstsein der faktischen Autonomie bewusst, (1) dass meine eigene Vernunft selbst die Gesetzgeberin ist (das ist der erste Sinn des „Auto-“ in der Autonomie), (2) dass mir dieses Gesetz nicht bloß bekannt gemacht wird, sondern dass ich durch es und somit auch durch meine Vernunft genötigt werde, in gewisser Weise zu wollen und entsprechend zu handeln, (3) dass meine Maxime eine Form haben soll, durch die sie tauglich ist,von allen vernünftigen Wesen als deren Maxime befolgt zu werden, und (4) dass ich deshalb wollen können soll, vermittelst dieser Maxime selbst zum Gesetzgeber für alle Vernunftwesen, einschließlich meiner selbst, zu werden, worin der zweite Sinn des „Auto-“ in der Autonomie besteht. Daraus folgt, dass die einzige Pflicht, die im faktischen Bewusstsein der Autonomie meiner reinen Vernunft geboten sein kann, die ist, nur nach gesetzestauglichen, d. h. nur nach moralisch möglichen oder erlaubten Maximen, zu wollen und zu handeln. Das Bestimmtsein des Willens zur Tat, dessen ich mir im Bewusstsein der Autonomie meiner Vernunft bewusst bin, ist also nur ein Sollen des Willens, das sich nicht auf
Sittengesetz und Freiheit. Kant 1785 und 1788
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bestimmte Zwecke, Maximen oder Handlungen bezieht, sondern nur auf die gemeinsame Form aller möglichen gesetzestauglichen Maximen. Diese Art faktischen Sollens, dessen ich mir bewusst sein kann, ist demnach die einzige Art, in der sich die reine Vernunft unmittelbar als praktisch oder willensbestimmend erweist, ohne dass ich erkennen könnte, wie das möglich ist. Damit ist aber nicht nur das Faktum des Sittengesetzes und der vermittelst seiner erfolgenden Willensbestimmung beschrieben, sondern auch die Lösung des Problems der Willensfreiheit vorbereitet. Denn Kant fährt fort: Sie [die Analytik] zeigt zugleich, daß dieses Factum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei, wodurch der Wille eines vernünftigen Wesens […] im Praktischen […] sich […] als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligiblen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewußt ist (05:42).
Aus der Freiheit des Willens folgt also die Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt, weil Freiheit in der Sinnenwelt a priori unmöglich ist. Aber warum ist das Bewusstsein der faktischen Autonomie mit dem dann ebenso faktischen Bewusstsein der Freiheit des Willens einerlei? Weil die Nötigung des Willens durch die Autonomie seiner eigenen reinen Vernunft nur vermittelst der Idee oder Vorstellung des Sittengesetzes erfolgen kann, d. h. (1) dass sie nicht durch eine in der Zeitordnung vorhergehende Ursache erfolgt (negative Freiheit), und (2) dass der Grund dieses Sollens und seines Bewusstseins im Handelnden selbst, im eigentlichen Selbst dieses Wollenden und Handelnden liegt. Die Kausalität aus Freiheit, die positive Freiheit, die dem Willen (bzw. der Willkür) demnach zukommt, ist dadurch bestimmt, dass „die Idee des Gesetzes einer Kausalität (des Willens) selbst Kausalität hat oder ihr Bestimmungsgrund ist“ (05:50). Dass aber der Wille (bzw. die Willkür) des Menschen das Vermögen der positiven Freiheit einer intelligiblen Ursache sei, folgt aus dem faktischen Bewusstsein, so handeln zu sollen, wie es das praktische Gesetz seiner reinen Vernunft gebietet. In diesen Charakterisierungen von Sittengesetz und Freiheit und ihres Verhältnisses, die Kant 1788 veröffentlicht hat, findet sich nichts, worüber er nicht schon 1785 verfügte, aber es ist gewiss, dass der Verfasser der Kritik der reinen Vernunft von 1781 kaum etwas davon wusste.
Bernd Ludwig (Göttingen)
Die Freiheit des Willens und die Freiheit zum Bösen. Inhaltliche Inversionen und terminologische Ausdifferenzierungen in Kants Moralphilosophie zwischen 1781 und 1797 Zusammenfassung: In Kants Freiheits- und Willenslehre gibt es nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft von 1781 zwei signifikante Umbrüche: (1) In der Grundlegung wird erstmals ein notwendiger Zusammenhang zwischen transzendentaler Freiheit und Sittengesetz aufgewiesen, mit dessen Hilfe Kant 1785 Eudämonismus und Fatalismus gleichermaßen zurückweisen will. Dieses Projekt scheitert aber (wie bereits von zeitgenössischen Kritikern bemerkt wurde) nicht allein daran, dass die aus der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft unverändert übernommene, spekulative (Willens-)Freiheitslehre mit dem transzendentalen Idealismus letztlich unvereinbar ist, sondern auch daran, dass ebendiese Freiheitslehre von 1781 innerhalb des neuen systematischen Kontextes der Grundlegung die Zurechenbarkeit böser Handlungen definitiv ausschließt. (2) In der Kritik der praktischen Vernunft kehrt Kant 1787/88 daher – notgedrungen – die epistemische Priorität von Freiheit und Sittengesetz um. Auf diesem Wege umgeht er nicht nur den Einwand gegen seine (nun obsolete) spekulative Freiheitsdeduktion: Er löst damit ohne Weiteres auch gleich noch das Problem der Zurechenbarkeit böser Handlungen. Allerdings liefert er erst in der Metaphysik der Sitten von 1797 (wiederum durch einen Kritiker veranlasst) eine Terminologie nach, mit der der Kerngedanke dieser konsequent-kritischen Freiheitslehre erstmals adäquat ausbuchstabiert werden kann.
1. Wozu überhaupt die Freiheit des Willens? Wer sein Studium von Kants praktischer Philosophie mit der Grundlegung beginnt, kann leicht zu der irrigen Auffassung gelangen, bei Kant verdanke die Idee der Freiheit ihre philosophische Bedeutsamkeit im Wesentlichen der Rolle, die sie im Zusammenhang einer Begründung des Sittengesetzes spielt. So heißt es ja z. B. in der dritten Sektion des dritten Abschnitts:
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(1) Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen (04:452).
Die Freiheitsfrage wird 1785 hier im dritten Abschnitt erstmalig aufgeworfen und dies geschieht tatsächlich allein aufgrund ihrer Verbindung mit der bis dahin aufgeschobenen (s. 04:420f.) Frage nach der Möglichkeit von kategorischen Imperativen, d. i. von Verbindlichkeit.
1.1 Hätte man zuvor allerdings die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft bis zu deren Ende studiert, dann wäre man unweigerlich zu einer gänzlich anderen Auffassung gekommen. Die „Idee der Freiheit“ verdankt ihr philosophisches Interesse dort mitnichten der Lehre vom Sittengesetz oder vom kategorischen Imperativ: Das Sittengesetz wird 1781 in systematischer Absicht erst im praktischen Kanon der Methodenlehre der Kritik präsentiert, der – eben weil er auf das Sittengesetz rekurriert (A 14) – erklärtermaßen gar nicht mehr zur Transzendentalphilosophie gehört (s. A 797, 801). Dort wird es herangezogen, um gleichsam post festum noch den beiden übrigen transzendentalen Ideen von Gott und Unsterblichkeit praktische Realität zu verschaffen. Wie Kant auch bereits unmittelbar zuvor, im Disziplin-Hauptstück, betont hat, ist die spekulative, d. h. die theoretische (A 634), Vernunft nicht in der Lage, die „zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft, es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“ zu demonstrieren (A 741f.; vgl. auch A 468 und die entsprechenden Vorverweise in den Kanon: A 383 und 634). Die dritte der (drei) transzendentalen Ideen hingegen, die „Idee der Freiheit“, konnte, so Kant im Kanon, bereits „oben abgetan“ (A 802), d. h. abschließend behandelt werden, sie hatte „in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung“ erfahren (A 803) – wobei das Sittengesetz allerdings nicht erwähnt wurde. Sie „geht uns hier im praktischen“ Kanon nichts (mehr) an, weil es nun um Fragen der Verbindlichkeit geht, genauer, um (2) Gott also und Unsterblichkeit [als] zwei von der Verbindlichkeit […] nicht zu trennende Voraussetzungen (A 811).
Die Freiheit indes, den Gegenstand der dritten der transzendentalen Ideen, muss man hier nicht mehr „praktisch postulieren“ (A 634), denn sie war bereits Gegenstand einer „spekulative[n] Frage“ und betraf allein das „spekulative Wissen“
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(A 803).¹ Im praktischen Kanon, wo es allein um die Willensbestimmung, die „Vorschrift des Verhaltens“ (A 803), geht, um einen Gegenstand also, welcher „der transzendentalen Philosophie fremd“ ist (A 801), kann sie als „gleichgültig beiseite“ gesetzt werden – man hat es hier am Ende also „nur mit zwei Fragen zu tun“ (A 803): mit denen nach Gott und nach Unsterblichkeit. Genauso wenig, wie Kant im Kanon also davon ausgeht, dass man die transzendentale Freiheit mit Rückgriff auf das Sittengesetz noch praktisch postulieren muss (oder auch nur könnte), so wenig deutet er hier nun – umgekehrt – darauf hin, dass es möglich (oder gar erforderlich) sein könnte, die transzendentale Freiheit im Rahmen einer spezifisch philosophischen Grundlegung des Sittengesetzes heranzuziehen. Vielmehr stellt er die moralischen Gesetze ausdrücklich als epistemisch eigenständig vor. Unmittelbar bevor er diese heranzieht, um endlich Gott und Unsterblichkeit als deren „Voraussetzungen“ zu „postulieren“ heißt es nämlich: (3) Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori […] den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen […]. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen [!], nicht allein indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urtheil eines jeden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will (A 807).
Mit dem hier genannten „Gebrauch der Freiheit“ nimmt der Kanon – worauf Kant eingangs (A 801) explizit hingewiesen hatte – dann auch definitiv nicht auf die transzendentale Idee der Freiheit Bezug, sondern nur auf ihren praktischen Begriff, bzw. (s. u. Anm. 4) ihre praktische Idee: Die praktische Freiheit ist das Vermögen des Menschen, um zukünftiger Güter willen gegenwärtige Begehrungen, das, „was reizt, d. i., die Sinne unmittelbar [!] affiziert“, zu überwinden (A 802f.) und findet ihren Ausdruck demgemäß in „Imperative[n], d. i. objektive[n] Gesetze[n] der
Die Idee einer absoluten Spontaneität (Freiheit) ist, im Unterschied etwa zu der bloß-willkürlich gebildeten Idee einer für die nautische Navigation tauglichen „Schiffsuhr“ (A 729) bzw. zur praktischen Idee des Ewigen Friedens (oder einer Republik; A 316, vgl. 328), eine transzendentale Idee, weil sie (das zeigt u. a. die Thesis der dritten Antinomie) „notwendig in der Vernunft nach ihren ursprünglichen Gesetzen erzeugt worden“ (A 338, vgl. 327), d. h. gleichsam metaphysisch notwendig, ist (vgl. „VERITAS in essentialibus et attributis entis, TRANSCENDENTALIS** [** die nothwendige metaphysische Wahrheit].“ 17:45 = Baumgarten, Metaph. § 89). – Der Gegenstand dieser transzendentalen Idee (kurz: die transzendentale Freiheit) ist zwangsläufig ein intelligibler, weil er (so wiederum die Antithesis der dritten Antinomie) nicht in der Sinnenwelt gedacht werden kann. Die kritische Raum-Zeit-Lehre des transzendentalen Idealismus erlaubt es erstmals (so Kant), einen solchen Gegenstand ohne einen Widerspruch „mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“ (A 538) zu denken. – Ich danke insbesondere B. Milz für hilfreiche Einwände im Anschluss an die Tagung.
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Freiheit“, wobei Kant hier jetzt nachdrücklich darauf hinweist, dass es dabei offen bleiben kann und auch soll, ob (4) die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernete wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an (A 803, Hervorhebung B. L.).
Als ein „Erklärungsgrund der Erscheinungen“ (A 801f.), d. h. als eine der „Naturursachen“ der Bestimmung des Willens, kann die praktische Freiheit somit „durch Erfahrung bewiesen“ werden² und ist damit traditionell Gegenstand der empirischen Psychologie (A 802f.)³, für Kant fortan der Anthropologie (A 849). Das unterscheidet sie von der darüber hinausgehenden transzendentalen Freiheit, die ihrerseits ausdrücklich ein „Problem für die Vernunft“ (A 802, Hervorhebung B. L.) darstellt. Die praktische Freiheit verweist so zwar auf eine Unabhängigkeit des menschlichen Begehrungsvermögens von dem, was „die Sinne unmittelbar [!] affiziert“ (A 802) – und folglich (tertium non datur) auf irgendeine „Kausalität der Vernunft“ (A 803). Aber damit allein setzt sie selbst noch nicht bereits die Unbedingtheit ebendieser Kausalität, eine „Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst […] von allen [!] bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ (A 803) voraus und folglich
Praktisch frei bin ich demnach, weil ich z. B. um der für die Zukunft ersehnten („entfernete [n]“) Gesundheit willen den „unmittelbaren“ Widerwillen gegen die zweckdienlich geforderte Einnahme einer bitteren Arznei zu „überwinden“ vermag und darin die Kausalität meiner Vernunft erfahre (in der Grundlegung heißt eine solche Kausalität dann „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln“, 04:412, vgl. 427). Die Frage, welchen „höhere[n] und entfernete wirkende[n] Ursachen“ (A 803) sich wiederum mein Sehnen nach Gesundheit (und möglicherweise sogar meine Abneigung gegenüber Bitterem) verdankt und woher meine Überzeugung von einer gesetzmäßigen Wirksamkeit der Arznei stammt (und ob sie überhaupt zutreffend ist), ohne die ich mich zur Einnahme nicht bestimmen würde, muss für eine Erörterung der Möglichkeit (der Befolgung) einer einschlägigen „Vorschrift des Verhaltens“ ganz offenkundig nicht zum Thema werden. Das ist bei Kant keine Innovation der KrV: „Die praktische oder psychologische Freiheit war die Independenz der Willkühr von der Necessitation [!] der stimulorum. Diese ist in der empirischen Psychologie abgehandelt, und dieser [!] Begriff der Freiheit war auch zur Moralität hinreichend genug“ (28:267; = Metaph. L1 ~1775). Oder: „Der practische Begrif der Freyheit ist, der zureicht, um Handlungen nach regeln der Vernunft zu thun [!], der also dieser ihren imperativen die Gewalt giebt; der speculative oder vernünftelnde Begrif der Freyheit ist, der zureicht, um freye [!] Handlungen nach der Vernunft zu erklären [!] […]“ (17:689; = Anm. zu Metaph. § 720 [Libertas], Mitte der 1770er-Jahre, Hervorhebung B. L.).
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auch nicht die – philosophisch umstrittene – transzendentale (Idee der) Freiheit:⁴ Diese kommt (wie wir gleich sehen werden) 1781 erst in jenem Kontext ins Spiel,wo es – anders, als wenn es „nur um die Vorschrift des Verhaltens“ geht – gerade darauf ankommt, dass tatsächlich auch „die entfernete wirkende[n] Ursachen nicht wiederum Natur“ (A 803) sind: Zwar „ficht“ die „Frage von der Möglichkeit der [transzendentalen] Freiheit“ die „Psychologie“ durchaus an, wie Kant betont (A 535). Da aber bereits diese Frage (und nicht etwa erst deren Beantwortung!) „auf dialektischen Argumenten der bloß-reinen Vernunft beruht“ (d. i. auf jenen Regress-Argumenten, die in der transzendentalen Dialektik Thema sind, s. A 322ff.), kann sie „samt ihrer Auflösung lediglich die Transzendentalphilosophie beschäftigen“ (A 535) und hat folglich in der empirischen Psychologie (bzw. in der Anthropologie) und deren Lehre von den ‚Vorschriften‘ nichts zu suchen. Kurz: 1781 gibt es zwar eine philosophisch-einschlägige epistemische Abhängigkeit der praktischen Objektivität der beiden transzendentalen Ideen von Gott und Unsterblichkeit vom Sittengesetz. Hingegen ist irgendeine bedeutsame Abhängigkeit der (Idee der) transzendentalen Freiheit vom Sittengesetz genauso wenig auszumachen wie umgekehrt: Vielmehr werden diese beiden Abhängigkeiten von Kant gerade an solchen Stellen mit Nachdruck dementiert, wo jene Leser sie erwarten sollten, die – anders als seinerzeit der Autor selbst – die Kritik der praktischen Vernunft oder die Grundlegung schon gelesen haben.
1.2 Gleichwohl stellt die transzendentale Idee der Freiheit für Kant auch 1781 ein philosophisches Problem höchster Priorität dar. In der dritten Antinomie (wo sie laut Kanon ja ihre „hinreichende Erörterung“ erfährt), behauptet Kant sogar, sie sei
„Der praktische Begriff der Freiheit hat in der That mit dem speculativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts [!] zu thun. Denn woher mir ursprünglich [!] der Zustand, in welchem ich jetzt [!] handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun [!] zu thun habe, und da ist die Freiheit eine nothwendige praktische [d. i.: keine speculative] Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann“ (08:13). „Diese praktische Freiheit muß ich bei dem Menschen zum Grunde legen und zwar bei der Moral und allen [!] praktischen Wissenschaften, wenn die Gesetze derselben gelten sollen. Diese Freiheit ist aber nur bloße Idee, und wir können ihre Wirklichkeit nicht beweisen. Wer aber nach dieser Idee immer handelt und handeln zu müssen glaubt, ist wirklich frei, zwar nicht theoretisch, aber praktisch“ (28:1280; Vl. Rationaltheologie ~1783; vgl. A 328).
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(5) der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art von unbedingter Causalität einzuräumen. Dasjenige in der Frage über die Freiheit des Willens, was die speculative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, ist eigentlich [!] nur transscendental und geht lediglich [!] darauf, ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen.
Und einleitend hieß es in dieser „Anmerkung“ zur Thesis der dritten Antinomie: (5a) Die transscendentale Idee der Freiheit macht zwar bei weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs dieses Namens aus, welcher großen Theils empirisch ist, sondern nur [!] den der absoluten Spontaneität der Handlung als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben (A 448).
