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German Pages 270 Year 2019
Mohammad A. S. Sarhangi Jüdischer Widerstand im US-amerikanischen Kino
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam Redaktion: Werner Treß
Band 45
Mohammad A. S. Sarhangi
Jüdischer Widerstand im USamerikanischen Kino Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft
Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2017 u. d. T. Mythos und Revolte. Die Darstellung des bewaffneten jüdischen Widerstands während des Holocaust im US-amerikanischen Kino Die Dissertation wurde von den folgenden Institutionen gefördert:
ISBN: 978-3-11-060178-7 e-ISBN (PDF): 978-3-11-060472-6 e-ISBN (EPUP): 978-3-11-060213-5 ISSN 2192-9602 Library of Congress Control Number: 2019949739 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für meine Mutter, die durch tausend Gewässer fließen musste, um zu einem Ozean zu werden.
Vorwort „Dann ging ich nach Hause zurück und schrieb ‚Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.‘ Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.“¹ Diese wenigen Sätze, mit denen Samuel Beckett seinen Molloy enden lässt, liefern uns eine poetische Umschreibung jenes komplexen Verhältnisses, auf das sich die Realität zuweilen mit der Fiktion in literarischen oder cinematographischen Werken einlässt oder einlassen muss. Becketts Sätze könnten auch als ein Hinweis oder sogar als Warnung an die Lesenden oder Zuschauenden verstanden werden: Nichts von all dem, was ihr gelesen oder gesehen habt, ist wahr. Vermutlich hat Imre Kertész Becketts warnende Worte genau aus diesem Grund seinem raffiniert konstruierten Roman Liquidation als Motto vorangestellt.² Vielleicht mit dem Unterschied, dass es bei Kertész wohl eher heißen dürfte: All das, was ihr hier lesen werdet, ist zwar nicht wahr, aber darum geht es auch nicht. Die Fiktion, die immer auf Realität gründet, ist auch immer eine Verzerrung derselben: Sie macht uns einen sonnigen Tag als verregnete Nacht vor. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte, denn durch die Verzerrung, Verwandlung, Verdichtung der Realität erschafft die Fiktion eine neue Bedeutungsebene – oder wie Milan Kundera über den Roman schreibt: Die einzige Existenzberechtigung eines Romans besteht darin, daß er einen unbekannten Aspekt des Lebens entdeckt. Und nicht nur das allein, sondern einen Aspekt, den überhaupt nur der Roman entdecken kann. Ein Roman, der nicht einen bislang unbekannten Bereich der Existenz entdeckt, ist unmoralisch. Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.³
Was für den Roman im Besonderen gilt, hat für die Fiktion im Allgemeinen Gültigkeit; ganz gleich, ob es sich hierbei um Epik, Lyrik, Drama oder Spielfilm handelt. Um einen unbekannten Aspekt entdecken zu können, verwandelt Fiktion Tage in Nächte und lässt es dort regnen, wo eigentlich die Sonne scheint – auch dann, wenn Tag und Sonne durch Quellen und Dokumente belegt sind, wie beispielsweise in den vielen Romanen, Theaterstücken und Spielfilmen, die auf Begebenheiten aus der Geschichte des Nationalsozialismus oder des Holocaust basieren. Und genau hier wird es schwieriger mit dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion. Denn beinahe immer, wenn ein/e AutorIn oder RegisseurIn historische Ereignisse oder Persönlichkeiten aus dieser Zeit zum Gegenstand ih Beckett, Samuel: Molloy. In: Beckett, Samuel: Drei Romane. Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose. Frankfurt am Main 2005, S. 243. Vgl. Kertész, Imre: Liquidation. Frankfurt am Main 2003, S. 7. Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. München/Wien 1987, S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110604726-001
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Vorwort
rer/seiner Fiktion macht, wird Kritik laut, und nicht selten werden Debatten angestoßen, die in den Feuilletons führender Medien ausgetragen werden. Diskutiert werden dann bei dieser Gelegenheit oft Fragen hinsichtlich der Grenzen der Fiktionalisierung: Darf der oder die AutorIn oder RegisseurIn das? Darf er oder sie die bekannte Chronologie der Ereignisse umstellen, Personen und Situationen erfinden und diese mit Episoden aus der Ereignisgeschichte vermischen? Aus durchaus nachvollziehbaren Gründen reagiert die Kritik auf Fiktionen, die sich dem Nationalsozialismus oder dem Holocaust widmen, besonders sensibel und streng. Selbstverständlich sind insbesondere hier Sensibilität und Strenge geboten, aber das bedeutet nicht, dass diese Eigenschaften auch immer der Erkenntnis dienlich sind. Es steht natürlich außer Frage, dass es moralische Grenzen gibt, die nicht übertreten werden dürfen. Grenzen des Anstandes, die nicht mit einem lapidaren Verweis auf die Kunstfreiheit abgetan werden können. Die Einhaltung dieser Grenzen ist eine Frage des Respekts vor den Opfern des nationalsozialistischen Terrors. Hinsichtlich der Frage der Fiktionalisierung greift der Begriff der Grenze jedoch etwas zu kurz und ist nicht besonders produktiv. Denn es handelt sich meines Erachtens weniger um eine Grenze, welche die Realität klar von der Fiktion trennt, sondern vielmehr um ein Gleichgewicht zwischen realen (oder historischen) und fiktionalen Elementen, das es zu halten gilt. Die Fragen, die sich aus diesem Bild ableiten lassen, lauten: Wie sehr kann eine durch zahlreiche Quellen belegte und mit Hilfe wissenschaftlicher Akribie weitgehend verifizierte Geschichte verändert, verfremdet oder sogar verzerrt werden, ohne dass dabei die Substanz der Geschichte von fiktionalen Elementen überwogen wird? Und auf der anderen Seite: Wie viel historische Genauigkeit ist nötig, damit zwar die Substanz der Geschichte bewahrt wird, aber der fiktionalen Phantasie noch genug Platz bleibt, um sich nach ihren eigenen Regeln entfalten und dadurch die Gewinnung neuer Erkenntnisse ermöglichen zu können? Von diesem Gleichgewicht und jenen Momenten, in denen es entweder gehalten oder gestört wird, handelt die vorliegende Studie, die ich im Januar 2017 als Dissertation an der Fakultät für Geistes- und Bildungswissenschaften der Technischen Universität Berlin eingereicht habe. Ich möchte an dieser Stelle all jenen danken, die mich in den Jahren, in denen diese Arbeit Gestalt angenommen hat, unterstützt und begleitet haben. Mein erster Dank gilt Stefanie Schüler-Springorum, ohne die es diese Arbeit gar nicht gegeben hätte. Ohne ihre Unterstützung, ihre Geduld und ihre unschätzbaren Ratschläge wäre all das nicht möglich gewesen und vieles weitere undenkbar geblieben. Großen Dank schulde ich ebenso Ulrike Weckel, die mich als Betreuerin vor vielen Fehlern bewahrt hat. Danken möchte ich ihr besonders für die gründliche Lektüre meiner Dissertation, für ihre Korrekturen und Kommentare, die mich vieles gelehrt haben und von denen das
Vorwort
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vorliegende Buch sehr profitiert. Einen besonderen Dank schulde ich auch Michael Wildt, der mich während meines Studiums auf die Idee gebracht hat, Methoden und Theorien aus der Film- und Geschichtswissenschaft miteinander zu kombinieren und damit diese Arbeit inspiriert hat. Einen Teil meines Denkens habe ich bei ihm gelernt. Ich danke dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, das mich über drei Jahre beschäftigt, gefördert und mir die Arbeit an meiner Dissertation ermöglicht hat. Besonders möchte ich mich bei Rainer Kampling, Christina von Braun und Irmela von der Lühe bedanken, ebenso bei Monika Schärtl, Simone Damis, Nadja Fiensch und Viola Beckmann. Danken möchte ich auch den ehemaligen DoktorandInnen der ersten Generation, besonders Sara Han, Arnon Hampe, Markus Nesselrodt und Alina Bothe. Ein Dank geht auch an die zweite DoktorandInnen-Generation, besonders an René Corvaia-Koch und Davide Liberatoscioli. Ganz besonderen Dank schulde dem Zentrum für Antisemitismusforschung, das mich nicht nur mit einem Promotionsstipendium gefördert, sondern mir darüber hinaus ein Zuhause geboten hat. Danken möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich Isabel Enzenbach, Felix Axster, Marcus Funck und Maren Jung-Diestelmeier, die sich sogar die Mühe machten, Teile meiner Arbeit zu lesen. Auch bei Ramona Haubold, Adina Stern, Irmela Roschmann-Steltenkamp, Julijana Ranc, Marija Vulesica, Julika Rosenstock, Michael Kohlstruck und David Ranan möchte ich mich herzlich bedanken. Ebenso danke ich der Technischen Universität Berlin, die die letzte Phase meiner Promotion mit einem Durchstarterstipendium gefördert hat. Ohne dieses Stipendium wäre der Abschluss der Dissertation in der dafür vorgesehenen Zeit kaum möglich gewesen. Ich danke dem Verlag Walter de Gruyter, der mir diese Publikation ermöglicht. Ein großer Dank geht an Werner Treß und Julia Brauch für ihre stets professionelle, stets freundliche und geduldige Betreuung des Manuskripts. Ebenso großen Dank schulde ich Birgit Peters, deren umsichtige und gründliche Korrektur des Manuskripts mich vor vielen Peinlichkeiten bewahrt und deren Kommentare mich so vieles gelehrt haben. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und mich auch bei meiner großen Familie und meinen Freunden für ihre jahrelange Unterstützung bedanken. Ganz herzlich danke ich Soraya Ezati und Siavash Paimanparast sowie Samira und Sami Paimanparast. Ebenso herzlich danke ich Azam und Nasser Dehghani, Pedram und Julia Dehghani,Viasta Vardjavand, Julia Hübner, Aline Reuter, Payam Dehghani, Hannah Gartz, Reza Azimi, Ernst Brandl, Stefan Hermes und Lisa Volpp. Danken möchte ich auch meinem Vater Mansoor Sarshar Sarhangi. Mein größter Dank gilt jedoch – wie sollte es anders sein – meiner Mutter Mahnaz Belgis Ezati und meinem Bruder Puya Sarshar Sarhangi.
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Vorwort
Am Ende möchte ich noch jenen Menschen danken, die mich, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer wieder daran erinnert haben, dass es eine andere Welt gibt. Ich danke Dorothee Glück und Willi Feld, der Familie Altan sowie Zaker Aslami, Farzaneh Ali Zada und ihrer kleinen Nilma. Und genauso danke ich Rajeshwar Singh, Didier Lebrun und Jürgen Rahn. Berlin, Ostern 2019
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Einleitung 1 4 Mythos und Revolte 9 Auf der Suche nach Authentizität Fragestellung, Untersuchungsgegenstand, Quellen
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23 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft Holocaust und Schindlers Liste: Von ersten Annäherungen und 27 Darstellbarkeitsdebatten Der Unmut des Historikers und die Möglichkeiten der Filmfiktion 38
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Jüdischer Widerstand: Tendenzen der Forschung
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52 Uprising: Der Weg der Mythen Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick 56 58 Kapitulation und Besetzung Willkür und Gewalt 62 64 Die Mauern des Ghettos Selbsthilfe und Jugendbewegungen 65 Beunruhigende Nachrichten 67 70 Die große „Aktion“ Bewaffneter Widerstand 72 Der Aufstand im Film: Uprising und das Blow-up der Mythen 75 Heldenreise: Zum dramaturgischen Aufbau von Uprising 77 79 Exposition: Heldenreise Eine Route nach Palästina Bewährung und Rückkehr Wendepunkt 86 Confrontation: „And we will die with honor. Jewish honor.“ Ehre und Verantwortung Wendepunkt Helden und Märtyrer Mehr Denkmal als Geschichtsrekonstruktion Resolution: „Our little nation.“ 106 Der Aufstand Niederlage und Flucht
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Heldenverehrung Fazit: Wozu Helden und Märtyrer?
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121 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte Das Sonderkommando und die Historiographie der Konzentrationslager 124 128 Die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos Die Vermessung der Grauzone 132 133 Theater der Andeutungen Kino des Ausgeliefertseins 139 Bilder und Töne der Gewalt 143 Über das moralische Dilemma der Sonderkommando148 Häftlinge Aufgeschobene Todesurteile 150 153 Unmögliche Entscheidungen Descensus 157 159 Aufstand und Ende Der Wunsch zu überleben 162 Ascensus 169 Fazit: Überleben und berichten oder für die Ehre sterben?
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176 Defiance: Die Verwandlung der Wälder Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung bis zur deutschen Besetzung 180 182 Zeiten und Systeme Die Welt hinter Stankiewicze 183 185 Einbruch der Geschichte: Krieg und Besetzung Lilka Chaja 187 Der deutsche Angriff 189 Der Wendepunkt Das Prinzip des Antagonismus 190 191 Antagonismen in der Story Die Kräfte der Negativität in Defiance 192 194 Überleben als Rache 195 Der Bruder als Gegenspieler: Tuvia und Zus in Defiance Der Weg des Anführers 196 Koalitionen, Rebellionen und das Leben in den Wäldern 198 200 Wachsende Spannungen im Waldlager Die Waldgemeinschaft: Eine neue soziale Ordnung 201
Inhalt
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XIII
In der Waldgemeinschaft Die Zusammenarbeit und das Zusammenleben Das Schicksal der „Malbushim“ 206 Rebellion im Camp Erste Sequenz: Kälte und Hunger Zweite Sequenz: Gerechte Portionen Dritte Sequenz: Wiederherstellung des Gleichgewichts Eine legitime Hinrichtung? 210 Feindbegegnungen Das Gute an der Gewalt 211 Exodus 215 Das letzte Gefecht – gegen den Feind, gegen den Mythos, gegen 217 die Negation der Negation Fazit: Der Held und die Tragödie 219 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos 224 Die Suspension der Authentizität und die Möglichkeiten der 225 Fiktion Die unerträgliche Vergesslichkeit der Mythen 228 Exkurs und Ausblick: Das Kino und die Wirklichkeit der 234 ZuschauerInnen
Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis
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Verzeichnis der Filme Personenregister
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1 Einleitung Between the idea And the reality Between the motion And the act Falls the Shadow (T. S. Eliot) Facts we know because they have happened; fictions we only imagine. (Lawrence L. Langer)
Vielleicht war es tatsächlich kein Zufall, dass die Erinnerungen Alina MargolisEdelmans¹ und Markus Meckls Rezeptionsanalyse des Warschauer Ghettoaufstands² „fast gleichzeitig im Umfeld des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung entstanden bzw. übersetzt worden sind“³, wie die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum in ihrer 2002 veröffentlichten Doppelrezension vermutet. Mit dem Erscheinen von Margolis-Edelmans Als das Ghetto brannte sowie Meckls Helden und Märtyrer im Jahr 2000 wurde deutlich, so Schüler-Springorum, dass sich die Forschung und die Rezeption – „was das Schreiben über den Holocaust betrifft“ – in einem „Übergangsstadium“ befinde: die Erinnerungen der Zeugin „gewissermaßen am Ende der einen Phase“ und die Analyse des Historikers „am Anfang der nächsten“.⁴ Denn während seit einiger Zeit die Formen der Erinnerung an den Völkermord selber Gegenstand historischer Analysen werden, erscheinen gleichzeitig immer noch individuelle Erinnerungen von Überlebenden, die bisher geschwiegen haben oder deren Zeugnisse erst jetzt auf verlegerisches Interesse stoßen. Insofern ist das Buch von Margolis-Edelman vermutlich eines der letzten seiner Art, und ein eindrucksvolles dazu.⁵
Ebenso eindrucksvoll ist Markus Meckl fundierte Untersuchung der Rezeptionsgeschichte des Warschauer Ghettoaufstands, die von einer zentralen und weitreichenden Frage ausgeht: Warum wurde dem Warschauer Ghettoaufstand, der
Margolis-Edelman, Alina: Als das Ghetto brannte. Eine Jugend in Warschau. Berlin 2000. Meckl, Markus: Helden und Märtyrer. Der Warschauer Ghettoaufstand in der Erinnerung. Berlin 2000. Schüler-Springorum, Stefanie: Das Warschauer Ghetto. In: WerkstattGeschichte 33 (2002), S. 114– 116, hier: S. 114. Schüler-Springorum, Ghetto, S. 114 Schüler-Springorum, Ghetto, S. 114 https://doi.org/10.1515/9783110604726-002
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1 Einleitung
aus militärischer Perspektive eher von geringer Relevanz war, nach dem Krieg eine so große Bedeutung beigemessen? Meckl, der die Rezeptionsgeschichte des Aufstands als „eine Geschichte der Kreation eines Heldensymbols und – damit einhergehend – seiner Aneignung für partikulare Interessen“⁶ bezeichnet, kommt zu dem Schluss, dass der hohe Stellenwert, den der Aufstand innerhalb des Gedenkens an den Holocaust eingenommen hat, „in der Form seiner Darstellung [gründet] und nicht in den bloßen ereignisgeschichtlichen Fakten“⁷. Damit spricht der Historiker dem Aufstand keineswegs die Signifikanz ab, sondern verweist lediglich auf die „Diskrepanz zwischen der faktischen Bedeutung und der Beachtung, die der Aufstand nach dem Jahre 1945 erfahren hat“⁸. Doch Meckl widmet sich in seinem Buch nicht nur der „Konstruktion des Warschauer Aufstandsheroismus“⁹, sondern auch dessen Instrumentalisierung sowohl von zionistischer und polnisch-nationalistischer als auch von antifaschistischer Seite.¹⁰ Diesbezüglich konstatiert er: Die Interessen und Ziele, für die der Aufstand funktionalisiert wird, sind unterschiedlich und stehen zum Teil konträr zueinander. Gemeinsam ist ihnen jedoch, daß sie stets das gleiche Bild vom Helden zeichnen. Ein Bild, das eher der literarischen Vorlage eines klassischen Heldenepos als der Geschichte des Warschauer Ghettos entspringt.¹¹
Anfang November 2001 – also kurz nach der Veröffentlichung der Bücher von Margolis-Edelman und Meckl, jedoch noch vor ihrer Besprechung – sendete das US-amerikanische Fernsehen einen zweiteiligen Spielfilm über die Untergrundund Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto sowie den Aufstand vom April 1943. Die Produktion dieses Films mit dem Titel Uprising (Uprising, USA 2001) hatte sieben Jahre in Anspruch genommen; sieben Jahre Recherche, Auswertung von Quellen und Literatur, Zeugengespräche, Drehbuchentwürfe, Produktionsmeetings, Castings, Dreharbeiten und Postproduktion. Jon Avnet, der Regisseur, wollte mit diesem Film eine Geschichte erzählen, die er eigenen Worten zufolge „so noch nie zuvor“ im Kino oder im Fernsehen gesehen habe: „It’s a story of active armed resistance. And that was a story that I had never seen.“¹²
Meckl, Helden, S. 7. Meckl, Helden, S. 7. Meckl, Helden, S. 7. Schüler-Springorum, Ghetto, S. 116. Vgl. Meckl, Helden, S. 47– 62. Meckl, Helden, S. 7. Avnet, Jon (Regie): Breaking Down the Walls: The Road to Recreating the Warsaw Ghetto Uprising. Interview. Auf: Uprising – Der Aufstand, Regie: Jon Avnet, Brooklyn Films 2001, Warner Home Video, Disc 2.
1 Einleitung
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In einem Interview, das im Rahmen der bevorstehenden TV-Premiere aufgenommen wurde, verrät Avnet, dass ihn während der langen Vorbereitungszeit besonders eine Frage umgetrieben habe: „Why where the Jews labeled as passive?“¹³ Den Vorwurf, die Juden hätten sich im Angesicht der Vernichtung passiv verhalten, bezeichnet der Regisseur als „final indignity of the Holocaust“¹⁴. Aus diesem Grund sei sein Film sowohl als ein Plädoyer für das Heldentum der Jüdinnen und Juden¹⁵ anzusehen, die Widerstand geleistet und gekämpft haben, als auch als ein Argument gegen den Mythos der Passivität: „What really moved me when I learned about the story, was that these people fought for honor.“¹⁶ Dementsprechend erzählt Uprising die Geschichte des Warschauer Ghettoaufstands als modernes Heldenepos, innerhalb dessen die Revolte selbst zu einem allgemeingültigen Symbol für Mut und Ehre erhoben wird. Hierbei wird ebenjene Heldensymbolik bedient, die in Helden und Märtyrer kritisiert wird. Dies könnte ein Zufall sein – wenn auch ein bemerkenswerter. Meckls Fragen und Thesen bilden die Grundlage der vorliegenden Arbeit, in dessen Zentrum zwei Themenschwerpunkte stehen: 1. Das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Film bzw. Spielfilm; 2. Rezeption und Repräsentation des bewaffneten jüdischen Widerstands während des Holocaust – insbesondere im US-Kino. Gegenstand der Untersuchung bilden drei US-amerikanische Spielfilme, die in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends entstanden sind und den bewaffneten jüdischen Widerstand zum Thema haben. Die beiden Schwerpunkte sind darüber hinaus durch eine übergeordnete Frage miteinander verbunden: Kann die Fiktion respektive die Filmfiktion, der Geschichtswissenschaft relevante Erkenntnisse liefern und neue Sinnzusammenhänge offenlegen? Im Kontext der Analysen stehen dabei besonders zwei Begriffe im Vordergrund: Mythos und Authentizität. Ausgehend von der Definition der beiden Begriffe soll im Folgenden in die Themenkomplexe sowie in die Arbeitsmethode eingeführt, die Fragestellung präzisiert, die Quellen vorgelegt, der Untersuchungsgegenstand vorge-
Avnet, Breaking, Disc 2. Avnet, Breaking, Disc 2. Bei Bezeichnungen von Personen und Gruppen sind in der vorliegenden Arbeit immer alle Geschlechter angesprochen. Ich werde jedoch aus Gründen der besseren Lesbarkeit zwischen drei Varianten wechseln (jeweils abhängig vom Kontext): 1. Die Nennung beider Geschlechter; 2. Die Verwendung des Binnen-I; 3. Die Verwendung der männlichen Form bei Bezeichnungen, die in der Rezeption – und dies ist in einem besonderen Maße abhängig vom kulturellen und historischen Kontext – stärker männlich konnotiert waren bzw. sind, wie z. B. Helden und Märtyrer. Eine Ausnahme bildet die Bezeichnung der Jüdinnen und Juden als Gruppe, hier werde ich zwischen zwei Varianten wechseln: 1. Verwendung beider Geschlechter; 2. Verwendung der männlichen Form. Avnet, Breaking, Disc 2.
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1 Einleitung
stellt, das Forschungsfeld umrissen und schließlich die Struktur der Arbeit präsentiert werden.
1.1 Mythos und Revolte Der Begriff „Mythos“ stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet in seiner ursprünglichen Form eine Rede, Sage oder Legende.¹⁷ Der Mythos bildet eine eigenständige literarische Gattung und verfügt darüber hinaus über einen sinnund identitätsstiftenden Charakter, der in ein Wertesystem integriert werden kann. Der Schriftsteller Uwe Timm beschreibt den Mythos als „einen Erzählmodus hochverdichteter Sinndeutung. Ein Erzählmodus, der nicht durch verstärkte Begründungszusammenhänge seine Aussagekraft erhält, sondern sinnfällig aus sich spricht und bildhaft ist“¹⁸. Mit dem Erzählen von Mythen, so konstatiert der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, vergewissern wir uns unserer selbst und unseres Ortes in der Welt.¹⁹ Diese Geschichten verfügen über „eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und eine formative Kraft besitzt“²⁰. Der Mythos-Begriff ist sowohl negativ als auch positiv besetzt: Negativ ist er, wenn er als Hinweis auf die Unwahrheit des Erzählten verstanden wird. Dann heben sich Mythen als das bloß Erfundene von der Geschichtsschreibung, von Tatsachenberichten oder sachlich zutreffenden Erklärungen, Deutungen und Sinngebungen ab. […] Positiv ist der Begriff dagegen dort, wo er als Hinweis auf die Wirkung einer Erzählung verstanden wird. Dann zeichnen sich Mythen als solche Geschichten aus, die eine gemeinschaftliche Überlieferung,Verbreitung und Resonanz gefunden haben, so dass sie trotz ihrer Unbeweisbarkeit als Deutungen, Erklärungen und Sinnstiftungen angenommen werden.²¹
Mythen überdauern die Zeit, indem sie mündlich und schriftlich weitererzählt werden. Und während sie auf diese Weise im Gedächtnis der Kulturen zirkulieren, μῦθος („mythos“): „1. Wort, Rede, Erzählung, Gespräch […]; im bes. a. Nachricht, Bericht, Bescheid, Befehl. b. Gedanke, Meinung, Anschlag, Rat. c. Sache, Begebenheit, Geschichte. 2. Gerücht, Erdichtetes, […]. a. Legende, Sage, Mythus. b. (Tier)fabel, Märchen.“ Zit. aus: Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. 9. Auflage, München 1997, S. 512. Timm, Uwe: Mythos. In: Timm, Uwe: Montaignes Turm. Essays. München 2017, S. 33 – 58, hier: S. 40. Vgl. Assmann, Jan: Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen. In: Harth, Dietrich & Assmann, Jan (Hg.): Revolution und Mythos, Frankfurt am Main 1992, S. 39 – 61, hier: S. 47. Assmann, Mythomotorik, S. 47. Jamme, Christoph & Matuschek, Stefan: Handbuch der Mythologie. Darmstadt 2017, S. 12.
1.1 Mythos und Revolte
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transformieren sie sich.²² Die Transformationen wirken sich, wie der französische Ethnologie Claude Lévi-Strauss in seiner Strukturalen Anthropologie schreibt, auf das Gerüst, den Code und die „Botschaft des Mythos [aus], ohne daß dieser aufhört, als solcher zu existieren“²³. Damit wird „eine Art Prinzip der Erhaltung der mythischen Materie [gewährleistet], nach dem aus jedem Mythos stets ein anderer Mythos“²⁴ oder an den Ursprungsmythos angelehnter Mythos hervorgehen kann. Am Beispiel des Mythos des Sisyphos soll im Folgenden der beschriebene Transformationsprozess knapp dargestellt werden. In antiken Texten ist überliefert, dass der gerissene und zuweilen skrupellose Sisyphos – zu Lebzeiten König von Korinth – sich den Zorn des Gottes Zeus durch einen Verrat zugezogen habe.²⁵ Zeus habe Sisyphos daraufhin sprichwörtlich den Tod in der Gestalt des Gottes Thanatos geschickt. Dem König von Korinth sei es jedoch gelungen, den Gott des Todes mit Hilfe eines „Zaubersessels“ zu überwältigen und zu fesseln. Anschließend soll er von Hermes in die Unterwelt geleitet worden sein, wo er sich jedoch nicht sehr lange aufgehalten habe. Denn durch eine weitere List, für die er das Wohlwollen seiner Frau missbraucht haben soll, sei er dem Hades wieder entstiegen.²⁶ In der griechischen Antike galt Sisyphos aufgrund seiner Taten sowohl als „gerissener Schelm“, als auch als „skrupelloser Schurke“.²⁷ Doch welcher seiner Verfehlungen letztendlich ausschlaggebend für die Strafe gewesen sein mag, die er nach seinem natürlichen Tod in der Unterwelt verbüßen musste, ist nicht ganz geklärt, da in den antiken Texten diesbezüglich keine Einigkeit herrscht.²⁸ Die Taten des Sisyphos sind weniger bekannt als die Strafe, die über ihn verhängt wurde. Auch Homer berichtet in seiner Odyssee lediglich von der Buße des Frevlers. Im elften Gesang durchwandert der verirrte Seefahrer Odysseus die Unterwelt, wo er dem einstigen König begegnet und dessen Leid beschreibt: Sisyphos auch bekam ich zu sehen. Er wälzte in schwerer Mühsal mit beiden Armen einen gewaltigen Felsblock. Angestrengt stemmte er gegen den Stein sich mit Händen und Füßen, schob ihn den Hügel hinan. Doch wollte er über den Gipfel eben ihn stoßen, dann trieb ihn zurück die beharrende Schwere; wieder zur Ebene abwärts rollte der schamlose Felsblock.
Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie II. Frankfurt am Main 1992, S. 287. Lévi-Strauss, Anthropologie II, S. 287. Lévi-Strauss, Anthropologie II, S. 287. Vgl.Walther, Lutz (Hg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Stuttgart 2009, S. 237. Vgl. Walther, Mythen, S. 237. Vgl. Walther, Mythen, S. 237. Vgl. Walther, Mythen, S. 236 – 237.
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1 Einleitung
Sisyphos aber begann ihn aufs neue zu wälzen, sein Körper triefte von Schweiß, und über dem Haupt stieg Staub in die Höhe.²⁹
Dies scheint die logische Strafe für jemanden darzustellen, der zu seinen Lebzeiten danach strebte, sich stets einen Vorteil zu verschaffen. Nach seinem Tod wurde er daher dazu verdammt, eine sinnlose Arbeit zu verrichten. Das Bild des Sisyphos, der einen Marmorblock einen Berg hinaufwälzt, wurde zur Metapher für unnütze Mühen. Doch diese Deutung hat sich erst im Verlauf der Zeit – im Zuge der Rezeptionsgeschichte – etabliert. In der griechischen Antike war das Interesse für den gerissenen König ebenso groß wie für den Sisyphos der Unterwelt. In der römischen Antike hingegen wurde der Fokus stärker auf den Büßer gerichtet.³⁰ Die römischen Dichter, allen voran Ovid, prägten die Rezeption des SisyphosMythos in der Renaissance, in der sich die „Fixierung auf das Unterweltgeschehen“³¹ gänzlich durchsetzte. Sisyphos wurde von da an zum „Inbegriff des Leidens“³². Mythen brauchen Helden und zuweilen Märtyrer. Sisyphos ist jedoch weder das eine noch das andere. Denn er hat sich weder durch eine außerordentliche, sinnstiftende Tat ausgezeichnet noch hat er sich selbst für ein höheres Ideal geopfert. Er schuftet und leidet, dafür hat er Bekanntheit erlangt. Diese Sichtweise änderte sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Wiederbelebung des Mythos durch den französischen Schriftsteller Albert Camus. Im letzten Kapitel seines Buches Der Mythos des Sisyphos beschreibt Camus den Schuftenden als „absurde[n] Held[en]“³³ und „ohnmächtige[n] und rebellische[n] Proletarier der Götter“³⁴. In den sich ständig wiederholenden und scheinbar sinnlosen Mühen des Sisyphos erkennt der Schriftsteller einen Moment des Glücks³⁵ und wertet damit die Figur des mythischen Frevlers und Büßers radikal um³⁶: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“³⁷ Dieser aus der Beschäftigung mit dem Mythos entsprungene, „unmögliche Gedanke vom Glück in der größten Hoff-
Homer: Werke in zwei Bänden. Zweiter Band: Odyssee. Übersetzt von Dietrich Ebener. Berlin und Weimar 1983. 11. Gesang, V. 593 – 600, (S. 181). Vgl. Walther, Mythen, S. 238. Walther, Mythen, S. 239. Walther, Mythen, S. 239. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 156. Camus, Sisyphos, S. 157. Vgl. Camus, Sisyphos, S. 158 – 160. Vgl. Walther, Mythen, S. 242. Camus, Sisyphos, S. 160.
1.1 Mythos und Revolte
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nungslosigkeit“³⁸ prägte das Werk des ungarischen Schriftstellers und „leidenschaftlichen Camus-Lesers“³⁹ Imre Kertész⁴⁰ und regte ihn in den 1980er Jahren dazu an, den Mythos weiterzudenken. Auf den letzten Seiten seines Romans Fiasko ist zu lesen: Sisyphos – so wurde uns berichtet – müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen. Ganz gewiß. Doch auch auf ihn lauert das Erbarmen. Sisyphos – und der Arbeitsdienst – sind sicher ewig; aber der Fels ist nicht unsterblich. Auf seinem holprigen Weg, nachdem er weiter und weiter gewälzt wurde, wetzt er sich ab, und Sisyphos erkennt plötzlich, wie er, zerstreut vor sich hinpfeifend, schon lange nur noch einen grauen Steinbrocken im Staub vor sich her kickt.⁴¹
Im Zuge der jahrhundertelangen Rezeptionsgeschichte wandelte sich die Figur des Sisyphos vom gerissenen Frevler und leidenden Büßer zum existentialistischen Helden. Kertész wandte sich schließlich vom Protagonisten der Erzählung ab und richtete sein Augenmerk auf den Felsblock. Mit der Wandlung der Figur fand auch eine Umdeutung der Botschaft statt. Camus erweiterte die Lesart des Mythos und schuf damit in gewisser Weise einen Gegenmythos, indem er die sinnlose Arbeit mit einem Glücksversprechen in Beziehung setzte. Daraus wird ersichtlich, dass die Botschaft eines Mythos nicht nur vom Erzählmodus abhängig ist, sondern auch vom Wertesystem, in welchem die Erzählung eingebettet wird. Beinahe alle Mythen sind solchen Transformationsprozessen ausgesetzt, also auch jene, die sich im Kontext der Geschichte des jüdischen Widerstands während des Holocaust herausgebildet haben. Anfangs prägte hier der absurde Vorwurf, die jüdischen Opfer hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen⁴² lassen, die Wahrnehmung und Bewertung des Widerstands. Als Gegenargument zu diesem negativen Mythos der Passivität entstand sukzessive der positive Mythos über die Helden und Märtyrer des Widerstands, die für die jüdische Ehre kämpften und
Radisch, Iris: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 161. Radisch, Camus, S. 161. Seinen Roman eines Schicksallosen, in dem Imre Kertész in verdichteter und fiktionalisierter (literarischer) Form über seine Zeit als Jugendlicher in den nationalsozialistischen Vernichtungsund Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Buchenwald erzählt, schließt er mit den folgenden Worten: „Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach den Übeln, den ‚Greueln‘: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.“ Zit. aus: Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 287. Kertész, Imre: Fiasko. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 442. Näheres zu diesem Vorwurf in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit.
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1 Einleitung
würdevoll in den Tod gingen.⁴³ Der anfängliche Mythos der Passivität prägte dabei nicht nur die öffentliche Wahrnehmung nach Kriegsende, sondern auch die Forschung. Noch heute arbeiten sich HistorikerInnen daran ab. Richard Middleton-Kaplan beispielsweise beginnt seinen 2014 im Sammelband Jewish Resistance against the Nazis erschienen Aufsatz The Myth of Jewish Passivity mit den folgenden Worten: One aim of our volume is to demonstrate definitively that Jews during the Holocaust did not go passively like sheep to slaughter. One might ask why such a project is necessary given the voluminous evidence attesting to the fact that Jews resisted the Nazis whenever, wherever, and however it was possible. The compelling evidence has simply done little to change a nearly universal perception.⁴⁴
Die Forschungsgeschichte zum jüdischen Widerstand lässt sich daher auch als die Geschichte einer ständigen Arbeit gegen diesen negativen Mythos beschreiben. Im Zuge der Rezeption und Repräsentation der vielen Formen des jüdischen Widerstands entstanden neue, positive Mythen – oder besser: Gegenmythen –, die es jedoch ebenso zu hinterfragen gilt, wie die negativen. Hierauf verweist Middleton-Kaplan selbst: We do not need a mythology that romanticizes or hyperbolizes Jewish resistance. Rather, we need a more nuanced, balanced, accurate view of Jewish resistance to supplant the stilldominant paradigm. No model should sacrifice historical truth.⁴⁵
Jon Avnet hat mit seinem Spielfilm über den Warschauer Ghettoaufstand – wie er selbst sagt – den Versuch unternommen, den alten, negativen Mythos der Passivität umzuschreiben. Die beiden anderen Regisseure, Tim Blake Nelson und Edward Zwick, deren Filme hier ebenso im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, produzierten ihre Werke aus ähnlichen Beweggründen. Im Fokus von Tim Blake Nelsons Die Grauzone (The Grey Zone, USA 2001), das sich überwiegend auf den Erinnerungen des Pathologen und Sonderkommando-Häftlings Miklós Nyiszli stützt und eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks des Regisseurs darstellt, stehen die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos von AuschwitzBirkenau sowie die von ihnen organisierte und durchgeführte Revolte am 7. Oktober 1944. Basierend auf dem gleichnamigen Buch der Historikerin Nechama Tec erzählt Edward Zwick in Defiance (Defiance, USA 2008) die Geschichte der drei
Der Transformationsprozess wird ebenfalls in Kapitel 3 dargestellt. Middleton-Kaplan, Richard: The Myth of Jewish Passivity. In: Henry, Patrick (Hg.): Jewish Resistance against the Nazis. Washington, D.C. 2014, S. 3 – 26, hier: S. 3. Middleton-Kaplan, Passivity, S. 25 – 26.
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Brüder Tuvia, Zus und Asael Bielski, die in den westlich gelegenen Wäldern Weißrusslands eine jüdische Partisaneneinheit gegründet hatten. Die BielskiBrigade leistete nicht nur bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer, sondern rettete mehr als 1.200 Jüdinnen und Juden das Leben. Avnet, Zwick und Nelson verbindet noch ein weiterer Wunsch: Ihre Filme sollten die historischen Ereignisse, auf denen sie basieren, authentisch darstellen. Dieses Authentizitätsversprechen bezog sich sowohl auf die äußere Gestaltung des Films als auch auf den Inhalt. Für die filmische Rekonstruktion des Warschauer Ghettos griff beispielsweise Avnet auf Archivmaterial zurück, das von nationalsozialistischen Kamerateams gedreht worden war⁴⁶, und ließ Teile des Ghettos detailgetreu nachbauen. Das Drehbuch von Uprising beruht sowohl auf Berichten, Memoiren und anderen autobiographischen Darstellungen jener, die im Ghetto gelebt, gelitten und sich der nationalsozialistischen Okkupation widersetzt haben, als auch auf historiographischen Arbeiten, wie z. B. Israel Gutmans The Jews of Warsaw. Die Dreharbeiten wurden zusätzlich von zwei ehemaligen Kämpfern der im Warschauer Ghetto gegründeten Jüdischen Kampforganisation (ZOB) als Berater begleitet: Simha „Kazik“ Rotem und Marek Edelman. Das Gewicht ihrer Autorität als Zeugen sollte noch einmal für die Authentizität des Films bürgen. Edelman war nicht nur maßgeblich am Warschauer Ghettoaufstand beteiligt, sondern hatte Mitte der 1970er Jahre mit der Journalistin und Autorin Hanna Krall die Entmystifizierung jener Heldensymbolik eingeleitet⁴⁷, die im Mittelpunkt von Markus Meckls Helden und Märtyrer steht. Ein schöner Zufall, denn Edelman war sowohl der „heimliche Held“ in Meckls „Antihelden-Buch“⁴⁸ als auch der Ehemann Alina Margolis’.
1.2 Auf der Suche nach Authentizität Ob nun Zufall oder nicht, Uprising lief zu einer Zeit an, in der sich nicht nur das Schreiben, sondern auch das Filmemachen über den Holocaust in einer Übergangsphase befand. Mehr noch: Mit diesem Film wurde die zweite (und vielleicht letzte) Phase einer filmhistorischen Entwicklung eingeleitet, die bereits mit Steven Spielbergs Schindlers Liste (Schindler‘s List, USA 1993) begonnen hatte. Frank
Dieses Material diente nicht nur Roman Polanski als Vorlage für seine Inszenierung des Warschauer Ghettos in Der Pianist, der ein Jahr nach Uprising in den Kinos anlief, sondern ist auch Gegenstand von Yael Hersonskis Dokumentarfilm Geheimsache Ghettofilm (Shtikat Haarchion, IL, D 2010). Vgl. Meckl, Helden, S. 44. Schüler-Springorum, Ghetto, S. 116.
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1 Einleitung
Bösch nennt sie „Trend zur Authentizität“⁴⁹. Die allmähliche Hinwendung zu einem authentischen bzw. realistischen Erzählen des Holocaust drückte sich nicht nur stilistisch aus, wie es im osteuropäischen oder russischen Kino – bis auf wenige Ausnahmen⁵⁰ – schon lange der Fall gewesen war⁵¹, sondern vor allem auch inhaltlich.⁵² Nach dem großen Erfolg von Schindlers Liste begannen überwiegend US-amerikanische und deutsche Filmemacher sich sukzessive von fiktiven stories abzuwenden, die zwar auf wahren Ereignissen beruhten, jedoch erfundene Figuren in konstruierten Zusammenhängen darstellten.⁵³ Wie Bösch konstatiert, hatten bis dahin fast alle Spielfilme und Serien, die seit 1945 zum Nationalsozialismus erschienen waren, […] zwar bekannte historische Ereignisse eingeblendet, erhoben jedoch selten den Anspruch, direkte historische Rekonstruktion zu sein. Auch bei Holocaust war dieses spannungsreiche Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion angelegt. ‚It is only a story. But it really happened‘, hieß es im Vorspann. Die Figuren waren fiktiv, sie partizipierten aber fortlaufend an bekannten Ereignissen⁵⁴.
Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 1– 32, hier: S. 16. Siehe z. B. Das Geschäft in der Hauptstraße (Obchod na korze, ČSSR 1965, Regie: Ján Kadár und Elmar Klos). Dort wird die realistische Darstellung durch Traumsequenzen immer wieder unterbrochen. Siehe z. B. Die letzte Etappe (Ostatni Etap, P 1948, Regie: Wanda Jakubowska). An dieser Stelle muss vermerkt werden, dass sich der von Frank Bösch konstatierte „Trend zur Authentizität“ hauptsächlich auf das sogenannte Mainstream-Kino bezieht. Ich gebrauche den Begriff „Mainstream“ im Sinne von Sonja M. Schultz, die ihn verwendet, um Spielfilme, die mit großen Etats, namhaften (meist US-amerikanischen) Filmstudios und bekannten RegisseurInnen und SchauspierInnen produziert worden sind, um von unabhängigen Produktionen – wie z. B. Experimentalfilmen – abzugrenzen. Vgl. Schultz, Sonja M.: Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds. Berlin 2012, S. 232. Was bei Bösch hingegen unerwähnt bleibt: Trends und Phasen innerhalb der Filmgeschichte entstehen oft parallel (und zuweilen sollten diesen Phasen nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden). Während durchaus im Mainstream-Kino der 1990er bis 2000er ein gewisser „Trend zur Authentizität“ zu verzeichnen war, entwickelte sich zur selben Zeit (Anfang der 1990er) eine gänzlich entgegengesetzte Stiltendenz im Experimentalfilm: dem Historismus wurde die Subversion entgegengehalten. (Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 229 – 288.) Bezüglich des anderen Trends schreibt Schultz: „Die Experimentalfilm- und Undergroundkultur agiert aus, was der Mainstream verweigert. Dem kanonisierten Erinnern und der einfühlenden Erzählform mit ihrer häufig stereotypen Bildsprache begegnet sie mit lustvoller Dekonstruktion, dem Ausstattungskino mit anarchischer Aneignung der Symbole zum Zwecke ihrer Ab- und Umnutzung.“ (Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 232). In meiner Untersuchung werde ich mich jedoch ausschließlich dem Mainstream-Kino (und dem „Trend zur Authentizität“) widmen, da dieses von der deutschsprachigen NS- und Holocaust-Forschung stärker wahrgenommen wurde. Bösch, Film, S. 15. Bösch bezieht sich hier auf die vierteileige TV-Serie Holocaust (USA 1978).
1.2 Auf der Suche nach Authentizität
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Mit Ausnahme von Tragikomödien wie z. B. Roberto Benignis Das Leben ist schön (La vita è bella, I 1997) oder Radu Mihaileanus Zug des Lebens (Train de vie, F, B, NL, IL, RO 1998), versuchten ab Mitte der Neunzigerjahre FilmemacherInnen, „wahre“ und auf Quellen basierte Geschichten darzustellen. So entstanden kurz nach der Jahrhundertwende vor allem in den USA und Deutschland immer mehr Filme mit diesem Authentizitätsanspruch. Das wohl prominenteste Beispiel ist Roman Polanskis Der Pianist (The Pianist F, P, UK, D 2002), der auf den Erinnerungen Wladyslaw Szpilmans⁵⁵ basiert. Weitaus weniger Aufmerksamkeit erregte dagegen Tim Blake Nelsons The Grey Zone, der in Deutschland mit vierjähriger Verspätung anlief. In diesen und ähnlichen Produktionen – mit „ihrer engen Anlehnung an unmittelbar nach dem Krieg verfasste Opferberichte“⁵⁶ – wurden die Erinnerungen der Zeuginnen und Zeugen in den Mittelpunkt der Plots gerückt. Zugleich beanspruchten diese Filme, wie Frank Bösch in seiner diachronen Studie zum Verhältnis zwischen Film und Geschichtswissenschaft festhält, „im höheren Maße als zuvor, Beiträge zu einer quellenfundierten Geschichtsrekonstruktion zu sein. In vielen Fällen legten sie wie Historiker vorab ihre Quellen offen und warben mit der Genauigkeit der historischen Rekonstruktion, was als Gütezeichen galt“⁵⁷. Dies führte wiederum zu veränderten Paradigmen im Umgang mit diesen Filmen: Denn ihr „authentischer Anspruch reizte dazu, ihre Faktizität zu prüfen“⁵⁸. Wie drückt sich dieser Anspruch, von dem Bösch schreibt, aus und wie wird er sichtbar? Was bedeutet Authentizität im Film? Wie wird sie suggeriert, wie inszeniert? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten die Historikerin Natalie Zemon Davis bereits in den späten 1980er respektive frühen 1990er Jahren. In ihrem Aufsatz „Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen …“ – eine Pionierarbeit auf diesem Gebiet – erkundigt sie die „Elemente historischer Authentizität“ am Beispiel von zwei in ihrer Machart und Wirkung gänzlich gegensätzlichen Historienfilmen: Stanley Kubricks Barry Lyndon (Barry Lyndon, GB 1975) und Carl Theodor Dreyers Die Passion der Jungfrau von Orleans (La Passion de Jeanne d’Arc, F 1928).⁵⁹ Filmische Authentizität kann in erster Linie durch den look (d. h. durch
Szpilman, Wladyslaw: Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen. 1939 – 1945. Düsseldorf und München 1998. Dieses Buch wurde nach bzw. mit Erscheinen des Spielfilms neu aufgelegt: Szpilman, Wladyslaw: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben. Berlin 2002. Bösch, Film, S. 25. Bösch, Film, S. 25. Bösch, Film, S. 1. Vgl. Davis, Natalie Zemon: „Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen …“: Der Film und die Herausforderung der Authentizität. In: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin 1991, S. 37– 63, hier: S. 42– 50.
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Architektur, Requisiten, Kostüme und Aufnahmetechniken) gewährleistet werden.⁶⁰ Kubricks akribisch recherchiertes und inszeniertes Werk bietet dafür ein gutes Beispiel. Der Film spielt im westlichen Europa des späten 18. Jahrhunderts und handelt vom Aufstieg und tiefen Fall des aus Irland geflohenen Junkers Redmond Barry, der in England als Barry Lyndon einen Adelstitel anstrebt, am Ende jedoch erfolglos von der Insel verbannt wird. Diese Zeitspanne, die kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution endet, ist detailreich rekonstruiert: Die Kostüme und Möbel, Bauten und Kutschen wurden nach zeitgenössischen Vorlagen – vor allem Gemälde und Zeichnungen – angefertigt.⁶¹ Hinsichtlich der Beleuchtungs- und Kameratechnik verfuhr Kubrick mit ebenso hoher Präzision. Um beispielsweise einen hohen Grad an Authentizität bei Nachtaufnahmen in Innenräumen herzustellen, ließ Kubrick die Zimmer und Säle ausschließlich mit Kerzenlicht ausleuchten und verwendete ein spezielles von der Firma Zeiss für die NASA entwickeltes Kameraobjektiv.⁶² Barry Lyndon war in dieser Hinsicht letztendlich nicht nur, so hält Davis fest, von Gainsborough[⁶³] oder Watteau[⁶⁴] beeinflußt, sondern auch geprägt durch das ‚Malerauge‘ des Kameramanns John Alcott, dem lichtstarke Linsen zu Hilfe kamen, die schummrig beleuchtete Spieltische aufnehmen konnten, und durch die Bemühungen des Regisseurs Stanley Kubrick, der ganz Europa nach für Thackerays[⁶⁵] Roman passenden Gegenden und Umgebungen durchkämmte.⁶⁶
Die beschriebenen äußeren Merkmale filmischer Authentizität, zu der auch die Entscheidung gehört, an historischen Orten zu drehen (anstatt vor nachgebauten Kulissen) oder ortsansässige Laiendarsteller zu engagieren⁶⁷, können, so wendet Davis ein, „die Glaubwürdigkeit und genuine Historizität des Films nur insoweit [erhöhen], als sie mit den Werten und Gewohnheiten einer Zeit verknüpft sind und mit einem kritischen Urteil über ihren Wahrheitsstatus verwendet werden“⁶⁸.
Vgl. Davis, Ähnlichkeit, S. 41. Vgl. Rother, Rainer: Kühler Blick auf fremde Welt: Barry Lyndon (1975). In: Kilb, Andreas & Rother, Rainer (Hg.): Stanley Kubrick. Berlin 1999, S. 181– 194, hier: S. 186 – 187. Vgl. Rother, Barry Lydon, S. 187. Thomas Gainsborough (1727 – 1788) war ein englischer Maler, der vor allem für seine Porträts und Landschaften bekannt ist. Jean-Antoine Watteau (1684 – 1721) war ein französischer Maler der Rokoko-Epoche. William Makepeace Thackerey (1811 – 1863) war ein englischer Schriftsteller des Viktorianischen Zeitalters. Stanley Kubricks Barry Lyndon basiert auf Thackereys Roman Die Memoiren des Junkers Barry Lyndon (1844). Davis, Ähnlichkeit, S. 42. Vgl. Davis, Ähnlichkeit, S. 43. Davis, Ähnlichkeit, S. 45.
1.2 Auf der Suche nach Authentizität
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Abgesehen vom look des Films, also von der rein visuellen Gestaltung, gäbe es noch „vielfältigere Möglichkeiten für den Film […], Authentizität zu erreichen“⁶⁹. Ihr Argument verdeutlicht Davis anschließend exemplarisch am cineastischen Werk Carl Theodor Dreyers. In Die Passion der Jungfrau von Orléans sei es dem dänischen Regisseur durch seinen Minimalismus gelungen, so Davis, eine glaubwürdige Verbindung mit der Vergangenheit und dem Geist der Epoche herzustellen und dadurch, historische Authentizität zu erzeugen.⁷⁰ Dreyer bereitete seinen Film nicht weniger akribisch vor als Kubrick dies Jahrzehnte später tun sollte. Er studierte Akten aus dem 15. Jahrhundert, die den Inquisitionsprozess gegen Johanna von Orléans, der sich über Monate hinzog, dokumentieren und verdichtete bzw. fiktionalisierte das Aktenwissen zu einem emotionalisierenden Film. Die Dialoge zwischen Johanna, die der Ketzerei angeklagt ist, und den Richtern des Prozesses folgen den oben erwähnten Akten. Dreyer entschied sich für eine asketische Bildgestaltung. Er verzichtete sowohl auf die Tiefenschärfe des Bildes als auch auf einen kulissenhaften Hintergrund. Es gibt nur ganz wenige Schatten in dem Film. Es scheint, als ob nichts von dem Gesicht und der Mimik Johanna von Orléans (verkörpert durch die Schauspielerin Maria Falconetti), die in langen Einstellungen und Nahaufnahmen aufgenommen wurden, die ZuschauerInnen ablenken darf. Dreyers Passion habe den „Rhythmus und die Bewegungen eines Inquisitionsverfahrens“⁷¹ rekonstruiert und damit die „Seele“ der historischen Vorlage im Antlitz Maria Falconettis eingefangen. Im Gegensatz zu Kubrick, dessen kalte, distanzierte Authentizität jegliche Identifikation oder Empathie mit den Figuren verweigert, berührt Dreyers Inszenierung Themen und Gefühle, die auch heutige ZuschauerInnen berühren. Dreyer vergegenwärtigt die Vergangenheit, während Kubrick sie in ihrer ganzen Komplexität als genaues Abbild der damaligen Zeit zu rekonstruieren sucht. „Wirklichkeitstreue und Glaubwürdigkeit“, so konstatiert Davis gegen Ende ihres Aufsatzes, „sind die Komponenten der Authentizität, die am besten erreicht werden, wenn Filme die Werte, Beziehungen und strittigen Fragen in einer Zeit darstellen; wenn sie die Requisiten und Drehorte durch deren Verbindung mit Menschen der Vergangenheit mit Leben erfüllen“⁷². Diese Verbindung zwischen äußeren Merkmalen (Architektur, Ausstattung und Aufnahmetechnik) und inhaltlicher Gestaltung (Plot, Dialoge und Charaktere) generiert eine innere filmische Authentizität. Jahre später sollte auch Imre Kertész in seiner Filmkritik zu
Davis, Ähnlichkeit, S. 45. Davis, Ähnlichkeit, S. 56. Davis, Ähnlichkeit, S. 47. Davis, Ähnlichkeit, S. 61.
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Das Leben ist schön auf diese bestimmte Form des Authentischen zu sprechen kommen: In dem der Videokassette beigegebenen Informationsheft lese ich, daß die Macher des Films große Sorgfalt auf die Alltagswelt des Lagers, auf die Authentizität der Gegenstände, der Requisiten usw. verwendet hätten. Zum Glück ist ihnen das nicht gelungen. Die Authentizität steckt zwar in den Details, aber nicht unbedingt den gegenständlichen. […] Hier geht es um etwas anderes: Der Geist, die Seele dieses Films sind authentisch, dieser Film berührt uns mit der Kraft des ältesten Zaubers, des Märchens.⁷³
Roberto Benignis Märchen kann jedoch – trotz der von Kertész bescheinigten inneren Glaubwürdigkeit – nicht zu Böschs „Trends zur Authentizität“ gezählt werden (wie bereits oben kurz erwähnt). Zum einen ist dieser Film in seiner äußeren Form nicht authentisch; diesbezüglich lesen wir bei Kertész: „Das Tor des Lagers im Film ähnelt der Haupteinfahrt des realen Lagers Birkenau ungefähr so, wie das Kriegsschiff in Fellinis[⁷⁴] ‚Schiff der Träume‘[⁷⁵] dem realen Flaggschiff eines österreichisch-ungarischen Admirals gleicht.“⁷⁶ Zum anderen ist Das Leben ist schön hinsichtlich eines anderen Kennzeichens, das insbesondere in den sogenannten Holocaust-Filmen Gültigkeit beansprucht, nicht authentisch: die Dimension der ZeugInnenschaft. Mit dem Aufkommen all jener Filme, welche die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden zum Thema haben, wurde filmische Authentizität mit der Zeit auch zu einer moralischen Kategorie. Wie bereits oben erklärt, zeichnen sich die Filme, die zum „Trend zur Authentizität“ gezählt werden, insbesondere durch ihren direkten Bezug auf die Zeugnisse der Opfer nationalsozialistischen Terrors aus. Für das bessere Verständnis dieses Merkmals lohnt sich ein kurzer Blick auf Begriffsgeschichte: „authentisch“ geht auf das griechische Wort authéntes („selbst vollenden“ und „Urheber“) bzw. auf authentikós („nach einem zuverlässigen Gewährsmann“)⁷⁷ zurück.⁷⁸ Das lateinische
Kertész, Imre: Wem gehört Auschwitz? In: Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt am Main 2003, S. 147– 155, hier: S. 153. Federico Fellini (1920 – 1993) war ein italienischer Regisseur und gehörte zu den einflussreichsten europäischen Autorenfilmern des 20. Jahrhunderts. Fellinis Schiff der Träume (El la nave va, I,F 1983). Kertész, Wem gehört Auschwitz?, S. 153. αὐθεντης bzw. αὐθεντικός; vgl. Gemoll, Handwörterbuch, S. 139. Vgl. Martínez, Matías: Zur Einführung: Authentizität und Medialität in künstlerischen Darstellungen des Holocaust. In: Martínez, Matías (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik. Bielefeld 2004, S. 7– 21, hier: S. 11.
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Pendant authenticus bedeutet: „eigenhändig, verbürgt, rechtsgültig“⁷⁹. In der Germanistik wird der Begriff mit „Autorschaft“ verbunden: „Editionsphilologen meinen mit Authentizität eines Textes seine ‚Echtheit, Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit‘ – Eigenschaften, die von der ‚Verfasserschaftsfrage‘ abhängen.“⁸⁰ Ein Text ist demnach authentisch, wenn er sich „direkt auf den Willen des Autors“⁸¹ zurückführen lässt. Ähnliches gilt auch für die Quellen des Holocaust: Auch hier verleihen erst die Autorität und Autorschaft der ZeugInnen den Zeugnissen Authentizität und Legitimität: „Über die Ermordung der europäischen Juden zu schreiben, stünde in diesem Sinne nur denjenigen zu, die als Augenzeugen oder auch als indirekt Betroffene ihr Werk durch einen persönlichen Bezug autorisieren.“⁸² In Spielfilmen wie Schindlers Liste, Der Pianist oder Die Grauzone werden, wie an anderer Stelle bereits vermerkt, nicht nur die Zeugnisse der Überlebenden inszeniert, sondern die ZeugInnen selbst. Der Anspruch auf und das Verständnis von filmischer Authentizität lässt sich somit in drei Punkten festhalten: 1. RegisseurInnen von Holocaust-Filmen versuchen in erster Linie durch die Zuhilfenahme gestalterischer und filmtechnischer Mittel Authentizität zu erzeugen, z. B. durch den Einsatz von Schwarzweißbildern „um den Eindruck dokumentarischer Echtheit zu erwecken“⁸³. Ein gutes Beispiel dafür ist erneut Schindlers Liste. Steven Spielberg drehte seinen Film (mit Ausnahme der Anfangs- und Endsequenz sowie einzelnen nachgefärbten Bildteilen) in Schwarzweiß; als Vorbild dienten ihm Dokumentarfilmaufnahmen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, deren „authentische Wirkung im Bewußtsein der Zuschauer er mit seinem Spielfilm reaktivieren wollte“⁸⁴. 2. Den Filmschaffenden dient die Ereignisgeschichte als Referenz, d. h. sie beziehen sich direkt auf historische Ereignisse, die stattgefunden haben, sowie auf Personen, die in diesen Zeiten gelebt und gehandelt haben. In vielen Filmen wird vor dem Beginn des Plots durch eine Texttafel auf diesen direkten Bezug hingewiesen. Meist ist darauf zu lesen, dass die im Film wiedergegebene Geschichte auf wahren Ereignissen beruhe. 3. Die DrehbuchautorInnen und RegisseurInnen berufen sich auf die Autorschaft und Autorität ihrer ZeugInnen, die für die Glaubwürdigkeit der Erzählungen bürgen sollen.
Martínez, Authentizität, S. 11. Martínez, Authentizität, S. 12. Martínez, Authentizität, S. 12. Martínez, Authentizität, S. 12. Martínez, Authentizität, S. 15. Martínez, Authentizität, S. 15.
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Kehren wir nun zu unserem Ausgangspunkt und jenem von Bösch geprägten Ausdruck des „Trends zur Authentizität“ zurück. Wie lässt sich das Interesse der Filmschaffenden an glaubwürdigen Darstellungen und ihre „zunehmende Hinwendung zur Authentizität, welche die Beziehung zwischen Spielfilm und Geschichtswissenschaft verschob“⁸⁵, erklären? Bösch vermutet, dass die wachsenden Kenntnisse über den Nationalsozialismus diesen Trend begünstigten, da sie die Erwartungen an authentisches Material schürten.⁸⁶ Auf der anderen Seite begann sich Mitte der 1990er eine neue ästhetische und politische Entwicklung im (US‐)Kino durchzusetzen, die zum einen als eine (Gegen‐)Reaktion auf den beginnenden Siegeszug der Digitaltechnik betrachtet werden kann und zum anderen stark von der neuen Begeisterung für Dokumentarfilme – vor allem durch die Arbeiten von Michael Moore⁸⁷ – getragen wurde. Dieser neue Film-Realismus wurde vermutlich zuerst durch das iranische, türkische und rumänische Kino der 1990er Jahre geprägt und anschließend durch Lars von Trier und seine dänischen Regie-Kollegen der Gruppe Dogma 95 radikalisiert⁸⁸, bevor er kurz nach der Jahrhundertwende das US-amerikanische Independent-Kino⁸⁹ erreichte. Und was im Independent-Film Form angenommen hatte, fand schließlich seinen Weg nach Hollywood, wo ein Film wie Steven Soderberghs Traffic (Traffic, USA 2000) mit Preisen überhäuft wurde⁹⁰ – ein Film, dessen durchgehend verwackelte, verwaschene und überbelichtete Handkamera-Bilder zu einem Markenzeichen des neuen US-Kino-Realismus werden sollten. Somit dürften es nicht nur geschichtswissenschaftliche, sondern auch filmhistorische Einflüsse gewesen sein, die sich auf den zunehmenden „Trend zur Authentizität“ im Holocaust- bzw. NSFilm ausgewirkt haben. Nach der Jahrhundertwende begann dieser Trend auch deutsche Filmproduktionen zu beeinflussen. Einen Höhepunkt erreichte die zunehmende Hinwendung zu behaupteter Authentizität im Film schließlich mit Oliver Hirschbiegels Der Untergang (D, I, RUS, A 2004); einem Spielfilm, den Michael Wildt gar
Bösch, Film, S. 16. Bösch, Film, S. 16. Roger & Me (USA 1988), Bowling for Columbine (USA 2002) und Fahrenheit 9/11 (USA 2004). Vgl. hierzu: Sudmann, Andreas: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen. Hannover 2001. Vgl. hierzu: Landsgesell, Gunnar, Pekler, Michael & Ungerböck, Andreas: Real America: Neuer Realismus im US-Kino. Marburg 2012. Neben vier Oscars („Beste Regie“, „Bestes adaptiertes Drehbuch“, „Bester Schnitt“ sowie „Bester Nebendarsteller“) erhielt der Film 81 internationale Preise; siehe: http://www.imdb.com/ title/tt0181865/ (28. August 2014).
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als eine „Historikerfalle“ bezeichnet, da er geradezu mit „offenen Armen dazu ein[lade], seine Historizität zu untersuchen“, wobei er „mit Geschichte so viel oder so wenig zu tun [habe] wie ein Film über die Meuterei auf der Bounty […]“⁹¹. Wildt kritisiert hier nicht etwa den filmischen Realismus des Untergangs, sondern den Umstand, dass die Macher des Films eine Authentizität suggerieren, welche die ZuschauerInnen bewusst zu täuschen suche.⁹² Dieser Film inszeniere sich selbst als Quelle, so Wildt, indem er behaupte, dass sich alles in Hitlers Bunker so zugetragen habe, wie es auf der Leinwand bzw. auf dem Bildschirm zu sehen ist. Dieses Authentizitätsversprechen ist jedoch mit den Regeln der Fiktion respektive des fiktionalen Films unvereinbar. Denn es ist nicht die Aufgabe der Fiktion, Ereignisse so darzustellen „wie sie sich wirklich“ ereignet haben oder „wie sie wirklich waren“ – oder wie es bei Wildt heißt: „Niemand sieht sich Shakespeares Drama über Richard III. in der Erwartung an, mehr über einen historischen König im mittelalterlichen England zu erfahren.“⁹³ Wildts Reaktion verdeutlicht, dass sich mit dem Wandel in der Produktion der Spielfilme über den Holocaust zugleich ein Paradigmenwechsel in der Rezeption seitens der deutschen NS-Forschung abzuzeichnen begann. Die „Geschichtswissenschaft akzeptierte die Spielfilme wesentlich stärker als in den achtziger Jahren als historische Rekonstruktionen“⁹⁴. Zugleich wurde jedoch das Authentizitätsversprechen der Filme in Frage gestellt, während auf die Möglichkeiten, welche die Fiktion bieten könnte, aufmerksam gemacht wurde. Anfang, Höhepunkt und (vorläufiges) Ende dieser Entwicklung lassen sich an drei Aufsätzen aufzeigen, die Wildt innerhalb von siebzehn Jahren verfasst hat: Das Erfundene und das Reale (1995)⁹⁵, ‚Der Untergang‘: Ein Film inszeniert sich als Quelle (2005)⁹⁶ und Worte, Blicke, Bilder. Verschiedene Wege, die Geschichte des Holocaust zu erzählen (2012)⁹⁷. Während sich Wildts Kritik in Das Erfundene und das Reale an die seiner Vermutung nach mit dem „Medienereignis ‚Schindlers Liste‘“ überforderte, deutschsprachige NS-Forschung richtet, welche die Möglichkeiten der Fiktion
Wildt, Michael: „Der Untergang“: Ein Film inszeniert sich als Quelle. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online Ausgabe, 2 (2005), H. 1, Textabschnitt 1. http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208312/default.aspx (04. August 2014). Wildt, Untergang, Textabschnitt 3. Wildt, Untergang, Textabschnitt 7. Bösch, Film, S. 27. Wildt, Michael: Das Erfundene und das Reale. Historiographische Anmerkungen zu einem Spielfilm. In: Historische Anthropologie, 3. Jhg., Heft 2 (1995), S. 324– 334. Wildt, Untergang. Wildt, Michael: Worte, Blicke, Bilder. Verschiedene Wege, die Geschichte des Holocaust zu erzählen. In: Bruns, Claudia, Dardan, Asal & Dietrich, Anette (Hg.): „Welchen der Steine du hebst“. Filmische Erinnerung an den Holocaust. Berlin 2012, S. 300 – 308.
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und der Bilder zu verkennen und verschenken drohe, zielt seine spätere Kritik auf die Filmemacher des Untergangs, die, wie bereits erörtert, wiederum die Chancen, welche die Fiktion bietet, gar nicht erst zu nutzen wussten. Sein Appell richtet sich somit sowohl an die Wissenschaft als auch an den Film: „Statt noch mehr oder ‚authentischere‘ Realität einzufordern, könnte die Auseinandersetzung um ‚Schindlers Liste‘ dazu beitragen, das ‚Wirkliche‘ und das ‚Erfundene‘ in Filmen wie in Texten kenntlich zu machen.“⁹⁸ In dem 2012 erschienenen Aufsatz Worte, Blicke, Bilder dreht Wildt bezüglich der Frage, wie man über Gewalt und Holocaust schreiben und sprechen könne, noch einmal die Perspektive⁹⁹: „Es scheint, als eröffne das filmische Narrativ, das mit Bild- und Tonspur und im Bild selbst simultane Perspektiven sicht- und hörbar machen kann, eine Möglichkeit, über den Holocaust zu schreiben.“¹⁰⁰ Wildt, der sich hier direkt auf Saul Friedländers Erzähltechnik in Die Jahre der Vernichtung bezieht, fragt nicht mehr danach, wie Filme Geschichte wiedergeben und wie die Forschung mit diesen Bildern und Fiktionen arbeiten kann, sondern wie es der Geschichtswissenschaft möglich sein könnte, unter Zuhilfenahme filmischer Mittel anders Geschichte zu erzählen. Das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Filmfiktion steht auch im Zentrum von Böschs erstmals 2007 veröffentlichten Untersuchung der Langzeitentwicklung von US-amerikanischen und deutschen Holocaust- sowie NS-Filmen. Darin macht Bösch auf „eine gewisse Korrelation zwischen der NS-Forschung“ und den Perspektiven sowie Schwerpunkten der Spielfilme¹⁰¹ aufmerksam und stellt fest, „dass Geschichtswissenschaft und Film enger verbunden sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag“¹⁰². Anschließend fasst er zusammen: Historische Filme sind zweifelsohne vor allem als unterhaltende fiktionale Produkte zu verstehen, die Ideen aufwerfen, die nicht zwangsläufig mit Quellenbefunden übereinstimmen. Die Filme können jedoch offensichtlich neue Themen, Fragen und Deutungen aufbringen, die nicht nur die Erinnerungskultur prägen, sondern auch die Arbeit der Historiker.¹⁰³
Wie filmische Fiktionen die Arbeit von HistorikerInnen prägen kann, bleibt Bösch seinen LeserInnen allerdings schuldig. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich dort ansetzen, wo Bösch aufgehört hat.
Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 334. Vgl. Wildt, Worte, Blicke, Bilder, S. 300. Wildt, Worte, Blicke, Bilder, S. 304. Vgl. Bösch, Film, S. 23. Bösch, Film, S. 31. Bösch, Film, S. 32.
1.3 Fragestellung, Untersuchungsgegenstand, Quellen
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1.3 Fragestellung, Untersuchungsgegenstand, Quellen Der Gedanke, dass die Fiktion der Wissenschaft neue Wege zu eröffnen vermag oder diese zumindest anregen kann, ist nicht neu. Wir begegnen ihm sogar in der klassischen Historiographie. So schreibt Fritz Stern in der Einleitung zu seinem Ende der 1980er Jahre in Deutschland erschienenen Buch Bismarck und sein Bankier Bleichröder, dass ab einem bestimmten Punkt die Fakten nicht mehr genügten, um die „Welten“ jener Zeit wiederzubeleben¹⁰⁴, daher wählte er einen anderen Weg: Ich mußte Folgerungen ziehen oder mir ausdenken, was die Fakten einst zu bedeuten hatten. Um diesem Aspekt meiner Arbeit gerecht zu werden, suchte und fand ich Anregung in den großen Romanen des vergangenen Jahrhunderts, denn, wie Lionel Trilling sagt, „der Roman ist eine ständige Suche nach der Wirklichkeit, das Feld seiner dichterischen Forschung immer die soziale Welt, der Stoff seiner Analyse sind immer Verhaltensweisen als Hinweise auf die Zielrichtung der menschlichen Seele.“¹⁰⁵
Auch der Soziologe Wolfgang Sofsky deutet in seinem Buch Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager auf einen ähnlichen Umweg hin, indem er konstatiert, dass die literarischen Zeugnisse („‚littérature de témoignage‘“) der Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager einen „Zugang zur Bedeutungswelt der Gefangenen [eröffnen], den auch die historiographischen Darstellungen nicht bieten können“¹⁰⁶. Während jedoch die Romane des 19. Jahrhunderts Stern nur als Anregungen dienten, um neue Schlüsse aus den alten Fakten zu ziehen, fand Sofsky in der Bearbeitung der verwandelten Zeugnisse der Überlebenden einen anderen Zugang zur Geschichte. Das wesentliche Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, über die bloße „Anregung“ hinauszugehen und die Fiktion – genauer: die Filmfiktion –, als integralen Bestandteil einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung, bei der auch filmwissenschaftliche Methoden und Theorien zur Anwendung kommen, ins Zentrum der Untersuchung zu rücken. Das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Film bildet den ersten Schwerpunkt der Arbeit, in welchem ich mein Augenmerk auf die folgenden Fragen richten möchte: Inwieweit besteht eine Korrelation zwischen den Themen und Fragen, welche die Filme anregen, und den
Vgl. Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 19. Stern, Gold und Eisen, S. 19. Das Zitat von Lionel Trilling stammt aus: Trilling, Lionel: The Liberal Imagination. Essays on Literature and Society. New York 1950, S. 212. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt am Main 1997, S. 25.
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1 Einleitung
Tendenzen der Forschung? Ist der Einfluss der Forschung auf den Film erkennbar? Spiegeln sich ihre Ergebnisse in den Filmen wider? Andererseits: Geben die Filme Antworten auf Forschungsfragen? Sind die Filme in der Lage, geschichtswissenschaftlich relevante Erkenntnisse zu liefern? Sind die Filme in der Lage, neue Fragen anzuregen? Schließlich: Welche Möglichkeiten könnte die Filmfiktion der Geschichtswissenschaft eröffnen? Die Frage nach dem Nutzen der Fiktion für die Geschichtswissenschaft bildet den Übergang zum zweiten Themenschwerpunkt der vorliegenden Arbeit, in deren Zentrum die Darstellung des bewaffneten jüdischen Widerstands im Film steht. Hier soll nicht nur von Interesse sein, wie die verschiedenen Formen des Widerstands in den Filmen repräsentiert werden, sondern auch welches ästhetische Verfahren, welche Mechanismen und Strukturen angewandt wurden, um die verschiedenen Zeugnisse, Berichte, Dokumente und historiographische Arbeiten in die Sprache des Films bzw. in eine erzählbare filmische Handlung zu übersetzen. Demnach stellen sich folgende Fragen: Wie wurden die Quellen und die historischen Ereignisse verarbeitet? Was wurde hinzugefügt, was weggelassen? Was war der Sinn dieser Veränderungen? Was erzählen uns die Filme über den bewaffneten jüdischen Widerstand? Gegenstand der Untersuchung bilden, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, die drei US-amerikanischen Spielfilme Uprising, The Grey Zone, und Defiance, die in den Jahren 2001 bis 2008 entstanden sind und auf Zeugnissen von Überlebenden und historiographischen Darstellungen beruhen. Inhaltlich grenzen die genannten Filme den Widerstand begrifflich, geographisch sowie chronologisch ein: Uprising zeichnet die Geschichte der Untergrund- und Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto nach, The Grey Zone versucht das moralische Dilemma der sogenannten Sonderkommando-Häftlinge von Auschwitz-Birkenau, die am Aufstand vom 7. Oktober 1944 beteiligt waren, auszuloten, und Defiance wirft die Frage nach dem eigentlichen Sinn des Widerstands auf und projiziert sie auf die zwei Protagonisten des Films, die Brüder Tuvia und Zus Bielski. Zusammenfassend handelt es sich demnach um die Untersuchung der Darstellung des bewaffneten jüdischen Widerstands in Polen und Weißrussland in den Jahren 1942 – 1944 – also beginnend mit dem ersten Zusammentreffen der Bielski-Brüder in den Wäldern bei Nowogródek im Mai 1942, über den Warschauer Ghetto Aufstand im April 1943 bis hin zur Revolte des Sonderkommandos in AuschwitzBirkenau im Oktober 1944. Die Auswahl der Filme grenzt den Untersuchungszeitraum jedoch auch hinsichtlich der Produktionszeit ein: Wie bereits oben erwähnt, wurden alle drei Spielfilme in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts produziert. Innerhalb dieser Zeitspanne erreichte der „Trend zur Authentizität“ nicht nur seinen Kulminationspunkt, sondern näherte sich mit dem Erscheinen von Quentin Tarantinos
1.3 Fragestellung, Untersuchungsgegenstand, Quellen
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kontrafaktischem Spielfilm Inglourious Basterds (Inglourious Basterds, USA, D 2009) seinem vermutlich vorläufigen Ende. In Tarantinos Film wird das Kino selbst zum Schauplatz des bewaffneten jüdischen Widerstands. Und es ist das Kino, das am Ende gewinnt, indem es Hitler mitsamt seiner Nazi-Elite, die in einem Kinosaal eingeschlossen werden, in Flammen aufgehen lässt.¹⁰⁷ Noch nie zuvor waren Kino und Widerstand so eng miteinander verbunden. Mit gleich vier Spielfilmen über jüdische Aufstände und Revolten während des Holocaust, könnten diese ersten Jahre des 21. Jahrhunderts aus filmgeschichtlicher (und geschichtswissenschaftlicher) Sicht auch als eine (kurze) Dekade des bewaffneten jüdischen Widerstands im US-Kino bezeichnet werden, dessen Anfang der selbsterklärte „authentische“ Widerstandsfilm Uprising und dessen Ende das kontrafaktische Werk Inglourious Basterds markieren.¹⁰⁸ Im Folgenden soll in zwei vorangestellten Kapiteln – 1. Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Fiktion; 2. Rezeption und Repräsentation des Jüdischen Widerstands – kurz in die oben erwähnten zentralen Themenkomplexe eingeführt werden. Die Darstellungen und Zusammenfassungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte damit lediglich die Herausbildung bestimmter Ideen und Fragestellungen nachzeichnen. Es soll zum einen sichtbar werden in welcher Denktradition die Thesen der Arbeit verortet sind und zum anderen wie sich die Perspektive entwickelt hat, aus der heraus die Filme untersucht werden. Anschließend erfolgt in drei separaten Kapiteln die Analyse der Spielfilme: Uprising: Der Weg der Mythen, The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte und schließlich Defiance: Die Verwandlung der Wälder. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Darstellung von Helden und Märtyrern sowie die Konstruktion von Mythen und Gegenmythen gelegt. Im Zentrum der Analysen stehen sowohl die visuelle Gestaltung sowie die narrative Struktur der Filme als auch ihr Verhältnis zu den Quellen, die kurz genannt werden sollen. Für die Analyse von Uprising stehen die folgenden Quellen¹⁰⁹ zur Verfügung: Die Tagebücher von Adam Czerniakow und Chaim A. Kaplan, Erinnerungen (und andere autobiographische Schriften) von Marek Edelman, Simha Rotem, Yitzhak Zuckerman und Zivia Lubetkin. Tim Blake Nelson, der sich eng an Primo Levis Aufsatz Die Grauzone gehalten hat, wählte die Erinnerungen Miklós Nyiszlis als zentrale Referenz. Zusätzlich griff er auf die überlieferten Handschriften der er-
Mehr zu Tarantino und seinem Film Inglourious Basterds im Schlusskapitel (Kapitel 7) Angesichts von nur vier Filmen in zehn Jahren scheint der Begriff „Dekade des bewaffneten jüdischen Widerstands im US-Kino“ womöglich etwas übertrieben. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass davor Jahrzehnte lang keine Filme über den (bewaffneten) jüdischen Widerstand produziert wurden, kann die Hyperbel vielleicht verziehen werden. Nähere Angaben zu den Quellen erfolgen in den jeweiligen Teilen der Arbeit.
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1 Einleitung
mordeten Sonderkommando-Häftlinge Salman Gradowski und Salman Lewenthal zurück. Es ist auch denkbar, dass er die Aussagen des ehemaligen Sonderkommando-Häftlings und Protagonisten aus Claude Lanzmanns Shoah (Shoah, F 1985), Filip Müller, kannte. Die Berichte Gradowskis und Lewenthals werden bei der Analyse daher ebenso berücksichtigt werden wie Müllers Aussagen. Edward Zwicks Defiance wiederum basiert gänzlich auf Nechama Tecs historiographischem Werk Bewaffneter Widerstand, weshalb bei der Analyse überwiegend auf Tecs Buch zurückgegriffen wird. Um die oben gestellten Fragen beantworten zu können, müssen die Spielfilme gegen die Quellen „gelesen“ werden. In der Differenz zwischen den ereignisgeschichtlichen Tatsachen und deren Fiktionalisierung offenbaren sich die Erkenntnisse. Oder wie es in T. S. Eliots Gedicht The Hollow Men heißt: Zwischen der Realität und der Idee liegt der Schatten.¹¹⁰ Dieser Schatten wird erst sichtbar, wenn das Licht gleichermaßen auf die Realität sowie die Idee geworfen wird.
Vgl. Eliot, T. S.: Gesammelte Gedichte 1909 – 1962. Hg. von Eva Hesse, Frankfurt am Main 1988, S. 134.
2 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft Kunst ist nicht die Wahrheit; Kunst ist eine Lüge, die uns in die Lage versetzt, die Wahrheit zu erkennen. (Pablo Picasso) Das reine Faktum gibt es ja für den menschlichen Verstand nicht. Wer auch immer sich wie auch immer mit dem Holocaust befaßt, interpretiert. (Ruth Klüger)
Bevor sich Natalie Zemon Davis in ihrem oben erwähnten Aufsatz der Problematik filmischer Authentizität widmete, war es ihr ein Anliegen, noch einmal die Ziele der HistorikerInnen in Erinnerung zu rufen, um diese im Anschluss an ihre Analyse den Möglichkeiten fiktionaler Filme gegenüberzustellen. Am Anfang von „Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen …“ ist daher zu lesen: Historiker möchten aufzeichnen, was geschehen ist, gewiß, aber sie wollen auch erklären, warum es geschah und was sich damit änderte; sie wollen die zentralen Wertvorstellungen einer Zeit offenlegen, zeigen, wie sie sich ineinander fügen oder welche Konflikte es zwischen ihnen gab; sie möchten hervorheben, in welch unterschiedlicher Weise ein und dasselbe Ereignis von Zeitgenossen verstanden und darüber berichtet wurde; sie wollen das Wechselspiel zwischen dem Leben von Einzelnen und breiten gesellschaftlichen Bewegungen zeigen.¹
Fiktionalen Filmen, die auf historischen Ereignissen beruhen, sei es hingegen nur möglich, eine Version der Geschichte zu erzählen, was Davis am Beispiel von Die Passion der Jungfrau von Orleans zu belegen versucht: Dreyer wollte, daß die Richter nicht als böse, heimtückische Männer, sondern als Personen gesehen werden, die die Gefahren der Hexerei und der Auflehnung gegen kirchliche Autorität ernst nahmen. Trotzdem ist die Kamera in Jeanne d’Arc so platziert, daß sie nur eine Geschichte erzählt, so sehr sie auch versucht, ausgewogen zu sein, indem sie glaubhafte historische Beurteilung vornimmt.²
Davis, Ähnlichkeit, S. 39 – 40. Davis, Ähnlichkeit, S. 62. https://doi.org/10.1515/9783110604726-003
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2 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft
Es seien daher zwei historiographische Aufgaben, die der fiktionale Film weniger gut oder überhaupt nicht zu leisten vermöge: Zum einen „die Möglichkeit anzudeuten, daß man in ganz anderer Weise über das Geschehene berichten könnte“ und zum anderen „einige Hinweise auf ihren eigenen Wahrheitsstatus zu geben, einen Hinweis darauf, woher die Kenntnis der Vergangenheit stammt und über unsere Beziehung zu ihr“³. Die Historiographie erfülle diese Aufgaben durch die Verwendung von Fußnoten und Anmerkungen, in denen den LeserInnen signalisiert werde, dass auch andere Versionen und Sichtweisen derselben Geschichte möglich seien.⁴ Dieser methodische Zugang zur Geschichte fehle dem Film. Davis Kritik mag durchaus berechtigt sein, jedoch greift sie meines Erachtens etwas zu kurz. Wir sollten nicht fragen, ob es dem Film möglich sei, historische Ereignisse in ihrer Komplexität genauso begreifen und wiedergeben zu können wie historiographische Werke. Damit würden wir lediglich eine Deutungskonkurrenz konstruieren anstatt über die Möglichkeiten der Filmfiktion zu reflektieren. Wir sollten daher vielmehr fragen, woraus diese Möglichkeiten bestehen und wie wir sie für unsere Arbeit als HistorikerInnen nutzen können. Welche Fragen müssen wir dem Film stellen, um Erkenntnisse gewinnen zu können? Wie sollen wir uns einer Filmfiktion, die auf historische Ereignisse zurückgreift, nähern? Welche Methoden stehen uns zur Verfügung? Dem Historiker Marc Ferro zufolge gibt es „verschiedene Methoden, sich mit Filmen auseinanderzusetzen, in denen geschichtliche Ereignisse dargestellt werden. Die gängigste stammt aus wissenschaftlicher Tradition und besteht darin, zu prüfen, ob die Rekonstruktion der Ereignisse auch genau ist.“⁵ Ferro gehörte zusammen mit Davis zu den wenigen HistorikerInnen, die sich bereits in den frühen 1980ern für das Kino zu interessieren begannen und nach Wegen suchten, fiktionale, jedoch auf historischen Ereignisse basierende Filme in ihre wissenschaftlichen Untersuchungen zu integrieren. Die oben zitierte Feststellung entstammt seinem erstmals 1985 in Frankreich veröffentlichten Aufsatz Y a-t-il une vision filmique de l’histoire? ⁶, der 1991 in deutscher Übersetzung in dem von Rainer Rother herausgegebenen Band Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino ⁷ erschienen ist.Wie der Titel seines Aufsatzes verrät, versucht Ferro darin nicht nur zu ergründen, welcher Analyseverfahren sich die Geschichtswissenschaft bedie-
Davis, Ähnlichkeit, S. 61. Vgl. Davis, Ähnlichkeit, S. 62. Ferro, Marc: Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte? In: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin 1991, S. 17– 36, hier: S. 17. Ferro, Marc: Y a-t-il une vision filmique de l’histoire? In: Ferro, Marc: L’histoire sous surveillance, Calmann-Lévy 1985, S. 109 – 131. Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin 1991.
