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German Pages [492] Year 1994
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Herausgegeben von Adolf Martin Ritter
Band 59
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1994
Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525)
von Ralf Kötter
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1994
Die Deutsche Bibliothek-
CIP-Einheitsaufnahme
Kotier, Ralf: Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus: Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525) / von Ralf Kötter. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 59) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1992/93 ISBN 3-525-55167-3 NE: GT
© 1994 Vandenhoeck und Ruprecht, 37070 Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie nur unwesentlich verändert. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Hauschild, der diese Untersuchung angeregt, ihre Entstehung mit Engagement und Wohlwollen gefördert und ihre Drucklegung in die Wege geleitet hat. Herrn Prof. Dr. Martin Brecht danke ich für mancherlei Anregung und die Erstellung des Korreferates. Danken möchte ich ferner den Kolleginnen und Kollegen der Bugenhagen-Edition für ihre Unterstützung; Herrn Volker Drecoll sei für manches anregende Gespräch, die Hilfe bei den Korrekturarbeiten sowie die Beratung bei der Formatierung der Druckvorlage gedankt. Meinen Eltern danke ich für ihre aufopferungsvolle Hingabe, mit der sie mir das Studium ermöglichten. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Christina, die nicht nur bei den Korrekturarbeiten und der Erstellung der Register beteiligt war, sondern die Entstehung der gesamten Arbeit mit unendlicher Geduld und stetiger Ermutigung begleitet hat. Für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen danke ich der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands; Herrn Prof. Dr. Adolf Martin Ritter und dem Verlag sei für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Forschungen zur Kirchen· und Dogmengeschichte" gedankt.
Dieses Buch sei meiner Frau und unseren Söhnen Michel Johannes und Malte Christoph gewidmet.
Münster, im Oktober 1993
Ralf Kötter
Inhaltsverzeichnis Einleitung
11
Teil I: Die Entwicklung der Rechtfertigungslehre Bugenhagens und der Reformation in Hamburg bis 1525 — Vorklärungen . . .
17
Erstes Kapitel: Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525 — Kritische Sichtung des Forschungsstandes A. Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Handschrift des Matthäuskommentars und Sendbrief an die Treptower Schüler B. Iustificatio als non-imputatio — Rechtfertigungstheologischer Neuansatz im Psalmenkommentar? 1. Gesetz und Evangelium 2. Christologie 3. Iustificatio als non-imputatio C. Zusammenfassung und Ausblick
31 42 47 56 66
Zweites Kapitel: Evangelische Bewegung und katholische Frömmigkeit und Theologie — Aspekte zum Verständnis der Reformation in Hamburg
69
Teil II: Die Abfassung des Sendbriefes an die Hamburger im Jahre 1525
17 17
91
Drittes Kapitel: Bugenhagens Kontakte zur Hansestadt Hamburg — Historische Ortung A. Erste Berufungen B. Bugenhagens Berufimg nach Hamburg C. Die Abfassung der Schrift Vom Christen Glauben
91 91 92 94
Viertes Kapitel: Die Entstehimg des Sendbriefes an die Hamburger — Literarkritische Klärungen A. Adressaten und Gegner B. Aufbau und literarische Einheit C. Gattungen und Stil
99 99 105 118
Fünftes Kapitel: Literarische Bezüge zu den Predigten des Jahres 1525 A. Allgemeine Kongruenzen B. Direkte Rezeption einzelner Predigten
124 131 137
8
Inhaltsverzeichnis 1. Die Predigt über Mt 11,25—30 als Grundlage der zweiten Zusammenfassung 2. Die Predigt über 1. Joh 1 als Grundlage der dritten Zusammenfassung 3. Vorlagen der ersten Zusammenfassung? Zusammenfassung — Integration der bisherigen Einzelergebnisse
Teil III: Das Zentrum der Ausführungen Bugenhagens im Sendbrief an die Hamburger — Die Rechtfertigungslehre
137 156 160 168
171
Sechstes Kapitel: Bugenhagens Rechtfertigungslehre im Sendbrief an die Hamburger — Inhaltliche Analyse 171 A. Jesus Christus als einiger Mittler und Versöhner — Der Skopus 173 B. Der rechte Glaube 177 1. Der falsche Gottesdienst der Altgläubigen 177 2. Der christliche Glaube als persönlicher Heilsglaube . . . 179 3. Sünde und Teufelsherrschaft als menschliche Realität . . 183 4. Der Wandel von der Teufels- zur Gotteskindschaft — Das Heilswerk Christi 186 5. Das Alte Testament als Evangelium vom menschwerdenden Gott 206 6. Der christliche Glaube als Herzensglaube — Das Werk des Heiligen Geistes 214 C. Der Weg zum Glauben über Gesetz und Evangelium . . . . 227 1. Der Anspruch der Werke und der Anspruch Gottes . . . . 227 2. Die rechte Reue als erster Schritt zum Glauben — Gottes Wirken im Gesetz 230 3. Der Glaube als Wechsel der Perspektive — Gottes Wirken im Evangelium 235 D. Die Existenz im Glauben 247 1. Der Zusammenhang von Glaube und Werk 247 2. Das erste Werk des Glaubens — Die Selbstzucht 252 3. Das zweite Werk des Glaubens — Die Nächstenliebe . . 258 Siebentes Kapitel: Zum Verhältnis der rechtfertigungstheologischen Konzeptionen Luthers und Bugenhagens in Freiheitstraktat und Sendbrief — Zugleich eine Integration der wesentlichen Einzelergebnisse A. Formaler Vergleich
262 264
Inhaltsverzeichnis
Β.
Inhaltlicher Vergleich 1. Wort und Christus — Zur Spannung im rechtfertigungstheologischen Ansatz Bugenhagens 2. Glaube und Werke — Zum spezifischen Anliegen des rechtfertigungstheologischen Ansatzes Bugenhagens
Teil IV: Die Theologie Augustin von Getelens — Ein Paradigma des zeitgenössischen Katholizismus
9 281 283 294
301
Achtes Kapitel: Leben und Werk Augustin von Getelens A. Zur Herkunft Augustin von Getelens B. Bildung und erste Wirksamkeit C. Getelens Wirksamkeit in Hamburg D. Die Abfassung der Schrift gegen Bugenhagen E. Getelens Wirksamkeit in Lüneburg F. Getelens Teilnahme am Augsburger Reichstag, sein Verhältnis zu Urbanus Rhegius und weitere Wirksamkeit . .
301 303 316 319 321 324 329
Neuntes Kapitel: Inhaltliche Analyse der Aufzeichnungen Getelens A. Gnadenlehre 1. Der Primat der Gnade 2. Die Gnade des Heiligen Geistes 3. Die Verdienstlichkeit der Werke B. Schrift, Tradition und Kirche C. Zusammenfassung und Wertung
341 348 348 353 366 393 418
Zehntes Kapitel: Bugenhagens Auseinandersetzung mit dem Katholizismus — Ihre Berechtigung und ihre Grenzen
422
Rückblick — Kontinuität im Wandel
437
Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Hilfsmittel Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen Sekundärliteratur Bibelstellenregister Ortsregister Personenregister Sachregister
441 442 442 444 445 455 477 481 482 485
Einleitung Lange Zeit konzentrierte sich das besondere Interesse der BugenhagenForschung auf einen einzigen, ausgewählten Aspekt: Im Blickpunkt standen die Kirchenordnungen, die Bugenhagen als Kirchenorganisator im niederdeutschen und skandinavischen Raum entworfen hat. Diese Quellen liegen ausnahmslos in kritischen Editionen vor.1 Darüber hinaus wurde dieses Thema zum Schwerpunkt zahlreicher Publikationen gemacht.2 Vernachlässigt wurde dagegen die Bedeutung, die der Pomeranus als Exeget und Theologe erlangte. So zog Hans-Günter Leder vor etwa 15 Jahren in seinem Artikel Zum Stand und zur Kritik der Bugenhagenforschung im Blick auf die bisherige Würdigung des Reformators folgendes Fazit: "Eine gründlichere Bestandsaufnahme zeigt, daß die Bugenhagenforschung keineswegs abgeschlossen ist. Vielmehr muß von einem beträchtlichen Nachholebedarf gesprochen werden. "3 Leders damaliger Appell an die künftige Forschung, "die exegetische und theologische Leistung Bugenhagens gründlich zu untersuchen"4, ist inzwischen mehrfach aufgegriffen worden, so daß man auf eine ansehnliche Reihe von Veröffentlichungen zum Theologen Bugenhagen zurückblicken kann. Erwähnt werden müssen die Untersuchungen von Hans Hermann Holfelder, der sich der Frage gewidmet hat, wie die Genese der reformatorischen Theologie Bugenhagens zwischen 1521 und 1525 zu beschreiben ist.5 Wolf-Dieter Hauschild hat u.a. auf die rechtfertigungstheologischen Fundamente der kirchenordnerischen Aktivitäten hingewiesen6 und zum Verhältnis der Ansätze Bugenhagens und Luthers Stellung bezogen7. Schließlich sei an dieser Stelle die Untersuchung von Anneliese Bieber erwähnt, die sich der Phase
1
Vgl. hierzu die Kirchenordnungen Bugenhagens in der von Emil Sehling begründeten Reihe Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts; vgl. darüber hinaus auch die weiteren Einzeleditionen von Lietzmann, Wenn, Hauschild und Göbell (Literaturverzeichnis). 2 Vgl. zur Übersicht über die bisherige Bugenhagenliteratur die Aufstellung bei LEDER, BUGENHAGEN-LITERATUR s o w i e DERS., STAND 9 7 — 1 0 0 . 3
LEDER, STAND 6 7 .
5
V g l . HOLFELDER, TENTATIO; DERS., SOLUS CHRISTUS; DERS., BUGENHAGEN; DERS.,
4
A.a.O. 74.
VERITAS. 6
V g l . h i e r z u HAUSCHILD, BIBLISCHE THEOLOGIE; v g l . a u c h SEILS, GLAUBE; WOLF,
GEMEINDE; DERS., ORDNUNG; LEDER, STAND 7 8 f . 7
V g l . HAUSCHILD, ENTWICKLUNG.
12
Einleitung
des theologischen Umbruchs im Belbucker Kloster um 1520 anhand einer Analyse des handschriftlichen Matthäuskommentars gewidmet hat.8 Die hier vorliegende Arbeit versteht sich als Versuch, die durch Leder formulierte Forderung nach der Berücksichtigung des Theologen Bugenhagen erneut aufzugreifen; dabei sollen die Ergebnisse der jüngsten Bugenhagen-Forschung verglichen und anhand der inhaltlichen Analyse einer zentralen Schrift des Reformators kritisch überprüft werden. Als Gegenstand der Untersuchung wurde ein Werk des Pomeranus gewählt, das schon früher als dessen "Programmschrift"9 bezeichnet und zur "Skizzierung seiner Position herangezogen"10 wurde: Der Sendbrief an die Hamburger (Van dem Christen louen vnde rechten guden wercken wedder den falschen louen vnde erdichtede gude wercke ...)." Gleichwohl ist festzustellen, daß dieses Werk "insgesamt noch nicht hinreichend erforscht und im Kontext des Gesamtwerkes dargestellt worden"12 ist. Es bietet sich nun aber für ein Vorhaben, das wesentliche Elemente des theologischen Ansatzes Bugenhagens zur Sprache bringen möchte, geradezu an, da der Pomeranus hier in einzigartiger Weise die Kernpunkte seiner Konzeption in einer beeindruckenden systematischen Form darstellt, die viele andere seiner Schriften vermissen lassen. Zudem wurde dieses Werk zu einem Zeitpunkt abgefaßt, für den eine umfassende Profilierung reformatorischer Theologie bei Bugenhagen unbedingt anzunehmen ist — vorausgegangen sind umfangreiche exegetische Aktivitäten, in denen der Pomeranus seinen Ansatz entwickelt und biblisch fundiert —, so daß in dieser Schrift charakteristische Züge des Theologen Bugenhagen zutage treten dürften. Diese Charakteristika sollen aber auch anhand von Vergleichen mit weiteren repräsentativen Werken des Pomeranus (kleineren Traktaten, exegetischen Kommentarwerken, Kirchenordnungen) verifiziert werden,
8 10
V g l . BIEBER, BUGENHAGEN.
9
LEDER, GESTALT 3 0 .
HAUSCHILD, BIBLISCHE THEOLOGIE 6 8 .