Die transzendentale Idee der Freiheit ist ein herausragendes Thema für die Philosophie – und als ein Teil der Lehre von der Freiheit des Willens selbstredend auch für eine Philosophie der Moral. Aber, wie wir auch zuvor bereits sahen, soll sie es 1781 nicht für die Moral als einer Lehre von „Vorschriften“ bzw. Obligationen sein, denn dafür reicht ganz ausdrücklich die praktische Freiheit der psychologia empirica aus (sofern man nur Gott und Seelenunsterblichkeit hinzunimmt). Moralphilosophisch bedeutsam ist die Frage nach einer unbedingten Kausalität für Kant zufolge der Kritik der reinen Vernunft ausschließlich wegen des „eigentlich nur transcendental[en]“ Problems der Möglichkeit von Imputation: Denn für die moralische Zurechnung meiner Handlungen reicht es offenkundig nicht hin, dass man mir dieselben als Akte praktischer Freiheit physisch/psychologisch zuschreiben kann: Die Handlungsgründe müssen dafür nämlich nicht nur in dem Sinne die meinen sein, dass sie (etwa als Kräfte, Instinkte, Wünsche, Überzeugungen etc.) in mir liegen – wie sie es ja sogar bei den sich selbst bewegenden und gleichwohl unzurechnungsfähigen Tieren und mechanischen Automaten tun. Vielmehr müssen sie, so Kant, in irgendeinem darüber hinausgehenden Sinne auch – zumindest partiell – von mir abhängen: „[W]as in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt“, darf nämlich dann, wenn es um die Zurechenbarkeit geht, „in Ansehung höherer und entfernete wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein“ (A 803). Das aber setzt dann eine absolute Spontaneität, eine „Freiheit im transzendentalen Verstande“ (A 446) voraus⁵ – und zwar namentlich bei mir
Nur wenn man die Notwendigkeit dieser Voraussetzung für die Imputabilität nicht teilt (oder gar die Imputationsfrage selbst für gegenstandslos hält), kann man zu dem Schluss kommen, Kant hätte „gut daran getan“, sich ganz auf den generell unkontroversen Begriff der praktischen Freiheit zu beschränken (so etwa Tetens 2006, S. 263ff.). – Das ist dann aber definitiv keine bloßpartielle Kritik an einem speziellen Lehrstück der Dialektik der KrV, sondern eine an dem
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selbst, denn wenn die einzige ‚entfernete‘ nicht-natürliche Ursache z. B. Gott wäre (wie etwa bei Leibniz; vgl. 05:101), dann hülfe das für die persönliche Zurechnung nicht wirklich weiter. Es liegt bei Kant 1781 also eine – für uns Nachgeborene möglicherweise irritierende – strikte Trennung sowohl der moralphilosophischen ‚Zuständigkeitsbereiche‘ der Gegenstände der drei transzendentalen Ideen vor als auch von deren einschlägigen epistemologischen Grundlagen. Und diese stellte sich für Kant selbst noch erkennbar als unproblematisch dar, was sie aber, wie wir gleich sehen werden, durchaus nicht war. Und jener direkte Zusammenhang von transzendentaler Freiheit, d. i. absoluter Spontaneität, auf der einen und dem formalen Sittengesetz auf der anderen Seite, der es Kant vier Jahre später dann ermöglichen wird, erstens Zurechnungsfähigkeit und Verbindlichkeit direkt miteinander zu verknüpfen, und damit zweitens die Verbindlichkeit dann auch als von Gott und Unsterblichkeit unabhängig zu erklären, war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht entdeckt.
2. Was ist neu in Grundlegung III – und was nicht? Soweit unsere Quellen Auskunft geben, tritt genannter Zusammenhang erstmals in Kants moralphilosophischen Vorlesungen des Jahres 1784 an eine akademische Öffentlichkeit. Zumindest deutet er sich zu dieser Zeit in den Mitschriften von Mrongovius (29:629) und Feyerabend (27:1326) an – und steht da auch schon im Manuskript der Grundlegung: In Gestalt des – von mir der Kürze halber so genannten – Autonomietheorems, dass nämlich das (einzig mögliche) Kausalgesetz
ambitionierten Projekt der Kritischen Philosophie in toto: Denn dieses wurde wesentlich um der transzendentalen Freiheit willen (und diese wiederum wegen der Imputabilität) ins Werk gesetzt (s. u. Abschnitt VIII): Es geht Kant darum, einen völlig neuen und für die Zurechnung brauchbaren Begriff der Willenskausalität bereit zu stellen, der insbesondere von den explanatorischen und prognostischen Erfolgen empirischer Wissenschaften (inklusive z. B. auch jener ‚Hirnforschung‘, die dereinst Handlungen so präzise vorhersagen wird, wie weiland die ‚Himmelsforschung‘ Mondfinsternisse, s. 05:99) prinzipiell nicht infrage gestellt werden kann. – Es kann hier nicht erörtert werden, ob das am Ende überhaupt ein sinnvolles Projekt ist, oder ob man die retributive Dimension (Leibniz’ „justice vindicative“, Theodizee §§ 73ff.) unserer zwischenmenschlichen Belobigungs- und Tadelspraxis (wenn man sie nicht gar revisionistisch eliminieren will) nicht auch gänzlich ohne eine starken Zurechnungsbegriff verständlich machen kann. Dies ist bei der – für die Abrichtung von Menschen (und manchen Tieren, s. Theodizee §§ 67ff.) zureichenden – präventiven Funktion von Lob und Tadel (inklusive Belohnung und Strafe) freilich problemlos möglich. Das hatte Leibniz spätestens aus der Hobbes-Brahmhall-Kontroverse gelernt (vgl. Theodizee, 2ième Appendice), und auch Kant war davon (wie wir im Kanon sehen) überzeugt.
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einer unbedingten Kausalität, einer transzendentalen und intelligiblen Freiheit, das formale „Prinzip der Sittlichkeit“ ist. Damit wird erstmals im Abendland⁶ ein direkter und philosophisch-transparenter Zusammenhang zwischen einer absoluten Spontaneität und dem Sittengesetz hergestellt, und es eröffnet sich nun die Möglichkeit, die spekulativ gesicherte (transzendentale) Freiheit des Willens, also die Voraussetzung der Zurechnungsfähigkeit, im Rahmen einer Theorie der Verbindlichkeit nutzbar zu machen. Ich hatte eine der einschlägigen Stellen aus dem dritten Abschnitt der Grundlegung ganz am Anfang zitiert, eine weitere, die prominenteste, füge ich hier nun an: (6) Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt [!] die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs (04:447, Hervorhebung B. L.).
Man darf das Sittengesetz nun also nicht nur seinerseits „mit Recht voraussetzen“, wie es 1781 hieß (s. Zitat 3 – und woran Kant niemals zweifelt), sondern man kann es jetzt (sogar) zusätzlich aus der Freiheit erschließen: Wenn man nämlich einfach den „positive[n] Begriff“ einer nicht-sinnlichen, d. i. einer intelligiblen, Kausalität analysiert (04:446, vgl. 440). Damit kann man dann tatsächlich – worauf Kant in Abgrenzung von „gutgesinnten Seelen“ stolz hinweist – „aus der Freiheit aufs […] sittliche Gesetz“ (04:453) schließen, ohne dabei in einen Zirkel zu geraten (bzw. eine petitio principii zu begehen): Denn dass Freiheit des Willens (in Gestalt einer intelligiblen Kausalität) ihrerseits vorausgesetzt werden kann, zeigt uns nicht etwa wiederum das Sittengesetz selbst im Rahmen der praktischen Philosophie (was man ja durchaus erwarten könnte⁷), sondern ausdrücklich die spekulative Philosophie:
Da die strenge Formalität des Sittengesetzes bereits eine (durchaus nicht überall gefeierte) kantische Entdeckung darstellte, und diese ihrerseits für die Formulierung des Autonomietheorems unerlässlich war (sc. eine intelligible Kausalität lässt nur ein formales Gesetz zu), wird man mit direkten Vorläufern (d. i. wesentlich direkter als etwa Rousseaus Idee der politischen Autonomie) für dieses nicht rechnen müssen. Diese Erwartung hegt man nicht nur, wenn man eine „gutgesinnte Seele“ ist – oder bereits die KpV kennt: Sie ergibt sich zunächst auch natürlicherweise, wenn man sich an der Epistemologie der praktischen Freiheit orientiert, denn diese wird als eine der „Naturursachen“ ja ganz ausdrücklich durch die „Erfahrung“ der Fähigkeit zur Befolgung von Gesetzen, „die sagen, was geschehen soll“ „bewiesen“ (so A 802). – Dass (in specie die moralischen) Gesetze unabhängig von allen sinnlichen Antrieben befolgt werden können, ist aber nicht nur kein empirisch konstatierbarer Sachverhalt (man kann auf die „Wirklichkeit der Freiheit als eines der Vermögen […] aus der Erfahrung niemals […] schließen“, A 558), sondern es scheint zunächst sogar „aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein“ (A 803).
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(7) Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist […] (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann)⁸ (04:461).
Und die Notwendigkeit, eine solche Freiheit des Willens für das praktische Selbstverständnis des handelnden Menschen tatsächlich vorauszusetzen, soll sich genauso wenig dem Sittengesetz verdanken, wie die genannte Möglichkeit, denn der Begriff der Freiheit hängt nicht etwa am Pflichtbegriff, sondern am Begriff eines Willens: Die Freiheit (8) praktisch,⁹ d. i. in der Idee, allen [!] seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt¹⁰ ist, ohne [!] weitere Bedingung nothwendig (04:461).
Diese spekulative Aufgabe beinhaltet nicht bloß (1) den (kosmologischen) Nachweis der generellen (realen) Möglichkeit einer transzendentalen Freiheit (s. o. Anm. 1), sondern ausdrücklich auch den, dass es (2) möglich ist, insbesondere dem Menschen, dem „Subjekt, was sich frei dünkt“ (04:456), eine solche intelligible Freiheit (als ‚Freiheit seines Willens‘) zuzuschreiben. Und das wiederum geht nur, wenn der Mensch nicht vollständig im Sinnlichen aufgeht, sondern (im Unterschied zu Mineralien, Pflanzen und vernunftlosen Tieren, vgl. A 456f.) auch „zur intelligiblen Welt gehörig“ ist. Dieser Schritt in der „Deduktion der Freiheit“ macht sie offenkundig zu einer aus „reiner praktischer [!] Vernunft“ (04:447; vgl. 04:412.28f.). Die Rede von „reiner [!] praktischer Vernunft“ wiederum bezieht sich 1785 auf die Tatsache, dass es hier um die Nötigung auch durch die „reine Spontaneität“ (04:452) von Ideen geht (vgl. u. Anm. 10). – Man sollte im Übrigen davon ausgehen, dass der gesamte Ausdruck „die Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ im letzten Satz von GMS III, 1 (04:447) erst nachträglich und dabei dann irrtümlicherweise an falscher Stelle eingefügt wurde: Der in der abgedruckten Form definitiv korrupte (und folglich erst im Lichte irgendeiner – expliziten oder stillschweigenden – Konjektur auswertbare) Satz geht nämlich grammatisch, stilistisch wie inhaltlich problemlos auf, wenn man genannten Ausdruck en bloc herausnimmt. Schließt man diesen sodann z. B. mit einem Doppelpunkt an das Ende desselben Satzes an, dann weist dieser gesamte Satz nun völlig korrekt auf die Architektonik der Sektionen 2–4 voraus: Die Deduktion der Freiheit (in 2 und 3) als „Vorbereitung“ für die Anzeige eines von dieser Freiheit dann (in 4) ‚geschaffenen‘ „Dritten“, einer „Idee“: Und „mit ihr“ macht man dort die „Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich“, d. h. mit der hier erst nur angekündigten „Idee“ (also weder mit der „Deduktion des Begriffs der Freiheit“, noch mit der „Freiheit“, noch mit der „reinen praktischen Vernunft“ – das wären aber in dem vorgefundenen Satz die grammatisch einzig möglichen Kandidaten, von denen allerdings keiner zu einer Behauptung führt, die im Kontext des Absatzes verständlich gemacht werden könnte). Das ist das Bewusstsein der praktischen Freiheit (vgl. oben Anm. 2) in Gestalt der möglichen Nötigung durch Imperative überhaupt. Es ist also nicht eine praktische Freiheit als solche (die ja auch direkt das Wollen bestimmen könnte), sondern ausschließlich das bei „sinnlich affizierten“ Vernunftwesen (s. 04:412f.) mit ihr einhergehende ‚Sollen‘, das bei diesen dann zur Vorausset-
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Mit einem solchen (handlungstheoretischen) Notwendigkeitsnachweis und dem (spekulativen) Möglichkeitsnachweis hat Kant gegen Ende der Grundlegung im Rückblick noch einmal genau die beiden Aufgaben benannt, die er zuvor in der zweiten (sc. Notwendigkeit) und in der dritten (sc. Möglichkeit) Sektion des dritten Abschnittes gelöst zu haben beanspruchte. Die Freiheit wird beim Menschen also mit Recht „vorausgesetzt“,¹¹ aber freilich nur als eine intelligible, d. h., sie wird „in der Idee zum Grunde gelegt“ (04:448, Fn.). Mehr braucht man allerdings für die Zwecke der praktischen Philosophie auch nicht zu fordern (s. 04:448, Fn.), und mehr kann man prinzipiell nicht fordern, denn die intelligible Freiheit ist keine der „Naturursachen“ und bleibt daher eine bloße Idee – wenn eben auch eine transzendentale.¹²
zung der transzendentalen Freiheit nötigt. – Neben Aufzeichnungen und Vorlesungsnachschriften der 1770er-Jahre (etwa: 28:333, 1280, 1309) bestätigen dies auch jene wenigen Passagen, in denen Kant 1781 überhaupt den Zusammenhang von „Sollen“ (sc. „bestimmen“) und „Freiheit“ diskutiert. Dort verweist er auf die mit der praktischen Freiheit beim Menschen verbundene, generelle Nötigung durch die Vernunft (A 534). So betont er etwa in A 547, dass sich die Kausalität der Vernunft nicht etwa im Handeln selbst, sondern vielmehr an „den Imperativen“ zeige, die wir „in allem [!] Praktischen“ als Regeln aufgeben. Dass das „allem“ beim Wort zu nehmen ist, bestätigt etwa eine Parallelstelle in 28:269: „[…] müssen alle praktische Sätze sowohl problematisch, als pragmatisch und moralisch, in mir eine Freiheit voraussetzen“ (siehe auch 29:605f.). Die Vernunft beweist mit dem ‚Sollen‘ nämlich, dass sie „mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen [!]“ auf dem Gebiet des Angenehmen und Nützlichen nicht weniger als auf dem des Guten entwirft und von „ihren Ideen [!] Wirkungen in der Erfahrung erwarte[t]“ (so A 548, vgl. 802): ‚Ideen‘ aber sind für Kant bis 1785 (s. 04:452) dezidiert nicht sinnlichen Ursprungs; dazu ausführlich Ludwig (2013). Vgl. für den Zusammenhang von Notwendigkeit, Möglichkeit und Voraussetzbarkeit das (genuin leibnizische) Theorem, dass „Notwendigkeit nichts als jene Existenz [ist], die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist“ (B 111; vgl. A 608). Also genau dann, wenn das (praktisch) Notwendige auch (metaphysisch) möglich ist, müssen/können wir seine (praktische) Wirklichkeit voraussetzen (vgl. später dann 1787/88 die entsprechenden Erörterungen zur prima facie transzendentalphilosophisch-anstößigen „causa noumenon“: 05:54–57). – Bei der transzendentalen Freiheit tritt ein solcher transzendentalphilosophischer ‚Beweis‘ der Wirklichkeit also an die Stelle des ‚empirisch-nomologischen‘ bei der praktischen (s. o. Anm. 7). Diese kritische Beschränkung erklärt dann noch einmal ausführlich die fünfte Sektion des dritten Abschnitts: „Dass“ (bzw. „ob“) wir frei sind, kann für die praktische Philosophie hinreichend durch die spekulative gesichert werden: Wenn die Idee der Freiheit in Vergleich mit der der Naturkausalität dennoch gemeinhin einen schweren Stand hat, weil „die objektive Realität der Freiheit an sich zweifelhaft ist“ (04:455, Hervorhebung B. L.), so bedeutet das nur, dass diese „objective Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargethan werden kann“ (04:459) – was man bei einer transzendentalen Idee allerdings auch nicht erwarten sollte. – „Wie“ eine solche causa libera möglich ist, liegt hingegen weiterhin jenseits der Grenze der Philosophie (04:456, 458f. und 460f. [siehe hier 1+2+6 mal das einschlägige „wie“]; vgl. A 446). Aber eine solche „wie“-Frage bleibt ohnehin bei allen
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Und so stand es der Sache nach auch bereits 1781 in der Kritik der reinen Vernunft: Aus dem (beim Menschen) mit der praktischen Freiheit verbundenen „Sollen“, hieß es dort, können (und müssen) wir im Rahmen der transzendentalen Dialektik (d. h.: nicht in der Moral und/oder der psychologia empirica, s. o.) via modus tollens ¹³ auf eine transzendentale Freiheit als ihre Bedingung schließen (A 533ff., A 802).Und ein solcher Schluss von der Notwendigkeit auf die Wirklichkeit ist auch nach den Regeln der Schulphilosophie gültig, weil die (reale) Möglichkeit des empirisch unzugänglichen Gegenstandes der Idee einer absoluten Spontaneität (d. i. dessen widerspruchslose Vereinbarkeit mit der „allgemeinen Naturnotwendigkeit“) im Rahmen des transzendentalen Idealismus spekulativ gesichert werden kann (A 538ff., A 803). Denn dieser beansprucht ja, (erstmals) den (9) eigentliche[n] Stein des Anstoßes für die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art [!] von unbedingter Causalität einzuräumen (A 448),
im Rahmen seiner kritischen Kosmologie aus dem Weg geschafft zu haben. Mit diesen zwei Nachweisen (sc. der realen Möglichkeit und der praktischen Notwendigkeit) sollte die Freiheitsfrage also auch schon in der Dialektik von 1781 ihre „hinreichende Erörterung“ (A 804) erfahren haben. Und weil Kant weiß, dass nicht alle Leser der Grundlegung zuvor Antinomie, Disziplin und Kanon der Kritik der reinen Vernunft gründlich genug studiert haben, teilt er ihnen 1785 zur Sicherheit noch einmal ganz ausdrücklich mit, dass bei der Freiheitsfrage noch gar nicht die (10) Grenze der praktischen Philosophie¹⁴ anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen Vernunft, daß diese die
„Vermögen, die die Ursachen von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten“, prinzipiell unbeantwortbar (so etwa A 558). Allerdings kann bei den natürlichen Ursachen – die praktische Freiheit eingeschlossen (s. o.) – die „ob“-Frage als eine empirische Frage nach der „Wirklichkeit als […] Vermögen“ im Einzelfall direkt (d. i. ohne den ‚transzendentalphilosophischen Umweg‘ über Notwendigkeit-plus-Möglichkeit) beantwortet werden (s. dazu A 446 und 557f. mit 766; zu der notorisch missverstehbaren Stelle A 557f. siehe oben Anm. 7 und Ludwig 2012a, Fn. 11). Siehe A 534: „[…] würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit aufheben […]“ (dazu oben Anm. 10); 1783, in den Prolegomena, wird die praktische Freiheit entsprechend durch die transzendentale „gerettet“ (04:346). Obwohl die Freiheitslehre 1781 wie 1785 einen dezidiert „praktischen“ Notwendigkeitsbeweis enthält (s. o. Anm. 9), ist sie für Kant gleichwohl ausdrücklich kein Teil der „praktischen Philosophie“. Im ersten Falle steht „praktisch“ somit im strikten Wortsinne für ‚die Willensbestimmung betreffend‘ (5:171; im heutigen Sinne also etwa im Sinne von ‚handlungstheoretisch‘) während das Kompositum „praktische Philosophie“ hier (wie auch im Kanon der KrV) die Lehre
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Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende [!] bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten (04:456).