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nen könnte, um ausgewählte Filme zu untersuchen, sondern auch aus welcher Perspektive das Kino die Geschichte betrachtet bzw. wie sich der Film historischen Ereignissen annimmt. Welchen wissenschaftlichen Beitrag, so Ferro, könnte das Kino zur „Klärung historischer Phänomene“⁸ liefern? Ferros Frage war vielleicht nicht revolutionär, doch in ihrer Zeit ungewöhnlich. Denn das Verhältnis zwischen der Geschichtswissenschaft und dem Film war eher unausgeglichen: Während sich das Kino schon immer für die Historiographie interessiert hat, wurde es von ihr lange Zeit ignoriert. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft beispielsweise bildete die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Film in den 1980ern und 1990ern ein Desiderat. Die allmähliche Hinwendung zum Film als Untersuchungsgegenstand vollzog sich in der Bundesrepublik anfangs nur zögerlich, was auch die geringe Auswahl an deutschsprachigen Beiträgen in dem von Rother herausgegebenen Band belegt.⁹ Die ersten Impulse in diese Richtung erhielt die Geschichtswissenschaft seitens der Archivare. 1974 wurde auf dem Deutschen Archivtag¹⁰ erstmals „ausführlich über die Nutzung der audiovisuellen Überlieferung durch die Geschichtswissenschaft“¹¹ sowie über die Möglichkeiten diskutiert, die diese Methode bietet. Friedrich P. Kahlenberg und Peter Bucher „empfahlen den Historikern in den 1970er/80er Jahren wiederholt die Nutzung des Spielfilms und der Wochenschau als visueller Quelle“¹². Mitte der 1980er Jahre mehrten sich dann die Stimmen einiger WissenschaftlerInnen aus der Sozial-, Alltags sowie Kunstgeschichte, die „die Anerkennung von Bildern einschließlich des Filmes als Quellen der Geschichtswissenschaft mit eigener Aussagekraft“¹³ forderten. Mit dem visual bzw. pictorial turn in den 1990er Jahren wuchs in den Geisteswissenschaften das Interesse an audio-visuellen Medien. Die deutschsprachige NS-Historiographie und Holocaust-Forschung zeigte hingegen lange Zeit kein oder nur wenig Interesse an filmischen Repräsentationen historischer Ereignisse. Hier waren die WissenschaftlerInnen anfangs noch weit davon entfernt, ähnliche Fragen an das Medium zu stellen wie Marc Ferro. Ihr Verhältnis zu den NS- und Holocaust-Filmen durchlief mehrere Phasen und wurde
Ferro, Geschichte, S. 21. Vgl. Rother, Rainer: Vorwort: Der Historiker im Kino. In: Rother, Rainer (Hg.): Der Historiker im Kino. Berlin 1991, S. 7– 15, hier: S. 14. Vgl. Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen. Hg. vom Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, 28. Jahrgang, Düsseldorf 1975, S. 50 – 51. Paul, Gerhard: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 7– 36, hier: S. 8. Paul, Visual History, S. 8. Paul, Visual History, S. 8.
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2 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft
im Wesentlichen von zwei Medienereignissen geprägt: zum einen durch die Ausstrahlung der US-amerikanischen Mini-Serie Holocaust (Holocaust, USA 1978) im deutschen Fernsehen im Januar 1979 und zum anderen durch den Kinostart von Schindlers Liste im März 1994. Eine weitere – wenn auch kaum wahrnehmbare – Wende innerhalb dieser Rezeptionsgeschichte vollzog sich im Zuge der medialen sowie wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Produktion Der Untergang im Jahr 2005. Im selben Jahr veröffentlichte Gerhard Paul ein Studienbuch, in dem er eine „Schule des Sehens“¹⁴ forderte und zugleich einen Begriff prägte, unter dem sich „alle jene Versuche, die unterschiedlichen Bildgattungen als Quellen und eigenständige Gegenstände in die historiographische Forschung einzubeziehen, Bilder sowohl als Abbildungen als auch Bildakte zu behandeln, die Visualität von Geschichte wie die Historizität des Visuellen zu thematisieren und zu präsentieren“¹⁵ zusammenfassen ließen: Visual History. Doch erst nach der Jahrtausendwende konnte Axel Schildt in seinem Aufsatz über das Jahrhundert der Massenmedien konstatieren, dass die „Zeiten, in denen Historiker in rankeanischer Tradition offen ihre ignorante Geringschätzung gegenüber der Geschichte der modernen Medien, als Objekte und als Quellen (‚veritas in actis‘), zum Ausdruck brachten, […] wohl – allerdings noch nicht sehr lange – vorbei“¹⁶ seien. Im Folgenden möchte ich anhand von einzelnen Filmbeispielen und ihrer Rezeption darstellen, wie sich eine bestimmte Fragestellung hinsichtlich des Umgangs mit Spielfilmen in der deutschen NS- und Holocaust-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Es handelt sich im gewissen Sinne um die Genealogie einer Idee, einer besonderen Art über Filme nachzudenken. Dieser Idee oder dieser Form des Nachdenkens über das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Film liegen die zentralen Fragen meiner Arbeit zugrunde: Kann der fiktionale Film der Geschichtswissenschaft dienliche Erkenntnisse liefern? Und wenn ja, mit welchen Methoden können HistorikerInnen fiktionale Filmen für die Forschung nutzbar machen? Wie können – wenn überhaupt – aus Fiktionen geschichtswissenschaftlich relevante Erkenntnisse gewonnen werden? Gibt es eine Korrelation zwischen der Schwerpunktsetzung der Forschung und den Themen der Filme?
Paul, Visual History, S. 7. Paul, Visual History, S. 25. Schildt, Axel: Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 27. Jahrgang, Heft 2 (2001), S. 177– 206, hier: S. 177.
2.1 Holocaust und Schindlers Liste
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2.1 Holocaust und Schindlers Liste: Von ersten Annäherungen und Darstellbarkeitsdebatten „Der Warschauer Ghetto-Aufstand und die mit Folklore umgebene jüdische Partisanentätigkeit in der Ukraine sind weit über das Maß der nur minimalen jüdischen Widerstands-Aktivitäten hinaus in Szene gesetzt, so proportioniert, wie junge Israelis sich wahrscheinlich wünschen, daß es gewesen sein möge.“¹⁷ Martin Broszat veröffentlichte im April 1979 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte einen Aufsatz über die US-amerikanische Serie Holocaust und dessen Wirkung auf die Zeitgeschichtsforschung. Die deutsche Erstausstrahlung der vierteiligen TV-Produktion im Januar 1979 hatte ein breites Echo in den Medien und innerhalb der Geschichtswissenschaft hervorgerufen, dem sich vermutlich auch Broszat nicht ganz entziehen konnte. Rückblickend betrachtet, markiert die Ausstrahlung der Serie „eine folgenreiche, wenn nicht die folgenreichste Zäsur im geschichtskulturellen Diskurs der Bundesrepublik über Nationalsozialismus und Judenmord“¹⁸. Zum ersten Mal zeigte das Fernsehen „in einem fiktionalen Format“ die Vernichtung der europäischen Juden „in allen seinen Etappen in qualitativ neuen Bildern“: „angefangen von der Zwangsarbeit, der Folter in den Konzentrationslagern, über die Massenerschießung in Gruben, die Ermordung in Gaswagen sowie schließlich die Deportation in die Vernichtungslager und die Vergasung in Auschwitz“¹⁹. Ebenso wurde dem jüdischen Widerstand zum ersten Mal im Rahmen eines Spielfilms ein so breiter Raum gewährt: In drei von insgesamt vier Folgen werden die ZuschauerInnen zu ZeugInnen der Widerstandsaktivitäten im Warschauer Ghetto, der PartisanInnenkämpfe in den Wäldern und schließlich des Aufstands im Vernichtungslager Sobibor. Auch wenn die Darstellungen chronologisch falsch und faktisch ungenau sind, waren sie zur damaligen Zeit und in jenem Umfang ein Novum. Broszats Urteil, demzufolge die Aufstände, Revolten und Kämpfe über das Maß hinaus inszeniert worden seien, spiegelt daher lediglich den diesbezüglich eher geringen Kenntnisstand der damaligen NS-Forschung wider.²⁰ Viel aufschlussreicher als seine Betrachtungen hinsichtlich des jüdischen Wider-
Broszat, Martin: „Holocaust“ und die Geschichtswissenschaft. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 285 – 298, hier: S. 287. Paul, Gerhard: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft. In: Paul, Gerhard & Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre. Göttingen 2010, S. 15 – 38, hier: S. 16. Paul, Holocaust, S. 15 – 16. Siehe Forschungsüberblick zum jüdischen Widerstand in Kapitel 3.
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2 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft
stands sind hingegen seine Bemerkungen bezüglich des Verhältnisses von Zeitgeschichtsschreibung und Filmfiktion. In seinem Aufsatz zeigt sich Broszat erstaunt über die Wirkung der US-amerikanischen Miniserie, die seines Erachtens sowohl HistorikerInnen und PublizistInnen als auch RegisseurInnen gleichermaßen eine Lektion erteilt habe: Sie alle hatten sich bisher, wenn überhaupt, an das hierzulande besonders heikle Thema des jüdischen Schicksals in der Hitlerzeit nur auf sehr vorsichtige, sachlich unterkühlte Weise herangewagt. Jetzt geschah dies: Millionen von Zuschauern in der Bundesrepublik wurden durch die Fernseh-Serie von der jüdischen Katastrophe während der NS-Herrschaft intensiver als je zuvor berührt, viele vielleicht zum ersten mal überhaupt nachdrücklich mit ihr konfrontiert.²¹
Diese Wirkung habe, so Broszat weiter, nicht etwa „ein sorgsam erarbeitetes Geschichtswerk“ erzielt, sondern ein in Bezug „auf historische Stimmigkeit eher unbekümmert inszenierter Hollywood-Film“²². Seinen Erfolg habe die Serie dem Historiker zufolge der „konkurrenzlose[n] Reichweite und Suggestivkraft“²³ des Fernsehens, dessen „manipulative[m] Potential“²⁴ und vor allem „Erfolgsrezept melodramatischer historischer Spielfilm-Show-Inszenierung[en]“²⁵ zu verdanken. Broszats anschließende Analyse lässt sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Der Umgang der Filmemacher mit den Fakten, den Quellen und der historischen Vorlage sei zu frei: „Auch sonst ist der Tatsachenkern geschichtlicher Vorgänge häufig mit übergroßer Freiheit abgewandelt.“²⁶ 2. Der Film, der sich „so vieler Fehlgriffe“²⁷ schuldig gemacht habe, veranschauliche und erkläre darüber hinaus „fast nichts von dem historisch-politischen System und Umfeld, das die Judenverfolgung in Gang setzte bzw. ermöglichte“²⁸. 3. Nur selten sei dem Werk „eine einfühlsame, verdichtete Wiedergabe des Wesentlichen historischer Situationen, Zustände und Verhaltensweisen“²⁹ gelungen.
Broszat, Holocaust, S. 285. Broszat, Holocaust, S. 285. Broszat, Holocaust, S. 286. Broszat, Holocaust, S. 287. Broszat, Holocaust, S. 287. Broszat, Holocaust, S. 287. Broszat, Holocaust, S. 287. Broszat, Holocaust, S. 287. Broszat, Holocaust, S. 287.
2.1 Holocaust und Schindlers Liste
4.
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Eine eklatante Diskrepanz zwischen Vorhaben und Umsetzung: „Resolut entschlossen, alles in Szene zu setzen, was historische ‚Tatsache‘ gewesen ist, verfehlt der Film aber vor allem die Realität dessen, was Lager-Fabriken wie Auschwitz an Degradierung, Entpersönlichung, Enthumanisierung bedeutet haben.“³⁰
Zwar verweist Broszat in einem Nebensatz auf die Leistungen des Films, der die Forschung auf „Defizite“³¹ aufmerksam gemacht und der breiten Öffentlichkeit einen neuen „Erinnerungsanstoß“³² gegeben habe, konstatiert aber zugleich, dass die Fernsehproduktion weit „hinter der großen historiographischen Überlieferung zur Geschichte der jüdischen Katastrophe in der NS-Zeit“³³ zurückgeblieben sei. Ein ähnliches Urteil sollte (wie oben dargestellt) wenige Jahre später auch Natalie Zemon Davis über Historienfilme fällen. Holocaust hatte die Schwerpunktsetzung innerhalb der deutschsprachigen Forschung nachhaltig verändert. In dieser Hinsicht kann die Wirkung der Miniserie auf die Entwicklung der NS- und Holocaust-Forschung in den 1980er und 1990er Jahren kaum hoch genug eingeschätzt werden.³⁴ Rund fünfzehn Jahre später sollte Ahnliches erneut einem „künstlerisch am Mainstream ausgerichtete[m] Produkt“³⁵ gelingen. Am 1. März 1994 feierte in Deutschland Steven Spielbergs Schindlers Liste Premiere. Die Resonanz in den Medien war enorm. Doch im Gegensatz zu der Serie Holocaust, die anfangs in der Presse „auf deutliche Ablehnung“³⁶ stieß, überwogen in den Feuilletons die positiven Stimmen.³⁷ In diesem „lauten Gewirr der anerkennenden und kritischen Stimmen“ ließen sich jedoch „in Deutschland Zeithistoriker kaum vernehmen“³⁸, wie Michael Wildt in seinem Aufsatz Das Erfundene und das Reale kritisch anmerkt. Zu den wenigen Ausnahmen gehörte Wolfgang Benz, der sich in der ZEIT zu Wort meldete. Benz’ Artikel Bilder statt Fußnoten kann als eine verspätete Replik auf Broszats Aufsatz gelesen werden:
Broszat, Holocaust, S. 288. Broszat, Holocaust, S. 296. Broszat, Holocaust, S. 288. Broszat, Holocaust, S. 298. Vgl.Wildt, Michael: Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 5 (2008) H. 3, Textabschnitt 4. http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Wildt-3 -2008 (04. Juli 2015). Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 171. Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 170. Thiele, Martina: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Münster 2001, S. 431– 459. Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 324.
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2 Vom Nutzen der Filmfiktion für die Geschichtswissenschaft
Sind die Frauen zu schön und die Schurken zu schändlich, die Kinder zu herzig und rührend gezeichnet, ist das Elend der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Krakau zu opernhaft inszeniert? Viele weitere Einwände – gegen nicht stimmende Details, gegen die Überzeichnung von Personen, gegen die Nichterreichbarkeit von Authentizität – könnte man vom Katheder des ernsten Historikers herab verkünden.³⁹
Aber, so fragt Benz weiter, „was bewirken solche Vorbehalte, geäußert in der Furcht, Geschichte könnte zum Melodram verkommen?“⁴⁰ Nichts anderes als die „Selbstbeschäftigung der akademischen Zunft“⁴¹, wie sie sich bereits in der Reaktion auf die Serie Holocaust gezeigt hat. Zu jener Zeit, so Benz, waren die HistorikerInnen „überwiegend böse und beleidigt, fanden eine beträchtliche Zahl von Unstimmigkeiten und falschen Details“⁴². Aber wie „authentisch, wie quellengetreu muß der Bericht über das historische Ereignis sein? Natürlich soweit wie möglich. Aber ist das schon die ganze Antwort?“ Benz brachte einen neuen Ton, eine neue Perspektive in die Debatte: „Um begreiflich zu machen, was geschah, braucht es eben die literarische und dramatische Form.“⁴³ Dieser Sichtweise schloss sich auch Michael Wildt an und verschärfte noch einmal den Ton: Es genügt nicht, Spielbergs Film quasi wissenschaftsimmanent zu diskutieren, seine Defizite und Auslassungen hervorzuheben, ihm letztendlich mangelnden Realismus vorzuwerfen. Solcherart Kritik ist nicht nur in einem hohen Maß selbstgerecht, sie umgeht vor allem die Frage nach dem eigenen Medium, der Schrift, und dessen Differenz zum Bild.⁴⁴
Benz und Wildt fragten – wie zuvor Davis –, wie mit der filmischen Authentizität umzugehen sei und wie dieser sich zu der offensichtlichen Fiktionalität der visuellen Erzählwerke verhalte: „[…] ‚Schindlers Liste‘ ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Spielfilm. Er entzieht sich damit solchen wissenschaftlichen Kriterien, die, indem sie den fiktionalen Charakter des Films ignorieren, seine Authentizität einfordern.“⁴⁵ Fortan, so war den Stellungnahmen der beiden Historiker zu entnehmen, sollte sich die Geschichtswissenschaft nicht darauf beschränken, historische Fehler aufzuzählen – wie zuvor Broszat in seiner Kritik –
Benz, Wolfgang: Bilder statt Fußnoten. Wie Authentisch muß der Bericht über ein geschichtliches Ereignis sein? Anmerkungen eines Historikers zu „Schindlers Liste“. In: DIE ZEIT, 10 (1994). http://www.zeit.de/1994/10/bilder-statt-fussnoten (25. August 2015). Benz, Bilder statt Fußnoten. Benz, Bilder statt Fußnoten. Benz, Bilder statt Fußnoten. Benz, Bilder statt Fußnoten. Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 324. Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 332.
2.1 Holocaust und Schindlers Liste
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und „‚authentischere‘ Realität einzufordern“⁴⁶. Vielmehr könnte die Forschung sich sukzessive den Möglichkeiten der Fiktion öffnen und damit zugleich über eine „adäquate Historiographie im Bildzeitalter“⁴⁷ nachdenken. Nur so könnte „ein interessanter und produktiver Dialog entstehen“⁴⁸ zwischen den „Realitätsillusion[en]“⁴⁹ der Spielfilme und dem hohen Anspruch der NS-Forschung sowie ihrem durch „wissenschaftlicher Akribie und Quellenkritik gesicherte[m] Wissen um historische Wirklichkeiten“⁵⁰. Spielbergs Film hatte, wie zuvor der Vierteiler von Marvin J. Chomsky, die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wieder ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt und damit Debatten über „Grundfragen des Gedenkens und Erforschens des Holocaust“⁵¹ angeregt. Kann man, darf man, so lautete eine dieser Grundfragen, den Massenmord ins Bild setzen? Darf ein Filmemacher Bilder aus den Gaskammern zeigen? Gab es Grenzen des Darstellbaren? Der zuletzt gestellten Frage hatte sich die internationale Holocaust-Forschung bereits Ende April 1990 auf der Konferenz Nazism and the „Final Solution“: Probing the Limits of Representation gewidmet, die an der University of California, Los Angeles, stattgefunden hatte.⁵² Nach Schindlers Liste wurde die Frage nach den Grenzen des Darstellbaren auf den Spielfilm übertragen und in der Öffentlichkeit bzw. in den Medien erörtert. Innerhalb dieser Debatte machte insbesondere Claude Lanzmann, der sich als lautstarker Vertreter eines generellen Abbildungsverbots inszenierte, auf sich aufmerksam und kritisierte Spielberg, dem er zusätzlich vorwarf, Motive aus seinem Film Shoah entwendet zu haben: „Ich habe das Gefühl, Spielberg hat einen illustrierten Shoah gemacht. Er hat Bilder eingesetzt, wo in Shoah keine waren, und Bilder töten die Imagination.“⁵³ In seinem am 5. März 1994 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Einspruch gegen Schindlers Liste zog er einen metaphorischen „Flammenkreis“⁵⁴ um den Holocaust. Dieser dürfe, so Lanzmann nicht überschritten werden. Wer es den-
Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 334. Wildt, Das Erfundene und das Reale Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 333. Wildt, Das Erfundene und das Reale Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 332. Wildt, Das Erfundene und das Reale, S. 324. Friedländer, Saul (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“. Cambridge/London 1992. Lanzmann, Claude: Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen Schindlers Liste. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. März 1994, S. 27. Lanzmann, Einspruch, S. 27.
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noch wagen sollte, versündige sich: „Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist.“⁵⁵ Lanzmanns grundlegende Kritik an Spielbergs Film war nicht nur eine moralische, sondern auch eine ästhetische, welche die filmische Rekonstruktion generell betraf: „Wenn es ein Spielfilm ist, dann ist es kein Film über den Holocaust. Das ist eine Realität, die jede Fiktion übertrifft.“⁵⁶ Ähnlich hatte sich bereits Elie Wiesel Ende der 1980er geäußert: „Ein Roman über Auschwitz ist entweder kein Roman oder er handelt nicht von Auschwitz.“⁵⁷ Einen entgegengesetzten Standpunkt zu Lanzmanns und Wiesels Absage an jegliche Form der Fiktionalisierung – und letztendlich „Ästhetisierung“ – des Holocaust nahm hingegen Imre Kertész ein, der bereits in seinem erstmals 1993 in Deutschland erschienenen Galeerentagebuch diesbezüglich geschrieben hatte: „Das Konzentrationslager ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, aber als Realität nicht.“⁵⁸ Diese „Realität von Auschwitz“, so Kertész weiter, sei schließlich „eine unvorstellbare Welt, eine Welt, die sich nur mittels der ästhetischen Phantasie vorstellen“⁵⁹ ließe. Das Unbeschreibliche (oder Undarstellbare) an Auschwitz, auf das Lanzmann und Wiesel verweisen, lässt sich mit Hilfe der „ästhetischen Phantasie“ in eine beschreibbare Form verwandeln.⁶⁰ Seine Auffassung über die Darstellbarkeit bekräftigte Kertész in dem Aufsatz Lange, dunkle Schatten noch einmal: „Vom Holocaust, dieser unfaßbaren und unüberbrückbaren Wirklichkeit, können wir uns allein mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft eine wahrhafte Vorstellung machen.“⁶¹ In seiner Kritik zu Roberto Benignis Tragik-Komödie Das Leben ist schön, die er anlässlich des Kinostarts 1998 unter dem Titel Wem gehört Auschwitz? veröffentlichte, bezieht sich Kertész noch einmal explizit auf den oben beschriebenen Zusammenhang und wiederholt seinen Ausspruch über die Vorstellbarkeit von Auschwitz ausschließlich in der Literatur.⁶² Filme wie Schindlers Liste und Das Leben ist schön veränderten die Wahrnehmung des Holocaust in der Öffentlichkeit und beeinflussten die Fragen in-
Lanzmann, Einspruch, S. 27. Lanzmann, Claude in einem Interview mit Mariam Niroumand. In: Die Tageszeitung vom 23. März 1994. Wiesel, Elie: Plädoyer für die Überlebenden. In: Wiesel, Elie: Jude heute. Erzählungen, Dialoge, Essays. Wien 1987, S. 183 – 216, hier: S. 203. Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 253. Kertész, Galeerentagebuch, S. 291. Vgl. Földényi, Lászlo F.: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 292. Kertész, Imre: Lange, dunkle Schatten. In: Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt am Main 2003, S. 53 – 60, hier: S. 54. Vgl. Kertész, Wem gehört Auschwitz?, S. 148.
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nerhalb der Forschung. Während in der Debatte um Schindlers Liste die authentische Darstellung der Verfolgung und Vernichtung sowie die Grenzen der Darstellbarkeit abgehandelt wurden, widmeten sich die KritikerInnen im Zuge der Rezeption von Benignis Film anderen Fragen des Zeigbaren: Es wurde nicht mehr gefragt, ob der Holocaust darstellbar sei, sondern wie. Kertész verteidigte Benignis Film, indem er festhielt: Ich glaube, da läßt sich wieder ein Chor von Holocaust-Puritanern, Holocaust-Dogmatikern, Holocaust-Usurpatoren hören: ‚Kann man, darf man so über Auschwitz reden?‘ Aber was heißt, genauer betrachtet, dieses so? Nun so, humorvoll, mit den Mitteln der Komödie – würden diejenigen sagen, die den Film mit den Scheuklappen der Ideologie gesehen (genauer: nicht gesehen) und nicht ein Wort, nicht eine Szene daraus verstanden haben.⁶³
Den Realismus bzw. den Authentizitätsanspruch von Filmen wie Schindlers Liste – also von Filmen der sogenannten Holocaust-Veritas-Schule⁶⁴ – lehnte Kertész indes kategorisch ab: Es ist offenbar, daß der Amerikaner Spielberg, der übrigens in der Zeit des Krieges noch nicht auf der Welt war, keine Ahnung hat – und haben kann – von der authentischen Realität eines nazistischen Konzentrationslagers; warum quält er sich dann aber damit ab, diese ihm unbekannte Welt so auf die Leinwand zu bringen, daß sie in jedem Detail authentisch erscheine?⁶⁵
Sowohl die RezipientInnen als auch die ProduzentInnen der Holocaust-Filme schienen sich gleichermaßen und mit gleicher Anstrengung an dem Authentizitätsanspruch abzuarbeiten, der mit Schindlers Liste wieder an Aktualität gewonnen hatte. Abgesehen vom „Trend zur Authentizität“ – zu dem auch die „neuen deutschen Retro-Melodramen“⁶⁶, z. B. Comedian Harmonists (D, A 1997) oder Gloomy Sunday, Ein Lied von Liebe und Tod (D 1999)⁶⁷, gezählt werden können – sind zwei weitere Tendenzen im „Holocaust-Kino“ um die Jahrtausendwende erkennbar: Einerseits gänzlich fiktive (oder auf Romanen basierende) Tragik-Komödien, wie etwa die bereits erwähnten Filme Das Leben ist schön und Zug des Lebens oder das
Kertész, Wem gehört Auschwitz?, S. 152– 153. Vgl. Laster, Kathy & Steinert, Heinz: Eine neue Moral in der Darstellung der Shoah? Zur Rezeption von La Vita è Bella. In: Fröhlich, Margit, Loewy, Hanno & Steinert, Heinz (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Augsburg 2003, S. 181– 197, hier: S. 192. Kertész, Wem gehört Auschwitz?, S. 151. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 289. Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 289 – 313.
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US-Remake des DEFA-Klassikers Jakob der Lügner (Jakob the Liar, USA, F, H 1999). Andererseits erlebten in dieser Zeit (bzw. kurz nach der Jahrtausendwende) auch Dokumentationen sowie Dokumentarfilme über die NS-Zeit und den Holocaust eine enorme Konjunktur.⁶⁸ Innerhalb dieser „Dokumentarischen Gegenbewegung“, wie sie Sonja M. Schultz bezeichnet, entstanden die „radikalsten Filme, die jenseits von Genremustern neue narrative Konstruktionen erprobten und […] dem Illusionismus und vordergründigen Naturalismus anderer Produktionen bewusst entsagten“⁶⁹. Dazu gehören Dokumentarfilme wie Ein Spezialist (Un Spécialist. Portrait D’un Criminel Moderne, F 1999, Regie: Eyal Sivan, Rony Braumann) oder Das Himmler-Projekt (D 2000, Regie: Romuald Karmakar). Die Kehrseite dieser Gegenbewegung bildeten die „Dokutainment“-Produktionen Guido Knopps, die zwar für hohe Einschaltquoten sorgten, jedoch aufgrund ihrer u. a. „simplifizierenden Darstellungsweisen“⁷⁰ von HistorikerInnen und MedienwissenschaftlerInnen kritisiert wurden.⁷¹ In gleichem Maße wie der Dokumentarfilm erlebte auch der filmische Realismus Ende der 1990er Jahre eine Renaissance (wie bereits in der Einleitung skizziert): Anfang und Mitte der 1990er wandten sich zuerst europäische und iranische Filmschaffende einer am italienischen Neorealismus orientierten Form zu. Die RegisseurInnen der dänischen Dogma-95-Gruppe legten gar ein „Gelöbnis der Keuschheit“ ab, womit sie sich gegen jegliche Form filmischer Illusion wandten.⁷² Der neue Realismus beeinflusste auch die Produktionsweise zahlreicher US-amerikanischer Spielfilme, die im Umfeld des Hollywood-Kinos um die Jahrtausendwende entstanden. Steven Spielbergs Weltkriegsdrama Der Soldat James Ryan (Saving Private Ryan, USA 1998) zeichnete sich dabei insbesondere durch die realistische und ungeschönte Darstellung der Kriegsgreuel aus. Die „Härte der Gewalt als solche“ wurde dabei zu einem „Zeichen der Authentizität“⁷³ und damit zu einem „exemplarische[n] Fall dessen, was Alain Badiou als das Hauptmerkmal des 20. Jahrhunderts identifizierte: der ‚Passion des Realen […]‘“⁷⁴. Das authentische Bild sowie die Grenzen der Darstellung von Gewalt gehörten auch zu den Themen, mit denen sich die NS- und Holocaust-Forschung im Verlauf der großen Debatten der späten 1990er Jahre befasst hat, mit denen „die
Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 313 – 333. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 313. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 321. Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 321– 325. Vgl. Sudmann, Dogma 95, S. 194– 196. Zizek, Slavoj: Willkommen in der Wüste des Realen. Wien 2004, S. 15. Zizek, Wüste, S. 15.
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deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ihren Höhepunkt“⁷⁵ erreicht hatte: die Wehrmachtsausstellung und insbesondere die Goldhagen-Debatte. Letztere entzündete sich an Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker ⁷⁶, das 1996 kurz nach der Veröffentlichung die deutschen Bestsellerlisten anführte. Goldhagen hatte für seine Studie u. a. die Mordaktionen des ReservePolizeibataillons 101 in Polen untersucht, wie bereits sechs Jahre zuvor Christopher R. Browning⁷⁷. Ähnlich wie Goldhagen war zuvor auch Browning, der einen Teil seiner Untersuchung 1990 auf der Konferenz Probing the Limits of Representation in Los Angeles vorgestellt hatte, zu der Erkenntnis gelangt, dass „am Massenmord an den Juden zahlreiche ganz gewöhnliche Deutsche beteiligt“⁷⁸ gewesen waren. Doch während Browning für seine Erklärung der Mordmotive auch kognitive, sozialpsychologische und situative Faktoren (z. B. Gruppendynamik und Kameradschaft) berücksichtigte, sah Goldhagen den Grund dafür im „eliminatorische[n] Antisemitismus“⁷⁹ der Deutschen, der letztendlich auch für den Holocaust verantwortlich gewesen war. Goldhagen übertrug schlicht das „Handeln der Polizeibataillone und ihrer Angehörigen auf das deutsche Volk insgesamt“⁸⁰: „Was diese ganz gewöhnlichen Deutschen taten, war auch von anderen ganz gewöhnlichen Deutschen zu erwarten.“⁸¹ Seinen „Sensationserfolg“ in Deutschland hatte das Buch nicht zuletzt der veränderten Wahrnehmung der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit zu verdanken, die Mitte der 1990er „einen Zustand bis dahin beispielloser Konkretion und Veranschaulichung erreicht“⁸² hatte. Spielbergs Film hatte dazu ebenfalls einen Beitrag geleistet. Denn ein zweiter Blick auf die Goldhagen-Debatte, so der Historiker Norbert Frei rückblickend, offenbare, „daß 1996 nur noch scheinbar ein Herbert, Ulrich: Holocaust-Forschung in Deutschland: Geschichte und Perspektiven einer schwierigen Disziplin. In: Bajohr, Frank & Löw, Andrea (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt am Main 2015, S. 31– 79, hier: S. 61. Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996. Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993. Browning, Christopher R.: Daniel Goldhagens willige Vollstrecker, in: Browning, Christopher R.: Der Weg zur „Endlösung“. Entscheidungen und Täter. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 173 – 193, hier: S. 173. Goldhagen, Vollstrecker, S. 107. Goldhagen, Vollstrecker, S. 471. Goldhagen, Vollstrecker, S. 471. Frei, Norbert: Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung. In: Sabrow, Martin, Jessen, Ralph & Große Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 138 – 151, hier: S. 140.
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Buch im Mittelpunkt stand; tatsächlich ging es um Bilder, um Vorstellungen von Tätern und Opfern – und um deren Repräsentation“⁸³. Norbert Frei gelangte zu der Einsicht (wie vor ihm Habbo Knoch⁸⁴), daß es […] vor allem die in der wissenschaftlichen Holocaust-Literatur bis dahin unbekannte Anschaulichkeit der Darstellung war, ihre nachgerade filmische Plastizität und Simplizität, die den beispiellosen Erfolg des Goldhagen-Buches begründete. Hitler’s Willing Executioners entsprach auf nahezu perfekte Weise der Rezeptionserwartung, ja dem Rezeptionsbedürfnis eines breiten Publikums. Man kann es fast kaum besser sagen als in der Sprache abgegriffener Waschzettel: Goldhagen traf den ‚Nerv der Zeit‘⁸⁵.
Nach der Jahrtausendwende begann sich die zunehmende Hinwendung deutscher und US-amerikanischer Filmproduktionen zu einer authentischeren bzw. realistischeren Darstellung historischer Ereignisse aus der Geschichte des Dritten Reichs sowie des Holocaust weitaus stärker abzuzeichnen als in den Jahren davor. Dieser „Trend zur Authentizität“⁸⁶, wie ihn Frank Bösch bezeichnet, prägte jedoch nicht nur einen Teil der Filmproduktionen der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts, sondern beeinflusste auch die wissenschaftliche Rezeption der NS- und Holocaust-Filme.⁸⁷ Es zeigte sich zudem, dass die Interessen und Schwerpunkte der Filmproduktionen mit jenen der NS-Historiographie und Holocaust-Forschung korrelierten.⁸⁸ Diese Korrelation zeigte sich hinsichtlich des Umgangs der Wissenschaft mit den ZeugInnen des Holocaust und den von ihnen verfassten Selbstzeugnissen besonders deutlich. Anders als im Kino, wo die ZeugInnen und Opfer von Anfang an zentral waren, begann sich die Forschung noch stärker für diese Perspektive zu interessieren. Schließlich hatten, wie Ulrich Herbert festhält, die Einwände, die Zeugnisse der Opfer seien zu subjektiv, zu mythisch oder gar zu unzulässig, […] spätestens seit der Debatte zwischen Saul Friedländer und Martin Broszat als abwegig und geradezu absurd erwiesen, nicht zuletzt wenn man bedenkt, dass den Quellen der Täterseite jahrzehntelang eine viel höhere Authentizität zugetraut wurde⁸⁹.
Frei, Goldhagen, S. 140. Vgl. Knoch, Habbo: Im Bann der Bilder. Goldhagens virtuelle Täter und die deutsche Öffentlichkeit. In: Heil, Johannes & Erb, Rainer (Hg.): Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt am Main 1998, S. 167– 183. Frei, Goldhagen, S. 140. Bösch, Film, S. 16. Siehe Kapitel 1.2. Vgl. Bösch, Film, S. 23. Herbert, Holocaust-Forschung, S. 62.
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Die Holocaust-Forschung befand sich zu jener Zeit im „Zeitalter des Zeitzeugen“⁹⁰. Die Frage, wie mit den Zeugnissen der Überlebenden des Holocaust bzw. den jüdischen Selbstzeugnissen und Opferberichten umzugehen sei, gewann an Aktualität. Die Erinnerungen an Verfolgung und Vernichtung wurden somit selbst zum Gegenstand historischer und kulturwissenschaftlicher Analysen.⁹¹ In ihrem Anspruch, wahre und auf Quellen basierte Geschichten zu erzählen, nahmen sich Filmeschaffende vor allem in Deutschland und in den USA der ZeugInnen und ihrer Zeugnisse verstärkt an. Der Authentizitätsanspruch ließ sich fortan nicht mehr nur an filmästhetischen, sondern auch an inhaltlichen Kategorien messen. In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende wurden vermehrt Filme produziert, die beinahe gänzlich auf jüdische Selbstzeugnisse und Dokumente beruhten. In Filmen wie Uprising, Die Grauzone oder Der Pianist wurden Auszüge aus Tagebüchern und autobiographischen Schriften teilweise Wort für Wort ins Bild gesetzt oder besser übersetzt. Im gleichen Maße wurde auch historisches Bildmaterial detailliert nachgestellt, während die SchauspielerInnen jene Menschen verkörperten, auf deren Zeugnisse die Filme basierten. „Auf diese Weise“, so Bösch, verschoben die Filme ihr selbst beanspruchtes Verhältnis zur außerfilmischen Realität, das sie eigentlich von historischen Dokumentationen unterschied. Generell übernahmen die Medien damit das funktionale Kriterium des Wissenschaftssystems (wahr – unwahr), obgleich sie eigentlich nach dem Code ‚unterhaltend – nicht unterhaltend‘ arbeiten.⁹²
Die Grenzen „zwischen historischem Quellenmaterial und inszenierten Szenen“⁹³ schienen so zu verschwimmen. Auf diese Entwicklung reagierte die Forschung differenzierter als in den Jahren davor: Zwar wurden die Filme wesentlich stärker als „Beiträge zu einer
Wieviorka, Annette: The Era of the Witness. Ithaca 2006. Das französische Original (L’ Ére du témoin) erschien bereits 1998 in Paris. Vgl. Schüler-Springorum, Stefanie: Welche Quellen für welches Wissen? Zum Umgang mit jüdischen Selbstzeugnissen und Täterdokumenten. In: Brenner, Michael & Strnad, Maximilian (Hg.): Der Holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven. Göttingen 2012, S. 83 – 102. Siehe diesbezüglich z. B.: Baer, Ulrich (Hg.): ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungen nach der Shoah. Frankfurt am Main 2000. Elm, Michael & Kößler, Gottfried (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust – Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Frankfurt am Main 2007. Hartman, Geoffrey & Assmann, Aleida: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012. Bösch, Film, S. 25 – 26. Bösch, Film, S. 26.
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quellenfundierten Geschichtsrekonstruktion“⁹⁴ wahrgenommen, jedoch wurde ihr Authentizitätsanspruch kritisch hinterfragt, während zugleich Fragen bezüglich der Möglichkeiten der Fiktion artikuliert wurden. Michael Wildt warf beispielsweise in seiner Kritik zu Der Untergang – anknüpfend an seinen im Kontext von Schindlers Liste entwickelten Thesen – die Frage auf, worin die Aufgabe der Fiktion bestehe und inwieweit sie der Wissenschaft neue Perspektiven eröffnen könne.⁹⁵ Das war ein relativ neuer Ton, der sich in den folgenden Jahren allmählich – und unabhängig von Wildt – Gehör verschaffen sollte.
2.2 Der Unmut des Historikers und die Möglichkeiten der Filmfiktion Am 27. Januar 2005 erregte Tim Blake Nelsons The Grey Zone auf seiner Deutschlandpremiere im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main die Gemüter von Arno Lustiger und Gideon Greif. Nach der Vorführung des Spielfilms fand eine Podiumsdiskussion statt, die von Horst Walther, dem Leiter des Instituts für Kino und Filmkultur e.V., moderiert wurde und zu deren Teilnehmern neben Lustiger und Greif auch Andreas Kilian gehörte.⁹⁶ Doch was war der Grund für den Unmut der beiden Historiker? Greif attestierte dem Film einen verantwortungslosen Umgang mit der historischen Vorlage: „Der Film ist voll, voll Fehler. Ich denke, es gibt nicht ein einziges Faktum, das richtig ist. Hunderte habe ich gezählt, kleinere, größere Fehler. Mein Eindruck ist: Man hat sich nicht genug bemüht, die Fehler zu entfernen und sich zu erkundigen, wie es wirklich war.“⁹⁷ Greif, der sich mit herausragenden Veröffentlichungen um das Thema der Sonderkommandos verdient gemacht hat⁹⁸, rückte dabei insbesondere einen be-
Bösch, Film, S. 25. Vgl. Wildt, Untergang, Textabschnitt 4. Siehe Kapitel 1.2. Ausschnitte der Podiumsdiskussion wurden in der HR3-Sendung Hauptsache Kultur am 29. Januar 2005 um 21.55 Uhr unter dem Titel „Darf man das? Ein Spielfilm über den Aufstand in Auschwitz polarisiert ZuschauerInnen und Historiker. Ein Bericht von Birte Marquardt“ ausgestrahlt. Auszüge aus dem Bericht wurden auf der Internet-Seite der Sonderkommando-Studien veröffentlicht: http://www.sonderkommando-studien.de/artikel.php?c=film/grauzone_diskussion. (Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar.) Dieser Bericht wird im Folgenden als Marquardt, Darf man das? zitiert. Gideon Greif zit. nach Marquardt, Darf man das? Greif, Gideon: Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge. In: Herbert, Ulrich, Orth, Karin & Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band II. Frankfurt am Main 2002, S. 1022– 1045. Greif, Gi-
2.2 Der Unmut des Historikers und die Möglichkeiten der Filmfiktion
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stimmten Fehler in den Mittelpunkt seiner Beobachtung: „Der Film suggeriert, die SS hätte die Häftlinge des ‚Sonderkommandos‘ angeworben.“⁹⁹ Lustiger, der dem Sonderkommando in seinem Buch über den jüdischen Widerstand ein Kapitel gewidmet hat¹⁰⁰, stimmte seinem Kollegen zu: „Das ist das Schreckliche an dem Film: Man hat den Eindruck, dass diese Leute sich freiwillig zu dieser Arbeit gemeldet haben.“¹⁰¹ Dieser Befund führte schließlich zu Lustigers endgültigem Urteil: „Absolute Lüge!“¹⁰². Andreas Kilian, wie Greif ein Experte der Geschichte der Sonderkommandos¹⁰³, fand jedoch versöhnliche Worte: „Ich finde es schlicht und ergreifend einfach nur wichtig, dass es diesen Film gibt, dass er diese Form der Auseinandersetzung überhaupt erst ermöglicht.“¹⁰⁴ Im Gegensatz zu Greif und Lustiger versuchte Kilian auf die Möglichkeiten, die der fiktionale Film der Geschichtswissenschaft eröffnen könnte, hinzuweisen, und kam zu dem Schluss, dass „in dieser Hinsicht […] die Bilder berechtigt“¹⁰⁵ seien. Denn obwohl die „historischen Fehler stellenweise durchaus problematisch“ sind, machen sie den Film, „das Produkt an sich, diese Fiktionalisierung des Ereignisses nicht kaputt“¹⁰⁶. In einem im Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz erschienenen Aufsatz über The Grey Zone wird Kilian noch konkreter: Ein Spielfilm kann keinesfalls historische Abläufe authentisch abbilden. Jedoch können Filme die Essenz historischer Ereignisse anhand von handelnden Figuren durchschaubar und verständlich machen. Damit stellen sie im besten Fall eine Wahrheit dar, die jenseits der konkreten historischen Ereignisse liegt und doch Gültigkeit beanspruchen kann.¹⁰⁷
Kilian sucht in der Filmfiktion nicht nach historischer Genauigkeit, sondern nach einem Zugang, der zu einer „Wahrheit“ führt, die sich hinter den „Lügen“ der deon: „Wir weinten tränenlos …“. Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Frankfurt am Main 2005. Greif zit. nach Marquardt, Darf man das? Vgl. Lustiger, Arno: Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933 – 1945. S. 214– 227. Arno Lustiger zit. nach Marquardt, Darf man das? Arno Lustiger zit. nach Marquardt, Darf man das? Friedler, Eric, Siebert, Barbara & Kilian, Andreas: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz. München 2005. Kilian, Andreas: Ist das Grauen darstellbar? Ein Debattenbeitrag von Andreas Kilian. In: Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer, 24 (2004), 2, S. 25 – 26. Andreas Kilian zit. nach Marquardt, Darf man das? Andreas Kilian zit. nach Marquardt, Darf man das? Andreas Kilian zit. nach Marquardt, Darf man das? Kilian, Debattenbeitrag, S. 26.
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Fiktion verbirgt. Wie bereits erwähnt, besteht die Aufgabe der Fiktion nicht aus der genauen oder „richtigen“ Wiedergabe von historisch überlieferten Quellen und Dokumenten, sondern in der Interpretation und Transformation derselben. In dieser Hinsicht „lügt“ die Fiktion tatsächlich, weil sie Ereignisse und Sinnzusammenhänge konstruiert, die es nicht gegeben hat. In Hinblick auf literarische Fiktionen schreibt der Schriftsteller Mario Vargas Llosa in einem Essay: „In der Tat lügen Romane – sie können nicht anders –, aber dies ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil liegt darin, daß sie in ihrer Lügenhaftigkeit eine eigentümliche Wahrheit ausdrücken, die nur verborgen und verdeckt ausgedrückt werden kann, verkleidet als etwas, das sie nicht ist.“¹⁰⁸ Hinsichtlich der Malerei und graphischen Kunst argumentiert Susan Sontag in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten, in welchem sie Goyas Radierungen Los Desastres de la Guerra (Die Schrecken des Krieges), die zwischen 1810 und 1820 entstandenen sind, einer fundierten Analyse unterzieht, ähnlich.¹⁰⁹ Goyas Desastres erzählen von den „Greueltaten der Soldaten Napoleons“ und „führen den Betrachter dicht an die Schrecken heran“¹¹⁰. Sontag konstatiert, dass sich niemand „mit solcher Intensität auf die Schrecken des Krieges und die Bösartigkeit einer entfesselten Soldateska eingelassen“¹¹¹ habe wie Goya und vergleicht die Kunst Goyas mit der Dostojewskis – weil beide mit ihren Werken „einen Wendepunkt in der Geschichte des moralischen Empfindens und des Kummers“¹¹² markierten. Am Ende gelangt sie zu dem Schluss, dass die verübten Greuel von Goya zwar nicht exakt so darstellt werden, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben, doch das „nimmt den Desastres de la Guerra nichts von ihrem Wert. Goyas Bilder bildeten eine Synthese; ihr Anspruch lautet: solche Dinge sind geschehen“¹¹³. Schließlich betrachten wir – um ein anderes Beispiel aus der Kunst zu nennen – Picassos Guernica nicht in der Hoffnung, zu erfahren, wie „die katastrophale Bombardierung der geistigen Hauptstadt des Baskenlandes“¹¹⁴ von 1937 sich wirklich zugetragen hat. Wir betrachten das Gemälde, weil es „zu einem moralisch exemplarischen Werk geworden ist, einer universellen Ikone, die uns
Vargas Llosa, Mario: Die Wahrheit der Lügen. In: Vargas Llosa, Mario: Die Wahrheit der Lügen. Essays zur Literatur. Frankfurt am Main 1994, S. 7– 20, hier: S. 7. Vgl. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2010, S. 53 – 56. Sontag, Leiden, S. 53. Sontag, Leiden, S. 53. Sontag, Leiden, S. 54. Sontag, Leiden, S. 56. Hensbergen, Gijs van: Guernica. Biographie eines Bildes. München 2004, S. 11.
2.2 Der Unmut des Historikers und die Möglichkeiten der Filmfiktion
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ermahnt, uns mit den Lehren der Geschichte zu befassen“¹¹⁵. Wir betrachten Guernica, weil es sowohl zu einem „Synonym für gleichgültiges Gemetzel“¹¹⁶ als auch zu einem Ausdruck „der Versöhnung und der Hoffnung auf einen dauerhaften Weltfrieden“¹¹⁷ geworden ist. Wir betrachten Guernica, weil das Gemälde uns zeigt, dass solche Dinge geschehen sind, und uns daran erinnert, dass solche Dinge noch immer geschehen. Dabei ist Guernica im eigentlichen Sinne Fiktion. Guernica „lügt“, um noch einmal auf den Ausspruch Arno Lustigers und den Essay Mario Vargas Llosas zurückzukommen. Zwar beruht das Bild auf Wirklichkeit, doch diese Wirklichkeit ist beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden. Aber darum geht es nicht. Denn der Sinngehalt des Bildes liegt nicht in seiner Beweiskraft, sondern in seiner Aussagekraft. Diese Deutung dürfte wohl auch für den Film Gültigkeit haben. Michael Haneke, der Vargas Llosa wohl zustimmen würde, sagte in einem Interview, dass es sich beim Film gar um „24 mal die Lüge in der Sekunde“ handeln würde, die „im Dienste der Wahrheit [stehe]; oder im Dienste des Versuchs, die Wahrheit zu ergründen“¹¹⁸. Lustigers Vorwurf der „[a]bsoluten Lüge“ wäre damit zwar berechtigt, jedoch nicht besonders produktiv. Denn eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung der filmischen Fiktion sollte nicht mit diesem Vorwurf aufhören, sondern genau dort mit ihren Fragen ansetzen. Inwieweit sich die Perspektive der Geschichtswissenschaft hinsichtlich des Umgangs mit der Fiktion im Allgemeinen und der Filmfiktion im Besonderen geöffnet hat, wurde 2011 auf einer vom Jena Center organisierten Konferenz deutlich, auf der über die Erzählbarkeit des Holocaust und die Möglichkeiten einer „Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität“ debattiert wurde.¹¹⁹ Thematisch orientierte sich die Veranstaltung an der Konferenz Probing the Limits of Representation, die 1990 in Los Angeles stattgefunden hatte. Dementsprechend standen die Bücher der drei Historiker Hayden White (Metahistory), Saul Friedländer (The Years of Extermination) und Christopher Browning (Remembering Survival) im Mittelpunkt der interdisziplinären Vorträge und Debatten. In Hinblick auf die Schwierigkeit, über Gewalt zu schreiben, äußerte Norbert Frei: „Wenn wir in den Dokumenten von einer Ghetto-
Hensbergen, Guernica, S. 11. Hensbergen, Guernica, S. 16. Hensbergen, Guernica, S. 13. Michael Haneke im Film 24 Wirklichkeiten in der Sekunde. Michael Haneke, Ein filmisches Porträt von Nina Kusturica und Eva Testor, Regie: Nina Kusturica und Eva Testor, Mobilefilm, ORF, Arte, Österreich 2004; DVD: absolut Medien (Arte Edition) 2004. Vgl. Frei, Norbert & Kansteiner, Wulf (Hg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. Göttingen 2013.
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Räumung lesen, haben wir automatisch die Bilder von Steven Spielberg im Kopf. Das ist nicht mehr zu ändern, aber was können wir dazu sagen, wie sollen wir mit diesem Problem umgehen?“¹²⁰ Birthe Kundrus entgegnete: „Man kann ja provozieren und fragen, was ist denn daran so schlimm, wenn alle an Spielberg denken?“¹²¹ Norbert Freis Stellungnahme im Anschluss an die von Birthe Kundrus artikulierte Frage warf ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Forschung und Film: „[…] und vielleicht ist in der Tat eine Veranschaulichung, eine Vergegenwärtigung durch einen in diesem Punkt gut und eindringlich gemachten Film genauso viel wert wie eine dichte Beschreibung, die ein Historiker zu Wege bringt. Ich möchte da keine Hierarchien aufstellen.“¹²² Gegen Ende der Konferenz zog Kundrus ihr Resümee: Ja, der Holocaust ist erzähl- und darstellbar. Die Frage wäre eher, wie sich der Völkermord an den europäischen Juden erzählen lässt. Es gibt zum Beispiel offenbar Grenzen für die Darstellungsfähigkeit. […] Was das Verhältnis von Literatur und Geschichtswissenschaft anbetrifft, so können fiktionale (und auch filmische) Werke der Historiographie Einsichten über die Shoah vermitteln.¹²³
Beide Disziplinen verbinde ein „produktives Spannungsverhältnis von Authentizität und Perspektive“¹²⁴ miteinander. Dieses Spannungsverhältnis sei insofern produktiv, weil ihm eine „Chance“ innewohne, so die Historikerin.¹²⁵ Kundrus knüpfte damit an die Thesen von Benz und Wildt an und schloss ihre Ausführungen hinsichtlich der Nützlichkeit der Fiktion für die Geschichtswissenschaft mit einem Zitat von Georg Seeßlen, auf den bereits Wildt in seiner Kritik zu dem Film Der Untergang zurückgegriffen hatte¹²⁶: Was kann eine Fiktion an Erkenntnis bringen, wenn sie sich dorthin wagt, wo die Dokumente, wo die Logik der Historiker eben nicht hinreichen? Die Fiktion kann zwei einander widersprüchliche, in der Welt der Tatsachen nicht notwendig vorhandene Elemente erzeugen, Erklärung und Sinn. Was eine Fiktion indes nicht kann oder will, ist etwas zu beweisen.¹²⁷
Norbert Frei zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 229. Birthe Kundrus zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 232. Frei zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 232. Kundrus zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 213. Kundrus zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 213. Vgl. Kundrus zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 213. Vgl. Kundrus zit. nach Frei/Kansteiner, Historiographie, S. 213 und vgl. hierzu: Wildt, Untergang, Textabschnitt 4. Seeßlen, Georg: Das faschistische Subjekt. In: DIE ZEIT, 39 (2004). http://www.zeit.de/2004/ 39/Hitler-Filme (5. November 2016).
2.2 Der Unmut des Historikers und die Möglichkeiten der Filmfiktion
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Inwiefern sind die Erkenntnisse, die aus Fiktionen zu gewinnen sind neu und weiterführend? Welche neuen Ansichten über den Holocaust könnten sie liefern, die für die Geschichtswissenschaft gewinnbringend sind? Und schließlich: Wie – mit welchen Methoden – können solche Erkenntnisse gewonnen werden? Was wäre ein spezifisch geschichtswissenschaftlicher Blick auf fiktionale Filme? Diese und ähnliche Fragen wurden auf der Konferenz jedoch nicht gestellt. Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, diese Leerstelle zu schließen. Die folgenden Untersuchungen beginnen dort, wo die oben dargestellten Fragen und Thesen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Geschichtswissenschaft und Film aufgehört haben. Mit Blick auf die Rezeption und Repräsentation des (bewaffneten) jüdischen Widerstands soll die zentrale Frage nach dem Nutzen der Filmfiktion für die Forschung erörtert werden. Dafür bedarf es jedoch einer kurzen Einführung und Vorstellung der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des (bewaffneten) jüdischen Widerstands. Auch bei der folgenden Darstellung handelt es sich um die Genealogie von Ideen: Die Entwicklung des Mythos der Passivität – die erste Idee – und des Gegenmythos der Helden und Märtyrer – die zweite Idee.
3 Jüdischer Widerstand: Tendenzen der Forschung My friend, you would not tell with such high zest To children ardent for some desperate glory, The old Lie: Dulce et decorum est Pro partia mori. (Wilfred Owen) Sie trugen den Mythos durch ihr ganzes Leben. (Tom Segev)
Anfang April 2013 fand in Berlin die internationale Tagung Der jüdische Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Europa 1933 – 1945 statt. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt, schließlich näherte sich der 70. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes, jener „Ikone [des] jüdischen Widerstands gegen den Nationalsozialisten“, in dessen Schatten viele „andere Formen widerständigen Verhaltens“ während des Holocaust’ zu verblassen drohten und für eine „lange Zeit gar nicht wahrgenommen oder gar in Abrede gestellt“¹ wurden. Markus Roth, der zusammen mit Andrea Löw seit längerem zum jüdischen Widerstand forscht und – wie Löw – zu diesem Thema mehrere Aufsätze veröffentlicht hat, sieht den Grund für die Marginalisierung anderer Formen des Widerstands in der lange vorherrschenden „Dominanz des Narrativs von der passiven Masse jüdischer Opfer, die wie Schafe zur Schlachtbank gegangen sei“² und konstatiert: „Dieser Auffassung liegt eine enge Definition von Widerstand zugrunde, die nur den bewaffneten Kampf als solchen versteht.“³ Sowohl die Geschichte des jüdischen Widerstands als auch der Verlauf der Forschungsgeschichte zu diesem Thema sind, wie gesagt, eng mit dieser kontrovers diskutierten Wendung verknüpft, deren Ursprung sich auf ein Motiv aus den Büchern Jesaja und Jeremia der hebräischen Bibel zurückführen lässt. In den betreffenden Stellen – Jesaja 53.7 und Jeremia 11.19 – ist zu lesen:
Roth, Markus: Widerstand und Aufstand im Warschauer Ghetto.Von der Untergrundarbeit zum bewaffneten Kampf. In: Einsicht 09, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2013, S. 14– 20, hier: S. 15. Roth, Widerstand, S. 15. Roth, Widerstand, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110604726-004
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1. „Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“⁴ 2. „Ich selbst war wie ein zutrauliches Lamm, das zum Schlachten geführt wird, und ahnte nicht, dass sie gegen mich böses planten […].“⁵
Der jüdische Schriftsteller Franz Werfel war vermutlich einer der ersten, der Anfang des 20. Jahrhunderts das biblische Motiv in den Kontext eines Völkermords rückte. In seinem 1930 in Berlin erschienenem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, in dem der Völkermord an den Armeniern thematisiert wird, finden sich mehrere Passagen, in denen der Ausdruck gebraucht wird: ‚Wie sterben??…‘ schrieb Pastor Aram Tomasian und schnellte neben Ter Haigasun vor, ‚ich weiß, wie ich sterben werde. Nicht wie ein wehrloser Hammel, nicht auf der Landstraße nach Deir es Zor, nicht im Kot der Deportationslager, nicht am Hunger und nicht in der stinkenden Seuche, nein, auf der Schwelle meines Hauses werde ich sterben, mit der Waffe in der Hand, dazu wird mir Christus helfen, dessen Wort auch ich künde.‘⁶
Werfel schuf damit ein Gegengewicht zum Motiv der Opfer, die wie Schafe auf der Schlachtbank sterben: Der Tod im Kampf; der ‚noble‘ oder heroische Tod mit der Waffe in der Hand. Wer nicht wie ein „wehrloser Hammel“ sterben wolle, müsse Widerstand leisten, so der Gedanke. Werfels Roman wurde im Warschauer Ghetto, wie Marcel Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen schreibt, ein „unerwarteter Erfolg“⁷ zuteil. Im Schicksal der Armenier „glaubten viele jüdische Leser Parallelen zur eigenen Situation erkennen zu können“⁸. Ähnlich verhielt es sich im Ghetto von Wilna⁹ – an jenem Ort, an welchem dem Gedanken des bewaffneten Kampfes gegen die Nationalsozialisten
Jes 53.7, zit. aus: Die Bibel: Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Freiburg im Breisgau 2013, S. 853. Jer 11.19, Die Bibel, S. 879. Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Frankfurt am Main 2010, S. 242– 243. Siehe auch S. 246: „Und dann werden wir uns nicht selbst verachten müssen als wehrlose Hammel!“ und S. 296: „Die armenischen Hammel leisten keinen Widerstand, wenn man sie zur Schlachtbank führt.“ Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. München 2005, S. 41. Reich-Ranicki, Leben, S. 41. Vgl. Kühn-Ludewig, Maria (Hg.): Herman Kruk. Bibliothekar und Chronist im Ghetto Wilna. Hannover 1990, S. 67.
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zum ersten Mal Ausdruck verliehen wurde.¹⁰ In einem kurzen Bericht über die Lesevorlieben der GhettobewohnerInnen schrieb Herman Kruk, der Bibliothekar und Chronist des Ghettos: „(Werfels) ‚40 Tage des Musa Dagh‘, ‚Krieg und Frieden‘, Geschichte der Kreuzzüge, die Inquisition – das alles bietet Parallelen. Weshalb sonst gäbe es jetzt Leser für diese Literatur?“¹¹ Eine breite Leserschaft fand Werfels Roman jedoch vor allem in den jüdischen (zumeist zionistischen) Jugendbewegungen, wo dieser bereits seit den 1930ern rezipiert wurde.¹² Abba Kovner, ein junger Dichter und Mitglied der linkszionistischen Haschomer Hatzair, wird das Werk sicherlich gekannt haben, als er auf einer Versammlung seiner Jugendbewegung seinen mittlerweile berühmten Aufruf vorlas, das mit den folgenden Worten schließt: Laßt uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen! Es ist wahr, daß wir schwach sind und niemanden haben, der uns hilft. Aber unsere einzige ehrenvolle Antwort an den Feind muß Widerstand heißen! Brüder, es ist besser, als freie Kämpfer zu sterben, als von der Gnade der Mörder zu leben. Leistet Widerstand bis zum letzten Atemzug.¹³
Was als ein Aufruf zum Widerstand begonnen hatte, wandelte sich nach dem Krieg zu einer offenen Kritik an dem angeblich passiven Verhalten der jüdischen Opfer. Diese Ansicht erreichte Anfang der 1960er Jahre ihren Höhepunkt – sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim warf den ermordeten Juden in seinem 1960 erschienenen Buch The Informed Heart vor, sie hätten sich selbst aufgegeben und seien einfach in ihren eigenen Tod marschiert.¹⁴ 1961 veröffentlichte Raul Hilberg das noch heute als Standardwerk geltende Buch The Destruction of the European Jews. ¹⁵ In seinen Schlussbetrachtungen urteilte Hilberg über die Widerstandsbemühungen der europäischen Juden wie folgt: Das Reaktionsmuster der Juden ist durch ein nahezu vollständiges Fehlen von Widerstand gekennzeichnet. In auffälligem Gegensatz zur deutschen Propaganda sind die Zeugnisse eines – offenen oder versteckten – jüdischen Widerstands äußerst rar. Nirgends in Europa
Vgl. Ainsztein, Reuben: Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Oldenburg 1993, S. 236. Herman Kruk, zit. nach Kühn-Ludewig, Kruk, S. 67. Vgl. Michman, Dan: Handeln und Erfahrung: Bewältigungsstrategien im Kontext der jüdischen Geschichte. In: Bajohr, Frank & Löw, Andrea (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt am Main 2015, S. 255 – 277, hier: S. 265 – 266. Abba Kovner zit. nach Ainsztein, Jüdischer Widerstand, S. 237. Vgl. Bettelheim, Bruno: The Informed Heart: Autonomy in a Mass Age. New York 1960, S. 300. Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews. Chicago 1961.
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verfügten die Juden über eine Widerstandsorganisation, nirgends besaßen sie Pläne für bewaffnete Aktionen oder auch nur für eine psychologische Kriegführung.¹⁶
Wie kam Hilberg zu dieser Einschätzung? Fehlten ihm die Quellen? Das dürfte kaum der Fall gewesen sein, da bereits seit 1943 sowohl Quellen und Dokumentationen zugänglich als auch bis 1960 wissenschaftliche Arbeiten zum jüdischen Widerstand erschienen waren.¹⁷ In Polen leisteten darüber hinaus die 1944 gegründete Zentrale Jüdische Historische Kommission und das später entstandene Jüdische Historische Institut in Warschau mit ihrer großen „Sammlung von Dokumenten zur Situation der jüdischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung und von Zeugenaussagen Überlebender einen unschätzbaren Beitrag von Quellenmaterial“¹⁸ zu jüdischen Reaktionsformen. Hilbergs Einschätzung war vielmehr das Resultat seines Verständnisses von Widerstand, welchen er nur als einen militärischen begriff: Die Juden waren nicht auf Widerstand eingestellt. Selbst jene, die ein Erheben der Waffen erwogen, wurden durch die Sorge, daß die Folgen eines begrenzten Erfolgs einiger weniger von der großen Mehrheit zu tragen sein würden, von ihrem Schritt abgehalten. Das Aufflammen von Widerstand war infolgedessen eine seltene und fast immer lokale, erst in letzter Minute auftretende Erscheinung. Gemessen an den deutschen Verlusten schrumpfte der bewaffnete Widerstand der Juden zur Bedeutungslosigkeit. Der bedeutsamste Kampf wurde im Warschauer Ghetto geliefert (auf deutscher Seite gab es 16 Tote und 85 Verwundete, Kollaborateure mitgerechnet).¹⁹
Den aus seiner Sicht fehlenden Widerstand versuchte Hilberg historisch zu erklären: „Vorbeugende Angriffe, bewaffneter Widerstand und Racheackte kamen in der Geschichte des jüdischen Exils so gut wie nie vor.“²⁰ Und schließlich:
Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 3. Frankfurt am Main 1999, S. 1100. Vgl. Lustiger, Zum Kampf, S. 17 und 24. Lustiger bezieht sich u. a. auf die folgenden Werke: Apenszlak, Jacob (Hg.): The Black Book of Polish Jewry. An Acount of the Martyrdom of Polish Jewry Under the Nazi Occupation. New York 1943. Apenszlak, Jacob & Polakiewicz, Moshe: Armed Resistance of the Jews in Poland. New York 1944. Kaganowitsch, Moshe: Der jiddische onteijl in der partisanen-bawegung vun sowjet-russland (jidd.) – Der jüdische Anteil an der Partisanenbewegung in der Sowjetunion. Rom 1948. Kaganowitsch, Moshe: Die milchome vun di jiddische partisaner in misrech-ojrope (jidd.) – Der Krieg der jüdischen Partisanen in Ost-Europa. 2 Bände. Buenos Aires 1956. Paulsen, Jörg: Nachbemerkung. In: Ainsztein, Reuben: Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Oldenburg 1993, S. 547– 553, hier: S. 548. Paulsen, Nachbemerkung, S. 1101. Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1. Frankfurt am Main 1990, S. 29.
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Unter den Juden in der Diaspora waren Akte des bewaffneten Widerstands in der Tat eine isolierte und episodische Erscheinung. Gewalt sollte erst wieder zu einer jüdischen Strategie werden, nachdem sich Juden in einem Judenstaat eingerichtet hatten.²¹
Hilbergs Ansichten bezüglich des jüdischen Widerstands wurden teilweise von Hannah Arendt, die Hilbergs „Gesamtinterpretation […] indessen ausgesprochen kritisch gegenüberstand“²², in ihren Artikeln über den Eichmann-Prozess, der 1961 in Jerusalem stattfand und den sie im Auftrag des New Yorker begleitete, aufgegriffen.²³ 1963 erschienen die Artikel als Buch unter dem Titel Eichmann in Jerusalem – und die sich bereits an ihren fünf Beiträgen entzündete Kontroverse setzte sich fort. Der israelische Publizist K. Schabbetai gehörte ebenfalls zu jenen, die dem Eichmann-Prozess als Zuschauer beiwohnten. Als Yitzhak Zuckerman, der ehemalige Ghettokämpfer und zweiter Kommandant der Jüdischen Kampforganisation im Warschauer Ghetto, als Zeuge vor Gericht aussagte, war Schabbetai zugegen.²⁴ Nach der Aussage Zuckermans verließ Schabbetai den Saal und wurde draußen Zeuge der Unterhaltung eines jungen israelischen Paares: Der junge Mann sagte: ‚Und trotzdem begreife ich nicht, wie sie sich einfach haben hinschlachten lassen.‘ Das Mädchen schwieg zuerst und gab dann, nach kurzem Besinnen, die folgende Antwort: ‚Ich erkläre mir das aus der Feigherzigkeit, die der jüdische Charakter in der Diaspora angenommen hat. Eine andere Erklärung finde ich nicht.‘²⁵
Schabbetai entschied sich daraufhin, eine Replik zu schreiben, um jene zu widerlegen, die dachten wie die beiden Israelis.²⁶ Das Erscheinen von Schabbetais Wie Schafe zur Schlachtbank? markierte die erste Etappe in der Forschungsgeschichte des jüdischen Widerstands, in welcher der Wunsch im Vordergrund stand, dem zu unrecht erhobenen Vorwurf der Passivität der Opfer zu widersprechen und jene von Bettelheim, Hilberg und Arendt aufgestellten Hypothesen zu entkräften.²⁷ Hilberg, Vernichtung, Band 1, S. 30. Mommsen, Hanns: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann. In: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2004, S. 9 – 48, hier: S. 11. Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2004, S. 213 – 219. Vgl. Schabbetai, K.: Wie Schafe zur Schlachtbank? Aus dem Hebräischen von Emanuel Bin Gurion. Beit Dagon 1965, S. 7. Schabbetai, Schlachtbank, S. 7. Vgl. Ainsztein, Jüdischer Widerstand, S. 9. Siehe z. B. Eck, Nathan: Historical Research or Slander? Yad Vashem Studies 6, Jerusalem 1967.
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Dieses Bestreben schlug sich zuweilen auch in den Titeln der Publikationen nieder²⁸, in denen der „Behauptung jüdischer Gefügigkeit und Widerstandslosigkeit abweichende Beispiele“²⁹ entgegengesetzt wurden. Dieses Vorgehen verlieh den wissenschaftlichen Studien zwar einen unmittelbar apologetischen Charakter, erweiterte jedoch zugleich „das semantische Feld des Begriffs ‚Widerstand‘“³⁰. Das Bemühen, den Widerstandsbegriff zu erweitern, führte dazu, dass Ende der 1960er Jahre ein neuer Begriff geprägt wurde, der die vielen Facetten der jüdischen Selbstbehauptung berücksichtigen sollte: Amida (hebräisch: „Existenz, Beständigkeit, Standhalten“).³¹ Auf einer internationalen wissenschaftlichen Tagung, die 1968 in Jerusalem (Yad Vashem) stattfand³², wurde der Versuch unternommen, „den Begriff zu klären und auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen“³³. Mitte der 1970er begann sich eine Wende innerhalb der Forschung zum jüdischen Widerstand abzuzeichnen: Das „Verfahren der additiven Aufreihung von Beispielen jüdischen Heldenmuts“ wich allmählich den „Einzelstudien, die in differenzierter Weise Bedingungen, Ausmaß und Verlaufsform von Widerstand oder Nicht-Widerstand in definierten Orten und Regionen“³⁴ untersuchten. Reuben Ainszteins 1974 erstmals in London erschienenes Buch Jewish Resistance in Nazi-Occupied Eastern Europe (eine deutsche Ausgabe wurde erst 1993 veröffentlicht) war noch von beiden Einflüssen geprägt. Einerseits stand es „noch ganz im Zeichen des moralischen Rigorismus und der Empörung über die Kopfschüttelnde Herablassung“, andererseits enthielt „die Studie aber bereits alle Elemente – wenn auch zum Teil zerstreut und nicht systematisch ausgeführt –, die für die Analyse des Phänomens jüdischer Widerstand bedeutsam wurden“³⁵, wie Jörg Paulsen im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Ainszteins Buch festgehalten hat. Ende der 1970er Jahre setzte sich der Historiker Werner Rings akribisch
Siehe z. B. Suhl, Yuri (Hg.): They fought back. The Story of the Jewish Resistance in Nazi-Europe. New York 1967. Paulsen, Nachbemerkung, S. 548. Michman, Dan: Der jüdische Widerstand während der Shoah und seine Bedeutung: Kritische Anmerkungen. In: Michman, Dan: Die Historiographie der Shoah aus jüdischer Sicht. Konzeptualisierungen, Terminologie, Anschauungen, Grundfragen. Hamburg 2002, S. 154– 183, hier: S. 155. Vgl. Michman, Widerstand, S. 155. Vgl. Kohn, Moshe M. & Grubsztein, Meir (Hg.): Jewish Resistance during the Holocaust. Proceedings od the conferenz on manifestations of Jewish Resistance. Jerusalem, April 7– 11, 1968, Jerusalem 1971. Michman, Widerstand, S. 155. Paulsen, Nachbemerkung, S. 548. Paulsen, Nachbemerkung, S. 548.
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mit der Begriffsbestimmung der verschiedenen Formen jüdischen Widerstands auseinander.³⁶ Zwischen 1980 und 1990 erschienen weitere Einzelstudien³⁷ und Gesamtdarstellungen³⁸ sowie Dokumentationen und Anthologien³⁹, die sich sowohl den vielfältigen Formen des jüdischen Widerstands widmeten als auch den verschiedenen Orten, an denen sie stattgefunden haben. In der 1993 u. a. von Eberhard Jäckel und Julius Schoeps herausgegebenen Enzyklopädie des Holocaust wurde der jüdische Widerstand ebenfalls berücksichtigt und sein vielseitiges Auftreten in zahlreichen Beiträgen gewürdigt. Arno Lustiger, der die mangelnde Aufmerksamkeit der deutschen NS-Forschung bezüglich des jüdischen Widerstands beklagt hatte⁴⁰, bezeichnete das Erscheinen der Enzyklopädie als einen „Lichtblick“⁴¹. Lustiger betrachtete sein 1994 erschienenes Buch Zum Kampf auf Leben und Tod! als den „Versuch einer Gesamtdarstellung des jüdischen Widerstands“⁴², welches „die meisten Fragen zum Thema des jüdischen Widerstands beantworten und weitere Forschungen anregen“⁴³ sollte. Lustigers Engagement hinsichtlich der Erforschung des jüdischen Widerstands während des Holocaust wurde von Julius H. Schoeps in dessen Eröffnungsrede auf der vom Moses Mendelsohn Zentrum organisierten Tagung von 2013 gewürdigt. 2016 erschien schließlich der Sammelband zu der Tagung unter dem Titel Jüdischer Widerstand in Europa (1933 – 1945). ⁴⁴ Diese Veröffentlichung stellt den jüngsten Beitrag zur Forschung des jüdischen Widerstands während des
Rings, Werner: Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa, 1939 – 1945. München 1979. Siehe z. B. Langbein, Hermann: … nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Lagern. Frankfurt am Main 1980. Wippermann, Wolfgang: Die Berliner Gruppe Baum und der jüdische Widerstand. Berlin 1981. Krakowski, Schmuel: The War of the Doomed. Jewish Armed Resistance in Poland 1942– 1944. New York/London 1984. Gutman, Israel: Fighters Among the Ruins. Washington 1988. Kwiet, Konrad & Eschwege, Helmut: Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde. 1933 – 1945, Hamburg 1984. Marrus, Michael R.: The Holocaust in History, Hanover (New England) 1987. Siehe z. B. Porter, J. N. (Hg.): Jewish Partisans. A Documentary of Jewish Resistance in the Soviet Union during World War II. 2 Bände. Washington 1982. Kowalski, Isaak: Anthology of Armed Jewish Resistance 1939 – 1945. 4 Bände. New York 1986 – 1991. Vgl. Lustiger, Zum Kampf, S. 15 – 16. Lustiger, Zum Kampf, S. 23. Lustiger, Zum Kampf, S. 25. Lustiger, Zum Kampf, S. 25. Schoeps, Julius H., Bingen, Dieter & Botsch, Gideon (Hg.): Jüdischer Widerstand in Europa (1933 – 1945). Berlin 2016.
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Holocaust dar. Gleich zu Beginn seines darin abgedruckten Aufsatzes Vor der Geschichte Zeugnis ablegen, widerspricht Schoeps dem Passivitätsvorwurf: So mancher, der die Shoah, den Holocaust, so der nicht ganz korrekte, doch häufiger gebrauchte Begriff, überlebt hat, findet die Behauptung, die europäischen Juden hätten sich zwischen 1938 und 1945 widerstandslos wie die Schafe zur Schlachtbank führen lassen, nicht nur abwegig, sondern geradezu öbszön. […] Auf Feststellungen dieser Art, die zynisch wirken, obwohl sie meist so nicht gemeint sind, reagieren Überlebende verstört, manchmal auch gereizt. Zu Recht.⁴⁵
Es scheint, als müsste sich die Forschung zum jüdischen Widerstand noch immer zuerst vom Mythos der Passivität distanzieren, um sich anschließend dem Widerstand zuwenden zu können. Zumindest in dieser Hinsicht scheint sich seit Schabbetais Veröffentlichung vor über 50 Jahren nichts geändert zu haben. Gilt das auch für das Kino? Inwieweit haben hier Mythos und Gegenmythos des jüdischen Widerstands die Repräsentation beeinflusst? Konnte sich der Film davon lösen und neue Fragen stellen, neue Thesen entwickeln? Liefert das Kino neue Ansätze und Erkenntnisse hinsichtlich der Einschätzung des jüdischen Widerstands? Diese und weitere Fragen sollen im Anschluss am Beispiel der drei zentralen US-amerikanischen Spielfilme über den bewaffneten jüdischen Widerstand erörtert werden.
Schoeps, Julius H.: Vor der Geschichte Zeugnis ablegen. Arno Lustiger, die Juden und ihr Widerstand gegen die NS-Vernichtungspolitik. In: Schoeps, Julius H., Bingen, Dieter & Botsch, Gideon (Hg.): Jüdischer Widerstand in Europa (1933 – 1945), Berlin 2016, S. 3 – 16, hier: S. 3.
4 Uprising: Der Weg der Mythen Singen will ich von Kämpfen und von dem Mann, […] (Vergil) Hört bitte auf damit, aus mir einen Helden zu machen. (Marek Edelman)
Am Morgen des 19. April 1943 begab sich Alina Margolis-Edelman auf der sogenannten arischen Seite der Mauer, welche das Ghetto vom restlichen Warschau trennte, auf den Weg zu einer Freundin. In der Straßenbahn sprachen die Menschen von den Schüssen, die seit dem Morgengrauen auf der anderen Seite – also der Ghetto-Seite – zu hören gewesen waren. Als Margolis-Edelman die Mauer an der Bonifraterska-Straße erreichte, herrschte jedoch Stille. „‚Ist es wahr‘“, fragte sie eine Passantin, „‚daß die Juden geschossen haben?‘“¹ Die Passantin bestätigte, und ein anderer fügte hinzu: „‚Die Juden schlagen sich, die Deutschen sind hineingegangen‘“². In der Nacht zuvor war das Ghetto von außen abgeriegelt worden, am frühen Morgen war die SS eingerückt: um 4 Uhr zu Fuß in kleinen Gruppen und ab 7 Uhr mit Panzern und Panzerwagen.³ Das Warschauer Ghetto oder besser jener Teil, der nach den groß angelegten Deportationen im Sommer 1942 davon übrig geblieben war, sollte endgültig liquidiert werden. Zu dieser Zeit lebten rund 60.000 Jüdinnen und Juden im „Rest-Ghetto“ – vor der „Aktion“ waren es etwa 450.000. Die Jüdische Kampforganisation (ZOB) hatte sich auf diesen Tag vorbereitet: „Als die Deutschen an der Kreuzung Mila- und Zamenhof-Straße haltmachten, eröffneten die an den vier Straßenecken verbarrikadierten Kampfgruppen konzentrisches Feuer, wie man in der Militärsprache sagt.“⁴ Der Schusswechsel hielt bis zum frühen Nachmittag an. Die überraschten SS-Einheiten zogen sich zurück: „Um 2 Uhr nachmittags gibt es bereits keinen einzigen Deutschen mehr auf dem Gebiet des Ghettos.“⁵ Den Schüssen folgte eine Stille, die bis zum nächsten Tag anhielt. Dies war, wie Marek Edelman schreibt, „der erste, vollkommene Sieg der
Margolis-Edelman, Ghetto, S. 84. Margolis-Edelman, Ghetto, S. 84. Edelman, Marek: Das Ghetto kämpft, Berlin 1999, S. 67. Edelmann, Das Ghetto kämpft, S. 67. Edelmann, Das Ghetto kämpft, S. 68.
https://doi.org/10.1515/9783110604726-005
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ZOB über die Deutschen“⁶. Militärisch sollte es jedoch bei diesem einen Sieg bleiben. Denn die Deutschen kehrten in den nächsten Tagen und Wochen immer wieder zurück und führten mit äußerster Brutalität einen Kleinkrieg gegen einige hundert schlecht bewaffnete KämpferInnen. In diesen Wochen glich das Ghetto „einem brennenden Inferno“⁷, und dichter schwarzer Rauch verdeckte den Himmel auf beiden Seiten der Mauer. Am 16. Mai sprengten die Besatzer als letzte symbolische Geste die große Synagoge. Das Gebiet des ehemaligen Ghettos glich danach einer Mondlandschaft. In der Zeit vom Beginn des Aufstands am 19. April bis zur Niederschlagung am 16. Mai 1943 ermordete die SS etwa 7.000 Menschen im Ghetto, ließ weitere 7.000 nach Treblinka und rund 36.000 in die Arbeitslager im Distrikt Lublin deportieren.⁸ Die meisten WiderstandskämpferInnen starben im Gefecht oder in den Bunkern: einige durch die Hand des Feindes, andere durch die eigene. Die wenigen Überlebenden flüchteten durch die Kanalisation auf die ‚arische‘ Seite und gelangten von dort aus in die umliegenden Wälder. Die als Warschauer Ghettoaufstand bekannt gewordene Revolte galt und gilt noch immer als der größte Akt bewaffneten jüdischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten in der Geschichte des Holocaust – gemessen an der Anzahl der Beteiligten sowie an Dauer und Umfang. Militärisch mag der Aufstand dabei weniger bedeutsam gewesen sein als moralisch. Die Geschichte einer kleinen Gruppe von Juden, die einen Kleinkrieg gegen einen übermächtigen Militärapparat führte und sich zumindest in den Anfängen behaupten konnte, entwickelte eine enorme Symbolkraft. Diese mutigen und entschlossenen Jüdinnen und Juden, so der Tenor, kämpften für die „jüdische Ehre“ und gegen den Mythos, sie seien widerstandslos in den Tod gegangen wie „Schafe zur Schlachtbank“.⁹ Während der Kriegsjahre hatten die vielen Erzählungen über die Helden und Märtyrer des Warschauer Ghettos zwar einen großen Einfluss auf die unter dem Terror der Deutschen leidenden Juden,¹⁰ wurden jedoch von den Westmächten entweder ignoriert oder bestenfalls kaum beachtet.¹¹ Nach Kriegsende begann sich die Wahrnehmung und Bewertung des Aufstands allmählich zu ändern: Die anfängliche Teilnahmslosigkeit wich einer zuneh-
Edelmann, Das Ghetto kämpft, S. 68. Roth, Markus & Löw, Andrea: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013, S. 206. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 207. Vgl. Patt, Avinoam: Jewish Resistance in the Warsaw Ghetto. In: Henry, Patrick (Hg.): Jewish Resistance against the Nazis. Washington, D.C., S. 393 – 425, hier: S. 393 – 394. Vgl. Patt, Jewish Resistance, S. 393 – 394. Vgl. Meckl, Helden, S. 34– 35.
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menden Heldenverehrung. Die Revolte wuchs „in expliziter Abgrenzung zu einem mit dem moralischen Attribut ‚passiv‘ belegten Tod der Juden in den Gaskammern der deutschen Vernichtungslager“¹² zu einem Symbol für „Heroismus und Größe“ sowie des Helden- und Märtyrertums heran. Für die KämpferInnen wurden Denkmäler errichtet, nach ihnen wurden Straßen benannt. In Israel, in dessen Erinnerungskultur „Holocaust und Heldentum so eng nebeneinander [stehen], als seien sie, ihrer historischen Bedeutung nach, die komplementären Hälften eines Ganzen“¹³, gründeten Überlebende des Aufstands das Kibbuz der Ghettokämpfer mit einem dazugehörigen Museum. In der Nachkriegszeit erschienen immer mehr Erinnerungen von Überlebenden, die entweder selbst am Aufstand beteiligt gewesen waren oder diesen als ZeugInnen erlebt hatten. Es folgten historiographische sowie literarische Darstellungen. Auch das Kino begann sich früh für die Revolte der Warschauer Juden zu interessieren. Aleksander Fords kurz nach Kriegsende produzierter Spielfilm Die Grenzstrasse (Ulica Graniczna, P 1948) gehörte zu den ersten Versuchen, dem Aufstand ein cineastisches Denkmal zu setzen. Der polnische Filmemacher Ford widmete sich dem Aufstand im Warschauer Ghetto ein weiteres Mal – wenn auch nur am Rande – in Sie sind Frei, Doktor Korczak (Dr. Korczak, The Martyr, D,IL 1974), einem Spielfilm über den Leiter des jüdischen Waisenhauses Dom Sierot in Warschau. Korczak wurde Anfang der 1990er Jahre erneut zum Protagonisten eines Spielfilms, in dem der bewaffnete Widerstand ebenfalls nur marginal thematisiert wird: Andrej Wajdas Korczak (Korczak, P,D 1990). Elf Jahre später rückte schließlich Jon Avnet den Warschauer Ghettoaufstand in den Mittelpunkt seines für einen amerikanischen Sender produzierten zweiteiligen Fernsehdramas. Uprising erzählt die Geschichte des Warschauer Ghettos, ähnlich wie Israel Gutman in seinem Buch The Jews of Warsaw, welches dem Film als Vorlage diente, als „eine teleologische Geschichte, nämlich eine Geschichte hin zum Aufstand“¹⁴. The Jews of Warsaw ist auch Gegenstand von Markus Meckls ein Jahr vor der Ausstrahlung des TV-Dramas erschienenem Buch Helden und Märtyrer, in welchem er auf die Diskrepanz zwischen der geringen militärischen Bedeutung der Revolte und der großen Aufmerksamkeit, die ihr nach dem Krieg zuteil wurde, aufmerksam macht und auch die teleologische Sichtweise Gutmans kritisiert. Bezüglich des hohen Stellenwerts, den der Aufstand in der Erinnerungsgeschichte des Holocaust einnehmen konnte, konstatiert Meckl, dass dieser Umstand we-
Meckl, Helden, S. 7. Segev, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 556. Meckl, Helden, S. 9.