11 Die niederdeutsche editio princeps ist auf 1526 datiert; der Untersuchung liegt diese Textausgabe zugrunde. Die hochdeutsche Ausgabe (Wittenberg 1526) wurde im letzten Jahrhundert im Rahmen der Bugenhagenbiographie Vogts neu ediert, vgl. hierzu VOGT, BUGENHAGEN 101—267. Da der niederdeutsche Originaldruck nur schwer zugänglich ist, wird den wiedergegebenen Zitaten und Verweisen die entsprechende Belegstelle aus der Ausgabe Vogts mit dem Siglum V.B. beigegeben. Vgl. zur Interpretation des Sendbriefes
b e r e i t s WOLF, GEMEINDE; HAUSCHILD, BIBLISCHE THEOLOGIE; SPRENGLER-RUPPENTHAL, KIRCHENRECHT; HOLFELDER, SOLUS CHRISTUS; KAHLER, WIRKLICHKEIT; G . MÜLLER, BUGENHAGEN. 12
HAUSCHILD, BIBLISCHE THEOLOGIE 6 8 .
Einleitung
13
um so die Darstellung der theologischen Konturen Bugenhagens anhand einer breiteren Textbasis nachweisen zu können. Das eigentliche Thema des Sendbriefes an die Hamburger stellt das Verhältnis von Glauben und Werken dar; sachlich geht es damit um die Konzeption der Rechtfertigungslehre. Der rechtfertigungstheologische Ansatz des Pomeranus dürfte zu den bedeutendsten Aspekten gehören, die im Zusammenhang einer Würdigung des Theologen Bugenhagen zu beachten sind — zumal hier die Wurzeln für seine Wirksamkeit als Kirchenorganisator zu finden sind. Darüber hinaus bildet dieser systematische Locus aber auch die integrative Mitte für zahlreiche weitere Aspekte, denen im Verlauf der Untersuchung Beachtung geschenkt wird. So dürfen im Kontext reformatorischer Rechtfertigungslehre weder Ekklesiologie und Eschatologie noch die Christologie vernachlässigt werden; eine besondere Berücksichtigung verdient aber auch die Wortlehre. Damit sind wesentliche Elemente reformatorischer Theologie insgesamt benannt, die in der folgenden Untersuchung zur Sprache kommen werden. Ausgespart bleiben dagegen andere systematische Loci wie z.B. die Sakramentenlehre, die einer selbständigen Untersuchung bedarf. Trotz der zentralen Bedeutung, die der Rechtfertigungslehre im Kontext reformatorischer Theologie zukommt, kann es hier also nicht darum gehen, einen Gesamtentwurf der Theologie Bugenhagens zu zeichnen. Eine besondere Beachtung verdient die Frage, wie das Verhältnis des Theologen Bugenhagen zu Luther und Melanchthon zu beschreiben ist. Bislang konnte der Ansatz des Pomeranus einerseits nahezu vollständig mit dem Luthers identifiziert13, andererseits jedoch eine weitgehende Eigenständigkeit behauptet werden.14 Holfelder hat für die ausgereifte Theologie Bugenhagens ab etwa 1524 Parallelen zum geisttheologischen Ansatz Melanchthons postuliert.15 Diesen widersprüchlichen Ergebnissen der bisherigen Bugenhagenforschung wird sich die Untersuchung ausführlich widmen. Ziel soll es dabei sein, die Grundzüge des theologischen Ansatzes Bugenhagens in Gegenüberstellung mit Luther und Melanchthon zu verifizieren, um von hier aus seine besondere wirkungsgeschichtliche Bedeutung zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist auch nach den Ursa-
13
Vgl. z.B. STUPPERICH, BUGENHAGEN 119: "... eine eigentümliche Prägung hat Bugenhagen der reformatorischen Lehre nicht gegeben. Seine Theologie ist die Theologie Luthers, die er in aller Treue festhält... Es ginge zu weit, wollte man von seiner theologischen Eigenständigkeit sprechen." Vgl. auch EGER, GESTALT. 14
V g l . HOLFELDER, TENTATIO.
15
V g l . HOLFELDER, SOLUS CHRISTUS.
14
Einleitung
chen und Quellen etwaiger theologischer Differenzen zwischen Luther und Bugenhagen zu suchen. Neben dem Aspekt der Rechtfertigungslehre wird sich die Untersuchung aber auch einer Frage widmen, deren Beachtung im Zusammenhang der Interpretation des Sendbriefes an die Hamburger unabdingbar ist: Bugenhagens Verhältnis zum römischen Katholizismus. Der Pomeranus entwickelt seine Ausführungen durchgängig in Auseinandersetzung mit der altgläubigen Partei in Hamburg. An erster Stelle muß hier der Dominikaner Augustin von Getelen genannt werden, gegen den sich der zweite Anhang des Sendbriefes explizit richtet. Diese Perspektive nötigt dazu, die konkreten Formen und Inhalte der Konfrontation aufzuzeigen, um Bugenhagens Rechtfertigungslehre, wie sie im Sendbrief begegnet, umfassend zu eruieren. Eine Würdigung des kontroverstheologischen Aspektes kommt zudem nicht umhin, die Inhalte der Auseinandersetzung an den konkreten Gegebenheiten in Hamburg zu messen. Zu fragen ist, an welchen Punkten die Auseinandersetzung mit Getelen gefuhrt bzw. welches Bild des Katholizismus durch Bugenhagen gezeichnet wird; zu vergleichen sind diese Ergebnisse mit den Konturen, die eine Analyse der realen Verhältnisse in der Hansestadt und des spezifischen Ansatzes des Dominikaners Getelen zu ermitteln vermag. Es sei allerdings bereits jetzt darauf hingewiesen, daß in dieser Hinsicht wesentliche Defizite des bisherigen Forschungsstandes aufzuarbeiten sind. Weder die konkrete theologische Situation im Hamburg des beginnenden 16. Jahrhunderts noch die individuelle Gestalt altgläubiger Lehre, die in der Person Getelens begegnet, sind bislang hinreichend dargestellt. Die entsprechenden Abschnitte der Untersuchung gehen daher über das eigentliche Thema der Arbeit hinaus, sind aber als Vorarbeiten für die hier zur Diskussion stehenden Fragen unabdingbar. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in vier Teile. Ein erster Teil widmet sich den Vorklärungen: Zunächst handelt es sich hier um eine Aufarbeitung des bisherigen Forschungsstandes zur Frage der Genese der reformatorischen Rechtfertigungslehre Bugenhagens zwischen 1519 und 1525. Im Zentrum stehen die Arbeiten von Anneliese Bieber, Wolf-Dieter Hauschild und Hans Hermann Holfelder, in denen zum Teil differierende Ergebnisse zu verzeichnen sind, so daß eine kritische Überprüfung einiger Aspekte unvermeidbar wird. Dieser Abschnitt wird fundamentale Interpretationslinien aufzeigen, an denen sich die eigentliche inhaltliche Analyse zu orientieren hat. Darüber hinaus vermittelt der erste Teil aber auch einen Einblick in wesentliche Aspekte der Reformationsgeschichte Hamburgs, um so den historischen Kontext des Sendbriefes aufzuzeigen und
Einleitung
15
die Untersuchung über Bugenhagens Auseinandersetzung mit dem Katholizismus vorzubereiten. Im zweiten Teil soll ein Einblick in Entstehung, Gliederung und weitere formale Gesichtspunkte im Zusammenhang der Abfassung des Sendbriefes geboten werden. Ein solcher Arbeitsschritt ist unbedingt notwendig, soll das Werk Bugenhagens als literarisches Produkt innerhalb eines historischen Kontextes ernst genommen werden. Auch in diesem Abschnitt werden wichtige Ergebnisse angestrebt, die für die inhaltliche Bewertung des Sendbriefes von Bedeutung sind. Der dritte Teil widmet sich der eigentlichen inhaltlichen Analyse des Sendbriefes — zunächst in enger Anlehnung an die eigenen Entfaltungen des Pomeranus, wobei durchgängig Vergleiche mit Melanchthon und Luther gezogen werden. In einem weiteren Kapitel sollen dann aber die rechtfertigungstheologischen Ansätze Bugenhagens und Luthers anhand eines Vergleiches mit dem Freiheitstraktat systematisierend gegenübergestellt werden. Dieser Abschnitt stellt gleichsam eine Zusammenfassung der inhaltlichen Analyse dar, in dem alle wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung ihre Integration erfahren. Der vierte Teil schließlich widmet sich ausführlich dem altgläubigen Prediger, gegen dessen Aktivitäten sich Bugenhagen vornehmlich richtet: Augustin von Getelen. Es existieren zahlreiche Aufzeichnungen des Dominikaners, die in der Forschung bislang nahezu unberücksichtigt geblieben sind. Sie bieten die Möglichkeit, die individuelle rechtfertigungstheologische Position des altgläubigen Predigers der Hansestadt nachzuzeichnen. Diese Analyse könnte darüber hinaus aber auch einen weiteren Aspekt beleuchten: Die Frage nach der generellen Gestalt altgläubiger Theologie in Hamburg um 1525. Getelens theologische Position fügt sich derart in die bislang bekannten Konturen der altgläubigen Geistlichkeit der Hansestadt ein, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit als Paradigma für die Verhältnisse in Hamburg fungieren kann. Dieser Abschnitt ermöglicht somit eine umfassende und an der konkreten Erscheinungsform des römischen Katholizismus in Hamburg orientierte Würdigung der kontroverstheologischen Ausführungen des Pomeranus, der sich die Untersuchung abschließend zuwenden wird.
Teil I: Die Entwicklung der Rechtfertigungslehre Bugenhagens und der Reformation in Hamburg bis 1525 — Vorklärungen
Erstes Kapitel: Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519— 1525 — Kritische Sichtung des Forschungsstandes A. Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Handschrift des Matthäuskommentars und Sendbrief an die Treptower Schüler Philipp Melanchthon gibt in seinem aus dem Jahre 1558 stammenden Nekrolog anläßlich des Todes von Johannes Bugenhagen einen Einblick in die geistigen Grundlagen, die die vorreformatorische Theologie des Pomeranus prägten. Neben der Kirchenväterlektüre nennt er explizit das Werk des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, das auf die Gedankenwelt des jungen Bugenhagen prägenden Einfluß gewinnen konnte.1 Die bisherige Bugenhagen-Forschung konnte diesen Hinweis verifizieren und rekurrierte dabei vornehmlich auf drei handschriftlich erhaltene Quellen aus der Frühzeit des Pomeranus. Zum einen handelt es sich dabei um den Kontakt mit dem Münsteraner Humanisten Johannes Murmellius, den der auf das Jahr 1512 datierte Briefwechsel bezeugt.2 Murmellius dürfte mit seinem Antwortschreiben dem damaligen Rektor der Lateinschule in Treptow den Anlaß gegeben haben, sich mit den Schriften des Erasmus auseinanderzusetzen.3 Die Tatsache, daß Bugenha-
1
Vgl. MELANCHTHON: DE VITA BUGENHAGÜ; CR 21, Nr. 168, 295—307, hier beson-
ders 297f. 2
V g l . VOGT, BRIEFWECHSEL N r . l f , 1—7; v g l . h i e r z u EGER, W E G 125f; LEDER, GE-
STALT 11; HOLFELDER, TENTATIO 1 1 4 — 1 1 6 ; DERS., BUGENHAGEN 6 5 f . 6 8 ; DERS., ARTIKEL BUGENHAGEN 3 5 5 ; HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 8 6 — 8 8 . 3
Vgl. Murmellius' Hinweis auf Erasmus, VOGT, BRIEFWECHSEL 6.
18
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
gen den Briefwechsel 1515 selbst publiziert, verifiziert seine Zuwendung zum Reformprogramm des Bibelhumanismus.4 Die zweite Quelle für die Eruierung der theologischen Konzeption des frühen Bugenhagen stellt seine Geschichte Pommerns, die Pomerania aus dem Jahre 1517/18 dar.5 Die dort enthaltene Auseinandersetzung mit der Erscheinungsform der empirischen Kirche Pommerns und das in Ansätzen entwickelte monastische Reformprogramm weist den Lektor des Belbucker Klosters nun eindeutig als Anhänger jener neuen Bewegung aus, deren Intention mit einer an der Lehre Christi orientierten Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse zu beschreiben ist; die ekklesiologischen Fundamente selbst werden jedoch nicht in Frage gestellt. Schließlich sei auf Bugenhagens Predigt am Peter-und-Pauls-Tag hingewiesen, in der der Pomeranus den Mönchen im Belbucker Prämonstratenserkloster die Heiligen Petrus und Paulus nicht mehr im traditionellen Sinn als Fürsprecher und Heilsmittler vorstellt, sondern auf deren Funktion als Vorbilder für die ethische Existenz hinweist, deren beispielhaftes Leben nachzuahmen sei.6 "Die erasmische Heiligungstheologie kann nach dem Zeugnis der Klosterpredigt von ca. 1519 als der zentrale Punkt von Bugenhagens Lehre gelten. "7 Auf diese frühen Zeugnisse sei an dieser Stelle in summarischer Form hingewiesen, da sowohl ihre Existenz wie auch ihre Bedeutung für die Erfassung der vorreformatorischen Position Bugenhagens seit langer Zeit bekannt sind. Ausführlicher sei dagegen auf eine neue Untersuchung aufmerksam gemacht, die sich einem bislang vollkommen vernachlässigten Zeugnis der frühen Theologie des Pomeranus widmet.