In einem Punkt soll sich nach Kants eigenen Aussagen zwischen 1781 und 1785 also definitiv nichts geändert haben – und den Textbefunden gemäß hat ¹⁵ sich in diesem Punkt auch nichts geändert: Die Frage der Freiheit des Menschen soll und kann – anders als die Gottes- und die Unsterblichkeitsfrage – ohne jeden Rekurs auf Prinzipien der Sittlichkeit, d. h. bereits in der theoretischen Philosophie, „abgethan“ bzw. „zu Ende“ gebracht, kurz: abschließend behandelt werden. Aber 1785 bekommt das bei Kant nun allerdings ein völlig neues Gewicht, denn die spekulativ als intelligible Bedingung der Imputabilität gesicherte Freiheit des Willens hatte sich irgendwann nach 1781 – gänzlich unvorhergesehen – als Grund, als die ratio essendi, eines formalen Sittengesetzes entpuppt und sollte damit erstmals eine zirkelfreie „Deduktion des obersten Prinzips der Moralität“ (04:463; vgl. „Prinzip“ in: 447 und 453) ermöglichen. Mit einer solchen Deduktion erfährt die praktische Philosophie im Jahre 1785 eine völlig neue, speculative Grundlegung, womit sie nun sogar den „äußeren [!] Angriffe[n]“ des „Fatalist[en]“ (ebd; gemeint ist hier fraglos u. a. J. H. Schulz, s. 08:10f.) standhalten können soll. Und gerade deshalb „ist es nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit [bzgl. der „eigentlich“ ja nur spekulativen Freiheitsfrage] heben, oder ihn unangerührt lassen will“ (04:456). Angesichts der Bedeutsamkeit dieser 1781 noch völlig unvorhergesehenen spekulativen Fundierung der Moral versäumt Kant es 1785 sogar, die Leser darauf hinzuweisen, dass mit der dafür bloß als „Vorbereitung“ (04:447) herangezogenen „Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ auch der „eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie“ (A 448) aus dem Weg geräumt wurde: das Zurechnungsproblem. Dieses zunächst erstaunliche Versäumnis erklärt sich zwanglos daraus, dass die spekulative Freiheitsdeduktion bereits seit Längerem vorlag, während Kant das Autonomietheorem tatsächlich erst vor Kurzem (mög-
von den Pflichten, d. i. in specie von der objektiven Willensbestimmung durch das Sittengesetz, also eine dezidiert nicht-spekulative Lehre, bezeichnet (erst später wird Kant versuchen, seinen Gebrauch von „praktisch“ explizit zu machen, siehe 20:196; 05:172f.). Neben der konsequenten Vermeidung technischer Terminologie (sc. ‚Apperzeption‘, ‚transzendental‘ etc.) gibt es m. E. nur eine erwähnenswerte – für das Resultat allerdings bedeutungslose – Modifikation der Argumentation gegenüber 1781 (und noch 1783): Kant greift 1785 nicht mehr direkt auf eine Kausalität speziell der (übersinnlichen) Ideen zurück (wie etwa A 547, 04:345), sondern erklärt stattdessen die das Handeln bestimmende Vernunft aufgrund von deren „reine[r] Spontaneität“ in der Hervorbringung von Ideen einfach generell zu einem übersinnlichen Vermögen (04:452).
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licherweise sogar infolge der bereits erwähnen Rezension von Schulz’ Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre) entdeckt haben dürfte: Zumindest eine Mitschrift seiner Religionsphilosophievorlesung deutet darauf hin, dass er noch 1783 an seiner Auffassung der 1770er-Jahre (vgl. 27:307f.) und des Kanons von 1781 festgehalten hat, dass nämlich „Gott also und Unsterblichkeit zwei von der Verbindlichkeit[!] […] nicht zu trennende Voraussetzungen“ sind (A 811ff.), und zwar als „Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft“ (A 634): (11) Auf solche Weise ist der Moralbegriff von Gott ganz notwendig, wenn wir ihre [sc. der Moral] Gesetze [!] nicht für Hirngespinste ansehen sollen (28:1283f.).
Seit der Grundlegung muss eine solche Abhängigkeit des Gesetzesstatus der Moralprinzipien von Gott aber als ein klassischer Fall von metaethischer Heteronomie gelten, worauf Kant seine Leser dann ja auch schon 1786 in der Schrift Was heißt sich im Denken orientieren? explizit hinweist (08:139) – und dann 1787/88 prominent in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft: Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit dürfen seit 1785 nicht mehr als zum Bestimmungsgrund eines guten Willens gehörig gedacht werden. Sie sichern fortan ausschließlich die Möglichkeit des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, des höchsten Gutes (05:108): Die originelle Hoffnungslehre des Kanons von 1781 wird daher 1787/ 88 weiter ausgearbeitet werden, dessen gänzlich traditionelle Verbindlichkeitslehre hingegen ist seit 1785 obsolet. Die systematische Verknüpfung von Freiheit, Zurechnung und Sittengesetz im Autonomietheorem und damit die Verankerung der Obligation („sammt ihrem Princip“, 04:447) in der bereits 1781 spekulativ gesicherten Imputabilität – das also war 1785 der moralphilosophische Geniestreich der Grundlegung.
3. Das Problem der Zurechenbarkeit böser Handlungen Aber die Freude währte nicht lange, denn Kants neue Lehre erwies sich rasch in zumindest zwei wichtigen Punkten als unhaltbar: Einer von ihnen betrifft die spekulative Freiheitsdeduktion selbst (und damit die Antinomie der ersten Kritik und die Grundlegung III gleichermaßen), der andere hängt damit eng zusammen und betrifft die Zurechenbarkeit böser Handlungen.
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Anlass und Gründe für Kants konsequent-kritische Verwerfung seiner spekulativen Freiheitsdeduktion werde ich hier nicht erneut erörtern.¹⁶ Es genügt für die nachfolgenden Überlegungen, einfach die nackten Textbefunde festzuhalten und ernst zu nehmen: Dass nämlich in den von Kant nach 1785 verfassten oder vorgetragenen Texten (soweit sie auf uns gekommen sind) niemals wieder (1) affirmativ von einer spekulativen Lösung der Freiheitsfrage und/oder (2) von einer epistemischen Priorität der Freiheit gegenüber dem Sittengesetz die Rede ist. Vielmehr wird von Kant nun umgekehrt – wiederholt und dabei stets emphatisch – (3) das Sittengesetz zur alternativlosen ratio cognoscendi der Freiheit erklärt und (4) die Antwort auf die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens entsprechend als eine dezidiert moralisch-praktische, die Transzendentalphilosophie bzw. die Spekulation überschreitende bezeichnet (worauf ich noch zurückkommen werde). Hier interessiert uns vor allem der zweitgenannte Punkt, der hinsichtlich des Bösen, denn er betrifft ganz unmittelbar Kants Willenslehre: Wenn das Sittengesetz 1785 das Gesetz einer Kausalität aus Freiheit ist, dann können naturgemäß nur solche Handlungen Wirkungen dieser Freiheit sein, die in Ausübung dieses Gesetzes hervorgebracht werden, denn andernfalls wären sie unmöglich Wirkungen ebendieser Kausalität. Aber damit sind dann nur solche Handlungen zurechenbar, die auch tatsächlich in Ausübung des Sittengesetzes, also aus Pflicht, vollzogen werden. Pflichtwidrige, ja selbst bloß-pflichtgemäße hingegen nicht.¹⁷ – Das kann unmöglich von Kant so beabsichtigt gewesen (und noch weniger dauerhaft von ihm unbemerkt geblieben) sein! Wenn wir den entscheidenden Fehler an jener Stelle suchen, an der auch Kant selbst ihn wenig später systematisch festmachen wird (s. u. Abschnitt V), dann finden wir ihn unschwer in dem zentralen Beweisschritt von Sektion 2 des dritten Abschnitts, wo es unter der Überschrift „Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden“ um die Notwendigkeit der ‚Voraussetzung‘ der Freiheit geht (s. o. Zitat 8). Dort erklärt Kant jene bedingte, komparative Spontaneität die für jedes handlungsbestimmende Urteil (und damit für die praktische Freiheit) vorausgesetzt werden muss, insofern unsere Urteile ihren Grund in uns als den Handelnden haben (und nicht etwa bereits durch das
Siehe dazu ausführlich Ludwig (2010) und Ludwig (2012a). – Die uns heute zugänglichen Dokumente deuten darauf hin, dass Kant auf eine im Mai 1786 von Hermann Andreas Pistorius in zwei Rezensionen veröffentlichte Kritik an der spekulativen Freiheitsdeduktion reagiert hat. Das Problem der bösen Handlungen hat er dann gleichsam nebenbei und – soweit ich es derzeit überblicke – möglicherweise ohne äußeren Anlass mit-gelöst (vielleicht spielt sogar das „bedenklich“ in 05:106 auf diesen erfreulichen Seiteneffekt an). Siehe dazu etwa Schönecker (2012).
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uns in der sinnlichen Anschauung aktuell Gegebene und uns bloß „Reizend[e]“ bestimmt sind),¹⁸ kurzerhand zu einer absoluten Spontaneität. Diese Identifikation begründet Kant vorläufig¹⁹ damit, dass der Wille eines vernünftigen Wesens nur unter der „Idee der Freiheit“ dessen „eigener“ Wille sein könne, weil seine Vernunft sich selbst „in Ansehung ihrer Urteile […] als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen“ muss (04:448, Hervorhebung B. L.)²⁰. So weit, so gut! – Doch wenn die hier praktisch-notwendig vorauszusetzende „Idee der Freiheit“ bereits um der ‚Urheberschaft‘ der Urteile willen tatsächlich mit derjenigen transzendentalen Idee einer intelligiblen, absoluten Spontaneität identifiziert werden muss, aus der man sodann analytisch „die Sittlichkeit sammt ihrem Princip“ folgern kann (04:447; s. o., Zitat 6), dann kann diese Freiheit – umgekehrt – eine Kausalität immer auch nur für solche Handlungen sein, die aus Pflicht geschehen. Denn dem Autonomietheorem zufolge ist ja die „Freiheit eine Kausalität nach unwandelbaren [!] Gesetzen“ und ein „freier [!] Wille und ein Wille unter²¹ sittlichen [!] Gesetzen einerlei“ (04:447). Alle übrigen Handlungen, ins-
Siehe etwa: „Der Sinn enthält die Receptivitat des Objects in Ansehung der Erscheinung[,] der Verstand fügt die bedingte [!] Spontaneitat der Verknüpfung der Warnehmungen nach einem Gesetz zur Möglichkeit der Erfahrung hinzu […]“ (22:456; ~1799); vgl. zur Spontaneität als einer solchen actio, deren hinreichender Grund im Handelnden selbst liegt: Baumgarten Metaph. § 704 (17:131); auch unten Anm. 35 und das erste Zitat in Anm. 54, sowie Ludwig (2012b , S. 76f.). Siehe: „Ich sage nun …“, „Nun behaupte ich …“ – Der Grundlegungs-Vorrede (04:391) kann man entnehmen, dass es 1785 einer zukünftigen Kritik der reinen praktischen Vernunft vorbehalten bleiben sollte, die Einheit des Vernunftvermögens darzustellen – und damit dann vermutlich u. a. diese ‚Behauptung‘ einzulösen (es sollte 1787 dann aber ganz anders kommen; s. u.). Das ist auch schon Mitte der 1770er-Jahre nicht grundsätzlich anders: „Sofern ich mir einer thätigen Handlung bewusst [!] bin; so fern handele ich aus dem innern Princip der Thätigkeit nach freier Willkühr, ohne eine äußere Determination; nur dann habe ich spontaneitatem absolutam [!]. Wenn ich sage: ich denke, ich handele etc.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei“ (28:269). – Transzendentale Freiheit ist auch hier ganz ausdrücklich unmittelbar mit dem Vermögen selbstbewussten Urteilens und Schließens, dem „Ich“Gedanken (vgl. 25:859) verbunden, also insbesondere diesseits jeder möglichen Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft. Daran wird sich bei Kant erst 1787 etwas ändern (das übersieht etwa Milz 2004, S. 145 Mitte). Dieses „unter“ markiert hier die stillschweigende Umdeutung eines genitivus subjectivus in ‚Gesetz des freien Willens‘ in einen genitivus objectivus: In den unmittelbar vorangehenden Erörterungen (04:446f.) führt Kant erstmals den entscheidenden Zusammenhang von Freiheit und Sittengesetz mit der These ein, dass eine jede Kausalität notwendig „nach“ einem für sie spezifischen Gesetz ‚wirkt‘ und auch eine freie Kausalität ohne ein solches Gesetz folglich ein „Unding“ wäre. Dieses ‚Gesetz des freien Willens‘ (mit einem genitivus subjectivus), welches demnach konstitutiv für Handlungen desselben ist, wird durch das „unter“ nun aber umstandslos in einen normativen Begriff umgedeutet (und in der Folge dann auch als ein solcher
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besondere die bösen, könnten damit unmöglich zugerechnet werden, denn sie folgten (e contrapositione) unausweichlich irgendeinem anderen „Prinzip“ als dem einzig möglichen Gesetz einer unbedingten Kausalität – und wären so voraussetzungsgemäß nicht einmal die „eigenen“.²² Mit anderen Worten: Wenn auch böse Handlungen zurechenbar sein sollen, dann kann Kant unmöglich zugleich an seinem neuen Autonomietheorem und an dem gerade erörterten Notwendigkeitsnachweis im Rahmen seiner alten, spekulativen Freiheitsdeduktion festhalten. Das ambitionierte Projekt von 1785: eine „Deduktion des obersten Prinzips der Moralität“ (04:463) auf Grundlage der spekulativen Lösung des Problems der Freiheit des Willens führt unausweichlich in eine moralphilosophische Sackgasse. Mit der für die zweite Auflage überarbeiteten ersten Hälfte der Kritik der reinen Vernunft (s. dort B 428–432, bes. 430ff.) und der Kritik der praktischen Vernunft wird Kant dann tatsächlich eine neue, dezidiert nicht-spekulative Freiheitsepistemologie vorlegen, mit der das genannte Problem grundsätzlich nicht mehr auftreten kann: Ab 1787 wird Kant nämlich u. a. von der problemgenerierenden Annahme keinen Gebrauch mehr machen, dass (s. Zitat 8) ein jedes „vernünftige Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens […] bewußt ist“, die (transzendentale) Freiheit „ohne weitere [!] Bedingung“ „praktisch, d. i., in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen“ notwendig beilegen muss: Er wird
behandelt), bei dem die Freiheit durch das Gesetz potenziell eingeschränkt wird (‚Gesetz des freien Willens‘ mit dem genitivus objectivus; im ‚alten‘ Sinne von etwa A 301, 447 und 569). Wenn ein Gesetz jedoch das für eine Kausalität konstitutive Gesetz ist, dann wird diese Kausalität von ebendiesem Gesetz unmöglich eingeschränkt, denn wenn sie nicht diesem Gesetz gemäß wirkte, dann wäre es e suppositione gar nicht sie, die da wirkt. – Wenn z. B. das Sonnenlicht das im Schatten liegende Wachs nicht zum Schmelzen bringt (vgl. A 766), dann wirkt es ja nicht etwa gesetzwidrig (oder unvollkommen), sondern es übt seine Kausalität gesetzgemäß unter solchen kontingenten, äußeren Bedingungen aus, unter denen es das Wachs nicht erreicht. Das Sonnenlicht ist folglich in keinem verständlichen Wortsinne ‚Ursache davon‘ (oder gar ‚schuld daran‘), dass das beschattete Wachs sich aktuell im festen Zustand befindet (sonst müssten ja auch alle anderen tauglichen Wärmequellen, die im fraglichen Moment kontingenterweise nicht zum Zuge kommen, gleichermaßen Ursache davon sein). Ein freier Wille, dessen Gesetz der Kausalität das Sittengesetz ist, kann dementsprechend unmöglich ‚schuld daran‘ (oder ‚Ursache davon‘) sein, dass etwas Gutes ausbleibt oder gar etwas Böses geschieht: Er wird allenfalls (‚schuldlos‘) von etwas anderem an seinem naturgemäß guten Wirken gehindert (dieses Problem ist ja bereits in 04:413 gleichsam vorprogrammiert, wenn der Imperativ-Charakter praktischer Gesetze beim Menschen damit begründet wird, dass die natürliche Sinnlichkeit verhindern kann, dass die (freie) Kausalität der Vernunft ungestört zum Zuge kommt). Einen solchen direkten Zusammenhang von Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit wollte Kant (wie gesehen) vor seiner Entdeckung des Autonomietheorems noch nachdrücklich leugnen (vgl. das Zitat aus der Schulz-Rezension von 1783, oben in Anm. 4.) – vermutlich nicht zuletzt, um die Pflichtenlehre zunächst einmal von den spekulativen Problemen der transzendentalen Freiheit grundsätzlich unabhängig zu halten (Hinweis von B. Milz).
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genau diese Annahme vielmehr mit aller wünschenswerten Deutlichkeit als eine schulphilosophische Altlast charakterisieren – und verwerfen. Bevor wir uns der neuen Lehre zuwenden, müssen wir uns das hier 1785 angesprochene Verhältnis des „Willens“ zu den „willkürlichen Handlungen“ aber noch etwas genauer ansehen, um den entscheidenden Entwicklungsschritt der kantischen Freiheitslehre präzise lokalisieren zu können.
4. Der freie, der reine und der gute Wille in Grundlegung III²³ „Wille“, so Kant im zweiten Abschnitt der Grundlegung, heißt das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, und dieses ist identisch mit der „praktischen Vernunft“, dem Vermögen der Ableitung der Handlungen von Gesetzen (04:412). Da der Wille beim Menschen von der Sinnlichkeit affiziert ist, treten bei ihm die Gesetze als Imperative, d. i. nötigend, auf. Im Anschluss an die oben in Abschnitt II bereits erörterte „Deduktion des obersten Prinzips der Moralität“ (04:463) in der dritten Sektion des dritten Abschnitts der Grundlegung wird sodann in der vierten Sektion abschließend die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ beantwortet, und diese ist, ihrer ersten Explikation im Zweiten Abschnitt zufolge, die Frage danach, (12) wie bloß die Nötigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne (04:417, Hervorhebung B. L.).
Während diese Aufgabe bei den hypothetisch-gebietenden Imperativen kurz gesagt durch den Hinweis aufgelöst wurde, dass deren Nötigung sich bereits „analytisch“ als Folge des aktuellen Wollens in Verbindung mit einschlägigen nomologischen Überzeugungen ergibt, muss bei kategorisch-gebietenden Imperativen noch etwas zum kontingenten, empirisch bedingten Wollen „synthetisch“ hinzukommen,²⁴ damit eine Nötigung „gedacht werden“ kann: Kant bezeichnet
In diesem Abschnitt bringe ich einige Resultate aus Ludwig (2008) auf einen neueren Stand; detaillierte Textanalysen und eine Auseinandersetzung mit der älteren Literatur finden sich dort. Hätten wir einen „so vollkommenen Willen“ (04:420, Fn.), dass unser Wollen de facto solche Zwecke dominant beinhaltete, bei denen sittlich gebotene Handlungen sich durchweg als notwendiges Mittel zu deren Realisierung erwiese, dann wären diese Handlungen immer auch bereits „analytisch“ Gebote der Klugheit. Das wäre freilich noch nicht der Zustand der Heiligkeit, denn wir täten das Sittlich-Gebotene möglicherweise durchweg aus den falschen Gründen.