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niger in den ereignisgeschichtlichen Fakten gründet, als vielmehr in der Art der Darstellung, also in der Weise, wie vom Aufstand erzählt wurde – und noch erzählt wird. Das Bild, das in diesen Erzählungen von den Ereignissen und beteiligten Personen gezeichnet wird, erwecke, so Meckl, eher den Eindruck, als sei es „der literarischen Vorlage eines klassischen Heldenepos [entsprungen] als der Geschichte des Warschauer Ghettos“¹⁵. Dieses Bild, diese Symbolik oder besser: der Mythos der Helden und Märtyrer hatte sich sukzessive im Verlauf der Rezeptionsgeschichte herausgebildet und mit der Zeit manifestiert, da auch in neuen Darstellungen auf die Mythen zurückgegriffen wurde: die Geschichten wurden kopiert und in einigen Fällen weiter ausgeschmückt. Uprising steht am Ende dieser Entwicklung. In gewisser Weise stellt der Spielfilm ein Kompendium der Helden- und Märtyrermythen aus der Geschichte des Warschauer Ghettos sowie des Aufstands dar. Mehr noch: Jon Avnet und sein Produktionsteam kopieren nicht nur die bekannten Mythen, sondern „bliesen“ sie in ihrem Film noch weiter auf. In der Filmtechnik bezeichnet der Fachterminus Blow-up („Aufblasen“) ein technisches Verfahren, in welchem ein kleines Negativfilmformat auf ein größeres umkopiert wird, z. B. 16 mm-Aufnahmen auf 35 mm. Der Nachteil an diesem kostensparenden Verfahren ist jedoch, dass durch das Umkopieren all die Fehler des Ausgangsmaterials (Kratzer, Verschmutzungen, Unschärfen etc.) ebenfalls vergrößert werden. Durch dieses „Aufblasen“ kommen die Unzulänglichkeiten des Originalmaterials somit noch deutlicher zum Vorschein. Avnet und Drehbuchautor Paul Brickman haben sich im übertragenen Sinne eines ähnlichen Verfahrens beim Kopieren der Mythen bedient – mit einem ähnlichen Resultat, wie noch zu zeigen sein wird. Um die kleinen und großen Fehler des Materials aufzuzeigen, die im Zuge des Kopierverfahrens sichtbarer hervorgetreten sind, soll ein Analyseverfahren zum Zuge kommen, in welchem die durch den Film vermittelten Informationen mit dem aus den Quellen und wissenschaftlichen sowie belletristischen Darstellungen stammenden Wissen verglichen werden. Doch bevor wir uns dieser Methode widmen können, soll anhand eines kurzen Überblicks über die Geschichte des Warschauer Ghettos in den historisch-geographischen Kontext eingeführt werden, der den Hintergrund des Filmplots darstellt.
Meckl, Helden, S. 7.
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4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick Am frühen Morgen des 1. September 1939 bombardierte die deutsche Luftwaffe die zentralpolnische Stadt Wielun und zerstörte sie innerhalb eines Tages beinahe gänzlich.¹⁶ Hunderte Menschen wurden getötet, nur wenigen gelang die Flucht. Und während insgesamt 70 Tonnen Bomben in mehreren Angriffswellen auf Wielun niedergingen, hatte die Wehrmacht bereits die polnische Grenze überschritten: die 3. und 4. Armee im Norden; die 8., 10. und 14. im Süden.¹⁷ In Warschau hielt Chaim Aron Kaplan, Gründer und Direktor einer hebräischen Grundschule¹⁸, den Beginn des Krieges in seinem Tagebuch fest: „Wir sind Zeugen des Anbruchs einer neuen Ära in der Weltgeschichte. Dieser Krieg wird allerdings die menschliche Zivilisation vernichten.“¹⁹ Am zweiten Tag flog die deutsche Luftwaffe vier Angriffe auf Warschau.²⁰ Ganz Polen hoffte derweil auf die Unterstützung seiner westlichen Verbündeten. England und Frankreich hielten sich jedoch vorerst zurück. Am 3. September erreichte die befreiende Nachricht die polnische Hauptstadt, Kaplan notierte: „Historische Ereignisse! Ihre Folgen lassen sich nicht voraussagen. […] England und Frankreich hielten Wort, standen ihrem Verbündeten bei, und der Weltenbrand ist entfacht.“²¹ Ähnlich erleichtert wie Kaplan reagierte auch Marcel Reich-Ranicki, der ein Jahr zuvor im Zuge der „Polenaktion“ aus Deutschland ausgewiesen worden war und bei Kriegsausbruch in Warschau lebte: Die Nachricht vom deutschen Überfall auf Polen haben wir dann, so unwahrscheinlich dies auch anmuten mag, mit Erleichterung, mit befreitem Aufatmen zur Kenntnis genommen. Und als am 3. September Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärten, konnte sich das Volk vor lauter Glück kaum beherrschen: Die Stimmung war – und nicht nur in Warschau – enthusiastisch.²²
Vgl. Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2013, S. 135. Vgl. Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. Frankfurt am Main 2006, S. 54– 56. Der vollständige Name der Schule lautete „Fortgeschrittene Grundschule in 6 Klassen von Ch. A. Kaplan“; vgl. Katsh, Abraham I.: Vorwort. In: Kaplan, Chaim A.: Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan. Frankfurt am Main 1965, S. 9 – 18, hier: S. 13. Kaplan, Chaim A.: Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan. Hg. von Abraham I. Katsh. Frankfurt am Main 1965, S. 21. Vgl. Kaplan, Agonie, S. 23. Kaplan, Agonie, S. 24. Reich-Ranicki, Leben, S. 169.
4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick
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Am 7. September stand die 10. Armee knapp 60 Kilometer südlich und die 3. Armee nur 40 Kilometer nördlich von Warschau.²³ Im Schatten der Wehrmacht marschierten sieben Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD: Diese etwa 2.700 Mann, die in 16 Einsatzkommandos (je 120 bis 150 Mann) aufgeteilt waren, unterstanden zwar offiziell dem Heer, erhielten ihre Befehle jedoch vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler. ²⁴ Ihr Auftrag lautete: „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe“²⁵. In den bereits im August 1939 verfassten „Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD“ waren Aufgaben, Verhalten, Aufbau und Zusammensetzung der Einsatzkommandos festgelegt sowie das Verhältnis zur Wehrmacht.²⁶ Gewalt durfte demzufolge „nur zur Brechung von Widerstand angewandt werden“²⁷. Doch um Gewalt auszuüben, waren die Einsatzkommandos erschaffen worden. Wo sie auch agierten, zogen sie eine „Blutspur“ nach sich: Bis zum Frühjahr 1940 ermordeten diese Einheiten schätzungsweise über 60.000 Menschen.²⁸ „Die Einsatzgruppen waren im Koordinatensystem von Vernichtungskrieg und Holocaust die effektivste Mordwaffe vor der Erfindung der Todeslager mit ihrer Kulmination in Auschwitz“²⁹, wie Klaus-Michael Mallmann, Jochen Böhler und Jürgen Matthäus in ihrem Buch über die Einsatzgruppen in Polen schreiben. Warschau wurde derweil täglich bombardiert. Wer konnte, floh aus der Stadt, so auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Maurycy Mayzel, am 6. September. In der Nacht desselben Tages richtete sich Oberst Roman Umiastowski vom Warschauer Verteidigungsstab an alle wehrfähigen Männer der Hauptstadt und forderte sie auf, sich ans rechte Weichselufer zu begeben.³⁰ Die Freiwilligen sollten dort bewaffnet und weitere Schritte zur Verteidigung der Stadt organisiert werden. Obwohl die Aktion, wie Marek Edelman bemerkte, „im Grunde idiotisch“³¹ war und sich als grober taktischer Fehler herausstellen sollte, folgten
Vgl. Keegan, John: Der Zweite Weltkrieg. Berlin 2004, S. 71. Vgl. Lehnstaedt, Stephan & Böhler, Jochen: Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Einführung. In: Lehnstaedt, Stephan & Böhler, Jochen (Hg.): Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Berlin 2013, S. 7– 19, hier: S. 7. Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD (undat./August 1939), abgedruckt in: Mallmann, Klaus-Michael, Böhler, Jochen & Matthäus, Jürgen: Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation. 2008 Darmstadt, S. 117– 121, hier: S. 117. Vgl. Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen in Polen, S. 117– 121. Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen in Polen, S. 119. Vgl. Lehnstaedt/Böhler, Berichte der Einsatzgruppen, S. 7. Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen in Polen, S. 11. Vgl. Beres, Witold & Burnetko, Krzysztof: Marek Edelman erzählt. Berlin 2009, S. 58. Beres/Burnetko, Edelman, S. 58/59. Eine Äußerung Marek Edelmans.
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viele Männer dem Aufruf des Obersts. Unter ihnen befand sich auch Marek Edelman.³² Die Wehrmacht rückte währenddessen weiter ungehindert vor: Am 8. September „erreichten die ersten Einheiten der 4. Panzerdivision die Vororte der polnischen Hauptstadt“.³³ Verzweifelt hielt Kaplan am 9. September in seinem Tagebuch fest: „Unsere Opfer werden in die Zehntausende gehen. Warschau wird ein zweites Madrid³⁴ werden.“³⁵ Einen Tag später flogen die Deutschen siebzehn Luftangriffen über Warschau und bombardierten die Stadt systematisch.³⁶ Adam Czerniakow, der wie Kaplan Tagebuch führte, notierte dazu knapp: „Vom Himmel Bomben.“³⁷ Eine Woche später hatte die Wehrmacht die polnische Hauptstadt bereits eingekesselt. Am 17. September 1939 überschritten die Weißrussische und Ukrainische Front der Roten Armee – abgesichert und legitimiert durch das geheime Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts³⁸ – die östlichen Grenzen Polens.³⁹ Die Niederlage Polens war nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Eine halbe Million sowjetischer Soldaten traf auf eine geschwächte Polnische Armee, die „verzweifelt auf Hilfe angewiesen“⁴⁰ war. Einige Polen glaubten gar, „die Sowjets seien gekommen, um gegen die Deutschen zu kämpfen“.⁴¹
4.1.1 Kapitulation und Besetzung „Im belagerten Warschau herrscht jetzt ein Chaos wie vor der Schöpfung der Welt“⁴², schrieb Kaplan in sein Tagebuch. Zehntausende hatten seit Beginn des Vgl. Beres/Burnetko, Edelman, S. 58/59. Böhler, Vernichtungskrieg, S. 56. Von Oktober 1936 bis März 1939 wurde Madrid (während des Spanischen Bürgerkriegs) von den faschistischen Truppen unter Francisco Franco belagert. Kaplan, Agonie, S. 31. Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 135 Czerniakow, Adam: Das Tagebuch des Adam Czerniakow. Im Warschauer Getto 1939 – 1942. München 2013, S. 1. Der am 24. August 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion abgeschlossene Vertrag (auch bekannt als Hitler-Stalin-Pakt) sollte den Frieden zwischen diesen beiden Mächten auf zehn Jahre hin sichern. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde darüber hinaus die Zerschlagung und Aufteilung Polens vereinbart. Vgl. Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 144. Siehe auch: Oberländer, Erwin (Hg.): Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas? Frankfurt am Main 1989. Vgl. Oberländer, Hitler-Stalin-Pakt. Snyder, Bloodlands, S. 140. Snyder, Bloodlands, S. 140. Kaplan, Agonie, S. 39.
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Krieges ihr Leben verloren und noch viele mehr waren ohne Obdach. Der Stadt fehlte es an fließendem Wasser, Strom und Gas. Den Menschen mangelte es an Nahrungsmitteln: „Man hat mit dem Verkauf von Pferdefleisch begonnen und preist in den Zeitungen seinen Geschmack an, sogar für Suppe.“⁴³, notierte Adam Czerniakow, der kurz zuvor vom Warschauer Bürgermeister Stefan Starzynski zum Präsidenten der Jüdischen Gemeinde ernannt worden war, am 23. September. In den folgenden Tagen flog die deutsche Luftwaffe ihren bis dahin verheerendsten Angriff auf Warschau: An nur einem Tag gingen 560 Tonnen Bomben und 72 Tonnen Brandbomben auf die Stadt nieder.⁴⁴ Am 28. September 1939 kapitulierte Warschau.⁴⁵ Deutschland und die Sowjetunion legten am selben Tag die „endgültige Demarkationslinie“ zwischen ihren beiden Besatzungszonen fest.⁴⁶ Litauen wurde der Sowjetunion zugesprochen und Deutschland erhielt im Gegenzug Zentralpolen. Die sowjetischen Behörden schufen damit „die Voraussetzungen für die Eingliederung der Gebiete in die Weißrussische und Ukrainische Sowjetrepublik“⁴⁷, während die Nationalsozialisten mit dem Zugewinn der neuen Gebiete um Lublin ihre „Lebensraum“- und Rassenpolitik bis zum Bug weiter ausbauen konnten.⁴⁸ „Ich habe Warschaus vollendete Verwüstung gesehen.“⁴⁹ Kaplan versagte die Sprache, als er einen Tag nach der Kapitulation versuchte, die brachliegende Stadt zu beschreiben. Nur ein klassischer Elegiker wäre im Stande gewesen, „einen neuen Stil zu schaffen, um die Größe der Zerstörung zu beschreiben“⁵⁰, notierte der ehemalige Schuldirektor am 29. September 1939 in seinem Tagebuch. Die Bomben hatten eine Ruinenlandschaft hinterlassen: Ganze Straßenzüge waren verschwunden, unter Trümmern begraben. Etliche Häuser und Wohnanlagen hatte das Feuer zerstört. Täglich wurden Leichen unter dem Schutt entdeckt und geborgen.⁵¹ Die Infrastruktur der Stadt war komplett lahmgelegt. Warschau versank in Chaos: Obdachlosigkeit, Hungersnöte und Plünderungen beherrschten das Stadtbild. In dieser verzweifelten Lage ersehnten sich viele die Übernahme der Stadt durch den Feind, so auch Kaplan: Czerniakow, Tagebuch, S. 4. Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 135. Böhler, Vernichtungskrieg, S. 56 Browning, Christopher: Die Entfesselung der ‚Endlösung‘. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942. Berlin 2006, S. 45. Chiari, Bernhard: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941– 1944. Düsseldorf 1998, S. 37. Vgl. Browning, Judenpolitik, S. 52. Kaplan, Agonie, S. 43. Kaplan, Agonie, S. 43. Vgl. Kaplan, Agonie, S. 43.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
Nach den Schrecken, die wir erduldeten, warten wir auf Hitlers Armee wie auf den Frühjahrsregen. Wir sind ohne Brot und ohne Wasser. Unsere Nerven sind infolge der Ereignisse der letzten fürchterlichen Tage in Stücke gerissen. In dieser Lage haben wir nur den Wunsch, eine Weile Ruhe zu haben, selbst wenn das eine Ruhe unter der Herrschaft Hitlers ist.⁵²
Am 1. Oktober 1939 marschierte die Wehrmacht in Warschau ein.⁵³ Kurz darauf wurde eine Militärverwaltung gebildet, welche die Verwaltung der Stadt übernahm, bis sie nur wenige Wochen später, nämlich am 25. Oktober, durch eine deutsche Zivilverwaltung abgelöst wurde.⁵⁴ Am 4. Oktober 1939, also noch unter der Herrschaft der Militärverwaltung, wurde der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Warschaus, Adam Czerniakow, vor seinem Büro verhaftet: „Man brachte mich zur Szuch-Allee, und dort teilte man mir mit, daß ich 24 Personen für den Gemeinderat aussuchen und an dessen Spitze treten soll.“⁵⁵ Der „Judenrat“ des besetzten Warschaus wurde am 10. Oktober von den Deutschen bestellt und Czerniakow zu seinem Vorsitzenden gewählt.⁵⁶ Die Mitglieder entstammten mehrheitlich aus einem Kreis assimilierter polnischer Juden: „Kaum einer von ihnen, auch nicht Czerniakow selbst, sprach Jiddisch oder repräsentierte die Masse der orthodoxen Juden, der Klein- und Kleinsthändler.“⁵⁷ Überwiegend setzte sich der „Judenrat“ aus wohlhabenden und einflussreichen Männern zusammen, von denen sich der größte Teil der Warschauer Juden nicht repräsentiert fühlte.⁵⁸ Am 15. Oktober fand die erste Sitzung des Rates statt, in der die Aufgaben besprochen wurden. Obschon es nicht viel zu besprechen gab, denn der „Judenrat“ war gezwungen, die Vorgaben der Deutschen umzusetzen. Die Mitglieder des „Judenrats“ wussten weder welche Aufgaben ihnen oblagen noch welcher Instanz sie untergeordnet waren bzw. welcher „deutsche Apparat“ für sie zuständig war.⁵⁹ Wenige Tage nach der ersten Sitzung wurde die Zählung aller in Warschau lebenden Jüdinnen und Juden angeordnet; dies sollte die erste Aufgabe des „Judenrats“ sein.⁶⁰ Kaplan ahnte, was dahinter verborgen war, wie in seinem Eintrag vom 25. Oktober zu lesen ist: „Heute wurde die jüdische Bevölkerung Warschaus durch Anschlag davon in Kenntnis gesetzt, daß am nächsten Samstag
Kaplan, Agonie, S. 44. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 15. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 21. Czerniakow, Tagebuch, S. 6. Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 7. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 20. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 20. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 20. Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 12.
4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick
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(29. Oktober) eine Zählung der jüdischen Einwohner stattfindet. […] Uns ahnt Schlimmes – diese Zählung birgt für die Juden Warschaus eine Katastrophe.“⁶¹ Die Zählung erfolgte am 28. Oktober 1939.⁶² Die Verordnung zur Bildung eines „jüdischen Ältestenrats“ ging auf die von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), am 21. September 1939 erlassenen Richtlinien für die Befehlshaber der Einsatzgruppen zurück.⁶³ Sie waren das Resultat einer Besprechung Heydrichs mit den Amtschefs des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und den Leitern der Einsatzgruppen, die am selben Tag stattgefunden hatte und die nach Ansicht Christopher Brownings den „Auftakt zur nationalsozialistischen Judenpolitik in Osteuropa bildete“.⁶⁴ Heydrichs „Schnellbrief“ an die Chefs der Einsatzgruppen zufolge sollten „als erste Vorausnahme für das Endziel“⁶⁵ die Juden vom Land in größeren Städten, die „entweder Eisenbahnknotenpunkte sind oder zum mindesten an Eisenbahnstrecken liegen“⁶⁶, konzentriert werden. „Endziel“ bedeutete zu dieser Zeit noch nicht Vernichtung, sondern die Deportation der Juden aus den von Deutschen zu besiedelnden Gebieten.⁶⁷ Diesem Ziel waren auch die weiteren Punkte des Briefes untergeordnet. Der „Konzentration“ der Juden sollte eine Aufstellung von „jüdischen Ältestenräten“ folgen: „In jeder jüdischen Gemeinde ist ein jüdischer Ältestenrat aufzustellen, der, soweit möglich, aus den zurückgebliebenen maßgebenden Persönlichkeiten und Rabbinern zu bilden ist. Dem Ältestenrat haben bis zu 24 männliche Juden (je nach Größe der jüdischen Gemeinde) anzugehören.“⁶⁸ In erster Linie waren die sogenannten Ältestenräte für die Unterbringung und Versorgung der aus dem Land hinzugezogenen Juden sowie für eine „behelfsmäßige Zählung“ der in den Städten konzentrierten Juden verantwortlich. Darüber hinaus
Kaplan, Agonie, S. 66 – 67. Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 12; vgl. dazu noch Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 24. Vgl. Friedländer, Saul: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band, 1939 – 1945. München 2006, S. 56. Vgl. Browning, Judenpolitik, S. 173. Reinhard Heydrichs Schnellbrief an die Chefs aller Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, abgedruckt in: Jüdisches Historisches Institut Warschau (Hg.): Faschismus – Getto – Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs. Ausgewählt, bearbeitet und eingeleitet von Tatiana Berenstein, Artur Eisenbach et al., Frankfurt am Main 1960, S. 37– 41, hier: S. 37. Jüdisches Historisches Institut Warschau, Faschismus, S. 38. Vgl. hierzu Browning, Christopher R.: Die nationalsozialistische Umsiedlungspolitik und die Suche nach einer ‚Lösung der Judenfrage‘ 1939 – 1941. In: Browning, Christopher R.: Der Weg zur ‚Endlösung‘. Entscheidungen und Täter. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 12– 38. Jüdisches Historisches Institut Warschau, Faschismus, S. 38.
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sollten sie generell „als administrative Bindeglieder zwischen den deutschen Behörden und der jüdischen Bevölkerung dienen“⁶⁹. Bezüglich weiterer Angelegenheiten der jüdischen Bevölkerung wurde ergänzend (drittens) noch eine Zusammenarbeit zwischen Militär- und Zivilverwaltung befohlen.⁷⁰ Die Zivilverwaltung des deutsch-besetzten Polens unterstand dem am 12. Oktober 1939 gegründeten Generalgouvernement, das in vier Distrikte aufgeteilt war: Warschau, Radom, Krakau und Lublin (dieses Gebiet wurde nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 um den Distrikt Galizien erweitert).⁷¹ An der Spitze dieses im Zentrum Polens errichteten deutschen Verwaltungsapparats, der im Herbst 1939 noch über 12 Millionen Menschen herrschte,⁷² stand Hitlers Rechtsanwalt Hans Frank. Mit der Schaffung des Generalgouvernements (mit Regierungssitz in Krakau) wurde Frank am 12. Oktober zum Generalgouverneur ernannt.⁷³ Distriktchef bzw. Gouverneur von Warschau wurde Ludwig Fischer. Er bestimmte Oskar Dengel als Stadthauptmann für die Stadt Warschau, der diesen Posten von November 1939 bis März 1940 bekleidete, bis er von Ludwig Leist abgelöst wurde.⁷⁴ Zusätzlich zur deutschen wurde auch eine polnische Verwaltung für die Stadt Warschau mit Julian Kulski als Bürgermeister eingerichtet. Der Vorgänger Kulskis, Stefan Starzynski, war zuvor des Amtes enthoben, verhaftet und vermutlich in ein Konzentrationslager verbracht worden.⁷⁵
4.1.2 Willkür und Gewalt Anfangs inszenierten sich die deutschen Besatzer als Wohltäter und verteilten Brot an die Bedürftigen, Hungernden und Obdachlosen Warschaus.⁷⁶ Kaplan, den die marschierenden deutschen Soldaten „mit ihrem gesunden Aussehen und ihren wundervollen Uniformen in Erstaunen“ versetzt hatten, misstraute dem Schauspiel.⁷⁷ Er reihte sich in die langen Schlangen ein: „nicht jedoch um Brot zu bekommen – nur um Eindrücke zu gewinnen. Ich wollte die Nazis bei ihrer
Friedländer, Vernichtung, S. 56. Vgl. Friedländer, Vernichtung, S. 56. Vgl. Friedländer, Vernichtung, S. 38. Vgl. Friedländer, Vernichtung, S. 62. Vgl. Browning, Judenpolitik, S. 46. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 21– 22. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 21. Vgl. Kaplan, Agonie, S. 47. Vgl. Kaplan, Agonie, S. 47.
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Wohltätigkeit beobachten“⁷⁸. Jüdinnen und Juden, die sich für Brot und Suppe anstellten, so stellte er fest, wurden brutal aus der Reihe gestoßen und waren gezwungen, „sowohl beschämt und mißhandelt als auch hungrig und durstig umzukehren“⁷⁹. Die jüdische Bevölkerung Polens war den Deutschen von Beginn an ausgeliefert: „Kaum hatte sich Warschau ergeben, kaum war die Wehrmacht in die Stadt einmarschiert, da begann schon das große Gaudium der Sieger, das unvergleichliche Vergnügen der Eroberer – die Jagd auf die Juden“⁸⁰, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki. Sie wurden willkürlich und systematisch schikaniert, gedemütigt und misshandelt. Soldaten schnitten orthodoxen Juden die Bärte ab und zwangen Frauen Wohnräume, Büros und gar Toiletten mit ihrer Unterwäsche sauber zu wischen.⁸¹ Jüdinnen und Juden wurden auf offener Straße angegriffen und ausgeraubt. Ihre Wohnungen wurden enteignet und ihre Wertsachen entwendet. Nirgends konnten sie sich mehr sicher fühlen. Und mit einem Mal schien jede Katastrophe denkbar, wie bei Kaplan zu lesen ist: In wenigen Minuten hatte man sie alle vertrieben und die Häuser geräumt. Die Juden gingen verängstigt und wie betäubt, verwirrt und in ihren Hauskleidern fort. […] Binnen weniger Minuten blieben Hunderte von Familien ohne Dach, ohne Kleider, ohne Essen, ohne Wohnung, ohne Geld – und auch ich befand mich unter ihnen. Zu meinem noch größeren Mißgeschick hatte ich alle meine Ersparnisse in meiner Wohnung aufbewahrt.⁸²
Auch Marek Edelman erinnerte sich an den Verlust des Sicherheitsgefühls: „Das Bewußtsein, daß man jeden Augenblick umgebracht werden kann, nicht für das, was man tut, sondern einfach weil man nur ein niedergeschlagener, gequälter Nicht-Mensch ist, ein Jude, wirkt sehr deprimierend.“⁸³ Edelman war nach der unglücklich verlaufenen und misslungenen Verteidigungsaktion der polnischen Armee wieder nach Warschau zurückgekehrt, wo auch er Zeuge des beginnenden nationalsozialistischen Terrors gegen die jüdische Bevölkerung wurde. Die Demütigungen, die Gewalt und die Verfolgungsmaßnahmen wurden immer systematischer. Nach kurzer Zeit wurden Verordnungen erlassen, um das Leben der jüdischen Bevölkerung zu kontrollieren. Am 26. Oktober 1939 wurde Zwangsarbeit eingeführt. Im November wurde der hauptsächlich von der jüdischen Bevölkerung bewohnte Stadtteil Warschaus zum „Seuchengebiet“ erklärt. Ab dem 1. Dezember 1939 waren alle Juden, die das zwölfte Lebensjahr über-
Kaplan, Agonie, S. 47. Kaplan, Agonie, S. 49 – 50. Reich-Ranicki, Leben, S. 178. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 16. Kaplan, Agonie, S. 47– 48. Edelman, Das Ghetto kämpft, S. 28.
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schritten hatten, dazu verpflichtet, als Kennzeichen eine gut sichtbare weiße Armbinde mit einem blauen Davidsstern zu tragen.⁸⁴ Die Nichtbefolgung dieser Anordnung zog eine Gefängnisstrafe nach sich.
4.1.3 Die Mauern des Ghettos Am 29. März 1940 erhielt der „Judenrat“ zwei neue Anweisungen: Es sollte eine Mauer um den „jüdischen Wohnbezirk“ gebaut und „ein Asyl für 3.000 Menschen, die aus dem Reich ausgesiedelt wurden“⁸⁵ eingerichtet werden. Eine Woche später begann der Bau einer Mauer um das künftige Ghetto.⁸⁶ Am 2. Oktober folgte eine neue Anordnung und bestätigte damit die Gerüchte: Bis zum 31. Oktober 1940 hatten alle Polen das ummauerte Gebiet zu räumen und alle Jüdinnen und Juden dorthin überzusiedeln. Am 15. November 1940 wurde das Ghetto abgeriegelt: Zwischen 350.000 bis 400.000 Menschen sollten von nun an auf einer Fläche von 403 ha leben. Um sie herum erhob sich eine drei Meter hohe und 16 Kilometer lange Mauer. Die Kosten für die Mauer musste die jüdische Gemeinde selbst tragen.⁸⁷ Kaplan, der ahnte, was die Abschottung von der Außenwelt für die Eingeschlossenen bedeuten könnte, notierte Mitte Oktober 1941 in seinem Tagebuch: „Ein geschlossenes Ghetto bedeutet den Tod durch Verhungern in einem Konzentrationslager mit unmenschlichen Lebensbedingungen.“⁸⁸ Im Januar 1941 stieg die Zahl der im Ghetto eingeschlossenen Juden durch Zwangsumsiedlungen aus den Orten des Distrikts Warschau sogar auf über 450.000. Im überfüllten Ghetto mangelte es an Wohnraum, Kleidung, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Wer es sich leisten konnte, versorgte sich und seine Familien über den Schwarzmarkt. Hunger und Krankheiten ließen die Todesrate rapide ansteigen: „Im Januar 1941 starben 898 Menschen, im Mai waren es bereits 3821 und im Juli 5550.“⁸⁹ Insgesamt starben im ersten Ghettojahr „über 43.000 Menschen“; etwa zehn Prozent der Bevölkerung.⁹⁰ Das Sterben wurde alltäglich und öffentlich: „Man traf ihn im Getto auf Schritt und Tritt – den Tod.“⁹¹ Marcel Reich-Ranicki erinnerte sich an die am Straßenrand liegenden Leichen,
Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 29. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 56. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto und Kaplan, Agonie, S. 162. Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 208. Kaplan, Agonie, S. 249. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 75. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 75. Reich-Ranicki, Leben, S. 212.
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die „an Entkräftung oder Hunger oder Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte“⁹². Neben Leichen gehörten auch Bettler, ausgemergelte Männer, Frauen und vor allem Kinder, die in Lumpen gekleidet apathisch auf Bürgersteigen saßen, zum Straßenbild des Ghettos. Die meisten Menschen waren außer Stande, sich selbst zu versorgen, und somit auf Hilfe angewiesen. Diese kam jedoch nicht von außen, vielmehr handelte es sich dabei um „vielfältige Fürsorgeaktivitäten innerhalb der jüdischen Bevölkerung“⁹³.
4.1.4 Selbsthilfe und Jugendbewegungen Zu den wichtigsten Organisationen, an die sich die Fürsorge- und Hilfsbedürftigen im Ghetto wenden konnten, gehörte neben dem „Judenrat“ die Gesellschaft für jüdische Selbsthilfe, die unter den Namen Aleynhilf bekannt war. Sie dirigierte „ein Netzwerk humanitärer Hilfsorganisationen, Suppenküchen und Hauskomitees“⁹⁴. Suppenküchen, medizinische Versorgung und andere ähnliche Hilfsleistungen wurden zu einem Teil vom „Judenrat“ und zum anderen von der Aleynhilf (die sich stark vom „Judenrat“ abgrenzte) finanziert.⁹⁵ Für Kinder und Jugendliche war die zentrale Fürsorgeinstitution CENTOS verantwortlich.⁹⁶ Die Hauskomitees, in denen die Menschen ehrenamtlich tätig waren, sollten die Versorgung innerhalb der jeweiligen Häuserblocks sicherstellen: Sie waren „die lebenserhaltenden Mikrokosmen der Ghettogesellschaft, jedes eine Welt für sich, ein Symbol der Widerstandskraft der jüdischen Massen“⁹⁷. Emanuel Ringelblum, der als Historiker das Untergrundarchiv Oyneg Shabes gegründet hatte und leitete, war ebenso in der Aleynhilf aktiv wie beinahe alle seine Mitarbeiter. Am Ende musste er jedoch resigniert feststellen, dass die Selbsthilfe sehr wenig an den Zuständen im Ghetto ändern könne. Die Probleme ließen sich mit ihr nicht lösen, so Ringelblum, sie verlängere lediglich das Leiden.⁹⁸ Im Ghetto entstanden aber nicht nur karitative, sondern auch zahlreiche kulturelle Programme, die den Bewohnern dabei helfen sollten, „wenigstens für
Reich-Ranicki, Leben, S. 212. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 99. Kassow, Samuel D.: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 149. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 103 – 107. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 117– 118. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 149. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 129.
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einen Moment die triste und grausame Realität zu vergessen“⁹⁹. Hierzu zählten Konzerte, Theateraufführungen, literarische Veranstaltungen, geheime Bibliotheken, Untergrundzeitungen sowie Seminare, die von den Jugendbewegungen organisiert wurden. Selbsthilfe und kulturelles Engagement wurden als die zwei „Grundelemente zivilen Widerstands“¹⁰⁰ im Ghetto angesehen. In diesem Zusammenhang traten insbesondere die jüdischen Jugendbewegungen hervor, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa entstanden waren und verschiedenen politischen Parteien und Strömungen angehörten. Die zionistisch und sozialistisch ausgerichtete Haschomer Hatzair war die erste jüdische Jugendbewegung, die in Osteuropa – genauer in Galizien – gegründet wurde. Ihre Mitglieder stammten zum größten Teil aus dem kleinbürgerlichen und studentischen Milieu.¹⁰¹ Eine dieser Bewegung verwandte Gruppe war die zionistische Dror, die jedoch im Gegensatz zur Haschomer Hatzair Jugendliche aus den ärmeren Schichten der jüdischen Gesellschaft anzog. Die zionistischen Jugendbewegungen boten einen Gegenentwurf zu den herrschenden Lebensverhältnissen an. Sie bereiteten ihre Mitglieder auf eine Auswanderung nach Palästina vor. Hierfür absolvierten ältere Mitglieder eine landwirtschaftliche Ausbildung.¹⁰² Die verschiedenen zionistischen, antizionistischen und sozialistischen Bewegungen in Polen wurden in der Zeit der deutschen Besatzung zur treibenden Kraft bei der Organisation und Durchführung des bewaffneten Widerstands. Nicht nur die Führungsriege der im Juli 1942 gegründeten Jüdischen Kampforganisation (Zydowska Organizacja Bojowa; ZOB) setzte sich aus Mitgliedern der Jugendbewegungen zusammen, sondern auch beinahe der gesamte Unterbau der Widerstandsgruppe. Mordechai Anielewicz, der spätere Kommandant der ZOB, hatte sich bereits als Schüler der Haschomer Hatzair angeschlossen.Yitzhak Zuckerman und Zivia Lubetkin, die beide eine ebenso herausragende Rolle innerhalb der ZOB spielen sollten, waren führende Mitglieder der Dror. Marek Edelman war in der Jugendorganisation des sozialistischen sowie antizionistischen Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes (Bund) aktiv. Der Bund schloss sich der ZOB jedoch erst zögerlich an.
Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 130. Sakowska, Ruta: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941– 1943, S. 19. Gutman, Israel, Jäckel, Eberhard, Longerich, Peter & Schoeps, Julius H. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. II (H-P). München 1998, S. 703 – 704. Vgl. Gutman et al., Enzyklopädie, Band II, S. 704.
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4.1.5 Beunruhigende Nachrichten Ende Januar 1942 erreichte ein völlig entkräfteter junger Mann das Ghetto von Warschau, wo er von zwei Mitarbeitern des Oyneg Shabes, Hersh Wasser und seiner Frau Bluma, aufgenommen wurde.¹⁰³ Er nannte sich „Szlamek“¹⁰⁴ und erzählte, dass er aus einem kleinen Ort mit dem Namen Chelmno (Kulmhof) geflohen sei. Das Ehepaar zeichnete seinen Bericht detailliert auf. Der fromme und intelligente junge Mann stammte aus dem kleinen polnischen Dorf Izbica, das nach der deutschen Besetzung in ein Ghetto verwandelt worden war und kurz darauf als Durchgangslager auf dem Weg in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka diente. „Szlamek“ wurde einem Arbeitskommando zugeteilt und kam mit 28 anderen Männern am 6. Januar 1942 im Vernichtungslager Kulmhof an, wo sie alle im sogenannten Sonderkommando arbeiten mussten. Am nächsten Tag wurden sie in einen nahegelegenen Wald gefahren. Dort angekommen, mussten sie trotz der Kälte Mäntel, Pullover und Handschuhe ausziehen.¹⁰⁵ Nur mit ihren Hemden und Hosen bekleidet begannen sie damit, Gruben in den frostigen Boden zu schaufeln. Dann näherte sich ein Lastwagen, wie „Szlameks“ Bericht zu entnehmen ist: Es war so groß wie ein normales Lastauto, in grauer Farbe, das mit zwei Türen hinten hermetisch verschlossen war. Sein Innenraum war mit Blech ausgeschlagen, es hatte keine Sitzplätze, auf dem Boden lagen Holzroste, wie in einem Baderaum, und darauf lag eine Strohmatte. […] Unter den Holzrosten befanden sich zwei 15 Zentimeter dicke Rohre, die zu der Fahrerkabine führten. Sie waren mit Öffnungen verbunden, durch die das Gas hineingelangte.¹⁰⁶
In Chelmno mordete die SS mit Gaswagen in der ersten Januarwoche 1942 etwa 5.000 Sinti und Roma, kurz darauf Juden aus dem Ghetto Lodz.¹⁰⁷ Die Opfer
Vgl. Sakowska, Ruta: Der Bericht von „Szlamek“, eines Geflüchteten aus Chelmno am Ner. In: Struck, Manfred (Hg.): Chelmno/Kulmhof. Ein vergessener Ort des Holocaust? Bonn/Berlin 2001, S. 51– 54, hier: S. 51. Der junge Mann gab einen weiteren Namen an: Jaakow Grojanowski. Jedoch ist anzunehmen, dass es sich hierbei nicht um seinen richtigen Namen handelt. Vgl. Krakowski, Shmuel: Das Todeslager Chelmno/Kulmhof. Der Beginn der ‚Endlösung‘. Göttingen 2007, S. 61– 62. Vgl. Als Totengräber im Vernichtungslager. Augenzeugenbericht über die Ermordung von Juden und Zigeunern im Vernichtungslager Chelmno am Ner vom 5. bis zum 19. Januar 1942, mitgeteilt von „Szlamek“, der von dort fliehen konnte [aufgezeichnet von Hersz Wasser – Februar 1942,Warschauer Ghetto], abgedruckt in: Sakowska, Die zweite Etappe, S. 159 – 162. Im Folgenden abgekürzt als „Szlamek“-Bericht. „Szlamek“-Bericht, S. 159 – 162. Krakowski, Todeslager, S. 46 und 51; vgl. auch „Szlamek“-Bericht, S. 169 – 170.
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wurden stets auf die gleiche Weise ermordet, berichtete „Szlamek“: Nachdem sie sich entkleidet hatten – es sei für die „Entlausung“ nötig, erzählte man ihnen –, wurden sie in die Lastwagen getrieben. Die Türen wurden verschlossen und der Wagen fuhr los. Im Wald hielten die Fahrzeuge vor den Gruben, dann wurden die Abgase – das Kohlenmonoxid – in die Laderäume umgeleitet. Die Menschen erstickten qualvoll. Danach wurden die Türen geöffnet und das sogenannte Sonderkommando musste die Leichen aus dem Laderaum in die Gruben schaffen.¹⁰⁸ Der Bericht schilderte dies folgendermaßen: Aus dem Lastwagen wurden die Vergasten wie Abfall auf einen Haufen geworfen. Sie wurden an den Beinen oder an den Haaren geschleppt. Oben standen zwei Männer, die die Leichen in die Grube hinunterwarfen, und in der Grube standen zwei andere Männer, die sie aufschichteten und die Leichen mit dem Gesicht zur Erde legten, so dass beim Kopf der einen die Füße der nächsten lagen. Diese Arbeit leitete ein besonderer SS-Mann, der befahl, was man tun sollte. Wenn irgendwo ein Stück freier Platz blieb, wurde dort die Leiche eines Kindes hineingepresst.¹⁰⁹
Die Männer, die in den Gruben arbeiteten, wurden am Ende des Tages erschossen. Am darauffolgenden Tag wurden neue ausgewählt. Mechl Podchlebnik, einer der Protagonisten aus Claude Lanzmanns Film Shoah, gehörte ebenfalls zum Sonderkommando von Chelmno. Podchlebnik erzählte Lanzmann, wie er am dritten Tag seines Einsatzes unter den Leichen seine Kinder und seine Ehefrau entdeckte.¹¹⁰ Auch „Szlamek“ berichtete von ähnlichen Ereignissen: In einem bestimmten Augenblick fing Ajzensztab, auch aus Klodawa, leise zu weinen an und sagte, dass es nichts mehr gibt, wofür er leben soll, denn er sah, wie seine Frau und seine fünfzehnjährige Tochter begraben wurden. Er wollte schon die Deutschen bitten, dass sie ihn erschießen, denn er wollte mit seinen Nächsten in dem Grab liegen. Wir redeten ihm das jedoch aus und sagten ihm, das könne er immer noch tun und unterdessen gelänge ihm vielleicht die Flucht, um Rache zu nehmen.¹¹¹
Im Lager brach Ajzensztab zusammen, er schrie, schluchzte und stieß aus Verzweiflung darüber, dass er sich nicht das Leben nehmen konnte, seinen Kopf gegen die Wand.¹¹² Am 19. Januar 1942 gelang „Szlamek“ die Flucht aus Chelmno. Der Gedanke an das erlebte Grauen hatte ihm keine Ruhe gelassen: „mit allen
Vgl. „Szlamek“-Bericht, S. 163. „Szlamek“-Bericht, S. 163. Siehe Shoah (Shoah, F 1985, Regie: Claude Lanzmann). Vgl. Lanzmann, Claude: Shoah. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 26. „Szlamek“-Bericht, S. 172– 173. Vgl. „Szlamek“-Bericht, S. 173.
4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick
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Kräften wollte ich zu lebenden Juden gelangen, um ihnen die Nachricht von dem ganzen Schrecken von Chelmno zu überbringen“¹¹³. Der Bericht aus Chelmno war kein Einzelfall: Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 häuften sich Informationen über massenhafte Ermordung von Juden in den ehemals sowjetisch besetzten Gebieten.¹¹⁴ Im Oktober 1941 erreichten Meldungen über die Massenhinrichtungen im Wald von Ponary das Warschauer Ghetto. Nur wenige innerhalb der politischen Bewegungen vermochten die Meldungen richtig zu deuten. Die meisten sahen keinen Zusammenhang zwischen den Erschießungen in einem Wald unweit von Wilna und dem Anfang einer systematischen Vernichtung der europäischen Juden. Doch mit „Szlameks“ Bericht schienen sich die Wahrnehmung und Bewertung derartiger Nachrichten zu verändern. In den Frühjahrsmonaten des Jahres 1942 trafen immer mehr Briefe und Postkarten im Warschauer Ghetto ein, die Juden aus den polnischen Provinzen kurz vor ihrer bevorstehenden Deportation verfasst hatten. Diese enthielten versteckte Hinweise auf eine drohende Vernichtung.¹¹⁵ Hin und wieder tauchten in diesem Zusammenhang die Namen der erst kürzlich von der SS errichteten Vernichtungslager in Sobibor und Treblinka auf. Die Berichte aus Wilna und Chelmno sowie die vielen Hinweise aus den Korrespondenzen bewirkten innerhalb der politischen Parteien und der Jugendbewegungen ein Umdenken: Unglauben und Skepsis wichen allmählich der Erkenntnis, dass irgendwann auch Warschau an die Reihe kommen würde. Bis jetzt hatten die Jugendbewegungen sich auf Aktivitäten in den Bereichen Kultur, Bildung und Selbsthilfe konzentriert, doch die Meldungen aus den Provinzen überzeugten die führenden Leute von Dror und Hashomer davon, dass Seminare und Kurse jetzt nicht mehr sehr sinnvoll waren. Sie begannen nun Publikationen unter der Ghettobevölkerung zu verteilen, die über die Massentötungen berichteten.¹¹⁶
Der Gedanke, sich mit Waffengewalt gegen die Deutschen zu erheben, gewann nun innerhalb der politischen Parteien und Jugendbewegungen neue Dringlichkeit. Im März 1942 organisierten die zionistischen Jugendbewegungen eine Zusammenkunft (mit Vertretern der Dror, Hashomer Hatzair, der Poalei Zion sowie dem Bund), auf der über die Gründung einer jüdischen Kampforganisation diskutiert wurde.¹¹⁷
„Szlamek“-Bericht, S. 178. Vgl. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 457. Vgl. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 468. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 469. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 469 – 470.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
4.1.6 Die große „Aktion“ Am frühen Morgen des 22. Juli 1942 umstellten Spezialeinheiten die Grenzen des Ghettos.¹¹⁸ Gegen 10 Uhr betrat der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle die Räumlichkeiten des Judenrats in der Grzybowska-Straße 28 und gab bekannt, „daß – mit gewissen Ausnahmen – die Juden ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters in den Osten ausgesiedelt werden“¹¹⁹ sollten. Der Jüdische Ordnungsdienst¹²⁰ sollte bis 16 Uhr desselben Tages 6.000 Menschen zum Umschlagplatz bringen – entsprechend sei jeden Tag zu verfahren. Marcel ReichRanicki protokollierte die Sitzung. Die von Höfle diktierten „Eröffnungen und Auflagen für den Judenrat“ übersetzte Gustawa Jarecka in Zusammenarbeit mit Marcel Reich-Ranicki ins Polnische.¹²¹ Von der „Umsiedlung“ waren vorerst ausgeschlossen: die Mitglieder und Angestellte des „Judenrats“, die in deutschen Betrieben beschäftigten Juden, das Personal des Ordnungsdienstes sowie der jüdischen Krankenhäuser.¹²² „Das tragischste Problem“, so notierte Adam Czerniakow noch am selben Tag, „ist das der Kinder in den Waisenhäusern usw. Ich habe es zur Sprache gebracht – vielleicht läßt sich etwas machen.“¹²³ In einer privaten Besprechung drohte Höfle Czerniakow mit der Erschießung von dessen Frau, falls „die Aussiedlung nicht wunschgemäß verlaufen“¹²⁴ sollte. Während der großen „Aktion“, die an diesem Tag begann und bis zum 21. September 1942 dauerte, wurden täglich mehrere tausend Menschen aus dem Warschauer Ghetto in die nahegelegene Ortschaft Treblinka deportiert, wo die SS ein Lager mit nur einer Funktion errichtet hatte, wie sich Reich-Ranicki erinnerte: Dort befand sich nur eine Gaskammer, genauer: ein Gebäude mit drei Gaskammern. Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.¹²⁵
Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 284. Czerniakow, Tagebuch, S. 284. Der Jüdische Ordnungsdienst (OD) war auf Anordnung der SS vom „Judenrat“ im September 1940 gebildet worden. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 47. Vgl. Reich-Ranicki, Leben, S. 239. Vgl. Jarecka, Gustawa: „Die letzte Etappe der Umsiedlung ist der Tod“. Essay über das Warschauer Ghetto in den Tagen vom 18. April bis zum 23. Juli 1942 (Fragment). Abgedruckt in: Sakowska, Ruta: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941– 1943. Berlin 1993, S. 227– 243, hier: S. 234– 235. Czerniakow, Tagebuch, S. 285. Czerniakow, Tagebuch, S. 285. Reich-Ranicki, Leben, S. 254.
4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick
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Die ersten Opfer waren jene, die bereits aus den Gebieten des sogenannten Generalgouvernements nach Warschau deportiert worden waren und im Ghetto in Massenunterkünften für Flüchtlinge hausten.¹²⁶ „Die Menschen dort“, schrieb Jarecka in einem Essay für das Ringelblum-Archiv, „hatten schon die Qualen von Obdachlosigkeit und Flecktyphus hinter sich, sie lebten im letzten Elend, auf dem niedrigsten Existenzniveau, das die hilflose und unvermögende Sozialhilfe nicht verhindern konnte.“¹²⁷ Der Jüdische Ordnungsdienst holte am 22. Juli 1942 zuerst die Kranken, Alten und Kinder aus den Flüchtlingsunterkünften. Am darauffolgenden Tag sammelte der OD die Menschen auf den Straßen ein.¹²⁸ Derweil hegte Czerniakow nach einem Gespräch mit SS-Obersturmbannführer Hermann Worthoff noch die Hoffnung, wenigstens die Waisenkinder vor den Deportationen bewahren zu können: „Im Hinblick auf die Waisen ordnete er an, mit Hoefle Rücksprache zu halten.“¹²⁹. Eine Stunde später nahm sich der Vorsitzende des „Judenrats“ das Leben. Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Notizen: eine war an die Gemeindemitglieder adressiert, die andere an seine Frau gerichtet: „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“¹³⁰ Bei vielen in der Widerstandsbewegung stieß Czerniakows Selbstmord auf Unverständnis und Unmut. Edelman sagte Hanna Krall gegenüber: „Ein einziger Mensch konnte laut die Wahrheit sagen, Czerniakow. Ihm hätte man geglaubt. Aber er beging Selbstmord. Das war nicht in Ordnung, er hätte mit einem Feuerwerk sterben sollen. Ein Feuerwerk war damals sehr nötig, er hätte sterben sollen, nachdem er die Leute zum Kampf aufgefordert hatte.“¹³¹
Er habe, so lautete der Vorwurf, „‚aus seinem Tod eine eigene, private Angelegenheit gemacht‘“¹³². Zuckerman und Ringelblum reagierten ähnlich.¹³³ Für Reich-Ranicki dagegen ging Czerniakow „als ein Mann mit tragischen Zügen“ in die Geschichte ein, „sogar als Held und Märtyrer“¹³⁴.
Vgl. Jarecka, Essay, S. 238. Jarecka, Essay, S. 238. Vgl. Jarecka, Essay, S. 239. Czerniakow, Tagebuch, S. 285. Czerniakow, Tagebuch, S. 285. Marek Edelman zit. nach Krall, Hanna: Schneller als der liebe Gott. Frankfurt am Main 1980, S. 19. Krall, Schneller, S. 19. Vgl. Zuckerman,Yitzhak: A Surplus of Memory. Chronicle of the Warsaw Ghetto Uprising. Los Angeles 1993, S. 195. Vgl. auch Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 529. Reich-Ranicki, Leben, S. 243.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
Die Deportation der Waisenkinder konnte Czerniakow nicht verhindern. Anfang August 1942 wurden alle Waisenhäuser, Internate und weitere Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sowie das Kinderkrankenhaus geschlossen deportiert. Darunter befand sich auch das von Dr. Janusz Korczak geführte Heim für Waisenkinder Dom Sierot. Zu der Zeit wussten beinahe alle im Warschauer Ghetto lebenden Juden, was sie in Treblinka erwartete. Kurz zuvor war es dem jungen Zalman Frydrych, einem Aktivisten des Bund, gelungen, einem der Transporte unauffällig zu folgen. Nach seiner Rückkehr informierte er den Untergrund über die Massenmorde in den Gaskammern, und der Untergrund begann damit, die Bevölkerung aufzuklären. Doch es half wenig, denn auch weiterhin wurden die Menschen zum Umschlagplatz gebracht, dort in Züge gedrängt und nach Treblinka deportiert. In den Monaten der „Umsiedlungsaktion“ wurden 10.380 Juden im Ghetto getötet und 265.040 Juden wurden nach Treblinka deportiert und in den Gaskammern ermordet.¹³⁵ Von den etwa 450.000 Menschen, die im Juli 1942 noch im Ghetto eingesperrt waren, waren Ende September nur noch etwa 60.000 übrig geblieben.
4.1.7 Bewaffneter Widerstand Simha Rotem, den seine Freunde vom Widerstand später „Kazik“ nannten, war fünfzehn Jahr alt, als die Bomben auf Warschau niedergingen und die Wohnung, in der er mit seinen Eltern lebte, in Trümmern legten.¹³⁶ Im Ghetto versuchte er sich zuerst als Schmuggler, anschließend wurde er, nachdem er das siebzehnte Lebensjahr vollendet hatte, zur Zwangsarbeit herangezogen. Aus der Sorge heraus, ihr Sohn könnte schon bald erschossen werden, schickten Rotems Eltern ihn zu Verwandten aufs Land.¹³⁷ Als er gegen Ende des Sommers 1942 ins Ghetto zurückkehrte, erkannte er es kaum wieder: „Der Anblick, der sich meinen Augen bot, war der einer Geisterstadt. Ganze Straßenzüge ohne Menschenseele. Aufgebrochene Wohnungen.“¹³⁸ Von den 60.000 Menschen lebten etwa 30.000 „illegal“ in Verstecken und verlassenen Unterkünften. Die restlichen rund 30.000 besaßen eine „Lebensnummer“ und wohnten „legal“ auf dem ursprünglichen Gebiet des Ghettos (das nun deutlich kleiner geworden war), wo sie in verschiedenen „Shops“ arbeiten mussten.¹³⁹ Das Oyneg Shabes, das sich seit Anfang 1942 als
Vgl. Friedländer, Vernichtung, S. 458 – 459. Vgl. Rotem, Simha: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Berlin 1996, S. 17– 23. Vgl. Rotem, Kazik, S. 25 – 28. Rotem, Kazik, S. 30. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 179.
4.1 Das Warschauer Ghetto: Ein Überblick
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„‚dokumentarischer Arm“ einer breit aufgestellten jüdischen Widerstandsbewegung„¹⁴⁰ betrachtete, setzte seine Arbeit im „Rest-Ghetto“ fort. Die Jugendbewegungen und politischen Parteien hatten sich zur Gründung einer gemeinsam geführten jüdischen Kampforganisation bereits Ende Juli 1942 zusammengefunden, jedoch ohne nennenswerte Resultate. ¹⁴¹ Nach den großen Deportationen wurde im Herbst 1942 die Jüdische Kampforganisation gegründet, die sich aus den Vertretern der Bewegungen Hashomer Hatzair, Dror, Poale Zion, Akiba, dem Bund sowie der kommunistischen Partei zusammensetzte. Mordechai Anielewicz, der kurz zuvor nach Warschau zurückgekehrt war, wurde zum Anführer gewählt und Yitzhak Zuckerman zu seinem Vertreter. Daneben gründeten die Revisionisten innerhalb der Parteien eine eigene separate Kampforganisation: den Jüdischen Militärbund ZZW (Zydowski Zwiazek Wojskowy).¹⁴² Die ZOB ging zuerst gegen Kollaborateure vor. Bereits im Oktober 1942 war der Chef des Jüdischen Ordnungsdienstes, Jakub Lejkin¹⁴³, erschossen worden.¹⁴⁴ Die ZOB bekannte sich nun zu diesem Attentat und kündete weitere Anschläge auf all jene an, die mit den Deutschen zusammengearbeitet und sich am Leid der Juden bereichert hätten. Im Januar 1943 sollten die Deportationen, die Ende September kurzzeitig eingestellt worden waren, fortgesetzt werden. Marcel Reich-Ranicki, der mit seiner Ehefrau Tosia sowie Gustawa Jarecka und anderen Mitgliedern des „Judenrats“ von der ersten „Umsiedlungsaktion“ verschont geblieben war, beschreibt den Beginn der zweiten Deportationswelle in seinen Erinnerungen: „Am 18. Januar [1943] wurden wir kurz nach sechs Uhr morgens vom Lärm auf der Straße geweckt. Ich sprang ans Fenster und sah trotz der Dunkelheit Hunderte, wenn
Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 556 – 557. In einigen Quellen und Darstellungen wird der 28. Juli 1942 als Gründungstag der ZOB genannt; vgl. hierzu die Aussage Yitzhak Zuckermans in: Scheffler, Wolfgang & Grabitz, Helge: Der Ghetto-Aufstand Warschau 1943, aus der Sicht der Täter und Opfer in Aussagen vor deutschen Gerichten. München 1993, S. 21– 30, hier: S. 23 und Gutman, Israel: The Jews of Warsaw 1939 – 1943. Ghetto, Underground, Revolt. Sussex 1982, S. 236. Marek Edelman betont jedoch, dass es sich hierbei um eine „Scheingründung“ gehandelt habe. Er datiert die Gründung auf den 15. Oktober 1942 (vgl. Beres/Burnetko, Edelman, S. 172) oder auf den 15. November 1942 (vgl. Assuntino, Rudi & Goldkorn, Wlodek: Der Hüter. Marek Edelman erzählt. München 2002, S. 45). Vgl. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 557. Jakub Lejkin war der Stellvertreter und Nachfolger des Befehlshabers des Jüdischen Ordnungsdienstes Jozef Szerynski, auf dem bereits Ende August ein Anschlag verübt worden war (vgl. Ainsztein, Reuben: Revolte gegen die Vernichtung. Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Berlin 1993, S. 68 – 69). Vgl. Ainsztein: Revolte, S. 74.
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nicht gar Tausende von Juden, die eine Marschkolonne bildeten.“¹⁴⁵ Diese Kolonne setzte sich Richtung Umschlagplatz in Bewegung und wurde dabei von bewaffneten Posten bewacht. Reich-Ranicki und Tosia wurden gezwungen, sich dem Marsch anzuschließen. Dort entdeckten sie auch Gustawa Jarecka mit ihren beiden Kindern. Marcel und Tosia gelang am Ende die Flucht, Gustawa und ihre Kinder wurden in Treblinka ermordet. Die „Zweite Aktion“ wurde am 21. Januar 1943 abgebrochen, der Grund: Es „hatte sich etwas ereignet, womit die Deutschen nicht gerechnet hatten – die Juden [hatten] […] bewaffneten Widerstand [geleistet]“¹⁴⁶. Es handelte sich dabei um eine spontane und nicht abgesprochene Aktion, dennoch hatte sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Kampforganisation besaß zu jenem Zeitpunkt nur wenige Waffen (hauptsächlich ein paar Pistolen), daher waren sie, wie Edelman in seinen Erinnerungen schreibt, „zum Partisanenkampf“¹⁴⁷ übergegangen. Die ZOB war in mehreren Kampfgruppen bzw. Zellen gegliedert – jede glich einem kleinen Kibbuz: Die Kämpferinnen und Kämpfer schliefen am selben Ort, aßen und übten zusammen.¹⁴⁸ Vier Gruppen gelang es am 18. Januar, die SS in Häuserkämpfe zu verwickeln und auf den Straßen Anschläge zu verüben.¹⁴⁹ Eine unbewaffnete Gruppe wurde verhaftet und zum Umschlagplatz geführt. Dort weigerten sich die Widerständler, die Waggons zu besteigen; daraufhin wurden sie erschossen. „Diese Gruppe zeigt[e] den Juden“, so Edelman in seinem kurz nach Kriegsende verfassten und veröffentlichten Bericht über den Aufstand, „daß man den Deutschen immer und überall, und unter allen Umständen, widerstehen kann und soll.“¹⁵⁰ Bei Abbruch der „Aktion“ waren etwa 1.200 Juden im Ghetto erschossen und etwa 5.000 nach Treblinka deportiert worden.¹⁵¹ Doch die kleine improvisierte Revolte hallte durch das gesamte Ghetto und „elektrisierte Kämpfer und Zivilisten gleichermaßen“¹⁵². Und schon bald „kursierten Legenden, die die Stärke des Widerstands ins Unermessliche steigerten“¹⁵³.
Reich-Ranicki, Leben, S. 268 – 269. Reich-Ranicki, Leben, S. 271. Edelman, Das Ghetto kämpft, S. 62. Vgl. Rotem, Kazik, S. 35. Vgl. Edelman, Das Ghetto kämpft, S. 62. Edelman, Das Ghetto kämpft, S. 62. Vgl. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 190. Kassow spricht von 6500 Deportierten; vgl. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 560. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 560. Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 190.
4.2 Der Aufstand im Film: Uprising und das Blow-up der Mythen
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Das Kommando der ZOB begann direkt im Anschluss an die Januar-Revolte mit der Neustrukturierung und Aufrüstung der Organisation. Es wurden neun Kampfeinheiten gebildet, die sich über das gesamte „Rest-Ghetto“ verteilten. Der polnische Untergrund, der über den Aufstand erstaunt war, schickte Handfeuerwaffen, Granaten und Sprengstoff ins Ghetto.¹⁵⁴ Die GhettokämpferInnen füllten Molotowcocktails ab und fertigten Minen. Unter den verlassenen Häusern errichteten sie Bunker.¹⁵⁵ Im März 1943 verhaftete die SS Arie Wilner, einen der Mitbegründer der ZOB, der auf der „arischen Seite“ operierte und in Kontakt mit dem polnischen Untergrund stand (er hatte u. a. die Waffenlieferungen organisiert). Die ZOB-Führung beschloss, Zuckerman als Ersatz für Wilner auf die andere Seite der Mauer zu schicken.¹⁵⁶ Der zweite Kommandant der Jüdischen Kampforganisation befand sich somit nicht im Ghetto, als die SS am frühen Morgen des 19. April 1943 ins Ghetto einrückte. Drei Kampfgruppen erwarteten sie und eröffneten sogleich das Feuer. Die Schüsse weckten Marek Edelman, der sich mit seiner Gruppe versteckt hielt.¹⁵⁷ Es waren dieselben Schüsse, von denen die Passanten Alina Margolis-Edelman berichteten, als sie am Nachmittag des 19. April 1943 die Mauer an der Bonifraterska-Straße entlang ging, nachdem die Stille wieder eingekehrt war. Der Aufstand zog sich über Wochen hin, und mit jedem Tag verschlimmerte sich die Lage der Ghettokämpfer. Den ersten Erfolgen folgten Niederlagen: „Bewaffneter Widerstand war nach ein paar Tagen nicht mehr möglich, da die Aufständischen über sehr wenig Munition verfügten und keine geeigneten Waffen hatten.“¹⁵⁸ Mordechai Anielewicz nahm sich Anfang Mai 1943 mit einigen anderen Aktivisten in einem Bunker das Leben, Simha Rotem und Yitzhak Zuckerman sorgten für die Rettung der wenigen Überlebenden, unter denen sich auch Marek Edelman und Zivia Lubetkin befanden.
4.2 Der Aufstand im Film: Uprising und das Blow-up der Mythen Der Aufstand von 1943 bildet den dramaturgischen Höhepunkt des 2001 ausgestrahlten Fernsehdramas Uprising. Im Film beginnt der 19. April 1943 mit dem
Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 292. Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 293. Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 298. Vgl. Krall, Schneller, S. 10. Meckl, Helden, S. 29.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
Einmarsch der SS: Die Soldaten marschieren, gefolgt von Panzerwagen und Panzern, singend durch die Tore des Ghettos. Die Kämpferinnen und Kämpfer der ZOB eröffnen sogleich das Feuer: Sie schießen mit leichten Maschinengewehren aus den Fenstern und werfen Molotowcocktails von den Dächern. Eine junge Frau, die sich mit einem Seil um den Bauch an einem Schonstein festgebunden hat, läuft im Halbkreis am Rande eines Daches und bewirft die SS mit Sprengsätzen. SS-Gruppenführer Jürgen Stroop (Jon Voigt)¹⁵⁹ beobachtet sie dabei, ebenso Fritz Hippler (Cary Elwes), der sich mit seinem Filmteam im Ghetto aufhält, um Material für einen weiteren antisemitischen Propagandafilm zu sammeln. Joseph Goebbels habe ihn, so erklärt er später Stroop, persönlich mit dieser Aufgabe betraut. Hippler instruiert seinen Kameramann, die Kämpferin aufzunehmen. Als Stroop dies bemerkt, fordert er Hippler auf, die Filmaufnahmen einzustellen. Der Regisseur erwidert, dass der Film insofern wichtig sei, weil er die Taten der Nationalsozialisten für die Ewigkeit bewahre – der Film überdauere sie alle. Stroop erwidert, dass nur der Sieg am Längsten währe, und dies hier sei kein Sieg. „It depends where you put the camera“, antwortet Hippler lächelnd und lässt weiter filmen. Die kurze Sequenz verweist nicht nur darauf, wie gut die NS-Propaganda den Film für ihre Zwecke zu nutzen wusste, sondern liefert uns auch einen jener seltenen Momente, in denen das Medium sich selbst reflektiert: In der zynischen Bemerkung des Reichsfilmintendanten (dessen Anwesenheit in Warschau während des Aufstands nicht belegt ist) wird explizit der Zusammenhang zwischen Standort der Kamera sowie Einstellung bzw. Ausschnitt des Bildes und der dadurch vermittelten Informationen hergestellt. Damit wird uns Auskunft darüber gegeben, wie der Film erzählt: nämlich in einer Abfolge von Einstellungen. Schlicht formuliert: Das Kino erzählt Geschichten in Bildern. Hierbei ist entscheidend, welche Informationen den Zuschauern zugeführt oder vorenthalten werden.¹⁶⁰ „Betrachtet man die Geschichte des Kinos“, schreibt der Filmtheoretiker David Bordwell, „in Hinblick auf seine visuelle Gestaltungsweisen (visual design), so kann man also sagen, dass es ihm stets darauf ankommt, auf sehr unterschiedliche Weisen unsere Aufmerksamkeit zu wecken und zu fesseln sowie uns relevante Informationen über die Welt zu übermitteln, die auf der Leinwand gezeigt wird“¹⁶¹.
Bei den Namen in Klammern handelt es sich um die Schauspieler, welche die teils historischen, teils fiktiven Figuren verkörpern. Vgl. Bordwell, David: Visual Style in Cinema.Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt am Main 2006, S. 13. Bordwell, Visual Style, S. 13.
4.2 Der Aufstand im Film: Uprising und das Blow-up der Mythen
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Die Aneinanderreihung von Einstellungen und die Anordnung von Sequenzen liefern – unterstützt durch Monologe und Dialoge – im Laufe des Films Informationen über Handlung, Figuren, Konflikte sowie Ort und Zeit. Anhand der Verflechtungen, Beziehungen und des Zusammenspiels dieser dramaturgischen Konstanten werden verschiedene Thesen und Argumente entfaltet. Informationen erhalten die ZuschauerInnen sowohl über die visuelle Gestaltung des Films als auch über dessen dramaturgischen Aufbau. Filme sind – ebenso wie Romane – „fiktionale Experimente“¹⁶², an deren Struktur sich Themen und Argumente ableiten lassen. Für eine Analyse, deren Ziel es ist, geschichtswissenschaftlich relevante Erkenntnisse aus einem fiktionalen Film zu gewinnen, schlage ich daher ein Verfahren vor, der sich hauptsächlich auf die folgenden vier Schritte mit den dazugehörigen Fragen stützt, welche sich alternierend sowohl an die Quellen als auch an das zu untersuchende Material richten: 1. An exemplarischen Sequenzen soll herausarbeitet werden, welche Informationen den Zuschauern zugeführt und welche ihnen vorenthalten werden. Also: Was wird erzählt? 2. Woher stammen die Informationen? Auf welche Quellen wurde zurückgegriffen? Gibt es Korrelationen zwischen Film und Tendenzen sowie Schwerpunkten der Forschung? 3. Gibt es Diskrepanzen zwischen den Informationen, die uns der Film liefert, und jenen aus den Quellen? 4. Was kann uns diese Diskrepanz an Erkenntnissen liefern? Was sagt sie aus?
4.2.1 Heldenreise: Zum dramaturgischen Aufbau von Uprising Uprising erzählt die Geschichte des Warschauer Ghettos mit Fokus auf die Untergrund- und Widerstandsbewegung, wobei die Durchführung des Aufstands im Mittelpunkt steht. Die Handlung beginnt mit dem Angriff der Deutschen auf Polen und endet mit der Niederschlagung des Aufstands sowie der Flucht der überlebenden Ghettokämpfer. Uprising könnte mit Vorsicht als ein vielstimmiges Werk bezeichnet werden: Die Figuren sind der Schlüssel zum Verständnis seiner Struktur und seines Themas. Die Handlung des Films entwickelt sich aus den Aktionen seiner Charaktere heraus. Sie sind es, die den Plot vorantreiben. Jede Figur versucht ein gesetztes Ziel zu erreichen. Ihre Wünsche und der Wille, der dazu nötig ist, diese auch umzusetzen, macht sie zu Agierenden und Handelnden.
Barthes, Roland: Wie Zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France, 1976 – 1977. Hg. von Éric Marty, Frankfurt am Main 2007, S. 52.
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Sie treffen Entscheidungen in Situationen, in denen es beinahe unmöglich ist, Entscheidungen zu treffen und das kollidiert ganz stark mit den realen Bedingungen im Ghetto. Darin zeigt sich eines der „‚hervorstechendsten Merkmale des Hollywoodkinos‘“¹⁶³: Alle wollen etwas Bestimmtes erreichen, ihr Wunsch treibt sie voran. Im Hollywoodkino wird den ZuschauerInnen von Beginn an signalisiert, was die Figuren wollen und was sie antreibt. Obwohl es sich bei Uprising um ein Ensemblestück handelt, steht eine Figur im Vordergrund: Mordechai Anielewicz. Er ist ganz deutlich als Hauptfigur markiert, seine Entscheidungen und Handlungen üben den größten Einfluss auf die anderen Charaktere und den Plot aus – sein Wunsch steht im Mittelpunkt. Uprising erzählt die Geschichte des Warschauer Ghettos sowie des Aufstands somit als character-driven bzw. protagonist-driven story film: Die Handlung wird dadurch vorangetrieben, dass Anielewicz und die anderen Charaktere ihr Ziel zu erreichen versuchen. Diese Ziele werden, ganz nach den Regeln eines character-driven Films¹⁶⁴, zu Beginn des Films formuliert und im weiteren Verlauf umformuliert bzw. „neu gesteckt“¹⁶⁵. Hierbei folgt der dramaturgische Aufbau von Uprising jenem des klassischen Hollywood-Dramas, dessen Erzählstruktur aus drei Akten (Anfang, Mitte, Ende) besteht: exposition, confrontation und resolution. ¹⁶⁶ Im ersten Akt werden die Charaktere und Konflikte vorgestellt und in die Handlung sowie den Ort der Handlung eingeführt. Im zweiten Akt werden die Konflikte derart gesteigert, dass sie zur Konfrontation führen. Im dritten Akt folgt die Auflösung. In einer anderen Unterteilung spricht man in der Filmwissenschaft auch von Problem, Lösungsversuche und schließlich Lösung. ¹⁶⁷ Die Dauer der jeweiligen Erzählphasen variiert dabei von Film zu Film.¹⁶⁸ Sogenannte Wendepunkte (oder Plot Points) dienen als Übergänge zwischen den Akten: Nach dem ersten Wendepunkt beginnt der zweite Akt und auf den zweiten Wendepunkt folgt der dritte Akt. Mit Wendepunkten werden einschneidende Ereignisse bezeichnet, die in die Handlung eingreifen und diese in eine andere Richtung (bzw. Entwicklungslinie) drehen.¹⁶⁹
David Bordwell zit. nach Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt am Main 2011, S. 93. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 94. Krützen, Dramaturgie, S. 94. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 100. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 100. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 102. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 107– 108.
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4.2.2 Exposition: Heldenreise Uprising beginnt mit friedlichen Szenen aus der Vorkriegszeit: Hände, die sich dirigierend zum Takt des Finales aus Max Bruchs Violinkonzert Nr. 1 bewegen, ein Stück vom Himmel über Warschau, eine Kamerafahrt über einen Markt, ein Junge, der um Tomaten feilscht. Nach wenigen Minuten jedoch lässt Avnet den Krieg über die Idylle hereinbrechen. Bruchs Violinkonzert ist nicht mehr zu hören, stattdessen Schüsse, Schreie und Explosionen, Chaos und Gewalt auf den Straßen Warschaus. Avnet bedient sich einer etablierten Ikonographie, um in Zeit und Ort der Handlung einzuführen: Er montiert Geschichtsbilder, deren Bekanntheit er bei seinen ZuschauerInnen voraussetzt, aneinander und lässt sie im Zeitraffer abspielen: Deutsche Soldaten marschieren ein. Schnitt. Schlangen bilden sich vor Brotausgaben. Schnitt. Die jüdischen BewohnerInnen werden gedemütigt und geschlagen. Schnitt. Alltag im Ghetto. Schnitt. Einzeln werden die Figuren eingeführt: Die junge Tosia (Leelee Sobieski) schmuggelt Nahrungsmittel, um ihren kranken Vater zu versorgen. Calel (Andy Nyman) versucht sich als Mitglied des Jüdischen Ordnungsdienstes zu bewähren. Kazik (Stephen Moyer) chauffiert Adam Czerniakow (Donald Sutherland) durch das Ghetto, um seine Familie zu ernähren. Czerniakow, der Vorsitzende des „Judenrats“, verhandelt mit der SS um die Freilassung von 23 jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Dafür muss Czerniakow 300.000 Zloty aufbringen. Yitzhak Zuckerman (David Schwimmer) spricht von der Unausweichlichkeit einer Untergrund- und Widerstandsbewegung und interveniert erfolglos bei einer Straßenrazzia. Er wird von Mitgliedern des Jüdischen Ordnungsdienstes zusammengeschlagen und selbst zum Arbeitseinsatz verschleppt. Mordechai Anielewicz (Hank Azaria) erörtert derweil moralische Fragen („Can a moral man maintain his moral code in an immoral world?“) mit jungen Mitgliedern einer zionistischen Jugendbewegung, dessen Ziel es ist, nach Palästina überzusiedeln. Nach einer Unterredung mit seiner Freundin Mira (Radha Mitchell), die selbst kein eigenes Ziel verfolgt, jedoch Mordechai bei der Umsetzung seiner Vorstellungen unterstützt, bricht Anielewicz auf, um eine Route nach Palästina zu finden. Kurz nach Reiseantritt gerät er in sowjetische Gefangenschaft. In einem Kerker wird er von einem Offizier befragt und gefoltert. Es gelingt ihm jedoch, seinen Peiniger zu überwältigen, dessen Handfeuerwaffe an sich zu nehmen und zu flüchten. Die Darstellung folgt bis auf wenige Ausnahme den bekannten Etappen aus dem Leben der historischen Figur Anielewicz.
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Eine Route nach Palästina Mordechai Anielewicz wurde 1920 in Warschau geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er besuchte ein jüdisches Gymnasium und schloss sich nach dem Abschluss der Jugendbewegung Haschomer Hazair an, wo man ihm schon bald mit Führungsaufgaben betraute.¹⁷⁰ Am 7. September 1939 verließ er Warschau in Richtung Ostpolen, um einen Weg nach Palästina zu finden. Sein Vorhaben scheiterte jedoch an der Roten Armee, die am 17. September große Teile Ostpolens besetzte. Bei seinem Versuch nach Rumänien zu gelangen, geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wurde aber kurz darauf wieder frei gelassen. Danach kehrte er nach Warschau zurück und reiste von dort aus nach Wilna weiter.¹⁷¹ Wilna, das zwischen 1920 und 1939 zu Polen gehörte, galt als „Jerusalem Litauens“ und war lange Zeit nicht nur das „Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit“, sondern wurde auch zu einem „Brennspiegel des jüdischen politischen Lebens“¹⁷². Nachdem die Rote Armee im September 1939 die Stadt eingenommen hatte, wurde sie wieder Litauen angegliedert. In Wilna befand sich zu jener Zeit „die Blüte der jüdischen Jugend Polens“¹⁷³, unter ihnen viele Mitglieder der jüdischen Jugendorganisationen Hashomer Hazair und Dror, wie z. B. Mordechai Tenenbaum. In dieser Stadt, in der und in dessen Umfeld sich recht früh, wie Mordechai Tenenbaum später erklären sollte, das Ausmaß des Massenmordes abzeichnete, „‚entstand die Idee der Selbstverteidigung‘“¹⁷⁴. In Wilna traf sich Anielewicz mit Mitgliedern verschiedener zionistischer Jugendbewegungen. Sie besprachen Möglichkeiten, wie Untergund- und Widerstandsaktivitäten aufgebaut und gefördert werden könnten. Anielewicz’ Vorschlag, Ausbilder in die besetzten Gebiete zu schicken, um Widerstandsbewegungen aufzubauen, wurde angenommen, woraufhin er und seine Freundin Mira Fuchrer sich freiwillig für diese Aufgabe meldeten. Gemeinsam fuhren sie im Januar 1940 nach Warschau,¹⁷⁵ wo Anielewicz bald „zu einem entscheidenden Aktivisten im Untergrund“¹⁷⁶ avancierte.
Vgl. Gutman, Israel, Jäckel, Eberhard, Longerich, Peter & Schoeps, Julius H. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. I (A-G). München 1998, S. 40 – 41. Vgl. Gutman et al., Enzyklopädie, Band I, S. 41. Gutman, Israel, Jäckel, Eberhard, Longerich, Peter & Schoeps, Julius H. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. III (Q-Z), München 1998, S. 1599. Ainsztein, Jüdischer Widerstand, S. 236. Mordechai Tenenbaum, zit. nach Ainsztein, Jüdischer Widerstand, S. 236. Vgl. Gutman et al., Enzyklopädie, Band I, S. 41. Gutman et al., Enzyklopädie, Band I, S. 41.
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Im Film werden Anielewiczs Aufenthalt in Wilna sowie die komplexen Verflechtungen zwischen den politischen Bewegungen und den Widerstandsaktivitäten in den verschiedenen Ghettos ausgespart. Avnet folgt hier einer der goldenen Regeln des Hollywood-Kinos: „Filme geben einfache Antworten auf komplizierte Fragen.“¹⁷⁷ Doch dem Regisseur sowie dessen Drehbuchautoren ging es nicht nur darum, Komplexität zu reduzieren, sondern eine bestimmte Figur zu etablieren: den Helden Mordechai.
Bewährung und Rückkehr Die Filmfigur Mordechai Anielewicz befreit sich selbst aus der Gefangenschaft, erbeutet eine Waffe und kehrt auf direktem Weg nach Warschau zurück, wo sich die Situation während seiner Abwesenheit derweil drastisch verschlechtert hat. Nicht die Rückkehr an sich ist von Bedeutung, sondern die Art ihrer Inszenierung. Um einen kausalen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit sowie der anschließenden Rückkehr Anielewicz’ und dem Schicksal des Ghettos Ende 1940¹⁷⁸ herzustellen, verwendete Avnet eine Parallelmontage¹⁷⁹: Während Mitglieder des „Judenrats“ von der zunehmenden Ausweglosigkeit im Ghetto berichten (erhöhte Sterblichkeitsrate, Krankheiten und mangelnde Ernährung, Anstieg der Ghettopopulation, Kosten für den Bau der Mauer), steigt Anielewicz vom Fuße eines schneebedeckten Berges hinab und bewegt sich auf die Kamera zu. Die BergSequenz beginnt mit einer Totalen, in der Anielewicz kaum zu erkennen ist. Mit jedem neuen Schnitt von der Ghetto-Sequenz zurück auf die Berg-Sequenz wird der Bildausschnitt enger und der Rückkehrer deutlich sichtbarer. Als sich schließlich ein entkräfteter Anielewicz dem Mittelpunkt des Bildausschnitts nähert, ergreift der Vorsitzende Czerniakow das Wort: „I do not believe that our situation … I do not believe it to be hopeless. I believe that if we remain strong and active that somehow some sense of reason will return. We must persevere.“ Die Parallelmontage verbindet zwei auf den ersten Blick unzusammenhängende Information miteinander: Die erste Handlungsebene setzt uns über die Lebenssituation der Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto in Kenntnis; hierbei wird auf historisches Wissen bzw. ereignisgeschichtliche Fakten zurück-
Althen, Michael: Forrest Gump von Robert Zemeckis in: Althen, Michael: Liebling, ich bin im Kino. Texte über Filme, Schauspieler und Schauspielerinnen. Hg. von Claudius Seidl. München 2014, S. 65 – 71, hier: S. 71. Eine Texttafel gibt die Zeit an: „November 1940“. Bei der Parallelmontage handelt es sich um eine Filmschnitttechnik, in der zwischen zwei oder mehreren Handlungsebenen, die zur gleichen Zeit stattfinden, geschnitten wird. Sie bildet somit das filmtechnische bzw. visuelle Pendant zum Konjunktionaladverb „währenddessen“.
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gegriffen. Die Informationsvermittlung verläuft überwiegend über den Ton bzw. die gesprochene Sprache. Die zweite Handlungsebene bedient sich eines rein fiktiven, kompositorischen Effekts, um eine Figur einzuführen, die im späteren Verlauf der Handlung etabliert und konsolidiert werden soll. Die Parallelmontage setzt diese beiden Stränge in eine direkte Relation zueinander: Problem und Lösung – dort das Leid, hier die nahende Rettung. Die Rettung durch eine Figur, deren Konturen im Verlauf des Films deutlicher herausgearbeitet werden. Hierbei handelt es sich um eine Figur, die bereits seit der Antike in Dichtungen existiert: der Held. Dieser Figur widmete der Literaturwissenschaftler Joseph Campbell (auf den sich Markus Meckl ebenfalls bezieht¹⁸⁰) sein erstmals 1949 erschienenes Buch: The Hero with a Thousand Faces ¹⁸¹. Demzufolge gleichen die Strukturen von Mythen, Sagen und Legenden – stammen sie nun aus antiken Erzählungen oder religiösen Texten –, dem Grundmuster einer Heldenreise. Ganz gleich, ob es sich um Odysseus, Prometheus, Aeneas, Buddha, Moses oder Jesus handelt, sie alle begeben sich auf die „mythische Abenteuerfahrt des Helden“¹⁸², die Campbell in drei Phasen unterteilt: Trennung, Initiation und Rückkehr. Der Heros verläßt die Welt des gemeinsamen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück.¹⁸³
Die Filmwissenschaftlerin Michaela Krützen erkennt in ihrem Buch über die Erzählweise des Hollywood-Kinos eine Nähe zwischen dem von Campbell beschriebenen Verlauf der Heldenreise und der Entwicklung von Protagonisten in den characterdriven Filmen Hollywoods.¹⁸⁴ Im Verlauf der Reise vollzieht sich Krützen zufolge die Umformulierung des Ziels der Hauptfigur.¹⁸⁵ Mordechai Anielewicz hat seine erste Prüfung bestanden, sich bewährt und einen Sieg errungen. In Warschau angekommen setzt er sich mit Kazik in Verbindung, der ihn zu Zivia Lubetkin (Sadie Frost) und Yitzhak Zuckerman führt. Zuckerman, der zuvor von Männern des Ordnungsdienstes zusammengeschlagen und zum Arbeitsdienst verschleppt worden war, liegt verletzt auf einer Couch. Anielewicz tritt an ihn heran, holt die Pistole hervor und sagt: „A gift from my
Vgl. Meckl, Helden, S. 69. Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Berlin 2011. Campbell, Heros, S. 42. Campbell, Heros, S. 42. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 63 – 72. Vgl. Krützen, Dramaturgie, S. 94.
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travels […] You and me we are going to put a stop to this, yes?“ Zivia Lubetkin erzählt dem Zurückgekehrten von den vielen caritativen Aktivitäten der Jugendbewegungen und den eingerichteten Suppenküchen, Schulen und Krankenhäusern. Darüber hinaus hätten sich verschiedene politische Organisationen – außer dem Bund (Zuckerman: „They are still unconvinced“) – zu einer Widerstandsgruppe zusammengeschlossen. Nur Adam Czerniakow weigerte sich, mit den Widerstandsaktivisten zu kooperieren. Anielewicz beschließt, ihn in Begleitung von Kazik aufzusuchen.