4
Vgl. zur Veröffentlichung MOHNIKE, STUDIEN; vgl. hierzu auch HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 88; zum Begriff des Bibelhumanismus vgl. JUNGHANS, LUTHER 2—4. 5
Die handschriftliche Fassung liegt in einer kritischen Edition vor, vgl. HEINEMANN,
POMERANIA; v g l . a u c h HEINEMANN, ERGÄNZUNGEN; v g l . h i e r z u a u c h VOGT, BUGENHAGEN 1 2 — 1 6 ; HERING, BUGENHAGEN 8 — 1 2 ; EGER, WEG 1 2 6 — 1 2 9 ; LEDER, GESTALT 12; HOLFELDER, BUGENHAGEN 6 6 ; DERS., ARTIKEL BUGENHAGEN 3 5 5 — 3 5 9 ; HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 8 8 — 9 0 ; BIEBER, BUGENHAGEN 1 7 — 1 9 . 6
Der Text ist handschriftlich erhalten: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms.
theol. lat. oct. 41, 58—67 B ; kritische Edition bei FÖRSTEMANN, PREDIGT; vgl. auch VOGT, LIBELLI 13—25; zur Interpretation vgl. HERING, BUGENHAGEN 7f; EGER, WEG 129—132; HOLFELDER, TENTATIO 1 1 6 — 1 2 7 ; DERS., BUGENHAGEN 6 9 f ; DERS., ARTIKEL BUGENHA-
GEN 355.359; HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 90—95; BIEBER, BUGENHAGEN 19—21. 7
HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 9 3 .
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
19
Die Prägung der vorreformatorischen Theologie Bugenhagens durch den erasmischen Bibelhumanismus konnte in der jüngsten Vergangenheit aufgrund der Analyse einer vom Pomeranus stammenden handschriftlichen Kommentierung des Matthäusevangeliums und einer angehängten Passionsund Auferstehungsharmonie endgültig verifiziert werden. Bei diesem exegetischen Werk handelt es sich um Aufzeichnungen Bugenhagens, die auf die Vorlesungstätigkeit im Rahmen seines Amtes als Lektor des Belbucker Prämonstratenserklosters, das er seit 1517 versieht8, zurückgehen dürften. Auf der Grundlage von inhaltlichen Beobachtungen kann die Niederschrift des Textes auf 1519 bis Winter 1520/21 datiert werden.® Nachdem bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Existenz eines solchen Autographen des Pomeranus hingewiesen wurde10, unternahm Anneliese Bieber zum ersten Mal den Versuch einer zusammenhängenden Interpretation; sie verifiziert dabei nicht nur die erasmische Prägung des Pomeranus, sondern kann darüber hinaus auch überzeugend darlegen, daß Bugenhagen im Verlauf der Arbeit an diesem Kommentarwerk "die Auffassungen seines Lehrmeisters Erasmus von Rotterdam hinter sich Iäßt"11 und den Weg zu den theologischen Prämissen findet, die ihm v.a. in Luthers Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium begegneten. Damit vermag Bieber die aus dem 16. Jahrhundert stammende Überlieferung, nach der Bugenhagen durch die Lektüre eben dieser Luther-Schrift zur Reformation fand, endgültig zu verifizieren.12 Die Prägung durch die philosophia Christiana des Erasmus läßt sich an zahlreichen Stellen des Matthäuskommentars feststellen. Bieber verweist auf die einleitenden, ausführlichen Zitate aus der Paraclesis und der Ratio des Humanisten, mit denen sich der Pomeranus explizit zu seinem Lehrmeister bekennt.13 Christus erscheint als himmlischer Lehrer, dessen Inkarnation der Offenbarung seiner Philosophie diente.14 Trotz Berücksichtigung der Gottheit Christi steht der Gedanke seiner Menschwerdung im
8 9
Vgl. hierzu bereits BACKMUND, GESCHICHTE 102. Vgl. hierzu BIEBER, BUGENHAGEN 22f; vgl. hierzu auch bereits HAUSCHILD, AUSEIN-
ANDERSETZUNG 9 6 f . 10
V g l . ALBERTS, BUGENHAGENFUNDE; v g l . später a u c h HELBIG, BUGENHAGEN.
11
BIEBER, BUGENHAGEN 2 1 ; Z u s a m m e n f a s s u n g i n BIEBER, THEOLOGIE.
12
Vgl. a.a.O. 4f; vgl. zur Historizität der alten Überlieferung LEDER, BEGEGNUNG; eine erste Würdigung der Ergebnisse Biebers findet sich bei HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 64-66. 13
Vgl. BIEBER, BUGENHAGEN 27ff.
14
Vgl. a.a.O. 32, 36, 309.
20
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
Zentrum, durch die er der Welt das Heil gebracht hat.15 Sein irdisches Leben ist Vorbild, exemplum für den Gläubigen, der ihm nachzueifern, ihn zu imitieren hat.16 Für das Verständnis des Evangeliums bedeutet dies, daß es zwar auch frohe Botschaft ist; primär aber handelt es sich dabei um "Christi Lehre mit ihren Ansprüchen an eine Verbesserung des christlichen Lebens"17. Die damit verbundene erasmische Rechtfertigungsvorstellung vermag Bieber in einer eingehenden Analyse der Kommentierung der Bergpredigt darzulegen.18 Auch im Zusammenhang der ekklesiologische Konzeption weist Bieber auf die Nähe zu Erasmus hin. Die ecclesia interpretieren Bugenhagen und der niederländische Humanist nicht als Heilsanstalt, sondern als regnum coelorum; sie ist die Gemeinschaft der Heiligen und Reinen, "die ein sittlich einwandfreies Leben führen und deswegen als wahrhafte Christen gelten dürfen"19. In konsequenter Durchführung dieser Ekklesiologie erscheint die empirische Kirche durchgängig in einem kritischen Licht: Ablehnung der zeitgenössischen Predigt20 und der "Geldgier und Tyrannei der Kirche"21, Kritik an der Vernachlässigung der Bildung und der Bevorzugung der kultischen Handlungen vor karitativen Diensten22, Klage über die Vernachlässigung der Seelsorge23 und die grundsätzliche Reformbedürftigkeit des Priesterstandes24. "Bugenhagens Kirchenkritik liest sich über weite Strecken wie ein Exzerpt aus den erasmischen Ausführungen zum Thema. "25 Bieber macht nun aber auch deutlich, daß Bugenhagen aufgrund der Kirchenväterlektüre zu einer gewissen Überwindung der erasmischen Heiligkeitstheologie gelangt. So kommt der Pomeranus aufgrund einiger Zitate aus den Kirchenvätern "über die Vorstellungen von Christus als dem Prediger und nachahmenswerten Vorbild hinaus, von denen die Christozentrik des Erasmus in erster Linie bestimmt ist"26. Christus wird dabei als salvator bezeichnet; durch diese Bestimmung Christi als Heiland kommt der Gesichtspunkt der Erlösung in den Blick.27 Ihren formalen Ausdruck findet diese Orientierung in der Variation der Auslegungsmethode: Mit der Aufnahme von Mt 26 bedient sich Bugenhagen der dem Rotterdamer fremden Gattung der Passions- und Auferstehungsharmonie.
13
Vgl. a.a.O. "Vgl. a.a.O. 21 A.a.O. 41. 24 Vgl. a.a.O. 27 Vgl. hierzu
32, 42. 149ff.
16 19 22 25
171f. a.a.O. 203f.
Vgl. a.a.O. 304, 309. A.a.O. 141. Vgl. a.a.O. 142f, 168. A.a.O. 147f.
17 20 23 26
A.a.O. 308. Vgl. a.a.O. 40, 142. Vgl. a.a.O. 143. A.a.O. 55.
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
21
Im Gegensatz zur vorherigen Auslegung des Matthäusevangeliums, in der ganz im erasmischen Sinne Leben und Lehre Christi im Mittelpunkt stehen, konzentriert sich der Pomeranus nunmehr unter Zugrundelegung aller Evangelien auf Christi Passion als Ursache der Erlösung: "Auf die Erlösung kommt es an: Quid enim profuisset viam ostendisse, nisi earn quoque aperuisset, quae hactenus ob peccatum clausa fuerat?M28 In diesem harmonistischen Teil "läßt Bugenhagen die erasmische Philosophie Christi ... hinter sich, weil es ihm letzten Endes nicht nur um eine neue Erkenntnis und ein neues Verhalten geht"29. Im Zentrum steht die Frage nach der Erlösung, nach dem Heil des Menschen. Eine ähnliche Tendenz bemerkt Bieber bereits in der Auslegung von Mt 7,8. Hier widmet sich Bugenhagen dem Problem, ob das Gebet des unreinen Beters erhört wird. Unter Rückgriff auf Pseudo-Chrysostomus führt der Pomeranus aus, jeder Gläubige — sei er Sünder oder Gerechter — dürfe vertrauend auf die Gebetserhörung hoffen; zurück tritt der Gedanke, daß allein die Frömmigkeit zur Gebetserhörung verhilft. "Bugenhagens Ansatz der Heiligkeitstheologie wird hier durchbrochen von einer Auffassung, in der die menschlichen Voraussetzungen für den Empfang des Heils hinter der Betonung von Gottes Heilswillen zurücktreten."30 Aufgrund dieser Beobachtung gelangt Bieber zu der Vermutung, daß für Bugenhagen "die Selbstverständlichkeit, mit der die Aufnahme von Christi Lehre und die Erfüllung seines Gesetzes als möglich gilt, auch brüchig werden könnte"31. Die gleiche Orientierung findet sich in der Exegese von Mt 20,1—16, in der sich Bugenhagen der Exklusivpartikel sola gratia bedient.32 Bieber verdeutlicht, daß sich der Pomeranus hier mit der zeitgenössischen Frömmigkeit auseinandersetzt, die sich auf "Gesetzmäßigkeiten"33 beruft, aufgrund derer man einen Anspruch auf Belohnung erheben zu können meint. "Bugenhagen setzt dagegen die Gleichnisauslegung, wonach derjenige Gott besser gefällt, der weiß, daß er allein aus Gnaden das Heil empfängt. "M Im Gegensatz zum erasmischen Verständnis der Gnade, das eine "schritt-
28
BIEBER, BUGENHAGEN 6 2 ; Zitat a u s HANDSCHRIFT DES MATTHÄUSKOMMENTARS 1 5 6 .
29
BIEBER, BUGENHAGEN 117; vgl. hierzu auch HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 65: "Zentral
ist für Bugenhagen die Inkarnation als Begründung des Heils, wobei die — vor allem durch die Kirchenväterlektüre geprägte — Vorstellung von Christus als salvator zu einer Korrektur der erasmischen Heiligkeitstheologie führt." 30
32
BIEBER, BUGENHAGEN 1 8 0 f .
31
A.a.O.
Vgl. zum folgenden a.a.O. 207ff.
33
A.a.O. 211.
185. 34
Ebd.
22
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
weise Annäherung an das Gute für möglich"35 hält, ist in der Auslegung des Pomeranus impliziert, "daß das ganze Heil in einem Akt göttlicher Barmherzigkeit verliehen wird"36. Mit dieser Betonung des voraussetzungslosen Empfanges der Gnade "ist der Umschwung vom Reformer zum Reformator vorgezeichnet"37. Zugleich mit dieser Annäherung an die reformatorische Gnadenlehre betont Bieber aber auch, "daß das sola gratia in der Auslegung von Mt 20,1—16 auf Bugenhagens eigene Interpretation zurückgeht. Im Hintergrund stehen altkirchliche Auffassungen ... "38 Mit Recht wertet die Verfasserin diese Ausführungen somit als präreformatorische Elemente innerhalb der Theologie Bugenhagens. Der Pomeranus sucht bereits vor der eigentlichen Rezeption reformatorischer Theologie innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden patristischen Auslegungen nach Möglichkeiten, dem an der Realität des neuen Gnadenstandes zweifelnden Gläubigen zur Gewißheit des Gnadenempfanges ohne vorhergehende Leistungen zu verhelfen. Die erasmische Heiligkeitstheologie vermag hier keine Hilfen anzubieten, so daß Bugenhagen im Matthäuskommentar auf der Suche nach einem Ausweg zu sein scheint. Daß Bugenhagen diesen Weg gefunden hat, wird im Zusammenhang der Frage, ob Judas am letzten Mahl teilgenommen hat, deutlich, in der der Pomeranus entgegen seiner ursprünglichen Entscheidung (mit Hilarius von Poitiers und gegen zahlreiche andere Kirchenväter: Judas habe vor der Einsetzung des Abendmahls den Raum verlassen)39 am 28. März 1522 — also bereits in Wittenberg — zugesteht, daß Unwürdige am Abendmahl teilnehmen können.40 Zugleich stellt er die Fußwaschung hinter den Bericht über die Einsetzung des Altarsakraments und betont damit im reformatorischen Sinn die voraussetzungslose Gabe im letzten Mahl, die keiner Vorbereitung des Empfängers bedarf. Bieber ist aber nicht nur in der Lage, anhand dieser sekundären Bemerkung den Weg Bugenhagens zu Luther zu beschreiben, sondern findet bereits in den Ausführungen des Matthäuskommentars selbst zunächst erste Hinweise auf eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Problemen, die Luther aufgeworfen hatte; darüber hinaus eruiert sie vorsichtige Stellungnahmen zugunsten des Wittenberger Reformators, um schließlich sogar eine eindeutige Parteinahme für Luther ausmachen zu können.