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den kategorischen Imperativ deswegen als „synthetisch-praktische[n] Satz“²⁵ (04:420). Ausweislich der ersten Sektion des dritten Abschnitts handelt es sich bei dem Hinzukommenden um „etwas Drittes, auf das uns die Freiheit weiset und von dem wir a priori eine Idee haben“ (04:447). Solange wir dieses „Dritte“, diese „Idee“ nicht kennen, können wir uns daher auch nicht „die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen“ (04:447). Im Zweiten Abschnitt ist dieses „Dritte“ zuvor sogar schon einmal benannt worden, auch wenn es dort in seiner Funktion noch nicht ‚bewiesen‘ werden konnte. Eines hatte aber gleichwohl bereits (13) geschehen können, nämlich: daß die Lossagung von allem Interesse beim Wollen aus Pflicht, als das specifische Unterscheidungszeichen des kategorischen vom hypothetischen Imperativ, in dem Imperativ selbst durch irgend eine Bestimmung, die er enthielte, mit angedeutet würde, und dieses geschieht in gegenwärtiger dritten Formel des Princips, nämlich der Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als allgemein-gesetzgebenden Willens (04:431f.).
Und genau diese hier schon „angedeutet[e]“ „Idee“ ist es dann auch, welche in der vierten Sektion des dritten Abschnitts die Möglichkeit des kategorischen Imperativs „begreiflich“ macht. Post festum fasst Kant dies so zusammen: (14) Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, [… und so] über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält (04:454).
Die „Idee“, das „Dritte“, das hier zum sinnlich-bedingten Wollen „hinzukommt“ und auf das uns die (zuvor in den Sektionen 2 und 3 eigens als „Vorbereitung“ für diese Beantwortung der Möglichkeitsfrage ‚deduzierte‘) „Freiheit weiset“ (04:447), ist also das zuvor bereits genannte „specifische Unterscheidungszeichen“ kategorischer Imperative: Die Idee eines reinen gesetzgebenden Willens. Durch sie wird ein kategorischer Imperativ „möglich“, (15) ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe[!] des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze[!] a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen (04:454).
Nicht etwa als ‚synthetischen praktischen Satz‘, das wäre ein schwerer semantischer Fehler; siehe dazu ggf. Ludwig (1999).
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„Ungefähr so“ also, wie kurz zuvor in den Prolegomena (04:276; vgl. auch später B 19) eine Deduktion der reinen (gesetzgebenden) Verstandesbegriffe [!] die Frage „Wie sind synthetische Urteile [!] a priori möglich?“ beantworten sollte, so beantwortet hier nun analog eine Deduktion des Vernunftbegriffs [!] des reinen (gesetzgebenden) Willens die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ [d. i. ein synthetisch-praktischer Satz [!] a priori] möglich?“ – und in beiden Fällen weist uns dabei das deduzierte (nicht-propositionale) „Dritte“ (welches die infrage stehende synthetische Proposition ‚möglich‘ macht) über die Sinnenwelt hinaus. Dementsprechend wird dann auch im nächsten Absatz „die Richtigkeit dieser [!] Deduktion“ mit dem Hinweis auf den „ärgste[n] Bösewicht“ „bestätigt“, dessen Wunsch, von den lästigen, pflichtwidrigen Neigungen frei zu sein, beweist, (16) dass er mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze (04:454, Hervorhebung B. L.).
Und auch er wird, so Kant, zu dieser Selbstzuschreibung eines reinen Willens ‚unwillkürlich‘ von der Idee der Freiheit genötigt (04:454), nicht anders, als der Philosoph im Zuge seiner Deduktion der Idee jenes reinen, gesetzgebenden Willens, der ohne Interesse nötigen kann: Diese Deduktion ist der seit der Vorrede (04:390.23ff.) immer wieder angekündigte, philosophisch-dramatische Höhepunkt der Grundlegung. Wenn man sich durch eine solche kurze Textvergegenwärtigung erst einmal von der orthodoxen Fehldeutung befreit hat, dass die mit Hinweis auf den Bösewicht „bestätigt[e]“ Deduktion der Sektion 4 eine ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ gewesen sein soll,²⁶ dann tritt ganz von allein die für Kants neue
Meines Wissens hat H. J. Paton diese Deutung 1947 in seinem epochalen Werk The Categorical Imperative (ohne nähere Begründung; s. Paton 1947, S. 242) in die Welt gesetzt, und 1975 wurde sie dann durch einen wirkungsmächtigen Aufsatz von D. Henrich revitalisiert. Sie ist ersichtlich von höchster Suggestivkraft, denn obgleich sie von keiner einzigen (sic!) der für sie zwischenzeitlich beigebrachten (und soeben sämtlich mit herangezogenen) Belegstellen auch nur ansatzweise gestützt wird, reicht man sie seit über 60 Jahren gänzlich unbefragt als eine ausgemachte Sache weiter (s. stellvertretend etwa den Titel von Schönecker 1999 und noch Allison 2011, S. 274: „[…] it is evident [!] that Kant’s ultimate goal in GMS 3 ist to provide a deduction of the categorical imperative […]“, vgl. S. 331; Ausnahmen sind selten, s. Guyer 2007, S. 163ff.). Dass Kant selbst bereits durch seine Analogie zur Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (s. o. Zitat 15) post festum noch einmal deutlich macht, dass der Gegenstand der Deduktion in Sektion 4 nur ein Begriff gewesen sein kann (unmöglich aber ein theoretischer oder praktischer Satz), wird dabei kurzerhand als eine leichtfertige Irreführung der Leser verbucht (so etwa noch bei Allison 2011, S. 340 mit Berufung auf Henrich). Es sollte nicht erstaunen, dass die mit großem hermeneutischem Aufwand gesuchte Imperativdeduktion, wenn man eine solche denn gefunden zu haben glaubt, seit Anbeginn wahlweise als gescheitert, gänzlich unver-
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Verbindlichkeitslehre von 1785 zentrale Relation in den Fokus der Aufmerksamkeit: Die Relation zwischen der mit Rückgriff auf die Freiheit deduzierten Idee eines reinen, gesetzgebenden Willens und dem gleichsam gegebenen, empirisch bestimmten Willen; wobei dieser zweite einerseits („analytisch“) den internen Nötigungen durch hypothetisch-gebietende Imperative ausgesetzt ist; auf den andererseits aber auch der erstgenannte reine Wille („synthetisch“) eine zusätzliche, gesetzgebende Nötigung kategorisch ausübt. Hiermit stehen sich intelligible Welt und Sinnenwelt nun gewissermaßen antagonistisch gegenüber, und aus dieser metaphysischen Separation nebst einer axiologischen Subordination der sinnlichen Welt unter die intelligible (als ihren „Grund“) ergibt sich unmittelbar die versprochene Denkbarkeit einer kategorischen Nötigung: Das Rätsel, „woher [!] das moralische Gesetz verbinde[t]“ (04:450), ist gelöst – und die Grundlegung ist am Ziel.
ständlich oder zumindest herausragend schwierig und ohne mehrhundertseitige Kommentierung sowie die Hinzunahme zahlreicher von Kant vernachlässigter Unterscheidungen jeder Beurteilung vorerst entzogen (so Henrich 1975, S. 110) erklärt wird. – Auch wenn Voranstehendes zunächst wie eine bloße Rechthaberei im Streit um Worte anmuten mag: Die eigentliche rezeptionsgeschichtliche Tragödie besteht darin, dass das Phantom einer Imperativdeduktion seit Jahrzehnten den Blick von der alles entscheidenden Deduktion der Idee eines reinen Willens abzieht und damit den Zugang zu der letztlich sehr klaren Gesamtkomposition und Systematik des dritten Abschnitts vereitelt (woran die oben in Anm. 9 genannte Textkorruption vermutlich auch nicht völlig unschuldig ist). Die vielbeschworene „Dunkelheit“ (Henrich) hellt sich nämlich bereits auf, wenn man einfach nur den Staub sich senken lässt, den die vergebliche Suche nach einer Imperativdeduktion im Laufe eines halben Jahrhunderts aufgewirbelt hat: Dann werden im dritten Abschnitt jene drei Deduktionen wieder sichtbar, die Kant selbst dort explizit nennt. Sie sind hinsichtlich ihrer Objekte präzise voneinander abgegrenzt, im Text genau zu lokalisieren; ihre Abhängigkeiten untereinander sind transparent, und sie können bei Bedarf dann auch separat gewürdigt werden: Zunächst eine „Deduktion des Begriffs der Freiheit“ (04:447) und sodann eine „Deduktion des allgemeinen Prinzips der Moralität“ (04:463). Die zweitgenannte soll dank des neuen (in Sektion 1 vorgestellten) Autonomietheorems ganz offenkundig (vgl. oben die Zitate 1 und 6) nur noch ein ‚analytischer‘ Korollar (vgl. 09:112) zur ersten sein (was auch ein Grund dafür sein mag, dass Kant bei diesem „Prinzip“ nun nicht etwa von ‚Begründung‘ oder ‚Beweis‘ [vgl. B 202], sondern abermals von einer „Deduktion“ spricht; vgl. die verwandte Rede von der ‚Deduktion von Ideen als Prinzipien‘ in A 671). Diese ersten zwei Deduktionen sind demnach (und erklärtermaßen) abgeschlossen, wenn (s. o. Anm. 11) gezeigt worden ist, dass die „Voraussetzung“ einer intelligiblen Freiheit beim Menschen sowohl praktisch „notwendig“ (Sektion 2) als auch spekulativ „möglich“ (Sektion 3) ist. Nach dieser „Vorbereitung“ kann dann in Sektion 4 endlich die dritte Deduktion, die der „Idee eines reinen Willens“ erfolgen, welche abschließend die mehrfach zurückgestellte Frage beantwortet, wie denn überhaupt eine Nötigung „gedacht werden“ könne, die weder auf Neigungen noch auf pathologische Interessen zurückgeht. Die Sektionen 5 und 6 erörtern dann im Rückblick noch einmal ‚kritisch‘ die Reichweite der zuvor geleisteten Deduktionen.
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Die bis in den dritten Abschnitt vertagte Aufgabe war somit nicht etwa der Nachweis, dass sittliche Forderungen tatsächlich für uns verbindlich (gültig,valide o. ä.)²⁷ sind: Daran zweifeln, zumindest Kant zufolge (s. o.), weder (Popular-) Philosophen, noch Moralisten, noch die gemeinen Menschen – die ärgsten „Bösewichter“ unter all diesen sogar eingeschlossen. Was Kant für sein alles umwälzendes Projekt der Grundlegung zeigen musste, war daher ‚nur‘, dass die im Kreise der Adressaten seiner Schrift gänzlich unkontroverse sittliche Verbindlichkeit tatsächlich als eine kategorische Nötigung gedacht werden kann, d. i.: ohne jede naturalistische oder theologische Reduktion auf die hypothetischen Imperative einer dies- oder jenseitigen Glückseligkeit. Es konnte ihm 1785 also ausschließlich darum gehen, die in den ersten beiden Abschnitten als die einzig adäquate ausgewiesene, ‚autonomistische‘ Deutung der ‚Gültigkeit‘ sittlicher Forderungen abschließend gegen den (fatalen) Einwand zu verteidigen, eine kategorische Nötigung sei gar nicht möglich, denn sie könne nicht einmal „gedacht werden“ (04:417; vgl. 04:461 und 389ff.), und eine reine Sittenlehre (im Sinne der Programmatik der Vorrede) müsse deshalb ein bloßes „Hirngespinst“ bleiben. – Verbindlichkeitsskepsis hingegen wird von Kant nirgendwo als eine satisfaktionsfähige moralphilosophische Option behandelt: Wie jeder achtbare Skeptizismus (s. 20:263) gilt auch sie ihm daher vermutlich als eine bloße Verzweiflungsreaktion der menschlichen Vernunft auf die dogmatische Metaphysik – und wird dieser mitsamt deren Fatalismus (04:456) demnächst ohne zusätzlichen Anstoß ins Grab folgen. Einmal unterstellt, Kants – hier freilich nur in ihrer Struktur rekonstruierte – Argumentation im dritten Abschnitt sei gültig, dann ist damit nicht nur die (bis dato strittige) „Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich“ gemacht worden, sondern es wird nun auch deutlich, warum der – den Anfang der Grundlegung wieder einholende – Satz „ein schlechterdings guter [!] Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann“ synthetisch ist – und das im Unterschied ²⁸ zu dem zuvor als So aber z. B. Schönecker/Wood (2007, S. 170f.); Timmermann (2007, S. 120); Horn/Mieth/ Scarano (2007, S. 285ff.) oder Allison (2011, S. 336f.), um nur einige wichtige neuere Arbeiten zu nennen. In der Literatur herrscht bzgl. dieser Passage nachhaltig Irritation (s. dazu mit Verweisen Allison 2011, S. 279ff.), u. a., weil man das „das letztere“ in 04:447.10 als einen Rückbezug (etwa als: ‚das vorige‘) auf den vorausgegangenen Satz zu lesen müssen glaubt, wodurch die gesamte analytisch/synthetisch-Erörterung dann allerdings völlig unverstehbar wird; „das letztere“ kann hier aber, und in Verbindung mit dem nachfolgenden Doppelpunkt muss es das sogar, einfach für ‚das zweite‘ (sc. ersteres/letzteres) stehen, womit jede grammatische Irritation verschwindet (s. o.). – Für zusätzliche Verwirrung sorgt dann aber noch die verbreitete Annahme (s. etwa Schönecker 2006, S. 303, Timmermann 2007, S. 124 oder Allison 2011, S. 294f.), es ginge an dieser
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analytisch ausgewiesenen Satz, „ein freier [!] Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei“ (04:447): Durch „Zergliederung des Begriffs von einem schlechthin guten [!] Willen kann jene Eigenschaft der Maxime nicht gefunden werden“ (04:447 – deshalb musste im heuristischen Ersten Abschnitt ja auch zunächst der bestimmungsreichere Begriff der Pflicht „vor uns“ genommen werden; 04:397). Aber wenn, wie sich nun gezeigt hat, ein allgemein-gesetzgebender Wille ausschließlich als ein reiner, intelligibler Wille gedacht werden kann, und wenn die intelligible Welt der sinnlichen generell axiologisch übergeordnet ist, dann ist ein allgemein-gesetzgebender Wille notwendig ein schlechterdings guter (vice versa). Der Gegenstand der (durch die Freiheit ihrer praktischen Realität versicherten) Idee eines reinen Willens ist somit „dieses Dritte“, welches nicht nur (1) den synthetisch-praktischen, kategorischen Imperativ möglich macht, sondern auch (2) den synthetischen Satz: ‚Ein schlechterdings guter Wille ist ein Wille, dessen Maxime jederzeit ein allgemeines Gesetz sein kann‘ wahr. Dass die in Sektion 1 bereits angekündigte, dort aber noch nicht „angezeigt[e]“ Idee am Ende diese zwei (wohlunterschiedenen) Aufgaben erfüllt haben wird, hatte Kant im letzten Satz derselben Sektion bereits vorausgesagt (sc. „auch“). – Mit diesen beiden Einsichten löst „der Philosoph“ nun übrigens gleich noch nebenbei (wie 04:403 Stelle um zwei Varianten des Sittengesetzes (sc. ‚Moralgesetz‘ vs. ‚kategorischer Imperativ‘): Liest man aber nur das, was auch tatsächlich im Text steht, dann erkennt man, dass es an dieser Stelle ausschließlich um den jeweiligen Zusammenhang der zwei (Willens‐)Prädikate ‚frei‘ und ‚gut‘ mit dem einen Sittengesetz geht: Das ist bzgl. ‚frei‘ ohnehin das leitende Thema der Sektion 1: der Zusammenhang ist analytisch. Beim Prädikat ‚gut‘ hingegen ist er synthetisch, denn man benötigt ein „Drittes“ worin das Gesetz und das Gute „beiderseits anzutreffen“ sind. Und mit ebendiesem „Dritten“ (dazu oben Anm. 9) wird man später dann „auch [!] die Möglichkeit des Kategorische Imperativs begreiflich machen“ können. – Die Synthetizität des kategorischen Imperativs selbst hingegen ist in Sektion 1 definitiv kein Thema. Und die Frage der möglichen Analytizität eines (nicht-imperativischen) Moralgesetzes wird von Kant in der gesamten Grundlegung nicht thematisiert, denn die in diesem Text erörterte analytisch/synthetisch-Unterscheidung bzgl. Gesetzen bezieht sich durchweg auf das den hypothetisch- bzw. synthetisch-gebietenden Imperativen jeweils zugrunde liegende Verhältnis von Wille und Nötigung: „Analytischpraktisch[!]“ und „synthetisch-praktisch[!]“ (04:419ff.) können nicht-imperativische Gesetze also naturgemäß gar nicht sein, und speziell „analytisch-praktisch“ sind zudem nur die hypothetischgebietenden Imperative (Kants sonstige Rede von ‚analytischen‘ und ‚synthetischen Imperativen‘ tout court ist im Text bloß eine suggestive Abbreviatur ohne eigenständige Bedeutung). – Die Debatte um die sog. „Analytizitätsthese“ (die ein analytisches Moralgesetz dem synthetischen Imperativ gegenüberstellen will) geht somit an der Systematik der Gesetzeslehre nicht weniger vorbei, als am Wortlaut der betrachteten Passage. Sie ergibt überdies nur Sinn als eine flankierende Vorbereitung für den Versuch einer Rettung der (ihrerseits abwegigen; s. o. Anm. 26) Annahme, im dritten Abschnitt der Grundlegung finde sich nach einer Deduktion des (vermeintlich analytischen) Moralprinzips in Sektion 3 noch zusätzlich die eines (synthetischen) kategorischen Imperativs in Sektion 4.
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versprochen) das weitere Rätsel, warum (3) uns eine „allgemeine Gesetzgebung […] unmittelbare Achtung“ (04:403) abnötigt: Sie tut es (im Sinne eines kritischdeflationierten Platonismus, s. 04:463.22ff. mit A 5), weil sie das Zeugnis der Teilhabe unseres Willens an einer übersinnlichen Welt ist. Am Beispiel des bereits erwähnten Bösewichts wird aber auch gleich die oben erörterte Problematik der bösen Handlungen für diese Konzeption der Grundlegung noch einmal sichtbar: Von der Idee der Freiheit genötigt, (17) versetzt er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt […] in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt […] das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt (04:454).