Wendepunkt 1 Mordechais Rückkehr leitet den ersten Wendepunkt ein, der zugleich das Ende des ersten (exposition) und den Anfang des zweiten Akts (confrontation) markiert. Anielewicz sucht nicht mehr nach einer Route, die nach Palästina führt, sondern danach, einen bewaffneten Widerstand zu organisieren. Czerniakow ist es derweil nicht gelungen, die Freilassung der 23 Geiseln zu erwirken. Dennoch besteht sein Ziel noch immer darin, das Leid der Ghettobewohner mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu mildern. Kazik, der Zeuge des Scheiterns der Bemühungen Czerniakows bei der Befreiung der Geiseln¹⁸⁶ geworden war, gibt seine Stelle als Fahrer auf und schließt sich der Widerstandsbewegung an, der Lubetkin und Zuckerman bereits angehören. Der Gesundheitszustand von Tosias Vater verschlimmert sich von Tag zu Tag. Calel wird Zeuge von Korruption innerhalb des Ordnungsdienstes. Im Verlauf der exposition, in dem sowohl Zeit und Ort der Handlung etabliert als auch die Figuren und Konstellationen vorgestellt worden sind, begann sich
Historische Vorlage: „Am Abend zur SS gerufen. 300 000 Zloty Kontribution bis Montag.“ (Czerniakow, Tagebuch, S. 16) Die Eintragung in Czerniakows Tagebuch stammt vom 17. November 1939. Wenige Tage zuvor, am 13. November 1939, wurde in der Nalewki-Straße 9 ein polnischer Polizist von einem jüdischen Kriminellen niedergeschossen. Die SS stürmte daraufhin das Mietshaus, vor dem die Schüsse abgegeben worden waren, und verhaftete willkürlich 53 Männer, die sie kurz danach hinrichteten. Anschließend forderten sie vom „Judenrat“ ein Lösegeld für ihre Freilassung. Czerniakow wusste nicht, dass die Geiseln bereits hingerichtet worden waren und versuchte die Summe aufzubringen. Am 18.11.39 schreibt er: „Morgens um 8 SS wegen der Kontribution eine Frist bis Montag, den 21. XI. 39.“ (Czerniakow, Tagebuch, S. 16) Einen Tag später: „Am Abend weiter Sammlung. Ich habe ungefähr 260 000 Zl in bar und in Überweisungen von gesperrten und alten Konten gesammelt. Morgen früh noch einmal Sammlung. Danach muß ich die Kontribution zur SS bringen.“ (Czerniakow, Tagebuch, S. 17) Neun Tage verhandelt Czerniakow mit der SS und sammelt Geld für das Leben der Geiseln. Schließlich erreicht ihn die Nachricht ihrer Hinrichtung: „Dr. Kluge verkündete, daß die 53 Bewohner der Nalewki-Str. 9 erschossen wurden.“ (Czerniakow, Tagebuch, S. 19)
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das zentrale Problem abzuzeichnen, nach dessen Lösung die Figuren im zweiten Akt streben. Dieser Hauptkonflikt besteht in der Existenz des Ghettos per se und damit einhergehend: dem Terror, der Gewalt, dem Hunger, den Krankheiten und der Korruption im Ghetto. Alle weiteren inneren sowie äußeren Konflikte, welche die Figuren mit sich selbst oder mit anderen Figuren austragen müssen, lassen sich daraus ableiten. Am Ende des ersten Akts werden den Zuschauern drei von den ereignisgeschichtlichen Fakten abweichende Informationen vermittelt, die auf künftige Lösungsversuche aufmerksam machen: 1. Die von Anielewicz mitgebrachte Pistole. 2. Die Information über eine bereits gegründete Widerstandsgruppe im Ghetto – vorerst ohne den Bund. 3. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Czerniakow. Kazik, der als Fahrer Czerniakows eingeführt wurde, soll ein Treffen organisieren. Inwiefern weichen diese Informationen von den historisch überlieferten Fakten ab? Welchen Sinn haben die Abweichungen? Welche Erkenntnisse könnten möglicherweise aus ihnen gewonnen werden? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, ist es erforderlich, in zwei Schritten vorzugehen: Zuerst müssen die Informationen aus dem Film mit dem Wissen aus den Quellen und den historiographischen Darstellungen abgeglichen werden: 1. 1940 besaß niemand innerhalb jenes Personenkreises, der später der Kampforganisation angehören sollte, eine Waffe. Die erste Lieferung von vier Pistolen erhielt der Bund von der polnischen Heimatarmee (Armja Krajowa; AK) erst im Oktober 1942.¹⁸⁷ Die zweite Lieferung der AK von zehn Pistolen erhielt die Jüdische Kampforganisation im Januar 1943. 2. Die Jüdische Kampforganisation wurde am 28. Juli 1942 bzw. am 15. Oktober 1942¹⁸⁸ gegründet. Marek Edelman spricht gar vom 15. November als Gründungsdatum.¹⁸⁹ Davor existierte keine bewaffnete Widerstandsorganisation im Ghetto.¹⁹⁰ Ab 1940 begannen jedoch einige Mitglieder der Jugendbewegungen damit, sich im Untergrund zu engagieren. 3. In Czerniakows Tagebuch finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich irgendjemand von einer Widerstandsgruppe an ihn gewendet hätte.¹⁹¹ Der-
Vgl. Beres/Burnetko, Edelman, S. 179. Zu der ungeklärten Gründungsfrage siehe Kapitel 4.1.7. Vgl. Aussuntino/Goldkorn, Der Hüter, S. 45. Vgl. Ainsztein, Revolte, S. 45. Diese Möglichkeit lässt sich jedoch nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, da das fünfte Heft von Czerniakows Tagebuch, das den Zeitraum vom 14.12.1940 bis zum 22.4.1941 umfasst, nie aufgefunden wurde.
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artige Gespräche dürften kaum stattgefunden haben. Simha „Kazik“ Rotem, der 1940 gerade einmal fünfzehn Jahre alt war, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen persönlichen Umgang mit Czerniakow gepflegt – er dürfte ihn gar nicht gekannt haben. Es ist daher mehr als unwahrscheinlich, dass Rotem als Fahrer bei ihm angestellt gewesen ist. Czerniakow wurde zwar ein Dienstwagen zur Verfügung gestellt¹⁹², aber er fuhr ihn selbst.¹⁹³ Die Funktion der drei Informationen besteht somit nicht darin, über ereignisgeschichtliche Zusammenhänge aufzuklären oder auf Fakten beruhendes Wissen zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, neue und kontrafaktische Sinnzusammenhänge zu konstruieren. 1. Mordechai Anielewicz soll von Anfang an als Initiator und Anführer in den Mittelpunkt der Widerstandsaktivitäten gerückt werden (mit der Pistole als Symbol und zentralem Requisit). 2. Es wird suggeriert, dass bereits in der Frühphase der Ghettogeschichte eine einheitliche Widerstandsgruppe existierte, die, abgesehen von ihrer Tätigkeit im Untergrund, mit Aufgaben betraut worden war, die in Wahrheit dem „Judenrat“, der Aleynhilf oder CENTOS oblagen. 3. Czerniakow wird als antagonistische Kraft etabliert: Er handelt zwar im Interesse der im Ghetto eingesperrten Menschen, verhält sich jedoch dem Widerstand gegenüber unkooperativ. Damit nimmt er den Gegenpart zu Anielewicz ein und steht für einen alternativen Lösungsvorschlag. Der Einfall, Kazik als Fahrer bei Czerniakow anzustellen, dürfte rein dramaturgischer Natur gewesen sein: Damit sollte eine direkte Verbindung zwischen dem Vorsitzenden des „Judenrats“ und der Führungsriege des Widerstands (die es so nicht gegeben hat) konstruiert werden, um die Handlung voranzutreiben. Die drei Informationen können als Grundelemente einer teleologischen Erzählweise von der Geschichte des Ghettos und des Aufstands betrachtet werden. Bereits hier wird eine klare Linie angedeutet: angefangen mit der Pistole des Anführers, gefolgt von dem zu erwartenden Konflikt mit dem väterlichen Antagonisten Czerniakow bis hin zum Aufstand als Höhe- und Endpunkt. In der Exposition werden sowohl Ort, Zeit, Figuren und Konflikte vorgestellt als auch der erste Baustein eines Arguments gelegt, dessen Logik im zweiten Akt gänzlich zur Entfaltung kommt: Ehre und Würde kann es nur im Kampf geben. Vgl. Reich-Ranicki, Leben, S. 213: „Nur ein einziges Auto gab es im Getto. Es war ein kleiner alter Ford, den der Obmann des ‚Judenrats‘, der Bürgermeister des Gettos also, Adam Czerniakow, als Dienstwagen zur Verfügung hatte.“ Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 57: „Seit ein paar Tagen fahre ich mit einem Auto.“
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4.2.3 Confrontation: „And we will die with honor. Jewish honor.“ Vielleicht hat ein Zusammentreffen zwischen Czerniakow und Anielewicz tatsächlich stattgefunden, nur hat niemand darüber berichtet oder konnte sich später daran erinnern. Schließlich lässt es sich nicht gänzlich ausschließen, dass sich die beiden auf einer der Straßen des Ghettos begegnet sind. Obschon es unwahrscheinlich ist, liegt dieser Gedanke dennoch im Bereich des Möglichen; ein Gedankenexperiment, wie es der Fiktion erlaubt ist. Angenommen, die beiden Männer wären sich auf jene Weise begegnet, wie es zu Beginn des zweiten Akts inszeniert ist, wäre es dann nicht möglich, dass der eine das Wort an den anderen gerichtet hätte? Worüber hätten sie gesprochen, wenn nicht über die Lebenssituation im Ghetto und über mögliche Auswege und Lösungen? Anielewicz hätte vermutlich, wie in Uprising dargestellt, auf die Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstands bestanden, während Czerniakow vor den Konsequenzen gewarnt hätte, die eine derartige Provokation der Besatzer nach sich ziehen würde. In diesem Fall wäre die Antwort der SS drakonisch ausgefallen: eine Kollektivstrafe, vollzogen an nicht beteiligten Insassen des Ghettos. Der fiktionale Dialog zwischen Czerniakow und Anielewicz demonstriert zum einen, dass bezüglich des bewaffneten Widerstands unterschiedliche Positionen existiert haben. Zum anderen wird darin ein zentrales Dilemma thematisiert, dem die Aktivistinnen und Aktivisten ausgesetzt waren. Andrea Löw beschreibt es mit den folgenden Worten: Lange stritten die Mitglieder der Untergrundbewegungen über den Sinn eines bewaffneten Aufstandes, der doch bei relativ geringer Wirkung vermutlich den Tod unzähliger unbewaffneter Frauen, Kinder und Männer nach sich ziehen würde. Konnte eine Handvoll Aktivisten sich dafür entscheiden zu kämpfen, wenn sie damit riskierte, das gesamte Getto mitsamt seinen Insassen einer brutalen Kollektivstrafe auszusetzen? Die Untergrundbewegungen standen vor einem unerhörten moralischen Dilemma.¹⁹⁴
Die Filmfigur Anielewicz ist sich dieses Dilemmas bewusst, dennoch betrachtet er die im Fall einer Revolte drohende Kollektivstrafe nicht als Hindernis, sondern lediglich als Wagnis, auf das sich die Widerstandbewegung einlassen muss: Anielewicz: They suffer anyway. Every day they die of disease, starvation and worse. And you sit at a table, sir, and you negotiate with these Germans as if they are reasonable? Czerniakow:Yes, I do. I try to minimize the harm.
Löw, Andrea: Moralisches Dilemma. Vom Widerstand in Gettos im besetzten Polen. In: Einsicht 09, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2013, S. 21– 27, hier: S. 24.
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Anielewicz: Believe it or not, so do we! Please give us a chance. Give us some money and your support to get started. Czerniakow:Your dream is a romantic notion that will get you all killed. And I will not support that. I will not.
Dieser Dialog, in dem sich die divergierenden Positionen der beiden Figuren abzeichnen, ist fiktiv, er stammt beinahe gänzlich aus der Feder des Drehbuchautors; beinahe, weil er andererseits auf Debatten rekurriert, die so oder so ähnlich im Ghetto geführt wurden und die sich aus den Berichten sowie Notizen Emanuel Ringelblums rekonstruieren lassen. Dem Historiker des Warschauer Ghettos zufolge hatte der reale Anielewicz, nachdem er von den Massenmorden in Wilna und Chelmno gehört hatte, nur noch einen Gedanken: bewaffneter Aufstand.¹⁹⁵ Beim Verfolgen seines Zieles soll er jedoch, so Ringelblum, einen gravierenden Fehler begangen haben: Er habe zu viel auf die Ansichten der Erwachsenen gegeben; auf die Meinungen der Erfahrenen, der klug Gewordenen, derer, die abwogen und überlegten und tausend wohlbegründete Argumente zur Hand hatten, die gegen einen Kampf gegen den Besatzer sprachen. Eine paradoxe Situation entstand: Die Generation der Erwachsenen, die ihr halbes Leben schon hinter sich hatte, sorgte sich, dachte nach und redete darüber, wie sie den Krieg überleben könne. Die Erwachsenen träumten vom Leben. Die Jungen – das Beste, Schönste und Edelste des jüdischen Volkes – redeten und träumten nur von einem ehrenhaften Tod. Sie dachten nicht darüber nach, wie sie den Krieg überleben könnten, sie besorgten sich keine ‚arischen‘ Papiere, keine Wohnungen auf der anderen Seite.¹⁹⁶
Der Konflikt, wie er stellvertretend von Czerniakow und Anielewicz in Uprising austragen wird, wurde ähnlich in anderen Spielfilmen nachempfunden, in denen die Untergrund- und Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto thematisiert wurden, so etwa in Holocaust, in Aleksander Fords Sie sind frei, Doktor Korczak oder in Andrzej Wajdas Korczak. In diesen Filmen kommen jedoch weder Anielewicz noch Czerniakow zu Wort, sondern – mit Ausnahme von Janusz Korczak – ausschließlich fiktive Figuren, die den historischen nachempfunden sind. In Uprising hört die Filmfigur Mordechai dagegen nicht auf das Wort der Älteren. Es handelt sich nicht um moralische Unterstützung, die sich Anielewicz von Czerniakow erhofft, sondern um materielle. Der gegen Ende des ersten Akts angedeutete Antagonismus der beiden Männer wird im zweiten Akt weiter zugespitzt: Der zaudernde abwägende Politiker gegen den impulsiven handelnden Kämpfer. Diese Charakterisierung wird durch die Anordnung der Sequenzen
Vgl., Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 580. Emanuel Ringelblum zit. nach Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 580 – 581.
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unterstrichen: Denn auf jede Sequenz, in der das Scheitern von Czerniakows Bemühungen oder dessen zögerliches Vorgehen dargestellt werden, folgt eine Sequenz, in der entweder Anielewicz oder andere Mitglieder der Widerstandsgruppe als Handelnde gezeigt werden. Hieraus entwickelt sich allein schon auf der Bildebene eine stark von den ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen und Verflechtungen abweichend Logik, in der sich eine Missachtung der Realitäten des Ghettos offenbart. Im Film wird nämlich suggeriert, dass sich die Jüdinnen und Juden zwischen zwei Optionen entscheiden mussten: Entweder sie ließen sich passiv – wie die „Schafe zur Schlachtbank“ – in den Tod führen oder sie kämpften bzw. leisteten bewaffneten Widerstand. Bevor ich auf den hier beschriebenen Zusammenhang weiter und näher eingehe, möchte ich im Folgenden noch einmal zu der oben aufgeworfenen Frage bezüglich des Zeitpunkts des Aufstands zurückkehren. Die Frage, warum der Aufstand erst 1943 stattgefunden hat, bildet eine Konstante innerhalb des Gedenkens an den Warschauer Ghettoaufstand.¹⁹⁷ In Uprising wird suggeriert, dass die Revolte viel früher hätte ausbrechen können, wenn Czerniakow nicht gezögert hätte. Der Vorsitzende und der „Judenrat“ hätten somit die Pläne der Widerstandsbewegung durch ihr Abwägen vereitelt. Eine geradezu fatale und vor allem falsche Antwort auf eine komplexe Frage. Dass dabei nicht nur administrative, sondern auch psychologische Faktoren zum Zuge kamen, wird im Film gar nicht in Erwägung gezogen, sondern von Beginn an ausgeblendet. Die Quellen werfen jedoch ein anderes Licht auf die komplexe Frage. Edelman zufolge, um ein Beispiel zu nennen, gründet der späte Ausbruch in der Apathie der GhettobewohnerInnen, die aus dem täglichen Terror, der Angst und dem Gefühl des Ausgeliefertseins resultierte: Das mangelnde Selbstvertrauen macht jeglichen Ansatz zur Aktivität und jegliche Selbstsicherheit zunichte. Dadurch läßt sich am besten erklären, warum unsere Tätigkeit in der ersten Zeit nach der Niederlage Warschaus überwiegend karitativer Art ist, und warum alle Impulse zum bewaffneten Kampf gegen die Besatzer relativ spät und anfangs in solch unbedeutender Form auftreten. Es bedeutet für uns ja bereits schon eine gigantische Anstrengung, unsere eigene verzweifelte Apathie zu überwinden, in uns selber einen Funken von Aktivität zu wecken und uns der allgemein herrschenden Panik zu widersetzen.¹⁹⁸
Vgl. Meckl, Helden, S. 43. Edelman, Das Ghetto kämpft, S. 28.
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Den Grund für das Ausbleiben¹⁹⁹ einer Revolte sah Gustawa Jarecka hingegen im festen Glauben der Menschen an das Überleben. Vor dem Hintergrund der am 22. Juli 1942 begonnenen großen „Aktion“ schrieb sie in einem Essay für das Oyneg Shabes: Sogar nach drei Jahren Krieg, nach den Erfahrungen der Deportationen, der Erschießungen und des plötzlichen Verschwindens von Menschen vermochte der Verstand noch nicht, diese Möglichkeit zu erfassen. Es wurde gesagt: ‚Man kann doch nicht mehrere hunderttausend Menschen ermorden.‘ Die Mehrzahl wollte nicht glauben, daß man das kann, und ließ sich durch nichts überzeugen. Heute, im Herbst 1942, wissen wir es besser. Und vielleicht wird der Preis dieses Wissens das eigene Leben sein. Nur dieser jeder historischen Perspektive ermangelnden Annahme, diesem naiven Selbsterhaltungsglauben der Massen an das eigene Überleben ist das unbegreifliche Phänomen zuzuschreiben, daß die Menschen ohne größere Versuche einer bewußten oder verzweifelten Rebellion in diese ungewisse ‚Aussiedlung‘ gingen, daß sogar die offizielle Vertretung der großen jüdischen Gemeinde in Warschau den tatsächlichen Sachverhalt nicht kannte und bei der Umsiedlungsgemeinde mithalf.²⁰⁰
Ehre und Verantwortung Das Ziel, das Czerniakow im Film verfolgt, besteht darin, das Leid der im Ghetto eingesperrten Juden zu verringern und ihr Überleben, soweit möglich, zu sichern. Dieses Ziel verfolgt er im Glauben daran, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich die Lage zu ihren Gunsten verbessere. In einem zweiten Gespräch mit Anielewicz und Yitzhak Zuckerman bekräftigt der Vorsitzende noch einmal seine Haltung. Auch diese Begegnung ist fiktiv. Zuckerman hat, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, niemals mit Czerniakow gesprochen.²⁰¹ Der spätere stellvertretende Kommandant der Jüdischen Kampforganisation stammte aus Wilna, wo er im Dezember 1915 geboren wurde. Schon früh wurde er Mitglied der Jugendbewegung Hechalutz und schloss das Gymnasium im Jahr 1933 erfolgreich ab. Im Auftrag der Organisation reiste er 1936 nach Warschau und später nach Kowel, wo er sich auch befand, als Deutschland Polen überfiel.²⁰² Im April 1940 kehrte Zuckerman nach Warschau zurück und begann zusammen mit seiner späteren Frau Zivia Lubetkin und anderen Mitgliedern der Jugendbewegung Hechalutz Hatzair und Dror im Untergrund zu arbeiten.²⁰³ Dieser Gruppe
Jarecka hat den Aufstand vom April nicht erleben können. Sie und ihre Kinder wurden im Januar 1943 nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Aus diesem Grund spricht sie im Herbst 1942 von einem „Ausbleiben“ einer Revolte. Jarecka, Essay, S. 228 – 229. Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 59: „I never spoke with the head oft he Judenrat, […].“ Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 13 – 18. Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 40 – 41.
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gehörte auch Frumka Plotnitzka an, die eine zentrale Rolle bei der Organisation des Widerstands und in der ZOB spielen sollte. Zuckerman zufolge nannten sie viele innerhalb der Widerstandsbewegung „Mutter“.²⁰⁴ Sie gehörte zu den ersten, die Waffen in das Ghetto schmuggelten.²⁰⁵ Zivia Lubetkin, ein aktives Mitglied der Jugendbewegung Dror, spielte beim Aufbau der ZOB und bei der Durchführung des Aufstands im April 1943 ebenso eine wichtige Rolle. Uprising traut den Frauen der ZOB jedoch weit weniger zu. Sie spielen eigentlich nur die Freundinnen der Helden, ihr Handeln hat wenig Einfluss auf den Plot. Größere Entscheidungen, die den Verlauf der Handlung beeinflussen, treffen hauptsächlich Anielewicz, Zuckerman und Kazik, ebenso führen sie wichtige Debatten und tragen Konflikte aus. Demnach ist es den Rollen, die das Drehbuch Frauen zuschreibt, geschuldet, dass auch das zweite fiktive Gespräch zwischen den Entscheidungsträgern nur Männer führen. Warum hätten nicht, wenn es sich bei den Gesprächen ohnehin um Fiktion handelt, Zivia, Frumka oder Tosia mit Czerniakow sprechen können? Sie sind dem Vorsitzenden in Wirklichkeit nämlich ebenso wenig begegnet wie Anielewicz und Zuckerman, die ihn im Film nach einem von Janusz Korczak für das Waisenhaus organisierten Konzert auf der Straße ansprechen: Zuckerman: Czerniakow: Zuckerman: Czerniakow: Zuckerman: Czerniakow: Anielewicz:
Mr. Chairman? You have received our latest request? Yes, I have. You want to buy arms. And the council? They’re aware. And? You want to buy guns. And then what? Jewish honor.
„Jewish honor“, wiederholt Czerniakow und fährt fort: Ein Vater, der seinen Sohn versteckt, sei wohl nicht ehrenvoll? Ein Rabbi, der Unterricht erteilt, ebenfalls nicht? Und eine Mutter, die sich um ihre Kinder sorgte, besitze demnach auch keine Ehre? „No. For you, honor can only come out of the barrel of a gun. You talk about Jewish honor. I talk about Jewish responsibility.“ Erneut lehnt Czerniakow jegliche Unterstützung ab, mehr noch: Er kündigt an, gegen die Bemühungen um einen bewaffneten Widerstand zu opponieren. Selbst Zuckermans Bericht über die massenhaften Morde an Jüdinnen und Juden in den Gaswagen von Chelmno vermag den Vorsitzenden nicht zu überzeugen. Am Ende des Disputs deutet
Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 43. Vgl. Zuckerman, Chronicle, S. 5.
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Anielewicz auf Leichen, die nackt auf einem Wagen liegen: „That’s your honor, Chairman.“ Der im Film konstruierte Antagonismus zwischen Czerniakow und Anielewicz kulminiert in dieser Sequenz. Die beiden Positionen repräsentieren zwei gegensätzliche Lösungsansätze zur Bewältigung des in der Exposition vorgestellten Problems. Im Dialog werden beiden Haltungen moralische Begriffe zugeordnet: dort die „jüdische Verantwortung“, hier die „jüdische Ehre“, dort die Passivität, hier das Handeln und letztendlich: dort der Wunsch zu überleben, hier der Wille einen ehrenvollen Tod zu sterben. Im Anschluss an die Unterhaltung mit Czerniakow nehmen Anielewicz und Kazik Rache: Sie erschießen drei Wehrmachtssoldaten, die zuvor einen jüdischen Musiker ermordet haben. In Uprising sollen nicht die Worte überzeugen, sondern die Taten. Und es ist diese Tat, die als Argument gegen Czerniakows Lösungsversuche angeführt wird. Denn „jüdische Ehre“ erlangen die Bewohner des Ghettos nur mit der Waffe in der Hand, wie auch am Ende des zweiten Akts deutlich wird. Damit folgt der Plot des Films einer einfachen Logik mit schwerwiegenden moralischen Schlussfolgerungen: Wer abwartet, sich den Dingen fügt, zögert oder auf Zeit spielt, auf den wartet nur der Tod – und vermutlich noch nicht einmal ein ehrenvoller. Nur die Handelnden, die Kämpfenden können eine Veränderung bewirken, wobei auch auf sie der Tod wartet, jedoch eine andere Art des Sterbens – eine, die der „jüdischen Ehre“ gerecht wird. In dieser Logik – wenn wir den in ihr enthaltenen Kerngedanken konsequent zu Ende denken – werden letztendlich die Täter entlastet, indem eine Mitschuld der Opfer an ihrer eigenen Ermordung suggeriert wird. Die Überlegung, dass der Tod im Kampf ehrenwert und würdevoll, der kampflose Tod hingegen beschämend sei, entwickelte sich im Zuge der Rezeptionsgeschichte zu einer moralischen Kategorie, mit der das Handeln der Ghettobewohner retrospektiv bewertet wurde. Sie war keine Erfindung der Filmemacher. Zum ersten Mal wurde dieser Gedanke im Umfeld der Widerstandsbewegungen in den Ghettos von Wilna, Bialystok und Warschau artikuliert: „Sie wollten nur einen möglichst ehrenhaften Tod, einen Tod, wie er einem zweitausend Jahre alten Volk gebührt.“²⁰⁶ Ähnlich sprach auch Edelman Jahre später (und distanzierter) darüber: „‚Nichts Größeres als der Tod, und um den Tod ging es ja immer, nie um das Leben.‘“²⁰⁷ Diesen Tod gab es nur mit der Waffe in der Hand, denn, so Marek Edelman weiter, die „‚Menschheit hatte ja die Vereinbarung getroffen, mit der Waffe in der Hand zu sterben sei schöner als ohne. Folglich ordneten wir uns
Ringelblum zit. nach Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 581. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 15.
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dieser Vereinbarung unter‘“²⁰⁸. Edelman verweist hier darauf, dass die radikale Position zugleich eine konventionelle ist. Der Gedanke, die Juden sollten ihre Ehre und Würde mit Waffengewalt verteidigen bzw. wiederherstellen oder zumindest beim Versuch dabei sterben, entstand mit der Idee des bewaffneten Widerstands in den Ghettos der deutsch besetzten Gebiete, wo deren „Bewohner in der Lage waren, die Konzeption der ‚Endlösung‘ […] zu erkennen“²⁰⁹. Zurückgehend auf Abba Kovners Ausspruch galt es, „Widerstand zu leisten und sich nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen zu lassen“²¹⁰. Mit diesem Vorsatz traten z. B. die drei Widerstandsbewegungen in Warschau, Bialystok und Wilna an; sie betrachteten „die frontale Auseinandersetzung mit den Deutschen als Verteidigung der jüdischen Würde“²¹¹. In der Nachkriegszeit wandelte sich Kovners Ausspruch von einer Kampfansage an die Täter zu einem Vorwurf an die Opfer. Als Reaktion auf die Behauptung, die Opfer hätten sich ihrem Schicksal gefügt ohne Widerstand geleistet zu haben, entwickelte sich innerhalb der Forschung zum jüdischen Widerstand eine apologetische Haltung. Doch anstatt zuerst über die Gegenstandslosigkeit und Absurdität des Vorwurfs aufzuklären, wurden Beispiele angehäuft, in denen Jüdinnen und Juden gekämpft und somit ihre Würde und Ehre mit der Waffe verteidigt hätten. Der Reflex, den Passivitätsvorwurf mit Gegenbeispielen über Heldenmut und Märtyrertum zu entkräften, entwickelte im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Warschauer Ghettoaufstands eine eigene Dynamik. Mit Blick auf den Mythos vom Aufstand im Ghetto Bialystok beschreibt Sara Bender diese wie folgt: Die israelische Gesellschaft hegte Schuldgefühle, da es ihr nicht möglich gewesen war, den Millionen von Juden im besetzten Europa zu helfen. Nach Kriegsende, als die Überlebenden in das Land kamen, zeigte sich das wahre Ausmaß der Katastrophe. Der neue Staat, der ohne Diasporakomplex auszukommen hoffte, betrachtete den Holocaust als ein Produkt der Diaspora und hatte Schwierigkeiten, sich der grausamen Realität zu stellen. Deshalb stürzte er sich als Gegengewicht zu der Aussage ‚wie Schafe zur Schlachtbank‘ auf die Berichte derjenigen, die sich für die Flucht in die Wälder entschieden, und fand einen gewissen Trost in den Erzählungen über den Warschauer Ghettoaufstand, das Heldentum jüdischer Partisanen und den Betrug der Judenräte. Der Wunsch und das Bemühen, das Leid, den Verlust, die Katastrophe und die Unfähigkeit auszugleichen, brachte die israelische Gesellschaft dazu, einen Heldenmythos zu schaffen und sich auf ihn zu stützen. Dieser Wunsch, das
Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 20. Bender, Sara: Der Mythos vom Aufstand im Ghetto Bialystok. In: Mlynarczyk, Jacek Andrzej & Böhler, Jochen (Hg.): Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebiete 1939 – 1945. Osnabrück 2010, S. 329 – 344, hier: S. 333. Bender, Mythos, S. 332. Bender, Mythos, S. 333.
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tatsächliche Geschehen zu ändern, war praktisch eine Notwendigkeit, denn wir konnten nicht einfach nur hinnehmen, was man uns angetan hatte.²¹²
Das Motiv des „ehrenhaften“ und „würdevollen Todes“ im Kampf, das retrospektiv moralisch höher bewertet wurde als jener als „beschämend“ bezeichnete kampflose Tod, wurde in der Nachkriegszeit zu einem festen Bestandteil des Heldenmythos. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Warschauer Ghettoaufstands wurde das Motiv vom „würdevollen Tod“ – mit all den moralischen Implikationen, die ihr inhärent waren – immer wieder von Persönlichkeiten aus Religion, Wissenschaft und Gesellschaft aufgegriffen, ohne dass dabei der Kontext, in welchem der Gedanke entstanden war, berücksichtigt wurde. Spätestens ab den 1960er Jahren gehörte das Motiv des „ehrenhaften“ und „würdevollen Todes“ im Kampf zum festen Repertoire von Gedenkreden. Anlässlich eines Jahrestages in Paris fasste Rabbiner Eisenberg in seiner Rede die Situation im Warschauer Ghetto vor dem Ausbruch des Aufstands wie folgt zusammen: „Sie entschieden sich, da der Tod sicher war, es wird kein infamer Tod, kein beschämender Tod sein, sondern der Schrei der Revolte.“²¹³ Markus Meckl beschreibt in seinem Buch Helden und Märtyrer wie anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Ghettoaufstands im deutschen Bundestag namhafte Politikerinnen und Politiker in ihren Stellungnahmen einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Kampf und Tod in Würde herstellten: Rita Süssmuth erklärte, ‚nicht ihr Leben konnten sie retten, aber ihre Würde‘. Helmut Kohl sprach davon, daß die Erinnerung uns ‚verpflichtet, […] für die Würde des Menschen zu streiten‘, Roman Herzog legte dar, daß die ‚Menschen […] sich für die Würde und Freiheit des Lebens eingesetzt‘ hätten, und Klaus Kinkel gedachte der Aufständischen mit den Worten: ‚Ihr Widerstand war der bewußte Weg in Untergang und Tod in Würde.‘²¹⁴
Nicht nur FestrednerInnen wiederholten das Motiv und arbeiteten am Heldenmythos, sondern auch HistorikerInnen. Reuben Ainsztein schreibt in seinem umfangreichen Buch über den jüdischen Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa, dass die „Juden nur vor der Alternative standen, in Würde zu sterben oder wie Tiere, die in die Falle gegangen waren“²¹⁵. Lucy Dawidowicz zitiert in ihrem Der Krieg gegen die Juden einen Ausspruch Anielewicz’ („Die einzige Frage für die
Bender, Mythos, S. 343 – 344. Rabbiner Eisenberg, zit. nach Meckl, Helden, S. 65. Meckl, Helden, S. 118. Ainsztein: Jüdischer Widerstand, S. 287.
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Juden […] bestand darin, auf welche Weise sie sterben sollten: ‚Entweder wie Schlachtschafe oder wie Männer von Ehre‘“²¹⁶) und konstatiert: Als es dem Untergrund jedoch klar wurde, daß es keine andere Möglichkeit gab als den Tod, erhielt der Widerstandsgedanke einen anderen Aspekt; der Affekt bestimmte ihn mehr als die Nützlichkeit. Kaum einer der jungen Menschen glaubte ernsthaft, daß der Widerstand die übriggebliebenen Juden im Getto retten könne, aber alle glaubten, daß sie, indem sie mit dem, was sie an Bewaffnung aufzubringen vermochten, den Deutschen Trotz boten, die Ehre der Juden wiederherstellen würde.²¹⁷
Marek Edelman war dagegen später davon überzeugt, dass Anielewicz an einen Sieg geglaubt habe, obwohl er ständig davon gesprochen habe, dass sie alle in den Tod gehen und für die Ehre fallen würden: „Was man in diesen Fällen so sagt. Heute aber glaube ich, er hat die ganze Zeit über eine kindliche Hoffnung genährt.“²¹⁸ Die Hoffnung auf einen Sieg, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Krieg etwa? Möglich wäre dies durchaus, jedoch würde es nicht in die Erzählung von Helden und Märtyrern und damit einhergehend in das Motiv des „ehrenvollen Todes“ im Kampf passen, das lange Verbreitung fand. So beispielsweise im Vorwort zu Edelmans Das Ghetto kämpft, in dem die Verfasserin Ingrid Strobl Ringelblum zitiert: „‚Wir brauchen uns keine Gedanken um unser Überleben zu machen, denn jeder von uns trägt sein Todesurteil bereits in der Tasche. Wir sollten besser daran denken, mit Würde zu sterben, im Kampf zu sterben.“²¹⁹ Und im Anschluss hält sie fest: „Würde ist den Aktivistinnen und Aktivisten des Widerstands gleichbedeutend mit Kampf.“²²⁰ In der Belletristik lassen sich ähnliche Beispiele finden. In dem 1947 entstandenen und 1949 erstmals im finnischen Tampere uraufgeführten Theaterstück Ghetto Warschau des Dramatikers Max Zweig²²¹ spricht z. B. der fiktive Rabbiner Wilnaer:
Dawidowicz, Lucy: Der Krieg gegen die Juden. 1933 – 1945. München 1979, S. 300. Dawidowicz, Krieg, S. 300. Edelman zit. nach Krall, Schneller, S. 13 – 14. Ringelblum zit. nach Strobl, Ingrid: Es ging nur um die Art zu sterben. In: Edelman, Marek: Das Ghetto kämpft, Berlin 1999, S. 9 – 25, hier: S. 21. Stroble, Art, S. 21. Max Zweig (1892 – 1992) war ein österreichischer Dramatiker und ein Vetter des Schriftstellers Stefan Zweig. Max Zweig lebte in den 1930er Jahren als freier Schriftsteller in Wien und Berlin. Nach der Machtergreifung Hitlers floh er 1934 zunächst nach Prag und anschließend 1938 nach Tel Aviv. Bis zu seinem Tod arbeitete er als Dramatiker und Schriftsteller. Er wurde in Jerusalem beigesetzt.
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Wilnaer:
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Die Unglücklichen in unsern Tagen, die willenlos wie Schlachttiere zum Schlachthof getrieben werden, sterben einen traurigen Tod, doch keinen heiligen. Wenn sie sich aber gegen die Übergewalt empören, wählen sie den Tod – und ein solcher Tod würde ein Märtyrertod sein.²²²
In Dan Kurzmans²²³ erstmals 1976 erschienenen und 1979 in Deutschland veröffentlichten Roman Der Aufstand führt Mordechai Anielewicz das folgende Gespräch mit einem Namenlosen aus den Straßen des Ghettos: ‚Was gibt’s Neues?‘ fragte er [Anielewicz] einen Fremden. ‚Scheiße, mein Freund‘, erwiderte der Mann. ‚In Krakau läuft eine neue Aktion und in der Lubliner Gegend auch eine. Nicht lange, dann sind wir ebenfalls an der Reihe, und dann ist es aus …‘ ‚Was heißt aus, Mann?‘ ‚Was geschehen ist, passiert nicht noch einmal. Wir lassen uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank treiben.‘ Innerlich jubelte Mordechai.²²⁴
Der Mann versichert Anielewicz, dass er, sollten die Deutschen am nächsten Tage vor seiner Tür stehen und ihn mitnehmen wollen, seine Freunde zusammenrufen würde. Sie würden sich dann mit „Äxte[n], Eisenstangen und Hämmer[n]“ bewaffnen und hinter ihren Türen auf die Täter warten: „Und wenn einer den Kopf ins Zimmer steckt, gehört er mir. Er wird unter meiner Axt fallen.Vielleicht bin ich dann der nächste. Aber es würde sich wenigstens lohnen, so zu sterben.“²²⁵ So zu sterben, bedeutet im Kampf zu sterben, also im Gegensatz zu jenem Tod als „Schaf“ und es bedeutet, Deutsche mit in den Tod zureißen. An einer anderen Stelle im Buch lässt Kurzman die Widerstandsbewegung den folgenden Slogan an die Wand malen: „Kämpfen und für die Ehre unseres Volkes sterben!“²²⁶ In den Spielfilmen über das Warschauer Ghetto taucht das Motiv ebenfalls auf: beispielsweise in Aleksander Fords Sie sind frei, Doktor Korczak, im dritten und vierten Teil von Marvin J. Chomskys Holocaust sowie in Andrzej Wajdas
Zweig, Max: Ghetto Warschau. In: Zweig, Max: Die Dritte-Reich-Dramen. Der Moloch, Die deutsche Bartholomäusnacht, Ghetto Warschau, Die Verdammten, Aufruhr des Herzens. Hg. von Eva Reichmann, Oldenburg 1999, S. 139 – 215, hier: S. 154. Dan Kurzman (1922– 2010) war ein US-amerikanischer Journalist und Schriftsteller. Nach seinem Dienst im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Auslandskorrespondenz für diverse US-Zeitungen. Seine ersten Romane schrieb er in den 1960er Jahren, nachdem er sich aus dem Journalismus zurückgezogen hatte. Kurzman, Dan: Der Aufstand. Die letzten Tage des Warschauer Ghettos. München 1979, S. 31. Kurzman, Aufstand, S. 31. Kurzman, Aufstand, S. 93.
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Korczak. Den Machern von Uprising dürfte ein großer Teil jener Texte und Filme bekannt gewesen sein, als sie sich an die Realisierung ihres Werks machten. Selbst wenn der Drehbuchautor Paul Brickman, der Regisseur Jon Avnet sowie der Produzent Jordan Kerner nicht alle Reden gehört, alle Bücher gelesen und alle Filme gesehen haben, in denen das beschriebene Motiv seinen Niederschlag gefunden hat, bedeutet es nicht, dass sie nicht von Wahrnehmungen bestimmt waren, denen die Reden, Bücher und Filme Ausdruck verliehen haben. Mehr noch: Für ihre Darstellung der Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto sowie des Aufstands von 1943 griffen die Filmemacher nicht nur auf die bekannten Motive, Muster und Mythen, wie sie sich innerhalb der Rezeptionsgeschichte herausgebildet haben, zurück, sondern erweiterten sie um neue Elemente und Sinnebenen. Ihre Arbeit erschöpfte sich nicht darin, eine für ihre Zwecke dienliche Auswahl an zeitgenössischen Quellen in ihren Plot zu integrieren, ohne deren Entstehungskontext zu beachten oder sie gar einer eingehenden Kritik zu unterziehen. Durch die bewusste Abweichung vom chronologischen Verlauf der historischen Ereignisse und deren Neuordnung, durch die Hinzufügung und Erfindung von Verflechtungen, Beziehungen und Dialogen sowie die Herstellung von Sinnzusammenhängen, die zu keiner Zeit existiert haben, durch die Anordnung und Abfolge von Sequenzen konstruierten sie neue und vor allem fiktive Informationen über die Geschichte des Warschauer Ghettos. Diese Vorgehensweise wäre auch durchaus legitim, wenn sie sich im Rahmen der Gesetze und Grenzen der fiktionalen Bearbeitung von historischen Ereignissen bewegen würde und dementsprechend gekennzeichnet wäre. Doch dies ist im Fall von Uprising nur bedingt zutreffend, da die Filmemacher mit dem Anspruch und dem Versprechen antraten, die Geschichte des Warschauer Ghettoaufstands authentisch wiederzugeben. Aber sehen wir für einen Augenblick davon ab, dass es Jon Avnet und den anderen Verantwortlichen nicht gelungen ist, dem Authentizitätsanspruch – wie immer dieser auch aussehen mag – zu genügen. Sehen wir auch einmal davon ab, dass die Geschichte zu Gunsten der Dramaturgie erhebliche Veränderungen erfahren hat und letztendlich der Wiederbelebung und dem Ausbau der Mythen dienlicher ist als der Aufklärung über die Lebenssituationen der Menschen im Warschauer Ghetto. Ebenso wenig möchte ich den Filmemachern vorwerfen, dass – trotz ihres Authentizitätsversprechens – historische Genauigkeit und komplexe Zusammenhänge in ihrem Film weniger im Vordergrund stehen als die ihrem Zwecke dienliche Figurengenese und der Handlungsverlauf, der sich beinahe gänzlich an dem Helden Anielewicz orientiert. Ein derartiger Vorwurf würde von Vornherein ins Leere laufen, da die Schöpfer von Fiktionen jeglicher Gattung ähnlich vorgehen. Fiktionen brauchen nichts zu beweisen. Aber die vorgenommenen Eingriffe in die ereignisgeschichtlichen Fakten
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bzw. die Neuordnung ebendieser Fakten sollten im besten Fall neue Erkenntnisse liefern oder zumindest die Möglichkeit neuen Wissens eröffnen. AutorInnen und FilmemacherInnen handeln genau dann verantwortungslos, wenn sie mit ihren Werken Mythen als Wissen verkaufen, wie im Beispiel über den „ehrenhaften Tod“ aus Uprising. Hierbei legen die fiktiven bzw. konstruierten Zusammenhänge den Schluss nahe, dass am Ende nur jene mit Ehre und Würde in den Tod gegangen seien, die gekämpft haben. Dieses Denken wird den vielen Opfern der nationalsozialistischen Massenmorde nicht gerecht, denn es suggeriert, dass die Menschen, die in Gruben erschossen, in Lastwagen erstickt und in die Gaskammern ermordet wurden, würdelos gestorben seien. Edelman hat dies ausdrücklich bestritten, als er Hanna Krall gegenüber sagte: ‚Diese Menschen gingen ruhig und würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwieriger als zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend zu sterben, es war für uns viel leichter zu sterben als für einen Menschen, der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt und dann eine Grube für sich gräbt und sich dann nackt auszieht […].‘²²⁷
Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenpolitik, die den Juden die menschliche Würde per se absprach, wirkt der bloße Gedanke daran, dass die Opfer unehrenhaft oder würdelos gestorben seien, weil sie sich nicht mit Waffengewalt zu Wehr gesetzt haben, zynisch und absurd. Denn letztendlich entlastet dieses Denken die Täter und kehrt die Täter-Opfer-Beziehung um, wie Meckl treffend bemerkt: Wenn jedoch davon gesprochen wird, daß die Juden ihre Würde verloren hatten, die sie nur im Kampf wiederfinden konnten, entsteht ein entscheidendes Mißverständnis. Denn nicht das Opfer eines Verbrechens hat über sein Verhalten gegenüber dem Täter Rechenschaft abzulegen, sondern der Täter über seine Handlung. Der Täter entwürdigt durch seine Tat das Opfer, und nicht das Opfer verhält sich würdelos, wenn es zum Objekt eines Verbrechens wird.²²⁸
Der Regisseur Jon Avnet sowie der Drehbuchautor Paul Brickman hätten danach fragen können, warum junge Menschen zwischen 17 und 22 Jahren lieber den Tod wählten, anstatt überleben zu wollen, und warum sie den Tod im Kampf als ehrenhafter und würdevoller betrachteten als einen kampflosen. Sie hätten danach fragen können, inwieweit Gefühle wie Angst, Unsicherheit, Apathie und Zorn diese Haltung beeinflusst haben könnten, anstatt die Regungen und Handlungen
Edelman zit. nach Krall, Schneller, S. 52. Meckl, Helden, S. 119.
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ihrer Figuren ins Heldenhafte zu überhöhen. „‚Wir waren damals zweihundertzwanzig in der ZOB‘“, erzählte Edelman im Interview mit Hanna Krall und fragte im Anschluss: „‚Kann man das überhaupt einen Aufstand nennen? Es ging darum, uns nicht abschlachten zu lassen, wenn sie kamen, uns zu holen. Es ging nur um die Art zu sterben.‘“²²⁹ Anstatt den Entstehungskontext des Motivs zu berücksichtigen und die Quellen kritisch zu untersuchen, um sie damit zu entlasten, wurde das Motiv des „ehrenhaften“ oder „würdevollen Todes“ im Kampf wiederholt und in ein Wertesystem integriert. Dies führte schließlich dazu, dass die Geschichte des Ghettoaufstands zu einem Heldenepos stilisiert und mit einem entsprechenden Sinn ausgestattet wurde.
Wendepunkt 2 Der Beginn der großen „Aktion“ am 22. Juli 1942 bildet im Film den dramatischen Höhepunkt des zweiten Akts und damit zugleich den Wendepunkt, in dessen Verlauf sich die Schicksale der verschiedenen Charaktere kreuzen. Gleichzeitig findet eine Umformulierung ihrer Ziele statt. Die individuellen Versuche, sich der Lebenssituation im Ghetto anzupassen und zu überleben, weichen einem gemeinsamen und allen Zielen übergeordnetem Wunsch: bewaffneter Widerstand. Brickman und Avnet unterteilten die Ereignisse des Tages in drei sich zeitgleich entfaltende Handlungsstränge, in denen sich die Schicksale von Czerniakow, Korczak und den alten sowie neuen Mitgliedern der Widerstandsbewegung entscheiden. Die relativ lange Parallelmontagensequenz beginnt mit Anielewicz, der an einem nicht näher erläuterten Ort eine Rede über die Bedeutung des Austauschs von Informationen und Waffen für den Widerstand hält, bis ihn Kazik unterbricht und ihm zuflüstert, dass sie sofort nach Warschau zurückkehren müssten. Nach einem harten Schnitt wird der Plot im Warschauer Ghetto fortgesetzt, wo Adam Czerniakow in seinem Büro einen Abschiedsbrief aufsetzt. In der darauffolgenden Szene stürmen SS-Männer das Waisenhaus, während Korczak die Kinder für einen, wie er es nennt, Ausflug in ein „Camp“ vorbereitet. Dort gebe es viele Bäume und Vögel. Die Kinder sollten ihre Fahne nicht vergessen, sagt Korczak mit einem sanften Timbre in der Stimme. Daraufhin wird zurück auf Czerniakow geschnitten, der ein Mittel einnimmt (im Hintergrund ertönt Kindergesang). Schnitt. Korczak und die Kinder verlassen in Zweierreihen das Waisenhaus und marschieren zum Umschlagplatz. Schnitt. Yitzhak Zuckerman, der den Marsch der Kinder beobachtet, wendet sich an Zygmunt, einem anderen Wider-
Edelman zit. nach Krall, Schneller, S. 20.
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standsaktivisten: Dieser soll den Zügen folgen und herausfinden, wo sie halten und was dort mit den Menschen geschieht. Schnitt. Die Totale zeigt den Umschlagplatz, wo die Bewohner des Ghettos zu Hunderten die Güterwaggons besteigen müssen. Unter ihnen befinden sich auch Korczak und die Kinder sowie Tosias Mutter, die kurz zuvor von ihrer Tochter getrennt worden ist. Tosia selbst bleibt zurück. Calel, der sich in der Funktion eines OD-Mannes ebenfalls auf dem Platz befindet, beobachtet die Szene mit zunehmenden Unbehagen. Als Korczak einen der Waggons zu besteigen versucht, wird er von einem Deutschen aufgehalten: Er werde nicht deportiert, er könne gehen. Korczak lehnt ab: Er gehe dorthin, wo auch die Kinder hingehen. Der SS-Mann erwidert, dass er ihn in diesem Fall nicht in den Zug einsteigen lasse. Dann müsse er, so Korczak zu dem Deutschen, ihn vor den Augen der Kinder erschießen. Danach besteigt Korczak zusammen mit den Kindern den Zug. Die Türen werden geschlossen, die Stimmen und Hintergrundgeräusche – bis auf das Pfeifen des Zugs – werden ausgeblendet, Musik ertönt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Schnitt. Czerniakow fällt mit dem Kopf auf seinen Schreibtisch. Schnitt. Die Totale zeigt Czerniakows Büro aus der Aufsicht, der Vorsitzende ist tot. Schnitt. Anielewicz und Kazik kehren zurück; es ist bereits nachts, weiße Federn fallen vom Himmel. Die beiden Männer sind in der Mitte des Bildes angeordnet und gehen entschlossenen Schrittes auf die Kamera zu. Erneut endet ein Akt mit der Rückkehr des Helden Anielewicz. Erneut hatte sich die Situation während dessen Abwesenheit dramatisch verschlechtert. Und erneut kehrt mit dem Helden die Hoffnung zurück ins Ghetto. Der 22. Juli 1942 bildet eine Art Kulminationspunkt innerhalb des Plots: Alle bisher vorgestellten Entwicklungen und Konflikte haben sich kurz zuvor zugespitzt und werden durch diesen Punkt geführt, wie durch ein Nadelöhr. Alles, was nicht zum bewaffneten Widerstand gehört oder dazu wird, bleibt auf der Strecke bzw. auf der anderen Seite. Mit diesem Tag endet, so wird in Uprising suggeriert, der Alltag im Ghetto, und alles, was bleibt, ist der bewaffnete Widerstand. Diese Deutung fasst Anielewicz in einer Ansprache nach seiner Rückkehr in Worte. An einem Tag im September 1942, wie eine Texttafel verrät, betreten er und Kazik einen Raum, in dem sich bereits Dutzende WiderstandsaktivistInnen versammelt haben. Zuerst berichtet Zygmunt, dem er gelungen ist, die Züge vom Umschlagplatz bis nach Treblinka zu verfolgen. Er erzählt von den Gaskammern, den Massenmorden und dem Geruch, den die Nationalsozialisten nicht verdecken können. Er wolle das Blut „dieser Bastarde“, wie er unter Tränen sagt, an seinen Händen haben. Daraufhin richtet sich Anielewicz auf und spricht: We know that Adam Czerniakow has committed suicide.We now know that 300 000 Warsaw Jews have been either sent to Treblinka, a death camp, or simply murdered. For now, the
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deportation has ceased, but they’re going to resume. And when they do, we will no longer submit. We’re going to respond with armed resistance!
Anielewicz schlägt den Versammelten vor, die Zeit bis zur nächsten Deportationswelle dafür zu nutzen, Waffen zu besorgen, Verräter und Kollaborateure zu töten und Pläne für den Kampf zu entwerfen. Doch vor allem sollten sie nun alle im Ghetto verbliebenen Jüdinnen und Juden wissen lassen, dass sie ihren Feind mit Waffengewalt bekämpfen können und werden: With all the Jewish groups finally under one banner, with one purpose! Perhaps we can save some lives, perhaps we can remove some Germans from the face of the earth … But this much I promise you. We will live with honor. And we will die with honor. Jewish honor.
Anielewicz’ Rede erfüllt zunächst zwei Funktionen: zum einen eine deskriptive, indem sie die Ereignisse der jüngsten Zeit knapp zusammenfasst und die Zuschauer über die Situation im Ghetto nach den Deportationen aufklärt, und zum anderen eine analytische: Die AktivistInnen reflektieren über die momentane Situation und treffen eine Prognose für die Zukunft. Nicht das Überleben ist das vorrangige Ziel der Kampfgruppe, sondern letztendlich der Tod im Kampf. Leben zu retten wäre Anielewicz’ Logik zufolge zwar erstrebenswert, aber nicht zwingend. Denn da sie ohnehin alle sterben werden, sollen sie zumindest kämpfend sterben – ein ehrenvoller Tod, ein Tod für die „jüdische Ehre“. Die gilt als das Ideal, für das die Kämpferinnen und Kämpfer ihr Leben opfern sollen. Denn erst mit diesem ultimativen Opfer, das sie zu Helden erhebt, indem es sie auslöscht, erlangen sie Ruhm und Würde.
Helden und Märtyrer Das Motiv des Helden, der sich für ein höheres Ideal opfert, oder besser: Die Figur des edlen Kämpfers, der für sein Heimatland oder nur für ein Ideal einen heroischen, einen noblen Tod (noble death) stirbt, existiert bereits seit der Antike und war in seiner ursprünglichen Gestalt pagan: „der Hektor der Ilias erleidet ihn ebenso wie der Sokrates des Plato; nichts davon hat mit Religion im modernen Sinn zu tun“²³⁰. Hektor stirbt bekanntlich im Kampf um seine Heimatstadt Troja.²³¹ Und noch bevor er in den Kampf zieht, mahnt er seine Kampfgefährten:
Treml, Martin: Märtyrer im Judentum – Figurationen großen Sterbens. In: Weigel, Sigrid (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. München 2007, S. 65 – 69, hier: S. 67.
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Und sollte einer von uns durch Schuß oder Wurf sein Schicksal erfüllen, so sterbe er! Schande bringt es ihm nicht, für die Heimat zu fallen […].²³²
Sokrates, der 399 v. Chr. wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend vor einem attischen Gericht stand, wurde das Opfer seiner eigenen Überzeugungen. Dementsprechend heroisch, nobel und erbauend muten seine letzten Worte an: „Doch jetzt ist’s Zeit fortzugehen: für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben.Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist uns allen unbekannt – das weiß nur Gott.“²³³ Der noble death veredelt ein Leben, das in den Dienst höherer Ideale gestellt wurde; sei es die Liebe zur Heimat, der Glaube an Gerechtigkeit oder an Gott. Am Ende eines edlen Lebens steht die Selbstaufopferung für ebendiese Ideale. Hierbei ist es nicht nur Helden vergönnt, einen noblen Tod zu erleiden, sondern auch Märtyrern. In Uprising finden beide Figurationen des noble death ihre Entsprechung in den Filmcharakteren Anielewicz und Zuckerman als Helden auf der einen sowie Czerniakow und Korczak als Märtyrer auf der anderen Seite. Czerniakow nahm sich am 23. Juli 1942 das Leben und hinterließ zwei Notizen. Korczak marschierte mit den Kindern seines Waisenhauses am 6. August 1942 zum Umschlagplatz, wo sie zusammen einen Zug bestiegen. Anschließend wurden sie mit anderen Jüdinnen und Juden in den Gaskammern von Treblinka ermordet. Indem Avnet diese beiden Ereignisse in der Parallelmontage zusammenbringt und sie an einem Tag stattfinden lässt, verändert er nicht nur die Chronologie der Ereignisse, sondern konstruiert damit einen Sinnzusammenhang. Die Parallelmontage führt die Schicksale von zwei Persönlichkeiten aus der Geschichte des Ghettos zusammen, die im Rahmen des Gedenkens an den Holocaust zuweilen als Märtyrer bezeichnet werden.²³⁴ Die Schilderungen ihres Leidens oder besser Erleidens sowie die Umstände ihres Todes gehören zu den Fixpunkten innerhalb der Erzählungen der Geschichte des Ghettos: Czerniakow, der sich weigert, für den Tod von Kindern verantwortlich zu werden, und Korczak, der sich selbst opfert, damit die Kinder seines Waisenhauses nicht unbegleitet in den Tod geschickt werden. Doch es waren nicht primär die Handlungen und Entscheidungen, die sie zu Märtyrern machten, sondern „die Form der Darstel Vgl. Homer: Werke in zwei Bänden. Erster Band: Ilias. Übersetzt von Dietrich Ebener. Berlin und Weimar 1983, 22. Gesang,V. 289 – 367, (S. 418 – 421). Achilleus tötet Hektor und schleift dessen Leiche – aus Rache für seinen von Hektor erschlagenen Gefährten Patrokolos – mehrere Tage hinter sich her. Homer, Ilias, 15. Gesang, V. 494– 496, (S. 286). Platon: Apologie des Sokrates. Stuttgart 1995, S. 89. Vgl. Meckl, Helden, S. 80 und vgl. Reich-Ranicki, Leben, S. 243.
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lung“²³⁵. Die Quintessenz des Märtyrer-Konzepts liegt darin, dass Märtyrer gemacht werden; zum Märtyrer wird man erklärt. Das Martyrium bedarf der Zuschreibung und der Zeugen, die das Leid und die Taten beobachtet haben, um später – nach deren Tod – darüber Zeugnis ablegen zu können. Der Ursprung dieses Motivs geht ebenfalls auf die Antike zurück. Im Judentum begegnen wir der Figur des noble death (in Gestalt des Kiddush Hashem, der „Heiligung des Namens“) als einen „Ausdruck der Unbedingtheit“²³⁶ während des Makkabäer-Aufstands gegen die seleukidischen Besatzer Jerusalems im 2. Jahrhundert v.Chr.: Als der Tempel in Jerusalem profaniert und die Befolgung der väterlichen Gesetze verboten wurde, entschlossen sich Teile der Priesterschaft zum Aufstand und wurden zu Freiheitskämpfern, zu Guerilleros gegen den hellenistischen Souverän und dessen religiöse Reformen. Deren heldenhafte Kämpfe, ihr Verlauf und Ausgang werden in drei apokryphen Büchern berichtet, die allesamt in der Septuaginta überliefert sind: das Erste, Zweite und Vierte Buch der Makkabäer (1, 2, 4 Makk), entstanden in den zweihundert Jahren um die Zeitenwende.²³⁷
Überliefert ist z. B. die Geschichte des Schriftgelehrten Eleasar, der dazu gezwungen wird, Schweinefleisch zu essen, sich jedoch weigerte, da er den „ehrenvollen Tod einem Leben voll Schande vor[zog]“²³⁸. Eine andere Geschichte erzählt von einer Mutter mit sieben Söhnen, die von königlichen Truppen ebenso genötigt wurde, Schweinefleisch zu essen; auch hier war die Antwort ähnlich: „Eher sterben wir, als dass wir die Gesetze unserer Väter übertreten.“²³⁹ Der Märtyrertod, in der Gestalt des Kiddush Hashem, wurde auch in einigen intellektuellen Kreisen des Warschauer Ghettos diskutiert.²⁴⁰ Ringelblum wohnte diesen Diskussionsrunden ebenso bei wie der zur Gruppe des Oyneg Shabes gehörende Rabbi Shimon Huberband. Letzterer beschäftigte sich intensiv mit dieser Form des selbsterwählten Todes.²⁴¹ Im Ghetto entstand seine umfangreiche Ab-
Meckl, Helden, S. 80. Treml, Märtyrer, S. 67. Treml, Märtyrer, S. 67. 2. Buch der Makkabäer: 2 Makk 6, 19. 2. Buch der Makkabäer: 2 Makk 7, 2. Siehe hierzu: Gutman, Israel: Kiddush ha-Shem and Kiddush ha-Hayim. In: Simon Wiesenthal Center Annual, Volume 1 (1984), S. 185 – 202. Siehe auch: Gottfarstein, Yosef: Kiddush Hashem over the Ages and its Uniqueness in the Holocaust Period. In: Kohn, Moshe M. (Hg.): Jewish Resistance during the Holocaust. Proceedings of the Conference on Manifestations of Jewish Resistance. Jerusalem 1971, S. 453 – 482. Siehe hierzu: Huberband, Shimon: Kiddush Hashem. Jewish Religious and Cultural Life in Poland During the Holocaust. New York 1987.
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handlung über Kiddush Hashem, in der er die Definition noch einmal verfeinerte und erweiterte: A. Ein Jude opfert sein Leben, wenn andere versuchen, ihm seinen jüdischen Glauben zu nehmen. B. Ein Jude gibt sein Leben, um einen anderen Juden zu retten, und erst recht, um eine Gruppe von Juden zu retten. C. Ein Jude stirbt im Kampf für die Verteidigung anderer Juden.²⁴²
Zu den ersten im Ghetto publizierten Büchern gehörte zudem eine von Eliyahu Gutkowski, einem Sekretär des Oyneg Shabes, und Yitzhak Zuckerman herausgegebene „Anthologie zum Märtyrertum in der jüdischen Geschichte, Payn un Gvure (Schmerz und Heldentum)“²⁴³. Die 98-seitige Schrift wurde in den von den Jugendbewegungen organisierten Seminaren „zur Pflichtlektüre“²⁴⁴ und entfaltete innerhalb der Bewegungen selbst eine starke Wirkung. „Aber sie zeigte auch“, wie Samuel D. Kassow in seinem Buch über Ringelblums Archiv konstatiert, dass es für das, was geschah, in der Geschichte kein Beispiel gab. Welche Lehren sich auch immer aus der jüdischen Geschichte und Literatur ziehen ließen, sie waren nach Zuckermans Überzeugung im Warschauer Ghetto nur von begrenztem Wert, mit einer Ausnahme: der Erkenntnis, dass die Juden um ihre Ehre kämpfen mussten.²⁴⁵
Ein Held bedarf ebenso wie der Märtyrer der Zuschreibung, um als solcher angesehen und erinnert werden zu können: „Zur Geburt des Helden gehören immer wenigstens drei Dinge: der Handelnde und seine – außerordentliche – Tat, ein Zeuge, der darüber berichtet, und ein Publikum, das dem Bericht, das der Erzählung lauscht.“²⁴⁶ Die Zuschreibung ist an Wertvorstellungen gebunden, denn was einen Helden ausmacht, wird „durch das soziale Koordinatensystem“²⁴⁷ definiert, das die Taten und Tugenden des Helden bewertet. Dies schließt nicht aus, dass trotz partikularer Werte, welche die Bestimmung und Bewertung von Helden beeinflussen, Heldentum gleichwohl auf universalen und Nationen übergreifenden Kategorien beruht: „Helden repräsentieren Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, in extrem gesteigerter, also seltener Form.“²⁴⁸ Was dabei die Huberband zit. nach Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 273. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 248. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 248. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 248. Schneider, Christian: Wozu Helden? In: Mittelweg 36, 1/2009, S. 91– 102, hier: S. 92. Schneider, Helden, S. 92. Reemtsma, Jan Philipp: Der Held, das Ich und das Wir. In: Mittelweg 36, 4/2009, S. 41– 64, hier: S. 53.
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Helden von den Märtyrern unterscheidet ist die Tat: Denn „Held wird man – kulturübergreifend – nur durch eine Tat, nicht durch ein Erleiden.“²⁴⁹ Uprising erzählt von den außergewöhnlichen Taten der Helden des Aufstands von 1943 und verweist nebenbei auf das Erleiden der Märtyrer im Ghetto. Diese dichotome Anordnung kommt besonders in der oben beschriebenen Parallelmontage und der anschließenden Rede zum Vorschein: Während die Märtyrer sich selbst opfern oder ihrem Tod entgegengehen, bereiten sich die Helden auf den Kampf und einen „ehrenvollen Tod“ vor. Der Heroismus der Kämpfer wird ins Zentrum gestellt, die Aufopferung derer, die – aus der Perspektive beobachtet, die der Film vorgibt – nicht, zu wenig und gar falsch gehandelt haben, wird zur Kontrastfolie. Damit steht Uprising ganz in einer sich im Verlauf der Rezeptionsgeschichte herausgebildeten Erzähl- und Darstellungstradition, dessen früheste Manifestation das von Nathan Rapoport geschaffene Denkmal der Helden des Ghettos darstellt.
Mehr Denkmal als Geschichtsrekonstruktion Am fünften Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands, dem 19. April 1948, wurde im Beisein Yitzhak Zuckermans das Denkmal enthüllt, das „sowohl den Heroismus des jüdischen Widerstands gegen die Nazis als auch die komplette Auslöschung der Juden in Warschau“²⁵⁰ darstellen sollte. Ebenfalls bei der Zeremonie anwesend war der Schöpfer des Monuments: der 1911 in Warschau geborene jüdische Bildhauer Nathan Rapoport. Anfang September 1939 war Rapoport aus Warschau geflohen und befand sich zur Zeit des Aufstands im russischen Exil, wo er als Staatsbildhauer in einem Studio in Novosibirsk Büsten von Generälen, Partisanen und Arbeitern anfertigte, den „Helden des Großen Vaterlandskrieges“.²⁵¹ Im Frühjahr 1943 erreichten ihn die ersten Meldungen über die Deportationen, die Vernichtungslager sowie den Aufstand im Warschauer Ghetto. Für den Bildhauer begann eine Zeit der intensiven Vorbereitung: „Es schien, als lebte er nur, um eines solchen Ereignisses zu gedenken, das er sowohl als sozialistische als auch als jüdische Revolution betrachtete.“²⁵² Er suchte „nach einer angemessenen Art und Weise“, um „die Tragödie [s]eines Volkes zu fassen“²⁵³.
Reemtsma, Held, S. 46. Young, James E.: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust. Wien 1997, S. 219. Vgl. Young, Formen des Erinnerns, S. 223 – 225. Young, Formen des Erinnerns, S. 225. Vgl. Rapoport, Nathan: Zur Entstehungsgeschichte des Warschauer Ghetto-Denkmals. In: Young, James E. (Hg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens. München 1993, S. 79 – 83, hier: S. 82.
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Rapoport hatte darauf bestanden, dass das Denkmal dort aufgestellt werde, „wo die ersten Schüsse abgegeben worden waren und Anielewicz in seinem Versteck gestorben war“²⁵⁴. Der Kommandant der ZOB ist die zentrale Gestalt in Rapoports Bronzeplastik. Ihn umrahmen sechs weitere bronzene Figuren: zwei Frauen, ein Kind und drei Männer. Sie alle scheinen sich durch Flammen und Trümmer gekämpft zu haben – und aus Feuer und Stein scheinen sie auch hervorgegangen zu sein. Ihre mythologisch überhöhte Anordnung erinnert an antike Helden, wie sie z. B. auf dem Heldenfries des Pergamon-Altars dargestellt sind. Die Kleidung ist zerrissen, in ihren Händen halten sie Waffen: Steine, Messer, Karabiner. Anielewicz trägt über seinem entblößten Oberkörper einen zerschlissenen Mantel, die Ärmel hochgekrempelt. In der rechten Hand hält er eine Granate, der linke Arm liegt angewinkelt auf Bauchhöhe. Der bronzene Anielewicz „hat sich als Partisan, als Arbeiter und als Jude gegen die Nazis erhoben und ist in jeder dieser Eigenschaften das Symbol des Helden schlechthin“²⁵⁵. Die in Granit- bzw. Labradoritblöcke eingelassene Bronzeplastik bildet die Frontseite des Monuments. Unter ihr befinden sich drei Blöcke, in denen in hebräischer, jiddischer und polnischer Sprache das folgende eingraviert ist: „Dem jüdischen Volk – seinen Helden und seinen Märtyrern“. Die Rückseite des Denkmals ziert ein Steinrelief mit mehreren Figuren, die im Gegensatz zu den Helden der Front- bzw. Westseite, aus Sand und Nebel hervorgegangen zu sein scheinen. Diese Figuren stehen sinnbildlich für die Märtyrer: „Als numerische Anspielung auf die Stämme Israels versinnbildlichen zwölf gebückte und aneinandergedrängte Figuren archaische, archetypische Juden im Exil.“²⁵⁶ Hinter ihnen ragen, kaum sichtbar, drei Helme der Wehrmacht und zwei Bajonette heraus. Während also die Westseite den Helden gehört, die sich durch die Mauer gekämpft haben, marschieren auf der sonnenabgewandten Seite die Märtyrer von rechts nach links. Rapoport zufolge sollte das Relief eine Deportationsszene darstellen.²⁵⁷ Es sollte „die Schatten von Müttern und Vätern, von Jung und Alt wiederauferstehen“ lassen; „das heroische und tragische Ende ihres Lebens sollte über Generationen hinaus in Erinnerung bleiben“²⁵⁸. Mit Uprising haben die Filmemacher weniger einen Beitrag zu einer visuellen und quellenfundierten Geschichtsrekonstruktion geleistet als vielmehr ein cineastisches Pendant zu Rapoports Denkmal geschaffen.
Young, Formen des Erinnerns, S. 234. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt am Main 1997, S. 219. Young, Formen des Erinnerns, S. 244– 245. Rapoport, Entstehungsgeschichte, S. 82. Rapoport, Entstehungsgeschichte, S. 82.
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4.2.4 Resolution: „Our little nation.“ Der dritte Akt – resolution – stellt den letzten und längsten Abschnitt des Plots dar. Brickman und Avnet unterteilten ihn in drei größere Handlungseinheiten: Vorbereitung – Aufstand – Niederlage und Flucht. Im ersten Drittel konzentriert sich die Handlung im Wesentlichen auf die Beschaffung von Waffen, das Training der Kämpfer, das Entwerfen von Schlachtplänen, die Ausführung von Sabotageaktionen, Anschläge auf Verräter sowie Kollaborateure und schließlich die Zuweisung von Aufgaben an die Angehörigen der Kampforganisation: Calel, das geläuterte Mitglied des Jüdischen Ordnungsdienstes, erschießt seinen ehemaligen Vorgesetzten Jozef Szerynski, Tosia schmuggelt Dynamit und Waffen von der „arischen Seite“ ins Ghetto, Marek Edelman bastelt Bomben, Kazik beschafft sich eine SS-Uniform, um von „innen“ angreifen zu können. Die Rebellion vom 18. Januar 1943 bildet den Höhepunkt dieses Handlungsabschnitts. Die Inszenierung folgt zum großen Teil den Schilderungen der Zeugen und den historiographischen Darstellungen.²⁵⁹ In einer anschließenden Rede klärt Anielewicz seine Mitkämpfer (und die Zuschauer) über Erfolg und Wirkung der Aktion auf: Es sei ihnen nicht nur gelungen, die Deportationen zum ersten Mal zu stoppen, sondern auch den Deutschen zu demonstrieren, dass bewaffneter Widerstand existiere: „They know that we will resist. They know that we will fight back. They know that they will going to pay for their massmurder.“ Der Kommandant schließt seine Rede mit einer Gedenkminute für die Gefallenen – für all jene, die sich geopfert haben: „Who sacrified their lives for our dignity“. Der erste Teil des dritten Aktes endet mit der Festnahme und Folterung Arie Wilners, der als Verbindungsmann auf der „arischen Seite“ für die Waffenlieferungen zuständig war. Diese Entwicklung zwingt Zuckerman das Ghetto zu verlassen und Wilners Platz auf der anderen Seite der Mauer einzunehmen.
Der Aufstand Das Bild ist in ein kühles Blau getaucht. Ein Junge, den die ZuschauerInnen in der Anfangssequenz des Films kennengelernt haben (der Junge mit den Tomaten), malt mit weißer Farbe die Worte „to fight, to die, for honor“ an eine Ziegelsteinmauer. Kurz darauf werden in der geheimen Kellerunterkunft der Kampforganisation Waffen und Sprengstoff an die KämpferInnen verteilt. Schnitt, Tag, außen: SS-Männer marschieren singend ins Ghetto ein, gefolgt von Panzern und Panzerwagen. Es ist der 19. April 1943. SS-Gruppenführer Jürgen Stroop steigt aus
Siehe Kapitel 4.1.7.
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einer schwarzen Limousine, Fritz Hippler besichtigt den Drehort. Als die SSEinheit zum Stehen kommt, eröffnet die Kampforganisation das Feuer: Männer und Frau schießen mit Maschinengewehren aus Fenstern und von Dächern, Sie werfen Granaten und Molotowcocktails, während sie „Treblinka“ schreien. Die Actionsequenz ist konventionell gedreht. Für die Nah- und Halbnahaufnahmen kamen Handkameras zum Einsatz, für die wenigen Halbtotalen und Totalen wurden Kräne verwendet. Das Tempo der Montage wird mit dem Angriff erhöht: Die schnelle Schnittfolge zwischen Nah-, Halbnahaufnahmen und Totalen simuliert die Hektik des Geschehens. Am Ende des Tages, nachdem die Deutschen erfolgreich zurückgeschlagen worden sind und einen verlustreichen Rückzug angetreten haben (ein Soldat berichtet Stroop von vielen Verletzten und noch mehr Verwundeten), kehrt Stille im Ghetto ein, und inmitten dieser Stille feiert die Kampforganisation ihren ersten Sieg über die Besatzer. Es ist Nacht, auf den Dächern werden Fahnen geschwenkt. Das erste Bild zeigt eine weiße Fahne mit blauem Davidstern umringt von bewaffneten Kämpfern. Die Komposition erinnert an Joe Rosenthals berühmte Fotografie Raising the Flag on Iwo Jima, die er Ende März 1945 nach der blutigen Schlacht um die japanische Insel aufgenommen hat. Sie zeigt vier US-Marines, die eine amerikanische Fahne in den vulkanartigen Boden der Insel stemmen. Das Bild wurde zum US-amerikanischen Heldensymbol par excellence.²⁶⁰ Kazik, Mira, Zivia und Mordechai – sie gleichen hier den bronzenen Figuren aus Rapoports Denkmal – schauen von der Straße aus zu der weißen Fahne mit dem blauen Davidstern hoch: „Our little nation“, sagt Mordechai stolz. Von der anderen Seite der Mauer aus beobachten Frumka und Yitzhak die Feierlichkeiten. Nun ist auch eine zweite Fahne zu sehen, die neben der weißen geschwenkt wird: eine rotweiße, also die polnische. Ohne den Blick zu lösen sagt Yitzhak zu Frumka in einem ergriffenen Ton: „Did you ever think in your lifetime you would see this?“ Yitzhak Zuckerman ist sich in seinen Anfang der 1990er Jahren verfassten Memoiren A Surplus of Memory über die Zahl der Fahnen unsicher: „I don’t know if they had two there. There was a blue-and-white flag. Maybe they also hung out the Polish flag. There certainly wasn’t a red flag there.“²⁶¹ In seinem Bericht über die Liquidation des Warschauer Ghettos, dem sogenannten Stroop-Bericht, hielt der gleichnamige SS-Gruppenführer fest: „Es wurden die jüdische und die pol-
Wie sehr der Zufall eine Rolle beim Zustandekommen der Fotografie gespielt hat und welche Mühen unternommen wurden, um daraus ein Heldensymbol zu konstruieren, zeigt Clint Eastwoods Spielfilm Flags of Our Fathers (Flags of Our Fathers, USA 2006), in welchem der Heldenmythos dekonstruiert wird. Zuckerman, Chronicle, S. 370.
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nische Flagge als Aufruf zum Kampf gegen uns auf einem Betonhaus gehißt. Diese beiden Fahnen konnten aber schon am zweiten Tage des Einsatzes von einer besonderen Kampfgruppe erbeutet werden.“²⁶² Brickman und Avnet müssen den „Stroop-Bericht“ gekannt haben, denn die vom SS-Gruppenführer beschriebene Episode fand ohne größere Veränderung Eingang in den Film: Als die SS-Einheit, angeführt von Stroop, einen Tag nach ihrem Rückzug wieder ins Ghetto einmarschiert, erblickt sie sofort die beiden Fahnen auf dem Dach. In der Fahnenfrage sind sich die Quellen jedoch nicht einig. Hanna Krall, die sich in ihrem Interview mit Edelman ebenfalls der Frage nach der Existenz der Fahnen zuwandte, schreibt: Sie [die Fahnen] flatterten über dem Ghetto von den ersten Aufstandstagen an, eine weißrote und eine blau-weiße. Auf der arischen Seite bewirkten sie Ergriffenheit, die Deutschen aber holten sie mühsam und triumphierend als Trophäen herunter. Er [Marek Edelman] sagt, wenn da Fahnen gehangen hätten, dann hätte niemand anderes als seine Leute sie aufhängen können. Sie hätten auch gern welche aufgehängt, wenn sie nur ein wenig weißen und roten Stoff gehabt hätten, aber sie hätten keinen gehabt.²⁶³
Auf Kralls Bemerkung, dass wahrscheinlich jemand anderes sie aufgehängt habe, räumt Edelman zwar die Möglichkeit ein, sagt jedoch explizit, dass er nie Fahnen gesehen und erst nach dem Krieg erfahren habe, „daß da welche wehten“²⁶⁴. Dies sei doch unmöglich, erwidert Krall, alle hätten sie gesehen. Edelmans kurze Antwort: „‚Nun ja, wenn alle sie gesehen haben, waren sicher Fahnen da. Im übrigen, was hat das für eine Bedeutung? Wichtig ist, daß die Leute sie gesehen haben.‘“²⁶⁵ Vielleicht ist es tatsächlich weniger von Bedeutung, ob in jenen Tagen Fahnen von den Gebäuden des Ghettos wehten oder nicht. Viel wichtiger scheint doch die Frage zu sein, warum Überlebende sehr gerne welche gesehen hätten und warum es ihnen wichtig war und vielleicht noch heute ist, dass es sie gegeben hat oder gegeben haben muss. In der Rezeptionsgeschichte des Warschauer Ghettoaufstands finden sich Beispiele, die verdeutlichen, welche politische Bedeutung die Existenz weißer Fahnen mit blauem Davidstern hatte und wie sie in ein nationales Narrativ integriert wurde. In diesen Beispielen sind die Fahnen Sinnbild und Beweis dafür, dass „der Ghettoaufstand primär ein jüdisch-nationaler gewesen“²⁶⁶ war. In Max
S. 5.
Stroop, Jürgen: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“. Neuwied 1960, Krall, Schneller, S. 135. Krall, Schneller, S. 135. Krall, Schneller, S. 135. Meckl, Helden, S. 52.
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Zweigs Stück Ghetto Warschau unterhalten sich die Kämpfer am Abend vor dem Angriff der Deutschen über die blau-weißen Fahnen, die überall im Ghetto aus den Fenstern hängen: Isserlin:
Alle Häuser sind mit Fahnen geschmückt. Blau-weiße Fahnen hängen aus allen Dachluken und Fenstern hinab, die ganze Straße entlang! Dannenberg: Was? Wer hat das angeordnet? Ruben: Sie haben alle die gleiche Eingebung gehabt. Sie schämen sich nicht mehr, Juden zu sein, und zeigen es stolz. Wilnaer: am Fenster Daß ich das noch erleben darf! Ich danke Dir, mein Gott!, daß Du mich diesen Tag erleben ließest!²⁶⁷
Rabbi Wilnaers Kommentar ähnelt dabei der Aussage von Zuckerman in Uprising. 1949 veröffentlichte die Le Monde Juif den Augenzeugenbericht Chalom Grayeks, der sich daran erinnerte, dass am „42. Tag des Aufstands“ auf dem letzten übrig gebliebenen „Haus im Zentrum des Ghettos“ eine „blau-weiße Fahne“ wehte: Die blau-weiße Fahne, getragen von einem jungen Halutzim, kletterte die Stockwerke hinauf. Spät in der Nacht wehte sie noch im oberen Stockwerk. Als die Schießerei endete und alles vorbei war, hörte man einen Aufprall, der junge Halutzim hatte sich vom Dach des Gebäudes, eingewickelt in der blau-weißen Fahne, geworfen.²⁶⁸
In seiner Ansprache zum Jahrestag des Aufstandes am 24. April 1960 führte Rabbiner Chekroun den zentralen Gedanken in der Aussage Grayeks weiter aus: Ich glaube, daß die Botschaft der Kämpfer von Warschau es verdient, ständig wiederholt und bedacht zu werden. Es ist ohne Zweifel den Aufständischen zu verdanken, daß die Halutzim in Palästina den Mut gefunden hatten […] zu kämpfen. Es ist diese Nachricht vom Warschauer Ghetto, die zweifellos den Untergang des Staates Israel verhinderte.²⁶⁹
Im Vorwort zu Der Aufstand deutet Dan Kurzman die Revolte im Ghetto gar als den Höhepunkt eines zweitausendjährigen Kampfes der Juden gegen Repression und Okkupation: Wenn sich auch schon in früheren Zeiten Judengruppen gegen ihre Verfolger aufgelehnt haben, so beendete der Aufstand des Warschauer Ghettos doch mehr als jedes andere Ereignis symbolisch die über zweitausendjährige Unterwerfung der Juden unter Diskriminie-
Zweig, Ghetto Warschau, S. 185. Chalom Grayek zit. nach Meckl, Helden, S. 52. Rabbiner Chekroun zit. nach Meckl, Helden, S. 51.
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rung, Unterdrückung und schließlich Völkermord. Der Aufstand war der Beginn eines ehernen Kampfgeistes, der Gestalt und Richtung durch die Schaffung des Staates Israel erhielt.²⁷⁰
Die Fahnen bilden nur ein Element innerhalb einer Gesamtinterpretation – oder eher eines Mythos’ –, innerhalb dessen „die symbolische Kraft des Ghettoaufstands […] so hoch eingeschätzt [wird], daß er zur conditio sine qua non wird, ohne die der Staat Israel weder entstanden wäre noch Bestand gehabt hätte“²⁷¹. Der Warschauer Ghettoaufstand wird dieser Deutung zufolge als Teil der Geschichte Israels betrachtet und in eine Reihe gestellt, „an deren Anfang Massada und Bar Kochba, und an deren Ende der Kampf der jüdischen Siedler gegen die britische Besatzungsmacht steht“²⁷², wie der folgende Beitrag aus der Le Monde Juif belegt: Wir dachten, daß die größte Würdigung, die wir den Helden von Warschau zuteil werden lassen können, darin besteht, ihren bewaffneten Kampf in die allgemeine Geschichte des jüdischen Widerstands durch alle Zeiten hindurch einzuordnen, beginnend mit den Aufständen, die in Palästina und den angrenzenden Ländern nach der Zerstörung des Tempels stattfanden und mit Israel im Kampf endet.²⁷³
Dieser Sichtweise wird auch in Uprising Ausdruck verliehen: zum einen durch Mordechais Ausspruch „our little nation“, zum anderen in einer Ansprache, die der er gegen Ende des Films hält. Dort stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen dem ehrenhaften Kampf, dem aufopfernden Tod und der Gründung eines jüdischen Staates her. Als der Aufstand längst niedergeschlagen wurde und alle Kämpferinnen und Kämpfer, die am Leben geblieben sind, sich in einem Bunker versteckt halten, wendet sich Anielewicz ihnen zu und sagt: […] throughout our difficult struggle we have been determined to persevere one choice: how we die. Whether it be here, in an airless bunker, or elsewhere. I don’t know. But I can assure you of one thing: The spirit of our deaths will shape the soul of a new generation. A new nation of Jews.
Danach teilen sich ihre Wege: Kazik begibt sich auf die „arische“ Seite, um Zuckerman aufzusuchen und eine Fluchtroute durch die Kanalisation zu finden. Calel opfert sein Leben, indem er das Feuer der SS auf sich lenkt, um damit den anderen die Flucht aus dem Bunker zu ermöglichen. Calel stirbt als Held und
Kurzman, Aufstand, S. 9. Meckl, Helden, S. 51. Meckl, Helden, S. 50. Le Monde Juif, 4. Jhg., April 1949, S. 1; zit. nach Meckl, Helden, S. 50.
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Märtyrer: Mit seinem brennenden Körper umarmt er einen SS-Mann und reißt ihn so mit in den Tod. Mordechai, Mira und die anderen fliehen zusammen in einen Bunker unter dem Gebäude in der Mila-Straße 18. Die Deutschen rücken mit Flammenwerfern und Panzern vor und leiten Gas in die Bunker. In kurzer Zeit liegt alles in Trümmern, nur Rauch und Ruinen zeugen von der einstigen Existenz der Häuser und Straßen. Mordechai und die anderen sterben im Kampf.
Niederlage und Flucht Simha „Kazik“ Rotem kehrte in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1943 durch die Kanalisation ins Ghetto zurück. In der letzten Sequenz von Claude Lanzmanns Shoah sitzt er vor einem Modell des Ghettos im Museum des Kibbuz der Ghettokämpfer und berichtet davon. Er selbst habe den Deckel jenes Kanals hochgehoben, der ihn ins Ghetto zurückgeführt hatte: Es war Nacht, pechschwarze Nacht, man konnte nichts sehen, nirgendwo ein Licht, es gab nur Ruinen, eingestürzte Häuser […].²⁷⁴
Er sei durch das Ghetto geirrt auf der Suche nach seinen Freunden und Weggefährten; er habe ihre Namen gerufen, doch alles, was er vernommen habe, war eine „Frauenstimme, die aus den Trümmern aufstieg“²⁷⁵. Die Stimme sei irgendwann nicht mehr zu hören gewesen, und Rotem sei weiterhin allein durch das Ghetto gelaufen: Ja, ich war die ganze Zeit allein. […] ich bin keiner Menschenseele begegnet. Und ich erinnere mich an einen Moment, als ich so etwas wie Ruhe empfand, Heiterkeit, als ich mir sagte: ‚Ich bin der letzte Jude, ich warte auf den Morgen, ich warte auf die Deutschen.‘²⁷⁶
Siehe Rotem in Shoah (Film). Vgl. Lanzmann, Shoah, S. 265. Lanzmann, Shoa, S. 265. Lanzmann, Shoa, S. 266.