35 38
A.a.O. 211. A.a.O. 211.
36 39
Ebd. Vgl. a.a.O. 88.
37 40
A.a.O. 213. Vgl. a.a.O. 92.
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
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Im Zusammenhang der Kritik der empirischen Kirche erfleht Bugenhagen einen Mann, der für das Haus Gottes kämpft.41 Dabei führt er aber auch aus, daß es schon einen solchen Mann gibt; er wird als Arbeiter am Wort Gottes definiert, der die Wahrheit sagt und von der kirchlichen Obrigkeit verfolgt wird. Bugenhagen überbietet hier nicht nur die Radikalität der Kirchenkritik des Erasmus, sondern dürfte zudem eine erste vorsichtige Stellungnahme zugunsten Luthers formulieren. Dies schließt jedenfalls Bieber: "Wahrscheinlich handelt es sich bei diesem Abschnitt nicht um ein Gedankenspiel, was mit einem Reformator geschehen würde, sondern um den Ausdruck von Hoffnungen und Ängsten, die sich an Werk und Schicksal Luthers knüpfen. "42 Ähnlich beklagt Bugenhagen in der Auslegung von Mt 24,15—28 die Bedrohung der Kirche.43 Der Antichrist wird — gegen Hilarius und Ambrosius — nicht aus den Juden, sondern aus der Kirche selbst erwartet. Den Zeitpunkt dieser Ankunft sieht Bugenhagen unmittelbar bevorstehen. Im Gegensatz zu Luthers Ausführungen in De captivitate identifiziert Bugenhagen aber noch nicht den Papst mit dem Antichristen, so daß Bieber zu der Vermutung gelangt, der Pomeranus kenne zum Ende der Auslegung des Matthäusevangeliums diese Schrift Luthers noch nicht.44 "Man kann aber annehmen, daß er vom Kampf Luthers gegen Rom weiß und daß er die Menschen, die sich nach seiner Ansicht den christlichen Titel anmaßen, durchaus auch in Rom sieht.1,45 Schließlich verweist Bieber auf eine Scholie über die Sünde gegen den Heiligen Geist, in der "Zeitgenossen gewarnt werden sollen, die bewußt gegen die Wahrheit kämpfen"46. Dieser Kampf um die Wahrheit finde gegenwärtig statt.47 In den weiteren Ausführungen macht Bieber deutlich, daß der Pomeranus hier möglicherweise die Auseinandersetzung um die Person Martin Luthers vor Augen hat, so daß sie ihre Vermutung, die sie im Zusammenhang der Auslegung von Mt 24 äußert, bestätigt sieht: "Bugenhagen nimmt Stellung für den Wittenberger Reformator. "48 Oben wurde bereits erwähnt, daß Bugenhagen mit Mt 26 die Auslegungsmethode wandelt und die Passions- und Auferstehungsgeschichte in einer — auf der Textgrundlage aller Evangelien basierenden — harmoni-
41 43 45
Vgl. hierzu und zum folgenden a.a.O. 144. Vgl. hierzu und zum folgenden a.a.O. 146ff. 47 A.a.O. 148. 46 A.a.O. 193f. Vgl. a.a.O. 195.
42 44 48
A.a.O. 144. Vgl. a.a.O. 147f. A.a.O. 198.
24
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
sierten Form wiedergibt.49 Zugleich wurde eine Schwerpunktverlagerung von der Würdigung Christi als eines Lehrers und Vorbilds zu seiner Bedeutung als Heiland der Welt verzeichnet. Im Mittelpunkt der Passionsgeschichte steht nicht mehr der erasmische Gedanke der Heiligkeit des christlichen Lebens, sondern die Zusage des Heils durch die in Christus erfolgte Erlösung. Indiz dieser Umorientierung ist die Beobachtung, daß im Rahmen der Matthäuskommentierung der Auslegung der Bergpredigt die größte Bedeutung zukommt, während in der Passions- und Auferstehungsharmonie das letzte Mahl im Mittelpunkt steht.50 In Bugenhagens Auslegung der Abendmahlsperikopen konstatiert Bieber nun die entscheidende Annäherung an die reformatorische Lehre, die sich schließlich sogar in einer eindeutigen Stellungnahme zugunsten Luthers niederschlägt.51 Dabei beschreitet Bugenhagen den Weg weiter, den er bereits auf der Grundlage der patristischen Exegese eingeschlagen hat. Gegen die erasmische Betonung der Heiligkeit des christlichen Lebenswandels steht dem Pomeranus die Situation des Unwürdigen vor Augen. Ihm empfiehlt Bugenhagen das exklusive Vertrauen auf den Glauben, der zu einer Vorbereitung auf den Empfang der Gnade völlig ausreichend ist und keiner weiteren vorbereitenden Werke bedarf.52 Bugenhagen ist hier offensichtlich von dem Glaubensverständnis beeinflußt, das Luther in seiner Schrift De captivitate entwickelt hat.53 Bieber kann noch weitere Einzelzüge aus dieser Luther-Schrift oder anderen Werken des Reformators ableiten54, die entscheidende Annäherung aber sieht sie in der Würdigung des Glaubens, dem mit der Annahme des Sakraments, das als Testament Christi gedeutet wird, auch die Annahme der Gnade verheißen ist.55 "Sola fides requiritur qua creditur in hoc testamento dei promissioni: Sine qua fide caetera opera peccata sunt. "56 Bugenhagen weist alle vorbereitenden Werke zugunsten der exklusiven Bedeutung des Glaubens zurück. Auch im weiteren Kontext benutzt er wiederholt die reformatorischen Exklusivpartikel: "Sola ergo hie fides dignum facit ex sola dei miseratione, et infidelitas facit indignum. "57 "Bugenhagen faßt hier zusammen, was Luther in DE CAPTI-
49
Vgl. oben S. 20f.
50
Vgl. hierzu BIEBER, BUGENHAGEN 23.
51
Vgl. zum folgenden a.a.O. 215ff. Vgl. hierzu a.a.O. 229f. Vgl. a.a.O. 237ff.
52
Vgl. a.a.O. 222f. Vgl. z.B. a.a.O. 237f, 273ff u.ö.
53 55
54
56
HANDSCHRIFT DES MATTHÄUSKOMMENTARS 178 B , v g l . BIEBER, BUGENHAGEN 2 4 0 .
57
HANDSCHRIFT DES MATTHÄUSKOMMENTARS 1 7 8 , v g l . BIEBER, BUGENHAGEN 2 4 1 .
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
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VIT ATE zu Gebrauch und Mißbrauch der Messe, würdiger und unwürdiger Vorbereitung darauf schreibt. "58 Mit der Konzentration auf den Standpunkt des Sünders beim Sakramentsempfang hat Bugenhagen die Frage nach der Heilsgewißheit im Blick. Dies wird abschließend deutlich, wenn er den Glauben als "Voraussetzung für die Erlangung des Friedens"59 definiert. Mit der Übernahme des Gedankens der pax conscientiae befindet sich Bugenhagen unmittelbar am Kernpunkt des Anliegens reformatorischer Theologie. Dabei zitiert er nun einen umfangreichen Abschnitt aus Luthers De captivitate wörtlich, in dem der Wittenberger Reformator die exklusive Bedeutung des Glaubens für den würdigen Empfang des Sakramentes postuliert und allein diesem Glauben die pax conscientiae zuspricht.60 Auch wenn das Zitat ohne eine explizite Nennung Luthers eingeführt wird, dürfte doch deutlich sein, daß sich Bugenhagen in seiner Auslegung des letzten Mahles "klar auf die Seite Luthers"61 stellt und den Weg zur reformatorischen Theologie gefunden hat. Obwohl auch in den nachfolgenden Erörterungen noch traditionelle Aussagen begegnen, die den Ausführungen Luthers aus De captivitate nicht folgen62, wird deutlich, daß Bugenhagen auf das im Gegensatz zum erasmischen Heiligkeitsoptimismus stehende Problem der bleibenden Infragestellung des Gläubigen durch die gegenwärtige Sünde eine Antwort gefunden hat. Sie führt ihn auf dem Weg weiter, den er auf der Grundlage der patristischen Exegese eingeschlagen hat.63 Das Vertrauen auf Christus als Erlöser und die in seinem Wort begegnende
58
BIEBER, BUGENHAGEN 2 4 2 ; v g l . hierzu a u c h HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 6 5 : Für Bu-
genhagens Deutung des Abendmahles sei "nicht der Vollzug des Sakraments, sondern der Glaube des empfangenden Subjekts, mit dem dieses Christus anhängt, entscheidend ...; allein dieser Glaube rechtfertigt, und zwar ohne jegliches vorangehendes Verdienst. Von dorther kann Bugenhagen das ihn bedrängende Problem der Würdigkeit des Sakramentsempfangs lösen: Würdig ist, wer im Vertrauen auf Christi Wort die Sündenvergebung als Frucht des Sakraments annimmt." 59
BIEBER, BUGENHAGEN 2 8 1 .
60
V g l . a . a . O . 2 8 2 ; v g l . d a z u LUTHER: DE CAPTIVITATE BABYLONICA ( 1 5 2 0 ) , W A 6;
526,26-33.
• 61 BIEBER, BUGENHAGEN 312. 63
82
Vgl. a.a.O. 282ff.
Insofern ist das bisherige Urteil, nach dem der Reformator Bugenhagen völlig andere Wege gegangen ist als der Lektor im Belbucker Kloster, zu revidieren; vgl. z.B. EGER, WEG 124: "Dieser Weg [sc. zu Luther] war für ihn [sc. Bugenhagen] keine Fortsetzung des bisher begangenen, auch nicht ein Fortschreiten über ihn hinaus, etwa so wie der Mann über das Kindesalter hinausschreitet und ablegt, was kindlich ist."
26
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
gnadenhafte Zusage des Heils bildet das neue Zentrum, das den um seine Würdigkeit ringenden Sünder zur Annahme des Heils allein durch den Glauben ohne vorhergehende Werke befreit. Dieser Weg ist von Bieber überzeugend aufgezeigt worden; ihrer abschließenden Bemerkung, daß es sich bei der Handschrift des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie um "ein einzigartiges Zeugnis einer Theologie in der Entwicklung hin zur Reformation"64 handelt, muß voll zugestimmt werden.65 Gleichwohl steht im Matthäuskommentar noch Neues und Altes nebeneinander. So vermeidet es Bugenhagen auch, im Rahmen des harmonistischen Teils seine früheren Äußerungen zu korrigieren. Offensichtlich ist er sich der Tragweite seiner neuen Erkenntnisse noch nicht umfassend bewußt.66 Diese letztgültige Einsicht in die Bedeutung der neuen Wahrheit tritt erst in einem weiteren — erneut nur handschriftlich überlieferten — Text aus der Anfangszeit seines Wittenberger Aufenthaltes zutage: Dem Sendbrief an die Treptower Schüler.67 Dieses Zeugnis wird übereinstimmend als "erste[s] Dokument der gewandelten Theologie Bugenhagens"68 gewürdigt; es "markiert die eindeutig nachweisbare prinzipielle Abkehr von erasmischer Heiligkeitstheologie und die Hinwendung zum gekreuzigten Christus als dem alleinigen Grund des Heils"69.
64
BIEBER, BUGENHAGEN 3 0 7 .