‚Böse‘ und ‚gut‘ werden hier (nolens volens) auf einen sinnlichen und einen hinzukommenden intelligiblen Willen verteilt, mit der fatalen Konsequenz, dass letztlich allenfalls die guten Handlungen, d. i. die, bei denen der von der Sinnenwelt unabhängige, intelligible Wille gesetzgebend obsiegt, auch zugerechnet werden können: Denn nur dieser Wille kann aufgrund seines besonderen Kausalgesetzes ein autonomer und somit unbedingter, d. i. ein freier Wille, sein; die vermeintliche Bosheit des gesetzesübertretenden Willens bleibt damit – tertium non datur – eine bloße Wirkung der affizierenden Naturkausalität. Was Kant in der Grundlegung offenkundig (noch) fehlt, ist eine begriffliche Absetzung des Willens als (a) Kausalität der Handlung von dem Willen als (b) Ursprung der sittlichen Nötigung, derart, dass die Kausalität der Handlung ihrerseits durch das Sittengesetz bestimmt sein kann, ohne dass dabei jedoch zugleich das Sittengesetz selbst notwendig zum Kausalgesetz aller freien, d. i. eigenen Handlungen wird.²⁹
Das hiermit zusammenhängende Problem wird seit Langem in der Kant-Literatur erörtert (siehe dazu etwa Guyer 2007, S. 161f.). Bereits Carl Leonhard Reinhold hatte es thematisiert. Wir finden es bei ihm m. W. allerdings erstmals öffentlich im 8. seiner Briefe über die Kantische Philosophie von 1792, als Kant selbst es – wie wir gleich sehen werden – schon hinter sich gelassen hatte: „Nur der Mangel eines bestimmten Begriffs vom Willen macht es begreiflich, wie man die Handlung der praktischen Vernunft ein Wollen nennen konnte. Aber so wie [lies: ‚sowie‘] man sich unter dem sittlichen Willen nichts als Handlung der praktischen Vernunft denkt, so ist die Verwechslung [1] der Handlung, die das Gesetz gibt, mit jener, die dasselbe ausführt, [2] der Forderung des uneigennützigen Triebes mit der Erfüllung derselben, [3] demjenigen, was bey der sittlichen Handlung nothwendig, mit dem, was bey derselben frey ist, unvermeidlich“ (S. 301). Wer wie Kant in der Grundlegung das „moralische Sollen [als] ein eigenes notwendiges Wollen“ (04:455) begreift, kann Reinhold zufolge der menschlichen Freiheit nicht gerecht werden.
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5. Eine konsequent-kritische Theorie der Willensfreiheit Dass Kant sich von der durchaus traditionellen³⁰ Annahme einer gleichsam transzendentalen Freiheit des Urteilsaktes, die im Zusammenspiel mit seinem neuen Autonomietheorem plötzlich höchst problematisch geworden war, irgendwann nach 1785 ganz bewusst losgesagt hat, macht er den Hörern seiner Vorlesung über die Metaphysik der Sitten im Winterhalbjahr 1793/94 unmissverständlich klar. Vigilantius notiert: (18) Man nimmt zwar ferner an, z. E.Wolf sowie Baumgarten, daß der handelnde Mensch von aller Naturnothwendigkeit unabhängig sey, insofern seine Handlungen durch motiven geleitet, mithin durch Verstand und Vernunft determinirt würden; dies ist aber falsch. Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus [!] des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur […] (27:503, vgl. 504.12ff. und 04:418.6ff.).
Und bereits in dem Anfang 1792 separat erschienenen ersten Stück der Religionsschrift betont Kant denselben Sachverhalt aus der entgegengesetzten Perspektive: (19) Das allervernünftigste [!] Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen […]: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt, zu ahnen. […] dieses Gesetz [ist] das einzige [!], was uns [1] der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle [!] andern Triebfedern ([2] unsrer Freiheit) und hiemit zugleich [3] der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht (06:26; vgl. 06:497f.).
Ohne das Bewusstsein des Sittengesetzes wäre es für ein vernünftiges Wesen also ganz und gar nicht „notwendig“, anzunehmen, es könne seinen Willen (bzw. seine
Die (letztlich stoische) Identifikation der Spontaneität im Urteil mit der für die Zurechnung zugrunde zu legenden Willensfreiheit war prominent von Descartes in der 4. Meditation proklamiert worden (weil nur damit die endlichen Wesen für jeden einzelnen ihrer Urteilsakte verantwortlich sein können, was Gottes Vollkommenheit mit der – die Meditationen veranlassenden – Ubiquität menschlicher Irrtümer vereinbar macht, s. dazu Ludwig 2012b, S. 68f.). Bereits Gassendi und Hobbes haben in den Einwänden diese Identifikation strikt zurückgewiesen. – In den Meditationen 2, 3 und 4 wurden mit der Trias von Seele, Gott und Freiheit also bereits alle drei Gegenstände der später so genannten metaphysica specialis gebündelt vorgestellt, und zwar als Gegenstände einer theoretischen Metaphysik.
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Willkür)³¹ auch „unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualifikation [seiner] Maxime[ ] zur allgemeinen Gesetzgebung“ (06:26) bestimmen: Dass ein vernünftiges Wesen die Erfahrung macht, dass jede einzelne seiner sinnlichen Triebfedern grundsätzlich im Namen irgendeiner anderen überwunden werden kann, macht es noch nicht „notwendig“, bei diesem auch eine unbedingte Kausalität (und damit seine Zurechnungsfähigkeit) „vorauszusetzen“. Eine bloß bedingte Willenskausalität nämlich, so bereits die Kritik der praktischen Vernunft, „wäre eine stetige Naturkette, […] also niemals Freiheit“ (05:95), und eine direkte Ableitung der transzendentalen Freiheit aus Begleitphänomenen der „praktischen“, „komparativen“ und/oder „psychologischen“ (05:96) ist folglich eine bloße „Täuschung“ (05:101): Denn als unter (Raum- und) Zeitbedingungen stehend ist das (Handeln und) Denken zunächst ein aus den „inneren Verkettungen der Vorstellungen der Seele“ (05:96) erklärbares und prognostizierbares Naturphänomen, und in dieser Hinsicht ist es von Sonnen- und Mondfinsternis nicht grundsätzlich unterschieden (05:99). Die von Kant selbst bis zur Grundlegung noch mit Descartes, „Wolf sowie Baumgarten“ (27:503) unterstellte Notwendigkeit, den Handlungen eines seiner selbst bewussten, vernünftigen Wesens bereits qua Urteilsabhängigkeit dieser Handlungen eine absolute Spontaneität zu unterlegen, oder, noch ein letztes Mal mit der Formel von 1781 formuliert: Die Annahme, eine „Aufhebung der transzendentalen Freiheit [würde] zugleich alle [!] praktische vernichten“ (A 534), war also – zumindest für Kant selbst im Rückblick – ein von der cartesianisierenden Schulphilosophie übernommener, dogmatischer Fehler.³² Kurz gesagt: In der Handlungstheorie wechselt Kant 1787 – konsequent-kritisch – von der Seite der Schulphilosophie auf die der Descartes-Kritiker Hobbes und Gassendi über und damit auch auf die Seite Humes – doch ohne damit eine transzendentale Freiheit und folglich die Imputabilität aufzugeben. Untersucht man, welche systematische Funktion Kant dem Autonomietheorem seit der Kritik der praktischen Vernunft zuweist, dann erkennt man zunächst, dass er die in der Religionsschrift Anfang 1792 deutlich herausgestellte Einsicht,
Kant benutzt vor 1797 den Ausdruck „Wille“ durchweg auch für jenes Vermögen, das er in der MS dann als (freie) Willkür strikt vom (gesetzgebenden) Willen unterschieden wissen will. Ich werde um der Übersichtlichkeit der Darstellung willen diese Ambiguität des Ausdrucks vor 1797 im Folgenden nicht jedes Mal thematisieren, sondern soweit wie möglich von „Wille“ reden; unten in Abschnitt VII werde ich das Thema dann wieder aufgreifen. Erkennt man als Leser diesen dogmatischen Fehler in A 534 nicht, dann wird man stattdessen eine fundamentale Unverträglichkeit von Antinomie und Kanon (Stichwort: ‚patchwork‘) vermuten (s. dazu Schönecker 2005). Eine solche liegt aber ohnehin gar nicht vor, da Kant den in A 534 speziell für ‚Sollens-sensible‘ Ideenproduzenten (s. o. Anm. 10) behaupteten Zusammenhang beider Freiheiten später im Kanon (A 801ff.) ausdrücklich nicht bestreitet, sondern ihn nur – als für seine Lehre von der Verbindlichkeit irrelevant – „beiseite setz[t]“.
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dass der Begriff eines Willens als solchem von dem der transzendentalen Idee der Freiheit unabhängig ist, bereits 1787/88 gewonnen hatte. So schreibt er in § 5 der Kritik der praktischen Vernunft: (20) Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille (05:29, Hervorhebung B. L.).
Hier heißt es nun nicht (mehr), dass jedes vernünftige Wesen seinen Willen (d. i., sein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“, 06:213, vgl. 23:42 [= Refl. CLXXIII]) „ohne weitere Bedingung notwendig“ (04:461) als frei denken muss. Die Freiheit ist nun (a) kein generisches Merkmal des Willens mehr, sondern nur noch die differentia specifica des freien Willens und zeichnet (b) einen solchen gegenüber anderen Willen dadurch aus, dass ihm das Sittengesetz (auch) zum alleinigen Bestimmungsgrund „dienen kann“.³³ Die grundlegende Innovation von 1787/88 gegenüber 1785 betrifft also Fragen, die gemeinhin unter dem Titel „incorporation thesis“ (Allison) diskutiert werden. Die unmittelbare Ineinssetzung der Freiheit mit einem bestimmten Gesetz aller Selbst-Tätigkeit erweist sich 1787 als der entscheidende Fehler von 1785.³⁴
Rein grammatisch ließe sich der ambigue Bezug des „allein“ im obigen Zitat (und analog auch am Anfang des Paragraphen sowie in § 6) zweifellos auch so auflösen, dass man an dieser Stelle jetzt ‚allein [d. i.: ausschließlich] zum Bestimmungsgrund dient‘ schreiben müsste (wobei hier um der Genauigkeit willen dann eben auch ein ‚dient‘ – anstelle des kantischen „dienen kann“ – stehen sollte, denn ein Wollen ohne irgendeinen Bestimmungsgrund ist bei Kant ja definitiv ausgeschlossen; s. u. Abschnitt VI). Damit würde allerdings nicht nur – wie sich gleich zeigen wird – das neue Lehrstück vom Faktum gänzlich unverständlich. Vielmehr bestünde dann auch die einzige Innovation gegenüber der Grundlegung darin, dass die Unhaltbarkeit von Kants 1785er Freiheitslehre fortan endlich ganz offen vor alle Augen (die kantischen selbstverständlich eingeschlossen) gelegt würde, denn es hieße nun geradeheraus: Nur ein Wille, der sich ausschließlich durch das Sittengesetz bestimmt, ist ein freier Wille. Das wäre nun aber definitiv kein freier, sondern vielmehr ein heiliger Wille und damit a fortiori nicht der freie Wille des Menschen (s. 05:32). – Auch wenn bei den mit der Grundlegung vertrauten Lesern manche Formulierungen beim ersten Lesen einen nicht geringen semantischen ‚Sog‘ in die vertraute Richtung ausüben mögen: Wir werden den Grund dafür später (unten in Abschnitt VII) erkennen. Daher sollte man sich dem Sog hier zunächst nicht vorschnell und ohne Not überlassen. In einer Metaphysikvorlesung der 1790er-Jahre wird die entsprechende Differenz auch terminologisch zu fixieren versucht: „Das arbitrium liberum ist: 1.) purum, 2.) affectum, afficirt durch die Materie. Jedes Object der Willkür – z. B. Lohn, Strafe – heißt die Materie. Die freye Willkür heißt pura [!] wenn sie blos [!] durch die Vorstellung des Gesetzes, durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt wird. […] Das Vermögen der Willkür arbitrium liberum purum [!] ist der höchste Grad [!] der Freiheit, die moralische. Wir würden es für ungereimt halten – hätten wir keine Moral“ (28:677).
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Die außerordentliche Bedeutsamkeit der auf den ersten Blick eher marginalen (bloß ‚modalen‘) Modifikation wird sogleich deutlich, wenn wir die neue freiheitsepistemologische Lehre vom „Faktum der reinen praktischen Vernunft“ hinzuziehen. Denn weshalb müssen wir seit 1787 die Freiheit unseres Willens „voraussetzen“? Definitiv nicht mehr bereits deshalb, weil wir dem Willen eines jeden vernünftigen Wesens „ohne weitere Bedingung“ „die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der [der Wille] allein handle“ (04:448), wie es Kant noch in der Grundlegung behauptete: Noch nicht einmal der Begriff des „allervernünftigsten Weltwesens“ führt uns (wie Kant dann in der Religionsschrift betont) auf den einer absoluten Spontaneität, d. i. einer intelligiblen Freiheit. In einer Notiz aus den 1790er-Jahren fasst Kant die entsprechende, selbstkritische Überlegung kompakt zusammen: (21) Daß wir frey sind können wir nicht durch unmittelbares Bewustseyn unserer Spontaneität (denn dieser Begrif ist alsdann negativ³⁵) sondern nur [!] durchs moralische Gesetz in uns erkennen. Wir erkennen eher daß wir sollen [!] als wir den Bestimmungsgrund unserer Caußalität und daß wir können, erkennen (23:245; vgl. 05:29: „… erster Begriff negativ …“).
In der Kritik der praktischen Vernunft wird uns dieser neue Gedanke der freiheitsepistemischen Priorität (und Exklusivität) des moralischen Sollens an zahllosen Stellen nahegebracht, besonders prominent (neben der „ratio-cognoscendi“Passage der Vorrede, 05:05, Fn.) im bekannten Galgenbeispiel des § 6: Wer sich der Versuchung ausgesetzt sieht, zum Zwecke einer Abwendung der Todesstrafe pflichtwidrig ein falsches Zeugnis abzulegen, urteilt, (22) daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit,³⁶ die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre (05:30; vgl. 05:49, Fn.).
D. h.: Wir wissen nur, dass wir etwa beim Urteilen nicht unmittelbar von der äußeren Natur (vom aktuell Gegebenen) bestimmt sind, sondern dass es auch an uns (d. i. an unseren Urteilsformen, mitgebrachten Überzeugungen und Wünschen) liegt, wie wir im Einzelnen urteilen (vgl. o. Anm. 18) bzw. was wir tun. Von einer theoretischen, absoluten Spontaneität gewinnen wir damit aber keinen positiven Begriff: Wir stellen sie uns allenfalls vor (so B 157). Er erkennt darin selbstredend das Sittengesetz nur als einen möglichen hinreichenden Bestimmungsgrund seines Handelns, denn andernfalls läge schlicht eine Handlungsprognose (für ein heiliges Wesen) vor, und von einem „Sollen“ wäre keine Rede: Spätestens damit gebietet es die aequitas hermeneutica, die oben in Anm. 33 diskutierte alternative Lesart des „allein“ in § 5 definitiv auszuschließen.
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Dass unser Wille in specie frei ist, erkennen wir somit ausschließlich ³⁷ an einem unabweisbaren sittlichen Sollen, aus dem unser Können dann unmittelbar folgt: Nicht bereits die technischen Imperative (das ‚Sollen‘ überhaupt), sondern allein das Sittengesetz als ein kategorischer Imperativ stellt unserer Freiheit das erforderliche „Creditiv“ aus (05:48).³⁸ Mit der Einsicht, dass nicht bereits unsere Befähigung zum vernünftigen Handeln und unser damit verbundenes „Selbstbewusstsein“ (05:101), sondern erst das Bewusstsein einer kategorischen Nötigung durch das Sittengesetz das Voraussetzen unserer „Freiheit im transzendentalen Verstande“ notwendig macht,³⁹ ist 1787/88 der kühne Traum von einer spekulativ-dogmatischen Deduktion der Freiheit endgültig ausgeträumt: Er muss dem weitaus bescheideneren – aber eben auch wesentlich robusteren ⁴⁰ – Projekt einer kritisch-praktischen Deduktion derselben weichen. Mit sechs Jahren Verzug folgt die Idee der Freiheit den beiden anderen transzendentalen Ideen, denen von Gott und Unsterblichkeit, auf das Gebiet einer moralisch-praktischen, einer „praktisch-dogmatischen“ (20:311) Metaphysik nach. Dieser letzte Schritt, mit dem Kant das (cartesische, s. o. Anm. 30) Programm einer theoretischen metaphysica specialis nun zum ersten Mal vollständig hinter sich lässt, mag zwar wie eine abermalige Beschränkung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten erscheinen – aber keinesfalls führt dies
Dazu 29:1022.17ff. (Metaph. K3, 1794/5): „Ganz unrichtig ist indeß die Idee einiger Philosophen (z. E. Rehberg), hiebei, als könne man sich gerade zu und unmittelbar der absoluten Spontaneität oder der Einwirkung der Gesetzes Freiheit bey unseren Handlungen bewusst werden.“ – Darin besteht weiterhin die entscheidende Differenz gegenüber der Erkenntnis einer allgemeinen (und möglicherweise eben doch nur bedingten) Vernunftkausalität im Falle der praktischen Freiheit, vgl. oben Anm. 7. Hier zeigt sich, wie Kant fortan den oben in Anm. 21 aufgezeigten Fehler vermeidet: Der Gesetzesbegriff wird nun von vorneherein als ein normativer verwandt, Sittengesetzkonformität ist nicht mehr konstitutiv für die Freiheit von Handlungen. Seit der Kritik der Urteilskraft wird Kant dann konsequent zwischen der (bloß) technischpraktischen Vernunft und einer moralisch-praktischen Vernunft unterscheiden (s. 05:171ff.; vgl. bereits 05:26, Fn.): Die Grenze zwischen Natur und Freiheit und die zwischen theoretischer und praktischer Philosophie fallen dann nicht mehr zusammen. Robuster ist es insofern, als Kant nun (wieder) auf etwas zurückgreift, woran er in allen uns zugänglichen Entwicklungsstufen seiner Freiheitslehre (d. i. von den Aufzeichnungen aus den 1770er-Jahren bis ins opus postumum) stets festgehalten hat: Auf das unleugbare (und daher selbst vom „ärgste[n] Bösewicht“ nicht geleugnete) Bewusstsein der Nötigung durch die sittlichen Gebote, welches als hinreichender Garant von deren Geltung angesehen wird. Dieses musste sich 1785 nur einmal für zwei Jahre mit der bescheidenen Nebenrolle einer bloßen ‚Bestätigung‘ der Deduktion der Idee des reinen Willens (04:545) zufriedengeben, bevor es dann ab 1787 sogar zur Deduktion der Freiheit herangezogen wurde.
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zu einem beklagenswerten Verlust, denn alle drei Ideen haben, so Kant nun, von jeher allein im Moralisch-Praktischen einen unverzichtbaren Gebrauch: (23) Die andere Welt kann uns auch nicht interessieren, wenn es nicht moralisch wäre (28:776; Met. K2, ~1790, vgl. 05:30).