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Uprising hält sich bei Kaziks Rückkehr nah an seine Aussagen. Er hat die Dreharbeiten als Berater begleitet. Auch hier ist es Nacht, als er einem Kanalschacht entsteigt; auch hier ist das Ghetto vollkommen zerstört, Flammen züngeln aus den Ruinen hervor, Rauch steigt vom Schutt empor. Kazik sucht verzweifelt nach seinen Kameraden. Nach kurzer Zeit entdeckt ihn Tosia – Brickman und Avnet fügten der Frauenstimme einen Körper hinzu. Kazik fragt nach den anderen. Einigen sei es gelungen, so Tosia, den Deutschen zu entkommen. Mordechai, Mira und die anderen seien jedoch im Bunker gestorben. Kazik hält kurz inne und beginnt zu schluchzen: „I thought, I was the last Jew in the Ghetto.“ Am Morgen oder gegen Mittag des 8. Mai wurde die Kommandantur der ZOB, die sich im Bunker unter der Mila-Straße 18 versteckt hielt, von den Deutschen entdeckt: Dann ließen die Deutschen Gas ein, um sie zum Aufgeben zu zwingen; die meisten Mitglieder des Widerstands, darunter auch Anielewicz, nahmen sich das Leben, nur wenige konnten sich durch einen sechsten, noch unentdeckt gebliebenen Ausgang retten.²⁷⁷
Vom Selbstmord berichtet auch Rotem in Shoah: Die meisten Überlebenden aus dem Bunker haben Selbstmord begangen oder sind vergast worden.²⁷⁸
Ähnliches erzählte Edelman, der ebenfalls als Berater von Uprising fungierte: Am 8. Mai hat er [Mordechai] in der Mila erst sie [Mira] erschossen und dann sich. Jurek Wilner hat ausgerufen: ‚Wir wollen zusammen sterben!‘ Lutek Rotblat erschoß seine Mutter und seine Schwester, dann haben alle geschossen, es gab viel Geschrei und Hysterie; als wir zu ihnen durchgebrochen waren, fanden wir nur wenige am Leben, achtzehn hatten Selbstmord begangen.²⁷⁹
Ebenso beschreibt Reuben Ainsztein in seinem Widerstandsbuch den Tod der im Bunker verbarrikadierten Gruppe: „Die Ghettokämpfer beschlossen, sich selbst zu töten, um den Deutschen nicht lebend in die Hände zu fallen.“²⁸⁰ Israel Gutman hingegen räumt in The Jews of Warsaw zwar die Möglichkeit ein, dass einige der
Roth/Löw, Wahrschauer Ghetto, S. 206. Siehe Rotem in Shoah (Film). Vgl. Lanzmann, Shoah, S. 265. Edelman zit. nach Krall, Schneller, S. 14. Ainsztein, Jüdischer Widerstand, S. 348. Siehe auch Patt, Jewish Resistance, S. 423: „Arieh Wilner called up the fighters to take cyanide pills they have prepared rather than submit to the Germans; most of those in the group including Anielewicz, did so when they could no longer fight off the gas.“
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Kämpfer Selbstmord begangen haben könnten, um sich nicht den Deutschen ergeben zu müssen, kommt am Ende dennoch zum dem Schluss: Many of the leaders of the Jewish underground and architects of the last battle for Jewish Warsaw, including Mordechai Anielewicz, fell in the bunker at 18 Mila Street. We are unable to reconstruct the last moments of any of them.²⁸¹
Unerwähnt bleibt der Suizid dagegen in der Enzyklopädie des Holocaust, wo lediglich erwähnt wird, dass der Bunker in der Milastraße am 8. Mai 1943 gefallen sei und „der Stab der ZOB, einschließlich Anielewicz, […] getötet“²⁸² wurde. In Arno Lustigers Zum Kampf auf Leben und Tod!: Mit großer Bravour befehligte Anielewicz persönlich die ersten Straßenkämpfe. Er mußte sich mit seinem Stab und vielen Kämpfern in den Befehlsbunker in der Milastraße 18 zurückziehen. Der Bunker fiel am 8. Mai 1943, dem 15. Tag des Aufstandes.²⁸³
Der Selbstmord bleibt auch in Uprising unerwähnt: Weder ein Bild noch ein Wort deuten darauf hin. Dies ist umso erstaunlicher, als nicht nur Rotem über den Suizid Zeugnis abgelegt hat, sondern auch Edelman. Mangelnde Kenntnis kann somit als Ursache für die Auslassung ausgeschlossen werden. Ebenso ist ausgeschlossen, dass Avnet und der Drehbuchautor Brickman jenen diplomatischen Weg einschlagen wollten, den Israel Gutman vorgeschlagen hat: den Suizid als Möglichkeit erwähnen, jedoch zugleich auf die unsichere Quellenlage bzw. die unmögliche Rekonstruierbarkeit der letzten Momente im Bunker hinweisen. Diese Lösung wäre zum einen beinahe unmöglich cineastisch darzustellen und zum anderen haben die Filmemacher bezüglich der ähnlich umstrittenen Fahnenfrage bereits klar Stellung bezogen. Den Selbstmord nicht zu erwähnen, war eine bewusste Entscheidung, sie folgt der Logik des Films, in dessen Zentrum der Held Mordechai Anielewicz steht. Jede Abweichung der Chronologie, jede Auslassung, jede Hinzufügung und jede Veränderung bzw. künstlerische Bearbeitung der ereignisgeschichtlichen Fakten diente nicht nur der Dramaturgie, sondern der Genese dieser Heldenfigur. Ein Suizid hätte dieser Heldenfigur, die ganz in der Tradition des Hollywood-Kinos steht, nicht entsprochen. Diesbezüglich weichen Avnet und Brickman mit ihrer Interpretation von der zionistischen ab, in welcher der Selbstmord der Kommandantur sowie weiterer Mitglieder der ZOB zu einer historischen Tat stilisiert,
Gutman, Jews of Warsaw, S. 396. Gutman et al., Enzyklopädie, Band I, S. 42. Lustiger, Zum Kampf, S. 85.
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in das nationale Narrativ integriert und mit dem Massenselbstmord in Massada gleichgesetzt wird: Am 8. Mai umzingelten die Deutschen das Versteck des Hauptquartiers der ZOB. Die Zivilisten im Bunker ergaben sich, aber die ZOB-Kämpfer gruben sich ein, bereit zum Kampf gegen die Deutschen. Die Deutschen verbarrikadierten jedoch alle Eingänge und feuerten Gasgranaten in den Bunker. Im Inneren befanden sich über hundert Kämpfer. Einer von ihnen schrie: ‚Laßt uns nicht lebend in ihre Hände fallen!‘ Sie begannen einander gegenseitig zu töten, eine Szene, die dem Massenselbstmord in Massada gleichgekommen sein muß. Mordechai Anielewicz war unter ihnen.²⁸⁴
Doch die Helden Hollywoods²⁸⁵ sterben nicht durch die eigene Hand, auch dann nicht, wenn sie in Gefangenschaft geraten sind oder es keinen anderen Ausweg gibt. In dieser Hinsicht ähnelt Anielewicz aus Uprising mehr den Widerstandsund Freiheitskämpfern aus Filmen wie Spartacus (Spartacus, USA 1960), Braveheart (Braveheart, USA 1996) oder Gladiator (Gladiator, USA, GB 2000) als der historischen Persönlichkeit. Die Helden dieser Filme geraten alle am Ende des Plots in die Hände ihrer Feinde und sterben auch durch die Hand des Feindes: Spartacus (Kirk Douglas) kämpft für die Freiheit der Sklaven und stirbt am Kreuz, William Wallace (Mel Gibson) kämpft für die Unabhängigkeit Schottlands und wird öffentlich gefoltert bis er unter Qualen stirbt, Maximus Decimus Meridius (Russel Crowe) opfert sein Leben für die Restitution der Republik in Rom. Ihnen obliegt es auch, am Ende, kurz vor dem Eintreten ihres Todes, noch die letzten Worte zu sprechen: William Wallace schreit unter Qualen „Freedom“; Maximus verkündet: „There was a dream that was Rome. It shall be realized.“ In der letzten Sequenz von Uprising haben sich die wenigen Überlebenden des Aufstands in ein Waldstück zurückgezogen. Unter ihnen befinden sich Tosia, Kazik, Zivia und Yitzhak, der laut aus Mordechais letztem an ihn adressierten Brief vorliest: Fahre wohl, mein Freund! Vielleicht sehen wir uns noch wieder! Der Traum meines Lebens hat sich erfüllt. Der bewaffnete jüdische Widerstand und die Rache sind zur Tat geworden. Ich bin Zeuge wunderbaren heldenhaften Kämpfens der jüdischen Kämpfer geworden.²⁸⁶
Dawidowicz, Krieg, S. 327. Diese Art von Helden sind im Übrigen beinahe immer männlich. Weibliche Helden (bzw. Heldinnen) sind zudem meist anders konstruiert. Anielewicz, Mordechai: Letzter Brief. Abgedruckt in: Bacharach, Walter-Zwi (Hg.): Dies sind meine letzten Worte … Briefe aus der Shoah. Göttingen 2006, S. 309.
4.2 Der Aufstand im Film: Uprising und das Blow-up der Mythen
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Dieses Zitat (im Film auf Englisch) stammt aus der deutschen Übersetzung des sich im Besitz Yad Vashems befindenden Briefes Mordechai Anielewicz’. Die letzten Worte des Kommandanten sind also keine Erfindung des Drehbuchautors. Keine Quelle aus dem Umfeld der Untergrund- und Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto wurde innerhalb der Rezeptionsgeschichte des Aufstands häufiger zitiert.²⁸⁷
Heldenverehrung Helden, wie sie die Literatur und das Kino erschaffen haben, Helden wie Achilleus und Odysseus, wie Spartacus und Maximus, sind nicht nur in ihren Handlungen und Entscheidungen herausragend, sondern ihr ganzes Leben lang. Denn nur selten haben die Regisseure, Drehbuchautoren, Dichter²⁸⁸ und die Legendenerzähler sich damit zufriedengegeben, die großen Heroen als bloße menschliche Wesen anzusehen, die den begrenzten Horizont ihrer Zeitgenossen durchbrachen und mit solchen Segnungen zurückkehrten, wie sie jeder andere Mensch bei gleichem Glauben und gleichem Mut gefunden haben könnte. Im Gegenteil, die Tendenz war immer, den Helden mit außergewöhnlichen Kräften auszustatten, von Geburt oder schon von der Empfängnis an. Sein ganzes Leben wird als eine Kette von Wundern dargestellt, die im großen Abenteuer ihre Mitte und ihren Höhepunkt haben. Dies trifft zusammen mit der Anschauung, daß das Heldsein vorherbestimmt ist und nicht einfach erarbeitet, und führt auf das Problem der Beziehung zwischen Lebensgeschichte und Charakter.²⁸⁹
Dass Campbells Ausführungen auch für jene „Helden, wie sie die Geschichte […] aus Anielewicz [und Zuckerman] gemacht hat“²⁹⁰, gilt, verdeutlichen geradezu paradigmatisch die Reaktionen auf eine von Edelman stammende Anekdote aus der Kindheit Anielewicz’: ‚Seine Mutter verkaufte in Solec Fische. Wenn welche übrig blieben, mußte er rote Farbe kaufen und die Kiemen anmalen, damit sie frisch aussahen. Er war immer hungrig. Als er aus dem Kohlenrevier zu uns kam und wir ihm etwas zu essen gaben, schirmte er seinen Teller mit der Hand ab, damit ihn niemand wegnahm.‘²⁹¹
Vgl. Meckl, Helden, S. 52. Bei den genannten ‚Heldenmachern‘ handelte es sich, zumindest in der von mir getroffenen Auswahl, ausschließlich um Männer. Campbell, Heros, S. 335 – 336. Meckl, Helden, S. 69. Edelman zit. nach Krall, Schneller, S. 12.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
Besonders die Stelle mit den angemalten Kiemen der nicht mehr ganz so frischen Fische erregte die Gemüter. Damit hätte Edelman, so der Tenor einer Vielzahl von Leserbriefen, „allem die Größe geraubt“²⁹². Ein amerikanischer Schriftsteller, „Herr S.“ genannt, rief Edelman eines Tages in Warschau an: „Er habe mit Antek und Celina²⁹³ gesprochen, aber das wolle er persönlich erzählen.“²⁹⁴ Herr S., der eigenen Angaben zufolge Antek und Celina in Israel besucht hatte, berichtete, dass Antek, der Edelman seiner „Freundschaft und Hochachtung“ versichere, die Aussagen Edelmans mit wenigen Ausnahmen billige. Bezüglich der Geschichte mit den Fischen sollten sie sich jedoch auf eines einigen: „Nicht Anielewicz hat sie angemalt, sondern seine Mutter.“²⁹⁵ Anielewicz, der als Kind die Kiemen beinahe verdorbener Fische angemalt hat, hätte sich wohl kaum zum Helden geeignet. Die Helden des Aufstands mussten sowohl vor dem Aufstand Herausragendes geleistet haben als auch in der darauffolgenden Lebensphase weiterhin Außergewöhnliches vollbringen. Zu keiner Zeit war es ihnen gestattet, Schwäche zu zeigen oder sich untugendhaft zu gebärden – wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Claude Lanzmann, der für die Dreharbeiten zu seinem Film Shoah nach Israel gereist und das Kibbuz der Ghettokämpfer besucht hat, soll ein „wahre[r] Kraftakt“ gelungen sein, als er Yitzhak Zuckerman vor der Kamera ein paar Worte entlockt habe. Die Kibbuz-Führung hatte Lanzmann nämlich nur die Erlaubnis erteilt, mit Simha Rotem zu sprechen, jedoch nicht mit Antek: Wir waren in Galiläa, Kibbuz Lohamei ha-Ghettaot (Kibbuz der Ghettokämpfer), wo man weder wollte, dass ich Antek traf, noch dass ich ihn zum Reden brachte. Antek, der Held, trank, und sein Gesicht war aufgequollen vom Alkohol. Ich schätzte diesen Mann, ich mochte sein Gesicht, verstand, warum er trank, ich verabscheute die Kibbuz-Bürokraten, die nicht an der Wahrheit interessiert waren, ihre idealisierte Vorstellung beibehalten wollten, wie ein Ghettokämpfer zu sein hat, und alles taten, um Anteks Existenz zu verbergen.²⁹⁶
Zuckerman hatte nach dem Krieg mit dem Trinken angefangen. In Shoah sagt er zu Lanzmann: Wenn Sie an meinem Herzen lecken könnten, wären Sie vergiftet.²⁹⁷
Krall, Schneller, S. 20. Innerhalb der ZOB war Celina der Deckname Zivia Lubetkins und Antek der Deckname Yitzhak Zuckermans. Krall, Schneller, S. 23. Vgl. Krall, Schneller, S. 23 – 25. Lanzmann, Claude: Der patagonische Hase. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 613. Siehe Zuckerman in Shoah (Film). Vgl. Lanzmann, Shoah, S. 260.
4.3 Fazit: Wozu Helden und Märtyrer?
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Tom Segev, der mit Jael Zuckerman, der Tochter Zivia Lubetkins und Yitzhak Zuckermans, gesprochen hatte, schreibt in seinem Buch Die siebte Million, dass das legendäre Paar den „Mythos durch ihr ganzes Leben“²⁹⁸ getragen habe. Vielleicht war Antek in den letzten Jahren seines Lebens zu müde, um den Heldenmythos weiter zu tragen. Vielleicht wollte auch er, wie Edelman, kein Held mehr sein. Und vielleicht hätte auch Anielewicz, wäre er am Leben geblieben, gegen die Inszenierung und Instrumentalisierung seines Heldentums opponiert. Am Ende bleibt die Frage, ob wir noch auf Heldentum und Helden angewiesen sind. Tom Segev dürfte dem israelischen Historiker Yitzhak Arad eine ähnliche Frage gestellt haben: Und nun sagte Arad einen Satz, den ein Vorstandsvorsitzender von Yad Vashem früher nicht geäußert hätte: Seiner Ansicht nach könnte man auf den Begriff Heldentum [hervorgehoben von Segev] verzichten, denn das Wort Holocaust sei völlig ausreichend. Es beinhalte alles. In seinen Vorträgen, erzählte er mir, spreche er häufig über Heldentum und Helden; dazu zähle er nicht nur die Partisanen und Untergrundkämpfer, sondern auch die Juden in den Ghettos, die Tag für Tag um ihr Überleben kämpften und bis zum letzten versuchten, ihre Menschenwürde zu bewahren. Dadurch hätten sie die Nazis um ihr eigentliches Ziel gebracht – sie aus der menschlichen Rasse zu tilgen.²⁹⁹
4.3 Fazit: Wozu Helden und Märtyrer? Der Warschauer Ghettoaufstand gilt nicht nur als die Ikone des jüdischen Widerstands während des Holocausts,³⁰⁰ sondern dürfte auch der Grund dafür sein, dass der Begriff „Ghettoaufstand“ überhaupt existiert.³⁰¹ Für eine lange Zeit konnten andere Formen widerständigen Verhaltens nicht neben diesem Ereignis bestehen – sie verblassten in dessen Schatten.³⁰² Diese Entwicklung kann als Resultat eines eng gefassten Widerstandsbegriffs angesehen werden, der nur den bewaffneten Kampf berücksichtigt.³⁰³ Das erklärt zwar, warum andere Formen jüdischen Widerstands in der Forschung sowie der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung fanden. Es wird jedoch nicht klar, was der ausschlaggebende
Segev, Million, S. 596. Segev, Million, S. 583. Vgl. Roth, Widerstand, S. 15. Vgl. Bender, Mythos, S. 331. Vgl. Löw, Andrea: Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus. In: APuZ, 64. Jahrgang, 27 (2014), S. 25 – 31, hier: S. 25. Vgl. Roth, Widerstand, S. 15. Vgl. Löw, Widerstand und Selbstbehauptung, S. 25. Vgl. Roth, Widerstand, S. 15.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
Grund dafür war, dass gerade der Warschauer Ghettoaufstand zu einer Ikone erhoben wurde und nicht etwa die Revolte des sogenannten Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, der Kampf der Bielski-Partisanen oder andere Widerstandsbemühungen in den Ghettos und Konzentrationslager in den besetzten polnischen Gebieten. Im Krakauer Ghetto führten Jüdinnen und Juden einen Guerillakampf gegen die deutschen Besatzer³⁰⁴, in Bialystok sowie in etwa 50 weiteren kleineren und größeren Ghettos im besetzten Polen stellten sie bewaffnete Widerstandsgruppen zusammen. Nicht nur in Polen entstanden in den letzten Kriegsjahren Untergrund- und Widerstandsbewegungen, sondern auch in Litauen: Im Ghetto Kaunas fanden diesbezüglich bereits im Oktober 1941 erste Gespräche statt, in Wilna wurde am 21. Januar 1942 die Vereinigte Partisanenorganisation gegründet.³⁰⁵ Widerstandsbemühungen und Aufstände gab es auch in mehreren Konzentrationslagern, z. B. in Treblinka am 2. August 1943 oder in Sobibor am 14. Oktober 1943. Was macht die Revolte der Warschauer Juden im Vergleich zu anderen Aktivitäten so besonders? Die Historikerin Sara Bender konstatiert, dass der Warschauer Ghettoaufstand insofern einzigartig gewesen sei, weil er die größte Rebellion in der Besatzungszeit in Europa war, die von Juden organisiert und durchgeführt wurde. Nicht nur in den Kriegsjahren machte er enormen Eindruck; er fand Eingang in das Pantheon der Heldentaten des 20. Jahrhunderts als ein Ereignis, das eine deutliche Spur in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs hinterließ – als ein jüdisches Ghetto, das sich in eine umkämpfte Festung verwandelte und sich gegen deutsche Truppen in einer Schlacht verteidigte.³⁰⁶
Bender zufolge dürften also Umfang und Erfolg des Unternehmens für dessen Kategorisierung maßgeblich gewesen sein. Doch wie und an was lässt sich der Erfolg eines Aktes des bewaffneten Widerstands bemessen? Und wie dessen Größe? Die Bielski-Partisanen lebten und kämpften rund zwei Jahre lang in den Wäldern, wo sie einen halbwegs sicheren Ort für mehr als 1.200 Juden geschaffen hatten. Wäre dies nicht ein Beispiel für Größe und Erfolg? Die SonderkommandoHäftlinge von Auschwitz-Birkenau sprengten unter den denkbar schwierigsten Bedingungen ein Krematorium und leisteten für wenige Stunden bewaffneten
Vgl. Roth, Markus: Jüdischer Guerillakampf. Der bewaffnete Widerstand in Krakau. In: Schoeps, Julius H., Bingen, Dieter & Botsch, Gideon (Hg.): Jüdischer Widerstand in Europa (1933 – 1945). Formen und Facetten, Berlin 2016, S. 56 – 69. Vgl. Dieckmann, Christoph: Bewaffnete jüdische Untergrund- und Widerstandsbewegungen. Litauen 1941– 1944. In: Einsicht 09, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2013, S. 28 – 34. Bender, Mythos, S. 343.
4.3 Fazit: Wozu Helden und Märtyrer?
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Widerstand gegen die SS – und das alles in einem hermetisch abgeriegelten Vernichtungslager. Warum fanden sie nicht auch „Eingang in das Pantheon der Heldentaten des 20. Jahrhunderts“? Vielleicht weil Umfang und Erfolg bezüglich des jüdischen Widerstands vor dem Hintergrund des Holocaust keine maßgeblichen Kriterien für die Einordnung der Widerstandsakte darstellen. Was den Warschauer Ghettoaufstand innerhalb der Erinnerungsgeschichte des Holocaust so bedeutend machte, war weniger dessen Größe als vielmehr die Art, wie er dargestellt wurde. Im Zuge der Rezeption und Repräsentation des Aufstands im Warschauer Ghetto wurde eine bestimmte Semantik und Erzählweise etabliert, auf die, wie wir am Beispiel des Spielfilms Uprising gesehen haben, noch in heutigen Darstellungen zurückgegriffen wird. In diesen Erzählungen – deren Ursprünge in den Zeugnissen der ZeugInnen zu finden sind – kämpften die Jüdinnen und Juden im Ghetto nicht für ihre Freiheit oder für das Überleben, sondern für die „jüdische Ehre“. Nicht das Überleben stand im Vordergrund, sondern das „richtige“ bzw. symbolhafte, „ehrenvolle Sterben“.³⁰⁷ Die Revolte sollte als Argument gegen den Mythos der jüdischen Passivität fungieren: Er sollte bezeugen, dass die Juden nicht wie „Schafe zur Schlachtbank“ gegangen seien.³⁰⁸ Doch das Resultat dieser und ähnlicher Bemühungen war letztendlich nicht die angestrebte Aufklärung über die Gegenstandslosigkeit des Passivitätsvorwurfs per se und dessen anschließender Dekonstruktion, sondern vielmehr die Substitution eines alten durch einen neuen identitätsstiftenden Mythos, der in nationale Narrative integriert und instrumentalisiert wurde. Dieser Mythos sollte nun beweisen, dass die Helden und Märtyrer nicht nur für sich und ihre Zeit gekämpft, gelitten und sich geopfert haben, sondern für nachfolgende Generationen sowie die Erschaffung eines Staates. Sind diese Mythen aus heutiger Sicht noch notwendig? Welchen Umgang sollten wir als Historikerinnen und Historiker mit ihnen pflegen? Wie mit ihnen verfahren? Brauchen wir noch Helden und Märtyrer? Die HistorikerInnen – und dies unterscheidet sie von den Filmschaffenden – verfügen über das Handwerk, die Zeugnisse, in denen die Mythen Gestalt angenommen haben, einer gründlichen Quellenkritik zu unterziehen. Sie müssen in vollem Bewusstsein um die Situationen und des Kontextes, in denen sie entstanden sind, hinterfragt und dekonstruiert werden. Damit handeln wir nicht gegen unsere Verantwortung gegenüber den ZeugInnen und ihren Erinnerungen, sondern vielmehr in ihrem Sinne. Aber wie sollten Filmemacher wie Jon Avnet – mit ihrem Anspruch auf eine
Vgl. Patt, Jewish Resistance, S. 394. Vgl. Patt, Jewish Resistance, S. 393 – 394.
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4 Uprising: Der Weg der Mythen
wie auch immer geartete authentische Rekonstruktion der Geschichte des Ghettos – mit den Zeugnissen, Dokumenten und historiographischen Darstellungen verfahren? Sollten sie nicht ähnlich vorgehen wie HistorikerInnen, wenn sie schon den Anspruch erheben, ihre Filme seien als Beiträge „zu einer quellenfundierten Geschichtsrekonstruktion“³⁰⁹ zu verstehen? Damit würden sie jedoch die Möglichkeiten, welche die Fiktion eröffnet, vergeben. Denn die Fiktion braucht nichts zu beweisen, wie Georg Seeßlen konstatiert. Bestenfalls eröffnet sie neue Möglichkeiten, indem sie sich dorthin wagt, wo die Logik und Dokumente nicht hinreichen. Doch eine Erzählweise, heißt es im Anschluss, „in der nicht zwischen Geschichte und Fiktion unterschieden wird, darf man mythologisierend nennen“³¹⁰. Ganz gleich welchen Anspruch auf Authentizität RegisseurInnen, DrehbuchautorInnen oder ProduzentInnen auch immer erheben, ihre Filme werden stets fiktionale Schöpfungen bleiben. In diesem Sinne stellen sie weniger quellenbasierte Rekonstruktionen als vielmehr Interpretationen der Geschichte dar. Und genau hier befinden sich die Möglichkeiten, die Avnet und sein Team entweder nicht nutzen konnten oder wollten. Denn anstatt den Versuch zu unternehmen, mit den Mitteln und Zugängen der Fiktion die Leerstellen zu beleuchten, erschufen sie ein cineastisches Denkmal für Helden und Märtyrer. Sie hätten stattdessen versuchen können, die Gefühle der KämpferInnen auszuloten; ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihren Zorn. Uprising stellt damit weder den Versuch einer Geschichtsrekonstruktion noch einer Geschichtsinterpretation dar, denn er liefert weder neue relevante Erkenntnisse noch eine eigenständige Deutung. Die vielen kleinen und größeren Abweichungen und Veränderungen der zeitgeschichtlichen Abläufe und Zusammenhänge dienen einzig der Restauration eines Mythos, welches die neuere Forschung, wie Meckls Analysen verdeutlichen, mit wissenschaftlicher Akribie vorsichtig zu dekonstruieren sucht. Dieser Film kann daher nur als ein weiterer Beitrag zur Mythologisierung der Geschichte des Warschauer Ghettoaufstands betrachtet werden.
Bösch, Film, S. 25. Seeßlen, Das faschistische Subjekt, S. 52.
5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte Long is the way and hard, that out of Hell leads up to light. (John Milton) Es hat mich sehr berührt, dieser … dieser … Abstellen! (Filip Müller)
Um die Mittagszeit des 7. Oktober 1944 müssten in Auschwitz-Birkenau zuerst Schreie und Schüsse zu hören und anschließend schwarzer Rauch zu sehen gewesen sein.¹ Im Hof vor dem Krematorium IV² waren zuvor einige Häftlinge des sogenannten jüdischen Sonderkommandos mit Äxten, Eisenstangen und Steinen auf eine kleine Gruppe von SS-Männern losgegangen, kurz darauf war das Krematoriumsgebäude in Brand gesetzt worden. Der aufsteigende Rauch alarmierte die Sonderkommando-Häftlinge am Krematorium II; überstürzt bewaffneten sie sich mit zuvor gehorteten Messern und Handgranaten. Nach zwölf Stunden schlug die SS die Revolte des Sonderkommandos von Birkenau, die „von vornherein zum Scheitern verurteilt“³ war, nieder. In dieser Zeit wurden drei SS-Männer getötet, ein Krematorium brannte nieder. Die Revolte kostete 452 Häftlingen⁴ das Leben: Etwa 250 Männer wurden auf dem Hof des Krematoriums IV während der Revolte erschossen, mehr als 100 wurden beim Versuch zu fliehen ermordet und all jene, die nach der Niederschlagung noch am Leben waren, wurden durch Genickschüsse hingerichtet, während sie in Reihen mit dem Gesicht am Boden lagen. Die Revolte in Birkenau war gescheitert oder (vorsichtiger ausgedrückt) von wenig Erfolg gekrönt, weil zum einen, anders als bei den Aufständen in den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka, keinem der Häftlinge bei diesem Anlass die Flucht aus dem Lager gelungen war. Zum anderen hatte die Revolte
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2016, S. 619. Die von mir verwendete Nummerierung der Gaskammern folgt der alten Nummerierung, in welcher das Krematorium im Stammlager als Nummer I und die vier Krematorien in Birkenau mit II – V bezeichnet wurden. In den Aussagen vieler Sonderkommando-Häftlinge, die sich hauptsächlich auf die Krematorien in Birkenau beziehen, wurde jedoch die neue Nummerierung verwendet: Krematorien I – IV. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 621. Vgl. Greif, Gideon & Levin, Itamar: Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen „Sonderkommandos“ am 7. Oktober 1944. Köln 2015, S. 10. https://doi.org/10.1515/9783110604726-006
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keine Auswirkungen auf den Verlauf der Massenvernichtung: Das zerstörte Krematorium IV war bereits „seit Mai 1943 außer Betrieb gewesen“⁵. Die SS nutzte für den letzten „tödlichen Schub“⁶ die übrigen Anlagen und ermordete bis zum Ende des Herbstes 1944 noch mehr als 40.000 Männer, Frauen und Kinder. Allerdings, so argumentieren Gideon Greif und Itamar Levin, dürfe der „Aufstand des Sonderkommandos nicht mit normalen Maßstäben“⁷ gemessen werden. Denn der Ort (an dem er stattgefunden hat) unterscheidet sich von anderen Orten des nationalsozialistischen Terrors: Innerhalb des „Todesplaneten“⁸ Auschwitz bildeten die vier Krematorien von Birkenau einen eigenen Kontinent. Darauf gefangen, verrichteten die Sonderkommando-Häftlinge jeden Tag die ihnen aufgezwungene „grauenerregende Arbeit“⁹: Sie beseitigten die durch die SS in den Gaskammern ermordeten Menschen. „An diesem Ort“, so Greif und Levin weiter, an dem die Lebenserwartung in Tagen gemessen wurde und der Wert des Menschenlebens gleich Null war, stellte dieser Aufstand einen Sieg des Geistes über diejenigen dar, die alle existierenden menschlichen Werte verachteten, einen Sieg der Moral über diejenigen, die die bestialische Natur zu ihrem Ziel wählten.¹⁰
Inwiefern die Bewertung und Einordnung des Aufstands durch Greif und Levin zutrifft, wird sich am Ende – bestenfalls bereits im Zuge – der Analyse herausstellen. Warum wurde dem Aufstand trotz seiner besonderen Bedeutung bislang der „ihm gebührende Platz weder im öffentlichen Bewusstsein noch in der Forschungsliteratur“¹¹ zugesprochen? Dafür gibt es zwei Gründe: die Überlieferung und die Rezeption. Obschon es sich um ein relativ kurzes Ereignis handelt und dieses „in einem überschaubaren Raum“¹² stattgefunden hat, lässt es sich nur schwer überblicken: Weder konnte der genaue Zeitpunkt des Ausbruchs bestimmt noch die beteiligten Häftlinge identifiziert werden – ihre Namen sind zum größten Teil noch unbekannt.¹³ Es fehlt schlicht an Quellen, denn zum einen haben von den Häftlingen, die am Aufstand beteiligt gewesen waren und davon hätten berichten können, nur sehr wenige überlebt, zum anderen sind keine schriftlichen
Wachsmann, Konzentrationslager, S. 622. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 622. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 10. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1993, S. 54. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11.
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Dokumente der Lager-SS über den Aufstand erhalten geblieben.¹⁴ Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Aussagen der wenigen überlebenden Sonderkommando-Häftlinge, die den Aufstand als Augenzeugen erlebt haben, „sich in bestimmten Punkten widersprechen“¹⁵. Damit bleiben detaillierte Fragen bezüglich der Organisation, Planung, Beteiligung und Durchführung unbeantwortet, und dies erschwert die genaue Rekonstruktion. Der zweite Grund dafür, dass der Aufstand von Birkenau relativ unbekannt¹⁶ geblieben ist, könnte auf seine mangelnde Erzählbarkeit zurückzuführen sein. Im Gegensatz zum Warschauer Ghettoaufstand, der die Revolte in Auschwitz-Birkenau an Größe und Umfang bei weitem übertraf, eigneten sich die aufständischen Sonderkommando-Häftlinge weniger zu Helden und Märtyrern, weil sie nicht für ein höheres Ideal – für die Bewahrung ihrer Ehre oder Würde – kämpfen und sterben wollten. Ihr Widerstand konnte dadurch womöglich weniger gut mit Sinn ausgestattet werden. Die Geschichte des Ghettoaufstands war (und ist) in dieser Hinsicht erzählbarer. Die Revolte des Sonderkommandos dürfte sich hingegen vermutlich weniger zu einem identitätsstiftenden Mythos eignen und ließe sich womöglich schwerer in nationale Narrative einfügen. Zur Geschichte des Warschauer Ghettos sowie des Aufstands sind in den vergangenen siebzig Jahren eine Vielzahl von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Spielfilmen erschienen. Die Anzahl der belletristischen Literatur und der Filme, die sich mit dem Sonderkommando befassen, sind hingegen äußerst überschaubar: ein Theaterstück und zwei Spielfilme. Gleich zwei der Werke haben wir Tim Blake Nelson zu verdanken.¹⁷ Mit The Grey Zone schrieb er das erste Stück über das Sonderkommando, ein Jahrzehnt später adaptierte er es für die Leinwand. Nelson versuchte Erinnerungen und Empfindungen der ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge sichtbar zu machen; den Wahnsinn, die Angst, kurz: die ganze Brutalität eines Systems, das den Menschen mit Gewalt jegliche Würde absprechen wollte. Für die ZuschauerInnen des Spielfilms The Grey Zone, die vor der Leinwand oder vor dem Bildschirm sitzen, sind diese Empfindungen nicht nachfühlbar, die Erfahrungen der Häftlinge nicht erfahrbar; das kann der Film nicht leisten. Aber vielleicht ermöglicht dieser Film seinem Publikum, zu erahnen
Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 11– 12. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 12. Der Aufstand findet in vielen historiographischen Werken über Auschwitz Erwähnung, jedoch meist nur am Rande. Detailliertere Beschreibungen fehlen (mit wenigen Ausnahmen) in den meisten Darstellungen. Bei dem zweiten genannten Spielfilm handelt es sich um Son of Saul (Saul fia, H 2015, R: László Nemes). Die ungarische Produktion wurde 2016 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
oder nachzuvollziehen, um was für einen Ort es sich gehandelt haben muss, den die SS dort in Birkenau erschaffen hatte. Und vielleicht wird dadurch verständlich, unter welch extremen und außergewöhnlichen Bedingungen die Revolte des Sonderkommandos stattgefunden hat. Im Gegensatz zu Jon Avnet füllt Tim Blake Nelson seinen Film mit Menschen, nicht mit Mythen. Damit führt er uns noch einmal vor Augen, was Yitzhak Arad zu Tom Segev bezüglich des Heldentums vor dem Hintergrund des Holocaust gesagt hat: nämlich, dass der Begriff Holocaust bereits alles enthält und man auf das Heldentum verzichten könne.
5.1 Das Sonderkommando und die Historiographie der Konzentrationslager „Als ich jetzt sah, wie meine Landsleute tapfer, stolz und entschlossen in die Gaskammer gingen, fragte ich mich, was für einen Wert das Leben für mich haben könnte, selbst wenn es mir gelingen sollte, durch ein Wunder hier herauszukommen.“¹⁸ In der Nacht des 8. März 1944 beschloss Filip Müller, in der Gaskammer zu sterben.¹⁹ Eine Wahl und ein Wille waren dieser Entscheidung vorausgegangen: Die Wahl zwischen Leben und Sterben und der Wille, diese getroffene Wahl auch umzusetzen. Den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungslager, den Opfern der Gaskammern, blieb jedoch genau genommen keine Wahl; auch jenen Menschen nicht, die in dieser Nacht von der SS auf den Hof des Krematoriums von Auschwitz-Birkenau getrieben worden waren.²⁰ Es handelte sich dabei um die aus Theresienstadt deportierten Familien, die in Auschwitz-Birkenau im Lagerabschnitt B II b untergebracht waren; im sogenannten Theresienstädter Familienlager.²¹ Filip Müller, der am 13. April 1942 „mit
Müller, Filip: Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz. Hg. von Helmut Freitag. München 1979, S. 178. Vgl. Müller, Sonderbehandlung, S. 168. Vgl. Müller, Sonderbehandlung, S. 169. Zwischen September 1943 und Mai 1944 wurden in acht Transporten, die sich auf drei Wellen verteilten, 17.517 jüdische Frauen, Kinder und Männer aus Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Innerhalb dieser zehn Monate starben Tausende eines „natürlichen“ Todes – d. h. an Hunger, Arbeit, Folter und den Lebensbedingungen im Lager. Alle diese Menschen waren zu der Zeit abgeschirmt im „Familienlager“ untergebracht. Im März wurden 3.972 und im Juli 6.500 in den Gaskammern ermordet. Am Ende erlebten von den aus Theresienstadt Deportierten nur 1.167 die Befreiung von Auschwitz – das waren nur „6,6 Prozent aller Theresienstädter Häftlinge, die das Tor des Familienlagers in Birkenau durchschritten hatten“.Vgl. Karny, Miroslav:
5.1 Das Sonderkommando und die Historiographie der Konzentrationslager
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einem Transport slowakischer Juden“²² in Auschwitz angekommen und im darauffolgenden Monat dem Sonderkommando zugeteilt worden war, arbeitete am 8. März 1944 im Krematorium II.²³ In dieser Nacht befand er sich im Entkleidungsraum des Krematoriums, wo sich die Männer, Frauen und Kinder des „Familienlagers“ in vollem Bewusstsein darüber, was sie in dem als Gemeinschaftsdusche getarnten Raum erwartete, entkleideten. Und während sie sich auszogen, begannen sie zu singen: zuerst die „tschechoslowakische Nationalhymne“ und anschließend die „Hatikvah“.²⁴ In diesem Augenblick beschloss Müller, freiwillig mit den anderen ins Gas zu gehen. Denn das Leben hatte für ihn jeden Wert verloren; eine Rückkehr in das alte Leben wurde zur Unmöglichkeit. In der Gaskammer bemerkten die anderen jedoch schnell, dass er nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Dadurch wurde er gezwungen, sich zu erklären und seine Entscheidung zu rechtfertigen: Plötzlich drängten sich einige entblößte Mädchen um mich, alle in blühendem Alter. Sie standen eine Zeitlang vor mir, ohne ein Wort zu sagen, und schauten mich an, in Gedanken versunken. […] Schließlich faßte eines der Mädchen sich ein Herz und sprach mich an: ‚Wir haben erfahren, daß du mit uns zusammen in den Tod gehen willst. Dein Entschluß ist vielleicht verständlich, aber er ist nutzlos, denn er hilft keinem. […] Wir müssen sterben, aber du hast noch eine Chance, dein Leben zu retten. Du mußt ins Lager zurück und dort allen von unseren letzten Stunden berichten‘, herrschte sie mich in einem geradezu befehlenden Ton an. […] ‚Und du, wenn du vielleicht die Tragödie hier überlebst, erzähle allen, jedem, dem du begegnest, wie es uns ergangen ist.‘²⁵
Die „Mädchen“, so erinnert sich Müller später, drängten ihn zur Tür der Gaskammer. Er sollte überleben und berichten; Zeugnis ablegen. Einige SS-Offiziere bemerkten ihn an der Tür und zerrten ihn unter Knüppelschlägen heraus.²⁶ „Seltsam, der Wille zu leben, durchströmte mich wieder.“²⁷ Müller überlebte Auschwitz, und er berichtete: Als Zeuge sagte er im Frankfurter Auschwitz-Prozess aus²⁸, gehörte mit Abraham Bomba, Rudolf Vrba und Richard Glazar zu den wichtigsten Protagonisten von Claude Lanzmanns Shoah und veröffentlichte 1979
Das Theresienstädter Familienlager (BIIb) in Birkenau. In: Hefte von Auschwitz, Heft 20 (1997), S. 133 – 237, hier: S. 133 – 134. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 44. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 44. Vgl. Müller, Sonderbehandlung, S. 175. Müller, Sonderbehandlung, S. 179. Vgl. Müller, Sonderbehandlung, S. 180. Müller, Sonderbehandlung, S. 180. Vgl. Langbein, Hermann: Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation. 2 Bde., Frankfurt am Main 1965, Bd. 1, S. 86 ff.
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mit seinen Erinnerungen „die erste vollständige und authentische Darstellung der Vorgänge in den Krematorien von Auschwitz durch einen Augenzeugen“²⁹. Jahrzehntelang wurde diese Geschichte „nicht von den Historikern, sondern von den Häftlingen geschrieben“³⁰; von Überlebenden wie Bomba, Vrba, Glazar oder Müller. Und diese Geschichte ist „meistenteils keine erhebende Erzählung vom Triumph des menschlichen Geistes, sondern eine von Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit“³¹. Dies gilt insbesondere für die Geschichte der Sonderkommandos, die sich beinahe ausschließlich aus den Aussagen, Berichten und Erinnerungen ehemaliger Häftlinge oder anderer ZeugInnen des Holocaust – wie z. B. bei Primo Levi, Ruth Klüger³², Wieslaw Kielar³³ oder Rudolf Vrba ³⁴ – rekonstruieren lässt. Alle diese Menschen „verbindet bis heute das Gefühl der Verpflichtung, im Namen der Ermordeten Zeugnis abzulegen“³⁵. In der deutschsprachigen NS- und Holocaust-Historiographie wurde dem Sonderkommando lange Zeit kaum Beachtung geschenkt, obschon die Existenz dieser Kommandos vielen ForscherInnen bekannt gewesen sein muss, denn die ersten Erinnerungen ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge waren bereits 1946 veröffentlicht worden.³⁶ Anfang der 1970er Jahre wurde eine Sammlung mit transkribierten Handschriften³⁷ ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge veröffentlicht.³⁸ Abgesehen Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 44. Herbert, Ulrich, Orth, Karin & Dieckmann, Christoph: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: Herbert, Ulrich, Orth, Karin & Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band I, Frankfurt am Main 2002, S. 17– 40, hier: S. 19. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 27. Vgl. Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend, München 2009, S. 136 – 137. Vgl. Kielar, Wieslaw: Anus Mundi. Fünf Jahre Auschwitz. Frankfurt am Main 2009, S. 13. Vgl. Vrba, Rudolf: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. Frankfurt am Main 2010, S. 201 ff. In Vrbas Erinnerung wird auch Filip Müller erwähnt. Distel, Barbara: Das Zeugnis der Zurückgekehrten. Zur konfliktreichen Beziehung zwischen KZ-Überlebenden und Nachkriegsöffentlichkeit. In: Herbert, Ulrich, Orth, Karin & Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band I. Frankfurt am Main 2002, S. 11– 40, hier: S. 11. Vgl. Bendel, Paul: Les crematoires. „Le Sonderkommando“. Temoignages sur Auschwitz, (ed. de l’Amicale des Deportes d’ Auschwitz). Paris 1946. Nyiszli, Miklós: Dr. Mengele boncoloorvosa voltam az Auschwitz-i krematoriumban. Debrecen 1946. Hierbei handelt es sich um handschriftliche Aufzeichnungen von fünf SonderkommandoHäftlingen, die zwischen 1945 und 1980 auf dem ehemaligen Krematoriumsgelände gefunden und ausgegraben wurden. Unter ihnen befanden sich die Aufzeichnungen von Lejb Langfuß, Salman Gradowski und Salman Lewenthal. (vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 75 – 76 und S. 99.) Bezwinska, Jadwiga & Czech, Danuta (Hg.): Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. Oswiecim 1996. Bei dem zitierten Titel handelt es sich um die überarbeitete und aktualisierte Ausgabe.
5.1 Das Sonderkommando und die Historiographie der Konzentrationslager
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von autobiographischen Schriften ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge³⁹, die auch in Deutschland veröffentlicht wurden, ihren Aussagen vor Gericht⁴⁰ (oder vor der Kamera⁴¹) und einzelnen Studien, die im Ausland erschienen⁴² waren, suchte man hierzulande vergeblich nach wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Das änderte sich erst Anfang/Mitte der 1990er Jahre. Gideon Greif gehörte zu den ersten HistorikerInnen, die sich im deutschsprachigen Raum um eine Aufarbeitung der Geschichte des Sonderkommandos bemühten. 1992 veröffentlichte er ein Interview, das er mit dem ehemaligen Sonderkommando-Häftling Josef Sackar geführt hatte.⁴³ 1998 erschien dann Greifs Aufsatz über die „moralische Problematik“ des Sonderkommandos in einem Band zur Entwicklung und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager⁴⁴ – im selben Band ging Wolfgang Sofsky in seinen Betrachtungen über die „Perspektiven der KZ-Forschung“ kurz auf das Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge⁴⁵ ein. Ein Jahr darauf veröffentlichte Greif einen ganzen Band mit Interviews ehemaliger Sonderkommando-Häftlinge⁴⁶. Zwei Jahre später folgte Greifs Dissertation „Das Kommando im Inferno“. ⁴⁷ 2002 erschien mit Zeugen aus der Todeszone eine sorgfältig erarbeitete und quellenreiche Monographie über die Geschichte der Sonderkommandos von Birkenau, verfasst von Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian.⁴⁸ In den darauffolgenden Jahren erschienen mehrere wissenschaftliche Aufsätze und Monographien zum Sonderkomman-
Müller, Sonderbehandlung. Nyiszli, Miklós: Im Jenseits der Menschlichkeit. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz. Hg. von Friedrich Herber, Berlin 2005. Cohen, Leon: From Greece to Birkenau. The Crematoria Workers Uprising. Tel Aviv 1996. Venezia, Shlomo: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz. Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden. München 2008. Vgl. Langbein (Hg.), Der Auschwitz-Prozeß. Siehe Shoah (Film). Gertner, Shaje: Sonderkommando in Birkenau. In: Anthology of Holocaust Literature. Hg. von Jacob Glatstein, Israel Knox & Samuel Marghoshes, Philadelphia 1969, S. 141– 147. Cohen, Nathan: Diaries of the Sonderkommandos in Auschwitz: Coping with Fate and Reality. In: Yad Vashem Studies, 20 (1990), S. 273 – 312. Greif, Gideon: Interview with Joseph Sackar: Belev Hagehinom. In: Eduth No. 7, January 1992. Greif, Problematik. Vgl. Sofsky, Wolfgang: An der Grenze des Sozialen. Perspektiven der KZ-Forschung. In: Herbert, Ulrich, Orth, Karin & Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band II. Frankfurt am Main 2002, S. 1141– 1169. Greif, Augenzeugenberichte. Vgl. Greif, Gideon: „Das Kommando im Inferno“. Geschichte, Image und Problematik des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz- Birkenau 1940 – 1945. Wien 2000. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen.
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do.⁴⁹ In der Zwischenzeit fand das Sonderkommando auch in größeren Untersuchungen⁵⁰ und Gesamtdarstellungen⁵¹ Erwähnung – wenn auch nur am Rande. Gideon Greif und Itamar Levin richteten mit ihrer jüngsten Publikation zum Sonderkommando, Aufstand in Auschwitz, ihr Augenmerk auf die Revolte vom 7. Oktober 1944.⁵²
5.2 Die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos Am Abend des 9. Dezember 1942 betrat der wegen seines Sadismus gefürchtete SSHauptscharführer Otto Moll zusammen mit seinen SS-Männern eine Baracke, in der sich Lejb Langfus befand, der drei Tage zuvor nach Auschwitz deportiert und an der Rampe von seiner Familie getrennt worden war.⁵³ Moll eröffnete Langfus und den anderen Häftlingen, dass er ein paar kräftige Männer für die Fabrikarbeit suche. Er ließ die Häftlinge vortreten und traf seine Wahl: 300 Männer. Dass sie in Wirklichkeit für den Einsatz im sogenannten jüdischen Sonderkommando von Birkenau ausgesucht worden waren, konnte keiner dieser Männer ahnen. Sie konnten auch nicht wissen, dass „zur gleichen Zeit die Leichen ihrer Vorgänger –
Vgl. Rieger, Else: „… aber ihr seid nicht besser als wir“. Überlegungen zur Stellung der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz. In: Moller, Sabine, Rürup, Miriam & Trouvé, Christel (Hg.): Abgeschlossene Kapitel? Zur Geschichte der Konzentrationslager und der NS-Prozesse. Tübingen 2002, S. 118 – 133. Kilian, Andreas: „… so dass mein Gewissen rein ist und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.“ „Handlungsräume“ im Sonderkommando Auschwitz. In: Gabriel, Ralph, Mailänder Koslov, Elissa, Neuhofer, Monika & Rieger, Else (Hg.): Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Tübingen 2004, S. 119 – 139. Zürcher, Regula Christina: „Wir machten die schwarze Arbeit des Holocaust“. Das Personal der Massenvernichtungsanlagen von Auschwitz. Nordhausen 2004. Greif, Gideon: Between Sanity and Insanity: Spheres of Everday Life in the Auschwitz-Birkenau Sonderkommando. In: Petropolous, Jonathan & Roth, John K. (Hg.): Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath, New York/Oxford 2005, S. 37– 60. Berenbaum, Michael: Sonderkommando: Testimony from Evidence. In: Petropolous, Jonathan & Roth, John K. (Hg.): Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath. New York/ Oxford 2005, S. 61– 69. Vgl. Piper, Franciszek: Auschwitz. 1940 – 1945. Studien zur Geschichte des Konzentrationsund Vernichtungslagers Auschwitz. Band III: Vernichtung. Oswiecim 1999, S. 213 – 236. Vgl. Königseder, Angelika: Sonderkommandos. In: Benz, Wolfgang & Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München 2007, S. 152– 153. Siehe hierzu die Rezension von August, Jochen: Aufstand des Sonderkommandos in Birkenau, in: Einsicht 15. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (Frühjahr 2016), S. 62– 63. Vgl. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 365.
5.2 Die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos
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des ersten Birkenauer Sonderkommandos –, ermordet nach einer Reihe von Fluchtversuchen, im alten Krematorium verbrannt wurden“⁵⁴. Und was die von Moll ausgewählten Männer erst recht nicht wissen konnten, war, dass ihnen das gleiche Schicksal bevorstand wie den vorherigen Kommandos. Als unmittelbare Zeugen der Massenvernichtung durfte keiner von ihnen überleben. Aus diesem Grund wurden die Männer der Sonderkommandos in der Regel nach drei Monaten hingerichtet. Zwischen 1942 und 1945 wurden insgesamt über 2.100 Häftlinge für den Einsatz in den Sonderkommandos selektiert – oft direkt nach der Deportation. Es sollten nur 100 von ihnen überleben.⁵⁵ Ihre Arbeit bestand in der „vollständigen Beseitigung der Leichen“⁵⁶ aus den Gaskammern. Die ersten Sonderkommandos kamen ab Mai 1942 im Bunker 1, welcher als das „Rote Haus“ bezeichnet wurde, zum Einsatz. Im Juni 1942 begann der Einsatz im Bunker 2, dem „Weißen Haus“. Hierbei handelte es sich um ehemalige Bauernhäuser, die zu Gaskammern umgebaut worden waren.⁵⁷ Bunker 1 wurde im Frühjahr 1943 abgerissen, Bunker 2 war bis Februar 1943 in Betrieb und nahm diesen erneut von Mai bis Herbst 1944 auf.⁵⁸ Beide Bunker befanden sich in Birkenau, an dem Ort, an dem auch die vier neuen Krematorien (Krematorien II-V) entstanden und im Frühjahr 1943 in Betrieb genommen wurden. Die vier neuen Krematorien standen mitten in einem kleinen Wald; daher rührte die Bezeichnung „Waldkrematorien“. Nach Berechnungen der SS sollten in diesen Gebäuden innerhalb von 24 Stunden insgesamt „bis zu 1.536 Menschen“ ermordet werden können – „das heißt 768 pro Gaskammer“.⁵⁹ Die Erfindung der Sonderkommandos bezeichnet Primo Levi in seinem erstmals 1986 in Die Untergegangenen und die Geretteten publizierten Essay Die Grauzone als „das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus“⁶⁰ und macht damit auf das ausweglose moralische Dilemma⁶¹ der Mitglieder aufmerksam: Die Sonderkommandos wurden zum größten Teil von Juden gestellt. Das ist insofern nicht verwunderlich, als das hauptsächliche Ziel der Konzentrationslager gerade die Vernichtung der Juden war. […] Dennoch ist man fassungslos angesichts dieses Paroxysmus von Hin-
Wachsmann, Konzentrationslager, S. 365. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 7. Greif und Levin rechnen für den Zeitraum zwischen 1941 und 1945 mit über 3.000 Sonderkommando-Häftlingen (Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz). Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 8. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 25. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 25. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 51– 52. Levi, Die Untergegangenen, S. 52. Vgl. Greif, Problematik.
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terhältigkeit und Haß: Juden mußten es sein, die die Juden in die Verbrennungsöfen transportierten, man mußte beweisen, daß die Juden, die minderwertige Rasse, die Untermenschen, sich jede Demütigung gefallen ließen und sich sogar gegenseitig umbrachten.⁶²
Levi wusste, dass nicht das Sonderkommando für das Töten in der Gaskammer verantwortlich war, sondern ausschließlich die Lager-SS.⁶³ Das Sonderkommando wurde jedoch gezwungen, für einen ‚reibungslosen‘ Verlauf der Vorgänge unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Mord durch Zyklon B zu sorgen. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte es, die deportierten Menschen in eigens von der SS eingerichtete Umkleideräume zu begleiten und sie während der Entkleidung zu beruhigen. Es mussten Juden sein, die – und das war ein weiteres Kalkül der SS – diese Aufgaben erledigten, weil die Deportierten ihnen eher ihr Vertrauen schenkten, als dem deutschen Lagerpersonal. Dieses Vertrauen machte es leichter, die Opfer in Ruhe zu wiegen und sie schließlich ohne ‚Zwischenfälle‘ in die Gaskammern zu führen bzw. sie durch das Sonderkommando führen zu lassen. Anschließend schlossen SS-Männer die schweren Türen und schütteten oberhalb der Kammern die Zyklon B-Kristalle in die dafür vorgesehene Öffnung. Nach dem Massenmord wurden die Türen wieder geöffnet. Nun begannen die von der SS als „Schlepper“ bezeichneten Häftlinge des Sonderkommandos, die Leichen herauszutragen. Shaul Chasan, der dieser Gruppe angehörte, erzählte später: Und wir holten die Leichen mit dem Stock heraus, denn anders war das gar nicht möglich. Infolge der Vergasung waren die Leichen wie mit Klebstoff aneinander gekettet. Ununterbrochen zogen wir Leichen aus der Kammer. Als die Gaskammer allmählich leerer wurde, hatten wir etwas mehr Spielraum. Wir gossen Wasser auf den Betonfußboden, damit er glatter zum Zerren der Leichen wurde.⁶⁴
Anschließend wurde der Raum gereinigt und ggf. neu angestrichen. Die Leichen wurden zuerst zu den „Friseuren“ gebracht, die ihnen die Haare abschnitten, danach zogen die „Zahnärzte“ die Goldzähne. Und nachdem „die Leichen auf diese Weise geschändet waren“⁶⁵, brachten sie die „Schlepper“ zu den „Heizern“, die sie in die Verbrennungsöfen, die sich oberhalb der Gaskammern befanden, schoben. Die Asche wurde anschließend in die Sola gekippt. Das Gelände der Krematorien war durch Zäune vom restlichen Lager getrennt. Die Häftlinge des Sonderkommandos lebten und arbeiteten völlig isoliert in den Krematorien; jeglicher Kontakt zu anderen Häftlingen des Lagers war ihnen un-
Levi, Die Untergegangenen, S. 50. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 8. Shaul Chasan zit. nach Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 47. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 49.
5.2 Die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos
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tersagt.⁶⁶ Sie verfügten über besondere Privilegien: Sie erhielten genug Nahrung und Kleidung, wurden ärztlich versorgt, hatten Duschen und Toiletten, Decken, Kissen und Betten. Zusätzlich hatten sie Zugang zu Alkohol, Zigaretten und Betäubungsmitteln, die ihnen die Realität der Krematorien erleichtern sollte.⁶⁷ Primo Levi zögert jedoch in Anbetracht ihrer Aufgaben, von Privilegien zu sprechen: „Wer zu ihnen gehörte, war nur insoweit privilegiert […], als er für ein paar Monate ausreichend zu essen bekam, und gewiß nicht, weil er zu beneiden gewesen wäre“⁶⁸. In der Regel blieben den Häftlingen, nachdem sie für den Einsatz in einem Sonderkommando selektiert worden waren, nur wenige Monate zu leben, denn die SS führte regelmäßig Liquidationen durch und ersetzte alte Häftlinge durch neue.⁶⁹ Innerhalb des „verwickelte[n] und vielschichtige[n] Mikrokosmos“⁷⁰ der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager bewohnten die Sonderkommando-Häftlinge einen Ort, an dem die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß zuweilen verwischten. Einen Ort, den Levi als die „Grauzone“ bezeichnet.⁷¹ Ihr ordnete Levi all jene Häftlinge zu, „die in einem bestimmten Umfang, vielleicht sogar in guter Absicht, mit den offiziellen Stellen kollaboriert haben“⁷². Dazu zählten auch die sogenannten Funktionshäftlinge („Kapos“ oder Bockälteste“). Die Männer der Sonderkommandos bildeten innerhalb der „Grauzone“ jedoch aufgrund ihrer außergewöhnlichen Situation einen „Grenzfall der Kollaboration“⁷³. Bereits während seiner Gefangenschaft vernahm Levi „vage, verstümmelte Gerüchte“⁷⁴, die später von den wenigen erhaltenen Quellen bestätigt wurden. Aber, so Levi weiter, das mit diesen Lebensbedingungen verbundene Grauen hat allen Zeugnissen eine Art Zurückhaltung aufgezwungen. Deshalb ist es auch heute noch schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, ‚was es heißen wollte‘, gezwungen zu sein, über Monate hin diese Tätigkeit auszuüben.⁷⁵
Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 7. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 64– 65. Levi, Die Untergegangenen, S. 48. Vgl. Kilian, Gewissen, S. 122– 124. Levi, Die Untergegangenen, S. 16 – 17. Vgl. Levi, Die Untergegangenen, S. 17. Levi, Die Untergegangenen, S. 17. Levi, Die Untergegangenen, S. 48. Levi, Die Untergegangenen, S. 51. Levi, Die Untergegangenen, S. 51.
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Niemand sei daher dazu berechtigt über diese „Unglücksmenschen“⁷⁶ zu „Gericht zu sitzen“⁷⁷. Ähnlich fordert auch Gideon Greif in einem erstmals 1998 veröffentlichten Aufsatz, dass die „Sonderkommando-Häftlinge in Auschwitz […] nicht einseitig verurteilt werden [dürften]“⁷⁸. Schließlich dürfe nicht vergessen werden, dass sie gegen ihren Willen zu „Helfer[n] und Diener[n] der SS“⁷⁹ geworden waren. Tim Blake Nelson, der durch Die Untergegangenen und die Geretteten auf das Schicksal des Sonderkommandos aufmerksam geworden war⁸⁰, wählte den von Levi geprägten Begriff als Titel für sein Theaterstück und seinen später entstandenen Film. Bewegt von der Frage nach dem moralischen Dilemma der Männer des Sonderkommandos, schrieb er in den Jahren 1994/1995 sein Theaterstück The Grey Zone. Einige Jahre nach der erfolgreichen Aufführung in New York adaptierte Nelson den Stoff für die Leinwand. Sein gleichnamiger Film startete im Oktober 2002 in den Vereinigten Staaten von Amerika und feierte schließlich am 27. Januar 2005 (pünktlich zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz) in Deutschland seine Premiere.
5.3 Die Vermessung der Grauzone Tim Blake Nelson wusste um die Kontroversen, die sein Film auslösen würde – oder er konnte es zumindest ahnen. In der Einführung seiner Director’s Notes versucht er daher seinen Kritiker zuvorzukommen: „I am not a scholar, a historian, or even an aesthetic theorist.“⁸¹ Er sei Filmemacher und als ebendieser habe er sich der historischen Vorlage angenommen. „I point this out“, so Nelson weiter, to assure the skeptical reader that the film The Grey Zone, and this book along with it, does not pretend to be a historical document. Rather, it’s meant to strike at the essence of the predicament faced by the Sonderkommandos, those unluckiest of the death camp inmates offered the most impossible bargain humanity could propose to itself.⁸²
Levi, Die Untergegangenen, S. 51. Levi, Die Untergegangenen, S. 58. Greif, Problematik, S. 1025. Greif, Problematik, S. 1024. Nelson, Tim Blake: Interview. DVD-Extras von „Die Grauzone“ (The Grey Zone). Regie: Tim Blake Nelson. Millenium Films, Killer Films, The Goatsingers, USA 2001. DVD: Legend Home Entertainment, Universum Film 2005. Nelson, Tim Blake: The Grey Zone. Director’s Notes and Screenplay. New York 2003, S. ix. Nelson, Director’s Notes, S. ix.
5.3 Die Vermessung der Grauzone
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Das Anliegen des Regisseurs speiste sich aus dem Wunsch, dem Publikum das Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge näherzubringen. Sie in eine Situation zu versetzen, in welcher sie mit Fragen konfrontiert werden, die ihnen das moralische Dilemma dieser Männer vor Augen führt: „[…] how would I respond? What would I do to save my own life? How far would I go in sacrificing my own morality? My own ideal of myself? Would I help kill to stay alive?“⁸³ Nelson, der sich diesem Stoff Anfang der 1990er zum ersten Mal widmete, suchte nach Wegen, um die Unmöglichkeit der Vermittlung zu überwinden und die Erfahrungen der Männer des Sonderkommandos den ZuschauerInnen zugänglich zu machen. Hierfür machte er sich die Möglichkeiten und Freiheiten der Fiktion zunutze: Er fügte den ereignisgeschichtlichen Fakten etwas hinzu und dachte (bzw. trieb) sie weiter. Seine Vermessung der Grauzone – zuerst auf der Bühne und anschließend auf der Leinwand – begann übrigens zu einer Zeit, in der die großen Studien und Bücher von Gideon Greif, Eric Fiedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian noch nicht vorlagen.⁸⁴ In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass viele der Erkenntnisse, die aus der künstlerischen Verarbeitung Nelsons gewonnen werden können (wie noch zu zeigen sein wird), Parallelen zu den Schlussfolgerungen der Forschung aufweisen.
5.3.1 Theater der Andeutungen Am 10. Januar 1996 wurde Nelsons Drama über das Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau auf der Bühne des MCC Theaters in New York City uraufgeführt⁸⁵ und kurz darauf im New York Magazine lobend erwähnt: „[…] it still takes courage to write poetry, fiction, or drama about this hardest of subjects, not to mention judiciousness and taste. It is to Tim Blake Nelson’s considerable credit that his terse, spartan play, The Grey Zone, comes very close to total success.“⁸⁶ The Grey Zone ist ein strenges und karges Stück in zwei Akten (elf Szenen im ersten und sieben im zweiten Akt). Seine Kargheit reicht von der Ausstattung bis hin zu den Dialogen, die überwiegend aus kurzen, prägnanten und prunklosen Sätzen bestehen, deren schnelle Abfolge für ein hohes Tempo sorgt. Diese scheinbar schlicht komponierten und schnell getakteten Dialoge lassen an den new realism denken – eine in den 1970er Jahren entstandene Gattung des ame-
Nelson, Director’s Notes, S. ix. Siehe Forschungsüberblick zum jüdischen Sonderkommando in Kapitel 5.1. Nelson, Tim Blake: The Grey Zone. New York 1998, S. 4. Simon, John: Reliving Auschwitz. In: New York Magazine, 29 (1996) 7, S. 60.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
rikanischen Dramas.⁸⁷ Die Dramatiker dieser Stilrichtung – wie etwa David Mamet, Sam Shepard und David Rabe – bedienten sich „eines Realismus, der gleichsam gefiltert [war] durch den Geist der Postmoderne“⁸⁸. Doch im Gegensatz zu den bekannten Vertretern des new realism konfrontiert The Grey Zone sein Publikum nicht mit einer Realität, die ihm „zwar vertraut ist, gleichzeitig aber auf eine unheimliche Weise fremd bleibt“⁸⁹, sondern mit einer unvorstellbaren, fremden Welt, die zugleich real und surreal erscheint. Während sich die Komposition und der Rhythmus der Dialoge am new realism – insbesondere an der Sprache David Mamets – zu orientieren scheinen, hält sich die Struktur an die aristotelischen Vorgaben für die griechische Tragödie: „Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung“⁹⁰ und die Einheit von Ort und Zeit. Das Drama spielt an einem einzigen Tag im Herbst 1944 in einem Krematorium des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. The Grey Zone ist ein Ensemble-Stück ohne Gewichtung auf nur einen Protagonisten oder Antagonisten. Im Mittelpunkt stehen die fiktiven Sonderkommando-Häftlinge Abramowics, Hoffman, Rosenthal und Schlermer sowie die der Wirklichkeit entlehnten, jedoch fiktionalisierten Figuren Dr. Miklós Nyiszli, SS-Oberscharführer Erich Muhsfeldt und SS-Hauptscharführer Otto Moll. Zwei Ereignisse bestimmen den Verlauf der Handlung: der bevorstehende Aufstand des Sonderkommandos⁹¹ und die Rettung eines Mädchens aus der Gaskammer⁹². Doch weder die Rettung noch der Aufstand werden auf der Bühne gezeigt; sie finden off-stage statt. Die LeserInnen bzw. ZuschauerInnen erfahren davon lediglich aus den Dialogen und Berichten der Charaktere. Am Ende schlägt die SS den Aufstand nieder und tötet die daran beteiligten Sonderkommando-Häftlinge.⁹³ Erneut verzichtet Nelson auf eine Darstellung auf der Bühne. Lediglich die Protagonisten des Stücks erzählen davon. Die Handlung wird erneut in den Dialogen nur angedeutet. Die Geschichte wird dadurch zu einem dunklen Raunen im Hintergrund. Nur zwei Taten finden physisch auf der Bühne statt: erstens der Tod eines alten Sonderkommando-Häftlings durch die Hand eines anderen Mitglieds des Kommandos zu Beginn⁹⁴ und zweitens die Hinrichtung des zunächst geretteten Mädchens durch Moll gegen Ende des Stücks.⁹⁵
Vgl. Müller, Kurt: Das amerikanische Drama. Eine Einführung. Berlin 2006, S. 126 – 127. Müller, Das amerikanische Drama, S. 126. Müller, Das amerikanische Drama, S. 126. Aristoteles: Poetik. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 25. Nelson, The Grey Zone, S. 16 – 21 und S. 23 – 25. Nelson, The Grey Zone, S. 25 – 29. Nelson, The Grey Zone, S. 48 – 51. Nelson, The Grey Zone, S. 7.
5.3 Die Vermessung der Grauzone
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In der letzten Szene des letzten Akts lässt Nelson die Ermordeten wieder zu Wort kommen und rückt das Stück damit ins Surreale. Die Toten berichten vom Fortgang der Ereignisse und von ihrem Tod. Rosenthal kommt zu Beginn des Aufstands ums Leben, er verbrennt im Feuer des explodierenden Krematoriums III: „For nearly a minute I feel myself on fire, and in spite of the pain, it never leaves my mind that I deserve this – that this is what I want.“⁹⁶ Schlermer erzählt davon, dass einige im Chaos der Revolte zu fliehen versuchten, jedoch scheiterten, und er spricht von seiner Ermordung durch einen SS-Mann: „He kills me with a knife, though a pistol would be quicker, and he has one.“⁹⁷ Hoffmann denkt noch immer an das gerettete Mädchen aus der Gaskammer. Er erzählt davon, wie die SS ihn und die anderen zwangen, sich ins Gras zu legen, mit dem Gesicht zu Boden: And they begin the killing – a bullet to the back of the neck. No one speaks, and there are no screams. A steady rhythm of single shots. I keep thinking of her. I believe in ghosts, and since she doesn’t visit me, I’m convinced the Doctor has saved her, and this is the happiest moment of my life.⁹⁸
Die LeserInnen bzw. ZuschauerInnen wissen längst, dass das Mädchen nicht überlebt hat. Ihr gewährt Nelson die letzten Worte des Stücks: „After the revolt, half of the ovens remain, and I catch fire quickly. […] The first part of me rises in dense smoke that mingles with the smoke of others.“⁹⁹ Sie berichtet davon, wie ihre Knochen zermalmt, ihre Asche mit der Asche der anderen vermischt wird und sich winzige Teile dieser Asche auf die übriggebliebenen SonderkommandoHäftlinge legen, die an den Öfen arbeiten müssen: „And this is how the work continues.“¹⁰⁰ Der Übergang ins Surreale ist für das Drama des new realism nicht ungewöhnlich. Sam Shepards Stücke, die in den ländlichen Gegenden des US-amerikanischen Mittleren Westens angesiedelt sind und traditionelle amerikanische Mythen thematisieren und dekonstruieren, enthalten beispielsweise „meist einen realistischen Handlungskern, der aber nach und nach ins Surrealistische, Phantastische oder Expressionistisch-Visionäre verfremdet wird“¹⁰¹. Shepard, der seine ersten Theatererfahrungen im New Yorker Experimentiertheatermilieu gesam-
Nelson, The Grey Zone, S. 49. Nelson, The Grey Zone, S. 49. Nelson, The Grey Zone, S. 50. Nelson, The Grey Zone, S. 50. Nelson, The Grey Zone, S. 50 – 51. Nelson, The Grey Zone, S. 51. Müller, Das amerikanische Drama, S. 127.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
melt hat¹⁰², bedient sich der surrealistischen Verfremdung, um „nicht nur das Bewusstsein, sondern auch das Unbewusste“¹⁰³ anzusprechen. Die emotionale Wirkung, die beim Publikum auf diese Weise erzielt wird (oder erzielt werden kann), unterscheidet sich von jener, die durch „Einfühlung“ erreicht werden kann, wie Bertolt Brecht es in seinen Schriften zum Theater formuliert: Die Einfühlung ist ein Grundpfeiler der herrschenden Ästhetik. Schon in der großartigen ‚Poetik‘ des Aristoteles wird beschrieben, wie die Katharsis, d. h. die seelische Läuterung des Zuschauers, vermittels der Mimesis herbeigeführt wird. Der Schauspieler ahmt den Helden nach (den Oedipus oder den Prometheus), und er tut es mit solcher Suggestion und Verwandlungskraft, daß der Zuschauer ihn darin nachahmt und sich so in Besitz der Erlebnisse des Helden setzt.¹⁰⁴
Anstelle der Einfühlung empfiehlt Brecht die „Verfremdung“, die er wie folgt definiert: „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“¹⁰⁵ Doch was soll damit im Gegensatz zur Einfühlung gewonnen werden? Die Verfremdung, so Brecht, rühre nicht nur an den Gefühlen der ZuschauerInnen, sondern spreche auch die Vernunft an und erschaffe dadurch ein Ineinanderwirken von Emotionen und Rationalität. Das Publikum werde in die Lage versetzt, zu erkennen, dass „dieser Mensch […] so und so [ist], weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist“¹⁰⁶. Damit solle erreicht werden, so Brecht weiter, „daß der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt“¹⁰⁷. Dieses Theater „versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal zu versöhnen“, sondern „legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff“¹⁰⁸. Das surrealistische Ende des Stücks The Grey Zone erzeugt einen ähnlichen Verfremdungseffekt: Indem Nelson Rosenthal, Schlermer, Hoffman und das Mädchen aus der Wirklichkeit des Stücks herausholt und sie in einem unwirkli-
Müller, Das amerikanische Drama, S. 141. Müller, Das amerikanische Drama, S. 127. Brecht, Bertolt: Über experimentelles Theater. In: Brecht, Bertolt: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag, Sechster Band, Schriften. Frankfurt am Main 1997, S. 403 – 421, hier: S. 415. Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6 (S. 19). Brecht, Experimentelles Theater, S. 418. Brecht, Experimentelles Theater, S. 418 – 419. Brecht, Experimentelles Theater, S. 419. Brecht, Experimentelles Theater, S. 419.
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chen, surrealen Setting in einem eher sachlichen Ton von ihrem eigenen Tod und dem weiteren Verlauf der Ereignisse in Auschwitz-Birkenau berichten lässt, erzeugt er eine analytische Distanz zwischen ZuschauerInnen (bzw. LeserInnen) und der Handlung sowie der Charaktere. Der Verfremdungseffekt dieses Stücks ist auch daher so wirkungsvoll, weil der durch die Verwendung surrealer Einschübe erzeugte Bruch mit dem realistischen Handlungskern am Ende so deutlicher sichtbar wird. Denn bis zu diesem Bruch wirkt die Handlung von The Grey Zone beinahe dokumentarisch. Ein Effekt, der von Nelson auch so intendiert ist, schließlich basiert sein Stück auf historischen Dokumenten und Opferberichten, die in der Leseausgabe des Dramas sogar auf den ersten Seiten aufgeführt werden.¹⁰⁹ Das zentrale Dokument bilden (wie bereits erwähnt) die Aufzeichnungen des Sonderkommando-Häftlings und Pathologen Dr. Miklós Nyiszli. Nelson hat daraus zentrale Passagen herausgegriffen und fiktionalisiert, wie sogleich die erste Szene des ersten Akts, die im Folgenden näher untersucht wird, belegt. In der Unterkunft des Sonderkommandos liegt ein alter Mann bewusstlos in seinem Bett. Ein oder mehrere Häftlinge müssen den Arzt Dr. Nyszli gerufen haben, der sich über den Mann beugt und ihn wiederzubeleben versucht. Dabei wird er von Rosenthal und Schlermer beobachtet. Beide machen Nyszli darauf aufmerksam, dass es der Wunsch des alten Mannes war zu sterben: Rosenthal: Nyiszli: Rosenthal: Nyiszli: Rosenthal: Nyiszli:
If he wanted. That’s not my concern. What does your concern have to do? Move over please. He told us he was going to – obviously… I mean anyone. Even about our own lives. Especially. Now there’s no point arguing. (He gives the Old Man a shot. The Old Man stirs.) You see? Done.¹¹⁰
Nach der Spritze kommt der alte Mann wieder zu Bewusstsein. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen erinnert sich der reale Nyiszli an diesen Abend: Im Krematorium IV habe ich heute eine ernste Aufgabe. Ein Heizer des Sonderkommandos hat eine größere Menge Luminal eingenommen, um sein Leben zu beenden. […] Seine Frau und die zwei Kinder kamen in der Stunde ihrer Ankunft ins Gas. […] Die um das Bett herumstehenden Kameraden bitten mich still, den Kapitän seinen Weg gehen zu lassen. Bliebe er am Leben, wäre das nur eine Verlängerung seiner seelischen Qualen, vor denen er fliehen wollte. […] Als sie sehen, daß ihre Argumente bei mir nicht wirken und ich ihm eine Spritze
Vgl. Nelson, The Grey Zone, S. 5. Nelson, The Grey Zone, S. 7.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
gebe, werden einige böse und äußern sich mit harten Worten über meine Lebensrettungsabsichten. Ich lasse sie allein.¹¹¹
Soweit hielt sich Nelson an die Vorlage Nyiszlis. Was jedoch darauf folgt, ist reine Erfindung: Rosenthal: Nyiszli: Schlermer: Rosenthal:
Hold him. Hold him. What? Max. Hold him! (Schlermer holds Nyiszli. Rosenthal takes a pillow and smothers the Old Man. The Old Man fights for air.) Easy now, old friend. Easy. (Nyiszli struggles to save the Old Man, but is held by Schlermer.) Hold him. Shhh. Shhh. (Lights fade.)¹¹²
Mit dieser Szene weicht Nelson stark von der Vorlage ab. In seinen Erinnerungen verlässt Nyiszli die Unterkunft, und mit keinem Wort wird darin erwähnt, dass ein anderer Sonderkommando-Häftling den alten Mann mit einem Kissen erstickt habe: Wenn der Kapitän keine Lungenentzündung bekommt, wird er in vier, fünf Tagen wieder hergestellt sein. Er wird noch einige Wochen Koks schaufeln und so das Feuer anfachen unter den Körpern seiner gequälten, gehetzten, in den Gastod geschickten Brüder. Und wenn der letzte Tag des Sonderkommandos kommt, wird auch er in der Reihe stehen. Eine Salve, und blutig wird er zwischen seine Kameraden stürzen, in den Augen eine Mischung aus Angst und Verwunderung. Jetzt, da ich nicht mehr vor ihm stehe und sein leidendes Gesicht nicht mehr an mein ärztliches Ich appeliert, gibt mein menschliches Ich seinen Gefährten völlig recht. Ich hätte ihn gehen lassen sollen auf dem selbstgewählten Weg, der nicht vor die kalten Rohre der Maschinengewehre führt…¹¹³
In der Übertreibung der wahren Ereignisse sucht Nelson nach einer Erklärung für die unerklärbare Situation der Sonderkommando-Häftlinge. Zu Beginn des Stücks haben die ZuschauerInnen noch keine Ahnung, warum ein Häftling einen anderen erstickt oder warum der alte Mann bewusstlos in seinem Bett liegt. Die Erklärung liefert Nelson erst am Ende der dritten Szene des zweiten Aktes. In einem Monolog, der eher einer Beichte gleicht, erzählt ein anderer SonderkommandoHäftling, Hoffman, warum sich der alte Mann das Leben nehmen wollte. Diese Beichte legt er bei dem Mädchen ab, das er und die anderen SonderkommandoHäftlinge kurz zuvor gerettet hatten:
Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 78 – 79. Nelson, The Grey Zone, S. 7. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 79.
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There was this old man who was one of the stokers, and on our first day when he had to burn our convoy his wife was brought up on the elevator, and then both of his children. I knew him. We were neighbors. I knew he was standing there burning his family. He didn’t say a word. He just kept working. Two weeks later he took pills – they’re easy to get hold of. And I found out and I ran for the Doctor, and the Doctor saved him. And they say that was wrong and smothered him with his own pillow.¹¹⁴
Indem Nelson das Publikum mit einer extremen Situation konfrontiert, ihm zugleich Informationen vorenthält und eine Erklärung verweigert, räumt er den ZuschauerInnen die Möglichkeit ein, selbst nach einer Deutung für die Handlung der Häftlinge zu suchen. In seinem 1998 veröffentlichten Aufsatz über Die moralische Problematik der „Sonderkommando“-Häftlinge schreibt Greif: „Man muss versuchen, die Grenzen der moralischen Welt derer zu verstehen, die physisch dem Zentrum des Todes am nächsten waren – einem Ort, an dem die Deutschen alle humanitären Werte außer Kraft gesetzt hatten.“¹¹⁵ Diesen Versuch unternahm Nelson, als er sich daran machte, die Erinnerungen Nyiszlis in Fiktion umzuwandeln und damit sowohl den Zeugen selbst als auch sein Zeugnis zu inszenieren. Die Fragen, die er dabei aufwarf (zuerst im Stück und später im Film), zielten auf den Kern der von Levi beschriebenen Grauzone, „in der die Grenze zwischen Zwang und Schuld, Beihilfe und Widerstand zu verschwimmen scheint“¹¹⁶.
5.3.2 Kino des Ausgeliefertseins Im Anschluss an den Erfolg seines Theaterstücks wagte Nelson nach eigenen Angaben noch gar nicht an eine Adaption für das Kino zu denken.¹¹⁷ Sein Drama, in welchem kaum etwas gezeigt, sondern vielmehr nur angedeutet wird, funktionierte nur auf der Bühne. Für einen Film fehlten ihm die cineastischen Bilder. Erst nach seiner Mitwirkung als Schauspieler in Terrence Malicks Der Schmale Grat (The Thin Red Line, USA 1998) wurde ihm allmählich klar, wie er sein Stück so umsetzten müsste, damit es als Film funktioniert.¹¹⁸ Offenbar hat ihn die Arbeit Malicks für die Wirkungsmacht filmischer Bilder sensibilisiert.Vielleicht erkannte er im Handwerk des amerikanischen Regisseurs, dass der Film zuweilen mit der Malerei mehr gemein hat als mit der Schrift. Das lässt sich am Werk Malicks, der
Nelson, The Grey Zone, S. 44. Greif, Problematik, S. 1027. Greif, Problematik, S. 1155. Nelson, Interview. Siehe Nelson, Interview.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
in Hollywood zuweilen als der „Film-Poet“¹¹⁹ des amerikanischen Kinos bezeichnet wird, besonders gut beobachten. Martin Scorsese – ein anderer Regisseur des „New Hollywood“¹²⁰ – sagte über Malicks In der Glut des Südens (Days of Heaven, USA 1978), dass man „jedes einzelne Bild nehmen und an die Wand hängen“¹²¹ könnte. Mit diesem Film war Malick „ein hinreißendes Porträt des Mittleren Westens der USA“¹²² gelungen, dessen Ausdruckskraft sehr stark an die Bilder der beiden großen amerikanischen Maler des Regionalismus, Thomas Hart Benton und Grant Wood, erinnert. Abgesehen von einer ästhetischen Wirkung, ist die Verwendung von bildlichen Vorlagen, wie Natalie Zemon Davis in ihrem Aufsatz über Strategien zur Herstellung filmischer Authentizität (in Hinblick auf Gemälde des 18. Jahrhunderts) hingewiesen hat, ein wichtiges „Element des gängigen Diskurses über Authentizität im Film“¹²³. Um Bilder zu erschaffen, die es vermögen, die Realität der Krematorien in einem bestimmten Maße widerzugeben, musste Nelson auf bereits vorhandene, reale Bilder aus dem Lager und dem Ort der Vernichtung zurückgreifen. Von solchen Bildern existieren nur wenige. Überliefert sind beispielsweise vier Fotografien, die im August 1944 von einem SonderkommandoHäftling mit einem geschmuggelten Fotoapparat gemacht wurden.¹²⁴ Diese Fotos wurden aus dem Krematorium heraus gemacht, sie zeigen dementsprechend nur einen Ausschnitt aus dem Außenbereich. Die wenigen Bildern, die das Innere der Krematorien zeigen, stammen ebenfalls von den Opfern, es handelt sich dabei jedoch um Zeichnungen, wie etwa jene des Sonderkommando-Häftlings David Olère, der sie 1945 aus seinen Erinnerungen anfertigte.¹²⁵ Michaels, Lloyd: Terrence Malick. Urbana 2009, S. 78. Vgl. Michaels, Terrence Malick, S. 2. Scorsese, Martin: New York, New York – The Last Waltz – Raging Bull – The King of Comedy. In: Thompson, David & Christie, Ian (Hg.): Scorsese über Scorsese. Frankfurt am Main 1998, S. 107– 139, hier: S. 134. Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 115. Davis, Ähnlichkeit, S. 42. Die Aufnahmen waren nicht nur wichtig für die Vorbereitung des Aufstandes im Oktober 1944, sondern bildeten selbst einen Akt des Widerstands. Bei dem Fotografen handelte es sich (wahrscheinlich) um Alberto Errera, der im April 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und als „Heizer“ dem Sonderkommando des Krematoriums V (IV) zugeteilt wurde. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Aus dem Dunkel heraus. Brief an László Nemes. Wien 2017, S. 10. Die Veröffentlichung der Fotografien löste Anfang der 2000er Jahre eine heftige Kontroverse aus. Näheres zu den Fotografien und den Kontroversen siehe: Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München 2007. Siehe: Oler, Alexandre & Olère, David: Vergessen oder Vergeben. Bilder aus der Todeszone, Springe 2012.