65
Vgl. auch bereits HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 97: "Diese früheste erhaltene Fassung der Passionsharmonie ist... das erste Dokument der theologischen Wandlung Bugenhagens." 66 Vgl. auch HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 66: "Diese Entwicklung [sc. die Ablösung von Erasmus und die Hinwendung zu Luther] ... ist in vieler Hinsicht unabgeschlossen. Das dürfte der Grund dafür gewesen sein, daß Bugenhagen sich zu Beginn des Jahres 1521 entschloß, zum weiteren Studium nach Wittenberg zu ziehen." 57 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. oct. 41, 49—55b; kritische Edition bei FÖRSTEMANN, SENDBRIEF und VOGT, LIBELLI; deutsche Übersetzung bei ROGGE, BUGENHAGEN 15—47; vgl. zur inhaltlichen Interpretation HERING, BUGENHAGEN 13f; EGER, WEG 1 3 2 f ; KAHLER, VERHÄLTNIS 1 1 3 — 1 1 6 ; LEDER, GESTALT 14f; HOLFELDER, TENTATIO
127—132;
DERS.,
BUGENHAGEN 7 0 — 7 2 ;
DERS.,
ARTIKEL
BUGENHAGEN
3 5 6 . 3 5 9 ; BEINTKER, REFORMATOR 547f; HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 99—103. 68
KAHLER, VERHÄLTNIS 113; vgl. hierzu auch HOLFELDER, TENTATIO 128, Anmerkung
65: "Mit Recht hat E. Kähler ... in Anlehnung an die ältere Literatur seit C.E. Foerstemann, das Sendschreiben als 'das erste Dokument der gewandelten Theologie Bugenhagens' bezeichnet." Vgl. auch LEDER, GESTALT 14f. ® LEDER, GESTALT 14.
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
27
Trotz der Tatsache, daß der Sendbrief zum Thema zahlreicher Untersuchungen zur reformatorischen Theologie des Pomeranus gemacht wurde70, fehlte bislang eine eingehende inhaltliche Analyse, die sich der Frage nach dem Verhältnis der theologischen Ansätze Bugenhagens und Luthers zueinander widmet.71 Dieses Defizit wurde erst vor kurzem durch Wolf-Dieter Hauschild aufgearbeitet, der eine ausführliche Interpretation der rechtfertigungstheologischen Konzeption Bugenhagens im Sendbrief vorlegte und dabei ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis der rechtfertigungstheologischen Positionen Luthers und Bugenhagens richtete.72 Zunächst vermag Hauschild im Zusammenhang der in der Vergangenheit strittigen Frage der Datierung des Sendbriefes73 deutlich zu machen, daß der Text nach der Ankunft Bugenhagens in Wittenberg im Frühjahr 1521 abgefaßt wurde. Der Brief dokumentiert nun eindeutig die Parteinahme Bugenhagens zugunsten des Wittenberger Reformators. Zwar ist sein persönliches Urteil über Luther recht vorsichtig formuliert74, doch Hauschild macht deutlich, daß der Pomeranus eben "keine direkte, vordergründige Werbung für den umstrittenen Reformator"75 beabsichtigt, sondern "das Augenmerk seiner Treptower Schüler auf die Sache, um die es in dem großen Konflikt geht"76, lenken möchte. Seine Empfehlung der Lektüre einiger Luther-Schriften verifiziert die Hinwendung zur Reformation, handelt er damit doch den Verboten der Bannandrohungsbulle ein-
70 71
Vgl. hierzu oben S. 26, Anm. 67. Erste Annäherungen an diese Frage begegnen allein bei KAHLER, VERHÄLTNIS und
EGER, W E G . 72
Vgl. zum folgenden HAUSCHILD, ENTWICKLUNG; vgl. hierzu auch bereits HAU-
SCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 9 9 — 1 0 3 . 73
V g l . HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 6 6 — 6 8 ; v g l . h i e r z u FÖRSTEMANN, SENDBRIEF 1 3 9 :
"Mit noch größerem Rechte ist es [sc. das Sendschreiben] ... in die letzten Jahre des Aufenthaltes Bugenhagens in Pommern zu setzen, und zwar in das Jahr 1518 oder 1519." Vgl. auch die in der bisherigen Forschung behandelte Frage, ob Bugenhagen zum Zeitpunkt der Abfassung des Sendbriefes Luthers De captivitate bekannt ist; HERING (BUGENHAGEN 13f) und EGER (WEG 132) datieren den Brief vor die erste Bekanntschaft mit der Luther-Schrift und somit recht früh, während KAHLER (VERHÄLTNIS 114, Anmerkung 12) Anklänge an eben dieses Werk des Wittenberger Reformators konstatieren zu können meint; vgl. hierzu auch HAUSCHILD, AUSEINANDERSETZUNG 109, Anmerkung 61. 74
Vgl. FÖRSTEMANN, SENDBRIEF 147,26: "Igitur de Martine non male sentio ..."
75
HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 6 9 .
76
Ebd.
28
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
deutig zuwider.77 Die positive Stellungnahme für Luther spricht schließlich aus der Tatsache, daß Bugenhagen inhaltlich die Grundzüge der reformatorischen Rechtfertigungslehre entwickelt und diese Position explizit als seine eigene deklariert.78 Damit ist der Übergang von der impliziten Parteinahme zugunsten Luthers in der Handschrift des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie zur expliziten Einreihung in die reformatorische Bewegung vollzogen. Im Anschluß an diese eher grundsätzlich orientierten Ergebnisse wendet sich Hauschild der inhaltlichen Analyse des Sendbriefes zu.79 Er bietet einen Überblick über die zugrundeliegende Disposition80, um sich daraufhin der für unseren Zusammenhang grundlegenden Frage des Verhältnisses zwischen den Ausführungen Bugenhagens und der Konzeption Luthers zu widmen.81 Zunächst macht er dabei anhand einiger Einzelaussagen die Annahme wahrscheinlich, daß der Abfassung des Sendbriefes die Lektüre einiger Luther-Schriften vorausgegangen ist. "Schon aufgrund dieses Sachverhalts ist der Einfluß Luthers nicht zu leugnen.1,82 Wichtiger erscheint aber der sich nun anschließende inhaltliche Vergleich der rechtfertigungstheologischen Positionen Luthers und Bugenhagens. Hier sieht der Verfasser die Annäherung an Luthers Position vollzogen: "Was wenige Monate zuvor in der Matthäusvorlesung erst ansatzweise anklang, ist nun klar formuliert und konsequent durchgeführt." 83 In diesem Zusammenhang bezieht sich Hauschild zunächst auf die christologische Konzeption84 und konstatiert dabei die definitive Abkehr von Erasmus: "Nicht mehr als Lehrer und Vorbild wird Christus benannt, sondern als 'verax': als der in seinem Wort, in Gebot (bzw. Gerichtsdrohung) und Verheißung, gegenwärtig Wirkende, auf den sich der Glaube gründet. Als solcher ist er der 'salvator', weil seine Verheißung den Glaubenden das Heil vermittelt."85 Die Exklusivität der Bedeutung Christi hebt der Pomeranus wiederholt hervor.86 Die Rechtfertigungslehre wird somit christologisch fundiert, denn zugleich mit der nun rezipierten Ablehnung jeder menschlichen Kooperationsfähigkeit am Heil betont Bugenhagen die
77
Vgl. a.a.O. 67; zur Identifikation der von Bugenhagen genannten Luther-Schriften vgl. a.a.O. 79, Anmerkung 27. 78 Vgl. die wiederholte Formulierung in der ersten Person Plural bei FÖRSTEMANN, SENDBRIEF 1 4 8 , 3 2 ; 1 4 9 , 1 . 6 ; v g l . h i e r z u HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 6 8 . 79 81
84
V g l . HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 6 8 f f .
80
Vgl. a.a.O. 70ff.
82
A.a.O. 71.
83
Vgl. zum folgenden a.a.O. 71f.
85
A.a.O. 71.
86
Vgl. a.a.O. 68—70. Ebd.
Vgl. a.a.O. 81, Anm. 42.
Vom Bibelhumanismus zur Reformation — Matthäuskommentar und Sendbrief
29
Externität der Gerechtigkeit, indem er sie mit 1. Kor 1,30 allein Christus zuschreibt, "der 'von Gott uns zur Gerechtigkeit gemacht ist', und zwar als etwas, was 'man in uns nicht finden kann'"87. Hier klingt offensichtlich die Unterscheidung der doppelten Gerechtigkeit an, die Luther in seinen Schriften De duplici iustitia und De triplici iustitia entwickelt hat.88 Bugenhagen rezipiert die Vorstellung der iustitia externa und gründet damit die Erlösung des Menschen nicht mehr in einer dem Gerechten zur Verfügung stehenden, immanenten Qualität, sondern konzentriert die Gerechtigkeit des Menschen völlig in der Externität der Gerechtigkeit Christi. Der zweite Topos, dem sich Hauschild im Rahmen des inhaltlichen Vergleiches der Konzeptionen Luthers und Bugenhagens widmet, ist die Frage nach der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.89 Zunächst konstatiert der Verfasser, daß die terminologische Differenzierung zwar nicht begegnet, wohingegen die sich damit verbindende Vorstellung sachlich in den Ausführungen des Sendbriefes anzutreffen ist. In diesem Zusammenhang verweist er auf Bugenhagens Verwendung der Begriffe comminatio und promissio90, mit Hilfe derer die allgemeinen Termini lex und evangelium anhand konkreter Bibelworte zum Ausdruck gebracht werden. Die Funktion der Unterscheidung beschreibt Hauschild wie folgt: "Das Gesetz führt zur Erkenntnis der Sündhaftigkeit und damit zum Suchen der Gnade."91 "Die promissionis sententiae bewirken Trost des angefochtenen Gewissens und Glauben als Vertrauen gegenüber Gott. ',92 Damit ist die inhaltliche Vorstellung wiedergegeben, die Luther unter Verwendung der Begriffe Gesetz und Evangelium formuliert. Bugenhagen entspricht "Luthers Lehre, die er allerdings nicht einfach reproduziert ..., sondern an der er sich generell orientiert"93. Hauschild kommt so zum Fazit, daß sich der Pomeranus auch in diesem Zusammenhang "faktisch an Luthers Gedanken angelehnt hat"**. Im Kontext dieses Verständnisses von Gesetz und Evangelium sind auch die Gedanken zu interpretieren, die Bugenhagen abschließend zur Frage der guten Werke formuliert.95 Dabei kommt er zu einer "entscheidenden
87 88
A.a.O. 72; zum Zitat vgl. FÖRSTEMANN, SENDBRIEF 152,8f. Vgl. ausführlicher zu diesen Schriften Luthers auch unten S. 376ff.
89
V g l . z u m f o l g e n d e n HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 7 2 — 7 4 .
90
Vgl. a.a.O. 82, Anm. 51. 94 A.a.O. 74. Ebd.
93
92 " A.a.O. 73. Ebd. Vgl. zum folgenden a.a.O. 7 4 - 7 6 .
95
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
30
Korrektur"96 der erasmischen Heiligkeitstheologie, denn das gute Werk erscheint nun nicht mehr als Voraussetzung des Heils, sondern als Konsequenz der durch den Glauben erfolgten gnadenhaften Zusprechung der Sündenvergebung. Über seine Matthäusexegese hinausschreitend entwickelt der Pomeranus ein relationales Verständnis der Gnade97, indem er sie als misericordia interpretiert, die der miseria des Sünders korrespondiert.98 Voraussetzung der Begnadigung ist dann nicht mehr die sittliche Anstrengung, sondern die vera contritio, "die paradox mit traditioneller Terminologie als die entscheidende perfectio ... bestimmt wird"99. Als "Totaldefinition christlicher Existenz"100 beschreibt diese contritio nun aber nicht allein die Negation der menschlichen Fähigkeiten, sondern zugleich die Hinwendung zu Christus, in dem der Glaube zur Sündenvergebung gelangt. "Die Reue ist also nicht bloß im Sinne der Demutstheologie die destruktive Verabschiedung vom natürlichen Menschen durch Zustimmung zum Gericht Gottes, sondern auch positiv die Hinwendung zur Vergebung Gottes (als fiducia) und damit das Fundament des neuen Lebens."101 Hauschilds Interpretation des Sendbriefes an die Treptower macht deutlich, daß Bugenhagen den Weg, den er im Rahmen der Matthäusexegese — besonders im harmonistischen Teil — einschlug, im Frühjahr 1521 nach seiner Ankunft in Wittenberg endgültig zurückgelegt hat. Die erasmische Heiligkeitstheologie, von der allein "Rudimente der alten Begrifflichkeit"102 begegnen, ist grundsätzlich abgelegt. Rezipiert sind zentrale Gedanken der reformatorischen Rechtfertigungslehre, so daß Hauschild das bisherige Urteil der Bugenhagen-Forschung endgültig verifizieren kann, nach dem der Sendbrief an die Treptower ein "deutliches Zeichen für die rasche und tiefgehende Aneignung lutherscher Theologie durch Bugenhagen"103 darstellt. Die hier referierten Ergebnisse Biebers und Hauschilds sind nicht nur im Blick auf die Beschreibung des Weges vom Bibelhumanismus zur Reformation von Bedeutung, sondern sie werfen zudem ein kritisches Licht auf den bisherigen Stand der Bugenhagen-Forschung, die für den Pomeranus mit der Aufnahme der Vorlesungstätigkeit in Wittenberg eine individuelle Genese seiner reformatorischen Theologie proklamiert. Der recht-
96
97
99
100
A.a.O. 74. A.a.O. 75. 102 A.a.O. 76.