Die revolutionäre Botschaft der ersten Kritik war es, dass wir allen unseren transzendentalen Ideen ausschließlich mit Rückgriff auf unser praktisches Selbstverständnis als Handelnde überhaupt Realität verschaffen können. Die nicht weniger revolutionäre Botschaft der zweiten ist es nun, dass wir uns am Ende auch der Objektivität der Idee unserer Freiheit – wie weiland der von Gott und Unsterblichkeit – mit dem Handlungsbewusstsein allein – d. i. ohne das Bewusstsein in specie des Sittengesetzes, nicht versichern können.⁴¹ Zurechenbar ist eine pflichtwidrige, böse Handlung also, weil der Adressat eines einschlägigen kategorischen Imperativs weiß, dass es allein an ihm selbst liegt, sie zu unterlassen, denn für diese Unterlassung ist sein Wille als ein freier auf das Gegebensein geeigneter sinnlicher Bestimmungsgründe nicht angewiesen. Sittlichen Wert bekommt sein (freies) Handeln allerdings erst dann, wenn er das Pflichtgemäße insofern unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen tut, als er es sich zu seiner Maxime macht.⁴² Er weiß dies alles freilich nur, weil (a) der Pflichtimperativ ihm kategorisch, d. h. ohne Voraussetzung irgendeiner besonderen Neigung, gebietet, (b) dieser Imperativ „unwidersprechlich“ (06:225) „a priori“ und „apodiktisch gewiss“ (05:47) ist, und weil, kurz gesagt, gilt (c): ultra posse nemo obligatur.⁴³ Gute wie böse Handlungen sind damit nun gleichermaßen zurechenbar: Sittlichkeit ist also kein emphatischer Ausdruck der Freiheit (etwa: ‚Allein im sittlichen Handeln ist der Mensch wirklich frei‘ bzw.: ‚Wer aus Neigung
Wegen dieser Abhängigkeit vom Sittengesetz kann die neue Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens nun genauso wenig mehr Teil der transzendentalen Dialektik sein wie die schon 1781 in den Kanon ausgelagerten von Gott und Unsterblichkeit. Sie macht daher fortan den zentralen Bestandteil der Analytik der 1781 noch nicht vorgesehenen Kritik der praktischen Vernunft aus (dazu Ludwig 2012a, S. 179ff.). Auf die Frage: ‚Warum hast du dein Versprechen gehalten?‘ kann ‚Weil ich es gegeben habe!‘ also durchaus die abschließende Antwort sein. Jede weitere Frage nach zusätzlichen Beweggründen – und auch die Frage nach den Beweggründen zweiter Stufe für die Annehmung der Maxime (‚Bist du nicht nur deshalb vertragstreu, weil du das für ein kluge Maxime hältst?‘) – stellt dann die sittliche Integrität des Befragten infrage. Dieser – prima facie unkontroverse – Rechtsgrundsatz erlaubt es fraglos, per contrapositionem auf eine Aussage der Art ‚Du kannst, wenn du sollst!‘ zu schließen. – Ich lasse es offen, ob dies für Kants Zwecke letztendlich hinreicht, oder ob er an dieser Stelle womöglich mit einem (nicht-extensionalen) ‚Du kannst, weil du sollst!‘ (vgl. 05:30, s. o.) auf eine ‚Warum‘-Frage antworten wollte/müsste.
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handelt, handelt unfrei‘), sondern sogar nur die durch die Freiheit selbst gebotene Form, Gebrauch von ihr zu machen. Der bis 1785 unbemerkt mitgeschleifte dogmatische Fehler, die transzendentale/sittliche Freiheit bereits unmittelbar mit der (Selbst‐)Tätigkeit der Vernunft im urteilsgeleiteten Handeln zu identifizieren, welcher im Kontext der Autonomielehre der Grundlegung dann die fatale Konsequenz bekam, dass das uns de facto allenfalls nötigende Sittengesetz direkt zum Kausalgesetz unserer freien Handlungen erklärt wurde, ist bei Kant 1787 definitiv überwunden:⁴⁴ Die Kenntnis eines besonderen Gesetzes der Kausalität unserer freien Handlungen (bzw. der „Regel und Ordnung“ unseres „intelligiblen Charakters“, wie es A 550 hieß) haben wir nämlich nicht, aber – und das ist die eigentliche transzendentalphilosophische Pointe der Faktum-Lehre: Um uns selbst als die (freie) Ursache unserer Handlungen zu erkennen, brauchen wir eine solche Gesetzeskenntnis auch gar nicht,⁴⁵ denn Möglichkeit wie Notwendigkeit der Voraussetzung unserer Freiheit sind praktisch bereits gesichert, weil wir (24) durchs moralische Gesetz, welches dieselbe postuliert, genötigt, eben dadurch auch berechtigt werden sie anzunehmen (05:94, Hervorhebung B. L.).
Dass das am Ende aus dem unleugbaren sittlichen Sollen nur erschlossene – und für uns darüber hinaus eben gänzlich unbegreifbare – Können dem Naturdeterminismus nicht widerstreitet, dass also eine unbedingte Kausalität überhaupt real möglich ist (als eine intelligible), auch wenn wir grundsätzlich nicht erkennen können, wie sie möglich ist (A 446), hatte 1781 bereits die kritische Auflösung der dritten Antinomie gezeigt. Allerdings hatte Kant (wie er sich 1787/88 stillschweigend korrigiert) „in der Antinomie der reinen Vernunft“ (A 803) die über das BloßSpekulative (nun doch) hinausgehende Frage nach der Freiheit speziell des menschlichen Willens noch nicht abschließend beantworten können (s. o. Anm. 41). Aber immerhin hatte die Antinomie (25) der speculativen Vernunft den für sie leeren Platz offen erhalte[n], nämlich das Intelligibele, um das Unbedingte dahin zu versetzen (05:49).
Das entging nicht nur den zeitgenössischen Autoren, sondern auch noch der ansonsten vorzüglichen Studie von Milz (2004), s. dort insbes. S. 146f. und S. 149f. – Inwieweit genannte Überwindung ihrerseits überzeugend ist (was letztlich von der Überzeugungskraft des transzendentalen Idealismus als solchem abhängt), ist hier kein Thema. Anders als bei den natürlichen Ursachen, die ausschließlich anhand einschlägiger empirischer Gesetze (genauer: Gesetzeshypothesen) identifiziert werden (s. dazu A 558 mit A 766f.).
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Und diesen „leeren Platz“ besetzt nun eine reine ⁴⁶ praktische Vernunft „durch practische Data“ (B XXI), indem sie durch das Bewusstsein des kategorischen Sollens „dieses Können in ein Sein“ verwandelt (05:104)⁴⁷. Das eigentlich Aufschlussreiche ist daran aber nicht etwa, dass unser Wille (auch) eine nicht-sinnliche, intelligible Ursache haben kann. Eine solche Ursache müssen wir der (zugestandenerweise: wahren, s. A 532) Thesis der dritten Antinomie zufolge ohnehin jeder Begebenheit unserer Sinnenwelt, jedem Phänomen, letzten Endes zugrunde legen – dies gilt Kant 1787 sogar als ein „analytischer [!] Grundsatz der reinen spekulativen Vernunft“ (05:48) – weil ohne ein Unbedingtes (26) im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen aus der Seite der Ursachen niemals vollständig ist (A 446).⁴⁸
Die wirklich aufregende Botschaft für das vernünftige Weltwesen ‚Mensch‘ ist vielmehr, dass es anlässlich des Bewusstseins der sittlichen Nötigung eine Instanz dieses – ursprünglich in der allgemeinen Kosmologie beheimateten (s. 05:47; 05:133)⁴⁹ – Unbedingten, die Freiheit, „in sich erkennt“ (wie es im Galgenbeispiel hieß): Der Mensch selbst (und nicht etwa Gott; s. 05:102) ist damit die unbedingte Ursache seiner Handlungen – und folglich ist er als eine Person der Zurechnung fähig. Mein Wille ist somit der einzige Erfahrungsgegenstand, das einzige phaenomenon (dazu gleich!), dessen intelligible Ursache mir zugänglich ist, denn diese liegt in mir selbst. Und deshalb ist auch die Idee der Freiheit die Bis 1785 zeigte sich die ‚Reinheit‘ der praktischen Vernunft darin, dass sie uns durch spontan hervorgebrachte Ideen nötigt (s. o. Anm. 9), ab 1787 ausschließlich darin, dass sie uns durch das Sittengesetz kategorisch nötigt. Ein prima facie marginaler Unterschied, der allerdings (s. o.) dazu führt, dass die Willensfreiheits-Lehre fortan kein Teil der spekulativen Philosophie mehr sein kann. Vgl. 09:93 und KU § 91: „[…] daß wir also in uns ein Princip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntniß [sic!] zu bestimmen vermögend ist“ (05:474). Hier zeigt sich, dass die Aussage von 1781, „die Aufhebung der transzendentalen Freiheit würde zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“ (A 534) entweder trivial ist – oder falsch: Trivial ist sie, denn ohne transzendentale Freiheit wäre (dritte Antinomie, Thesis) ohnehin alles (und nicht nur vernünftiges) Handeln „vertilgt“. Falsch ist sie jedoch, wenn sie – wie 1781/83/85 – dafür herhalten soll, dass Wesen, nur sofern sie vernünftig sind, auch darüber hinaus noch in einem spezifischen, individuenbezogenen Sinne ‚transzendental frei‘ und allein damit der Zurechnung fähig sein müssen (so etwa besonders deutlich der Absatz 04:344f. der Prolegomena). Der entsprechende Überschritt ist bereits in A 450 Thema, siehe: „Weil aber dadurch doch einmal [!] das Vermögen […] bewiesen [!] ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt […] den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen […]“! Eine analoge Überlegung führt später z. B. auch vom Organismus zum System der Naturzwecke (s. KU § 67: „[…] wenn wir einmal [!] an der Natur ein Vermögen entdeckt haben […]“, 05:380f.).
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(27) […] einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia [!] mit gerechnet werden muß (05:469).⁵⁰
6. Was Freiheit nicht ist Die Willkür (sei sie nun frei oder unfrei) eines vernünftigen Sinnenwesens ist „das Vermögen nach Belieben zu tun und zu lassen“ (06:213), sich für dieses oder jenes mittels Gründen zu entscheiden; und das tut ein solches Wesen, indem es (28) immer gewisse[ ] Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, [befragt], um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwende[t] (06:26).
Dies ist die oben im Religionsschrift-Zitat (19) ausgelassene Charakterisierung des „allervernünftigsten Weltwesens“, welches, solange sich ihm nicht zusätzlich das Sittengesetz als oberste Triebfeder ankündigt, von seiner (transzendentalen) Freiheit kein Bewusstsein haben kann, und das der Kritik der praktischen Vernunft gemäß also bloß ein denkender Automat mit Selbstbewusstsein (05:101), ein automaton spirituale (05:97), wäre. Damit die Willkür in specie eine freie ist, muss – wie wir sahen – noch etwas hinzukommen: Zu jener komparativen, bedingten, „respektiven [sc. secundum quid] Spontaneität“ (durch die ein Begehrungsvermögen allererst zur Willkür wird) noch eine „absolute [sc. simpliciter] Spontaneität“ (21:470). Darauf weist Kant in einer vieldiskutierten⁵¹ Passage der Metaphysik der Sitten von 1797 noch einmal ganz ausdrücklich hin: (29) Die Freiheit der Willkür […] kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definirt [!] werden – wie es wohl einige versucht
„Uebersinnlichen Begriffen können wir nie [gemeint ist, wie das Ende des Zitats zeigt: ‚zumindest nicht auf theoretischem Wege‘] objective Realitaet geben – blos negativ sie erkennen – Es ist überschwenglich transcendent – unsrer Vernunft sind hier nur Ideen möglich. Etwas übersinnliches was nicht [!] transcendent ist, sind unsre freye Handlungen. – Moralische Gesetze, unabhängig von jeder Triebfeder blos aus der reinen Vorstellung der Gesetzmäßigkeit – aus absoluter Spontaneitaet; daß so etwas wäre, daß in uns [!] etwas übersinnliches – Freiheit – liegt, sagt uns blos das moralische Gesetz […]“ (28:683, Metaph. Dohna). „Es ist dies uns unbekannte Wesen in uns der erhabenste Gedanke, der sehr fruchtreich an moralischen Folgerungen für unsere moralische existenz ist […] Kurz, was in uns wirkt können wir nicht erklären“ (29:1023, Metaph. K3). – Warum hingegen Gott und Unsterblichkeit keine „scibilia“ sind (und auch gar nicht sein dürfen), zeigt u. a. 05:144ff. Dazu jetzt Klemme (2013).
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haben, – obzwar die Willkür als Phänomen⁵² davon in der Erfahrung häufige Beispiele giebt (06:226).
Vernünftige Wesen handeln naturgemäß aufgrund von „Überlegung“, und erfahrungsgemäß führt letztere mitunter zu gesetzeskonformen, mitunter aber auch zu gesetzeswidrigen Handlungen. Ein solches Wahlvermögen kann aber nicht bereits Ausdruck ihrer Freiheit sein, denn dergleichen überlegte Entscheidungen verbleiben als ‚Akte‘ – wie gesehen (s. o. gegen „Wolf sowie Baumgarten“) – für Kant zunächst gänzlich im Bereich der Natur, sind als solche gleichsam explanatorisch transparent und setzen erst einmal nur eine respektive, aber keine absolute Spontaneität voraus. Eine Definition der Freiheit der Willkür als libertas indifferentiae hinsichtlich des Ge- und Verbotenen würde folglich nicht allein diese ‚Wahl aufgrund von Überlegung‘ ohne jede Not und gegen jede handlungstheoretische Einsicht zu einer völlig gesetzlosen ⁵³ erklären müssen. Sie kann zudem die für Kant entscheidende intelligible Dimension der Freiheit überhaupt nicht einfangen: (30) Nur das können wir wohl einsehen: daß, obgleich der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch [!] doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definirt [!] werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Object (dergleichen doch die freie Willkür⁵⁴ ist) verständlich machen können (06:226).
Lies: „die Willkür als ein Phänomen“, d. h.: die Willkür, die ein phaenomenon ist, nicht etwa: die Willkür sofern sie als ein phaenomenon betrachtet wird (s. u. Anm. 54). – Das nachfolgende „davon“ bezieht sich exklusiv auf das Wahlvermögen (also nicht auch auf die libertas indifferentiae, denn diese ist für Kant ja nur ein falsches Interpretament ebendieses Wahlvermögens). Darauf weist Kant in einer der Vorarbeiten zu dieser Passage hin: Es wäre „eine völlige subjective Gesetzlosigkeit derselben (indifferentia arbitrii)[,] Unabhängigkeit von allen Bestimmungsgründen derselben[,] woraus gar keine Handlung entspringen kann“ (21:470; vgl. bereits die Polemik gegen die Indifferenz in 01:406f.). „Freie Willkür“ steht elliptisch für die hier thematische und soeben erwähnte „Freiheit“ der Willkür, denn eine „freie Willkür“ als solche ist qua Willkür unmöglich selbst ein in toto „übersinnliches Objekt“ (d. h. u. a. nicht zeitlich – zumindest behauptet Kant dergleichen nirgendwo); vgl. etwa: „Die Freyheit ist die Eigenschaft eines Menschen als Noumens, die Willkühr als eines phaenomens[;] die sich selbst bestimmende (nicht durch gegebene Objecte (der Sinne) bestimmte) Willkühr ist die freye Willkühr. Die Freyheit der Willkühr in Ansehung der Wahl des Gesetzmäßigen u. Gesetzwiedrigen ist blos respective Spontaneität [sc. das Prinzip der actio ist in mir; B. L.] u. ist libertas phaenomenon – die [sc. Freiheit] der Wahl der Maximen der Handlungen ist absolute Spontaneität [sc. das Prinzip der actio ist von mir; B. L., vgl. dazu 28:267f.] u. ist libertas noumenon“ (21:470). Ferner: „[…] seine Freyheit als eines intelligibelen Wesens doch dadurch nicht definirt werden könne weil Erscheinungen kein übersinnliches
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Aber warum kommt es Kant bei der Definition der Freiheit der Willkür gerade auf diese intelligible Dimension an? Nun, weil die Fähigkeit, Maximen oder Handlungen „für oder wider“ das Gesetz durch ‚vernünftige Überlegung‘ zu wählen, zwar erfahrungsgemäß der freien Willkür des Menschen als einem vernünftigen, selbstbewussten Sinnenwesen zukommt; aber weder beweist das allein (seit 1787!) bereits dessen Freiheit (s. o.), noch gehört ein derartiges Wahlvermögen notwendig zu einer freien Willkür als solcher: Heilige Wesen etwa wären zwar frei,weil sie ihre Willkür durch das Gesetz und damit unabhängig von der Sinnlichkeit bestimmen könnten. Sie hätten jedoch ihrer besonderen Natur gemäß definitiv nicht das Vermögen dem Gesetz zuwider zu wählen, denn dafür fehlten ihnen zureichende pflichtwidrige Neigungen. Kurz: Die Möglichkeit „für oder wider das Gesetz zu handeln“ betrifft gar nicht den Begriff der Freiheit der Willkür selbst, sondern allenfalls das in der psychologia empirica abzuhandelnde ‚Phänomen‘ einer praktischen (Wahl-)Freiheit – die zwar den einschlägig affizierten freien Menschen (auch) zukommt, heiligen freien Wesen aber z. B. nicht. Und folglich taugt es nicht zur differentia specifica in einer allgemeinen Definition der freien Willkür: (31) Denn ein Anderes ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein Anderes, ihn zum Erklärungsprincip (des Begriffs der freien Willkür) und allgemeinen [!] Unterscheidungsmerkmal (vom arbitrio bruto s. servo)⁵⁵ machen: weil das Erstere nicht behauptet, daß das Merkmal nothwendig zum Begriff gehöre, welches doch zum Zweiten erforderlich ist (06:226f.).
Die unangemessene Definition der Freiheit der Willkür als die (bloß-vermeintliche) Indifferenz eines Wahlvermögens thematisiert also statt der für eine freie Willkür spezifischen intelligiblen Bestimmbarkeit nur eine (uns empirisch vertraute) besondere Erscheinungsform ihrer „Ausübung“ (06:227) beim Menschen – und bringt selbst diese noch auf einen untauglichen Begriff: Weil sie die Ebenen des sinnli-
Object begreiflich machen und die Freyheit [!] darinn nimmer gesetzt werden kann daß das Subject auch wieder das Vernunftgesetz seine Wahl treffen kann“ (21:471). Und: „Freyheit [!] der Willkür ist dieses Übersinnliche, welches durch moralische Gesetze nicht allein als wirklich im Subject gegeben, sondern auch in praktischer Rücksicht, in Ansehung des Objectes, bestimmend ist“ (20:292). Das Gegenstück bei dieser Unterscheidung soll hier – wie der Kontext zeigt – das arbitrium liberum absolutum sein, während Kant sich 1781 in A 534 und 802 mit dem (als Gegenbegriff zu arbitrium brutum verstandenen) arbitrium liberum ausdrücklich auf die praktische Freiheit bezog. Weil zu jener Zeit allerdings für Kant ‚praktische Freiheit‘ und ‚transzendentale Freiheit‘ als Attribute des Willens sinnlich-affizierter Vernunftwesen noch koextensiv waren (denn die Aufhebung der transzendentalen Freiheit würde bei diesen ja ‚alle praktische vernichten‘, s. o.), war das infrage stehende arbitrium liberum auch 1781 bereits ein absolutum.
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chen und des intelligiblen durcheinanderwirft, ist sie gar eine „Bastarderklärung (definitio hybrida)“ (06:227). Die adäquate Definition der Freiheit der Willkür dagegen ist eine solche, die sich direkt auf jenen intelligiblen Grund der menschlichen (wie auch jeder anderen) freien Willkür bezieht, der dann auch die Zurechnungsfähigkeit ‚erklärt‘, d. h.: auf ein Vermögen der Willensbestimmung durch das Sittengesetz allein (positiver Begriff ⁵⁶ der transzendentalen Willensfreiheit; vgl. 05:33, 06:213, 221) und folglich „durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden“ (negativer Begriff derselben; 06:226). Dass diese Freiheit beim Menschen einschließt, dass er selbst auch „wider das Gesetz“ handeln kann, zeigt folglich gar kein besonderes Vermögen, sondern allenfalls, wie Kant betont, ein (paradoxerweise zurechenbares, denn: er kann ja, weil er soll!) partielles „Unvermögen“ (06:227), sich über die einschlägigen Neigungen hinwegzusetzen.