5.3 Die Vermessung der Grauzone
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Olère wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert und kurz nach seiner Ankunft dem Sonderkommando zugeteilt.¹²⁶ Neben seiner Arbeit im Kommando musste er „spezielle Dienstleistungen für die SS“ erbringen: Als ausgebildeter Zeichner und Maler zeichnete er „alles, was die SS bei ihm bestellte“¹²⁷. Olère überlebte und schuf nach seiner Befreiung „ein einzigartiges Werk: Aus dem Gedächtnis fertigte er Zeichnungen, in denen das schreckliche Universum der Vernichtungsanlagen oftmals bis in das kleinste Detail präzise festgehalten ist“¹²⁸. Die Zeichnungen erzählen mit einer fast „dokumentarische[n] Genauigkeit“¹²⁹ von den verschiedenen Stationen des massenhaften Mordens und dem Weg der Opfer von der Rampe bis hin zu ihrer Ermordung in den Gaskammern und der endgültigen Vernichtung ihrer Körper in den Krematorien. Olères Bilder zeigen die Arbeit, die das Sonderkommando verrichten musste und suggerieren die Gewalt, der die Häftlinge ständig ausgesetzt waren. Im Hinblick auf Francis Bacons Triptychon Drei Studien für eine Kreuzigung bemerkt Wolfgang Sofsky, dass das Bild die Gewalt nicht darstelle, sondern suggeriere.¹³⁰ „Der Maler suggeriert die Gewalt, indem er das Opfer zeigt, nicht die Täter, auch nicht die Tat.“¹³¹ Ähnliches schreibt auch Michael Haneke in Bezugnahme auf Gewalt im Film: „Das statische Bild zeigt im allgemeinen das Resultat einer Tat, der Film die Tat selbst.“¹³² Um seine These zu belegen, greift Haneke auf zwei Beispiele zurück: Picassos Guernica, ein Gemälde, das das Resultat der Gewalt abbildet, und Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (Apocalypse Now, USA 1979), ein Film, der in dem „mit Wagners Walkürenritt unterlegten Gemetzel“¹³³ von der Tat erzählt. Betrachten wir die Lichtgestaltung und Farbgebung sowie die Wahl der Kameraeinstellungen und Mise en Scéne in jenen Sequenzen des Films The Grey Zone, die im Krematorium spielen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass Nelson Olères Zeichnungen gekannt hat. Und es könnte durchaus möglich sein, dass diese Bilder die Arbeit des Regisseurs, die Ästhetik seines Films beeinflusst haben. Nelson war von Beginn an bestrebt, unter Verwendung von „natürlichen“ Lichtquellen und speziellen unbeschichteten Kameralinsen, ausgeblichene körnig-milchige Bilder zu erzeugen. Damit sollte eine kalte und unsentimentale At-
Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 203. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 203. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 204. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 204. Vgl. Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt. Frankfurt am Main 2005, S. 65. Sofsky, Traktat, S. 66. Haneke, Michael: Gewalt und Medien. In: Haneke, Michael: Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer. Berlin 2008, S. 155 – 163, S. 156. Haneke, Gewalt und Medien, 156 – 157.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
mosphäre geschaffen werden.¹³⁴ „This film is fast“, so Nelson über die Gestaltung seines Werks, „not mournful; cold, not sentimental. It will rarely be still; it won’t soften or overtly stylize. We must feel, dizzingly, that we’re entirely inside the experience of these men.“¹³⁵ Dieser „harte“ Realismus des Films – „hard realism“¹³⁶, wie Nelson es selbst beschreibt wurde durch den Einsatz von Handkameras in zuweilen klaustrophobisch engen Räumen noch verstärkt. Anscheinend hat Nelson dabei den nüchternen „dokumentarischen Stil“ Olères in seinen Film übersetzt. Nelson und der Kameramann Russell Lee Fine entwickelten im Zuge der Produktion eine Bildsprache, die auch später in Stefan Ruzowitzkys Spielfilm Die Fälscher (A 2007) verwendet wurde. Clemens Neuenfels, der Kameramann von Ruzowitzkys Film, wollte ähnlich wie Nelson¹³⁷ keinen überstilisierten Film wie Schindlers Liste drehen.¹³⁸ In einem Interview äußerte sich Neuenfels diesbezüglich mit folgenden Worten: „Was mich interessierte, war eher, was ich psychologischen Dokumentarismus nennen würde. Eine moderne Form, eine Ästhetik der absichtlich entwickelten Fehlerhaftigkeit.“¹³⁹ Ruzowitzky und Neuenfels nutzen Handkameras und ließen die Räume mit natürlichen Lichtquellen ausleuchten.¹⁴⁰ Kameramann Neuenfels versuchte dabei „realistischen Dreck“¹⁴¹ zu erzeugen, der die Bilder des Grauens nicht „über-ästhetisiert“. Mit der Konstruktion dieses „dreckigen Realismus“ erweiterten Filme wie Die Fälscher oder The Grey Zone die „Ikonographie des Grauens“¹⁴². Nelsons Konzept des „hard realism“ umfasst auch den Ton bzw. das Sounddesign des Films. Der Regisseur verzichtete weitgehend auf die Verwendung von (extradiegetischer) Musik. Eine atmosphärische Stille beherrscht beinahe den gesamten Film. Diese Stille wird zuweilen von Schüssen erschüttert. Bei der Gestaltung des Tons griff Nelson auf die Zeugnisse von Überlebenden zurück: „Any
Vgl. Nelson, Director’s Notes, S. 163 – 164. Nelson, Director’s Notes, S. 163 – 164. Nelson, Director’s Notes, S. 163 – 164. Vgl. Nelson, Director’s Notes, S. 163 – 164. Vgl. Neuenfels, Clemens & Kappert, Ines: „Realistischen Dreck reinbringen“. Wie filmt man ein Konzentrationslager? Was zeigt man, und wie zeigt man es? Ein Gespräch mit dem Kameramann Clemens Neuenfels über seine Arbeit für den Spielfilm „Die Fälscher“ und sein Konzept des „psychologischen Dokumentarismus“. In: Die Tageszeitung, 22. März 2007, S. 13. Neuenfels/Kappert, Dreck, S. 13. Vgl. Neuenfels/Kappert, Dreck, S. 13. Neuenfels/Kappert, Dreck, S. 13. Seeßlen, Georg: Die Seele im System. Roman Polanskis „Der Pianist“ oder: Wie schön darf ein Film über den Holocaust sein? In: DIE ZEIT, 44 (2002). http://www.zeit.de/2002/44/ 200244_pianist.xml (5. November 2016).
5.3 Die Vermessung der Grauzone
143
personel account of the Auschwitz experience […] addresses the sound of the place, from the constant barking of dogs, to the smatter of revolver shots, to the screaming of orders, to the crack of whips, to the wails of the dying, bereaved, or beaten.“¹⁴³ In den Krematoriumsräumen von The Grey Zone ist das konstante Brummen der Ventilatoren zu hören. Von diesem dumpfen Ton wird oft in den Zeugnissen der ehemaligen Sonderkommando-Häftlinge berichtet. So heißt es bei Nyiszli: „Man hört das Brummen der Elektromotoren – also sind die riesigen Ventilatoren eingeschaltet, die das Feuer der Öfen bis zur notwendigen Temperatur entfachen.“¹⁴⁴ Auch Shlomo Venezia (der in seinem Bericht über die Arbeit im Sonderkommando den Massenmord in den Gaskammern beschreibt) konnte sich an diesen Ton erinnern: „Während zwanzig Minuten hörte man lautes Brummen, wie bei einer Maschine, die Luft ansaugt.“¹⁴⁵
5.3.3 Bilder und Töne der Gewalt In Bildern und Tönen erzählt The Grey Zone von der Arbeit des Sonderkommandos sowie von der Gewalt, die deren Mitglieder ständig umgab. Dabei geht der Film über die Andeutungen des Theaterstücks hinaus und stellt die dort bloß suggerierten Szenen in ihrer Gänze dar: von den Vorbereitungen des Aufstands bis zum Aufstand selbst und der anschließenden Niederschlagung; von der Rettung des Mädchens aus der Gaskammer bis hin zur Hinrichtung der Sonderkommando-Häftlinge. Nicht nur die Gewalt wird dargestellt, sondern auch das, „was die Gewalt dem Menschen antut“, wie Wolfgang Sofsky in seinem Traktat über die Gewalt zusammenfasst: „Sie macht den Menschen zur Kreatur, zu einem schreienden Angstbündel, zu schmerzendem Fleisch“¹⁴⁶. Eine der bemerkenswertesten, raffininiertesten und verstörendsten Sequenzen von The Grey Zone verdeutlicht diesen Zusammenhang auf geradezu kongeniale Weise: Sie spielt sich in den Entkleidungsräumen des Krematoriums ab, kurz bevor die aus Ungarn deportierten Jüdinnen und Juden in die Gaskammern gebracht werden. Unter den Blicken der SS und begleitet von beruhigenden Worten einiger Sonderkommando-Häftlinge, entkleiden sich die deportierten Frauen, Kinder und Männer. Der Sonderkommando-Häftling Hoffman (David Arquette) geht die Gänge ab, versucht den Frauen, Kindern und Männern die Angst zu nehmen, indem er ihnen versichert, dass sie sicher seien und sich keine Sorgen zu machen
Nelson, Director’s Notes, S. 165. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 34. Venezia, Sonderkommando Auschwitz, S. 109. Sofsky, Traktat, S. 66.
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bräuchten. Wie ein Mantra wiederholt er dabei die Worte: „keine Sorge“ und „sicher“. Ein Mann, der gemeinsam mit seiner Frau deportiert wurde, glaubt Hoffman nicht und bezichtigt ihn der Lüge. Er scheint zu wissen, was mit ihnen nach der Entkleidung passiert: Hoffman: Man: Man’s Wife: Man: Hoffman:
Man:
Remember the number of the hooks you hang your clothes on. He’s a liar. I can’t believe it’s Jews doing this. Daniel, stop it. Let me go. You should listen to your wife. Think what you want to think, but don’t cause trouble. I’m telling you to be quiet. You think you’re going to change something? That’s right isn’t it? What does it matter? At least I’ll die with my dignity.
Nachdem er bemerkt hat, dass auch die SS auf den Streit zwischen ihnen aufmerksam geworden ist, fordert Hoffman den Mann auf, ihm die Uhr auszuhändigen. Als dieser sich weigert, eskaliert der Streit: Hoffman versucht, ihm die Uhr mit Gewalt zu entreißen. Der Mann setzt sich zur Wehr, seine Ehefrau, die zuvor versucht hat, ihn zu beruhigen, beginnt hysterisch zu schreien. Hoffman verliert die Kontrolle, verliert sich: Er erschlägt den Mann. Die Frau schreit noch lauter, ihr Schreien nimmt den ganzen Raum, die ganze Sequenz ein und hält relativ lange an, bis ein SS-Mann, der alles mitangesehen hat, sie kurzerhand erschießt. Die anschließende Ruhe dürfte ein komplexes Unbehagen bei den ZuschauerInnen erzeugen, die vielleicht – auch wenn er nur für einen Moment anhält – ein Gefühl der Erleichterung empfinden. Denn der Mord an der Frau hat sie – die ZuschauerInnen, ZuhörerInnen – von dem nur schwer erträglichen Schreien befreit. Nelson macht uns hier zu Komplizen, verwischt die Grenzen zwischen Publikum, Tätern, Opfern, Häftlingen. Wir, die Zuschauenden, Betrachtenden, nach Erklärungen Suchenden, dürften für einen kurzen Augenblick gewissermaßen eine perverse Erleichterung empfunden, uns dabei ertappt und uns unversehens mit der Perspektive der SS arrangiert haben.¹⁴⁷ Nach dem Schuss und dem Verhallen des letzten Schreis, tritt der SS-Mann an den auf dem Boden liegenden, zu Tode geprügelten Mann heran, nimmt ihm die Uhr ab und überreicht sie Hoffman, der zusammengekrümmt und apathisch in einer Ecke sitzt. Eine derartige Szene ist historisch nicht überliefert. Sie ist Fiktion – und dazu eine ungeheuerliche. Darf so eine Szene überhaupt gezeigt werden? Oder ist die Frage falsch gestellt? Michael Haneke zufolge sollten sich RegisseurInnen nicht fragen: „Was darf ich zeigen? Sondern: Welche Chance gebe ich dem Zuschauer,
Ich danke Ulrike Weckel, die mich auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat.
5.3 Die Vermessung der Grauzone
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das Gezeigte als das zu erkennen, was es ist?“¹⁴⁸ Die Frage sollte demnach eher lauten: Was möchte die Darstellung zeigen? Was soll damit bezweckt werden? Welche Erkenntnisse über das Schicksal der jüdischen Sonderkommandos können aus ihr gewonnen werden? Und welche Chance bietet der Film, das Dargestellte als das zu erkennen, was es wirklich sein soll? In all ihrer Grausamkeit zielt die Sequenz genau auf den Kern der Frage nach dem moralischen Dilemma der Sonderkommando-Häftlinge. Und dieses „Dilemma zeigte sich besonders dort in seiner ganzen Dimension, wo die SS die Häftlinge zwang, den noch lebenden Opfern entgegenzutreten“¹⁴⁹: im Entkleidungs- bzw. Auskleideraum. „Für die Sonderkommando-Häftlinge waren diese Räume Orte tiefsten Schreckens.“¹⁵⁰ Dort mussten sie die oft ahnungslosen Opfer in Empfang nehmen, ihnen zuweilen beim Entkleiden helfen und sie – falls nötig – beruhigen, d. h. sie belügen.¹⁵¹ Das Sonderkommando wurde dabei von der SS streng bewacht, denn es war den Häftlingen „unter Androhung schwerster Strafen verboten, den Opfern die Wahrheit zu sagen“¹⁵². Der ehemalige Sonderkommando-Häftling Josef Sackar erklärt diesbezüglich in einem Interview mit Gideon Greif: „Alles war Lüge, was man denen dort erzählte. Alles war Lüge, was wir sagten. Wir sagten, sie gingen zum ‚Duschen‘, würden nachher neue Kleider bekommen und Essen. Aber alles war gelogen.“¹⁵³ Die Lügen sollten Panik unter den Menschen vermeiden, schließlich sollte der Massenmord „effektiv“ verlaufen.¹⁵⁴ Bis auf wenige Ausnahmen hielten sich die Sonderkommando-Häftlinge auch daran.¹⁵⁵ Doch die Lügen konnten auch anders motiviert gewesen sein. Denn viele der Sonderkommando-Häftlinge belogen die Menschen in den Entkleidungsräumen, weil es „besser gewesen [sei], wenn die Opfer nicht wußten, was sie erwartete, da ihr Schicksal doch unabänderlich feststand“¹⁵⁶. Auf die Frage Greifs, ob sie den Menschen erklärten, dass ihr Tod bevorstand, antwortete Leon Cohen (ein anderer ehemaliger Häftling des Kommandos): Sind Sie verrückt geworden!? Den Menschen das zu erzählen. Wie kann man einem Menschen sagen, daß man ihn ermorden wird? Diese schreckliche Wahrheit kann man nie-
Haneke, Gewalt und Medien, S. 163. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 150. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 163. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 148. Greif, Augenzeugenberichte, S. 35. Josef Sackar zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 91. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 8. Vgl. Greif, Augenzeugenberichte, S. 34. Greif, Augenzeugenberichte, S. 35.
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manden erzählen. Sie müssen wissen, daß die Methode so raffiniert war, daß man nichts machen konnte. Die Menschen waren zum Tode verurteilt, und wir konnten die Wirklichkeit nicht ändern. Die Deutschen hatten zu den grausamsten Lügenmethoden gegriffen. Wir hatten keine Wahl, außer uns dort einzufügen. Was hätten wir tun können? Was hätte sich geändert, auch wenn wir die Menschen gewarnt hätten? Niemand hatte die Chance, gerettet zu werden oder sich und seine Familie zu retten. Von dort gab es kein Entrinnen. Die Möglichkeit, von dort zu entkommen war nahezu nicht gegeben. Ich sage es nochmal: Diese Möglichkeit gab es nicht.¹⁵⁷
Die Häftlinge wurden gezwungen, an diesem Prozess der Vorspiegelung falscher Tatsachen teilzunehmen, und für die Opfer gab es keine Möglichkeit der Gaskammer zu entgehen. Spätestens im Auskleideraum waren sie der Gewalt vollständig ausgeliefert. Doch nicht nur die Deportierten, sondern auch die Mitglieder des Sonderkommandos waren gegenüber dieser Gewalt handlungsunfähig. Saul Friedländer zitiert in Die Jahre der Vernichtung eine Passage aus dem Zeugnis einer Insassin des Frauenlagers in Auschwitz, welche die tragische Situation, in der sich die Häftlinge des Sonderkommandos befanden, mit besonderer Deutlichkeit hervorhebt: „Krystyna Zywulska […] fragte einen der Männer aus dem Sonderkommando, wie er diese Arbeit tagaus, tagein aushalten könne. Seine Erklärungen […] endeten mit einer Aussage, die wahrscheinlich den Kern des Ganzen erfaßte: ‚Du denkst, die Leute, die in den Sonderkommandos arbeiteten, sind Ungeheuer? Ich sage dir, sie sind wie alle anderen, nur viel unglücklicher.‘“¹⁵⁸ Unglücklicher, weil ihr Ausgeliefertsein vollkommen war, weil sie gezwungen waren, sich in ihren eigenen Augen zu kompromittieren. Und ständig waren sie von Gewalt und Tod umgeben: Sie „arbeiteten in einer Situation lähmender Gewalt. […] Stunde für Stunde hatten sie den Tod vor Augen, der ihnen selbst drohte.“¹⁵⁹ Das Ausgeliefertsein bezeichnet einen Zustand der „stündlichen Gefahr“¹⁶⁰ oder, wie es bei Imre Kertész heißt, das Wissen „überall und jederzeit erschießbar zu sein“¹⁶¹. Die Sonderkommando-Häftlinge waren nicht nur der Gewalt der SS ausgeliefert, sondern auch der Gewalt, die von ihnen selbst hätte ausgehen können – und in Hoffmanns Fall ausgegangen ist. In den Auskleideräumen wollten sie auch „Panik vermeiden, die sie womöglich gezwungen hätte, Gewalt
Leon Cohen zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 342– 343. Friedländer, Vernichtung, S. 536. Sofsky, Grenze des Sozialen, S. 1157. Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. München 2009, S. 33. Kertész, Fiasko, S. 28.
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anzuwenden“¹⁶². Darin zeigt sich eine andere Facette der Gewalt: „Gewalt ist Schmerz, aber Gewalt ist auch drohende oder aktuelle Übermächtigung: Ausgeliefertsein, das Erkennen der Grenzenlosigkeit des Möglichen.“¹⁶³ In der oben angeführten Sequenz wird Hoffman nicht nur mit der Grenzenlosigkeit seiner eigenen Gewalt konfrontiert, sondern auch mit der Allgegenwart der Gewalt des von der SS erschaffenen Ortes. Seine eigene Tat erschütterte Hoffman bis ins Innerste und demonstrierte die „Entgrenzung des menschlichen Weltbezuges durch Gewalt“¹⁶⁴. Es ist dieser Zustand des zweifachen Ausgeliefertseins, den Nelson mit seiner grausamen Sequenz ins Bild setzt. Dabei weigert er sich, ein Urteil zu fällen. Er zeigt, dass die Gewalt an diesem Ort omnipräsent ist. Das ist der dunkelste Winkel der Grauzone, denn die andere „Wahrheit der Gewalt ist nicht das Handeln, sondern das Leiden“¹⁶⁵. Hoffman leidet zweifach: unter der Gewalt der SS und seiner eigenen. Den Ort der Allgegenwart der Gewalt hat die SS geschaffen. Sie sind die „Herren“, nach ihren „Regeln“ wird gehandelt, sie entscheiden, wer lebt und wer nicht. Nach seinem missglückten Selbstmordversuch am Abend des 8. März 1944 wurde Filip Müller von der SS mehrmals niedergeschlagen, dabei schrie ein SS-Mann: „‚Du Arschloch, du verdammtes, merk dir eines: wie lange du lebst und wann du verreckst, das entscheiden wir und nicht du.‘“¹⁶⁶ Der SS-Mann im Film, der kurz zuvor die Frau des zu Tode geprügelten Mannes erschossen hat, hält Hoffman die Uhr wie eine Art Trophäe hin, dabei enthüllt sein genugtuendes Lächeln nicht nur, dass er an diesem Ort Herr über Leben und Tod ist, sondern auch – wie es Levi ausdrückte –: „‚Wir, das Herrenvolk, sind eure Vernichter, aber ihr seid nicht besser als wir. Wenn wir es wollen, und wir wollen es, sind wir nicht nur in der Lage, eure Körper zu vernichten, sondern auch eure Seelen, so wie wir unsere eigenen Seelen vernichtet haben.“¹⁶⁷ Die Uhr ist nicht die Trophäe Hoffmans, sondern die des SS-Mannes. Und diese Trophäe sagt: „Es ist vollbracht, wir haben es erreicht […]. Wir haben euch in unsere Arme geschlossen, euch korrumpiert, euch mit uns in den Abgrund ge-
Greif, Problematik, S. 1032. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 105. Endreß, Martin: Entgrenzung des Menschlichen. Zur Tranformation der Strukturen menschlichen Weltbezugs durch Gewalt. In: Heitmeyer, Wilhelm & Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004, S. 174– 201, hier: S. 180. Sofsky, Traktat, S. 68. Müller, Das amerikanische Drama, S. 180. Levi, Die Untergegangenen, S. 52.
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zogen.“¹⁶⁸ Levi bezeichnete die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos zu Recht als „das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus“¹⁶⁹. Am Ende der Sequenz bleibt nur der verstörte Blick Hoffmans. Es folgt keine weitere Erklärung für seine Tat. Im Theaterstück beichtet Hoffman seine Tat jenem Mädchen, das er lebend aus der Gaskammer getragen hat: I beat a man to death because he wouldn’t give me his watch. They’re to go in the rooms naked, you were there, and I told him to remove his watch, and he knew what the rooms were and he told me we could take it off him after, and I said it wasn’t allowed and he spat on me. […] and I just started beating him until he died.¹⁷⁰
Diesen Teil des Monologs lässt Nelson im Film weg, weil er die beschriebene Szene bereits dargestellt hat, dessen Zeugin das Mädchen geworden war, bevor sie in die Gaskammer gebracht wurde.
5.4 Über das moralische Dilemma der Sonderkommando-Häftlinge In der Gaskammer des Krematoriums I [bzw. II¹⁷¹] liegen 3000 Tote auf einem Haufen. Die Männer des Sonderkommandos sind schon dabei, die ineinander verkrampften Leichen abzutransportieren. Bis in mein Zimmer höre ich das Brummen der Aufzüge, das Zuschlagen ihrer Türen. Die Arbeit läuft in hohem Tempo, denn die Gaskammer muß schleunigst geräumt werden. Ein neuer Transport ist bereits angekündigt. Beinahe mit der Tür stürzt einer der Männer zu mir herein und teilt mir mit, daß man beim Wegräumen der Leichen eine lebende Frau gefunden hätte.¹⁷²
Diese „nachdenkenswerte Begebenheit“¹⁷³ stammt aus Nyiszlis Erinnerungen. Jahre bevor Nelson sie in seinem Stück erwähnte und später in dem Film The Grey Zone inszenierte, wurde sie von Levi in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten aufgegriffen und analysiert. Darin heißt es: Die Männer sind ratlos. Der Tod ist ihre Arbeit Stunde um Stunde, der Tod ist ihnen zur Gewohnheit geworden, denn, wie gesagt, ‚entweder dreht man am ersten Tag durch, oder man gewöhnt sich daran‘, aber diese junge Frau lebt. […] Das junge Mädchen hat nichts
Levi, Die Untergegangenen, S. 54. Levi, Die Untergegangenen, S. 54. Nelson, The Grey Zone, S. 44. Siehe Anmerkung zur Nummerierung der Krematorien in Kapitel 5 (Fußnote 594). Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 82. Levi, Die Untergegangenen, S. 54.
5.4 Über das moralische Dilemma der Sonderkommando-Häftlinge
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begriffen, aber es hat gesehen. Deshalb muß es sterben, und die Männer des Sonderkommandos wissen es, so wie sie wissen, daß auch sie selbst sterben müssen, aus demselben Grund. Jedoch sind diese vom Alkohol und durch das tägliche Massaker abgestumpften Sklaven wie umgewandelt; vor ihnen steht nicht mehr die anonyme Masse, der Strom verängstigter, verwirrter Menschen, der aus den Güterwaggons steigt: Vor ihnen steht ein Mensch.¹⁷⁴
In dem Film The Grey Zone begegnen wir dem Mädchen bereits auf ihrem Weg nach Auschwitz. Sie sitzt mit anderen Deportierten in einem Güterwaggon. Ein kurzer Schnitt zeigt ihr Gesicht in einer Nahaufnahme. Darauf folgt eine Aufnahme aus ihrer Perspektive: Die Kamera simuliert ihren Blick auf die anderen – einen point of view (POV) des Mädchens. Später steigt sie mit den anderen unter Schreien und Schlägen der SS-Männer an der neuen Rampe von Auschwitz aus. Die nächste Großaufnahme zeigt sie im Entkleidungsraum des Krematoriums. Sie sieht zu, wie Hoffman den Mann erschlägt. Danach wird sie mit den anderen Menschen in die Gaskammer geführt. Die Handkamera folgt ihnen in die Gaskammer – hierbei wird erneut auf die Perspektive des Mädchens zurückgegriffen. Dann schneidet Nelson auf einen Sonderkommando-Häftling, der die Tür der Gaskammer zuschlägt und verriegelt. Und hier weicht Nelson von der historischen Überlieferung ab, ohne dass sich daraus ein dramaturgischer Gewinn ergibt. Das Schließen der Türen wurde nur von der SS durchgeführt. „Nur die SS. Immer, wenn ich es gesehen habe, habe ich einen SS-Mann gesehen, der die Tür verschloß.“¹⁷⁵ Die entscheidenden Taten, wie das Verriegeln der Türen oder das Einwerfen des Zyklons B, wurden nur von der SS ausgeführt.¹⁷⁶ Während Ventilatoren die Luft aus der Gaskammer heraussaugten, schütteten SS-Männer das Zyklon B in verschließbare Luken, die sich oberhalb des Raumes befanden und direkt in diesen hineinführten.¹⁷⁷ Nach dem Zuschlagen der Tür zur Gaskammer schneidet der Regisseur wieder auf Hoffman, der immer noch auf dem Boden sitzt und ins Leere starrt. Die Kamera fährt langsam an ihn heran, während das Schreien und Klopfen der Menschen zu hören ist. An dieser Stelle erzählt der Ton die Geschichte des Mordes, und das Bild die Zerrüttung, den innerlichen Verfall Hoffmans. Hier gelingt es Nelson, ein weiteres Bild für das Ausgeliefertsein und die Ohnmacht der Sonderkommando-Häftlinge zu finden. Seine Knie umfassend sitzt dort
Levi, Die Untergegangenen, S. 55. Sackar zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 93. Vgl. Greif, Augenzeugenberichte, S. 368 (Anmerkung 28). Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 164.
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„der zerstörte Mensch zwischen Leben und Tod“¹⁷⁸, umringt von der Habe der Menschen, die im Nebenraum ermordet werden. Der Prozess der Dehumanisierung, der mit der Selektion an der Rampe begonnen hatte¹⁷⁹, fand in der Aufstellung des Sonderkommandos ihren menschenverachtenden Höhepunkt. „In Wahrheit war die Selektion nichts anderes als eine Serie von Todesurteilen“¹⁸⁰, genauer gesagt: von aufgeschobenen Todesurteilen. Dies galt im Besonderen für den Sonderkommando-Häftling, der seine Tage in der „Hölle“ mit dem Wissen fristete, „daß er keine Überlebenschance hatte, seine Tage von Anfang an gezählt waren und er jeden Augenblick getötet werden konnte“¹⁸¹. Doch mit diesem Wissen ging auch eine Ungewissheit einher: Sie wussten nicht, wann sie getötet werden würden, ob schon am nächsten Tag oder in den nächsten vier Monaten. Aber ihnen war bewusst, dass sie als Zeugen nicht überleben durften und „daß viele ihrer Vorgänger nach einer gewissen Zeitspanne umgebracht worden waren“¹⁸².
5.4.1 Aufgeschobene Todesurteile Der russische Romancier Fjodor Dostojewskij lässt den Protagonisten seines Romans Der Idiot, Fürst Myschkin, eine Geschichte über eine öffentliche Hinrichtung erzählen, deren Zeuge er geworden war: Dieser Mann hatte, zusammen mit einigen anderen Menschen, das Schafott besteigen und sein Todesurteil verlesen hören müssen: Tod durch Erschießen für ein politisches Verbrechen. Etwa zwanzig Minuten später wurde ihnen ihre Begnadigung und die Verhängung einer milderen Strafe verkündigt; aber in den zwanzig Minuten, oder jedenfalls der Viertelstunde zwischen den beiden Urteilsverkündigungen hatte er in der unzweifelhaften Überzeugung gelebt, daß er wenige Minuten später plötzlich tot sein würde. […] Die Ungewißheit und der Widerwille vor diesem Neuen, das ihn erwartete und im nächsten Augenblick eintreten mußte, waren furchtbar; er sagte aber, daß nichts in diesem Augenblick für ihn qualvoller gewesen sei, als der unausgesetzte Gedanke: ‚Wenn ich doch nicht sterben müßten! Wenn das Leben zurückkehren könnte! […]‘¹⁸³
Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 229. Vgl. Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 101. Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 284. Greif, Problematik, S. 1028. Greif, Problematik, S. 1028. Dostojewskij, Fjodor M.: Der Idiot. Übersetzt von Swetlana Geier. Frankfurt am Main 2005, S. 88 – 90.
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Diesem von Dostojewskij beschriebenen Zustand einer zermarternden Ungewissheit (basierend auf eigenen Erfahrungen¹⁸⁴) waren die SonderkommandoHäftlinge täglich ausgesetzt. Jeden Tag bestiegen sie das „Schafott“ und verrichteten dort – in dem Wissen um ihre baldige Hinrichtung und der Ungewissheit über den Zeitpunkt ihres Todes – die „schwarze Arbeit des Holocaust“¹⁸⁵. Der Selbstmord schien vielen Sonderkommando-Häftlinge als die einzige Möglichkeit, sich dieser Situation zu entziehen; so wie es Filip Müller versucht hatte. Auch Shlomo Dragon, der zusammen mit seinem Bruder Abraham dem Sonderkommando zugeteilt wurde, versuchte sich das Leben zu nehmen.¹⁸⁶ Greif gegenüber erzählte er: „Als ich an unserem ersten Arbeitstag die entkleideten Leute – Männer, Frauen, Kinder – zusammen sah, bekam ich einen heftigen Schrecken. […] Ich war so erschrocken, daß ich beschloß, ich wolle dort nicht weiterarbeiten.“¹⁸⁷ Dragon fügte sich daraufhin mit einer zerbrochenen Flasche eine tiefe Wunde am Arm zu. Auf die Frage, ob er sich damit das Leben habe nehmen wollen, antwortet er: „Ja, ja, ich wollte sterben, ich wußte nicht, was ich dort sollte. Das war eine Tragödie – so viele Menschen starben dort auf einen Schlag. Alle waren in meinem Alter.“¹⁸⁸ Einige der Sonderkommando-Häftlinge fanden unter den Leichen ihre Bekannten, Freunde oder Familienangehörigen, wie der alte Mann, von dem Nyiszli in seinen Erinnerungen schreibt¹⁸⁹ und der Nelson als Vorlage diente. In The Grey Zone wird er nach seinem Selbstmordversuch von Nyiszli (Allan Corduner) gerettet und anschließend von Rosenthal (David Chandler) mit einem Kissen erstickt. Nach seiner Tat sagt der: „What he wanted. That’s all.“ Rosenthal vollendet den Selbstmordversuch des Mannes. Diese Tat findet sich – wie oben erwähnt – weder in den Erinnerungen des Pathologen noch in den Aufzeichnungen oder Aussagen anderer Sonderkommando-Häftlinge. Jedoch berichtete der aus Chelmno nach Warschau geflüchtete „Szlamek“ von einer ähnlichen Begebenheit.¹⁹⁰
Dostojewskij wurde am 23. April 1849 auf Grund „revolutionärer Umtriebe“ verhaftet und im September zum Tode verurteilt. Am 22. Dezember 1849 wurden die „Rebellen“ zur Hinrichtung geführt. Dort verband man ihnen die Augen, verlas das Todesurteil und kurz vor Vollstreckung begnadete man sie. (Vgl. Lavrin, Janko: Fjodor M. Dostojevskij. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 21– 24). Jaacov Gabai zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 221. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 101. Shlomo Dragon zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 133. Greif, Augenzeugenberichte, S. 134. Vgl. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 78. Siehe Kapitel 4.1.5.
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„Szlamek“ war im Vernichtungslager Chelmno einem Kommando zugeteilt worden, das dazu gezwungen wurde, die Leichen der in den Gaswagen ermordeten Menschen aus den Lastwagen zu tragen und sie in die dafür ausgehobenen Gruben im Wald zu werfen. Einige der Männer aus diesem Kommando entdeckten unter den Ermordeten ihre Familienangehörigen. Sie waren somit gezwungen, diese Menschen entweder selbst zu vergraben oder mussten mit ansehen, wie sie in die Massengräber geworfen wurden.¹⁹¹ Die Verzweiflung darüber trieb sie in den Suizid.¹⁹² Einige erhängten sich in der Unterkunft vor den Augen der anderen Häftlinge. Und diesen blieb oft nichts anderes übrig, als ihren Kameraden beim Sterben zuzusehen. Es ist auch möglich, dass viele der Häftlinge den Todeswunsch ihrer Kameraden nachvollziehen konnten und diesen letztendlich akzeptierten, respektierten. „Szlamek“ erzählte Bluma und Hersh Wasser von einem Mann namens Shwetoplawski und dessen Versuch, sich zu erhängen. Ein anderer Häftling, ein junger Mann namens Moniek, hatte ihn zuerst daran gehindert. Ein deutscher Wachtposten war in der Nähe der Unterkunft erschienen, woraufhin Moniek schnell das Seil, an dem Shwetoplawski hing, abgeschnitten hatte. Er stürzte zu Boden, rang nach Luft und „wand sich in Todeskrämpfen“.¹⁹³ Die anderen standen vor einem schwierigen Dilemma: Sollten sie ihn retten oder ihn sterben lassen? „Szlamek“ erinnerte sich: Auf der einen Seite wollten wir ihn nicht retten. (Wozu wäre es gut gewesen?) Auf der anderen Seite ertrugen wir es nicht, ihn leiden zu sehen. So forderten wir Brzonstawski auf, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Brzonstawski legte Shwetoplawski ein Seil um den Hals und zog es mit seiner ganzen Kraft zu.¹⁹⁴
Greif zufolge entschieden sich jedoch relativ wenige Mitglieder des Sonderkommandos für den Suizid.¹⁹⁵ Viele Häftlinge gewöhnten sich an die Arbeit, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten.¹⁹⁶ Jaacov Gabai äußert sich diesbezüglich in einem Interview mit Greif wie folgt: Nach ein, zwei Wochen hatte ich mich daran gewöhnt. Manchmal, nachts, wenn man sich ausruhte, legte ich die Hand auf einen Körper, und das störte mich nicht mehr.Wir arbeiteten dort wie Roboter. Ich mußte stark bleiben, um überleben und alles weitererzählen zu können, was in dieser Hölle geschah. Die Realität beweist, daß der Mensch grausamer ist als das
Vgl. „Szlamek“-Bericht, S. 175. Vgl., Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 464. Vgl. Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 464. „Szlamek“ zit. nach Kassow, Ringelblums Vermächtnis, S. 464. Vgl. Greif, Problematik, S. 1027. Vgl. Greif, Problematik, S. 1027.
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Tier. Ja, wir waren Tiere. Kein Gefühl. Manchmal zweifelten wir daran, ob wir wirklich Menschen geblieben waren.¹⁹⁷
Die Häftlinge verfielen in „völlige Apathie und entfremdeten sich von allen menschlichen Werten und Gefühlen“¹⁹⁸. Müller findet folgende Worte, um diesen Zustand zu beschreiben: „Wie Roboter arbeiteten sie in diesem entsetzlichen Grauen.“¹⁹⁹ Ähnliche Aussagen treffen sowohl der oben bereits zitierte Gabai als auch Leon Cohen und Josef Sackar. Auf Greifs Frage, ob er etwas gefühlt habe, als er die Schreie der Menschen aus der Gaskammer wahrnahm, antwortet Cohen: „Ich muß Ihnen etwas Schreckliches sagen. Aber es ist wahr: wir waren damals wie Roboter.“²⁰⁰ Analog dazu die Antwort Sackars: „Wir konnten nicht mehr denken. Wir wurden dort zu Automaten und Maschinen.“²⁰¹ Darüber schreibt auch Salman Gradowskis in seinen Aufzeichnungen: Man muss das Herz töten, das fühlende Herz, jeden Schmerz und jedes Gefühl verbannen. Man muss über die grauenhaften Leiden schweigen, wie ein Sturm über alle Glieder fegen. Man muss zum Roboter werden, der nichts sieht, nichts fühlt und nichts versteht.²⁰²
Die Erfahrung, das Wissen und die Emotionen jener Männer wie Gabai, Sackar, Müller, Gardowski oder Salman Lewenthal, der wie Gradowski zu den Chronisten des Sonderkommandos gehört, finden sich in der fiktiven Figur des Sonderkommando-Häftlings Hoffman und den anderen gebündelt oder besser verdichtet wieder. Nelson selbst schreibt dazu: The characters of Hoffman, Rosenthal, Schlermer, and Abramowics are fictional, though I base them loosely on five diaries found buried at Birkenau which were written by Sonderkommando members who knew (as all did) they were killed. Of particular influence was that of the Pole Salmen Lewenthal, […], and upon whom Hoffman is largely based.²⁰³
5.4.2 Unmögliche Entscheidungen Nachdem die deportierten Jüdinnen und Juden des letzten Transports in der Gaskammer ermordet wurden, werden ihre Leichen von den Sonderkommando
Gabai zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 221. Greif, Augenzeugenberichte, S. 38. Müller, Das amerikanische Drama, S. 90. Cohen zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 346 – 347. Sackar zit. nach Greif, Augenzeugenberichte, S. 82. Salman Gradowski zit. nach Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 60. Nelson, Director’s Notes, S. 157.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
Häftlingen herausgetragen. Hierbei entdeckt Hoffman das Mädchen; als er sie aufheben will, bemerkt er, dass sie noch atmet. Er trägt sie hinaus und legt sie in den Fahrstuhl, der die Leichen in den Krematoriumsraum transportiert. Mit der Hilfe Rosenthals schafft er es, das Mädchen vorerst zu verstecken. Rosenthal weiht daraufhin Schlermer (David Benzali) ein, der zunächst nur eine Störung der Routine und die Gefährdung des geplanten Aufstands befürchtet (denn Hoffmann, Rosenthal und Schlermer sind zusammen mit anderen Häftlingen an der Vorbereitung des Aufstands beteiligt): Schlermer: Rosenthal: Schlermer: Rosenthal: Schlermer:
Rosenthal: Schlermer: Rosenthal: Schlermer: Rosenthal: Schlermer: Rosenthal:
This will foul everthing. It’s blood on our hands. It’s a goddamn distraction. And what do we do with her? We figure that out. We’ll have to hide her – and not just from them, but some of us, too. We do not have time to be dealing with this. She was inside. It’ll be – and she’ll never make it. What are you thinking? I’m not going to kill her, all right! Just think. Think. If they find her in the barracks, which they will, because we’re never going to keep her without – it’ll be worse. How can that be worse? Worse for her, forgetting what they’d do to us. She’s not even consious.We end it now, she goes the way she would have gone. Meet us in the store room. I can stop you, Max. Stop me then. Do it. You know we’re not killing her.
Weder Rosenthal noch Schlermer bleibt eine Wahl. Rosenthal ist bewusst, dass sie das Mädchen nicht töten werden – nicht töten können. Schlermer sieht jedoch keine Möglichkeit, sie unbemerkt zu verstecken. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Aufstand, an dessen Organisation sie beteiligt sind, bald ausbrechen soll. Die Anwesenheit des Mädchens könnte ihre Pläne sabotieren. Eine Entscheidung ist beinahe unmöglich: Entweder sie gefährden ihr eigenes Überleben sowie den Erfolg des Aufstands oder sie töten das Mädchen. Lawrence Baron bezeichnet The Grey Zone in seinem 2005 erschienenen Aufsatz als „Cinema of Choiceless Choices“²⁰⁴. Damit rückt er nicht nur die oben angeführte Problematik in den Vordergrund seiner Betrachtungen, sondern trifft den Kern des moralischen Dilemmas, in dem sich die Sonderkommando-Häftlinge befunden haben und das Nelson in seinem Film darzustellen versucht. Ih-
Vgl. Baron, Lawrence: The Grey Zone: The Cinema of Choiceless Choices. In: Petropolous, Jonathan & Roth, John K. (Hg.): Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath. New York/Oxford 2005, S. 286 – 292, hier: S. 286.
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nen blieb keine Wahl: wollte „man weiterleben, mußte man versuchen, die schreckliche Wirklichkeit zu ignorieren und die aufgezwungenen Lebensbedingungen als unabwendbar anzusehen, auch wenn man sie abgrundtief verabscheute“²⁰⁵. Wie „Roboter“ verrichteten sie täglich ihre grausame Arbeit und versuchten trotz der drohenden Lebensgefahr zu überleben. Dabei waren sie ständig der „totalen Gewalt“²⁰⁶ dieses Ortes ausgeliefert.Wo das „absolut Böse zur Institution geworden ist“, wie es bei Wolfgang Sofsky heißt, scheint jede „moralische Tat“ oder auch moralische Entscheidung unmöglich zu sein.²⁰⁷ Als Rosenthal den alten Mann erstickte, traf er selbst keine Entscheidung, sondern führte die vom alten Mann getroffene Entscheidung zu Ende. Entscheidungen betrafen an diesem Ort nur das eigene Leben. Entweder man machte mit, oder man nahm sich selbst das Leben. Über das Leben anderer entschied nur die SS. Mit der Rettung des Mädchens findet jedoch eine Zäsur statt. Hoffman reagiert vorerst nur, als er bemerkt, dass das Mädchen noch atmet. Ohne zu wissen, wie er weiter verfahren soll, trägt er sie aus der Gaskammer. An dieser Stelle trifft er noch keine Entscheidung darüber, ob sie leben oder sterben soll – er handelt instinktiv. Auch Rosenthal reagiert vorerst nur auf die Situation, als Hoffman ihn einweiht. Erst im Dialog mit Schlermer zeichnet sich eine Entscheidung ab: Sie wollen sie nicht mit eigenen Händen ermorden. Das soll das Geschäft der SS bleiben. Im Anschluss an seinen Dialog mit Schlermer verständigt Rosenthal Nyiszli. In seiner autobiographischen Schrift erinnert sich der reale Dr. Nyiszli: Drei Spritzen nacheinander gebe ich dem ohnmächtigen, schwer atmenden Kind. Seinen eiskalten Körper bedecken die Männer mit dicken Mänteln. Einer rennt zur Küche, um heißen Tee oder Suppe zu holen. Jeder will helfen, als kämpfe er um das Leben des eigenen Kindes. […] Das Mädchen bekommt einen Hustenanfall, verbunden mit Auswurf aus der Lunge. Es öffnet die Augen und sieht starr zur Decke.²⁰⁸
Das Mädchen kommt langsam zu Bewusstsein. Nelson hält sich bei der Darstellung dieser Szene ganz an die überlieferte Vorlage, jedoch mit der Ausnahme einer künstlerisch-ästhetischen Entscheidung: Das Mädchen hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Anne Frank. Es ist möglich, dass seine Entscheidung durch Levi beeinflusst worden ist, der in Die Untergegangenen und die Geretteten schreibt:
Müller, Das amerikanische Drama, S. 94. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen 1986, S. 92. Mit „totaler Gewalt“ bezeichnet Popitz „ein Syndrom von Handlungselementen […]: die Verbindung der Glorifizierung ausgeübter Gewalt mit der Indifferenz gegen das Leiden des Opfers und der Technisierung des Gewaltvollzugs.“ Vgl. Sofsky, Grenze des Sozialen, S. 1157. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 82.
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„Eine Einzelperson wie Anne Frank erweckt mehr Anteilnahme als die Ungezählten, die wie sie gelitten haben, deren Bilder aber im dunklen geblieben sind.“²⁰⁹ Nelson selbst schreibt in seinen Director’s Notes: „I saw in Anne my own mother, also a child in Europe at the time.“²¹⁰ Die Entscheidung über das Aussehen des Mädchens bleibt letztendlich nur eine ästhetische – sie beeinflusst die Dramaturgie des Films kaum. Auch andere überlebende Sonderkommando-Häftlinge berichten in ihren Zeugnissen von Menschen, die bei Öffnung der Gaskammer noch gelebt hätten.²¹¹ Venezia erinnert sich, dass er und andere Häftlinge eines Tages im Zuge der Räumung der Gaskammer auf ein kleines Kind aufmerksam geworden seien, das noch atmend auf der Brust der toten Mutter lag.²¹² „‚Und wir haben ihn von dort herausgenommen und natürlich die SS hat ihm gegeben einen Schuss – fertig.‘“²¹³ Ein anderer Häftling des Sonderkommandos, Dov Paisikovic, antwortete im Auschwitz-Prozess auf die Frage, ob es vorkam, dass Menschen nach dem Einsatz des Zyklon B noch am Leben waren: „Ja, es gab solche Fälle. Diese Menschen wurden dann erschossen.“²¹⁴ Ähnliches schreibt auch Stanislaw Jankowski: „Wenn es vorkam, daß man uns nach dem Vergasungsprozeß befahl, die Leichen in die Öfen zu werfen, und wir trafen auf eine Leiche, die sich noch rührte, und wir sie nicht lebendig in den Ofen werfen wollten, so gab ein SS-Mann mit einer Revolverkugel den Todesschuß.“²¹⁵ Nachdem das Mädchen im Film durch Wiederbelebungsversuche wieder zu sich gekommen ist, verstecken Hoffman und Rosenthal sie im Umkleideraum²¹⁶ des Sonderkommandos, um entscheiden zu können, was mit ihr geschehen soll. Als ein anderer Sonderkommando-Häftling, Abramowics, mit Schlermer und Nyiszli zu ihnen kommt und von dem Mädchen erfährt, entsteht ein Konflikt, der mit dem Auftauchen des SS-Oberscharführers Erich Muhsfeldt (Harvey Keitel) eskaliert. Muhsfeldt erschießt Abramowics und entdeckt das Mädchen. Nyiszli, der das Leben des Mädchens retten will, bittet Muhsfeldt um ein Gespräch. Daraufhin verlassen alle bis auf Hoffman und das Mädchen den Raum. Als die Stille wieder eingekehrt ist, nähert sich Hoffman dem Mädchen. Er setzt sich behutsam neben sie und beginnt seinen Monolog – oder eher seine Beichte:
Levi, Die Untergegangenen, S. 56. Nelson, Director’s Notes, S. xi. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 173. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 173. Shlomo Venezia zit. nach Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 174. Dov Paisikovics zit. nach Langbein, Der Auschwitz-Prozeß, Bd. 1, S. 99. Stanislaw Jankowskis zit. nach Bezwinska/Czech, Inmitten, S. 55. Dieser Umkleideraum ist eine Erfindung des Regisseurs; vgl. Nelson, Director’s Notes, S. 147.
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I… I used to think so much of myself… what I would make of my life… We can’t know what we’re capable of, any of us… How can you know what you’d do to stay alive until you’re really asked? I know this now… for most of us, the answer is anything… It’s so easy to forget who we were before – who we’ll be never again. There was this old man who was one of the stokers. And on our first day – when we had to burn our own convoy – his wife was brought up to the elevator. Then his daughter. And then both of his grandchildren. I knew him. We were neighbors. In twenty minutes his whole family, and all its future, was gone from the earth. Two weeks later he took pills and was revived. We smothered him with his own pillow, and now I know why. You can kill yourself. That’s the only choice.
Hoffman nimmt daraufhin die Uhr des Mannes, den er totgeschlagen hat, aus seiner Tasche und legt sie zwischen sich und das Mädchen. „I want them to save you. I want them to save you more than I want anything. I pray to God we save you.“ Die goldene Uhr – der materialisierte Beweis seiner Schuld und zugleich das Symbol des absoluten Ausgeliefertseins der Sonderkommando-Häftlinge und ihrer Ohnmacht in dieser von der SS erschaffenen „Hölle“ – liegt währenddessen zwischen ihm und dem Mädchen. „In diesem dunklen Inferno […] ach, Dante, deine Hölle war erbärmlich.“²¹⁷, heißt es bei Jacques Presser. Auch Müller schreibt, dass gegenüber dem, was sich die SS – und besonders Otto Moll – ausgedacht habe, sich „Dantes ‚Hölle‘ wie ein Kinderspiel“²¹⁸ ausnehme. Denn „Birkenau war wirklich die Hölle“²¹⁹ und wenn man erst dort arbeitete, war man „nicht mehr in dieser Welt, sondern bereits in der Hölle“²²⁰.
5.4.3 Descensus Im 33. Gesang des Inferno treffen der Pilger Dante und sein Begleiter Vergil auf die Gestalt des Grafen Ugolino della Gherardesca, der auf Grund einer Verfehlung im Eismeer der Hölle gefangen ist. Doch trotz seiner „Sünde“ steht nicht seine Schuld im Mittelpunkt des Gesangs, sondern die Grausamkeit, die ihm auf Erden angetan worden war. Dort hatte man ihn mit seinen drei Söhnen in einen Kerker gesperrt und sie langsam verhungern lassen.²²¹ Am Ende von Ugolinos Erzählung wird suggeriert, dass der Hunger und der Wahn ihn dazu gebracht hätten, seine Kinder zu essen:
Presser, Jacques: Die Nacht der Girondisten. Frankfurt am Main 1991, S. 55. Müller, Das amerikanische Drama, S. 212. Venezia, Venezia, Sonderkommando Auschwitz, S. 95. Venezia, Sonderkommando Auschwitz, S. 98. Vgl. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Ida und Walther von Wartburg. Zürich 1963, Inferno, 33. Gesang, V. 1– 157, (S. 392– 397).
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„Erblindet schon, sucht’ ich sie mit den Händen; zwei Tag nach ihrem Tod rief ich sie noch; doch, stärker als der Schmerz war dann der Hunger.“²²²
Eine andere Interpretation dieser Verse legt jedoch nahe, dass er letztlich vor Hunger gestorben ist, weil es für ihn nicht möglich war, sich an seinen eigenen Kindern zu vergreifen. Ugolinos „Hölle“ war bereits dieser Kerker. Schon dort begann sein Abstieg in den Abgrund der Seele. Und in dieser „Hölle“ war eine Entscheidung unmöglich. Daher traf Ugolino auch keine Wahl, weil ihm faktisch keine geblieben war. Mit der Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos errichtete die SS eine künstliche Katabasis, einen Abstieg in die „Hölle“ – einen descensus. Und in dieser anderen „Hölle“ zwangen sie die Häftlinge zur Mithilfe am Massenmord, an der Vernichtung der europäischen Juden. Die Sonderkommando-Häftlinge haben diesen Ort nicht selbst gewählt, sondern wurden hineingestoßen. Levi schreibt diesbezüglich folgendes: Die ‚Psychologen’ der SS hatten beobachtet, daß die Rekrutierung leichter war, wenn man Kandidaten unter diesen verschreckten und desorientierten Menschen herausnahm, die die Reise zermürbt hatte und die keine Widerstandskraft mehr besaßen, also im entscheidenden Augenblick der Ankunft, als wirklich jeder Neuankömmling das Gefühl hatte, auf der Schwelle des Dunkels und des Grauens in einem nicht mehr irdischen Bereich angelangt zu sein.²²³
Die goldene Uhr erzählt davon, während sie neben dem Mädchen liegt. In dieser Sequenz wird das Mädchen zum Antidot – zu der Gewalt des Ortes entgegengesetzten Kraft. In der Rettung des Mädchens sucht Hoffman jedoch nicht nach „Erlösung“, sondern nach einer Möglichkeit, den descensus umzukehren, einen Weg aus dieser „Hölle“ zu finden und damit eine Aufhebung des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht herbeizuführen. Hoffman trifft eine Entscheidung – eine moralische und kathartische zugleich. Eine Entscheidung, die dieser Ort eigentlich nicht zulässt. Eine Entscheidung, die das Über- und Weiterleben einer anderen Person betrifft. Hoffmans Monolog ist, bis auf wenige Streichungen, dem Theaterstück The Grey Zone entnommen. Dort sagt Hoffman, bevor er die Uhr niederlegt: „I don’t want it anymore.“²²⁴ Und nach kurzer Stille folgt der Satz:
Alighieri, Die Göttliche Komödie, V. 73 – 75, (S. 394). Levi, Die Untergegangenen, S. 50. Nelson, The Grey Zone, S. 44.
5.5 Aufstand und Ende
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„I want them to save you.“²²⁵ Hoffman erwacht aus seiner Apathie. Am Tag darauf bricht der Aufstand der Sonderkommando-Häftlinge aus. In Nyiszlis Erinnerungen finden die Sonderkommando-Häftlinge das Mädchen lange vor dem Ausbruch des Aufstands.²²⁶ Den Häftlingen blieb auch keine Zeit, sie zu retten: Sie wurden von Muhsfeldt entdeckt, der sie sogleich hinrichten ließ. Nelson veränderte die ereignisgeschichtlichen Fakten und die Chronologie. Und indem er die beiden Ereignisse zeitlich aneinanderrückte, konstruierte er einen Sinnzusammenhang, den es so zu keiner Zeit gegeben hat: Die Rettung des Mädchens steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der bevorstehenden Revolte. Beide geben Hoffman und Rosenthal die Hoffnung, auf die eine oder andere Weise der „Hölle“ zu entsteigen. Dass diese Hoffnung an jenem Ort nicht von Dauer sein kann, davon erzählt die folgende kurze Sequenz: Minuten vor dem Ausbruch des Aufstands betritt Hoffman die Unterkunft des Sonderkommandos von Krematorium I (bzw. II) und verkündet, dass Nyiszli und Muhsfeldt das Mädchen retten werden. Rosenthal sagt daraufhin: „We did this.“ Schlermer antwortet: Listen to me. Listen. What’s going to happen to her will happen, no matter what you do or see. You’re right. We did it. We saved her. The best thing you can do now is to finish the day quietly, do as you’re told, and wait for later. That’s it. That’s it for you. It’s the Goddamn end.
Nur wenige Sekunden später explodiert das Krematorium III (bzw. IV).
5.5 Aufstand und Ende Krystyna Zywulska arbeitete am Tag des Ausbruchs der Revolte als Insassin des Frauenlagers in einem Lagerbüro, das unweit der Krematorien gelegen war. Von ihrem Fenster aus konnte sie das Krematorium IV brennen sehen.²²⁷ Meterhohe Flammen traten aus dem Gebäude heraus, dichter schwarzer Rauch stieg auf. Auch Filip Müller wurde Zeuge des Geschehens: Es waren keine fünf Minuten seit dem Beginn der Widerstandsaktion vergangen, als die Lagersirene aufheulte. Wenig später schon kamen Lastwagen angefahren und hielten mit quietschenden Bremsen auf der Straße zwischen den Krematorien IV und V. SS-Posten mit
Nelson, The Grey Zone, S. 44. Vgl. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 82– 85 und S. 108 – 120. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 231.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
Stahlhelmen, viele von ihnen in Unterhemden und Hosenträgern, sprangen schnurstracks herunter, umstellten den Hof und brachten ihre Maschinengewehre in Stellung.²²⁸
Die sichtlich überraschte SS eröffnete das Feuer. Müller schätzt, dass die SS etwa 200 Sonderkommando-Häftlinge auf dem Hof des Krematoriums IV erschossen hat.²²⁹ Der plötzliche Ausbruch des Aufstands sorgte bei den SonderkommandoHäftlingen der Krematorien II und III für Verwirrung.²³⁰ Sie waren zwar davon in Kenntnis gesetzt worden, dass das Kommando von IV und V für den 7. Oktober einen Aufstand plante, trotzdem wurden sie vom Zeitpunkt des Ausbruchs ebenfalls überrascht. Die Revolte sollte zum Abendappell beginnen, doch an diesem Tag fand ein Appell zur Mittagszeit statt. Diese ungewöhnliche Umstellung veränderte den Verlauf des Widerstandsaktes. Und nachdem die Schüsse und Schreie vom Gelände des Krematoriums IV vernommen wurden, waren die Häftlinge aus den Kommandos der Krematorien II und III gezwungen, sofort zu handeln.²³¹ In The Grey Zone befinden sich Hoffman, Rosenthal und Schlermer in der Unterkunft unter dem Dachgeschoss des Krematoriumsgebäudes II²³², als der Aufstand ausbricht.Von ihrem Fenster aus sehen sie den Rauch, die Flammen und die Explosion im Krematorium IV. Schlermer, der ebenso von den Ereignissen überrascht ist wie die anderen Häftlinge, versucht in der ausgebrochenen Hektik zu koordinieren: „We’re not going to have time to organize the groups. Get the guns and as many as you can down into corridors, and barricade the doors.“ Hoffman begibt sich auf den Weg zum Krematorium IV²³³, Rosenthal macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, das sie mit Nyiszli und Muhsfeldt allein gelassen hatten. Derweil rückt die SS mit Lastwagen ein; SS-Männer gehen in Stellung, bauen Maschinengewehre auf und eröffnen das Feuer. Aus den Gebäuden der Krematorien erwidern die Häftlinge der Kommandos das Feuer und werfen Granaten. Die Revolte dauert im Film nicht lange; keine zehn Minuten. Nachdem sie von der SS niedergeschlagen ist, werden die Häftlinge, die nicht dem Kugelhagel der Maschinengewehre erlagen, aus den Krematorien ins Freie geführt. Sie werden
Müller, Das amerikanische Drama, S. 251. Müller, Das amerikanische Drama, S. 256. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 245. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 246– 250. Im Film wird eine andere Nummerierung der Krematorien verwendet: I – IV anstatt II – V; daher befinden sich die Häftlinge im Film im Gebäude von Krematorium I (siehe auch Fußnote 595). Bzw. Krematorium III.
5.5 Aufstand und Ende
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gezwungen, sich mit dem Gesicht zu Boden hinzulegen – unter ihnen befinden sich auch Hoffman und Rosenthal. Dann schreiten SS-Männer die Reihen ab und erschießen die Aufständischen mit Genickschüssen. Das Mädchen aus der Gaskammer, umringt von SS-Männern, beobachtet die Hinrichtungen. Erst wird Hoffman erschossen, dann Rosenthal. Das Mädchen läuft los, Muhsfeldt zieht seinen Revolver: Mit einem Schuss streckt er sie nieder.²³⁴ Nelson zeigt die letzten Sekunden der Sequenz wieder aus der Perspektive (POV) des Mädchens: Der Schuss ertönt, sie fällt zu Boden und mit ihr die Kamera – das ganze Bild fällt mit ihr. Dann folgt ein harter Schnitt. Wir sehen, wie andere SonderkommandoHäftlinge an den Krematoriumsöfen arbeiten, währenddessen hören wir die Stimme des Mädchens aus dem Off: I catch fire quickly. The first part of me rises in dense smoke that mingles with the smoke of others. Then there are the bones, which settle in ash, and these are swept up to be carried to the river, and last… bits of our dust, that simply float there in air around the working of the new group. These bits of dust are grey.We settle on their shoes and on their faces, and in their lungs, and they become so used to us that soon they don’t cough, and they don’t brush us away. At this point they’re just moving. Breathing and moving, like anyone else is still alive in that place. And this is how the work continues.
Nelson gewährte dem Mädchen auch in seinem Film das letzte Wort. Ebenso behielt er einen Teil des surrealistisch verfremdeten Endes seines Theaterstücks bei. Er strich jedoch die im Augenblick des Sterbens bzw. nach ihrem Tod gehaltenen Monologe von Rosenthal, Schlermer und Hoffman heraus. Dadurch tilgte er den strukturellen Rahmen, in welchem der Monolog des Mädchens seine Wirkung entfalten konnte. Nun ist sie die einzige, die aus dem Off zum Publikum spricht. An dieser Stelle verfehlt der Einsatz des Surrealismus in einem realistisch anmutenden Film seinen dramaturgischen Sinn. Denn während der durch die Verwendung surrealer Elemente erzeugte Verfremdungseffekt des Theaterstücks eine gezielte Wirkung verfolgte – nämlich die Schaffung einer Dialektik von Emotionen und Rationalität –, verkommt die surreale Sequenz im Film zum ungewollt märchenhaften Kitsch.
Hier weicht Tim Blake Nelson von der Schilderung Nyiszlis ab, in welcher nicht Muhsfeldt das Mädchen erschießt, sondern einen anderen damit beauftragt. (Vgl. Nyiszli, Jenseits der Menschlichkeit, S. 85). In dem Theaterstück wird das Mädchen von Otto Moll erschossen. (Vgl. Nelson, The Grey Zone, S. 49).
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
5.5.1 Der Wunsch zu überleben Es dürfte sich um eine der missverständlichsten Sequenzen des Films handeln, der die ZuschauerInnen, die nicht über genügend historische Hintergrundinformationen verfügen, auf unangenehme Weise verwirren könnte. Sie spielt zu Beginn des Films, kurz nach dem Tod des alten Mannes und noch vor der Entdeckung des noch atmenden Mädchens in der Gaskammer. Das filmische Bild ist in verdreckten, grünlich-grauen Farbtönen koloriert; es zeigt einen spärlich ausgeleuchteten Raum, in dessen Mitte zwei einander gegenüberliegende Reihen von Waschbecken stehen. Die Rohre für warmes und kaltes Wasser, die oberhalb der Becken angebracht sind, bilden ein metallenes, geometrisch angeordnetes Geflecht. In diesem Waschraum für Sonderkommando-Häftlinge unterhalten sich Rosenthal und Hoffman über den Tod des alten Mannes und den bevorstehenden Aufstand. Ihr Dialog wird durch den Auftritt Muhsfeldts unterbrochen: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal:
Why are you two in here? We’re nearly finished. Nearly? Inside. Yes, nearly. But not completely. I suppose not. So I ask the question again. Three of our men were shot this morning. What business is it of yours? We’re going to need replacemants. And Hungarians. That’s not your problem. Of course it is. You say we’re lazy or disrespectful but don’t leave us the manpower for the work. Moll shot Lowenthal, one of our strongest men. Muhsfeldt: You want things to go fast? Rosenthal: If it’s my neck. Muhsfeldt: We’re going to be moving you soon.
Der Dialog ist fiktiv, die Sequenz basiert auf keinem der Zeugnisse und Dokumente, auf die Nelson bei der Realisierung seines Spielfilms zurückgegriffen hat. Was erzählt diese Sequenz? Was sagt sie über das Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge? Welche Intention verfolgte Nelson bei der Schaffung dieser Szene? Welche Erkenntnisse können aus ihr gewonnen werden? Fassen wir kurz zusammen: Ein Sonderkommando-Häftling bittet einen SS-Offizier um mehr Arbeitskräfte, damit die Arbeit schneller voranschreiten kann. Vermutlich hat u. a. diese Sequenz Arno Lustiger und Gideon Greif auf der Deutschlandpremiere des
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Spielfilms in Frankfurt am Main erzürnt.²³⁵ Die Situation im Waschraum ist jedoch weitaus komplexer, als sie erscheint und sollte möglichst im Zusammenhang mit den Informationen betrachtet werden, die der Film am Anfang liefert. Ebenso sollte der historische Kontext und damit der Verlauf der Ereignisse im Jahr 1944 berücksichtigt werden. Vor Beginn des Plots werden Texttafeln mit Informationen zur Situation des Sonderkommandos sowie zu Ort und Zeit der Handlung eingeblendet. Der erste Text skizziert knapp, woraus die Arbeit des Sonderkommandos bestanden hat und weist explizit darauf hin, dass die Häftlinge des Kommandos nach dem Ablauf einer bestimmten Frist liquidiert wurden. Zwei weitere Texttafeln geben den Ort – Auschwitz-Birkenau – und die Zeit – Herbst 1944 – an. Diese Angaben rahmen die historische Ausgangssituation ein, vor deren Kulisse sich die Handlung und das Thema des Films entfalten. Der Herbst 1944 bildet den Beginn der Endphase in der Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz.²³⁶ Doch bevor wir uns diesem „Anfang vom Ende“²³⁷ von Auschwitz und seiner Bedeutung für die oben angeführte Sequenz widmen können, richten wir unsere Aufmerksamkeit für einen Moment auf die ereignisgeschichtlichen Entwicklungen in einem Land, das am 19. März 1944 von den Deutschen besetzt wurde: Ungarn. Beinahe zeitgleich mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn erfolgten breit angelegte Verhaftungswellen, denen nicht nur nicht-jüdische politische Gegner zum Opfer fielen, sondern vor allem die jüdischen BürgerInnen Ungarns.²³⁸ Und nur wenige Tage später wurde in einem „atemberaubendem Tempo“²³⁹ das gleiche antisemitische Programm installiert, das sich bereits in anderen deutsch besetzten Ländern bewährt hatte. Der „antisemitische[n] Gesetztgebungsserie“²⁴⁰ – darunter befanden sich u. a. Berufsverbote, die Offenlegung der Vermögenswerte, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Senkung der Lebensmittelrationen und der Zwang zum Tragen des gelben Sterns – folgte die Ghettoisierung.²⁴¹ Der Befehl lautete, die Jüdinnen und Juden Ungarns in den Städten zu konzentrieren; so wurden auch die in den Provinzen und Dörfern le-
Siehe Kapitel 2.2. Vgl.Walter,Verena: Endphase und Befreiung. In: Benz,Wolfgang & Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München 2007, S. 153– 160. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 628. Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 132. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 134. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 135. Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 134– 138.
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benden Juden vertrieben und interniert.²⁴² In nur kurzer Zeit wurden über 200.000 Juden in Ghettos und Lager getrieben.²⁴³ Nur wenige Wochen später – am 14. Mai 1944 – erfolgten die ersten Deportationen ungarischer Juden nach Auschwitz. Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai, der sich zu dieser Zeit auf seiner Rückreise von Leányfalu nach Budapest (seinem Wohnort) befand, wurde in Vác, einer der kleineren Städte Ungarns, Zeuge dieser Ereignisse und hielt sie in seinem Tagebuch fest. Die Verhaftungen, Vertreibungen und Deportationen erinnerten ihn an Die Vierzig Tage des Musa Dagh, Franz Werfels Roman über den türkischen Völkermord an den Armeniern: Die Geschichte der Armenier von Musa Dagh findet hier bei uns statt, Tag für Tag, in jeder ungarischen Provinzstadt. Der Schauplatz der Deportationen ist nicht Mesopotamien, es sind in Stadtnähe gelegene Ziegelfabriken und Ähnliches; von dort geht es nach Polen. Tagtäglich erlebe ich die Wiedergeburt von Werfels Roman: So wie Enver Pascha und die Türken die Armenier ausgerottet haben, da ‚Rechtgläubige nicht mit Christen zusammenleben dürfen‘, so treiben die rechtgläubigen Nationalsozialisten die Juden, mit denen sie nicht in einem Land leben dürfen, aus ihren Wohnungen, berauben sie ihres Besitzes, ihrer Freiheit und schließlich wohl auch ihres Lebens – den Mördern bleibt gar keine andere Wahl! Warum? Weil es Juden sind, weil es ‚Feinde‘ sind, weil es ‚Fremde‘ sind, weil … und am Ende gibt es keine Antwort. Weil es möglich ist.²⁴⁴
Am 1. Juli 1944 wurde der 14-jährige Imre Kertész mit 17 anderen Schülern, die sich auf dem Weg zu einem erzwungenen Arbeitsdienst (das Zuschaufeln von Bombentrichtern) befanden, in Budapest verhaftet und in die Ziegelfabrik der nahegelegenen Ortschaft Budakalász gebracht.²⁴⁵ Dort musste sich der junge Kertész befunden haben, als der 44-jährige Márai, der in einem Zug aus Léanyfalu nach Budapest unterwegs war, an dem Ort vorbeifuhr. In den Tagebüchern des älteren Schriftstellers ist folgender Eintrag zu lesen: „Unterwegs passiert der Zug die Ziegelfabrik von Budakalász. Hier, in den Scheunen, die sonst zum Trocknen der Ziegel dienen, warten siebentausend Juden aus dem Budapester Umland auf die Deportation.“²⁴⁶ Die Zeit seiner Verhaftung und Internierung in der Ziegelei verarbeitete Kertész in seinem Roman eines Schicksallosen – in dem auch ein vorbeifahrender Zug erwähnt wird: Dann erinnere ich mich nur noch daran, wie ich mit den Jungen wieder zurückgegangen bin, zu unserer Unterkunft, und daß die Sommerdämmerung, die den Himmel über den Hügel
Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 139. Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 140. Márai, Sándor: Literat und Europäer. Tagebücher I, 1943 – 1944. München 2009, S. 234– 235. Heidelberger-Leonard, Irene: Imre Kertész. Leben und Werk. Göttingen 2015, S. 16 – 17. Márai, Literat und Europäer, S. 257.
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schön rötlich färbte, besonders friedlich und warm war an diesem Tag. Auf der anderen Seite, in Flußrichtung, sah ich über den Rand des Lattenzauns gerade die Wagendächer des grünen Vorortzuges fahrplanmäßig vorübereilen.²⁴⁷
In dem kurzen Zeitraum zwischen dem 14. Mai bis zum 9. Juli 1944 wurden „434.351 Juden in 147 Zügen“²⁴⁸ aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, wo vom 16. Mai bis zum 11. Juli beinahe täglich Züge aus Ungarn eintrafen.²⁴⁹ Im Frühsommer 1944 war das Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau auf 873 Häftlinge aufgestockt worden und verzeichnete damit den höchsten Stand seit seinem Bestehen²⁵⁰. Der Grund für die Aufstockung waren die Deportationen der ungarischen Jüdinnen und Juden, die Ungarn in Richtung Auschwitz verließen. Filip Müller erinnert sich noch an die Anfänge dieses „letzte[n] Kapitel[s]“²⁵¹ in der Geschichte der ungarischen Juden: „Ende April 1944 verdichteten sich die Gerüchte, daß die Ausrottung der ungarischen Juden unmittelbar bevorstehe.“²⁵² Am 8. Mai 1944 kehrte der ehemalige Lagerkommandant von Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß, der für das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) tätig war, in das Konzentrations- und Vernichtungslager zurück²⁵³, um persönlich die Durchführung des Massenmordes – „Aktion Höß“ – zu koordinieren.²⁵⁴ Müller konnte sich noch Jahre später daran erinnern: „Anfang Mai 1944 taucht zuerst der Lagerkommandant Höß und einige Tage später Hauptscharführer Moll auf dem Gelände bei den Krematorien auf. Ihr Erscheinen löste im Sonderkommando ein Gefühl der Furcht und Beklemmung aus.“²⁵⁵
Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 80. Kertész kam Anfang Juli in Auschwitz-Birkenau an. Bei der Selektion befolgte er den Rat eines älteren Häftlings und setzte sein Alter herauf: anstatt 14 gab er 16 an. Daraufhin wurde er einer Arbeitskolonne zugeteilt. (Vgl. ebd., S. 90 – 91). Wenige Tage später wurde er von Auschwitz-Birkenau weiter nach Buchenwald deportiert. (Vgl. ebd., S. 134– 135.) Vgl. hierzu auch Heidelberger-Leonard, Imre Kertèsz, S. 17. Gerlach, Christian & Aly, Götz: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944– 1945. Frankfurt am Main 2004, S. 275. Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel, S. 275. Vgl. Königseder, Sonderkommandos, S. 153. Aus dem Titel der Monographie von Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel. Müller, Das amerikanische Drama, S. 198. Rudolf Höß war vom 1. Mai 1940 bis zum 9. November 1943 Kommandant von Auschwitz. Im Winter 1943 wurde er zum Leiter des Amts D I (Zentralamt) im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA). Am 8. Mai 1944 kehrte er jedoch als Kommandant nach Auschwitz zurück, um den Massenmord an mehr als 400.000 ungarischen Juden zu koordinieren. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2007, S. 263. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 183. Müller, Das amerikanische Drama, S. 198.
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Vor seiner Rückkehr nach Auschwitz hatte sich Höß mit seinem Freund Adolf Eichmann, der für die Deportationen aus Ungarn verantwortlich war, in Budapest getroffen, um gemeinsam über effiziente Ablaufpläne nachzudenken und „zu entscheiden, wie viele Züge in Auschwitz ‚abgefertigt werden konnten‘, wie es Höß formulierte“²⁵⁶. Höß widmete sich seiner neuen Aufgabe mit Eifer und unternahm alles, um den Vernichtungsprozess zu beschleunigen: Er ließ eine neue Rampe fertigstellen, damit die Züge direkt in Birkenau, unweit der Krematorien halten konnten.²⁵⁷ Darüber hinaus ließ er die 1943 stillgelegten Gaskammern und Krematorien – Bunker 2 und Krematorium V²⁵⁸ – wieder in Betrieb nehmen und befahl zusätzlich Gruben für die Verbrennung der Leichen unter freiem Himmel ausheben zu lassen.²⁵⁹ Am 29. Juli 1944 verließ Höß Auschwitz wieder und kehrte ins WVHA zurück. Seine Arbeit war getan: Über 394.000 aus Ungarn deportierte Jüdinnen und Juden – Frauen, Kinder und Männer – wurden während seiner Anwesenheit ermordet.²⁶⁰ Für die Häftlinge des Sonderkommandos waren die Wochen „von Mai bis Juli 1944 der schreckliche Höhepunkt eines langen Alptraums“²⁶¹. In den darauffolgenden Monaten bis zum Herbst 1944 trafen dann immer weniger Transporte in Auschwitz ein.²⁶² Der Rückgang der Transporte wirkte sich ebenfalls direkt auf das Leben der Sonderkommando-Häftlinge aus. Müller macht in Lanzmanns Shoah auf diesen Zusammenhang aufmerksam: Das Leben von Sonderkommando hängte vielmal [sic] ab, ob Transporte zu vernichten gekommen sind oder nicht. Wenn mehrere Transporte angekommen sind, war das Sonderkommando vergrößert. […] Und wenn Transporte nicht gekommen sind eine längere Zeit, für Sonderkommando hat es bedeutet eine unmittelbare Vernichtung. Wenn die gewußt haben in Sonderkommando, daß, wenn die Transporte nicht kommen würden, daß das praktisch ihre Liquidierung sein wird.²⁶³
Wachsmann, Konzentrationslager, S. 528. Vgl. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 530. Siehe Kapitel 5.2. Vgl. Wachsmann, Konzentrationslager, S. 531. Vgl. Friedländer, Vernichtung, S. 648. Friedländer, Vernichtung, S. 193. Vgl. Piper, Vernichtung, S. 221. Siehe Müller in Shoah (Film). Vgl. Lanzmann, Shoah, S. 193.
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Nach dem Rückgang der Transporte beschloss die Leitung des Vernichtungslagers Auschwitz, „die Stärke des Sonderkommandos wieder einmal zu reduzieren“²⁶⁴. Ende September wurden die ersten Häftlinge zum Appell gerufen und hingerichtet.²⁶⁵ Nachdem die Häftlinge des Sonderkommandos „nicht mehr die geringsten Illusionen über das ihnen bevorstehende Schicksal“ hatten, beschlossen sie, „sich zur Wehr zu setzen“²⁶⁶. Am 7. Oktober brach der Aufstand aus, bei dem 452 Häftlinge ums Leben kamen.²⁶⁷ Die Handlung des Films The Grey Zone entfaltet sich innerhalb des kurzen Zeitraums von September bis Oktober 1944, in welchem die Transporte zurückgingen und die Hinrichtungen von Sonderkommando-Häftlingen wieder zunahmen. Berücksichtigt man diese Informationen bei der Interpretation der oben angeführten Sequenz, erscheint der Dialog zwischen Rosenthal und Muhsfeldt in einem neuen Licht: Mit der Zeit war es nämlich in ihrem eigenen – unterbewußten – Interesse, daß so viele Transporte wie möglich nach Auschwitz kamen, denn jede Unterbrechung oder Verlangsamung in der ‚Todesfabrik‘ Auschwitz bedeutete eine Bedrohung ihres Überlebens. Ihr Recht auf Weiterleben hing von ihrer Mitarbeit beim Morden, dessen völliger Geheimhaltung und der restlosen Vernichtung jeglicher Beweise ab, so daß auch nicht die geringste Spur zurückblieb. Dieser Zustand konfrontierte die Sonderkommando-Häftlinge tagtäglich mit unlösbaren seelischen Konflikten.²⁶⁸
Diese Zeilen sind Greifs Aufsatz über die „moralische Problematik“ der Sonderkommando-Häftlinge entnommen. Darin stellt der Historiker einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Transporte, der dadurch steigenden Bedrohung des Lebens der Sonderkommando-Häftlinge, ihrem Wunsch weiterzuleben und dem „unlösbaren seelischen“ Konflikt her, der daraus resultierte. Die obige Sequenz versucht nichts geringeres, als diese moralisch-problematische Situation mit den Mitteln, die dem Film zur Verfügung stehen, zu interpretieren. Der Film suggeriert damit an dieser Stelle keinesfalls, dass die Sonderkommando-Häftlinge „freiwillig“ in den Kommandos arbeiteten – wie der Vorwurf Lustigers und Greifs lautete²⁶⁹ –, sondern thematisiert den Wunsch der Häftlinge zu überleben; ihr „Recht auf Weiterleben“. So wie es Müller schon Lanzmann gegenüber geäußert hat: „‚Ich wollte leben, unbedingt leben, noch eine Minute länger, noch einen Tag
Piper, Auschwitz, S. 221. Vgl. Piper, Auschwitz, S. 221. Piper, Auschwitz, S. 222. Vgl. Piper, Auschwitz, S. 223. Greif, Problematik, S. 1026. Siehe Kapitel 2.2.
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länger, noch einen Monat länger. Begreifen Sie: leben.‘“²⁷⁰ In Shoah sagt Müller in diesem Zusammenhang: Wir fühlten uns verlassen von der Welt, von der Menschheit. Und unter diesen Zuständen könnten wir gerade extrem… einen sehr großen Verständnis [sic] haben für eine Möglichkeit, zu überleben. […] Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, bis man lebt. Und so haben wir gekämpft in unserem Leben von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Mit der Hoffnung, daß es vielleicht doch uns gelingen würde, von diese Hölle, also dieser Hölle entrinnen zu können.²⁷¹
Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint die Reaktion Rosenthals nachvollziehbar. In dem Wissen um das aufgeschobene Todesurteil, das man in dem Augenblick über ihn verhängte, in dem er für das Sonderkommando selektiert wurde, und im Klaren darüber, dass die Vollstreckung dieses Urteils mit dem Rückgang der Transporte in Zusammenhang steht und ihm somit schon bald bevorsteht, versucht Rosenthal, einen Weg zu finden, um zu überleben bzw. weiterzuleben oder zumindest seinen bevorstehenden Tod hinauszuzögern. Das lässt sich auch aus den Reaktionen Rosenthals und Hoffmans auf Muhsfeldts Satz „We’re going to be moving you soon“ herauslesen. Ein kurzer Blick Hoffmans und die Starre in Rosenthals Gesicht zeugen von ihrer Angst vor der drohenden Gefahr einer bevorstehenden Hinrichtung. Darauf folgt ein weiterer Dialog zwischen Rosenthal und Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal: Muhsfeldt: Rosenthal:
Why do you want to do that? We were thinking of a reprieve. Our group is happy to remain. Happy? This is where we’d like to remain. Why kill us now? We’re the best Kommando you’ve had. Did I say kill? We both know what we’re saying. So I’m a liar? You’re what you are.
Filip Müller zit. nach Lanzmann, Der Patagonische Hase, S. 48. Siehe Müller in Shoah (Film). Vgl. Lanzmann, Shoah, S. 194.
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Rosenthal handelt in seinem eigenen und in dem Interesse der anderen Sonderkommando-Häftlinge, indem er Muhsfeldt davon zu überzeugen versucht, sie nicht zu „verlegen“. In dem Wissen um die Bedrohung seines Lebens und des Lebens der anderen Häftlinge des Kommandos bittet er Muhsfeldt daher, die Arbeit fortsetzen zu dürfen.
5.5.2 Ascensus In dieser komplexen Sequenz wird das Kernthema des gesamten Films zusammengefasst und vorweggenommen: der Versuch, an einem Ort zu überleben, in dem das Leben seinen Wert verloren hat und der Tod die einzige Möglichkeit zu sein scheint, all dem zu entkommen. Nelson versucht darzustellen, dass den Häftlingen des Kommandos letztendlich kaum eine andere Wahl blieb, als sich entweder den Gegebenheiten anzupassen oder sich das Leben zu nehmen. Und all jene Häftlinge, die sich dazu entschlossen hatten, sich der Gewalt des Ortes und der SS auszusetzen anstatt sich der Situation durch Suizid zu entziehen, unternahmen alles, um weiterzuleben – um zu überleben. Doch an diesem in The Grey Zone dargestellten Ort gelingt das Überleben nicht: Der alte Mann wird nach einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch mit einem Kissen erstickt; das am Leben gebliebene Mädchen aus der Gaskammer wird am Ende erschossen; der Aufstand, der u. a. einigen Sonderkommando-Häftlingen zur Flucht hätte verhelfen und ihnen somit das Überleben sichern können, scheitert an der Gewalt der SS. Und schließlich müssen Hoffman und Rosenthal erkennen, dass eine Umkehrung des descensus, eine Umkehr des Abstiegs in die Hölle, also ein Aufstieg aus der Hölle – ascensus – nicht möglich ist. Das Ende des Films suggeriert jedoch einen flüchtigen Moment der Hoffnung. Hoffman und Rosenthal bietet sich für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit, einen Funken der Normalität ihres früheren Lebens – dem Leben vor Auschwitz – wiederherzustellen und damit ein Gefühl wiederzuerlangen, das sie glaubten, längst verloren zu haben. Für wenige Minuten scheint ein Weg sichtbar zu werden, „der aus der Hölle führt,/ Zum Licht empor“²⁷². Nachdem die SS die Revolte niedergeschlagen hat, versammelt sie die am Leben gebliebenen Aufständischen und zwingt diese, sich der Reihe nach mit dem Gesicht zu Boden zu legen. Anschließend gehen SS-Männer die Reihen der am Boden liegenden Sonderkommando-Häftlinge ab und schießen ihnen ins
Milton, John: Das verlorene Paradies. Übersetzt und hg. von Hans Heinrich Meier. Stuttgart 1996, 2. Buch, V. 567– 568, (S. 50).
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
Genick. Unter den Gefangenen befinden sich Rosenthal und Hoffman, sie liegen nebeneinander. Die SS-Männer sind noch nicht bei den beiden angekommen, doch sie näher sich mit jedem Schuss, der ertönt. Rosenthal und Hoffman wissen, dass ihnen nur noch wenige Minuten, wenn nicht Sekunden bleiben. Doch anstatt vor dem nahestehenden Tod zu erstarren, unterhalten sie sich über Budapest, ihre Heimatstadt – ganz so, als gäbe es die Krematorien nicht, als hätte AuschwitzBirkenau nie existiert: Hoffman: Rosenthal: Hoffman: Rosenthal: Hoffman: Rosenthal: Hoffman:
In Budapest, mostly. My wife was from the city, but we stayed north. I still don’t know why. It’s beautiful there. Yes it is, but we were finally going to move near her family. And where did they live? Near the markets. We would be neighbors.