Vgl. hierzu oben S. 20. Ebd.
98
V g l . HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 7 5 .
101
Ebd.
103
KAHLER, VERHÄLTNIS 1 1 6 .
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
31
fertigungstheologischen Position Bugenhagens im Zeitabschnitt von 1521—1525 wird sich der nun folgende zweite Teil der kritischen Sichtung des Forschungsstandes widmen.
B. Iustificatio als non-imputatio — Rechtfertigungstheologischer Neuansatz im Psalmenkommentar? Nur wenige Wochen, nachdem Bugenhagen Pommern verlassen hat, um sich in Wittenberg dem Studium der Theologie zu widmen, entfaltet er an seiner neuen Wirkungsstätte eigene exegetische Aktivitäten.1 Zunächst hält er lediglich private Vorlesungen über die Psalmen im kleinen Kreis pommerscher Studenten. Dabei kann er auf frühere Vorarbeiten zurückgreifen, da er sich als Lektor in Belbuck bereits zweimal der Psalmenauslegung widmete. Doch schon bald übersteigt die Anzahl seiner Hörer die ihm zur Verfügung stehenden räumlichen Kapazitäten. Besonders auf Bitten Melanchthons hin verwandelt Bugenhagen die private Vorlesung in eine offizielle Veranstaltung der Universität und erwirbt damit "die volle, sich bemerkenswert rasch vollziehende Integration in den Kreis der Wittenberger Reformatoren"2. Auf Drängen Luthers bearbeitet der Pomeranus seinen Vorlesungstext für den Druck, der somit die erste literarische Frucht seiner exegetischen Arbeiten in Wittenberg darstellt, dem in der Zukunft aber noch zahlreiche weitere Publikationen dieser Art folgen sollten.3 Die Widmung an Kurfürst Friedrich den Weisen datiert vom 30.12.1523, die editio princeps erscheint im März 1524 bei Adam Petri in Basel. Bugenhagens Psalmenkommentar ist von Hans Hermann Holfelder einer eingehenden Analyse unterzogen worden.4 Neben einer ausführlichen Untersuchung unter sprachwissenschaftlichen Aspekten im ersten Hauptteil
1
Vgl. hierzu und zum folgenden GEISENHOF, BIBLIOGRAPHIE 3—5. Vgl. insbesondere auch die ebd., Anmerkung Iff aufgeführten autobiographischen Zitate aus dem Psalmenkommentar Bugenhagens. 2
LEDER, GESTALT 16.
3
V g l . d i e b e i HOLFELDER (TENTATIO 2 , A n m e r k u n g 4 ; SOLUS CHRISTUS 7 — 1 6 ) a n g e -
führten exegetischen Publikationen. 4
V g l . HOLFELDER, TENTATIO; v g l . a u c h DERS., SCHRIFTAUSLEGUNG; DERS., BUGEN-
HAGEN; DERS., ARTIKEL BUGENHAGEN.
32
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
steht dabei im zweiten Hauptteil die Frage nach der rechtfertigungstheologischen Position Bugenhagens während der ersten Jahre seiner Wittenberger Zeit im Blickpunkt. Mit dieser Analyse ist zum ersten Mal die Bedeutung Bugenhagens als Exeget wissenschaftlich gewürdigt worden. Holfelder resümiert abschließend, es sei "überraschend zu sehen, in welcher Eigenständigkeit seines theologischen Denkens gerade in der Entfaltung des rechtfertigungstheologischen Ansatzes Bugenhagen sich von der Theologie der Schriften Luthers entfernt, von jenen Schriften, denen er seit 1520 die alles wendende Dimension seiner Theologie verdankt"5. Ausdrücklich beansprucht Holfelder dabei, einen "in sich stimmigen ... Ansatz"6 der Theologie Bugenhagens entworfen zu haben.7 Den Ausgangspunkt der Darstellung über die rechtfertigungstheologische Konzeption im Psalmenkommentar bildet eine Untersuchung über Bugenhagens Hermeneutik. Ein besonderes Augenmerk wird zunächst auf die Verwendung der Begriffe spiritus und litera gerichtet.8 Trotz der geringen Belegstellen für dieses Begriffspaar müsse die damit "angedeutete hermeneutische Scheidung als selbstverständliches Moment von Bugenhagens Auslegung angenommen werden"9. Holfelder führt in diesem Zusammenhang einige ausgewählte Passagen des Psalmenkommentars an10, aus denen er folgende Beobachtungen ableitet: Bugenhagen identifiziere die geistliche Schriftauslegung nicht im traditionellen Sinne mit der allegorischen und interpretiere den Gegensatz zwischen litera und spiritus auch nicht als Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament; vielmehr bezeichne litera zunächst als "Universalbegriff die Schrift insgesamt"11.
5
HOLFELDER, TENTATIO 1 9 9 .
6
A.a.O. 200.
7
Holfelders Untersuchung wurde in der Bugenhagenforschung überaus positiv rezipiert. So bezieht sich Leder explizit auf Holfelders Arbeiten, wenn er von der eigenständigen Interpretation der Rechtfertigungslehre durch den Pomeranus spricht, vgl. z.B. LEDER, GESTALT 16f; vgl. auchDERS., REZENSION 131: "Um so dankenswerter erscheint, daß ... nun mit der vorliegenden Dissertation H. eine Arbeit existiert, die ... von Gehalt und Niveau her mit Fug und Recht als ein Markstein der Bugenhagenforschung angesehen werden kann." Vgl. auch DERS. , STAND 75ff. Kritische Bemerkungen finden sich allerdings bereits bei G. KRAUSE, REZENSION; hingewiesen wird dabei auf die in der theologischen Interpretation eingeschränkte Quellenbasis und die ausschließliche Orientierung an der LutherInterpretation Bayers, vgl. a.a.O. 412, 414. 8
10 11
V g l . HOLFELDER, TENTATIO 1 4 3 f f .
9
A.a.O.
144.
Zur Auswahl der zugrunde gelegten Texte vgl. a.a.O. 143f, Anmerkung 119. A.a.O. 150.
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
33
Mit dem Begriff spiritus werde dagegen der "Bereich des Verstehens"12 der Schrift angedeutet. Im Blickpunkt steht in der terminologischen Differenzierung von spiritus und litera somit "das Verstehensproblem innerhalb der ganzen Schrift"13. Eine Fähigkeit zum Verstehen spreche Bugenhagen dem animalis homo ab, der den Buchstaben zwar sehen, lesen, schreiben und hören, nicht jedoch eine Einsicht in seinen Inhalt erhalten könne.14 Verstehen sei dagegen allein dem spiritualis homo vorbehalten, dessen Verständnis nun jedoch keine eigene Dynamis des Menschen darstelle, sondern voll und ganz von der eruditio dei abhänge. Zentraler Begriff für diesen Gedanken sei die wiederholt begegnende Bezeichnung des Gläubigen als θβοδίδακτος .1S Im Kontext dieses Begriffes werde hervorgehoben, "daß es im Menschen selbst keinen seinsmässigen Anknüpfungspunkt für dieses Geschehen [sc. das Verstehen] gibt"16. Vielmehr handele im Bereich des Verstehens allein Gott durch seinen Geist, der die Erkenntnis des Wortes vermittelt.17 Konkreter Ort der Erkenntnis sei die Anfechtungssituation, in der sich "der existentielle Erfahrungsbereich des Angefochtenen als Bereich des Verstehens"18 öffne. Bugenhagen meint mit der Differenzierung von litera und spiritus also das Gegenüber von Schrift und Erkenntnis der Schrift: die Schrift ist unpersönlicher Buchstabe, der für die Existenz des Rezipienten keinerlei Relevanz besitzen kann, da diesem keine natürliche Möglichkeit zur Erkenntnis eignet; die Erkenntnis dagegen ist ermöglicht durch Gottes Geisthandeln in der existentiellen Situation der Anfechtung, das den Inhalt der Schrift für die persönliche Existenz des Menschen fruchtbar zu machen weiß. Notwendige Folge dieser Differenzierung ist die konsequente Unterordnung des Wortes unter die Wirksamkeit des Geistes. Holfelder verweist dabei auf die Auslegung von Ps 42,3, in der Bugenhagen tatsächlich eine bemerkenswerte, sachliche Unterordnung des Wortes unter den Geist formuliert.19 Andeutungsweise kontrastiert Holfelder später die einge-
12
13 A.a.O. 147. A.a.O. 150f. Vgl. a.a.O. 149, dort Zitat aus Bugenhagens Exegese von Ps 70,14—24. 15 16 Vgl. a.a.O. 151f. A.a.O. 152. 17 18 Vgl. a.a.O. 147. A.a.O. 147. 19 Vgl. a.a.O. 152, Anmerkung 140; Holfelders Zitat ist unvollständig, es sei deshalb an dieser Stelle auf der Grundlage der editio princeps (Holfelder bezieht sich auf die spätere Ausgabe des Psalmenkommentars, vgl. GEISENHOF, BIBLIOGRAPHIE Nr. 6) im Zusammenhang wiedergegeben; vgl. PSALMENKOMMENTAR Y2,26—Y2 b ,l: "Spiritus lux est, uerbum 14
34
Bugenhagens Rechtfertigungsichre 1519—1525
schränkte Bedeutung des Wortes bei Bugenhagen mit einem Hinweis auf das spezifisch christologische Verständnis des Wortes Gottes bei Luther und resümiert: "Festzustellen ist dabei, daß in Bugenhagens Wortverständnis der christologische Aspekt nicht die tragende Mitte ausmacht.1,20 Eine weiterreichende Analyse des Verhältnisses von Luthers und Bugenhagens Wortlehre sucht man bei Holfelder jedoch vergeblich. Mit den Ergebnissen, die bislang dargestellt worden sind, bewegt sich Holfelder zunächst allein auf der Ebene hermeneutischer Aspekte, d.h. er hat die Fundamente, auf denen Bugenhagen sein Verständnis der Schriftauslegung aufbaut, deutlich gemacht. In einem weiteren Schritt wendet er sich nun "den theologischen Implikationen einer auf Anfechtungserfahrung zentrierten Psalmenauslegung"21 zu. Dabei versucht er, die hermeneutischen Grundlagen Bugenhagens in einen in sich stimmigen rechtfertigungstheologischen Ansatz zu überführen. Im Mittelpunkt steht die Frage, welches Rechtfertigungsverständnis einer hermeneutischen Konzeption entspricht, die eine eruditio durch Gottes Geist in der Situation der tentatio als exklusive Erkenntnismöglichkeit behauptet. Im Gegensatz zur ausführlich fundierten Untersuchung des Verhältnisses von litera und spiritus beschränkt Holfelder sich in diesem Zusammenhang nun aber weitgehend auf die Analyse eines einzigen Psalms (Ps 31), dessen Summa "in nuce ... den theologischen Ansatz seiner [sc. Bugenhagens] Psalmenauslegung"22 enthalte. Dabei gelangt Holfelder zu dem überraschenden Ergebnis, Bugenhagens Rechtfertigungslehre stehe in einem weitgehend eigenständigen Verhältnis zur Theologie Luthers.23 Bugenhagens Auslegung von Ps 31 entwickelt ausführlich den Begriff der eruditio und verwendet dabei Bestimmungen, denen bereits in der hermeneutischen Konzeption des Pomeranus eine tragende Rolle zukam. Hermeneutische und rechtfertigungstheologische Aspekte werden an dieser
ueritas: sine quibus omnia sunt merae tenebrae et mendacium. Spiritus docet omnem ueritatem ut confundantur omnes spiritus mendaces, Verbum dei est quidem ueritas, quae sola saluat, sed sine luce non est tibi ueritas, non enim credis. Ministerium quidem uerbi per hominem siue per literam uenit ad te, sed non intelliges nisi intus luce dei illustreris ut sis θεοδίδακτος. Ne quaerito ergo inter homines aut in tuo ingenio, ratione et sapientia siue uiribus, quod hic petitur ut ä deo emmittatur, quandoquidem dei est, necesse est ergo ut ex illo fonte fluat." 20 HOLFELDER, TENTATIO 191; vgl. auch ebd., Anmerkung 294: "... Bugenhagen entfaltet nicht sein Verständnis von Wort Gottes spezifisch christologisch, wie das Luther bekanntlich getan hat." 21 22 23 A.a.O. 172. A.a.O. 173. Vgl. hierzu bereits oben S. 32.