7. Ein letzter Schliff Diese Kritik an der Indifferenzauffassung der Freiheit zielt bekanntermaßen auf Carl Leonhard Reinhold, der im achten seiner Briefe über die Kantische Philosophie von 1792⁵⁷ ganz ausdrücklich die „Freiheit im positiven Sinne“ als ein indifferentes Wahlvermögen verstanden wissen will, (32) als das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz (8. Brief, 272; vgl. bereits 263, auch 281).
Einige Seiten später heißt es bei ihm dann: (33) Die Macht des willkürlichen Begehrens, des eigentlichen Wollens, erstreckt sich über die Forderungen des uneigennützigen Triebes [d. i. Sittlichkeit] so wenig als über die Forderungen des eigennützigen [Triebes, d. i. Sinnlichkeit]. Sie kann das Gesetz der praktischen Vernunft weder geben noch aufheben; aber die Erfüllung oder Nichterfüllung dieses Gesetzes
„Positiv“ und „negativ“ werden bei Kant (und so auch hier – d. h. anders als in der neueren Politischen Theorie und in der Kant-Literatur) ausschließlich als Prädikate für zwei unterschiedliche Begriffe von jeweils ein und derselben Freiheit (in diesem Falle also: der transzendentalen) gebraucht. Wir finden in den uns überlieferten kantischen Texten genauso wenig eine ‚positive Freiheit‘ oder eine ‚negative Freiheit‘, wie etwa einen ‚positiven Gott‘, eine ‚negative Seele‘ etc.; siehe dazu ausführlich Ludwig (2013). Vgl. oben Anm. 29. – Kant hat Ende Oktober des Jahres, d. i. deutlich nach der Erstveröffentlichung des ersten Abschnitts der Religionsschrift, ein Exemplar vom Autor geschenkt bekommen (s. 06:498 und 11:382). – Zu Kants Reinhold-Kritik siehe etwa Bojanowski (2007).
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hängt von der Willkühr ab, und ist nur durch Freiheit möglich […] (8. Brief, 301f., Hervorhebung B. L.).
Reinhold legt an beiden Stellen offenkundig genau jene definitio hybrida zugrunde, deren Kritik wir gerade eben in der Metaphysik der Sitten studiert haben. Auch wenn er demzufolge die Intention von Kants Freiheitslehre bereits im Ansatz verfehlt haben muss (die Zurückweisung der libertas indifferentiae war schließlich ein seit 1755 öffentlich erklärtes Ziel Kants; siehe 01:398–406), so steckt gleichwohl in der zweiten Passage eine Einsicht, die von Kant noch eine terminologische Klarstellung forderte: Wenn die Willkür „das Gesetz der praktischen Vernunft weder geben noch aufheben“ kann, aber die „Erfüllung oder Nichterfüllung dieses Gesetzes“ von ihr abhängt, dann kann sie als das Vermögen der Gesetzesbefolgung unmöglich mit dem der Gesetzgebung identisch sein. Dieser, in der Grundlegung noch eingeebneten Differenz (sc. das „Sollen ist eigentlich ein Wollen“, vgl. oben Anm. 29) hatte Kant zwar, wie wir sahen, in der Kritik der praktischen Vernunft mit der Faktum-Lehre (die ohne ebendiese Differenz schlicht unverständlich wäre) bereits in der Sache Rechnung getragen – und Reinhold rennt somit 1792 seitenlang offene Türen ein.⁵⁸ Daran ist Kant jedoch nicht ganz unschuldig, denn er hatte es 1787/88 noch versäumt, eine ‚psychologische‘ Terminologie mitzuliefern, die das Vermögen der Nötigung durch das Gesetz von dem Vermögen zur „Erfüllung“ des Gesetzes hinreichend deutlich absetzt. Schon die Grundlegung kannte, wie wir sahen, einen „reinen Willen“, der – auf damals allerdings noch undurchschaute Weise – unseren „durch sinnliche Begierden affizierten Willen“ gemäß dem Sittengesetz (im zweideutigen Wortsinne) ‚bestimmte‘, und auch die Kritik der praktischen Vernunft kommt ohne ihn nicht aus (05:30ff., 65f. u. ö.). Was also lag für Kant näher, als angesichts des Reinholdschen Hinweises an diese Redeweise anzuschließen und sie im Dienste der Faktum-Lehre endlich konsequent zu fixieren: Den „reinen gesetzgebenden Willen“ als „Willen“ sans phrase und den „durch sinnliche Begierden affizierten Willen“ nun, in Anlehnung an Reinholds Terminologie, als „Willkür“: (34) Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz[e] geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht (06:226, Hervorhebung B. L.).
Das ist fraglos eine (nicht selten anzutreffende) Folge von Kants notorischem Unvermögen/ Unwillen, über die Revisionen seiner Lehren angemessen Auskunft zu geben.
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Diese terminologische Klarstellung in der Metaphysik der Sitten hat Reinhold selbst dann 1797⁵⁹ indes genauso wenig verstanden, wie 1792 zuvor Kants Revision der Freiheitslehre in der Kritik der praktischen Vernunft. Sie führt aber dazu, dass sich am Ende alles als gar nicht mehr so undurchsichtig erweist, wie es sich zwischenzeitlich darstellen musste, als Kant den Terminus „Wille“ – in Ausdrücken wie „freier Wille“, „pathologisch-affizierter Wille“ bzw. durch Begierden/ Neigungen oder Sinnlichkeit „affizierter Wille“ etc. – auch als Synonym für „Willkür“ verwandte, sei es nun mit der oben erörterten, fatalen systematischen Folge in der Grundlegung ⁶⁰ oder auch nur, die Abgrenzung der „Vermögen“ verwischend, in der Kritik der praktischen Vernunft und, zumindest nach dem Zeugnis von Vigilantius, möglicherweise sogar noch 1793/94.⁶¹ Mit Rückgriff auf die oben (am Ende von Abschnitt VI) bereits erwähnten negativen und positiven Begriffe der transzendentalen Freiheit lässt sich nun auch der folgenreiche Fehler präzise benennen, den Kant gleich zu Beginn des dritten Abschnittes der Grundlegung bei seiner ersten Ausformulierung des Autonomietheorems begangen hatte – und der seinen Schatten noch in den Text der Kritik der praktischen Vernunft hineinwirft. Kant legte 1785 zwar den angemessenen nega-
Siehe: „Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffen von der Freiheit des Willens“. In: Bittner/Cramer (1975, S. 310–324). Wenn man mit dieser Unterscheidung an den Text der Grundlegung heranzugehen versucht, merkt man bereits bei der Einführung des Willensbegriffs im zweiten Abschnitt (04:412), dass etwas grundsätzlich nicht aufgeht, weil hier der gesetzgebende Wille und die freie Willkür von vornherein identifiziert werden müssen, damit später die Deduktion der Freiheit gelingen kann. – Der Versuch von Hudson (1991), bereits ab 1785 mit der Unterscheidung von Wille und Willkür zu operieren wird daher Text wie Systematik der Grundlegung nicht gerecht. Die §§ 1–8 der zweiten Kritik wechseln ohne sachlichen Grund mehrfach phasenweise von „Wille“ zu „Willkür“ und zurück (05:21.21 [Wille→Willkür], 22.28 [→Wille], 23.07 [→Willkür], 23.14 [→Wille], 26.29 [→Willkür], 27.06 [→Wille]. 32.27 [→Willkür], in § 8 wechseln die Termini dann in rascher Folge, während es danach wieder eine lange „Willens“-Phase gibt, usw.). Der Text der Religionsschrift verwendet zwar bereits vermehrt den Terminus „Willkür“ in der 1797er Bedeutung, reserviert aber gleichwohl „Wille“ noch nicht für die (nicht-freie) Gesetzgebung (s. etwa 06:04 incl. Fn.; 06:37; 06:58, Fn.); für die etwas spätere V-MS/Vigil siehe z. B. 27:501: „[…] Freiheit des Willens oder freie Willkür […]“. – Eine bewusste terminologische Unterscheidung von „Wille“ und „Willkür“ zeigt sich für uns erstmals in den zwei überlieferten Vorarbeiten (21:470f., 23:248f.) zur oben behandelten Passage (06:226). – Auch wenn sich Kants Texte ab 1787 im Nachhinein – soweit ich es überblicke – ohne nennenswerte inhaltliche Folgen auf den Stand der differenzierteren Terminologie von 1797 bringen ließen, so blieben dabei Ausdrücke wie ‚guter Wille‘ oder ‚heiliger Wille‘ etwas heikel, da man diese nunmehr genaugenommen – aber doch eben arg befremdlich – durch ‚gute Willkür und ‚heilige Willkür‘ ersetzen müsste: Terminologische Ausdifferenzierungen sind mit etablierten Ausdrucksweisen nicht unbedingt kompatibel.
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tiven Begriff der transzendentalen Freiheit zugrunde, ging dann aber ohne jede Not zu einem gleichsam ‚überzogenen‘ positiven Begriff derselben über: Damit eine Willkür „durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt“ wird (negativer Begriff), damit sie sich vielmehr selbst das Gesetz gibt, muss dieses Gesetz ihrer Kausalität nämlich mitnichten mit dem Sittengesetz identisch sein⁶² (was ja nur den natürlichen durch einen übersinnlichen Determinismus ersetzte,⁶³ womit dann, wie sich zeigte, eine Zurechenbarkeit der bösen Handlungen unmöglich wird). Es reicht vielmehr bereits vollkommen hin, dass das uns bis an das Ende aller Tage verborgene Gesetz ihrer Kausalität (unser „Charakter“, 06:27) nicht mit dem Naturgesetz zusammenfällt, das Handeln also nicht bereits notwendig durch die „Materie“ bestimmt wird, auch wenn es durch sie „affiziert“ bleibt (05:32). Aber das ist offensichtlich auch schon dann der Fall, wenn wir wissen, dass wir das „Vermögen“ (siehe A 554) besitzen, unsere Willkür unabhängig von allen materialen, d. i. natürlichen, Bestimmungsgründen, also durch die bloße „Form“ zu bestimmen (positiver Begriff der Freiheit): Und wenn das Faktum des Bewusstseins der Nötigung durch das Sittengesetz uns überhaupt irgendetwas aufzuzeigen vermag (und gemäß Kant dank ‚ultra posse nemo obligatur‘ im Rahmen des transzendentalen Idealismus auch tatsächlich aufzeigt), dann ist es offensichtlich genau dieses „Vermögen“ – nicht mehr (also vor allem: nun nicht mehr zu viel) und auch nicht weniger. Der oben aus § 5 der Kritik der praktischen Vernunft zitierten Definition des „freien [!] Willens [!]“ (Zitat 20) geht die Feststellung unmittelbar voran: (35) Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande (05:29).
So etwas deutete sich in der Formulierung „unter [!] sittlichen Gesetzen“ (04:447) freilich bereits an, konnte von Kant 1785 aber noch nicht systematisch eingefangen werden, vgl. dazu oben Anm. 21. Als Ausweg bleibt dann folgerichtig nur Reinholds Indifferenztheorie, bei der die Freiheit der Willkür darin besteht, sich bei jeder einzelnen Handlung zwischen zwei (als solchen ‚deterministischen‘) „Trieben“ (Natur- und Vernunftbestimmung, s. o.) ‚frei‘ zu entscheiden (s. Reinhold, 8. Brief, S. 276ff. und S. 300ff.). Damit wird dann aber entweder um der Zurechenbarkeit dieser Entscheidung willen ein Regress von weiteren „Trieben“ eröffnet, oder aber Handlungen können nicht einmal mehr zugeschrieben werden, denn die Behauptung, es läge an den gegebenen Überzeugungen und Wünschen des Handelnden, dass er so und nicht anders handelt (d. i.: respektive Spontaneität), verliert jeden verständlichen Sinn, weil die Entscheidung zwischen den beiden „Trieben“ voraussetzungsgemäß unabhängig von denselben gefällt werden muss – und somit gar keinen Grund im Handelnden haben kann (bzw. das Verhalten, wie eine vegetative Regung, gar keine Handlung ist).
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Frei ist nach der Begriffsklärung von 1797 aber allein die Willkür, während der Wille die gesetzgebende, d. h. die Willkür nötigende, reine praktische Vernunft ist. Indem Kant diese, für die Faktum-Lehre der Sache nach bereits unverzichtbare Unterscheidung auch 1787/88 noch verschleift, weil er sie terminologisch nicht angemessen fixiert hat, kommt es durch etliche elliptische Formulierungen zu den oben (s. Anm. 33) benannten Irritationen, die aber sogleich verschwinden, wenn man die Differenzierung von 1797 antizipierend aufgreift: Das formale Sittengesetz ist das einzig [sc. „allein“] mögliche Gesetz eines [=genitivus subjectivus!] reinen, gesetzgebenden Willens, und es ist daher dasjenige Gesetz der [=genitivus objectivus!] Willkür, nach dem sich eine solche auch ohne sinnliche Bestimmungsgründe [sc. „allein“] bestimmen können muss, wenn sie eine freie Willkür sein soll. Ähnlich hätte es durchaus schon in den §§ 5ff. der Kritik der praktischen Vernunft stehen können (man mag versucht sein, zu sagen: ‚stehen sollen‘). So deutlich steht es aber erstmals – und möglicherweise auch nur dank Reinholds Intervention – in Kants letzter öffentlicher Darstellung seiner Freiheitslehre, in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten von 1797: Der Wille ist „die praktische Vernunft selbst“. Eine „Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann [!], heißt die freie Willkür“. Und „[d]ie menschliche Willkür ist […] für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht [!] rein [!], kann [!] aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden“ (06:213f.) – weil sie es soll: Allein dank dieses sich im „Faktum“ indirekt offenbarenden Bestimmungsvermögens weiß sich der Mensch als frei. Und seine willkürlichen Handlungen, die guten wie die bösen, sind ihm zuzurechnen, auch wenn wir niemals verstehen werden, wie das möglich ist: „Wo […] Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört alle Erklärung auf“ (04:459), denn „eine physische Erklärung nach Freyheitsgesetzen [… wäre] ein Wiederspruch in sich selbst“ (23:141; vgl. 06:144, Fn.).
8. Der Kreis schließt sich Ich fasse abschließend die Grundstruktur von Kants post-1786er, d. i. von seiner konsequent-kritischen, Freiheitslehre in der Terminologie von 1797 zusammen: (1) „Reine Vernunft [ist] bei uns in der Tat praktisch“ (05:42). Wir werden uns nämlich im ‚Faktum des kategorischen Sollens‘ der „unwidersprechlich[en]“ (06:225) Nötigung unserer Willkür durch ein Gesetz unseres Willens bewusst; und dieses Gesetz, das Sittengesetz, kann aufgrund seiner Formalität kein Naturgesetz sein: Es ist folglich das Gesetz unserer reinen praktischen Vernunft.⁶⁴
Dies ist hier nun stark verkürzt: Selbstverständlich kann die Gesetzesformel des kategori-
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Weil ein unleugbares, kategorisches Sollen das Können impliziert, ist (2) unsere Willkür notwendig eine freie, d. i., wir müssen sie durch Aufnehmen des Gesetzes unseres Willens in unsere Maxime unabhängig von der Sinnlichkeit bestimmen können. Wie eine solche intelligible Bestimmung möglich ist, bleibt für uns dabei allerdings uneinsehbar, aber (3) dass eine solche real möglich ist, ist gleichwohl von Seiten der Metaphysik nicht bestreitbar (A 448; 05:49 und 133, vgl. 06:221), denn es tritt hier (36) ein durch die Kritik der reinen Vernunft gerechtfertigter, obzwar keiner empirischen Darstellung fähiger Begriff der Causalität, nämlich der der Freiheit, ein (05:15).
Der Mensch ist demnach (4) wirklich (s. o. Anm. 11) frei – und er kann das sogar wissen (s. o. Zitat 27). Diese seine Freiheit ist der eigentliche Grund seiner Imputabilität und damit der Persönlichkeit (06:223). Sie galt Kant zufolge immer schon als ein großer „Stein des Anstoßes für die Philosophie“ (s. o. Zitat 5) bzw. „für alle Empiristen“ (05:07). Doch nachdem Kant diesen Stein 1781 schon aus dem Weg geräumt hatte und ihn anschließend noch einmal sechs Jahre lang behauen konnte, fügte er sich 1787 dann endlich zum „Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft“ (05:03). Und dieses „ganze[ ] Gebäude“ musste – so stellt es sich zumindest für uns nun dar – eigentlich nur deshalb errichtet werden, weil auch nach gut zweitausend Jahren des Hin-und-Her zwischen metaphysischem Dogmatismus und Skeptizismus das transzendentale Problem der „absoluten Spontaneität der Handlung als dem eigentlichen Grund der Imputabilität derselben“ (A 448) immer noch nicht gelöst war. In seinen Entwürfen für die Fortschritte der Metaphysik verrät uns Kant, dass auch er selbst es in den 1790er-Jahren dann ganz genau so sehen will: (37) Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen. Hierüber unaufhorlicher Streit. Alle Philosophien sind im Wesentlichen nicht unterschieden bis auf die critische (20:335).
schen Imperativs nur über eine metaethische Reflexion (wie etwa im Ersten Abschnitt der GMS oder den §§ 1–7 der KpV) gewonnen werden (auch wenn manche Textpassagen zunächst anderes suggerieren mögen, s. etwa 05:91f.). Aber wir können uns in der Ansprache durch einzelne ‚nicht-sinnliche‘ Forderungen (wie etwa durch ein kategorisches ‚hoc pactum servandum est‘) im Zuge unserer Handlungsreflexion dessen bewusst werden, dass es für uns ein irreduzibles Sollen gibt.
Die Freiheit des Willens und die Freiheit zum Bösen
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Sachregister Achtung für das Gesetz/Achtung vor dem Gesetz XIII, 69, 125, 127, 140, 152 f., 157, 197, 249 Antinomie IX–XI, 28, 39, 57, 60, 83, 87 f., 110, 144, 150, 154, 156, 192, 228 f., 231 f., 237, 239, 251, 256 f. Autonomie VII, IX–XII, 19, 24 f., 27, 37, 50, 59 f., 64 – 67, 70 f., 78, 82 – 84, 138, 152, 157 – 161, 175, 189 – 201, 205 – 207, 210, 213 – 216, 218 – 220, 223 – 225, 228, 233 f., 238 f., 241 f., 246, 250 f., 256, 263 Begehrungsvermögen 4, 61, 64, 66, 97, 190 f., 193, 197, 199, 201 – 207, 230, 252, 258 Bestimmungsgrund 77, 124 f., 137, 140, 155, 157 f., 161, 168, 175, 214, 219, 221 f., 225, 239, 252 f., 255, 259, 261, 264 f. Böse, das Böse XI, 68, 74, 95, 168, 195, 206 f., 240, 242, 249 Deduktion VII, XIII, XV, 2, 5 f., 10 – 12, 15 – 17, 29 f., 33, 38, 41 – 43, 54 – 63, 67, 69 – 74, 77, 80, 85 – 87, 91, 93 – 95, 103, 106 – 109, 111 f., 114, 119, 127, 129, 133 – 143, 154, 159 – 163, 167 f., 174, 176, 202, 210 f., 214 – 216, 220 – 224, 227, 235, 238 – 240, 242 f., 245 f., 248, 254, 263 Determinismus X, 192, 256, 264 Eudämonismus 223, 227 Faktum/Faktum der Vernunft XI–XIII, XV, 1, 3, 5 – 8, 10 – 12, 15 f., 22 – 25, 29 – 33, 35, 38, 40 – 43, 45, 48 – 56, 58, 79, 82, 86, 104, 106, 111 f., 114 – 118, 121 – 123, 125, 127 – 129, 135, 162, 203, 210 f., 220, 224 f., 252 f., 264 Faktum-Lehre 104, 106 f., 112, 115, 120, 128, 162 f., 170, 182, 220, 223, 256, 262, 265 Faktum-These 1 – 5, 7, 9 – 12, 15 – 17, 22 – 25, 28 f., 32 f., 35, 37 – 40, 43, 45, 48, 57 f.