Die Vorstellung, sie hätten Nachbarn sein können, erfüllt sie für einen Augenblick mit Glück, mit Hoffnung. Beide lachen, während sich die SS-Männer nähern. In ihrem Lachen liegt nichts Verzweifeltes oder Resigniertes. Sie lachen, wie sie vielleicht als Nachbarn gelacht hätten, wenn sie sich zufällig auf dem nahegelegenen Markt in ihrem Budapester Stadtteil begegnet wären. Das Festhalten an Vorstellungen eines früheren Lebens oder Erinnerungen an das, „das im früheren Leben üblich war“, schreibt die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke in ihrem Buch Weil es sagbar ist, „kann auf ‚stumme Art‘ helfen“²⁷³, Entrechtung und Gewalt zu ertragen. Die Rückbesinnung auf das Alltägliche des frühen Lebens in Zeiten tiefer Verzweiflung, „das Festhalten an Standards, die nicht mehr aufrechterhalten werden können, das Bestehen auf Ordnung oder Sauberkeit, Tätigkeiten, die seltsam unwirklich anmuten im Kontext von extremen Ausnahmesituationen“²⁷⁴, wie etwa die Erinnerung an die Heimatstadt, die eigene Wohnung, ein nahegelegener Markt, „helfen, weil sie den Eindruck des Normalen vermitteln“²⁷⁵. Nach einem kurzen Moment verklingt das Lachen von Rosenthal und Hoffman. Sie blicken auf das Mädchen, das sie gerettet haben. Ein kurzer Schnitt zeigt sie, wie sie umringt von SS-Männern die Exekutionen beobachtet. Schnitt zurück auf Rosenthal und Hoffman:
Emcke, Carolin: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2013, S. 59. Emcke, Weil es sagbar ist, S. 60 – 61. Emcke, Weil es sagbar ist, S. 61.
5.6 Fazit: Überleben und berichten oder für die Ehre sterben?
Hoffman: Rosenthal: Hoffman: Rosenthal: Hoffman:
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Will they kill her? They’re going to show her this then let her live? But why wouldn’t they have done it already? You’re asking for reasons? I guess I was.
Es folgt eine kurze, kaum wahrnehmbare Pause. Dann sagt Rosenthal: „We did something.“ „Yes.“, antwortet Hoffman. Sie berühren einander, an den Schultern, an den Händen. Sie beginnen zu weinen, während die SS über ihnen steht. Sie versichern einander: „We did.“, und verabschieden sich: „Bye.“ Der erste Schuss trifft Hoffman im Genick. Rosenthal wiederholt: „Neighbors“, seinen letzten Worten folgt der zweite Schuss. Rosenthal und Hoffman haben „etwas gemacht“; etwas vollbracht. Sie haben das Mädchen gerettet – auch wenn ihnen am Ende klar wird (und vielleicht wussten sie es die ganze Zeit), dass die Rettung nur ein vorübergehender Zustand war, dass das Mädchen keine Chance hatte, lebend aus Auschwitz herauszukommen. Dennoch haben sie etwas getan, etwas geschafft, wenn auch nur temporär. Sie haben dem Mädchen – und vor allem sich selbst – Augenblicke der Hoffnung verschafft. Darin, so suggeriert diese Sequenz, lag ihr eigentlicher Widerstandsakt. Denn: „Etwas tun zu können“, wie Carolin Emcke schreibt, „irgendetwas, sich im Radius der Ohnmacht der eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern, gehört zu den Momenten der Dissidenz.“²⁷⁶ Mit der vorübergehenden Rettung des Mädchens haben sie sich nicht nur ihrer Menschlichkeit an diesem unmenschlichen Ort versichert – jene Menschlichkeit, von der sie dachten, sie hätten sie durch ihre Taten verloren –, sondern sich der Logik der Gewalt und des Todes in den Krematorien widersetzt.
5.6 Fazit: Überleben und berichten oder für die Ehre sterben? Am Ende von The Grey Zone bleiben viele Fragen hinsichtlich der Organisation, der Beteiligung und der Durchführung des Aufstandes unbeantwortet. Das ist zu erwarten, da es einem Spielfilm von ungefähr 100 Minuten kaum gelingen kann, die Komplexität dieser Geschichte²⁷⁷ darzustellen. Dementsprechend werden die Verflechtungen der Widerstandszelle im Sonderkommando mit den allgemeinen Untergrundbewegungen sowie der jüdischen Widerstandsbewegung im Stammlager (Auschwitz I) sowie in Birkenau (Auschwitz II)²⁷⁸ nicht thematisiert. Der
Emcke, Weil es sagbar ist, S. 60. Vgl. Friedler/Siebert/Kilian, Zeugen, S. 223 – 281. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 73 – 120.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
Aufstand des Sonderkommandos kann jedoch, wie Greif und Levin wiederholt anmerken, „nicht gesondert von der Geschichte des organisierten Widerstands in Auschwitz betrachtet“²⁷⁹ werden. Die Geschichte jener Frauen, die als weibliche Häftlinge in den sogenannten Union Werken²⁸⁰ arbeiten mussten und maßgeblich an den Vorbereitungen beteiligt gewesen waren²⁸¹, fand hingegen Eingang in den Plot von The Grey Zone. Die Frauen, die für den erfolgreichen Schmuggel von pulverisiertem Sprengstoff in die Unterkünfte der Sonderkommandos verantwortlich waren, sowie ihre Festnahme, die anschließende Folterung und Ermordung durch die SS werden in Nelsons Film sensibel nachgezeichnet, wenn auch nicht immer den ereignisgeschichtlichen Fakten entsprechend. Doch nicht nur die eingeschränkten Möglichkeiten des Mediums sind dafür verantwortlich, dass die komplexen Verflechtungen ausgespart worden sind, sondern auch die Entscheidungen des Regisseurs. Wie Nelson betont, handelt es sich bei The Grey Zone nicht um einen Film über den Aufstand in Auschwitz, sondern um einen Film über das Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge und über jenen Ort, den die SS (für sie) geschaffen hatte. In dieser Erzählung spielt der Aufstand eine ebenso wichtige Rolle wie die Geschichte des Mädchens aus dem Gas oder die Erzählung vom Selbstmord des alten Mannes oder Hoffmans Gewaltausbruch. In seinen Notizen macht Nelson auf diesen Zusammenhang aufmerksam, indem er schreibt: I couldn’t be less interested in this movie being identified as an ‚uprising film‘. That said, the attempted rebellion, and its tension with Nyiszli’s story and that of the Girl, does drive the story; without the rebellion the movie’s but a bleak portrait of the twelfth Sonderkommando, and I dare say it would have no audience. The trick then is not to play the uprising for its heroism.²⁸²
Kurz vor dem Ausbruch des Aufstands betritt Muhsfeldt den Raum, in dem er das Mädchen gefangen hält. Er tritt nah an sie heran und sagt: „It’s all sentimental, do you understand? Sentimental? Because they looked you in the eye twice. Once before, and once after, and suddenly they believe in heroics.“ Nelson hielt sich zwar mit einer heroisierenden Darstellung des Aufstands zurück, konnte oder wollte dennoch nicht gänzlich auf den Heroismus verzichten. Die fiktiven Sonderkommando-Häftlinge handeln bei ihrem Versuch, das Mädchen zu retten, heldenhaft. Die letzten Worte Rosenthals und Hoffmans handeln davon: Ihr „We did something“ ist (wie oben dargestellt) auf die Rettung und nicht
Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 74. Die „Union Werke“ gehörten zum Rüstungskonzern der Friedrich Krupp AG. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 179 – 199. Nelson, Director’s Notes, S. 158 – 159.
5.6 Fazit: Überleben und berichten oder für die Ehre sterben?
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auf die Rebellion bezogen. Auch wenn sich das von Nelson gezeichnete Heldenbild gravierend von dem unterscheidet, das Jon Avnet und Paul Brickman in Uprising entworfen haben, ist es dennoch bemerkenswert, dass Erzählungen über den Widerstand während des Holocaust scheinbar nicht ohne die Herausstellung des Heldentums auskommen. Dafür spricht auch, dass Nelson seine Rettungsgeschichte nicht losgelöst von der Revolte erzählen wollte. Ähnlich verhält es sich bei einem anderen Film über das Sonderkommando: Son of Saul (Saul Fia, H 2015). Die darin erzählte Geschichte eines Häftlings, der unter den Leichen seinen Sohn entdeckt zu haben glaubt und daraufhin alles in seiner Kraft stehende unternimmt, dem vermeintlichen Sohn traditionell bestatten zu können, spielt vor dem Hintergrund des bevorstehenden Aufstands. Anscheinend kann nicht vom Sonderkommando gesprochen werden, ohne darauf hinzuweisen, dass auch hier Widerstand geleistet wurde. So lässt sich bereits bei Primo Levi lesen: „Und schließlich soll noch daran erinnert werden, daß gerade vom Sonderkommando im Oktober 1944 der einzige verzweifelte Versuch einer Revolte in der Geschichte der Lager von Auschwitz organisiert wurde […].“²⁸³ Die Revolte vom 7. Oktober 1944 dauerte zwölf Stunden, die Sonderkommandos bestanden drei Jahre. Über 450 Männer wurden im Zuge des Aufstands und nach dessen Niederschlagung hingerichtet. In dem gesamten Zeitraum des Bestehens der Kommandos wurden mehr als 2.500 Häftlinge ermordet. Der überwiegende Teil der Berichte und Aussagen jener Häftlinge, die überlebten oder denen es gelungen war, ihre Aufzeichnungen auf dem Gelände von Birkenau zu vergraben, handelt nicht vom Aufstand, sondern von ihrer Tätigkeit in den Krematorien. Das Überleben eines Teils dieser „Zeugen aus der Todeszone“²⁸⁴ sowie die erhalten gebliebenen Berichte dürften doch als Heldentum ausreichen, oder? Dieses Heldentum – wenn es als solches bezeichnet werden kann – zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass nicht der Tod im Mittelpunkt des Bemühens stand, sondern der Versuch zu überleben. Darin unterscheidet sich das Heldentum der Sonderkommando-Häftlinge von jenem der Warschauer GhettokämpferInnen: Ein überwiegender Teil der Häftlinge der Kommandos wollte überleben (und berichten), anstatt für die Ehre und Würde zu sterben. An dieser Stelle möchte ich noch ein drittes Mal auf die Worte Yitzhak Arads verweisen, in welchen er zum Ausdruck bringt, dass wir auf den Begriff Heldentum eigentlich verzichten könnten. Arad traf sich 1979 mit Raul Hilberg, als dieser sich in Jerusalem aufhielt. Während eines Spaziergangs erzählte er dem aus den Vereinigten Staaten von
Levi, Die Untergegangenen, S. 58. Aus dem Titel des Buches von Friedler/Siebert/Kilian.
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5 The Grey Zone: Das Rettende in der Revolte
Amerika angereisten Wissenschaftler von seiner neuen Theorie. Hilberg erinnerte sich später an dieses Gespräch: Er schreibe gerade an einem Buch über die Vernichtungslager Sobibor, Treblinka und Belzec und natürlich über die Aufstände dort. In Israel könne man über nichts ein Buch schreiben, ohne früher oder später auf die Aufstände zu sprechen zu kommen. Sie seien quasi der dramatische Höhepunkt, um den sich alles drehe. Ob es um das Warschauer Ghetto, Sobibor oder Treblinka gehe, das zentrale Ereignis seien immer die Aufstände. Aber die Sache habe einen Haken, sagte Yitzhak dann. Die Häftlinge in den Vernichtungslagern taten lange Zeit nichts weiter, als abzuwarten, bis ihnen im Laufe des Jahres 1943 auffiel, dass die Transporte langsam ausdünnten, besonders in Treblinka. Es kamen immer weniger Juden an, weil fast alle vergast worden waren. Und nun bekamen es die 1000 verbliebenen Lagerinsassen, die vorwiegend den Arbeitskommandos angehörten, mit der Angst zu tun. Die Nahrungsmittel wurden knapp, denn sie hatten ja überhaupt nur so lange überlebt, weil sie sich von den mitgebrachten Lebensmitteln der Deportierten ernährt hatten. Da immer weniger Züge eintrafen, für deren Säuberung sie zuständig waren, fürchteten sie außerdem, dass sie als Nächstes an die Reihe kämen. Erst dann entschlossen sie sich zur Revolte.²⁸⁵
Nach den Ereignissen in der Nacht des 8. März 1944, in der 3.972 Häftlinge des „Theresienstädter Familienlagers“ in der Gaskammer ermordet wurden, begannen die Sonderkommando-Häftlinge mit den Vorbereitungen zu einem Aufstand.²⁸⁶ Der Zeitpunkt, zu dem sie sich erheben wollten, wurde mehrmals verschoben. Spätestens im August 1944, als sich allmählich abzeichnete, dass die Anzahl der Transporte in den folgenden Wochen zurückgehen würde und das eigene Leben dadurch in besonderer Weise gefährdet war, entschlossen sich die Sonderkommando-Häftlinge zu handeln.²⁸⁷ Arads Einschätzung trifft somit auch auf das Sonderkommando zu. Primo Levi plädiert dafür, dass niemand über die Männer der Sonderkommandos Gericht sitzen dürfe und dass wir sie nicht einseitig bewerten sollte.²⁸⁸ Dies teile ich voll und ganz. Niemand hat das Recht, diese Männer für ihre Taten zu verurteilen oder gar zu dämonisieren. Doch bedeuten Levis Worte nicht auch, dass wir diesen Männern ebenso unrecht tun würden, wenn wir sie heroisierten und ihre Taten verklärten? Würde es etwas an den Ereignissen vom 7. Oktober 1944 ändern, wenn wir davon ausgingen, dass die Sonderkommando-Häftlinge hauptsächlich um ihr eigenes Überleben besorgt gewesen wären und dies der
Hilberg, Raul: Die Beschäftigung mit dem Holocaust, in: Hilberg, Raul: Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen. Hg. von Walter H. Pehle und René Schlott, Frankfurt am Main 2016, S. 265 – 305, hier: S. 298 – 299. Vgl. Karny, Familienlager, S. 208. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 209. Vgl. Levi, Die Untergegangenen S. 58 – 59.
5.6 Fazit: Überleben und berichten oder für die Ehre sterben?
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eigentliche Antrieb hinter dem Aufstand darstellen würde? Wäre die Revolte weniger von Bedeutung, wenn die Männer sich nach unseren Maßstäben „unehrenhaft“ oder gar „unmoralisch“ verhalten hätten? Warum erwarten wir, dass sich diese Männer an einem Ort, an dem – wie bereits erwähnt – „das absolut Böse zur Institution“ und „jede moralische Tat unmöglich“²⁸⁹ geworden ist, „ehrenhaft“ und „moralisch“ verhalten? Warum muss ihr Aufstand retrospektiv als „Sieg des Geistes“ und „Sieg der Moral“, wie es bei Greif und Levi heißt, deklariert werden?²⁹⁰ Vielleicht weil er sich dadurch besser für die Konstruktion eines identitätsstiftenden Mythos eignet. Vielleicht aber auch, weil damit den Häftlingen der Sonderkommandos eine letzte Ehre erwiesen werden soll. Gideon Greif und Itamar Levin schließen ihr Buch mit den Worten des Auschwitz-Überlebenden Mordechai Fraenkel²⁹¹, dessen Beschreibung des Aufstands „so treffend“ sei²⁹²: „‚Die jüdischen Jungs haben gezeigt, dass sie nicht im Feuer verbrennen werden und dass das Gas sie nicht töten wird. Das ist ein sehr schwacher Trost, aber wer auch immer die Geschichte von Auschwitz niederschreibt, wird nicht vergessen, sie zu erwähnen.‘“²⁹³ Diesen Worten möchte auch ich mich anschließen – aber vielleicht aus anderen Gründen als Greif und Levin.
Sofsky, Grenze des Sozialen, S. 1157. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 10. Mordechai Fraenkel wurde im Juni 1944 nach Auschwitz deportiert. Vgl. Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 303. Mordechai Fraenkel zit. nach Greif/Levin, Aufstand in Auschwitz, S. 303.
6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder Show me a hero and I will write you a tragedy (F. Scott Fitzgerald) Ich wollte retten, nicht töten … (Tuvia Bielski)
Es handele sich um drei wesentliche Veränderungen, mit denen sie nicht einverstanden war, wie Nechama Tec in einem Interview erklärte, das anlässlich des US-Kinostarts von Defiance geführt wurde.¹ Der Spielfilm des Regisseurs und Drehbuchautors Edward Zwick basiert beinahe gänzlich auf dem Buch der Historikerin über die jüdischen Partisanen der Bielski-Einheit. Nach der ersten privaten Sichtung waren Nechama Tec etliche mal kleinere, mal größere Eingriffe aufgefallen, die an der Vorlage vorgenommen worden waren. Ihre Unzufriedenheit erregten jedoch erst jene drei Veränderungen. Sie wandte sich an Edward Zwick, der sich daraufhin bereit erklärte, zwei der drei beanstandeten Abweichungen ihrem Wunsch gemäß zu korrigieren. Doch den dritten Punkt konnte und wollte er nicht ändern, und er erklärte ihr auch warum: Filme erzählen anders als historiographische Darstellungen; einige Schwerpunkte aus ihrem Buch müssten daher dramatisiert werden, um zu funktionieren. Auf Nachfrage des Interviewers, um welche Abweichungen es sich gehandelt habe, entgegnet Tec, dass sie sich leider nicht mehr genau erinnern könne. Nach kurzem Überlegen fügt sie jedoch hinzu, dass einer der Punkte, die der Regisseur ändern ließ, sich auf die Religion bezog, und die Rolle, die diese im Leben Tuvia Bielskis, des Anführers der Partisanen und zugleich Protagonisten des Spielfilms, eingenommen hatte. Zwick hätte ihre Bedeutung übertrieben: Denn Bielski war nicht in konventioneller Hinsicht gläubig gewesen, vielmehr war sein Interesse an Religion aus intellektueller Neugier entsprungen.² Noch im hohen Alter von 81 Jahren, wie Tec in ihrem Buch schreibt, konnte sich der ehemalige Kommandant genau an die wenigen Jahre erinnern, in denen er die Thoraschule besucht
Nechama Tecs Interview in Shalom TV kann auf Youtube eingesehen werden: Tec, Nechama: Interview bei Shalom TV. Veröffentlicht am 30.11. 2012. https://www.youtube.com/watch?v= owVmKxKQdM0 (14. November 2016). Siehe Tec, Interview bei Shalom TV. https://doi.org/10.1515/9783110604726-007
6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
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hatte: „Voller Sehnsucht sprach er von seiner Freude am Lernen und von seinem unbedingten Willen, mit dem Studium fortzufahren.“³ Nechama Tec hatte Tuvia Bielski persönlich gesprochen: 1987 war es ihr durch Geduld und beharrliches Bitten gelungen, zu ihm durchgelassen zu werden.⁴ Denn Lilka Bielski, die Frau Tuvias, hatte bis dahin jeden Interviewtermin ihres Mannes kurzfristig abgesagt. An einem Tag im Mai 1987 stand Tec vor der Wohnung der Bielskis im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo sie erneut von Lilka abgewiesen wurde. Frau Bielski erklärte ihr, dass es ihrem Mann aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei, sie zu empfangen. Tec versuchte Lilka dennoch „höflich aber bestimmt“⁵ von der Dringlichkeit ihres Anliegens zu überzeugen. Schließlich wurde ihre Diskussion von Tuvias tiefer Stimme unterbrochen: „Let her in“⁶. Resigniert führte Frau Bielski die Historikerin ins Wohnzimmer; kurz darauf betrat der ehemalige Partisanenführer „aufrecht, doch mit sichtlicher Anstrengung“⁷ den Raum: „Sein Gesicht überzog ein vorsichtiges, trauriges Lächeln. Er kannte den Grund meines Besuches und erklärte mit matter Stimme, wie froh er sei, daß ich ein Buch über ihn schreiben wolle.“⁸ Sie setzten sich, und binnen kurzer Zeit verwandelte sich der „schwache Riese in einen lebendigen, geistreichen Geschichtenerzähler“⁹. Nach ihrem Gespräch verabschiedete sie sich von ihrem Interviewpartner mit dem Versprechen, dass sie ihn schon bald wieder besuchen kommen würde. Zwei Wochen später erreichte sie in Israel die Nachricht vom Tode Tuvia Bielskis. Nechama Tecs Buch Defiance. The Bielski Partisans, das hauptsächlich auf Oral History Interviews basiert, die zum Teil aus den Beständen in Yad Yashems stammten oder die sie selbst führte, wurde 1993 in New York veröffentlicht. Kurz darauf sicherte sich Edward Zwick die Filmrechte. Neun Jahre später rief der Regisseur bei Tec an und fragte, ob sie noch Interesse an einer Verfilmung ihres Werkes hätte.¹⁰ Die Historikerin antwortete nach kurzem Zögern: Ja, aber er dürfe die Geschichte nicht trivialisieren. Denn dies, fügte sie scherzhaft hinzu, würde sie nicht überleben.¹¹ Diese Auflage bedeutete, dass Zwick in seinem Film sowohl das
Tec, Nechama: Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Gießen 2009, S. 18. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 10. Tec, Bewaffneter Widerstand., S. 9. Tec, Interview bei Shalom TV. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 10. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 10. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 11. Tec, Interview bei Shalom TV. Siehe Tec, Interview bei Shalom TV.
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„Gute“ an Tuvia, seinen Brüdern und den Partisanen darstellen solle als auch das „Schlechte“. Aber vor allem müsse die zentrale Aussage ihres Buches deutlich zu erkennen bleiben: Nämlich, „daß Juden selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen und unter großen Leiden fest entschlossen waren, zu überleben – sie weigerten sich, passive Opfer zu werden“¹². Der Regisseur ging auf die Wünsche der Historikerin ein: Die Verfilmung, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht von der Vorlage sowie den ereignisgeschichtlichen Fakten abweiche, zeige dennoch ganz deutlich, so attestiert Tec, dass die Juden nicht wie Schafe zur Schlachtbank gegangen seien.¹³ Am Ende des Interviews erfahren wir nicht, um welche zwei anderen Veränderungen es sich handelte, die anfangs den Unmut der Historikerin erregt hatten. Wir erfahren daher auch nicht, welche von beiden Abweichungen Zwick verworfen und welche er unverändert gelassen hat. Ein direkter Vergleich zwischen Buch und Film verdeutlicht, dass der Regisseur und sein Co-Autor Clayton Frohman erhebliche Veränderungen am Original vorgenommen haben: Sie haben die Chronologie der Ereignisse verändert, Personenkonstellationen umgestellt, Situationen und Figuren erfunden, Persönlichkeiten umgeformt und zugleich wichtige Charaktere unerwähnt gelassen. Doch damit haben sie auch zugleich eine weitere Facette aus Tecs Buch herausgearbeitet und sichtbar gemacht: Der Versuch, zu überleben und andere zu retten ist ebenso als ein Akt des Widerstands zu betrachten und stellt keinen Widerspruch zum bewaffneten Kampf dar. Im Fall der Bielski-Partisanen war der bewaffnete Kampf nicht Zweck, sondern vielmehr Mittel, um das Überleben zu sichern. Die Rettung von Leben, die mit erheblichen Anstrengungen verbunden war, schloss bewaffnete Auseinandersetzungen nicht kategorisch aus. In vielen Fällen waren sie gar unumgänglich, um z. B. Sicherheit herzustellen oder Lebensmittel zu besorgen. Tuvia legte jedoch „keinen Wert auf militärischen Ruhm“¹⁴; sein Ziel bestand darin, so viele Menschenleben zu retten, wie ihm möglich war: Für mich war das ganz einfach: Die Deutschen holten meinen Vater, meine Mutter und meine zwei Brüder ab. Sie brachten sie zuerst ins Ghetto, und dann brachten sie sie um. Der Feind machte keinen Unterschied. Sie griffen sich wahllos Menschen und töteten sie.Würde ich sie nicht bloß nachahmen, wenn ich einfach ein paar Deutsche – irgendwelche Deutsche – umbrachte? Es würde sich nicht auszahlen, und für mich hatte das auch keinen Sinn. Ich wollte retten, nicht töten … Ich sah, daß kein Jude auf den anderen hörte. Die Juden waren
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 7. Tec, Interview bei Shalom TV. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 134.
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streitsüchtig und undiszipliniert. Auf mich hörten sie; mich respektierten sie. Also mußte ich sie retten.¹⁵
Es war diese besondere „Verbindung aus Kampf und Rettung“, die das Interesse und die Neugier Nechama Tecs zu Beginn ihrer Recherchen geweckt hatte. Die Geschichte der Bielski-Einheit beweist, dass nicht nur der bewaffnete Kampf per se als Argument gegen einen wie auch immer gearteten Passivitätsvorwurf angeführt werden kann, sondern auch die Rettung von Menschen; und schließlich der Versuch, zu überleben. Diese zentrale These aus Tecs Buch bildet den Kern der Handlung von Defiance. Um sie hervorzuheben und im Rahmen eines Plots erzählbar zu machen, griffen Zwick und Frohman auf das „Prinzip des Antagonismus“ zurück. Hierbei handelt es sich um „die wichtigste und zugleich am wenigsten verstandene Regel fürs Story-Design“¹⁶ – dies gilt vor allem für das Hollywood-Kino. Zu Beginn mussten sich die beiden Autoren zwei Fragen stellen: 1. Was ist das Ziel des Helden? 2.Welche antagonistischen Kräfte könnten ihn vom Erreichen seines Ziels abhalten? Nachdem das Ziel ihres Protagonisten festgelegt worden war, konstruierten sie mit Rückgriff auf die überlieferten ereignisgeschichtlichen Fakten, die sie an einigen Stellen veränderten und der Erzählstruktur anpassten, drei verschiedene Abstufungen bzw. Intensitäten antagonistischer Kräfte: eine dem Ziel entgegengesetzte, eine widersprüchliche und schließlich eine, die sich zum Vorhaben des Protagonisten im doppelten Sinne negativ verhält.¹⁷ Anders als bei Uprising handelt es sich hier um einen plot-driven Film, d. h. die Handlung wird maßgeblich durch die Konflikte, die innerhalb des Plots entstehen und zu lösen sind, vorangetrieben. Hierbei zwingt der Plot den Protagonisten zu Handlungen und Entscheidungen, die den weiteren Verlauf beeinflussen. Während der Protagonist die Probleme löst, werden einzelne Themenbereiche, wie etwa Gemeinschaft oder Gewalt, vorgestellt und behandelt. Kurz zur Struktur des vorliegenden Kapitels: Einem kurzen Abriss des historisch-geographischen Kontextes, der Vorstellung der wichtigsten Personen und Beziehungen folgt eine knappe Einführung in das Prinzip des Antagonismus. Anschließend werden ausgewählte Sequenzen des zu untersuchenden Spielfilms mit Rückgriff auf die ereignisgeschichtlichen Fakten und Verflechtungen anhand der drei unterschiedlichen antagonistischen Kräfte analysiert. Im Zentrum der Untersuchung steht die Filmfigur Tuvia. Im Gegensatz zum Filmhelden Mordechai
Tuvia Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 85. McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin 2001, S. 340. Näheres hierzu in Kapitel 6.2.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
Anielewicz aus Uprising ist Tuvia nicht von Beginn an mit herausragenden Eigenschaften ausgestattet, sondern erwirbt diese erst im Zuge der Konfrontationen mit den antagonistischen Kräften. Zwick zeichnet demnach ein anderes Heldenbild, dass sich von den in den vorangegangenen hier untersuchten Filmen unterscheidet.Worin unterscheidet sich Tuvias Heldentum von jenem der anderen in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Helden des bewaffneten jüdischen Widerstands? Wie wirkt sich dieses Bild auf die Bewertung und Einordnung des Widerstands der PartisanInnen aus?
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung bis zur deutschen Besetzung David Bielski, der Vater von Tuvia und seinen Geschwistern, soll ein sanftmütiger und zurückhaltender Mann gewesen sein, der Konflikte scheute und allen mit dem gleichen Maß an Höflichkeit begegnete; ganz gleich, ob es sich um Offiziere des Zaren oder um einfache Diebe handelte, die die Schwelle seines Hauses betraten: Er lud sie auf ein Glas Wodka ein.¹⁸ Beila, Davids Ehefrau und Mutter der Bielski-Kinder, war „temperamentvoller und energischer“¹⁹. Sie wäre unerbetenen Gästen, die sie, in welcher Hinsicht auch immer, zu berauben gedachten, vermutlich nicht mit geduldiger Güte begegnet. Trotz ihrer gegensätzlichen Gemüter lehrten die Bielskis ihre zwölf Kinder, „anständige Leute höflich und korrekt zu behandeln“, sich „von bösen Menschen jedoch nichts gefallen zu lassen“²⁰. Ihre Erziehungsmaximen hatte großen Einfluss auf ihre Töchter und Söhne: „Wir ließen uns nicht herumschubsen und fürchteten uns vor niemandem. So war unsere Familie nun mal“²¹, erklärte Zus, einer der mittleren Brüder. In einem Interview für die USC Shoah Foundation erinnert sich Aron, der jüngste der Bielskis, dass er in seiner Kindheit nie mit Antisemitismus in Berührung gekommen sei.²² Der Grund dafür war, dass sich niemand auf einen Streit mit den Bielski-Brüdern einlassen wollte: Sie waren über 1,80 m groß, kräftig und „tough Jews“.²³ Die Bielski’sche Härte bekam ein Nachbar zu spüren, der es sich
Duffy, Peter: The Bielski Brothers. New York 2003, S. 4. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 19. Zus Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21. Das Interview mit Aron Bielski (der seinen Namen in Bell ändern ließ) ist auf Youtube einsehbar: Bielski, Aron: Interview. Veröffentlicht am 15.07. 2011. https://www.youtube.com/watch? v=xvlNfeJ9VPw (15 November 2016). Vgl. Bielski, Interview.
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung
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angewöhnt hatte, „regelmäßig einen schmalen Streifen von der Wiese der Bielskis ab[zumähen]“²⁴, um damit seinen Besitzanspruch zu markieren. David war gewillt, den geringen Verlust seines Landes schweigend hinzunehmen, doch seine Söhne nicht. In Begleitung von Zus provozierte der 15-jährige Tuvia diesen Nachbarn, indem er dessen Grundstück unbefugt betrat. Sogleich „stürzte der Nachbar laut brüllend aus seiner Hütte“²⁵ und ging drohend auf die Jungs zu. Tuvia erinnerte sich folgendermaßen an die Episode: Mit der Sense in der Hand drohte er: ‚Ich werde euch umbringen!‘ Aber ich stand einfach nur da und lachte. Das machte ihn noch wütender. Als er näher kam, schlug ich mit meiner Sense nach der seinen. Er verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Rücken. Als er am Boden lag, begann ich ihn mit Fäusten zu bearbeiten. […] An diesem Tag schlug ich den Nachbarn so zusammen, daß wir ihn zwei Wochen lang nicht zu Gesicht bekamen. Ich war damals zwar noch jung, aber schon groß und kräftig. Ich hatte keine Angst vor den Nichtjuden und wehrte mich nach Leibeskräften, wenn mir Unrecht zugefügt wurde.²⁶
Die Kinder wuchsen innerhalb einer klar strukturierten Familienhierarchie auf, die, trotz Davids Sanftheit und seiner liberalen Einstellungen, auf patriarchalischen Prinzipien beruhte. Demnach war David das unangefochtene Familienoberhaupt: Seinem Wort wurde nicht widersprochen; daran hielt sich auch die impulsive Beila.²⁷ Die Kinder gehorchten nicht nur Vater und Mutter, sondern auch dem ältesten Bruder, der irgendwann dem Vater als Familienoberhaupt folgen würde: Chaim Velvel, ein ernsthafter und nachdenklicher junger Mann, der Stankiewicze jedoch in den frühen 1920er Jahren verließ, um in den Vereinigten Staaten von Amerika ein neues, ein eigenes Leben zu beginnen. Als zweitältester Sohn übernahm Tuvia, der 1906 geboren wurde, die Rolle Chaims.²⁸ Beila und David hatten insgesamt zwölf Kinder: die zwei Töchter Tajba und Estelle sowie die Söhne Chaim, Tuvia, Asael, Zus, Nathan, Avremale, Joshua, Jakov und Aron. Asael, 1908 geboren, war der direkte Nachfolger Tuvias; Zus, sechs Jahre jünger als Tuvia, folgte Asael. Sie alle wuchsen in dem kleinen Dorf Stankiewicze auf, in dem ihre Familie seit drei Generationen lebte.²⁹ Dieser abgeschiedene Ort wirkte auf die Kinder wie ein Magnet: Immer wieder kehrten sie dorthin zurück; mit Ausnahme von Chaim und Nathan, der seinem älteren Bruder
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21. Tuvia Bielski zit. nach: Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21– 22. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 19. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 22. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 16.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
in die Vereinigten Staaten gefolgt war.³⁰ Dies war der Ort, „wo man feierte, wo man trauerte und wo man sich versteckte“³¹. Stankiewicze liegt im Westen Weißrussland inmitten des Hrodnaer Gebiets, umgeben von zwei größeren Städten: Lida und Nowogródek.³² Ein Fluss durchfließt das Dorf. Dieser Fluss sicherte schon zu Bielskis Zeiten die Wasserversorgung, denn Stankiewicze verfügte weder über Wasserleitungen noch über einen Brunnen.³³ Jenseits des Dorfes „erstreckten sich die für Weißrußland typischen, endlosen, urwaldartigen Wälder“³⁴.
6.1.1 Zeiten und Systeme Weißrussland wurde im Lauf seiner langen Geschichte stets von seinen Nachbarn belagert, besetzt und annektiert: Vom Mittelalter bis zu seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 gehörte es abwechselnd zu Litauen, Polen und Russland. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es vom russischen Zarenhaus beherrscht. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs, der russischen Revolution und der Auflösung des Reichs Nikolaus II. zerfiel das alte Gebilde. Deutsche Truppen besetzten und verwüsteten im Anschluss einige im Westen liegende Teile des Landes.³⁵ In dieser Zeit erstarkte die weißrussische Nationalbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts politische Bedeutung erlangt hatte. Im August 1917 erfolgte die Gründung eines Weißrussischen Nationalkomitees, das jedoch „unmittelbar nach der Oktoberrevolution von den Bolschewiken wieder aufgelöst wurde“³⁶. Ein halbes Jahr später, am 25. März 1918, wurde unter deutscher Besatzung die unabhängige „Weißrussische Nationalrepublik“ ausgerufen, die jedoch kein Jahr bestand. Denn bereits im Dezember marschierte die Rote Armee in das Gebiet ein und die deutschen Truppen zogen wieder ab.³⁷ Am Neujahrstag 1919 wurde die „Unabhängige Sozialistische Räterepublik Weißrußland“ proklamiert.³⁸ Kurz darauf brach der polnisch-sowjetische Krieg aus, der zwei Jahre später, am
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 29. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 29. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 16. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S 16. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 16. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 16. Holtbrügge, Dirk: Weißrußland. München 1996, S. 37. Vgl., Holtbrügge, Weißrußland, S. 37. Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburg 1999, S. 37.
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung
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18. März 1921, mit dem Frieden von Riga beendet wurde. Gemäß dem Frontverlauf wurde das Hrodnaer Gebiet, das nördlich an Litauen und westlich an Polen grenzte, zusammen mit den anderen westlich gelegenen Gebieten Brest, Pinsk, Baranavicy und Maladzecna an Polen abgetreten. Jener Streifen Land, der nach der Teilung im Osten übrig geblieben war, wurde als Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik, mit Minsk als Hauptstadt, dem sowjetischen Reich eingegliedert.³⁹ Die Geschichte zog über Stankiewicze hinweg, und mit ihr wechselten die politischen Systeme wie Jahreszeiten. Die Töchter und Söhne der Bielskis wuchsen unter der Wirkung verschiedener nationaler, kultureller, politischer und religiöser Einflüsse heran: „der weißrussischen, der deutschen, der russischen, der polnischen und der jüdischen“⁴⁰. Die Bielski gehörten in zweifacher Hinsicht einer Minderheitengruppe an: In Stankiewicze waren sie die einzigen Juden und in der jüdischen Gemeinde außerhalb des Dorfes zählten sie zu den wenigen Bauern. In Polen lebten zu der Zeit „mehr als 75 % aller Juden in städtischer Umgebung“, davon waren „weniger als 10 % […] in der Landwirtschaft tätig“⁴¹. Die meisten Juden verdienten ihren Lebensunterhalt als „kleine Händler oder Handwerker“ und nur die „wenigsten betrieben Ackerbau und Viehzucht“⁴². Wie die meisten Bauern in ihrer Umgebung lebten die Bielskis von den bescheidenen Erzeugnissen ihres Feldes und der wenigen Nutztiere, die sie besaßen. Sie waren „zwar arm, […] litten aber weder Hunger noch hielten sie sich selbst für bedürftig“⁴³. Die gesamte Familie lebte in einer Holzhütte mit zwei Zimmern. Für eine höhere Ausbildung ihrer Kinder fehlten David und Beila die finanziellen Mittel, darüber hinaus waren sie für die Arbeit auf dem Feld sowie in der Mühle auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Aus diesem Grund musste Tuvia bereits mit dreizehn Jahren die Thoraschule, die er in Nowogródek besuchte, verlassen.⁴⁴
6.1.2 Die Welt hinter Stankiewicze Tuvia war 23 Jahre alt, als ihm bewusst wurde, dass die Welt, in der er lebte, zu klein für seine Ambitionen war. Nachdem er seinen Militärdienst in der polnischen Armee, wo er als Scharfschütze ausgebildet wurde, abgeleistet hatte und als
Vgl. Holtbrügge, Weißrußland, S. 37– 38. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 21. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 20. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 20. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 18. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 18.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
Obergefreiter nach Stankiewicze zurückgekehrt war, begann er sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Ohne das Wissen seiner Eltern beauftragte er einen Heiratsvermittler, der ihn mit der wesentlich älteren Rifka bekannt machte. Rifka entstammte einer angesehenen jüdischen Familie, war wohlhabend, besaß einen Gemischtwarenladen und ein eigenes Haus in der unweit von Stankiewicze gelegenen Kleinstadt Subotniki.⁴⁵ Rifka verliebte sich sofort in Tuvia und willigte in die Heirat ein. Nechama Tec erzählte Tuvia ohne „eine Spur von Verlegenheit“⁴⁶, dass er Rifka nur aus finanziellem Kalkül zur Frau genommen habe. Nach der Hochzeit zog er in ihr Haus und übernahm die Leitung ihres Ladens. Währenddessen wurde das Familienhaus in Stankiewicze nach Tuvias Fortgang leerer und stiller. Zuerst folgte Zus dem Beispiel seines älteren Bruders: Er verliebte sich in Cyril, eine junge jüdische Frau aus Nowogródek, und zog zu ihr.⁴⁷ Schließlich verließen auch die beiden Schwestern Tuvias das Heimatdorf. Tajba heiratete einen Mann aus einem benachbarten Dorf, Estelle fand eine Stelle als Buchhalterin in Wilna.⁴⁸ Asael, der die Rolle des älteren Bruders übernommen hatte, blieb zurück und übernahm, nachdem sich der Gesundheitszustand des Vaters verschlechtert hatte, die Verantwortung für den in Stankiewicze verbliebenen Teil der Familie. Asael teilte weder die intellektuelle Neugier Tuvias noch die leidenschaftliche Abenteuerlust seines jüngeren Bruders Zus. Der mittlere Sohn soll ein schlichteres Gemüt als Tuvia besessen haben. Asaels Umgangsformen waren ungeschliffen, seine Sprache rau; er „hatte Schwierigkeiten, sich korrekt auszudrücken“ und „verspürte niemals den Wunsch, sein bescheidenes Wissen zu erweitern“⁴⁹. Er liebte seine Familie und widmete ihr sein ganzes Leben: Er arbeitete schwer und gönnte sich kaum Freizeit. Obendrein mied er jede Art von gesellschaftlichen Veranstaltungen, da er sich nur im Kreise seiner Familie oder bei Menschen, die er sehr gut kannte und die seinem Milieu entstammten, wohl fühlte.⁵⁰
Derweil verfeinerte Tuvia in Subotniki seine Umgangsformen, bildete sich wieter, nahm an politischen Diskussionen teil, schloss neue Freundschaften, verkehrte in höheren Schichten der Gesellschaft und führte „eine harmonische Ehe“⁵¹. Der ehemalige Bauer und Obergefreite beherrschte mehrere Sprachen
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 22– 24. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 24. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 29. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 29. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 26. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 28 – 29. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 26.
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung
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(polnisch, russisch, weißrussisch und etwas deutsch), war belesen und hatte den Talmud studiert.⁵² Und obwohl „Tuvia nicht besonders religiös war, identifizierte er sich stark mit jüdischen Traditionen. Er hatte Freude am Bibelstudium und prägte sich lange Passagen ins Gedächtnis ein, um sie bei passender Gelegenheit vorzutragen.“⁵³ Nach kurzer Zeit schien es so, als wäre auch das überschaubare Subotniki für den intelligenten und vielseitig begabten jungen Mann „‚einfach nicht groß genug‘“⁵⁴. Doch die Welt seiner Kindheit und Jugend sollte noch beengter werden: Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen und sechzehn Tage später folgte der sowjetische Angriff von Osten.
6.1.3 Einbruch der Geschichte: Krieg und Besetzung Als die ersten Bomben auf Warschau niedergingen, lebten die drei Bielski-Brüder getrennt voneinander: Tuvia führte den Gemischtwarenladen seiner Frau in Subotniki, Asael arbeitete weiterhin als Kleinbauer im heimatlichen Stankiewicze und Zus war der Liebe wegen nach Nowogródek gezogen. Die nach dem Einmarsch der Roten Armee im September 1939 erfolgte sowjetische Okkupation der ostpolnischen Gebiete änderte die Verhältnisse und schuf ein neues Gleichgewicht. Der Einnahme folgte die Eingliederung in das kommunistische System: „Die wichtigste politische Sofortmaßnahme war die Enteignung der Banken, Großunternehmen und des Großgrundbesitzes. Mittelbauern, kleine gewerbliche Betriebe und Geschäfte wurden zunächst ausgenommen.“⁵⁵ Der Kollektivierung folgte eine verstärkte Industrialisierung. Begleitet wurden diese Umbruchsprozesse von einer forcierten, sozialen „Umschichtung“: Obere Schichten verarmten, während sich für unteren Schichten neue Möglichkeiten eröffneten. Die Sowjetisierung wirkte sich auch auf die Bielski-Brüder aus: Zus wurde eine „gut bezahlte Stelle in der Verwaltung von Nowogródek“ zugewiesen und Asael „ein Sitz in der neugegründeten Ratsversammlung angeboten“⁵⁶. Tuvia hatte jedoch weniger Glück: Als „bourgoiser Kapitalist“⁵⁷ kategorisiert, floh er nach Lida, um sich möglichen Repressalien zu entziehen. Rifka, die ihr ganzes Leben in Subotniki verbracht hatte und ihren Laden nicht aufgeben wollte, blieb
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 25. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 23. Herzl Nachumowski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 25. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 41– 42. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 37. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 33.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
allein zurück.⁵⁸ Als ihr Laden mitsamt ihrem Vermögen beschlagnahmt wurde, hatte Tuvia bereits ein neues Leben in Lida begonnen.
Lilka In Lida freundete sich Tuvia mit dem Geschäftsmann Alter Ticktin an und begann eine Affäre mit dessen schöner Schwägerin Sonia, die viele als „kalt, berechnend und überheblich“⁵⁹ in Erinnerungen behalten haben. Alter Ticktin hatte Regina, die Schwester Sonias, nach dem unerwarteten Tod seiner ersten Frau geheiratet. In der Familie Ticktin waren nicht alle mit der Vermählung einverstanden gewesen. Vor allem Lilka, die jüngste Tochter Alters, missbilligte die Ehe: Zwischen Lilka und Regina herrschte von Anfang an eine starke gegenseitige Abneigung, die bald in offene Feindschaft überging. […] Wie selbstverständlich schlüpfte Regina in die Rolle der bösen Stiefmutter und macht aus Lilka ein Aschenputtel.⁶⁰
Die fünfzehnjährige Lilka ahnte nichts von der Affäre zwischen ihrer Stieftante Sonia und Tuvia – dem Mann, in den sie sich gleich nach der ersten Begegnung verliebt hatte: „Daß er etwa doppelt so alt war wie sie, spielte keine Rolle – Lilka war vollkommen überwältigt von ihm. Seine Erscheinung und sein Auftreten verkörperten für sie die perfekte Mischung aus Intelligenz und Güte.“⁶¹ In einem Brief bat Tuvia Rifka um die Scheidung. Bemüht, schonend mit den Gefühlen seiner Ehefrau umzugehen, verschwieg er seine Beziehung zu Sonia; als Grund für seinen Trennungswunsch gab er daher die Kinderlosigkeit ihrer Ehe an.⁶²
Chaja In Stankiewicze wurde das Leben ebenfalls komplizierter. Asael, der Unterricht in Buchhaltung nahm, „verliebte sich unsterblich in seine Lehrerin“⁶³, trotz der tiefen sozialen und intellektuellen Kluft, welche die beiden voneinander trennte. Chaja gehörte als Tochter eines vermögenden Grundbesitzers der Oberschicht an und hatte „erfolgreich die Höhere Schule absolviert“⁶⁴. Damit war sie Asael nicht
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 33. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 36. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 34– 35. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 35. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 36. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 27. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 27.
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung
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nur gesellschaftlich, sondern auch intellektuell überlegen. Er wagte es daher nicht, ihr offen seine Gefühle zu zeigen. Schließlich schien eine „Verbindung zwischen dem ungebildeten, plumpen Kleinbauern Asael und der attraktiven, kultivierten, politisch aktiven Chaja […] völlig undenkbar“⁶⁵. Chaja blieben die Gefühle Asaels zwar nicht verborgen, sie entschied sich jedoch dafür, sie nicht weiter zu beachten, denn „ihre Gedanken drehten sich um wichtigere Dinge“⁶⁶. Mit der sowjetischen Besetzung mehrten sich die antisemitischen Übergriffe. Chaja, die Zeugin der zunehmenden Judenverfolgung⁶⁷ wurde, geriet in einen „schweren Konflikt zwischen ihrer Identität als Kommunistin und der als Jüdin“⁶⁸. Unter den Sowjets wurden sämtliche jüdische Gemeindezentren, unabhängig von ihren politischen Programmen sowie ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit, geschlossen.⁶⁹ Als nächstes wurden jüdische Geschäftsleute in die Kategorie ‚politisch unerwünscht‘ eingestuft. Wie klein und unbedeutend das betreffende jüdische Unternehmen auch sein mochte, sein Besitzer wurde automatisch als ‚bourgoiser Kapitalist‘ abgestempelt, was im schlimmsten Fall die Deportation nach Sibirien zur Folge hatte.⁷⁰
Chaja distanzierte sich in dieser Zeit allmählich vom Kommunismus und begann sich immer stärker mit dem Judentum zu identifizieren. Zu jener Zeit konnte niemand, weder Chaja noch die Bielskis, ahnen, wie sehr sich ihr Leben in den kommenden Monaten ändern würde. Längst hatte Hitler beschlossen, die Sowjetunion anzugreifen. Im Frühsommer 1941 befanden sich bereits über drei Millionen Wehrmachtssoldaten vor der russischen Grenze. In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 griff das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion an und brach mit dem Nichtangriffspakt von 1939.
6.1.4 Der deutsche Angriff Drei Millionen Soldaten marschierten in drei Heeresgruppen und zwölf Armeen am 22. Juni 1941 über die Grenzen der sowjetisch besetzten Gebiete und eroberten sie binnen eines Monats. Die Panzergruppen 2 und 3 der Heeresgruppe Mitte
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 28. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 28. Vgl. hierzu auch Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 43 – 44. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 33. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 32. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 33.
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nahmen Brest-Litowsk bereits am selben Tag ein. Es folgten Grodno am 23., Wilna (Vilnius) am 24., Bialystok am 27. und Minsk am 28. Juni.⁷¹ Beinahe überall traf die Wehrmacht „auf überraschte, von Führungsschwäche gezeichnete Grenzgruppen und Einheiten der Roten Armee“⁷². Zus Bielski, der als Feldwebel der Roten Armee mit einer kleinen Einheit von fünf Männern nach Bialystok marschierte, suchte tagelang vergebens nach einem befehlshabenden Offizier, bis er die Einheit schließlich auflöste und sich auf dem Weg nach Hause begab. Er traf wenig später völlig erschöpft, „hungrig und mit geschwollenen Füßen“⁷³ in Nowogródek ein, wo ihn seine Frau erwartete, die mittlerweile im achten Monat schwanger war. Er blieb jedoch nicht lange, da die Stadt kurz nach seiner Ankunft bombardiert wurde. Somit flohen die beiden zur Familie nach Stankiewicze. Auch Asael war mittlerweile in das heimatliche Dorf zurückgekehrt, nachdem er als Soldat eine Weile ziellos umhergezogen war, ohne dabei „je gegen den Feind gekämpft zu haben“⁷⁴. Tuvia hatte sich am zweiten Tag nach dem deutschen Angriff freiwillig gemeldet. Ihm wurde jedoch nur ein Schreibtischposten zugeteilt. Er war mit dem Verfassen von Einberufungsbefehlen beschäftigt, als Lida bombardiert wurde: Plötzlich flogen etwa fünfzig Flugzeuge über die Stadt und warfen Brandbomben ab. Innerhalb weniger Minuten stand alles um uns herum in Flammen. Der Kommandant befahl uns, die brennende Stadt umgehend zu verlassen, uns in einem etwa fünf Kilometer entfernten Wald wieder zu sammeln und unsere Arbeit fortzusetzen. Wir führten diesen Befehl aus. Kurz nach Erreichen des Sammelpunktes erfolgte jedoch ein erneuter Luftangriff auf die Gegend, der die Wälder in Brand setzte. Daraufhin gab ein Major die Devise aus: ‚Freunde, ihr seid aus der Pflicht entlassen. Bringt euch in Sicherheit.‘⁷⁵
Nach seiner Rückkehr musste Tuvia feststellen, dass die Bomben sein Haus zerstört hatten. Er und Sonia packten, was ihnen geblieben war, und flohen nach Stankiewicze. Das Haus von David und Beila Bielski war schon bald völlig überfüllt, denn nicht nur die Söhne und Töchter hatten bei ihnen Zuflucht gefunden, sondern auch entfernte Verwandte sowie fremde Hilfesuchende.⁷⁶ Anfang Juli besetzte die Wehrmacht Stankiewicze und ordnete an, dass alle, die keine Einwohner des Dorfes seien, dieses innerhalb von fünfzehn Minuten zu
Vgl. Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 129. Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 129. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 42. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 42. Tuvia Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 41. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 44.
6.1 Die Familie Bielski: Das Leben in Stankiewicze und Umgebung
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verlassen hätten – auf Nichtbefolgung stand die Todesstrafe.⁷⁷ Tuvia und Zus blieb keine andere Wahl. Tuvia brachte Sonia zu den Ticktins nach Lida und begab sich anschließend mit Zus nach Nowogródek. Kaum waren sie dort angekommen, wurden sie verhaftet und einer Arbeitskolonne zugeteilt. In der Nacht gelang ihnen schließlich die Flucht, sie beschlossen, dass es sicherer sei, wenn sie vorerst getrennter Wege gingen: Bevor sie sich trennten, schworen sie einander, sich niemals wieder vom Feind fassen zu lassen. Das Versprechen beinhaltete zu diesem Zeitpunkt weder einen konkreten Plan noch eine Vorstellung davon, welche Schritte zu seiner Erfüllung nötig sein würden; aber es war unwiderruflich.⁷⁸
6.1.5 Der Wendepunkt Es war ihr weißrussischer Nachbar Kushel, der die Bielski-Brüder der Kollaboration mit den Sowjets beschuldigt hatte, um in die Gunst der Deutschen zu gelangen. Zuvor hatte sich Kushel freiwillig bei einer Polizeieinheit in Nowogródek gemeldet, die mit der Besatzungsmacht zusammenarbeitete. Gegen Tuvia, Asael und Zus wurde Haftbefehl erlassen. Als die Polizisten die Brüder im Haus der Eltern nicht antrafen – denn auch Asael hatte Stanikiewicze mittlerweile verlassen –, verhafteten sie zuerst Vater Bielski und anschließend die beiden jüngeren Söhne Avremale und Jacov. David wurde nach kurzer Zeit frei gelassen. Avremale und Jacov wurden auf der Flucht erschossen, wie es offiziell hieß.⁷⁹ Ende 1941 wurde die restliche in Stankiewicze verbliebene Familie von der SS abgeholt und in das neu gegründete Ghetto von Nowogródek deportiert. Am 7. Dezember 1941 wurde sie mit etwa 4.000 anderen im Ghetto eingesperrten Juden ermordet. Unter den Opfern befanden sich auch Rifka sowie Zus’ Frau Cyril und deren kleine Tochter.⁸⁰ Die „familiäre Tragödie wurde zum Wendepunkt“ im Leben von Tuvia, Asael und Zus: „In ihrer Trauer wuchs ihr unbedingter Widerstandswille.“⁸¹ Keiner von ihnen kehrte nach Stankiewicze zurück. Asael zog mit Chaja, die er überzeugen konnte, ihn zu heiraten, und ihrer Familie in die nahegelegenen Wälder. Die übrigen Familienangehörigen stießen nach und nach zu ihnen: zuerst Zus, anschließend seine Schwester Tajba mit ihrem Mann Avremale und ihren Kindern.
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 45. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 51. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 55 – 56. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 61– 62. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 62.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
Mitte Mai 1942 folgte auch Tuvia dem Beispiel seiner Geschwister und schloss sich zusammen mit der Familie Ticktin Asaels Gruppe an. In den folgenden zwei Jahren wuchs die Waldgemeinde auf über 1.200 Angehörige an; die Führung ging nach kurzer Zeit von Asael auf Tuvia über.
6.2 Das Prinzip des Antagonismus Das Leben und die Geschichte verlaufen in den seltensten Fällen so geradlinig, überschaubar und säuberlich in Abschnitte strukturiert, wie sie in Büchern beschrieben oder in Filmen dargestellt werden. Eine Binsenweisheit, die nirgends mehr Gültigkeit besitzt, als im US-amerikanischen Erzählkino, in welchem die Leinwandgeschichten auch dann, wenn sie auf historischen oder aktuellen (im Sinne von „wahren“) Ereignissen basieren, nach strikten Regeln und Prinzipien konstruiert sind. Edward Zwick, der in Hollywood als Experte für historische Epen gehandelt wird, hat nicht zuletzt mit Spielfilmen wie Glory (Glory, USA 1989), Legenden der Leidenschaft (Legends of the Fall, USA 1994) oder Last Samurai (The Last Samurai, USA, NZ, J 2003) unter Beweis gestellt, dass er ebendiese Regeln und Prinzipien genauestens beherrscht. In seinen Filmen werden Themen behandelt, wie z. B. der Rassismus in Zeiten des Sezessionskriegs, die Folgen des USamerikanischen Engagements im Ersten Weltkrieg oder der Widerstand der Samurai gegen die Verwestlichung Japans. So unterschiedlich die Themen auch sind, die Erzählstrukturen und die Figurenentwicklungen ähneln sich in vielerlei Hinsicht: Es handelt sich immer um Männer, die – innere sowie äußere Widerstände bezwingend – vor einer historischen Kulisse beinahe unmöglich zu bewältigende Aufgaben erfüllen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Alle negativen Einflüsse, die sich ihnen dabei in den Weg stellen und sie vom Erreichen ihres Ziels, von der Erfüllung ihres Wunsches abhalten, werden in der Filmdramaturgie (bzw. im Story-Design) unter der Bezeichnung „antagonistische Kräfte“ subsumiert.⁸² Die Stärke einer Figur hängt immer von den antagonistischen Kräften ab, mit denen sie im Verlauf der Handlung konfrontiert wird. Je mächtiger und komplexer diese Kräfte gestaltet sind, umso mehr Druck wird auf die Hauptfigur ausgeübt. Und je stärker die Figur unter Druck gerät, umso entschiedener muss sie handeln. Die unter Druck gefassten Entscheidungen sorgen schließlich dafür, dass der Plot vorangetrieben wird.⁸³ Kurz gefasst: Konflikte sind der Motor der Handlung.
Vgl. McKee, S. 340. Vgl. McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 123.
6.2 Das Prinzip des Antagonismus
191
6.2.1 Antagonismen in der Story Die Konflikte beginnen in jenem Augenblick, in dem eine Filmfigur „das auslösende Ereignis hinter sich läßt“⁸⁴. Hierbei handelt sich um einen frühen Moment innerhalb des Plots, in dem der Held oder die Heldin erkennt, dass das Kräftegleichgewicht in seinem oder ihrem Leben radikal durcheinandergebracht worden ist. „Die Zeit ist aus den Fugen“, sagt etwa Hamlet bei Shakespeare am Ende des ersten Akts, nachdem er über den an seinem Vater begangenen Mord aufgeklärt wurde. Hamlet beschließt daraufhin nicht nur, den Tod seines Vaters zu rächen, sondern zugleich die ganze zerrüttete Welt wieder ins Lot zu bringen: Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam! Nun kommt, laßt uns zusammen gehn.⁸⁵
Nachdem der Protagonist den auslösenden Moment hinter sich gelassen hat, „betritt er eine Welt, die vom Gesetzt des Konflikts beherrscht ist“⁸⁶. Die inneren sowie äußeren Konflikte, die aus den Auseinandersetzungen des Protagonisten oder der Protagonistin mit den antagonistischen Kräften erwachsen, nehmen daraufhin sowohl an Zahl als auch an Intensität zu: Sie werden derart gesteigert, dass sie in einer Krise – und damit in einen Höhepunkt – münden, bevor es am Ende des Films zur Auflösung aller Konflikte kommt.⁸⁷ Die Antagonismen sorgen dafür, dass immer neue und stärkere Konflikte entstehen, deren Lösung zur Entwicklung der Hauptfiguren beitragen. Die Probleme, denen die Helden oder Heldinnen zu Beginn eines Plots gegenüberstehen, müssen deren Handlungsmöglichkeiten um ein Vielfaches übersteigen: „Auch wenn ein einzelner, einen Aspekt seines [des Protagonisten] Lebens betreffender Konflikt lösbar scheint, muß die Gesamtheit der Konflikte auf allen Lebensebenen am Beginn seines Kampfes überwältigend wirken.“⁸⁸ Dies zwingt die Figuren, im Verlauf der Handlung Eigenschaften zu erwerben und
McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 228. Shakespeare, William: Hamlet. Prinz von Dänemark. Übersetzt von Wilhelm Schlegel. Stuttgart 1999, 1. Akt, 5. Szene, S. 30. McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 228. McKee zufolge besteht das „Design einer Story“ aus fünf Teilen: 1. auslösendes Ereignis, 2. zunehmende Komplikationen, 3. Krise, 4. Höhepunkt und 5. Auflösung (vgl. McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 196). Diese Unterteilung bildet keinen Gegenentwurf zu dem in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit vorgestellten Drei-Akt-Modell, sondern ergänzt bzw. präzisiert diesen lediglich. McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 341.
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Fähigkeiten zu entwickeln, um das Kräftegleichgewicht wiederherstellen, die Antagonismen bezwingen und die Probleme lösen zu können. Der Wunsch der Hauptfiguren bildet innerhalb der erzählten Welt den positiven Wert, welchem die negativen Werte entgegengesetzt werden. Der Drehbuchautor und Theoretiker Robert McKee unterscheidet drei Formen antagonistischer Kräfte: An erster Stelle steht der widersprüchliche Wert, der dem Positiven genau entgegengesetzte Wert. […] Zwischen dem positiven Wert und seinem widersprüchlichen Wert aber liegt der Gegensatz: eine Situation, die irgendwie negativ, aber nicht das vollständige Gegenteil ist. […] Widersprüchlichkeit ist aber noch nicht das Äußerste in der menschlichen Erfahrung. Am äußersten Ende wartet die Negation der Negation, eine antagonistische Kraft, die doppelt negativ ist.⁸⁹
Würden wir demnach von einem positiven Wert wie Gerechtigkeit ausgehen, ergäben sich folgende negative Werte: 1. Ungerechtigkeit (widersprüchlich), 2. Unredlichkeit (gegensätzlich) und 3. Tyrannei (Negation der Negation). Für Liebe: 1. Hass (widersprüchlich), 2. Gleichgültigkeit (gegensätzlich) und schließlich: 3. Selbsthass (Negation der Negation). Für Freiheit: 1. Sklaverei (widersprüchlich), 2. Beschränkung (gegensätzlich) und 3. Sklaverei, die als Freiheit angesehen wird („Negation der Negation“).⁹⁰
6.2.2 Die Kräfte der Negativität in Defiance Als Tuvia Bielski (Daniel Craig) die Diegese des Spielfilms betritt, ist die Zeit bereits längst aus den Fugen. In einem Waldstück trifft er auf seine Brüder Asael (Jamie Bell), Zus (Liev Schreiber) und den kleinen Aron (George MacKay), die sich vor den marodierenden Einsatzgruppen und einheimischen Kollaborateuren, die ihr Heimatdorf verwüstet und ihre Eltern ermordet haben, versteckt halten. Asael, der wesentlich jünger ist als sein historisches Vorbild zu jener Zeit, erzählt Tuvia von der Ermordung der Eltern. Danach begrüßt Zus, der im Film die Position Asaels eingenommen hat⁹¹, seinen älteren Bruder. Aron spricht kein Wort – es wird suggeriert, dass er den Mord an Vater und Mutter mitangesehen habe. Das auslösende Ereignis, der Verlust der Eltern und des Zuhauses, hat demnach noch vor dem ersten Auftritt des Protagonisten stattgefunden. Zwick und Frohman McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 342– 343. Vgl. McKee, Prinzipien des Drehbuchschreibens, S. 342– 350. Zwick und Frohman haben das Alter der beiden Brüder vertauscht: Zus ist im Film älter als Asael und damit direkter Nachfolger Tuvias. Diese Umstellung erfüllt, wie im nächsten Kapitel aufgezeigt wird, eine signifikante dramaturgische Funktion.
6.2 Das Prinzip des Antagonismus
193
wählten hierfür die Ereignisse vom 7. Dezember 1942, dem Wendepunkt im Leben der Bielski-Brüder, als Vorlage. Dabei veränderten sie jedoch die ereignisgeschichtlichen Fakten und Daten erheblich zugunsten der Dramaturgie: David und Beila werden im Film in ihrer Hütte ermordet und nicht im Ghetto von Nowogródek; Tuvias Frau Rifka lebt in einer anderen Stadt; auch Zus’ Familie ist zu Beginn der Handlung noch am Leben. Und Asael ist Chaja noch nicht begegnet. Tuvia sieht sich zu Beginn der Handlung mit erheblichen Problemen konfrontiert: Er ist von seiner Frau getrennt, hat einen Teil seiner Familie verloren und muss nun die Verantwortung für seine jüngeren Brüder übernehmen. Aber vor allem muss er um sein eigenes und das Leben seiner Familie fürchten, denn nicht nur von den Besatzern geht eine direkte Lebensgefahr aus, sondern auch von den Kollaborateuren, die die Juden an die Deutschen verraten. Diese Widrigkeiten scheinen die Handlungsmöglichkeiten des Protagonisten, der zu dieser Zeit über kein klar umrissenes Ziel verfügt, zu übersteigen. Zwei sich gegenseitig beeinflussende Bewegungen setzten nun ein: Während die Schwierigkeiten im Verlauf der Handlung zunehmen, entwickeln und entfalten sich Tuvias Fähigkeiten sowie jene Talente, die dafür nötig sind, die Probleme zu lösen. Je stärker er den Konflikten ausgesetzt wird, desto entschiedener muss er handeln; und je mehr er zum Handeln gezwungen wird, umso klarer werden seine Ziele und Wünsche, die sich unter den folgenden, positiv besetzten Werten subsumieren lassen: Überleben und Rettung als Widerstand. Dem Hauptziel Tuvias stellt sich Zus entgegen, der den Sinn des Widerstands weniger in der Rettung von Menschenleben sieht, als vielmehr in der bewaffneten Auseinandersetzung. Zus’ Ziele bestehen aus Kampf und Rache: Sie bilden im Verhältnis zu Tuvias Wunsch die gegensätzliche antagonistische Kraft. Im Verlauf der Handlung entwickeln sich noch weitere ähnliche Antagonismen der ersten Ordnung, wie z. B. Opposition gegen Tuvias Führungsanspruch (innen), Kollaboration der ehemals benachbarten weißrussischen oder polnischen Bauern (außen) oder Tuvias innere Konflikte. Diese negativen Werte stellen jedoch keinen Widerspruch zu Tuvias Zielen dar, sondern stören oder behindern ihn höchstens mittelfristig bei dem Versuch, sein Ziel zu erreichen. Auf lange Sicht können sie ihn nicht aufhalten. Anders verhält es sich bei der widersprüchlichen antagonistischen Kraft: Die drohende Ermordung durch die SS. Die Vernichtungspläne der Nationalsozialisten bilden im Film den stärksten negativen Wert. Die antagonistische Kraft der dritten Ordnung – die „Negation der Negation“ – reicht über die diegetische Welt des Spielfilms hinaus: Sie positioniert sich als stärkste Ausprägung der Negativität gegen die zentrale These Nechama Tecs, in welchem sie sich gegen den Mythos von der jüdischen Passivität („Schafe zur Schlachtbank“) ausspricht. Die Negativität der Negativität findet ihren Ausdruck somit in dem unhaltbaren Vorwurf, die Juden trügen eine Mitschuld an ihrer Vernichtung. In den folgenden Unter-
194
6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
kapiteln werde ich näher auf die oben angeführten antagonistischen Kräfte eingehen.
6.3 Überleben als Rache Raja Kaplinski und Mosche Bairach gehörten einer Gruppe an, der es im Mai 1943 gelungen war, aus dem Ghetto von Lida zu fliehen und sich den Bielski-Partisanen anzuschließen. Beide konnten sich noch Jahre später gut an ihre erste Begegnung mit Tuvia erinnern.⁹² Wie ein Magnet habe er damals auf die Ankömmlinge gewirkt, die er mit warmen und deutlichen Worten begrüßte: ‚Genossen, dies ist der schönste Tag meines Lebens, weil ich erleben durfte, daß eine solch große Gruppe dem Ghetto entkommen ist! … Ich kann euch nichts versprechen. Möglicherweise werden wir getötet, während wir zu überleben versuchen. Aber wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, noch mehr Leben zu retten. Dies allein ist unser Ziel, wir treffen keine Auswahl, wir schließen weder Alte noch Kinder noch Frauen aus. Das Leben hier ist schwierig, überall lauern Gefahren, doch wenn wir zugrunde gehen, wenn wir getötet werden, so sterben wir als menschliche Wesen.‘⁹³
Raja Kaplinski erzählte Nechama Tec, dass sich alle in Tuvias Nähe sicher gefühlt hätten. Denn er vermittelte ihnen das Gefühl, dass sich alles „zum Guten wenden“ werde, und damit „fesselte und eroberte“ er die Menschen: „Als er in seinem Ledermantel, das automatische Gewehr auf dem Rücken, sein Pferd bestieg, nannten wir ihn Yehuda Ha’ Makkabi.“⁹⁴ In ihrem Buch bezeichnet Tec Tuvia als „charismatische[n] Führer“: einen „Mann, dem man aufgrund seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit gehorchte, und nicht, weil er etwa ein offizielles oder angestammtes Recht auf die eingenommene Position besessen hätte“⁹⁵. Charisma ist etwas, was eine Person nicht besitzt, sondern was ihr zugesprochen wird, wie es bei Max Weber heißt.⁹⁶ Der charismatische Führer benötigt somit eine Gemeinschaft, die ihm besondere Attribute, wie z. B. „magische Fähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, Macht des Geistes und der Rede“⁹⁷ zuerkennt. Die Gemeinschaft gehorcht und folgt
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 13 – 14. Tuvia wird hier von Mosche Bairach zitiert; vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 13 – 14. Raja Kaplinski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 14. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 84. Weber, Max: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. In: Weber, Max: Schriften 1894– 1922. Ausgewählt und herausgegeben von Dirk Kaesler. Stuttgart 2002, S. 717– 733, hier: S. 725. Weber, Die drei reinen Typen, S. 725.
6.3 Überleben als Rache
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diesem charismatischen Führer jedoch nur so lange, wie sie in ihm jene Qualitäten erkennt, die sie ihm paradoxerweise selbst zuspricht: „Wenn er von seinem Gotte ‚verlassen‘ oder seiner Heldenkraft oder des Glaubens der Massen an seine Führerqualität beraubt ist, fällt seine Herrschaft dahin.“⁹⁸ Webers Definition wird, das sei hier kurz am Rande erwähnt, am Ende der Analyse von Defiance noch wichtig werden. Als der zukünftige Anführer im Mai 1942 das von Asael und seiner Gruppe errichtete Waldlager mit Sonia, Lilka und der übrigen Familie Ticktin erreichte, lag die Befehlsgewalt noch bei seinem jüngeren Bruder. Erst später, nachdem die Bielski-Einheit offiziell gegründet wurde, ging die Führungsposition von Asael auf Tuvia über; der Jüngere hatte zugunsten des Älteren verzichtet.⁹⁹ Laut „jüdischer Familientradition gebührte dem ältesten Bruder immer die Autoritätsposition“¹⁰⁰. Tuvia war bereits vor der Gründung der Partisaneneinheit bewusst, dass ihre Überlebenschancen mit der Größe ihrer Gruppe zusammenhingen. Die Vergrößerung ihrer Einheit, welche die Rettung sowie die Aufnahme weiterer jüdischer Flüchtlinge einschloss, wurde zu seinem Hauptanliegen, das er „selbst unter wachsender interner Opposition“ verteidigte.¹⁰¹ „Hartnäckig wiederholte er immer wieder, daß es besser sei, einen Juden zu retten als zwanzig Deutsche zu töten.“¹⁰² Während Asael und andere Mitglieder der Einheit sein Vorhaben unterstützten, sprach sich Zus gegen Tuvias Expansions- und Rettungsplänen aus.¹⁰³
6.3.1 Der Bruder als Gegenspieler: Tuvia und Zus in Defiance Eine der größeren Veränderungen, die Zwick aus dramaturgischen Erwägungen an Tecs Buch vorgenommen hat, betrifft das Alter und die Konstellation der drei Bielski-Brüder. Während Tuvia auch im Film die Rolle des ältesten Sohnes übernimmt, wurde das Alter von Asael und Zus vertauscht – und damit auch ihre Stellung innerhalb der Familienhierarchie. Der kräftige und „wilde“ Zus, dem Tec eine ausgeprägte „Männlichkeit und Selbstsicherheit“ attestiert¹⁰⁴, übernimmt im Film die Rolle des Zweitältesten. Asael, der im Film mit feineren Zügen ausgestattet wurde als sein historisches Vorbild, folgt Zus als Drittältester. Zwick nutzte
Weber, Die drei reinen Typen, S. 725. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 79. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 79. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 80. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 81. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 81. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 89.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
demnach die historisch überlieferten Differenzen der Brüder Tuvia und Zus bezüglich der strategischen und politischen Ausrichtung der Bielski-Einheit, um Zus als Gegenspieler Tuvias zu etablieren. Dass der Antagonismus zwischen zwei unterschiedlich veranlagten Brüdern von geradezu Shakerspeare’scher Dimension ist und die Handlung eines Spielfilms wesentlich beeinflussen und vorantreiben kann, wusste Zwick spätestens seit seinem Familienepos Legends of the Fall, dessen Plot über weite Teile von der Gegensätzlichkeit der zwei älteren Brüder Tristan (Brad Pitt) und Alfred (Aidan Quinn), die sich in beinahe allen Charakterzügen unterscheiden, getragen wird. Das Schicksal des jüngeren Bruders Samuel (Henry Thomas), dem die Brüder emotional gleichermaßen verbunden sind, fungiert dabei als auslösendes Ereignis. Die Differenzen zwischen Tuvia und Zus spitzen sich im Verlauf der Handlung zu. In einem späteren Unterkapitel werde ich daher noch einmal darauf zurückkommen.
6.3.2 Der Weg des Anführers Zwick schickt seinen Helden im ersten Akt auf eine Reise, in dessen Verlauf er Fähigkeiten erwirbt, die es ihm ermöglichen, die Probleme und Konflikte zu lösen. Denn anders als in der Vorlage verfügt Tuvia zu Beginn der Handlung von Defiance weder über natürliche Führungsqualitäten noch wird ihm Charisma zugesprochen. In Zwicks Version muss sich der Anführer erst als solcher bewähren und in seine Position hineinwachsen bzw. sich diese erarbeiten. Am Anfang hat Tuvia keinen Plan, weiß nicht, wohin er gehen, was er unternehmen soll. Doch in dem Maße, wie die Probleme und Konflikte zunehmen, entfalten sich Tuvias Begabungen und Fertigkeiten, um ihnen zu begegnen. Seine Führungsstärke und das Wissen um seine Ziele nehmen daher innerhalb seiner Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten Gestalt an. Die metaphorische Reise Tuvias beginnt mit der Ankunft der ersten jüdischen Flüchtlinge, die bei den Bielskis Schutz suchen. Dieses Ereignis zwingt Tuvia zum Handeln. Mit dem Wunsch, Lebensmittel zu besorgen, begibt er sich zu Koscik, einem Nachbarn und guten, alten Freund seiner Familie, der ihm eine Pistole mit vier Kugeln überlässt und ihm die Information über die Mörder seiner Eltern liefert: ein örtlicher Kollaborateur, der sich bei den Deutschen einschmeichelt, indem er Juden jagt. Tuvia kehrt mit Lebensmitteln und noch mehr Schutzsuchenden ins Camp zurück, was den Ärger von Zus erregt: „We cannot feed them!“. Nach seiner Rückkehr begibt er sich auf die zweite Station seiner Reise: Rache an den Mördern
6.3 Überleben als Rache
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seiner Eltern.¹⁰⁵ In der Nacht überfällt er den Kollaborateur und erschießt ihn sowie dessen zwei Söhne. Von seiner eigenen Tat erschüttert, kehrt er ins Waldlager zurück, wo die Geflüchteten hungern. Für einen weiteren Konflikt sorgt die dritte Ankunft jüdischer Flüchtlinge, die Zus über die Ermordung seiner Frau und seines Kindes aufklären. Zorn und Verzweiflung treiben Zus zum Handeln: Bewaffnet begibt er sich auf einen Rachefeldzug durch die umliegenden Dörfer, begleitet von Asael, Tuvia und zwei weiteren Männern. Bei einem Schusswechsel mit der SS wird ein Mitglied der Gruppe getötet. Im Camp entlädt sich der Unmut der Waldbewohner über die mangelhafte Ernährung, Unterbringung und Sicherheit in einem Streit, der so lautstark ausgetragen wird, dass sich Tuvia gezwungen sieht, einzuschreiten. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung erkennt Tuvia, wonach er streben möchte: I want to kill Nazis, too, but we just cannot afford revenge. […] We will map out where we’ve been so as to not visit the same farms too often. And we take only from those who can afford to give, and leave those who can’t alone. Our revenge is to live. […] We are not thieves or murderers. We may be hunted like animals but we will not become animals.We have all chosen this – to live here free, like human beings, for as long as we can. Every day of freedom is like an act of faith. And if we should die, trying to live, than at least we die like human beings.
Am Ende des ersten Akts haben Tuvia die Ereignisse gelehrt, dass Rache und Kampf das Überleben nicht sichern, sondern es vielmehr gefährden. Seine Rede markiert einen Wendepunkt innerhalb des Plots: Tuvia ist sich nun seines Zieles bewusst und übernimmt die Rolle des Anführers. Für diese Rede griffen Zwick und Frohman auf Tecs Buch zurück; einzelne Sätze wurden sogar Wort für Wort übernommen. Im zweiten Akt muss Tuvia nun unter Beweis stellen, dass er der Führungsrolle auch gewachsen ist – der Kommandant muss sich erneut bewähren.
Die Episode basiert zum Teil auf historischen Ereignissen; wie Chaja Nechama Tec erzählte, haben sich die Bielski-PartisanInnen eines Kollaborateurs, der das Leben von Juden bedrohte, auf ähnliche Weise „entledigen“ müssen: „Die Bielski-Einheit mußte reagieren … Wir beobachteten das Haus und warteten auf die Rückkehr des Polizisten. Nachdem er reingegangen war, töteten wir die ganze Familie … Der Schwager des Polizisten war Förster und suchte die Wälder systematisch nach Juden ab. Er brüstete sich damit, die Bielski-Brüder an ihren Fußabdrücken erkennen zu können, und war versessen darauf, sie persönlich zu erwischen. Der Förster und seine Familie wurden ebenfalls beseitigt.“ (Chaja Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 132– 133)
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6.4 Koalitionen, Rebellionen und das Leben in den Wäldern Tuvia Bielski (die historische Persönlichkeit, nicht die Filmfigur) war sich vor der offiziellen Gründung seiner Einheit bewusst, dass er auf Kooperationen¹⁰⁶ angewiesen war – sowohl innerhalb des Waldlagers als auch außerhalb –, um sein Vorhaben durchsetzen und den status quo aufrecht erhalten zu können. Die dringlichste Aufgabe bestand darin, die Sicherheit der im Waldlager untergebrachten Menschen zu gewährleisten und Lebensmittel zu besorgen. Überleben könnten sie daher nur in der Gemeinschaft, und dies könnte nur durch eine Vergrößerung der Gruppe bewerkstelligt werden. Tuvia schlug daher vor, „bewaffnete junge Männer aus den Ghettos zu rekrutieren“¹⁰⁷. Mit Hilfe des befreundeten weißrussischen Bauers Konstanty Kozlowski gelang es den Bielskis, eine Gruppe junger Männer aus dem Ghetto von Nowogródek herauszuschmuggeln und ins Camp zu führen: „Mit der Ankunft der Jugendlichen vergrößerte sich die Gruppe auf dreißig Personen. Asael, Tuvia und Zus stimmten darin überein, daß es an der Zeit war, sich als Partisaneneinheit – auf russisch ‚Otriad‘ – zu organisieren.“¹⁰⁸ Der Gründung folgte die hierarchische Strukturierung der Einheit. Tuvia wurde, wie bereits erwähnt, zum Kommandanten ernannt; ihm oblagen u. a. Fragen der Sicherheit und der politischen Ausrichtung. Asael übernahm als Stellvertreter Tuvias die Befehlsgewalt über die bewaffneten Männer. Zus stieg zum Chef des Nachrichtendienstes auf. Lazar Malbin, der ebenfalls aus dem Ghetto von Nowogródek geflohen war, wurde zum Staabschef ernannt. Malbin, der aus einer wohlhabenden Familie stammte, soll eine „umstrittene Person“ gewesen sein: Er war „überdurchschnittlich gebildet und sprach mehrere Sprachen“, besaß „organisatorisches Talent“ und war „empfänglich für Alkohol und Frauen“¹⁰⁹. Tuvia vertraute Malbins Talenten und folgte dessen Rat.¹¹⁰ Wie der stellvertretende Kommandant unterstütze auch der Stabschef die von Tuvia eingeschlagene Richtung: Rettung statt Rache. Um die Sicherheit zu erhöhen und die Lebensmittelbeschaffung zu sichern, schloss Tuvia im Sommer 1942 einen Pakt mit der von Victor Panchenko ange-
Kooperation verstanden in seiner nüchternsten Definition: nämlich „als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“. Vgl. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München 2015, S. 17. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 76. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 77. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 78. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 78.
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führten sowjetischen Partisaneneinheit Octiaber-Otriad.¹¹¹ Das „Bielski-Panchenko-Abkommen“ erklärte die Bielski-Einheit offiziell zu Partisanen und sorgte dafür, dass einheimische Bauern oder andere sowjetische Partisaneneinheiten die aus dem Ghetto geflüchteten Juden nicht mehr überfielen. Darüber hinaus entstand zwischen den beiden Kommandanten eine Freundschaft, die von gegenseitigem Respekt geprägt war: „Der damals 36 Jahre alte, eher nüchterne Tuvia besaß die Gabe, zukünftige Entwicklungen präzise vorauszusagen. Der großzügige, offene, nicht einmal 25-jährige Victor suchte häufig den Rat des Älteren.“¹¹² Trotz dieser von Respekt geprägten Freundschaft weihte Tuvia den sowjetischen Partisanenkommandanten nicht in alle seine Pläne ein, weil er befürchten musste, dass seine Entscheidung, der Rettung von Menschenleben Vorrang vor der Tötung des Feindes einzuräumen, als „mangelnde Kampfbereitschaft“ hätte ausgelegt werden können.¹¹³ Die Tötung eines Deutschen galt bei den sowjetischen Partisanen als ein Akt des Heldentums und des Patriotismus. Jeder Anschein einer Weigerung „hätte existenzbedrohende Folgen für die gesamte Bielski-Einheit“ nach sich gezogen.¹¹⁴ Die Auffassung, dass das Hauptanliegen des bewaffneten Widerstands der Partisanen darin bestehe, mit Waffengewalt gegen die Deutschen und deren Kollaborateure vorzugehen, entwickelte sich zu einer Ideologie, die auch von jüdischen Partisanen vermehrt übernommen wurde: „Ihre Bewunderung für die Widerstandskämpfer ging einher mit der Geringschätzung ihrer passiven jüdischen Leidensgenossen.“¹¹⁵ Das wahre Heldentum sahen demnach auch viele jüdische Partisanen im bewaffneten Kampf und nicht in der Rettung von Menschenleben, wie etwa die von Dr. Ezekiel Atlas angeführte Einheit, die in den Wäldern um Lipiczanska operierte. Tuvia Bielski und Dr. Atlas verkörperten die „beiden wichtigsten Strömungen jüdischen Widerstandes“: „den Kampf ums Überleben, und den Kampf aus Rache“¹¹⁶. In Defiance übernimmt Zus Bielski die Position, die von Dr. Atlas und anderen ihm gleichgesinnten Partisanenführern eingenommen wurde. Die Figur des zweitältesten Bruders kann daher als ein Amalgam all jener Ansichten betrachten werden, die den Sinn des bewaffneten Widerstands im heroischen Kampf sahen und nicht in der Rettung von Menschenleben. Zur Bruderfigur gesellt sich im Film ein weiterer Antagonist: Der
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 125; vgl. auch Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 142. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 128. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 134. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 134. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 135. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 137.
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Kämpfer Arkady, auf den ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zurückkommen werde.
6.4.1 Wachsende Spannungen im Waldlager Auf einer Patrouille begegnen Zus und seine Männer einem alten Bauern, der auf einem Karren Milch transportiert. Sie versperren ihm den Weg und entwenden zwei Kannen Milch. Zus, dem dies nicht zu genügen scheint, nimmt dem Mann auch den Mantel ab, lässt ihn jedoch am Leben. Der nun auf Rache sinnende Milchbauer führt kurz Zeit später eine Gruppe einheimischer Polizisten und Kollaborateure an das Waldlager der Bielski-Einheit heran. Aron ist der erste, der ihr Herannahen bemerkt und sofort seine Brüder alarmiert. Panik macht sich nun breit: Alles muss zurückgelassen werden, nur Nahrung und Waffen dürfen mitgenommen werden. Das Waldlager ist nicht mehr sicher: Tuvia: Zus: Tuvia: Zus:
They’ll be back. We have to find a new camp. Next time just draw them a map. What does that mean? It means we should have killed the fucking milkman. Your policy of diplomacy is shit. Two man are dead.Winter is coming and now we have no shelter.Why? Because you don’t have the stomach to do what must be done.
Die im ersten Akt angedeuteten Spannungen zwischen den beiden Brüdern nehmen nach den unglücklichen Ereignissen zu Beginn des zweiten Akts erheblich zu. Doch bevor dieser Konflikt seinen Höhepunkt erreicht, wird eine für den weiteren Verlauf der Handlung wichtige Figur eingeführt: Auf ihrer Suche nach einem geeigneten Platz stoßen Tuvia und Zus auf die Octiaber-Otriad und lernen Victor Panchenko kennen. Der Konflikt zwischen Tuvia und Zus spitzt sich zu, als der älteste der BielskiBrüder im Alleingang beschließt, Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto von Lida zu befreien und sie im neuen Waldlager aufzunehmen. Zus wirft Tuvia vor, das Leben seiner Familie für das Wohl von reichen, eingebildeten Juden – er nennt sie „pretentious“ und benutzt den Begriff „Malbushim“¹¹⁷ – zu riskieren. Sie würden sich, so Zus weiter, unter normalen Bedingungen nicht mit Männern wie ihm und Tuvia einlassen. Der Streit eskaliert: Zus schlägt Tuvia mit der Faust ins Gesicht. Malbush: Der aus dem Hebräischen stammende Ausdruck für „Klamotten“ wurde im Umfeld der jüdischen PartisanInnen geringschätzig – auch entmenschlichend – für all jene Mitglieder verwendet, die unbewaffnet waren und damit (aus der Sicht der Kämpfer) der Einheit lediglich zur Last fielen. Vgl. Tec, Bewaffneter Aufstand, S. 137.