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
35
Stelle von Holfelder zu einem Gesamtentwurf der Rechtfertigungslehre Bugenhagens systematisiert. Gottes erudire sei als exklusive Ermöglichung der Erkenntnis das Geschehen, in dem sich Rechtfertigung oder Verwerfung ereigne. "Verstehensgeschehen und Rechtfertigungsgeschehen sind fundamental aufeinander bezogen."24 Holfelder spricht dabei von einer "hermeneutische[n] Akzentuierung des Rechtfertigungsgeschehens"25: Gottes eruditio in der Anfechtung verleihe dem Menschen die Einsicht in die Schrift, mit der sich unmittelbar die Selbsterkenntnis verbinde; Verstehen der Schrift, Anerkennung des eigenen Sünder-Seins und Rechtfertigung fallen als simultane Akte nahezu zusammen. "Ziel und Ende des die Rechtfertigung des Menschen schaffenden Handelns Gottes ... ist das Erkennen und Anerkennen unseres Sünderseins in der forensischen Situation coram deo."26 Folgerichtig stelle die confessio "die Spitze des Verstehensvorganges in der Anfechtung"27 dar; es erfolge "ein Umschlag von der Negation in die Affirmation"28. Das Heil, dessen Gewährung sich hier unmittelbar aus der Erkenntnis des unheilvollen Standes des Sünders ergibt, weise dabei promissionale Strukturen auf.29 "An dem Nullpunkt seines eigenen Seins, wo der Mensch sich ins Nichts gleiten sieht, eröffnet sich das im Gericht verborgene Heil der 'promissiones'."30 Eine solche spezifische Ausprägung der rechtfertigungstheologischen Vorstellungen bei Bugenhagen müßte nun im Blick auf zentrale theologische Topoi Differenzen zwischen Luther und Bugenhagen nach sich ziehen. Holfelder meint dies tatsächlich konstatieren zu können; er greift elementare Begriffe aus dem Zusammenhang reformatorischer Rechtfertigungslehre auf und verwendet sie in der Konfrontation mit dem Ansatz Luthers, um die Grundsätze der Konzeption Bugenhagens zu formulieren. Hier kommt vornehmlich dem Verständnis von Gesetz und Evangelium, der christologischen Konzeption und der spezifischen Interpretation der Rechtfertigung als Nichtanrechnung der Sünden eine tragende Rolle zu. So kenne Bugenhagen zwar die begriffliche Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, differenziere zwischen beiden Aspekten jedoch nicht im Sinne Luthers, sondern interpretiere sie als "ungeschieden in der Wirklichkeit der coram-Relation"31. An dieser Stelle muß sich die von Holfelder beschriebene hermeneutische Akzentuierung des Rechtfertigungsge-
24
27 31
HOLFELDER, TENTATIO 1 7 4 . 28
25
29
Ebd.
26
30
A.a.O.
176.
A.a.O. 178. Ebd. Vgl. a.a.O. 179. A.a.O. 188. A.a.O. 184. Vgl. hierzu auch HOLFELDER, ARTIKEL BUGENHAGEN 359.
36
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
schehens auswirken. Ziel des Gesetzes sei die Anerkenntnis der Sünde durch den Angefochtenen, dem sich im Bekenntnis der Sündigkeit die Möglichkeit zur Berufung auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung eröffne.32 Bugenhagen verstehe diese consolatio als "Umschlag in der Funktion der lex"33, nicht jedoch als das andere Wort Gottes in Christus, das den Sünder aus der Sünde herausreißt und in die neue Gerechtigkeit hineinleitet. "Evangelium ist nicht das gewißmachende Wort und die Gabe des Heils in Christus, es ist vielmehr die im Bittgebet (oratio pro iniquitate sua) zu ergreifende misericordia und Veritas von Gottes pactum.H34 Bei einer solchen Interpretation der Begriffe von Gesetz und Evangelium wäre eine gegenüber Luther deutlich veränderte christologische Konzeption zu erwarten — und in der Tat postuliert Holfelder in diesem Punkt Differenzen zwischen beiden Reformatoren.35 Bugenhagen vertrete im Psalmenkommentar keine Mittlerchristologie, wie es der Theologie Luthers eigen ist, sondern eine Exemplarchristologie. Wie der Pomeranus nicht das Evangelium als gegenwärtige Zusage des Heils an den Sünder interpretiere, so kenne für ihn auch der Glaube nicht "den präsentischen Zuspruch des Heils in Christus dem Mittler, so daß er 'wie Christus seyn heubt / voll und satt' ist, er bleibt vielmehr in der ständigen Bewegung im Angesicht der totalen Sündenbestimmtheit..."36 Christus fungiere nicht als Mittler und Geber des Heils; vielmehr werde das "Kreuz Christi und das Leiden des Christen in der Anfechtung ... in der existentialen Entsprechung von Urbild und Abbild (ut-ita) gesehen"37. "Christus ist das exemplum des Angefochtenen, Anfechtung ist Teilhabe am Kreuzesgeschick Christi."38 Die hier wiedergegebenen rechtfertigungstheologischen Bestimmungen laufen zusammen in der spezifischen Interpretation der iustificatio als nonimputatio peccatorum. Anhand einer Auslegung der Aufnahme von Rom
32
Vgl. hierzu auch HOLFELDER, BUGENHAGEN 74f.
33
HOLFELDER, TENTATIO 1 9 7 .
34
Ebd.; vgl. auch HOLFELDER, BUGENHAGEN 75: "Die Zusage des Heils bleibt in der Erfahrung des Gegenteils gleichsam verborgen." 35 Vgl. hierzu HOLFELDER, TENTATIO 182ff. Vgl. besonders a.a.O. 194: "Der spannungsreichen Einheit von Gericht und Heil in der vicissitudo tentationis et consolationis entspricht eine vom Kreuz her verstandene Christologie." 36
A.a.O.
1 8 4 f ; Zitat a u s LUTHER: V O N DER FREIHEIT EINES CHRISTENMENSCHEN
(1520), WA 7; 35,20f. 37
HOLFELDER, TENTATIO 1 9 4 f .
38
HOLFELDER, BUGENHAGEN 7 5 .
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
37
4,5 innerhalb der Exegese von Ps 31, in der Bugenhagen den Gedanken einer positiven reputatio fidei ad iustitiam tilge, entwickelt Holfelder ein Verständnis der Rechtfertigungslehre Bugenhagens im Psalmenkommentar, das diese allein als durch die Nichtanrechnung der Sünden und somit exklusiv forensisch geprägt definiert; im Gegensatz zur Konzeption Luthers werde die non-imputatio jedoch nicht durch den Gedanken der imputatio fidei ad iustitiam ergänzt.39 Der Glaube sei nicht in der Lage, Gottes Heilszusage in Christus gewiß zu ergreifen, sondern bewege sich ständig zwischen Gesetz und Heilshoffnung und sei "so keine anrechenbare Größe"40. Die Heilshoffnung besitze in den Ausführungen des Psalmenkommentars keine präsentische Perspektive, sondern sei vielmehr auf eine "eschatologische, postmortale Dimension"41 ausgerichtet. In anderem Zusammenhang spricht Holfelder davon, daß Bugenhagens Glaubensbegriff "eine prinzipiell promissionale Ausrichtung"42 besitze. Diese auf den Akt der Nichtanrechnung reduzierte Bestimmung der iustificatio bildet gleichsam den Kulminationspunkt, in dem alle anderen Beobachtungen ihre Integration erfahren. Mit Recht weist Holfelder daher auf die Stimmigkeit seiner Beobachtungen hin.43 Erst im letzten Drittel des Psalmenkommentars vermag Holfelder Veränderungen der christologischen Bestimmungen zu konstatieren, die er durch den Einfluß der zeitlich parallel laufenden Paulusexegese bedingt sieht.44 Dabei handelt es sich vornehmlich um die Aufnahme des Motivs des Mittleramtes Christi, das für alle weiteren Werke des Pomeranus von fundamentaler Bedeutung ist.45 Holfelder stellt die Aufnahme des Mittlerbegriffs erstmals in der Auslegung von Ps 106,23 fest46: Hier wird in Gegenüberstellung zum Mittler Mose, der den Geist nicht verleihen konnte, Jesus Christus unter Aufnahme von 1. Tim 2,5 als exklusiver Mittler bezeichnet.47 Gleichwohl fehle "an dieser Stelle noch die interzessorische Funktion der Mittlerschaft"48, die Bugenhagen erst in der
" V g l . h i e r z u HOLFELDER, TENTATIO 1 7 5 . 1 7 9 . 1 8 8 . 1 9 6 ; v g l . DERS., BUGENHAGEN 7 4 . 40
HOLFELDER, TENTATIO 1 8 8 .
42
HOLFELDER, BUGENHAGEN 7 4 .
43
41
A . a . O . 183; v g l . a u c h a . a . O .
196.
Vgl. HOLFELDER, TENTATIO 200; vgl. hierzu bereits oben S. 32. 45 Vgl. hierzu HOLFELDER, BUGENHAGEN 76ff. Vgl. hierzu unten S. 173ff. 46 Vgl. HOLFELDER, BUGENHAGEN 76: "Bis zu diesem Psalm war bisher im Kommentar der Begriff 'Mittler' überhaupt nicht genannt worden." 47 Vgl. ebd.; vgl. hierzu PSALMENKOMMENTAR DD2 b ,12—18. 44
48
HOLFELDER, BUGENHAGEN 7 6 .
38
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
Exegese von Ps 110 entfalte. So wäre der Pomeranus also sukzessiv während der Endphase seiner Psalmenvorlesung — beeinflußt durch die parallele Auseinandersetzung mit der paulinischen Theologie — zur Rezeption einer Mittlerchristologie und zur Überwindung des exemplarchristologischen Ansatzes gelangt. Ihre endgültige Entfaltung hätte diese christologische Konzeption erst in den Kommentaren zu den kleinen Paulusbriefen sowie zum Römerbrief erfahren, bevor sie als Fundament für die Abfassung des Sendbriefes an die Hamburger dient.49 Gegründet auf dieser christologischen Neuorientierung entfalte Bugenhagen in Paulusexegese und Sendbrief an die Hamburger seit 1524 dann auch einen rechtfertigungstheologischen Ansatz, für den nicht mehr das Verständnis der iustificatio als non imputatio peccatorum im Mittelpunkt stehe, sondern der "im Rahmen der für das reformatorische Selbstverständnis der Wittenberger Theologen leitenden Zuordnung von Glaube und Liebe als ratio christianismi nun den Person- und Weltbezug des Evangeliums vom Heil in Christus zur Sprache bringt"50. Dieses Fazit zieht Holfelder in seiner zweiten grundlegenden Arbeit zur Genese der Theologie Bugenhagens aufgrund einer Analyse des Kommentars zu den kleinen Paulusbriefen, der Auslegung des Römerbriefs und des Sendbriefes. Beeinflußt durch die paulinische Theologie entfalte Bugenhagen den Gedanken, daß der Gläubige zwar immer noch in der Vorläufigkeit gegenwärtiger Existenz lebe, daß aber die Sünde in der Gemeinschaft mit Christus ihre Gewalt eingebüßt habe. So öffne sich ihm nunmehr die Möglichkeit, in der Welt dem Nächsten zu dienen.51 Eitie solche Rekonstruktion der Genese des rechtfertigungstheologischen Ansatzes Bugenhagens ist bemerkenswert, wäre damit doch zugleich die Behauptung aufgestellt, daß der Pomeranus bei der Entwicklung seiner Konzeption ähnliche Wege beschritten hätte wie der frühe Luther. In diesem Zusammenhang ist auf die Arbeiten Kroegers und Bayers hinzuweisen, deren Untersuchungen der frühen Theologie Luthers nahezu wörtlich mit den Ergebnissen übereinstimmen, zu denen Holfelders
49
51
V g l . h i e r z u HOLFELDER, SOLUS CHRISTUS 8 9 f f .
50
A.a.O.
102.
Vgl. ebd.; die neue Perspektive, die Holfelder im rechtfertigungstheologischen Ansatz der Paulusexegese zu erkennen glaubt, sei hier zunächst allein angedeutet. Die Auseinandersetzung mit Holfelders Solus Christus muß dann in der inhaltlichen Analyse des Sendbriefes an die Hamburger geführt werden, da Holfelder für Paulusexegese und Sendbrief eine weitgehende Kontinuität des Ansatzes behauptet.