Fatalismus (Fatalist) 60, 63, 73, 85 – 87, 89 f., 93, 156, 227, 238, 247 Freiheit VIIIf., XI, XIII, 1 f., 4, 7, 12, 15 f., 19 f., 22 – 28, 31, 33, 41, 59 – 63, 66, 68 – 78, 80 – 83, 85 – 88, 90, 92 – 97, 106, 110 – 112, 118 f., 133 – 138, 140 – 144, 147 – 150, 153 – 163, 170 – 173, 175 – 178, 180 f., 184, 186, 190 – 193, 195 f., 198, 201, 203, 206, 214 – 216, 218 f., 225, 227 – 230, 232, 234 – 236, 238 – 242, 244 – 246, 248 – 250, 253 – 257, 259 – 262, 264, 266 – negative XI, 156, 191, 219 f., 225, 261 – positive 156, 189, 198, 215, 220, 225, 261 – praktische 61, 72, 82, 143 – 157, 161, 171, 182, 229 – 232, 234 f., 236 f., 240, 251, 257, 260 – transzendentale Xf., 81, 88 f., 110, 143 – 163, 171, 192, 200, 205 – 207, 215, 227, 229 – 237, 241 f., 250 – 252, 256 – 258, 260, 263 f. Gedankending 18 – 20, 22 – 24, 33, 35 – 38, 45 – 48, 52, 91 Gefühl 63 f., 68 f., 95, 124 – 127, 140, 152, 216 – der Achtung (s. Achtung) 2, 68, 124 f., 157, 168 – moralisches/sittliches 68, 124 – 128, 157, 168 Gesetz 2 f., 8 f., 12, 22, 25 f., 32, 61, 63, 65, 67, 69 f., 72, 75 – 77, 80, 95, 113, 120, 127, 138, 162, 169, 170, 172, 178, 182, 192 f., 197, 200, 203, 205, 210, 212 f., 215, 218, 220 f., 234, 239, 241 – 243, 247 – 249, 252 – 254, 258 – 262, 264, 266 – moralisches, s. Sittengesetz – praktisches 21, 22, 38, 65, 74, 106, 110, 119, 122, 168, 171, 173, 191, 201, 204, 206, 222, 261 Glückseligkeit 26, 62, 125, 152, 184 f., 247 Gut, das Gute XI, 56, 92 f., 95, 144, 151, 168, 179, 184, 189, 206 f., 249
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Sachregister
Gut, höchstes 169, 176 f., 179 – 181, 184 – 186, 223, 239 Handlung 4, 9 f., 21 f., 25, 60, 65 f., 68 – 71, 73, 76, 88 – 91, 93, 95, 97, 107, 109 – 111, 115 – 117, 124, 126, 136, 143, 145 – 148, 150, 156 – 159, 161, 168 f., 175, 177, 179 f., 182 – 184, 186, 191 – 193, 195 – 201, 203 f., 211 – 216, 225, 228, 230, 232, 240 f., 243, 249 – 251, 254, 256 f., 259 f., 262, 266 – böse 191, 194, 196 f., 201 f., 204 – 207, 227, 239 – 241, 249, 255, 264 – gute 92, 180 f., 194, 196 f., 202, 204, 249, 255 – moralneutrale 196 f., 201 – 203, 205 f. Heteronomie 95, 171, 190 f., 193, 195 – 201, 205 f., 219, 239 Hirngespinst 6 f., 9, 12, 16 – 21, 23 f., 32 f., 35 – 38, 45 – 51, 105, 214, 222, 239, 247 Imperativ 70, 75 f., 94 f., 123, 128, 145, 147, 150, 182, 202, 211 – 213, 215, 229, 235 f., 243, 246 – hypothetischer 21, 62, 66, 138, 143, 145, 148, 154, 157, 196, 243 f., 246 – 248 – kategorischer XV, 2, 5 – 12, 15 f., 19 – 27, 29, 31, 33, 37 f., 40, 42 f., 49 f., 54 – 62, 64, 69 – 75, 78, 83, 85 f., 91, 94, 96, 111, 123, 133 – 135, 137, 139 – 143, 145, 160, 162, 168, 171, 178, 190, 193 f., 202, 205, 207, 210, 212 – 215, 220 – 223, 228, 243 f., 247 f., 254, 255, 265 Inkorporationsthese 197 f., 252 Kategorien der Freiheit XI, 29 Kausalität X, 4, 60, 62, 67, 72 f., 75 – 80, 82 f., 87, 89 f., 96 f., 137, 155 f., 161, 168 f., 171, 173 – 176, 180, 186, 190 – 193, 195, 198 – 201, 205, 221, 225, 230, 232 – 238, 240 – 242, 249, 251, 253, 256, 264, 266 Kritizismus IX, 84 Maxime 9, 25, 30, 66, 74 f., 77, 83, 118 – 120, 124, 126, 128, 138, 157 f., 160, 168,
175, 193, 197, 212 f., 215 – 219, 222, 224 f., 247 f., 252, 255, 259 f., 262, 266 Moral XV, 12, 20, 61 f., 68, 73, 85, 93, 103, 105, 108, 111, 113 f., 119, 127, 144 f., 148 – 153, 156 f., 159, 162, 178 f., 185, 190, 207, 220, 231, 237 – 239, 252, 266 Moralität, s. Sittlichkeit Moral-sense-Philosophie 127 Naturkausalität 86, 96, 110, 145, 148, 190, 197, 199, 205, 236, 249 Neigung VII, 30, 41, 66, 74, 84, 109, 119, 121, 124 f., 128, 151, 154, 160, 171, 196 f., 212, 245, 250, 255, 258, 260 f., 263 Nötigung 65 – 69, 127, 142 f., 145, 211, 236, 243, 246 – 248, 254, 257, 264 f. Notwendigkeit 6 f., 9, 60, 62 f., 65, 67, 69, 71 f., 82, 85, 87, 91 f., 95, 137, 156, 159, 167, 169, 186, 192, 195, 200, 212, 222, 229, 235 – 237, 240, 242, 250 f., 256 Patchwork-These 146 Person, Persönlichkeit 26, 52, 112, 266 Pflicht VII, 3, 6, 18, 21, 64 – 66, 70, 72, 104, 106, 109, 122 – 124, 126 f., 186, 198, 209 f., 212, 215, 223, 235, 238, 240 – 242, 244, 248 Pflichten, vollkommene und unvollkommene 123 Platonismus 213, 217, 222 f., 249 Revisionismus (Revisionist) 190 f., 196 – 202, 204 – 207 Reziprozitätsthese 189 – 191, 193 f., 196 – 199, 201 – 204, 206 f. Schöne, das XII Selbstbesitz 96 f. Sinnenwelt 4, 62 f., 66 f., 70, 73, 75, 78 – 84, 87, 96, 113, 142, 171 f., 174, 176, 178 f., 195, 198, 210, 215 – 217, 219, 221, 225, 229 f., 235, 237, 244 f., 249, 257 sinnlich VII, 27, 60, 63, 71 – 74, 79, 97, 110, 117, 122, 128, 134 f., 138 – 142, 144 f., 157, 168 f., 172, 174 – 178, 181 – 183, 186, 200, 202, 204, 210, 216 f., 230, 232,
Sachregister
234 – 246, 248 f., 251, 255, 260 – 262, 264 f. Sinnlichkeit 4, 76, 79, 81, 90, 95, 140, 143, 145, 202, 221 f., 242 f., 245, 260 f., 263, 266 Sittengesetz/moralisches Gesetz 2 f., 5, 7 – 9, 12, 15 – 28, 30, 32, 33, 35, 38 – 40, 42, 45, 47 – 53, 56 – 58, 61, 69, 81, 94, 103 – 114, 116 – 122, 124 – 129, 136 – 138, 140 – 142, 158 – 161, 163, 168, 169, 170, 171, 173, 175 – 186, 189 f., 193 f., 198, 201, 204, 209 – 212, 214 – 225, 227 – 231, 233 – 235, 238 – 241, 246, 248 – 250, 252, 254 – 258, 261 f., 264 f. – als ratio cognoscendi der Freiheit XIf., 1, 12, 15 f., 31, 33, 118, 240 Sittlichgute, das XII Sittlichkeit IX, 3, 6, 8, 17, 19 – 21, 23 – 25, 37 f., 46 f., 50 f., 67, 69, 77 f., 82 f., 89, 105, 109, 114, 122, 128, 133, 135 f., 138 – 140, 143, 148, 158 f., 161, 171, 184 f., 209 f., 212 – 216, 219, 222 – 224, 228, 230, 234, 238, 242 f., 246, 255, 261 Skeptizismus (Skeptiker) 84 f., 247, 266 Spontaneität IX, XII, 3, 60, 76, 79 – 82, 84, 86, 88 – 90, 96, 107, 136, 142, 158 f., 161, 163, 199, 217, 235 f., 238, 240 f., 250, 253, 258 f., 264 – absolute X, 110, 143, 147, 149 f., 154, 157 f., 197, 219, 229, 232 – 234, 237, 241, 251, 254, 258 f., 266 Substitutivismus (Substitutivist) 189 f., 195, 201 f., 204 – 207 Tafel der Kategorien der Freiheit XI Tat 52, 82, 115 – 118, 120, 126, 153, 210, 224 Triebfeder 128, 152, 157 f., 160 f., 190, 197, 250 f., 258 Unding 18 f., 35 Ursache 4, 78 – 80, 82 f., 88, 95, 128, 147, 149, 169, 175, 193, 198, 200 f., 205, 219, 230 f., 233, 242, 256 f. – subjektiv bestimmende Ursachen 27, 56, 90, 154, 157, 221 f.
271
Urteil VIII, 4, 10, 11, 65, 76, 79, 81, 86, 88 f., 114, 119, 121, 134 – 136, 142, 157 – 159, 162, 194, 240 f., 245, 250 Verbindlichkeit 6, 51 f., 59, 61 – 70, 72 – 74, 78, 83, 85 f., 89 f., 95 f., 108, 110, 121, 123, 127, 137, 139 – 141, 149, 159 f., 162 f., 186, 195, 201 f., 228, 233 f., 239, 242, 246 f., 251 Vernunft IX, XIIf., 3 f., 7 f., 10 f., 20, 24 f., 27 f., 30, 32, 51, 56, 60 f., 66 – 69, 71 – 73, 76 f., 80 – 82, 84, 86, 88 – 91, 94, 96 f., 108 f., 111, 113, 119, 121, 126 – 128, 135, 140 – 142, 144, 146 f., 150, 153 f., 155 – 161, 163, 170 – 173, 175 f., 178 – 181, 184, 196, 199, 209, 211, 215, 217, 219, 221 f., 224, 228, 230 – 232, 235 – 237, 241 f., 244 f., 250, 254, 256 – 258, 266 – praktische 3, 31, 40, 56, 61, 81, 86, 95, 105, 135, 152, 163, 178, 189, 203, 205 f., 217, 223, 238, 241, 243, 249, 262, 265 – reine 73, 79, 82, 84, 88 f., 91 f., 96, 107, 115, 117, 121, 129, 134, 139 f., 144 f., 149 f., 153, 157, 160, 163, 174, 176, 180, 199, 201, 207, 211, 221 f., 224 f., 228, 231, 256, 258, 265 f. – reine praktische 1, 8, 10, 20, 24, 29, 50, 52, 59 f., 66, 69, 77, 79, 81 f., 88, 93, 95, 97, 106, 109 – 111, 115 – 117, 120, 124, 127, 129, 134, 139 f., 152 f., 157 – 159, 162, 180, 182, 185, 194 f., 202, 206 f., 209 f., 214, 223 f., 235, 238 f., 257 Verstandeswelt 4, 62 f., 67, 70, 75, 78 – 81, 83 f., 96, 113, 134, 137, 140, 142, 172, 210, 215 – 217, 219, 222, 244, 249 Wille VIII, 4, 19, 21 f., 24 f., 27, 50, 59 f., 65 – 72, 74 – 78, 80, 83 f., 88, 91, 95 – 97, 106, 110 – 112, 118, 121, 124, 128, 134 – 140, 154, 160 f., 163, 168, 173, 175, 190 – 194, 198 f., 201 – 205, 210 – 216, 218 f., 221 f., 224 f., 230, 234 f., 238, 240, 242 – 244, 248 – 252, 254 f., 257, 263, 265 – freier 73 – 75, 85, 141, 173, 175, 189 – 196, 201, 219 – 221, 242, 248, 252, 255 – guter 64 f., 73, 138 f., 189 f., 196, 239, 247 – 249
272
Sachregister
– heiliger 138, 140, 190, 25 – reiner 56, 61, 72, 95, 97, 119, 138, 140, 245 f., 262, 265 – sinnlich affizierter 60, 71 – 73, 97, 134, 138 – 141, 216, 244, 262 f. Willensfreiheit IX, 191 f., 196, 218 f., 223, 225, 250, 257, 261 Willkür 68, 71, 143, 145, 160 f., 197 f., 200, 217, 225, 230, 241, 250 – 252, 258 – 266 Willkürfreiheit XI, 198, 223
Würde 63, 97 Zurechenbarkeit (zurechenbar) 115 f., 192, 194, 201, 205, 227, 232, 239 f., 242, 255, 261, 264 Zwang 124 f., 128 Zweck VIII, XI, 78, 80, 96, 151, 158, 160, 178 f., 183 – 185, 196, 205, 211, 214, 225, 243, 257 f. Zweiweltenlehre 216 – 220
Personenregister Adelung, Johann Christoph 36, 41 Albrecht, Michael 146 Allison, Henry E. 71, 96, 103, 106, 137, 143, 146, 152, 157, 194, 197, 245, 247, 252 Ameriks, Karl 170, 172 Aristoteles 123, 189 Barbaric, Damir VII Baum, Manfred 107 Baumgarten, Alexander Gottlieb 62 – 67, 69, 229, 241, 250 f., 259 Beck, Lewis White 104, 117, 145 Bianco, Bruno 150 Bittner, Rüdiger 263 Bojanowski, Jochen 192, 261 Bramhall, John 233 Brandt, Reinhard 81, 106, 156 Bubner, Rüdiger 107 Caimi, Mario 107 Cassirer, Ernst VIII, IX Cramer, Konrad 263 Creuzer, Christoph Andreas Leonhard 86 Crusius, Christian August 67, 69, 112 Derham, William 178 Descartes, René 250 f. Diers, Michael VIII Eberhard, Johann August 65, 67 Ehlers, Martin 85 Ferguson, Adam 92, 94 Feyerabend, Gottlieb 233 Foot, Philippa 196 Forster, Georg 178 Frede, Dorothea VII Freudiger, Jürg 163 Garve, Christian Gassendi, Pierre Gerhardt, Gerd Gerhardt, Volker
63, 84 f., 92 – 94, 223 250 f. VII 115
Goy, Ina 125 Grimm, Jacob 36 Grimm, Wilhelm 36 Guyer, Paul 170, 172, 245, 249 Hamann, Johann Georg 217 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 128 Heidegger, Martin 121 Henrich, Dieter 1, 73, 77, 81, 87, 103, 112, 154 f., 162, 245 f. Himmelmann, Beatrix VII Hindrichs, Gunnar IX Hinske, Norbert 148 Hobbes, Thomas 233, 250 f. Home, Henry (Lord Kames) 63 f., 67 – 69 Honneth, Axel IX Horn, Christoph 95, 247 Hudson, Hud 263 Hume, David 64, 127, 251 Hutcheson, Francis 63 f., 127 Kawamura, Katsutoshi 150 Keil, Geert 191 Kepler, Johannes VIII Kleingeld, Pauline 189 Klemme, Heiner F. 61, 65 – 69, 71, 85, 92, 95, 97, 258 Krafft, Fritz VIII Lange, Joachim 150 Leibniz, Gottfried Wilhelm 67, 79, 149, 217, 223, 233, 236 Locke, John 217, 223 Ludwig, Bernd 35 f., 45, 56, 58, 68, 71, 79, 82, 97, 236 f., 240 – 242, 244, 250, 255 McCarthy, Michael H. 163 McLaughlin, Peter 172 Meier, Georg Friedrich 66, 68 f. Mieth, Corinna 95, 247 Milz, Bernhard 20, 152, 229, 241, 256 Mrongrovius, Christoph Cölestin 233
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Personenregister
Naeve, Nico 189 Nietzsche, Friedrich 189 Paton, H. J. 61, 245 Pieper, Annemarie 71 Pistorius, Hermann Andreas 240 Plantinga, Alvin 48 Porcheddu, Rocco 59, 81 Potter, Nelson 202 Prauss, Gerold XI, 196 – 198 Puls, Heiko XI, 1, 29, 35, 37 – 42, 45, 51, 58, 61, 70, 72, 85, 88, 95, 103 Ray, John 178 Recki, Birgit VII–IX, XII, XVI Rehberg, August Wilhelm 254 Reinhold, Carl Leonard 196, 249, 261 – 265 Rödl, Sebastian 103 Rousseau, Jean-Jacques 95, 234 Scarano, Nico 95, 247 Schadow, Steffi 197 Schmidt, Elke 7 f. Schmitz, Hermann 81, 88 Schmucker, Josef 63, 66, 87 Schönecker, Dieter 2 – 4, 12, 15 – 17, 20 – 32, 34, 38, 45 – 59, 61, 68, 70 – 72, 81, 87, 96, 103, 117, 121, 134 f., 139 – 141, 145 f., 149, 152, 190, 194, 196, 202, 240, 244, 247, 251 Schopenhauer, Arthur 128
Schulz, Johann Heinrich 73, 77, 85 f., 153, 238 f., 242 Schumski, Irina 189 Schwaiger, Clemens 63 Schwemmer, Oswald 113 Segedin, Petar VII Seneca, Lucius Annaeus 189 Sensen, Oliver 63 Shaftesbury, 3. Earl of (Anthony AshleyCooper) 63, 127 Sims, Walter 146, 149 Spinoza, Baruch de 189 Steigleder, Klaus 68, 72, 77, 85, 87, 141 Sulzer, Johann Georg 61 Tetens, Holm 232 Timmermann, Jens IX, 71, 170, 196, 247 Warburg, Aby VII, VIII Warnke, Martin VIII Willaschek, Marcus 115, 125, 145 f., 190, 198 – 200 Williams, Terrence C. 129 Wolff, Christian 65, 67, 74, 79, 88, 92, 95, 112, 148 – 150, 178, 250 f., 259 Wood, Allen 59, 61, 68, 87, 96, 247 Wyrwich, Thomas 87 Zedler, Johann Georg Heinrich 90 Zimmermann, Stephan XI Zunec, Ozren VII