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
39
Analyse des Psalmenkommentars Bugenhagens gelangt.52 Da die Annahme einer Beeinflussung des Pomeranus durch die frühe Theologie Luthers jedoch "anachronistisch und unbegehbar"53 ist, folgert Holfelder, "daß Bugenhagen in der Konzeption seiner Rechtfertigungslehre eigene Wege gegangen ist"54. Sollte diese Beobachtung zutreffen, so müßte zugleich aber die Einordnung der frühen Theologie Luthers, zu der Bayer gelangt, auch auf den rechtfertigungstheologischen Ansatz Bugenhagens im Psalmenkommentar zutreffen: "... reformatorisch im Sinne dessen, was Luther darunter verstand, ist sie [sc. diese Theologie] nicht."55 Das würde bedeuten, daß weiten Teilen des 1524 gedruckten Psalmenkommentars das Prädikat reformatorisch abzusprechen wäre. Nicht nur aufgrund dieser bemerkenswerten Konsequenz bedürfen die hier dargestellten Ergebnisse der Analyse Holfelders einiger kritischer Anmerkungen. Zunächst ist ausdrücklich festzustellen, daß die Ausführungen, die er über Bugenhagens hermeneutische Grundlagen im Zusammenhang der Verwendung der Begriffe spiritus und litera macht, zutreffend und überzeugend belegt sind.56 Hier dürfte ein Spezifikum der Theologie des Pomeranus zutage gekommen sein; auf die Besonderheit dieser Konzeption gegenüber der Wortlehre Luthers wird allerdings nur am Rande aufmerksam gemacht.57
52
V g l . KROEGER, RECHTFERTIGUNG; BAYER, PROMISSIO; v g l . z . B . BAYER, PROMISSIO
339: "Das äußere, mündliche Wort ist das Wort des Gerichts, das die Entäußerung des Hörers fordert und wirkt. Die Gnade dagegen begegnet nicht als 'das ander wort', sondern allein im Gericht, das in sich in Gnade umschlägt bzw. gleitend in sie übergeht." Vgl. hierzu oben S. 36. Vgl. auch a.a.O. 340: "Die Annahme von widerfahrendem Kreuz und Leiden ist das Existential, das Christus und die Christen zusammenbindet." Vgl. hierzu oben S. 36. Vgl. hierzu auch bereits G. KRAUSE, REZENSION 414. 53
56
HOLFELDER, TENTATIO 198.
54
Ebd.
55
BAYER, PROMISSIO 3 4 3 .
Nicht vergleichbar ist dieser Gedanke mit dem in der frühen Theologie Luthers begegnenden Umgang mit der Schrift, den Bayer als "Meditationsfrömmigkeit" (BAYER, PROMISSIO 341) bezeichnet. Bei Bugenhagen erschöpft sich die Bedeutung des Wortes nicht darin, "den Hörer und Leser in andächtige Betrachtung zu führen und ihm einen bildhaft lebendigen Eindruck zu vermitteln, der sich unmittelbar seiner Seele einprägt" (ebd.). Insofern unterscheiden sich die hermeneutischen Grundlagen Bugenhagens von denen der frühen Theologie Luthers. Daher wird es fraglich, ob die Parallelen zutreffen, die Holfelder im Vergleich der — auf den hermeneutischen Grundlagen erarbeiteten — rechtfertigungstheologischen Position des Pomeranus und der des frühen Luthers postuliert. 57 Vgl. hierzu ausführlich unten S. 285ff.
40
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
Holfelders Sicht der Entwicklung des rechtfertigungstheologischen Ansatzes Bugenhagens in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre muß jedoch neu überdacht werden. Das Unbehagen, das sich mit dem dargestellten Entwurf verbindet, gründet sich zum einen auf der im Vergleich zur Analyse der hermeneutischen Grundlagen recht dünnen Quellenbasis.58 Eine fast ausschließliche Konzentration auf Ps 31 steht in der Gefahr, einzelne Gedanken überzubetonen und gegenläufige Aussagen zu vernachlässigen. Notwendig wäre eine Verifikation bzw. eine Falsifikation der Thesen aufgrund des gesamten — mit fast 800 Seiten doch sehr umfangreichen — Kommentarwerkes. Auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten sind die hier referierten Ergebnisse Holfelders anzuzweifeln.59 Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich nach den neuesten Untersuchungen Bugenhagens Weg vom Bibelhumanismus zur Reformation 1520/21 im Zusammenhang seiner Arbeiten am Matthäuskommentar und der angehängten Passions- und Auferstehungsharmonie in unmittelbarer Anlehnung an Luthers De captivitate vollzieht.60 Hauschild konstatiert dann in Bugenhagens Sendbrief an die Treptower Schüler aus dem Jahre 1521 die Rezeption der zentralen Gedanken der reformatorischen Theologie Luthers und macht damit in Bezug auf Holfelders These auf die Schwierigkeit aufmerksam, "daß Bugenhagen nach einer weitgehenden Übernahme von Luthers Rechtfertigungslehre in der Wittenberger Anfangsphase aufgrund seiner Vorlesungstätigkeit 1522—24 davon wieder abgekommen sei"61. Bereits Holfelder bemerkt die Problematik einer solchen Entwicklung.62 Wie bereits dargestellt63, verifiziert Hauschild seinen Hinweis auf die Schwierigkeiten der These Holfelders anhand einer ausführlichen Analyse des Sendbriefes an die Treptower. Er konzentriert sich auf die dort begegnende christologische Konzeption sowie auf das Verhältnis von Gesetz und Evangelium — also grundlegende Themenbereiche, für die Holfelder im Psalmenkommentar
58
Vgl. hierzu bereits G. KRAUSE, REZENSION 412, 414.
59
V g l . h i e r z u HAUSCHILD, ENTWICKLUNG.
60
61 Vgl. hierzu oben S. 19ff. HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 63. Vgl. HOLFELDER, TENTATIO 197: "Das [sc. die Eigenständigkeit der Rechtfertigungs-
62
vorstellung Bugenhagens im Hinblick auf Luthers Ansatz im Freiheitstraktat] ist um so bemerkenswerter, als Bugenhagen ... gerade durch Luthers Schriften von 1520 auf einen neuen theologischen Weg geführt wurde. Den Anfang dieses Weges erfassen wir in dem rechtfertigungstheologischen Ansatz des Treptower Sendbriefes." 63 Vgl. hierzu oben S. 27ff.
Iustificatio als non-imputatio — Neuansatz im Psalmenkommentar?
41
eine weitgehende Eigenständigkeit Bugenhagens gegenüber Luther postuliert — und stellt für beide Bereiche eine inhaltliche Konvergenz zwischen Luther und Bugenhagen fest.64 Dieser Befund macht eine neuerliche Überprüfung der Ergebnisse Holfelders unumgänglich. Schließlich sei auch darauf hingewiesen, daß die chronologische Rekonstruktion der Vorlesungstätigkeit Bugenhagens, die Holfelder in seiner Analyse zugrunde legt, in Frage zu stellen ist.65 Ihm ging es darum, "die Umformung und den Ausbau der Rechtfertigungsvorstellung der Psalmenauslegung von 1521—23 zu der der Paulusexegese von 1524—25 herauszuarbeiten"66. Aus einer handschriftlichen Notiz, die sich in der Nachschrift des Jesajakollegs Bugenhagens findet, ist jedoch ersichtlich, daß sich der Pomeranus bereits seit 1522 der Exegese der paulinischen Briefe widmet.67 Paulus- und Psalmenexegese haben demnach zeitlich weitgehend parallel stattgefunden. Im folgenden sollen nun einzelne Aspekte der Thesen Holfelders kritisch überprüft werden. Dabei kann es nicht darum gehen, einen Gesamtentwurf der rechtfertigungstheologischen Konzeption Bugenhagens im Psalmenkommentar zu bieten. Vielmehr wird sich die Untersuchung auf die Punkte konzentrieren, denen im Rahmen reformatorischer Rechtfertigungslehre eine fundamentale Bedeutung zukommt, für die Holfelder jedoch eine weitgehende Eigenständigkeit gegenüber der Konzeption Luthers
64
Vgl. HAUSCHILD, ENTWICKLUNG 72: "Deswegen wäre es sehr erstaunlich, wenn Bugenhagen im Psalmenkommentar — etwa zwei Jahre nach dem Sendbrief — eine Exemplarchristologie entwickelt haben sollte. Das wäre dann ein Knick in seiner Entwicklung, der einem konzeptionellen Abstecher momentaner Art gleichkäme (Solus Christus salvator im Sendbrief — Christus exemplar im Großteil des Psalmenkommentars — Christus mediator in der Auslegung ab Ps 106,23 und im Kommentar zu den kleinen Paulusbriefen." Vgl. auch a.a.O. 74: "Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium (die der Sache nach vorhanden ist, aber nicht in begrifflicher Präzision vorgetragen wird), gehört zu den fundamentalen Elementen von Bugenhagens Rechtfertigungslehre. Damit entspricht er Luthers Lehre ..." 65
V g l . h i e r z u HOLFELDER, TENTATIO l f , A n m . 4 ; DERS., SOLUS CHRISTUS 7 f f .
66
HOLFELDER, SOLUS CHRISTUS 1 0 2 .
67
Es handelt sich um eine Nachschrift, die in der Universitätsbibliothek Greifswald aufgefunden wurde; vgl. hierzu LEDER, GESTALT 34, Anmerkung 18; vgl. auch LEDER, ASPEKTE 18f. Das Titelblatt weist folgende handschriftliche Bemerkung auf: "Hoc anno [sc. 1522] Philippus Melanchthon Euangelium Joannis, Joannes Pomeranus ut plerosque Pauli Epistolas et Psalterium, ita Esiam ... praelegerant in Academia Wittembergensi..." (zitiert nach LEDER, GESTALT 34, Anmerkung 18). Bestätigt werden diese Angaben durch Ausführungen Spalatins und Menckens (vgl. ebd.).
42
Bugenhagens Rechtfertigungslehre 1519—1525
postuliert. Es handelt sich um das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, das Verständnis der Christologie und die exklusive Interpretation der Rechtfertigung als non-imputatio peccatorum.
1. Gesetz und Evangelium In Bugenhagens Psalmenkommentar finden sich keine Ausführungen, in denen der Pomeranus in einer solchen systematischen Klarheit und Stringenz die reformatorischen Bestimmungen von Gesetz und Evangelium erläutert, wie sie später in seinem Sendbrief an die Hamburger begegnen.1 Passagen, in denen er die terminologische Differenzierung rezipiert, sind meist recht komplex strukturiert, so daß eine eindeutige Interpretation schwierig erscheint. Dennoch sollen an dieser Stelle einige exemplarische Ausführungen des Psalmenkommentars herangezogen werden, die sich explizit der Begriffe Gesetz und Evangelium bedienen, um so die These Holfelders, nach der der Pomeranus zwar die terminologische Differenzierung kenne, beides aber ungetrennt als eine Wirklichkeit in der Anfechtung vor Gott behandele, zu überprüfen. Entspricht das Schema von Gesetz und Evangelium dem Schema von litera und spiritus, so daß Holfelders Resultat einer hermeneutischen Akzentuierung des Rechtfertigungsgeschehens zwingend ist? Wird das Evangelium als Umschlag in der Funktion des Gesetzes tatsächlich exklusiv promissional dimensioniert, oder muß es nicht vielmehr als präsentischer Zuspruch des Heils verstanden werden? So sind die Fragen zu formulieren, denen sich der nun folgende Abschnitt widmet. Die erste Aufnahme der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium begegnet in der Exegese von Ps 18,3.2 Dort ordnet Bugenhagen beide einander wie Tag und Nacht zu: Das Gesetz sei die Nacht, das Evangelium aber der Tag. 3 Anschließend führt er weiter aus: "Nox praedictio prophetarum, dies exhibitio Christi."4 Scheint sich Bugenhagen hier zunächst allein auf eine heilsgeschichtliche Differenzierung der Zeiten vor und nach Christi Geburt zu beziehen, so entwickelt er im weiteren doch eine generelle, funktionale Unterscheidung zwischen den Begriffen Gesetz
1 3 4
Vgl. hierzu unten S. 186, 227ff. 2 Vgl. PSALMENKOMMENTAR K3,3ff. Vgl. a.a.O. K3,3f: "Nox lex est, Dies autem Euangelium." A.a.O. K3,5.
Gesetz und Evangelium
43
und Evangelium. Die Nacht besitze durchaus ihre eigene Ehre5, die mit der Verkündigung des Gesetzes näher zu bestimmen sei.6 Die Funktion der Gesetzesverkündigung wird wie bei Luther kognitiv definiert: Durch das Gesetz wisse man, was vorgeschrieben sei, doch verhelfe dieser Akt nicht zur Erfüllung der gesetzlichen Forderung; Gesetzespredigt führe somit allein zur Erkenntnis der Sünde (Rom 7,7).7 Die Wirksamkeit der Gesetzesverkündigung wird dabei als exklusives Werk des Geistes beschrieben.8 Der Tag dagegen verkündige nicht allein ein bestimmtes Wissen, sondern stoße auch 'das Wort' aus (eructare).® Hier wird offensichtlich einem rein kognitiven Akt — der Sündenerkenntnis — eine substantielle Zueignung eines Gutes — des Wortes — gegenübergestellt. Näher bestimmt werden die Tage dann als durch die lux evangelica erleuchtet; durch den Überfluß des Heiligen Geistes können sie 'das Wort selbst' herausstoßen. Das Wort als Objekt des durch das Evangelium erhellten Tages wird hier explizit definiert: es ist das Wort des Geistes, das Leben schafft, während Buchstabe und Wissen — gemeint sind Gesetz und dessen erkenntnistheoretische Funktion -