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Danach trennen sich die Wege der Brüder. Zus verlässt das Camp mit all jenen, die, so drückt er es aus, lieber kämpfen wollen anstatt auf den Tod zu warten, und schließt sich der Einheit von Victor Panchenko an. Ein kurzer Zwischenschnitt zeigt Arkady, den nächsten Kontrahenten Tuvias, in einer Halbnahen-Aufnahme: Er schaut den Kämpfern nach – unentschlossen darüber, ob er ihnen folgen soll oder nicht. Mit einem harten Schnitt wird der Schauplatz gewechselt: Tuvia befindet sich im Ghetto und versucht, die dort eingesperrten Jüdinnen und Juden von der Notwendigkeit einer Flucht zu überzeugen. Es habe, betont Nechama Tec in ihrem Interview für Shalom TV, keinen Faustkampf zwischen den Brüdern gegeben. Zus habe Tuvia niemals geschlagen, der Respekt vor seinem großen Bruder und die Liebe, die er für ihn empfand, hätten es ihm zu keiner Zeit erlaubt.¹¹⁸ Doch der Logik der dramaturgischen Entwicklung folgend, musste Zwick den Konflikt zwischen Tuvia und Zus eskalieren lassen, um den Plot vorantreiben und gleichzeitig seinen Protagonisten unter Druck setzen zu können. Denn der gravierendste Unterschied zwischen der Filmfigur Tuvia und der dieser zugrunde liegenden historischen Persönlichkeit ist dieser: Die Filmfigur entwickelt erst im Laufe der Handlung die Fähigkeiten, mit denen die historische Person bereits ausgestattet war (bzw. die Tec und andere ihr zuschreiben, schon gehabt zu haben). Aus diesem Grund sind die zu bewältigenden Konflikte unerlässlich. Hierin unterscheidet sich der Protagonist aus Defiance von Mordechai Anielewicz aus Uprising, der von Beginn an mit herausragenden und beinahe messianischen Eigenschaften ausgestattet ist. Tuvia, dem außergewöhnliche Begabungen fehlen, scheint zumindest in der ersten Hälfte des Spielfilms beinahe ständig überfordert zu sein, bis zu jenem Punkt, in dem ihn der Plot zum Handeln zwingt. Der Held aus Defiance entspricht nicht dem klassischen Heldenbild, vielmehr trifft auf ihn zu, was einst Johann Wolfgang Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre über William Shakespeares Tragödienfigur Hamlet geschrieben hat: „eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist“¹¹⁹.
6.4.2 Die Waldgemeinschaft: Eine neue soziale Ordnung Nicht alle im Ghetto eingesperrten Jüdinnen und Juden ließen sich von Tuvias im Film vorgetragenen Argumenten überzeugen; einige von ihnen blieben daher
Tec, Interview bei Shalom TV. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hamburger Ausgabe. Bd. 7: Romane und Novellen II. München 2000, S. 245 – 246.
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zurück, in der hoffnungsvollen Erwartung, dass sich die Situation bessern werde, solange sie die ihnen auferlegten Arbeiten verrichteten und sich unauffällig verhielten. Doch all jene, die ahnten, dass sich die Lage nur noch verschlimmern könnte, schlossen sich dem Kommandanten der Partisanen an und begleiteten ihn ins neu errichtete Waldlager. Dort angekommen, steigt Tuvia auf einen Schimmel¹²⁰, heißt die Neuankömmlinge willkommen und hält eine programmatische Rede: Friends, this is the happiest day of my life, to see you here safely among us. But there are a few things you must learn about living here. When you are rested and settled, you’ll be assigned work duties. Every one will work, there are no exceptions. We will help supply our Russian Partisan comrades. We will make clothes, we will repair weapons. Women will learn to shoot and they will fight alongside men. […] Today we will start rebuilding the lifes you have all lost. This is the one place in all of Belarussia where a Jew can be free. We welcome you into our community.
In einer der Rede Tuvias anschließenden Sequenz zeichnet Zwick das Leben innerhalb der etablierten Waldgemeinschaft – ein „Jerusalem in den Wäldern“, wie es später etwas verklärend heißen sollte. Die Sequenz besteht aus einer Montage von mehreren kleineren Szenen, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner Schießübungen absolvieren, Schuhe reparieren, nähen, lesen, beten und Kartoffeln schälen. Auf der Tonspur dieser Montagesequenz ist Asaels Stimme zu hören, der eine motivierende Rede hält, in der das Schicksal und der Kampf der WaldbewohnerInnen in die antike jüdische Geschichte eingebettet wird: This is not a gun, to you it is Bar Kochba’s spear. It is Samsons jawbone. It is Ehud’s sword. It is the slingshot young David used to bring down the monster Goliath. And we will become warriors like the Maccabees […]. Brave men and women fighting for their freedom as they were.
Zwick war bei seiner Inszenierung der Lebenssituation im Waldlager auf historische Genauigkeit bedacht, was ihm auch in weiten Teilen gelungen ist. Dennoch hat er einige Aspekte des Zusammenlebens der Einheit zugunsten der Dramaturgie idealisiert und romantisiert. Die Montagesequenz zeigt den Alltag einer heterogenen Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleichgestellt sind und in der sowohl ältere Menschen als auch Kinder fest in die Gemeinschaft integriert sind; alle leben und kämpfen Seite an Seite. Dass die Realität nicht immer jenem im Film gezeichneten romantischen Ideal entsprach, lässt sich besonders an zwei Wie Nechama Tec in ihrem Interview erklärt, hat es diesen Schimmel nie gegeben. Er entstammt gänzlich der Phantasie Edward Zwicks: Tec, Interview bei Shalom TV.
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Beispielen verdeutlichen: 1. Die Stellung der Frauen innerhalb der Einheit; 2. Die Behandlung der „Malbushim“.
In der Waldgemeinschaft Die Frauen in der Bielski-Otriad waren den Männern alles andere als gleichgestellt: Sie waren von Beginn an nicht nur „automatisch von allen politischen Entscheidungen ausgeschlossen“¹²¹, ihnen war es ebenso nicht gestattet, Waffen zu tragen und sich an Lebensmittelbeschaffungsexpeditionen oder gar an Kämpfen zu beteiligen. Lediglich Chaja durfte ihren Mann auf den Streifzügen begleiten.¹²² Das Tragen einer Waffe war das Privileg des Mannes, und „in den seltenen Fällen, in denen eine Frau bei Ankunft in der Bielski-Einheit eine Waffe besaß, wurde diese konfisziert“¹²³; erst danach erfolgte die Aufnahme in die Otriad. Hinsichtlich ihrer Aufnahmeregeln waren die Bielskis im Vergleich zu denen anderer Partisanen jedoch sehr umsichtig und großzügig. Denn sowjetische Partisanen gestatteten nur bewaffneten Kämpfern, sich ihnen anzuschließen.Wer ohne Waffe zu ihnen kam, durfte sich keine Illusionen darüber machen, in die Gruppe aufgenommen zu werden. Die Bielski-Einheit zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass sie entgegen dieser Tendenzen handelte, was als Verdienst ihres Kommandanten betrachtet werden kann: Tuvia „bestand auf der Aufnahme jedes jüdischen Flüchtlings, der das Lager erreichte, ungeachtet dessen, ob derjenige Waffen besaß oder nicht“¹²⁴. Diese Aufnahmepraktiken führten schließlich dazu, dass jene im Film dargestellte heterogene Gemeinschaft entstehen konnte, deren Angehörige zu rund drei Vierteln aus Frauen, Kindern und älteren Menschen und lediglich zu einem Viertel aus kampffähigen Männern bestand.¹²⁵ Diese Zusammensetzung prägte das Bild des Camps. So konnte etwa Hanan Lefkowitz, ein Angehöriger der Stalin-Otriad, sein Staunen kaum verbergen, als er das erste Mal die Bielski-Basis besuchte: „Ich konnte es kaum glauben; ich dachte, ich träume. Was ich sah, war einfach unfaßbar … So viele Juden; Kinder, alte Leute. […] Tuvia und Asael schwangen sich auf ihre Pferde wie Akrobaten. Genau so stellte ich mir Bar Kochba vor … oder König David … Es gab mir Hoffnung.“¹²⁶ Die Bielski-Gemein-
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 77. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 249. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 250. Shmuel Amarant zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 80. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 217. Hanan Lefkowitz zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 220 – 221.
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schaft bestand überwiegend aus Angehörigen „der ungebildeten Unterschicht“¹²⁷. Dementsprechend bildete die vormals privilegierte Mittel- und Oberschicht, innerhalb derer die Frauen den größten Anteil ausmachten, eine Minderheit. Die Kämpfer und Handwerker entstammten überwiegend der Arbeiterklasse.¹²⁸ Im Herbst 1943 war das provisorische Waldlager zu einer kleinen Stadt angewachsen, die in gewisser Weise einem „traditionellen jüdischen ‚Shtetl‘“ glich; mit funktionierenden „Werkstätten, Dienstleitungsbetrieben und Gemeinschaftseinrichtungen“.¹²⁹ Zorach Arluk, der sich nach seiner Flucht aus dem Ghetto von Lida als jüdischer Kämpfer der sowjetischen Partisaneneinheit IskraOtriad angeschlossen hatte, war bei seinem Besuch ebenso verwundert wie Hanan Lefkowitz: Ich war verblüfft über Tuvias Leistung. Ich sah die Werkstätten, die Kinder … Ich sah einen orthodoxen Juden beten. Die Menschen arbeiteten; sie reparierten Uhren, stellten Schuhe her, machten aus Kuhhäuten Leder. Leute aus der gesamten Umgebung ließen sich dort ihre Sachen reparieren.¹³⁰
Die Zusammenarbeit und das Zusammenleben Die Werkstätten, die mit der Gründung eines festen Stützpunkts im Herbst 1943 zunehmend an Bedeutung gewannen¹³¹, waren für die Gemeinschaft gleich in mehrfacher Hinsicht von Nutzen. Zum einen deckten sie mit der Produktion und Reparatur von materiellen Gütern den eigenen Bedarf an Waffen, Werkzeugen, Schuhen oder Kleidungsstücken etc.; zum anderen sicherten sie damit die materielle Versorgung jener sowjetischen Partisaneneinheiten, zu denen die BielskiOtriad eine kooperative Beziehung pflegte. Darüber hinaus erfüllten die Werkstätten, die „von alters her […] Modell[e] für kontinuierliche Kooperation[en]“¹³² darstellen, auch soziale Funktionen. Denn die „Idee der Werkstatt“, wie der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Zusammenarbeit schreibt, „geht über die von den Marxisten in den Vordergrund gestellte Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln hinaus und betrifft auch die Frage, wie man sich sozial verantwortlich verhalten kann, wenn man die Kontrolle besitzt“¹³³. In dieser Hinsicht kann die Werkstatt als eine Institution betrachtet werden, „die langfristigen
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 217. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 217. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 219. Zorach Arluk zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 220. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 232. Sennett, Zusammenarbeit, S. 83. Sennett, Zusammenarbeit, S. 85.
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Nutzen und Loyalität mit kurzfristiger Flexibilität und Offenheit kombiniert“¹³⁴. Werkstätten sind zugleich auch kulturelle Orte, in denen „komplexe soziale Rituale“ entwickelt und in denen Ideen der Gerechtigkeit sowie der „rituellen Solidarität“ vermittelt werden können.¹³⁵ In dieser Funktion halfen sie der BielskiEinheit beim Aufbau ihrer Waldgemeinschaft. Die bedeutendste Frage bezüglich des Zusammenlebens innerhalb der Gemeinschaft betraf die Ernährung: Die Bielski-Einheit war „eine heterogene Gesellschaft mit einem komplizierten Geflecht sozialer Übereinkünfte und unterschiedlicher Lebensstile, die alle eng mit dem Thema ‚Nahrung‘ verbunden waren“¹³⁶. Tuvia Bielski betrachtete die Versorgung mit Lebensmitteln als ein uneingeschränktes Recht jedes Mitglieds der Einheit, unabhängig von dessen Nutzen für die Gemeinschaft. Die Führungselite versuchte bei der Verteilung so gerecht vorzugehen, wie es ihr die Umstände erlaubten: Die schwächeren Mitglieder (ältere Menschen, Kinder oder Kranke) erhielten eine Extraration, ebenso jene KämpferInnen, die an „gefährlichen nächtlichen Expeditionen“ teilnehmen mussten.¹³⁷ Auch die Verantwortlichen für die Otriad sowie ihre Angehörigen sollen bessere Nahrung erhalten haben als die anderen, was langfristig den Unmut der Mehrheit der Mitglieder erweckt haben soll. Dies wirft ein „widersprüchliches Licht“ auf Tuvia, seine Familie und seine Freunde, die von vielen als „Romanoff-Hofstaat“ bezeichnet wurden.¹³⁸
Das Schicksal der „Malbushim“ Dass in der Waldgemeinschaft nicht alles gerecht verlief, belegen auch die vielen Zeugenaussagen über die Behandlung der „Malbushim“. Cila Sawicki, die vor dem Krieg einer „gebildeten Schicht“ angehörte, erzählte Tec von ihren Erfahrungen auf der „untersten Stufe der sozialen Leiter“, der sie im Camp mit einem Male angehörte: Wir Intellektuellen zählten nicht mehr. Wir waren deprimiert. Wir waren nicht viel wert. Sie lachten uns aus, weil wir Malbushim waren. Wir taugten nicht für diese Art von Leben. Wir hatten keine Erfahrung mit Pferden – mit gar nichts. Die Mehrheit der Leute war ungebildet, erdverbunden … Ich hatte wenig mit ihnen gemein. Sie waren mir einfach fremd. Ich wollte
Sennett, Zusammenarbeit, S. 85. Vgl. Sennett, Zusammenarbeit, S. 83. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 221. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 221. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 222– 223.
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ihnen näherkommen, aber sie lehnten uns ab. Ich habe die ganze Zeit hart gearbeitet, damit sie sich nicht über mich lustig machten.¹³⁹
Ähnliches berichtete auch Hana Stolowicki über den sozialen Abstieg ihres Vaters und den anschließenden psychischen sowie physischen Niedergang: Er wurde ein Malbush, er tat einfach gar nichts … Er war intelligent, gebildet; aber er wußte sich überhaupt nicht zu helfen. Er war schmutzig, vernachlässigt. Er wurde nicht mehr als Mensch angesehen. Es gab viele enttäuschte Leute wie ihn.¹⁴⁰
In der Bielski-Basis setzte ein sozialer Wandel ein, eine neue Ordnung entstand: von unten nach oben. Die „ehemals Unterprivilegierten tauschten den sozialen Status mit der Vorkriegselite und entwickelten sich zur neuen Führungsschicht“¹⁴¹.
6.4.3 Rebellion im Camp Die neue Sozialordnung erlaubte es auch Männern wie Israel Kesler, der vor dem Krieg seinen Unterhalt als professioneller Dieb bestritt, einen hohen und angesehenen Posten innerhalb der Partisanenhierarchie einzunehmen.¹⁴² Kurz nachdem Kesler, den viele als boshaft und berechnend charakterisierten, das Kommando über eine Unterabteilung innerhalb der Otriad übertragen wurde, begann er gegen Tuvia zu intrigieren, um sich mit seiner Gruppe von der Bielski-Einheit abspalten zu können. Kesler verfasste „Verleumdungsbriefe“, in denen er den Bielski-Brüdern und vor allem Tuvia unredliches Handeln unterstellte, und ließ sie den Kommandanten befreundeter sowjetischer Partisaneneinheiten zukommen. Schon bald kursierten Gerüchte über „unsaubere Finanzpraktiken“, Erpressung und Raub.¹⁴³ Das Intrigenspiel flog jedoch schnell auf. Kelser wurde daraufhin verhaftet, angeklagt und zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde von Asael vollzogen: Er „feuerte vier Kugeln auf ihn ab; Kesler war auf der Stelle tot“¹⁴⁴.
Cila Sawicki zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 225. Hana Stolowicki zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 225. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 217. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 273. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 276 – 277. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 278.
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Diese Tat war kein Einzelfall. Während seiner Zeit als Kommandant wurde Tuvia immer wieder mit Widerstandsaktivitäten aus den eigenen Reihen konfrontiert, die sich hauptsächlich gegen ihn richteten und seine Autorität in Frage stellten.¹⁴⁵ Ein anderer Aufwiegler, mit dem Namen Arkie Lubczanski, unternahm den Versuch, Tuvia zu stürzen und dessen Posten einzunehmen. Tuvia ließ den Verräter gegen den Rat seiner Männer, die ihn hinrichten lassen wollten, aus dem Camp verbannen. Der Kommandant weigerte sich, andere Juden zu töten.¹⁴⁶ Im Juli 1944, als sich die Bielski-Otriad vor der heranrückenden Wehrmacht und SS auf der Flucht befand, provozierte ein Partisan seiner Einheit einen Zwischenfall, in dessen Verlauf Tuvia sich gezwungen sah, mit seiner eigenen Regel zu brechen. Der Mann mit dem Namen Polonecki handelte wider den eindeutigen Befehl Tuvias, der besagte, dass der ganze Besitz – außer Waffen und Nahrung – im Camp zurückgelassen werden sollte, und zog einen Wagen mit Waren hinter sich her. Tuvia, der hinter der Kolonne ritt, forderte Polonicki auf, seinen Wagen aufzugeben: Der Befehl wurde ignoriert. Tuvia wiederholte seine Forderung. Statt zu gehorchen, erwiderte Polonecki provozierend: ‚Deine Karriere ist zu Ende. Du bist kein Kommandant mehr.‘ Tuvia drohte: ‚Wenn du den Wagen nicht sofort stehenläßt, erschieße ich dich.‘ Nach einer erneuten trotzigen Weigerung hörte man einen Schuß. Poloneckis Körper schlug auf den Boden auf. Der Wald hatte sein letztes Opfer gefordert.¹⁴⁷
Tuvia habe, so erklärt Tec in ihrem Interview für Shalom TV, seine Tat bis zu seinem Tode bereut. Immer wieder habe er sich gefragt, warum er diesen Mann nicht einfach in Ruhe gelassen habe.¹⁴⁸ Die genannten Ereignisse sowie die Personen, die daran partizipierten, fügten Zwick und Frohman zu einer singulären Begebenheit zusammen, in dessen Mittelpunkt ein einziger Mann steht: Arkady Lubczanski. Diese antagonistische Figur, die bereits Anfang des zweiten Akts eingeführt wird, ist mit den Charaktereigenschaften der vielen in Tecs Buch aufgeführten Verräter und Aufwiegler ausgestattet. Zwick ist bei der Etablierung dieser Figur subtil vorgegangen: Arkady entwickelt sich im Hintergrund, wo er kaum wahrgenommen wird – abgesehen von kurzen Zwischenschnitten, in denen sein markantes Gesicht in einer Nahaufnahme gezeigt wird. Nach dem Fortgang von Zus gewinnt Arkady zunehmend
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 146 und S. 271– 280. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 272. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 294. Siehe Tec, Interview bei Shalom TV.
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an Bedeutung. Spätestens mit dem Wintereinbruch 1941¹⁴⁹ und der sukzessiven Verschlechterung der Lebensbedingungen im Waldlager entfaltet sich dessen böswilliges Potential zur Gänze. Die Genese der Figur vom eher unbedeutenden Kämpfer aus einer unterprivilegierten, bildungsfernen Schicht hin zum boshaften Widersacher, der den Führungsanspruch Tuvias in Frage stellt, lässt sich an drei Sequenzen nachverfolgen.
Erste Sequenz: Kälte und Hunger Der Wintereinbruch hat die unvorbereitete Gemeinschaft schwer getroffen: Die Lebensmittelversorgung kann kaum noch aufrechterhalten werden; die Menschen hungern und frieren. Der desolate Zustand führt zu Spannungen; es mehren sich Zweifel an Tuvias Führungsstärke. Arkady sitzt mit anderen Kämpfern in einer Hütte, sein Gesicht ist von Niedergeschlagenheit und wachsender Wut gezeichnet. Seinen Kameraden wirft er vor, dass sie Tuvia folgen würden wie „alte Ziegen“ („old goats“). Er bereut, dass er Zus nicht gefolgt ist.
Zweite Sequenz: Gerechte Portionen Tuvia erschießt seinen Schimmel und lässt das Fleisch unter den Hungernden verteilen. Bei der Essensausgabe kommt es zu einer tumultartigen Szene, in dessen Verlauf Arkady, der eine größere Ration fordert, Asael mit einem Messer attackiert. Tuvia, den eine Krankheit sichtlich geschwächt hat, interveniert und fragt nach dem Grund des Streits, woraufhin Arkady antwortet: „Those who risk their lives to bring back food deserve a larger portion than those who risk nothing.“ Tuvia erklärt, dass alle die gleiche Ration erhalten. Anschließend bestraft er sowohl Arkady als auch Asael mit der Halbierung ihrer Rationen für eine Woche. In einem vertraulichen Gespräch verrät Asael seinem älteren Bruder, dass Arkady und seine Männer Lügen über ihn verbreiten. Sie würden erzählen, dass er korrupt und unfähig sei, die Gemeinschaft anzuführen. Ab diesem Punkt greifen zwei gegenläufige Entwicklungen, die sich bereits zuvor abgezeichnet hatten und nun das Kräftegleichgewicht maßgeblich gefährden, in den Plot ein. Mit Arkadys Aufstiegs beginnt Tuvias Abstieg: die crisis of leadership.
Zwick hielt sich hinsichtlich der Chronologie nicht an die historische Vorlage und verlegte die gesamte Handlung in den Zeitraum Sommer 1941 bis Sommer 1942.
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Dritte Sequenz: Wiederherstellung des Gleichgewichts Aron klopft an Tuvias Hütte: „You must come“. Draußen hat Arkady seine Männer um einen Tisch versammelt; sie essen reichlich und amüsieren sich auf Kosten anderer Mitglieder. Tuvia nähert sich ihnen: „Arkady, Arkady! What is this?“ Arkady, der Tuvia den Rücken zugekehrt hat, wendet sich ihm zu, baut sich drohend vor ihm auf und erwidert: „New policy. Fighters get better food.“ Tuvia, noch immer geschwächt, protestiert, ohne dabei seine Stimme zu erheben: „That is against my orders.“ Arkady schaut sich einen Augenblick um, lächelt unmerklich und antwortet: „You are no longer Commander.“ Scheinbar resignierend, wendet sich Tuvia ab. Zwick steigert die Spannung mit schnellen Schnitten. Es scheint ganz so, als würde der gestürzte Kommandant sich der neuen Ordnung fügen; das ganze Camp hält den Atem an. Dann, mit einem Mal, zieht Tuvia seine Pistole und erschießt Arkady auf der Stelle. Jegliches Anzeichen von Schwäche ist von ihm gewichen. Mit drohender Stimme sagt er: „As long as I am the leader of this group, you will obey my commands. There will be no more complaining! No more sitting. No doing nothing. Anyone who wants to leave, leave now.“ Anschließend befiehlt er Arkadys Männern: „Take his body to the woods, leave it for the wolves.“
Eine legitime Hinrichtung? Um seine Autorität wiederzuerlangen und das Gleichgewicht innerhalb der sensiblen Machtverhältnisse sowie die Ordnung des Waldlagers wiederherzustellen, wendet Tuvia extreme Gewalt an: Er richtet den Verräter vor den Augen aller Mitglieder hin. Das Töten bildet die „äußerste Grenze“ auf einer Steigerungsskala der Gewalt – ein „Definitivum aller Gewalt“.¹⁵⁰ Herrscher, die sich dieser Form der Gewalt bedienen, demonstrieren in der Regel ihren uneingeschränkten Herrschaftsanspruch und ihre absolute, vollkommene Herrschaftsmacht: „Absolute Gewalt dient der persönlichen und institutionellen Legitimation des Herrschers […].“¹⁵¹ Tuvia hingegen, dessen Ziele durch Arkadys Rebellion zeitweilig gefährdet werden, bedient sich der äußersten Gewalt, um sich aus einer Notlage zu befreien. Darüber hinaus handelt er zum Wohle der Waldgemeinschaft, indem er sie vom Joch des kleinlichen Aggressors befreit. Schließlich handelt Arkady, der von Beginn an stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, aus unredlichen Beweggründen wie Habgier und Machthunger. Zwick inszenierte die Tötung des Verräters daher in gewisser Hinsicht als einen Tyrannenmord, wodurch er die Gewaltanwendung Tuvias legitimiert.
Popitz, Phänomene der Macht, S. 78. Popitz, Phänomene der Macht, S. 79.
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Gegen Ende des zweiten Akts kann sich Tuvia erfolgreich gegen alle antagonistischen Kräfte, die sich gegensätzlich zu seinen Wünschen und Zielen verhalten haben, behaupten und alle äußeren sowie inneren Konflikte zu seinen Gunsten entscheiden. Damit hat er sich erneut als Anführer bewährt, wobei seine Autoritätswirkung um eine weitere Facette ergänzt wurde. Bis zum Zwischenfall mit Arkady folgte ihm die Gemeinschaft und fügte sich seinen Anordnungen aus Anerkennung, Achtung und Respekt. Nach der öffentlichen Hinrichtung Arkadys wurde die Fügungsbereitschaft einer Mehrheit der Mitglieder der Bielski-Einheit noch um den Faktor Angst erweitert. Tuvia hat damit auch den kurz zuvor erhobenen Vorwurf seines Bruders Zus entkräftet, in welchem er behauptet hatte, Tuvia mangle es an Mut, um „zu tun, was zu tun sei“.¹⁵²
6.5 Feindbegegnungen Der harte, dunkle Winter weicht im letzten Akt, der ganz im Zeichen der Konfrontation mit dem Feind (der mächtigsten antagonistischen Kraft) steht, einem sonnengetränkten Frühling; das Eis schmilzt und die Wälder erblühen. Nach Arkadys Tod ist Ruhe eingekehrt. Tuvia und Lilka haben zueinander gefunden, Asael und Chaja sind mittlerweile verheiratet. Mit den Temperaturen ist auch die Gefahr gestiegen, vom Feind entdeckt zu werden. Die Kundschafter der BielskiEinheit vermelden Patrouillen, die sich dem Camp gefährlich nähern. Es gelingt ihnen, einen SS-Mann, der sich auf einem Meldegang befindet, gefangen zu nehmen und ihn ins Waldlager zu bringen. In seiner Tasche findet Tuvia geheime Marschbefehle, die darauf hindeuten, dass die deutschen Truppen das Waldlager in zwei Tagen – am Pessach-Fest – erreichen werden. Derweil droht die Gewalt unter den Mitgliedern der Einheit, deren Zorn sich auf den SS-Soldaten richtet, zu eskalieren. Der blonde, blauäugige Soldat fleht auf den Knien um sein Leben, während ihn die Partisaninnen und Partisanen einkreisen. Eine erhöhte Schnittfrequenz sorgt an dieser Stelle für eine hektische Spannung, die jederzeit zu kippen und in schiere Gewalt umzuschlagen droht. Shimon, ein Lehrer, und Jacov, ein Schriftsteller, versuchen die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Tuvia, Lilka, Asael, Chaja, und Aron bleiben auf Distanz. Und obwohl nach Tuvia gerufen wird, hält der Kommandant sich zurück. Shimons und Jacovs Versuche bleiben erfolglos. Die Stimmung schlägt schließlich um, die Gewalt eskaliert: Die PartisanInnen erschlagen den SS-Mann mit Gewehrkolben, Holzknüppeln und Äxten.
Zus: „Because you don’t have the stomach to do what must be done.“ Die Sequenz wurde am Anfang des Kapitels 6.4.1 erörtert.
6.5 Feindbegegnungen
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Tuvia wendet sich ab und begibt sich in die Tiefe der Wälder, wo er auf Aron stößt, der auf einem Stein kauert. Asael kommt hinzu. Niemand sagt ein Wort, dennoch verrät die Mimik der drei Schauspieler, dass ihre Figuren sich von den Handlungen der Mehrheit distanzieren und mit dem Totschlag nicht einverstanden sind. Ebenso verhält es sich mit den anderen Figuren, zu denen die ZuschauerInnen mittlerweile Vertrauen gefasst haben: Lilka hat der Gewaltausbruch erschüttert, Shimon und Jacov sind desillusioniert. Der Regisseur geht an dieser Stelle auf Distanz zu seiner eigenen Inszenierung, indem er die wichtigsten Charaktere seines Films nicht an der Tat partizipieren lässt und sie nacheinander aus der Sequenz heraustreten lässt. Damit eröffnet er einen Raum für die ZuschauerInnen, der es ihnen ermöglicht, selbst Position zu beziehen. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt,¹⁵³ sollten sich RegisseurInnen nicht fragen, was sie zeigen dürfen, sondern welche Chance sie den ZuschauerInnen einräumen, dass Dargestellte als das zu erkennen, was es ist. Hinsichtlich der Darstellung von Gewalt in Spielfilmen ließe sich die Formel dementsprechend abwandeln; die Frage würde dann nicht lauten: „Wie zeige ich Gewalt? Sondern: Wie zeige ich dem Zuschauer seine eigene Position gegenüber der Gewalt und ihrer Darstellung?“¹⁵⁴ Diese Formel lässt sich auch auf Defiance übertragen: Welche Position gegenüber der Gewalt und ihrer Darstellung wird den ZuschauerInnen nahe gelegt? An diese Frage lassen sich weitere anschließen: Ist die dargestellte Gewalt gegen die Feinde legitim? Hat die Gewalt, die sich gegen die Täter richtet, Grenzen? Wann ist die Ausübung entgrenzter Gewalt, wie sie in der oben beschriebenen Sequenz dargestellt ist, gerechtfertigt? Und schließlich: Inwieweit gestehen wir – das Publikum – den jüdischen Partisanen die Anwendung von Gewalt zu? Die Bewertung der im Film dargestellten Gewalt ist, wie im Folgenden deutlich werden soll, in den meisten Fällen von der Art der Inszenierung abhängig.
6.5.1 Das Gute an der Gewalt Gewaltdarstellungen im Film sind so alt wie das Kino selbst: „Denn in einem sinnlichen Medium wie dem Kino kommt man nicht darum herum, Gewalt abzubilden.“¹⁵⁵ In vielen Fällen wird diese jedoch ästhetisiert und „zum Zwecke des
Siehe Kapitel 6.3.3. Haneke, Gewalt und Medien, S. 163. Haneke, Michael: Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer. Berlin 2008, S. 77.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
Konsums verharmlost“¹⁵⁶. Dadurch wird die Gewalt, die zuweilen banal und unspektakulär sein kann, „derealisiert“.¹⁵⁷ Eine Entwicklung, die sich beispielsweise an den Spielfilmen Quentin Tarantinos, die meist vom Motiv der Rache getragen werden, gut beobachten lässt. In Inglourious Basterds oder Django Unchained (Django Unchained, USA 2012) werden SS-Offiziere bzw. Sklavenhändler auf allerlei grausame Arten getötet, was in gewisser Weise die Rachegelüste der ZuschauerInnen befriedigt. Das Töten dieser Menschen erscheint insofern legitim, weil sie wahrscheinlich nach der Einschätzung des Regisseurs sowie der großen Mehrheit der ZuschauerInnen einen besonders brutalen Tod verdient hätten. Hier entfaltet die Gewalt eine geradezu kathartische Wirkung. Die Erschießung des Verräters Arkady durch den geschwächten Kommandanten Tuvia übt eine ähnliche Wirkung auf das Publikum aus. Das brutale Ende des Aufwieglers, das von Zwick in mehreren präzisen Schritten vorbereitet wurde, erscheint als gerecht und legitim; nach dem Tod Arkadys setzt Erleichterung ein. Die Inszenierung und Charakterisierung der antagonistischen Figur lässt kaum Platz für Empathie: Arkady ist durch und durch unsympathisch; sogar seine Physiognomie ist unangenehm. Anders dürfte es sich bei dem gefangengenommenen SS-Mann verhalten, dessen Hilflosigkeit die Empathie der ZuschauerInnen ansprechen könnte. Sein Tod dürfte daher weder die Rachegefühle des Publikums befriedigen – welche Zwick mit seiner Inszenierung gar nicht erst geweckt hat – noch eine kathartische Wirkung entfalten. Als Vorlage für die Sequenz mit dem Deutschen, in welchem sich die Wut der Menge in einem hemmungslosen Gewaltausbruch entlädt, diente Zwick ein Zwischenfall, der sich ähnlich im Bielski-Stützpunkt zugetragen hat. Wie Tec in ihrem Buch beschreibt, griffen die Wachen der Einheit eines Tages drei SS-Angehörige auf und brachten sie zur Kommandantur, vor der sich kurzerhand eine „aufgebrachte Menge“ versammelte.¹⁵⁸ Um Ausschreitungen zu vermeiden, wandte sich Tuvia mit den folgenden Worten an seine Leute: Kameraden, Partisanen, wir haben drei SS-Männer gefaßt. In diesem Augenblick werden sie verhört. In Kürze wird das Urteil verkündet. Die Bluthunde werden ihre gerechte Strafe erhalten. Wir haben dafür gelebt, Vergeltung zu üben. Verhaltet euch ruhig. Stört uns nicht bei der Arbeit.¹⁵⁹
Haneke, Nahaufnahme, S. 80. Haneke, Nahaufnahme, S. 80. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 289. Tuvia Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 290.
6.5 Feindbegegnungen
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Die SS-Männer flehten auf Knien um ihr Leben und schworen, nicht an Greueltaten gegen Juden beteiligt gewesen zu sein. Nachdem die Vernehmungen abgeschlossen waren, wurden zwei von ihnen erschossen; den dritten – „einen großen, blonden Deutschen“, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren – überließen sie der Menge, die sogleich auf ihn zustürmte: Der erste, der den SS-Mann erreichte, war der fast achtzigjährige Pupko, das älteste BielskiMitglied. Mit einem Messer in der Hand schrie Pupko: ‚Gott, mein Großvater war kein Mörder, mein Vater war kein Mörder, aber ich werde zum Mörder.‘ Etwas in der Stimme des alten Mannes bremste den Ansturm der Masse. Gebannt hefteten sich die Augen an Pupkos Messer. Wie in Trance begann der Hauptakteur, den SS-Mann aufzuschlitzen. Ein anerkennendes Raunen ging durch die Menge. Diese wortlose Konversation schien Pupko zur Vollendung seiner Tat anzuspornen. Nach wenigen, sich zur Hochspannung steigernden Augenblicken war der SS-Mann tot und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.¹⁶⁰
Auf einen ähnlichen Fall, der sich im Umfeld der jüdischen Partisanen in Weißrussland zugetragen hat, greift der Politikwissenschaftler James M. Glass in seinem Buch Jewish Resistance during the Holocaust zurück, um über „the moral goodness of violence“ im Kontext des bewaffneten Widerstands gegen die Nationalsozialisten zu reflektieren.¹⁶¹ Ausgehend von den Überlegungen des Psychiaters und Schriftstellers Frantz Fanon bezüglich der Gewalt in den kolonisierten Ländern, die er in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde festgehalten hat¹⁶², konstatiert Glass: „violence restores the psychological health of the oppressed and victimized“¹⁶³. Um seine These zu unterstreichen, zitiert er aus den Erinnerungen einer jüdischen Partisanin, in welchen sie von einer „pleasure of violence“¹⁶⁴ spricht. Ähnlich wie in der von Tec beschriebenen Situation, ging dem im Folgenden geschilderten Ereignis die Gefangennahme einiger SS-Männer voraus: Everyone started beating them – with rifle butts, fists, boots. We beat them to mush. I remember that they were lying on the ground just barely breathing. And I … don’t think I could ever do it again … I came up to one of the German officers who had his legs spread. I started to kick him again and again in the groin. I was kicking and screaming, ‚For my mama! For my tate [daddy]! For my sisters!‘ I went on screaming out every name I could remember – all my relatives and friends who had been murdered. It was such a release! It was as if I had finally done what my mother had asked me to do. I still remember my mother’s last words as she
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 290. Vgl. Glass, James M.: Jewish Resistance during the Holocaust. Moral Uses of Violence and Will. New York 2004, S. 79 – 101. Vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main 1981, S. 29 – 91. Glass, Jewish Resistance, S. 81. Glass, Jewish Resistance, S. 81.
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was waiting to be taken to the grave, ‚Tell Rochelle to take nekome [revenge] – revenge. Revenge!¹⁶⁵
Glass, der die Situation, in der sich die jüdischen PartisanInnen befunden haben, mit der von Fanon beschriebenen Welt der Kolonisierten strukturell gleichsetzt¹⁶⁶, legitimiert in seinem Buch jene Art extremer Gewaltanwendung seitens der PartisanInnen, wie sie Rochelle Sutin in der oben zitierten Passage beschreibt. Denn die Gewalt der Unterdrückten ist eine, die sich gegen die Gewalt der Unterdrücker richtet und in diesem Sinne eine „Gegengewalt“ darstellt.¹⁶⁷ Fanon zufolge, halten sich beide Gewaltinstanzen „die Waage und entsprechen einander in einer außerordentlichen Homogenität“¹⁶⁸. In diesem Sinne verhält sich die Gewalt der jüdischen PartisanInnen proportional zur Gewalt, die von den nationalsozialistischen Besatzern ausgeübt wird. Die Gegengewalt der Unterdrückten nimmt derweil „positive und aufbauende Züge“¹⁶⁹ an: Sie „vereinigt das Volk“¹⁷⁰ und wirkt auf „der individuellen Ebene […] entgiftend“¹⁷¹. Aus den hier zusammengetragenen Erkenntnissen Fanons schlussfolgert Glass hinsichtlich der Gewalt der jüdischen PartisanInnen: „The result is catharsis, rebirth, a psychic moving outwards in a burst of energy and rage that brings back to the group its human and political identity.“¹⁷² Die oben beschriebene Sequenz, in welcher Zwick den ungehemmten Gewaltausbruch eines Teils der Bielski-Partisanen inszeniert hat, weist große Ähnlichkeiten auf mit der von Sutin geschilderten Episode. Vermutlich war der Regisseur über die Aussage der Partisanin im Bilde, als er zusammen mit seinem CoAutor das Drehbuch schrieb. Ebenso lässt sich nicht ausschließen, dass ihm zu jener Zeit auch die Thesen von Glass bekannt waren. Aber teilte er auch die Ansichten des Politologen über die Nützlichkeit und Rechtmäßigkeit extremer Gewaltanwendungen durch die PartisanInnen? Seine Figuren Tuvia, Asael, Aron, Lilka, Shimon und Jacov wirken in der Sequenz eher abgeschreckt und desillusioniert. Zum ersten Mal greift Tuvia nicht ein, um einen Konflikt zu lösen, son-
Rochelle Sutin zit. nach Glass, Jewish Resistance, S. 81– 82. Genauer Wortlaut: „In looking at Fanon’s theory of violence, his concept of the colonized becomes, in the context of the Holocaust, the ‚being-ness‘ of the Jew, the oppressed, the exploited, the ‚wrechted of the earth‘, which the Jew was for the German.“ (Glass, Jewish Resistance, S. 85) Vgl. Fanon, Die Verdammten, S. 74. Fanon, Die Verdammten, S. 74. Fanon, Die Verdammten, S. 74S. 76. Fanon, Die Verdammten, S. 77. Fanon, Die Verdammten, S. 77. Glass, Jewish Resistance, S. 87.
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dern zieht sich zurück. Die Tat selbst wird aus der Distanz gezeigt. Die Sequenz ist aus der Totalen gefilmt; ohne Zwischenschnitte von Details, ohne Nahaufnahme vom zu Tode geprügelten Körper des SS-Mannes. Am Ende wird darauf verzichtet, die Leiche des Mannes zu zeigen. Zwick geht als Regisseur zwar auf Abstand, vermeidet es jedoch, selbst eine klare Stellung zu beziehen. Es scheint, als möchte er weder belehren noch Rachegefühle unterstützen. Denn hätte er belehren wollen, hätte er Tuvia eingreifen lassen müssen. In diesem Fall hätte der Regisseur seinen Protagonisten etwas Ermahnendes sagen lassen, wie in dessen erster Rede: „We may be hunted like animals but we will not become animals.“ Wenn Zwick jedoch andererseits an die Rachegefühle seines Publikums hätte appellieren wollen, hätte er den SS-Mann deutlicher als Täter kennzeichnen müssen. Die Sequenz, in der dieser von der wütenden Menge erschlagen wird, hätte gewiss eine andere Wirkung, wenn der SS-Mann kurz vor seiner Verhaftung bei einer Gewalttat gegen Jüdinnen und Juden gezeigt worden wäre. Indem das Publikum in diesem Fall direkt mit der Gewalt des Täters konfrontiert worden wäre, wäre es ihr auch leichter gefallen, die Gewalt der PartisanInnen als legitime Gegengewalt, wie es bei Fanon heißt, zu erkennen. Zwick verzichtet jedoch darauf, eine klare Position zu beziehen. Und genau dadurch räumt er seinen ZuschauerInnen die Möglichkeit ein, über ihre eigene Position gegenüber der dargestellten Gewalt zu reflektieren.
6.5.2 Exodus Im Frühjahr 1943 trafen im Hauptquartier der Bielski-Partisanen verlässliche Informationen über eine bevorstehende Invasion ein. Es war die Rede von einem „Generalangriff der Deutschen auf den Lipiczanska-Wald“¹⁷³, wo sich die Einheit seit einiger Zeit aufhielt. Daraufhin beschloss Tuvia, die Einheit „in die weiter nördlich gelegenen, von deutschen Angriffen bislang verschonten NalibockaWälder“¹⁷⁴ zu verlegen. Für die Einheit begann anschließend ein beschwerlicher, mehrtägiger Marsch durch Wälder und Flüsse, der am Ende Hunderten das Leben retten und vielen ehemaligen PartisanInnen, die wie Raja Kaplinski dabei gewesen waren, noch Jahre später in guter Erinnerung bleiben sollte: Ich dachte mir, dies ist eigentlich eine Aufgabe für Moses und für sonst niemanden. Wir waren ungefähr siebenhundert Menschen. Eine so riesige Gruppe bewegte sich vorwärts. Nicht alle hörten auf Tuvia. Manche gingen verloren. Also mußten wir nach ihnen suchen.
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 172. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 174.
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Andere konnten das Tempo nicht mithalten. Die Leute kamen mir vor wie eine Herde, die ihrem Schäfer nicht gehorcht. Tuvia besaß Mut, Willensstärke … Er hatte so viele Probleme, so viele Schwierigkeiten … Es war ein Wunder. Man könnte über diesen Marsch allein Bücher schreiben. Ich erinnere mich so gut, weil ich an Tuvias Seite arbeitete. Er war erschöpft, ausgepumpt. Es brachte ihn fast um, die Verantwortung für ein Lager dieser Größenordnung tragen zu müssen, in dem jeder etwas anderes von ihm wollte und keiner zuhörte … Es war wirklich eine heroische Leistung, und ich begreife bis heute nicht, wie er sie vollbringen konnte.¹⁷⁵
In Defiance markiert der Marsch, dem zusätzlich ein gänzlich fiktives Gefecht mit der heranrückenden Wehrmacht hinzugefügt wurde, den finalen Höhepunkt des Films. Zwick und Frohman bedienten sich der in Kaplinskis Aussagen enthaltenen Verweises auf Moses, um einen direkten Bezug zum biblischen Exodus – den von Moses angeführten Auszug der jüdischen Sklaven aus Ägypten – zu inszenieren und damit den Marsch mythisch, religiös und weltgeschichtlich aufzuladen. Die lange Exodus-Sequenz beginnt mit einer Halbnahaufnahme von Shimon, der neben einer Tafel sitzend den Kindern des Waldlagers von Moses, dem Auszug aus Ägypten und vom Pessach-Fest erzählt, das am morgigen Tag begangen werden soll. Wie aus den Dokumenten, die Tuvia in der Tasche des erschlagenen SS-Mannes gefunden hatte, hervorgegangen ist, planen die Deutschen am Pessach einen großangelegten Angriff auf den von den Bielski-PartisanInnen bewohnten Waldabschnitt. Tuvia, dem dies bewusst ist, gibt daraufhin den Befehl, das Waldlager zu räumen. Hektisch beginnen die Mitglieder der Einheit damit, einige Habseligkeiten, Lebensmittel und Waffen zu packen. Die Hektik schlägt in jenem Augenblick gänzlich in Chaos um, als der Deutsche Angriff vorzeitig erfolgt: Eine Fliegerstaffel der Luftwaffe eröffnet das Feuer auf das Lager. Schüsse zerreißen die Luft, Bomben lassen die selbsterbauten Hütten zerbersten. Hunderte werden verletzt oder sterben im Feuerhagel der Maschinengewehre. Die übrigen Mitglieder ergreifen, angeführt von Tuvia, die Flucht. Asael bleibt mit wenigen PartisanInnen im Camp zurück, um die anrückenden Soldaten in ein Feuergefecht zu verwickeln und somit den Fliehenden einen Vorsprung zu verschaffen. Die Kolonne erreicht nach kurzer Zeit einen schwer zu überwindenden Fluss. Die Lage scheint aussichtslos, zumal Tuvia plötzlich in Apathie verfällt und zu keiner Entscheidung mehr fähig zu sein scheint. Wie Tec in ihrem Buch schildert, hat sich während des Marsches der Einheit etwas Vergleichbares zugetragen – jedoch mit einem signifikanten Unterschied, wie gleich ersichtlich wird:
Raja Kaplinski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 175 – 176.
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Die Flüsse Niemen und Bieroza kreuzten ihren Weg. Wie sollten die vielen Nichtschwimmer sie durchqueren? Die Leute banden sich schließlich aneinander, bevor sie sich ins Wasser wagten. Raja Kaplinski ist davon überzeugt, daß es niemandem außer Tuvia gelungen wäre, die Flüchtlinge an ihr Ziel zu bringen.¹⁷⁶
In der Verfilmung versagen Tuvia jedoch die Kräfte. Der Anführer steht kurz vor der Resignation, als Asael im entscheidenden Augenblick auftaucht. Mit wenigen Worten, die zum Teil auf den Auszug aus Ägypten verweisen, befreit er seinen älteren Bruder aus der Apathie und gibt den PartisanInnen Mut: „Nothing is impossible.What we all have done is impossible. […] God will not part this waters. We will do it ourself.“ Anschließend lässt er alle aneinanderbinden und führt die Menge durch den Fluss.¹⁷⁷
6.5.3 Das letzte Gefecht – gegen den Feind, gegen den Mythos, gegen die Negation der Negation Erschöpft erreicht der immer noch große Rest der Waldgemeinschaft ein offenes, grünes Feld, das von hohen Bäumen umgeben ist. In erregter Freude darüber, dass sie die Strapazen überstanden haben und am Leben geblieben sind, fallen sich einige in die Arme, andere legen sich auf den Rasen, um liegend zu Atem zu kommen. Shimon, der dem Tode nahe ist, bedankt sich ein letztes Mal bei Tuvia; für die Rettung und dafür, dass ihm der Anführer seinen Glauben wiedergegeben hat. Tuvia bleibt kaum genug Zeit, um angemessen auf Shimons Worte zu reagieren, denn ohne Vorwarnung erfolgt ein Bodenangriff der Deutschen. Gefolgt von mehreren Dutzend Soldaten, eröffnet ein Panzer das Feuer auf die PartisanInnen, die sogleich das Feuer erwidern. Aber ihr Bemühen scheint aussichtslos. Die Deutschen befinden sich nicht nur in der Überzahl, sondern sind auch wesentlich besser bewaffnet als die Bielski-Otriad, die sie nach kurzer Zeit eingekreist haben. Der Kampf scheint verloren, als Zus, der den sowjetischen Partisanen, enttäuscht und desillusioniert über den dort herrschenden Antisemitismus, den Rücken gekehrt hat, mit seinen Männern in das Gefecht und damit in die Handlung eingreift. Mit Zus‘ Hilfe gelingt es den PartisanInnen, die deutschen Soldaten zurückzuschlagen und den Panzer außer Gefecht zu setzen. Am Ende, nachdem alle Konflikte gelöst und alle Ziele erreicht sind – und Tuvia sich ein letztes Mal als Anführer bewährt hat –, setzen Texttafeln, die ins Bild einge-
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 175. Der Verweis auf biblische Motive – genauer Motive aus der Thora – ist an dieser Stelle so offenkundig, dass ich es mir gestatte, hier nicht weiter darauf einzugehen.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
blendet werden, die ZuschauerInnen davon in Kenntnis, dass die Bielski-Otriad noch weitere zwei Jahre in den Wäldern gelebt und ein noch größeres Waldlager (mit einem Krankenhaus und einem Kindergarten) erschaffen hat. Tuvia und seine Brüder retteten dadurch mehr als 1.200 Jüdinnen und Juden das Leben. Dieses letzte Gefecht, aus dem die Bielski-Einheit als Sieger hervorgegangen ist, hat zu keiner Zeit stattgefunden. Es handelt sich hierbei um pure Fiktion. Die bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Feind und das David-gegen-GoliathMotiv sind jedoch nicht bloß der Logik des Plots geschuldet – schließlich musste Tuvia am Ende des Films der mächtigsten antagonistischen Kraft begegnen und diese bezwingen. Vielmehr unternahm Zwick mit der Erfindung und der Inszenierung dieser letzten Kampfhandlung den Versuch, die Hauptargumente seines Films noch einmal zu unterstreichen. Auf geradezu spektakuläre Weise soll die letzte Sequenz belegen, dass die jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Terrors nicht wie Schafe zur Schlachtbank gegangen sind. Wie im Fall der BielskiEinheit haben viele nicht nur bewaffneten Widerstand geleistet, sondern haben auch für die Rettung von anderen Jüdinnen und Juden gesorgt. Überleben und Rettung, so das andere Argument des Films, sind ebenfalls als Akte widerständigen Verhaltens zu betrachten. Darauf deutet die Rückkehr des abtrünnigen Bruders Zus sowie dessen Versöhnung mit Tuvia an: Der Kampf dient der Rettung, nicht der Rache. Der letzte Konflikt wird außerhalb der erzählten Welt (Diegese) ausgetragen: Der Film als Ganzes wendet sich gegen die Negation der Negation, gegen den Mythos der Passivität und damit gegen den unhaltbaren, absurden Vorwurf, die Jüdinnen und Juden trügen eine Mitschuld an ihrer eigenen Ermordung. Defiance demonstriert, dass nicht nur der Kampf, sondern auch der Versuch, zu überleben und andere zu retten, mit erheblichen Mühen und Anstrengungen verbunden war. Innerhalb der Auseinandersetzung darüber, „ob Rettung von Menschenleben oder der bewaffnete Widerstand gegen den Feind vergleichsweise höher zu bewerten seien“¹⁷⁸ – die, wie Tec in ihrem Buch schreibt, noch fünfzig Jahre nach den Ereignissen fortgeführt wurde –, bezieht Defiance eine eindeutige Position: Der Rettung und Erhaltung von Menschenleben wird Vorrang vor der Rache, vor dem Kampf als Zweck eingeräumt. Diese Einstellung entspricht der Vorstellung Tuvia Bielskis vom Widerstand gegen die Deutschen, wie es Tec in ihrem Buch immer wieder betont. Tec und Zwick lieferten damit ein Argument gegen das Motiv des Sterbens für die Ehre, das in Filmen wie Uprising bedient wird, und verzichtete zugleich auf eine allzu grobe Zeichnung des Heldentums. Nicht die Ehre (oder gar die Würde) wird am Ende von Defiance gerettet, sondern das Leben.
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 138.
6.6 Fazit: Der Held und die Tragödie
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Das im Buch entworfene und vom Film übernommene Bild des Heldentums bewegt sich jenseits simplifizierender Dichotomien. Dieses Heldentum, das eigentlich keins sein möchte, lässt sich mit den Worten der ehemaligen BielskiPartisanInnen am besten beschreiben. So äußerte etwa Raja Kaplinski: Vierzig Jahre lang haben wir darüber diskutiert, ob es wichtiger war, gegen Deutsche zu kämpfen oder Juden zu retten. Wir mußten schließlich einsehen, daß unser Heldentum in Wahrheit keines war. Bewaffnet, zusammen mit anderen Partisanen zu kämpfen, macht noch niemanden zum Helden.¹⁷⁹
Pinchars Boldo verwies in seiner Erklärung noch einmal auf die wesentlichen Motive, die die Menschen dazu bewogen haben, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen und distanzierte sich damit von jeglicher Art der Mythologisierung: Inzwischen idealisiert und übertreibt man die Motive. Unser Ziel war, am Leben zu bleiben. Als wir in die Wälder flohen, glaubten wir, daß das alles bald vorüber wäre, und deshalb wollten wir um jeden Preis leben. Wir dachten nicht an einen Kampf gegen Deutschen, sondern nur ans Überleben.¹⁸⁰
Ähnlich schätzte auch Zorach Arluk die damalige Situation ein: „Ich denke, daß alle Ghettoflüchtlinge ähnliche Motive hatten. Sie liefen nicht davon, um zu kämpfen, sondern um zu leben.“¹⁸¹
6.6 Fazit: Der Held und die Tragödie In den regennassen Straßen von New York City im Jahre 1982 besteigen zwei Männer, ein älterer Vater und dessen Sohn mittleren Alters, in der Nacht ein Taxi. Auf der Rückbank unterhalten sie sich über den zuvor getätigten Arztbesuch und anschließend über Baseball: Middle-aged son: How ya doin’, Papa, you doin’ alright? Elderly man: Fine, fine …
Raja Kaplinski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 138. Pinchars Boldo zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 86. Zorach Arluk zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 86.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
Middle-aged son: This is just a check-up, okay? Doctor Katz says you’ll outlive us all. Traffic isn’t bad. We should be back in time to watch the Mets.¹⁸²
Als der Sohn seinen Blick vom Fenster ab- und dem Vater zuwendet, bemerkt er dessen erstarrten Blick. „Bielski“, stammelt der Vater benommen, dessen Augen den Taxiausweis des Fahrers fixiert haben. „Papa? Papa, what is it?“¹⁸³, erkundigt sich der Sohn sorgenvoll. Die Blicke der beiden älteren Männer begegnen sich im Rückspiegel. „You. Can it be?“, fragt der Vater ungläubig, „Bielski. Can it possibly be?“¹⁸⁴ Mit einem harten Schnitt werden Ort und Zeit der Handlung in die Vergangenheit verlagert: die weißrussischen Wälder im Jahr 1941. Diese alternative Eröffnungssequenz, die in einer früheren Drehbuchfassung erhalten geblieben ist, wurde von Zwick zusammen mit der dazugehörigen Schlusssequenz vermutlich kurz vor Drehbeginn wieder verworfen. Das alternative Ende sollte an die Kampfhandlungen auf dem grünen Hügel und – nach einem harten Schnitt – den Handlungsstrang von 1982 wiederaufgreifen, in welchem der ältere Mann Tuvia wiedererkennt: Elderly man: Here is money. I can get more. So much more. Take it, please. Cab driver No, no … Indeed, when the CABBIE speaks, though the voice is older and somewhat frail, we recongnize it as Tuvia’s. Elderly man: What else can I give you, do for you? Aged Tuvia: Nothing, it isn’t necessary. Tears stream down the elderly man’s cheeks. Elderly man: We are alive because of you. (looks at his son) My children. His children. So many. Thousands.¹⁸⁵
Die Gründe, die Zwick dazu bewogen haben, die beiden Sequenzen zu streichen, sind nicht bekannt. Sie hätten jedoch, hätte der Regisseur sie nicht verworfen, auf eine ebenso bedeutende wie tragische Entwicklung im Leben des ehemaligen Anführers der Bielski-Einheit aufmerksam gemacht. Nach Kriegsende emigrierten Tuvia und Lilka nach Israel, wo auch ihre beiden Kinder zur Welt kamen. Während des Unabhängigkeitskrieges diente er zu-
Frohman, Clayton & Zwick, Edward: Defiance, S. 1. Hierbei handelt es sich um eine frühere Drehbuchfassung, die auf der Internetplattform The Internet Movie Script Database (IMSDb) [http://www.imsdb.com/scripts/Defiance.html] aufrufbar ist (21. Dezember 2016). Frohman/Zwick, Defiance. Frohman/Zwick, Defiance. Frohman/Zwick, Defiance, S. 105 – 106.
6.6 Fazit: Der Held und die Tragödie
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sammen mit seinem Bruder Zus in der israelischen Armee. Danach geriet er in Vergessenheit. Der charismatische Führer, wie ihn Tec betitelt¹⁸⁶, verlor allmählich jene Gemeinschaft, die ihn in den Jahren des Krieges bewundert, verehrt und ihm Charisma zugesprochen hatte. Seine „Herrschaft“ währte nämlich nur so lange, wie ihm seine Gefolgsleute die „Qualitäten“ zuschrieben, derentwillen sie ihm gehorchten, bzw. „sein Charisma sich durch deren Erweise bewährt[e]“¹⁸⁷. Der Mann, der in den Wäldern mit „Intelligenz und besonderen Fähigkeiten […] wahre Wunder zur Rettung seiner Mitmenschen“¹⁸⁸ vollbracht hatte, hatte nach dem Krieg für seine Gefolgschaft ausgedient: Denn „sobald sein historisches Moment vorüber war, brach die Autorität dieses charismatischen Führers zusammen“¹⁸⁹. Tuvia musste erkennen, dass er nicht mehr „in eine normale Gesellschaft“ passte: „Er besaß keine Ausbildung, war unpolitisch und drängte sich nicht in den Vordergrund.“¹⁹⁰ Um seine Familie zu ernähren, fuhr Tuvia Taxi. Als die ehemaligen PartisanInnen, die mit ihm gelebt, gekämpft und ihm teilweise ihr Leben verdankten, ihn als Taxifahrer wiedersahen, sollen sie Tec zufolge „erschüttert“ gewesen sein.¹⁹¹ Daniel Ostaszynski, ein ehemaliger Partisan, erzählte Tec diesbezüglich: „In dem Augenblick, als er Taxifahrer wurde, begann sein Abstieg ins Nichts … Hätte er darauf bestanden, ein Held zu sein und als solcher anerkannt zu werden, hätte man ihm einen wichtigen Posten gegeben.“¹⁹² Tuvia und Lilka verließen Israel 1956 und emigrierten in die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie ließen sich in Brooklyn nieder, wo Tuvia anfangs in der Spedition seines Bruders zu arbeiten begann und später einen eigenen Lastwagen erwarb. Im Alter von einundachtzig Jahren „starb Tuvia Bielski – desillusioniert und fast vergessen“¹⁹³ 1987 in New York. Sein Leichnam wurde nach Israel überführt und in Jerusalem beigesetzt. Im Gegensatz zu Mordechai Anielewicz, Yitzhak Zuckerman und den anderen Helden und Heldinnen des Warschauer Ghettoaufstandes wurde keine Straßen nach den Bielskis benannt, kein Kibbuz in deren Namen gegründet und kein Denkmal zu ihren Ehren erschaffen. In einer Würdigung beschrieb Hersch Smolar den ehemaligen Anführer der Bielski-Einheit „als Lichtpunkt in der jüdischen Geschichte, als Ausnahmeer-
Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Weber, Die drei reinen Typen, S. 725. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Vgl. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Daniel Ostaszynski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 297. Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 298.
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6 Defiance: Die Verwandlung der Wälder
scheinung“¹⁹⁴. Tuvia, der zu jener Zeit noch am Leben war, soll die Worte seines Freundes wie folgt kommentiert haben: „Ich bin noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen, es so zu sehen.“¹⁹⁵ Tuvia weigerte sich – wie auch Marek Edelman –, jenem Heldenbild zu entsprechen, das sich im Zuge der Rezeptionsgeschichte des Warschauer Ghettoaufstands herausgebildet hatte. Tec und Zwick respektierten diesen Wunsch und verzichteten darauf, aus Tuvia einen ähnlichen Helden zu machen wie die Geschichte ihn aus Mordechai Anielewicz gemacht hatte. Doch anders als Tec zeichnete Zwick seinen Helden noch zögerlicher, bedachter und zweifelnder. Zwicks Held entspricht nicht dem Bild, wie es Joseph Campbell zufolge vom Helden seit der Antike gezeichnet wird: Er ist weder Achill noch Odysseus. Dieser Held unterscheidet sich auch von den Helden des Hollywood-Kinos: Er ist weder Spartacus noch Maximus.¹⁹⁶ Tuvia opfert sein Leben nicht für ein Ideal oder für ein Symbol. Dennoch ist diese Heldengestalt in der angelsächsischen Geistesgeschichte fest verankert. Seine Entsprechung findet sich beispielsweise in den Romanen des US-amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald oder in den Stücken des englischen Dichters William Shakespeare. Es handelt sich hierbei um die Figur des tragischen Helden, dessen frühestem Vertreter wir in der Gestalt des melancholischen Hamlet, dem Prinzen von Dänemark, begegnen. Als dieser die Bühne betritt, ist die Zeit, ist gar die Welt aus den Fugen. Hamlet nimmt sich nicht nur vor, den Mord zu rächen, sondern sogleich die Zeit und die ganze ins Wanken geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Ein Vorhaben, das von Beginn an die Handlungsmöglichkeiten des Helden bei weitem übertrifft. Hamlet stirbt bekanntlich am Ende des Stücks, nachdem er seinen Vater gerächt hat. Die anschließende Einnahme der Festung des königlichen Dänemarks durch Fortinbras, dem Prinzen von Norwegen, deutet zumindest darauf hin, dass es Hamlet letztendlich auch gelungen ist, die Zeit- und Weltordnung wiederherzustellen.¹⁹⁷ Das Drama endet mit Fortinbras’ Huldigung Hamlets: Lasst vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne Gleich einem Krieger tragen: denn er hätte, Wär er hinaufgelangt, unfehlbar sich Höchst königlich bewährt; und bei dem Zug
Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 298. Tuvia Bielski zit. nach Tec, Bewaffneter Widerstand, S. 298. Siehe diesbezüglich das Unterkapitel „Heldenverehrung“ in Kapitel 4.2.4. Vgl. Shakespeare, Hamlet, 5. Akt, 2. Szene, S. 137.
6.6 Fazit: Der Held und die Tragödie
Lass Feldmusik und alle Kriegsgebräuche Laut für ihn sprechen.¹⁹⁸
Shakespeare, Hamlet, 5. Akt, 2. Szene, S. 137.
223
7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos Das Kino muss sich an vielerlei halten, an die triste Realität nicht. (Georg Seeßlen) Der Saal ist dunkel. […] Wir halten den Atem an. Das Zauberspiel beginnt. (Jean Améry)
Es soll sich um nichts Geringeres gehandelt haben als um einen Befreiungsschlag. Für die Cineasten unter den Kritikern der deutschsprachigen Presse, die der Premiere von Quentin Tarantinos Inglourious Basterds auf den 62. Internationalen Filmfestspielen von Cannes im Mai 2009 beigewohnt hatten, war dieser Spielfilm „nicht nur eine Erlösung von den eigenen [deutschen] filmischen Sünden, sondern auch von denjenigen der jüngsten deutsch-amerikanischen Produktionen“¹. Insbesondere feierten sie die Befreiung des Kinos von der Wirklichkeit, von der Geschichte. Denn dieser Film ignoriert die historische Realität, „weil für Tarantino sowieso schon immer das Kino die bessere Wirklichkeit war“². Inglourious Basterds suspendiert die Geschichte und rächt sich „an jenen Personen, die, bevor sie selber sterben mussten, der Welt so viel Unheil und Tod brachten“³. Tarantino lässt die gesamte Führungsriege des Deutschen Reichs in einem Kinosaal hinrichten. Und damit rächt der Regisseur sich nicht nur an den Tätern, sondern gleich an der ganzen „ungerechten Wirklichkeit“⁴. In fünf inhaltlich zusammenhängenden Episoden erzählt Inglourious Basterds von Rache, bewaffnetem jüdischen Widerstand und letztendlich vom Kino selbst und dessen Verhältnis zur Geschichte. Dieses im Stile italienischer und USamerikanischer Westernfilme und dirty war movies ⁵ gedrehte Epos beginnt und endet mit einer zentralen Figur: der Jüdin Shoshana Dreyfus (Mélanie Laurent), die sich nach der Ermordung ihrer Eltern durch den SS-Offizier Hans Landa (Christoph Waltz) – dem „Judenjäger“, wie es im Film heißt – in Paris niederlässt und dort ein Programmkino führt. Zu den vielen Figuren, die den Film bereichern, gehört auch eine Gruppe von acht jüdisch-amerikanischen Soldaten, die von
Seeßlen, Georg: Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über Inglourious Basterds. Berlin 2010, S. 220. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 195. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 195. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 195. Vgl. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 138 – 193. https://doi.org/10.1515/9783110604726-008
7.1 Die Suspension der Authentizität und die Möglichkeiten der Fiktion
225
Lieutenant Aldo Raine (Brad Pitt) angeführt werden: die Basterds. Die Aufgabe dieser Einheit, die an das „dreckige Dutzend“⁶ erinnert, besteht darin, Nazis zu töten und ihnen den Skalp abzuziehen – der Lieutenant erwartet von jedem seiner Männer 100 Nazi-Skalps. Gemeinsam mit dem britischen Geheimdienst planen die Basterds ein Attentat auf Hitler und seinen Schergen. Der Anschlag soll während der Premiere eines Propagandafilms über einen nationalsozialistischen Helden, der als Scharfschütze für den Tod Dutzender Soldaten verantwortlich ist, in Shoshanas Kino stattfinden, die – ohne Kenntnis über die Pläne der alliierten Geheimdienste zu haben – einen eigenen Racheplan verfolgt. Am Ende gehen beide Pläne auf: Shoshana lässt den Kinosaal von außen verbarrikadieren und mehrere Rollen des leicht entflammbaren Nitrofilms in Brand setzen, während zwei mit Sprengstoff ausgestattete Basterds im Saal das Feuer auf die Nazi-Elite eröffnen. In einer großen Explosion sterben letztendlich nicht nur Hitler, Göring, Goebbels und Hunderte Nationalsozialisten, sondern auch die Basterds und Shoshana. Das Kino, das in diesem Film zum zentralen Ort der Propaganda geworden ist, wird ebenso zum zentralen Ort des Widerstands.⁷ Kein Film, der sich auf historischen Ereignissen bezieht, hat es bislang gewagt, die Geschichte derart zu ignorieren.⁸ Tarantinos Inglourious Basterds leistet zweifaches: Zum einen erlöst er die NS- und Holocaust-Filme von ihrem selbst auferlegten Authentizitätsversprechen, zum anderen befreit er die Rezeptionsgeschichte des (bewaffneten) jüdischen Widerstands von seinen Mythen, Helden und Märtyrern. Im Folgenden möchte ich etwas näher auf diese beiden Punkte eingehen und damit noch einmal auf die zentralen Fragen meiner Untersuchung zurückkommen.
7.1 Die Suspension der Authentizität und die Möglichkeiten der Fiktion Inglourious Basterds suspendiert den NS- und Holocaust-Film von jenem Authentizitätsversprechen, das mit und nach Schindlers Liste artikuliert und etabliert wurde.⁹ Anders als Uprising, The Grey Zone oder Defiance möchte dieser Film weder zeigen, wie sich Geschichte ereignet hat noch wie sie sich hätte ereignen können, sondern wie sie sich im besten Fall hätte ereignen sollen. Und damit führt Tarantino uns vor, was eine entfesselte Fiktion zu leisten vermag: eine Wirklich
Das dreckige Dutzend (The Dirty Dozen, USA 1967, Regie: Robert Aldrich). Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 475. Vgl. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 220. Siehe Kapitel 1.2.
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
keit neu zu erschaffen und sei es nur für die Dauer, in der das Werk rezipiert wird. Zu keiner Zeit erhebt Inglourious Basterds einen Anspruch auf Authentizität, obwohl ihm die ereignisgeschichtlichen Entwicklungen als Referenzen dienen. Dieser Film möchte nicht als Geschichtsrekonstruktion (miss)verstanden werden. Er beruft sich weder auf ZeugInnen oder Zeugnisse noch auf Dokumente oder historiographische Darstellungen. Die Geschichte dient ihm lediglich als Kulisse, vor der sich die Fiktion ganz nach ihren eigenen Regeln entfalten – ja, fast möchte ich sagen austoben – kann. Damit fällt diese cineastische Rachephantasie letztendlich aus der Reihe jener Filme, die Frank Bösch dem „Trend zur Authentizität“¹⁰ zuordnet. Markiert Inglourious Basterds nun, wie anfänglich vermutet, das Ende dieses Trends? Hält Böschs These einer genaueren Betrachtung der historischen Entwicklung von NS- und Holocaust-Filmen statt? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen oder zumindest befriedigenden Antworten. Denn die Grenzen zwischen Tendenzen, Trends und Phasen der Filmgeschichte, wie Sonja M. Schultz in ihrem umfangreichen und akribisch recherchierten Buch Der Nationalsozialismus im Film kongenial darlegt¹¹, sind durchlässig. Sie verlaufen oft parallel zueinander, lösen sich gegenseitig ab oder tauchen, nachdem sie längst abgeschrieben worden sind, wieder auf. Das Ende eines Trends lässt sich nur schwer vorhersagen. Bei dem „Trend zur Authentizität“ handelt es sich letztendlich nur um einen Trend, um eine Perspektive. Böschs These lässt sich weder bestätigen noch widerlegen, weil es schlicht genug Filmbeispiele gibt, die seine Argumente sowohl unterstreichen als auch diesen widersprechen. Denn genauso könnten wir die Zeit nach Schindlers Liste als einen „Trend zur Fiktionalität“ bezeichnen, der sich als Gegenreaktion zu Spielbergs Film herausgebildet hat: angefangen mit Das Leben ist schön über Zug des Lebens bis hin zu Inglourious Basterds, in welchem letztendlich das Kino über die historische Realität triumphiert.¹² Abgesehen von ihrer Thematik haben die hier genannten Holocaust-Filme (beider Trends) noch etwas anderes gemeinsam: Sie versuchen, die Grenzen zwischen der historischen Wirklichkeit und den Grad ihrer Fiktionalisierbarkeit zu erkunden. Dabei geht es ihnen nicht unbedingt um die Frage, was gezeigt werden darf, sondern vielmehr: Wie weit kann eine durch zahlreiche Dokumente belegte und mit Hilfe wissenschaftlicher Akribie weitgehend verifizierte Geschichte verändert, verfremdet oder sogar verzerrt werden, ohne dabei ihren „wahren Kern“, also ihren wesentlichen Aussagegehalt, einzubüßen und trotz-
Vgl. Bösch, Film, S. 16. Vgl. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 229 – 491. Siehe hierzu auch Kapitel 2.1. Vgl. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 33.
7.1 Die Suspension der Authentizität und die Möglichkeiten der Fiktion
227
dem noch erzählbar (und ggf. vermarktbar) zu bleiben? Einigen Produktionen gelingt es, die Balance zwischen beiden Polen zu halten, andere werden jedoch weder der einen noch der anderen Seite gerecht, wie das Beispiel Uprising deutlich gezeigt hat. Anders verhält es sich bei The Grey Zone oder Defiance: Sie bieten eine erzählbare Version der historisch verbürgten Ereignisse, bleiben aber noch nah genug an der Vorlage, um den wesentlichen Kern der Geschichte nicht zu überlagern. Und dort wo sie etwas ver- und hinzudichten, öffnen sie den Raum für neue Ansätze, zeigen neue Perspektiven auf und legen kaum beachtete Facetten offen. Damit kehren wir zum zentralen Anliegen dieser Untersuchung zurück. Ausgehend von der Frage, ob Filmfiktionen in der Lage seien, geschichtswissenschaftlich relevante Erkenntnisse zu liefern, habe ich drei auf Quellen und Historiographien basierende Spielfilme über den bewaffneten jüdischen Widerstand unter Anwendung von geschichts- und filmwissenschaftlichen Methoden und Theorien untersucht. Während ich die Filme mit und gegen die Vorlagen gelesen habe, lag mein besonderes Augenmerk auf jenen narrativ verdichteten Momenten, die nicht durch Zeugnisse und andere Quellen gedeckt, sondern zum großen Teil der filmischen Imagination entsprungen sind, wie z. B. die Eingangssequenz von The Grey Zone, in welcher der alte Mann, der kurz zuvor seine Familie unter den aus der Gaskammer herausgezerrten Leichen entdeckt hatte und am anschließenden Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen gehindert wurde, von einem anderen Sonderkommando-Häftling (Rosenthal) mit einem Kissen erstickt wird. Wie bereits dargestellt, hält sich Tim Blake Nelson, der Regisseur des Films, bei dieser Sequenz sehr nah an die Vorlage – den Aufzeichnungen des Arztes und Sonderkommando-Häftlings Miklós Nyiszli, der nicht nur Zeuge der oben geschilderten Szene war, sondern durch dessen Eingreifen dem alten Mann das Leben gerettet wurde. Die Tötung des alten Mannes durch Rosenthal im Film ist eine Erfindung des Regisseurs, der durch diese drastische Übertreibung seinem Publikum gleich zu Beginn seines Films das moralische Dilemma der Sonderkommando-Häftlinge vor Augen führt. Diese und ähnliche Sequenzen verdeutlichen zum einen den großen Unterschied zwischen der Tätigkeit von Filmschaffenden und der Arbeit von Historikerinnen und Historikern, die in ihren Forschungen auf historische Dokumente angewiesen sind und die Überlieferungslücken nicht durch das Hinzufügen erfundener Ereignisse und Zusammenhänge schließen können. Zum anderen verweisen die erdichteten Szenerien auf die Möglichkeiten der Filmfiktion, der es erlaubt ist, der Ereignisgeschichte etwas hinzuzufügen, Episoden zu erfinden, Begegnungen zu konstruieren und schließlich neue Sinnzusammenhänge herzustellen, um damit womöglich in Bereiche vordringen zu können, die der Geschichtswissenschaft – in der über Unbelegbares bestenfalls begründet spekuliert
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
werden darf –, vermutlich verschlossen bleiben würden. Diese nicht belegten, erfundenen Szenen, mit denen zuweilen versucht wird, Licht in die dunklen Winkel der Überlieferung zu bringen, heißt es zu befragen und einer sowohl filmals auch geschichtswissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Das bedeutet, dass die Sequenzen in ihrer ganzen Komplexität untersucht und mit der historischen Vorlage abgeglichen werden müssen. Hierbei könnten folgende Fragen helfen: Welche Informationen vermittelt die Sequenz? Welches Wissens liefern die Quellen, die ihr zugrunde liegen? Was wurde verändert, was hinzugefügt? Welcher Sinn könnte sich in der Diskrepanz zwischen Vorlage und Inszenierung verbergen? Und schließlich: Kann die Fiktion der Geschichtswissenschaft von Nutzen sein? Ja, der Filmfiktion ist es durchaus möglich, geschichtswissenschaftlich relevante Erkenntnisse zu liefern. Das hängt lediglich von der Methode und den Fragen ab. Oder um den Kreis zu schließen und dort aufzuhören, wo wir begonnen haben: Zwischen der Realität und der Idee, wie es bei T. S. Eliot heißt, liegt der Schatten. Und um diesen sehen zu können, müssen wir die Realität (im übertragenen Sinne die Geschichte) und die Idee von dieser Realität (also Vorstellung und Inszenierung derselben) mit der gleichen Intensität beleuchten.
7.2 Die unerträgliche Vergesslichkeit der Mythen Im Gegensatz zu Jon Avnet, Tim Blake Nelson und Edward Zwick interessiert sich Quentin Tarantino nicht für die Realität, sondern beinahe ausschließlich für die Idee, oder genauer: für seine Vorstellung von der Idee, die er so konsequent verfolgt und umsetzt, dass das Resultat auch ohne Rückbezug auf die Realität dazu imstande ist, neue Facetten offenzulegen oder vernachlässigte Aspekte wiederzubeleben – wie im Fall des jüdischen Widerstands, den er in der Gestalt der Heldin Shoshana Dreyfus und den Basterds über die historische Realität triumphieren lässt. Damit befreit Tarantino, wie bereits erwähnt, nicht nur das Kino von der tristen Wirklichkeit, sondern zugleich den (bewaffneten) jüdischen Widerstand vom Nimbus des Heldentums. Weder Shoshana Dreyfus noch Aldo Raines Männern geht es um die Bewahrung von Würde und Ehre, sondern schlicht um Rache. Sei täuschen und töten – und besonders die Basterds gehen dabei mit äußerster Brutalität vor. Diese Helden verhalten sich nicht wie edelmütige Ritter, sondern vielmehr „wie barbarische Schlächter“¹³. Die Basterds handeln wie Gesetzlose, obwohl ihre Morde staatlich legitimiert sind. Sie sind
Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 198.
7.2 Die unerträgliche Vergesslichkeit der Mythen
229
keine Helden, sondern Outlaws¹⁴. In dieser Hinsicht sind sie ihren Vorbildern aus Robert Aldrichs Das dreckige Dutzend – jenem Haufen Gangster, Mörder und Räuber, die einen privaten Krieg führen – nicht unähnlich. Sie handeln zwar im Guten, aber dieses Gute ist im moralischen Sinne „verschmutzt“.¹⁵ Auf der anderen Seite demonstriert Shoshana Dreyfus unangestrengt und im Alleingang, dass Heldentum nicht immer männlich dominiert war, ist oder sein muss. Während in den Filmen Uprising oder Defiance den Frauen – entgegen den historischen Vorlagen – nur untergeordnete Rollen zugeschrieben werden, rückt Tarantino seine Heldin in den Mittelpunkt des Plots.¹⁶ Sie ist es, die am Ende des Films zu den im Kinosaal versammelten Nationalsozialisten spricht, die keine Ahnung von ihrem bevorstehenden Tod haben. Für diesen Moment hat Shoshana eine Filmbotschaft aufnehmen und in den Premierenfilm montieren lassen. Gegen Ende des Propagandafilms erscheint ihr Gesicht in Großaufnahme auf der Leinwand, die zuvor das vielfache Morden des Nazi-Helden gezeigt hat. Die Täter werden mitten in ihrem Jubel von einer Aufnahme unterbrochen, in der ihr Todesurteil verkündet wird, während im Hintergrund die Nitrofilmrollen in Brand gesetzt werden. Das Letzte, was die dem Tode geweihten Nazis zu sehen bekommen, ist Shoshanas lachendes Antlitz. Dann eröffnen zwei Basterds inmitten des Saals das Feuer und kurz darauf explodiert das Kino: „Tarantino opfert, um Hitler und die seinen zu töten, sein Heiligtum.“¹⁷ Und seine ProtagonistInnen? Opfern sie allesamt ihr Leben für ein größeres Ideal – für Ehre und Würde? Nein, Shoshana und die Basterds opfern ihr Leben nicht für eine Idee, für den Widerstand oder ihrem Glauben und erst recht nicht, um ihre Würde wiederzuerlangen. Ihr Ziel ist die Rache und um dieses Ziel zu erreichen, nehmen sie ihren eigenen Tod in Kauf. Oder besser: Tarantinos „Helden des Widerstands“ sind, wie Georg Seeßlen konstatiert, „nur noch als Menschen zu verstehen, die bereits einmal gestorben sind. Nur der Gedanke an Rache hält sie am Leben, dieser inversen Gerechtigkeit opfern sie, wie Shoshana, auch die Möglichkeit eines persönlichen Glücks“¹⁸. Damit befreit Tarantino das Kino des (bewaffneten) jüdischen Widerstands nicht nur von seinen Helden, sondern auch
Vgl. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 193. Vgl. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 142. An dieser Stelle muss ich einräumen, dass ich der Genderperspektive in meinen Analysen viel zu wenig Beachtung geschenkt habe. Dies war jedoch auch zum Teil der Fragestellung sowie dem Umfang der vorliegenden Arbeit geschuldet. Dabei lohnt es sich sehr, die von mir analysierten Spielfilme noch einmal in Hinblick auf die Geschlechterrollen zu untersuchen. Dies allein würde ein eigenständiges Dissertationsprojekt darstellen. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 212. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 206.
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
von seinen Märtyrern und letztendlich vom Pathos und jener bestimmten Form der Darstellung, welche die Rezeption und Repräsentation dieses wichtigen und lange vernachlässigten Teils der Holocaust-Forschung geprägt hat – und noch bis heute prägt. Ein gutes Beispiel für diese pathetische Helden-Rhetorik, der sich einige wenige HistorikerInnen noch heute bedienen, wenn sie über den jüdischen Widerstand sprechen oder schreiben, bietet eine Passage aus Julius H. Schoeps 2016 erschienenem Aufsatz über Arno Lustiger und dessen Beschäftigung mit dem jüdischen Widerstand. Darin heißt es: Wie, müssen wir uns fragen, sah dieser [jüdische Widerstand] aus? […] Aufstände wie jene gegen die SS-Mannschaften in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibór und AuschwitzBirkenau, von Überlebenden beschrieben, werden von den Historikern als reine Verzweiflungsaktionen bewertet. Diese Bewertung ist indes ungerecht, und zwar deshalb, weil diese Aktionen mehr waren als nur reine Akte der Verzweiflung, sie waren mehr als nur ein letztes Aufbäumen. Sie waren, wie Lustiger das zu belegen versucht hat, ein letzter Versuch, in auswegloser und verzweifelter Situation die menschliche Würde zu wahren. Bedenkt man, dass die meisten dieser Häftlinge, die ihre Peiniger angriffen, halb verhungert waren,von der Zwangsarbeit ausgemergelt, kaum noch Überlebenshoffnungen hatten, dann sind die in den Lagern verübten Widerstandshandlungen gar nicht hoch genug einzuschätzen. Der Mut der Aufständischen im Warschauer Ghetto ist legendär und mittlerweile vielfach dokumentiert wie auch in zahlreichen Liedern besungen worden.¹⁹
Dass es sich bei den meisten Männern, die in den Lagern an den Aufständen beteiligt waren, um Häftlinge der sogenannten Sonderkommandos gehandelt hat, scheint in der zitierten Passage nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Ebenso wenig scheint hier die Tatsache von Belang zu sein, dass diese Männer weder ausgemergelt noch verhungert, sondern durchaus bei Kräften waren, was sie schließlich in die Lage versetzt hat, sich zu erheben. Doch die fälschliche Annahme, dass die Männer aufgezehrt waren – oder sein mussten –, scheint besser in das Opfer-zu-Helden-Narrativ zu passen. Denn eine Geschichte des Widerstands lässt sich anscheinend besser erzählen, wenn sich die Widerständler mit letzter Kraft ihre „menschliche Würde“ bewahren und dadurch zu Helden (und Märtyrern) werden. Der Umstand, dass dadurch den Opfern, die sich nicht erhoben haben, die „menschliche Würde“ abgesprochen wird, scheint dabei weniger von Bedeutung zu sein. Diese Sichtweise wird weder jenen gerecht, die in den nationalsozialistischen Lagern verhungerten, an Krankheiten starben, von der SS erschossen oder in den Gaskammern ermordet wurden, noch jenen, die gekämpft haben oder fliehen konnten. Diese Perspektive bedient lediglich eine
Schoeps, Zeugnis ablegen, S. 4.
7.2 Die unerträgliche Vergesslichkeit der Mythen
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bestimmte Form des Erzählens: dem Narrativ – dem Mythos – der Helden und Märtyrer. Wie bereits dargestellt, entstand dieser positiv konnotierte Gegenmythos als Reaktion auf den negativ besetzten Mythos von der angeblichen Passivität jüdischer Opfer. Die Darstellung der Helden und Märtyrer, die für Ehre und Würde kämpften – und einige von ihnen kämpfend starben –, hat sich bis heute bewahrt. Mehr noch: Dieser Mythos fand seinen Weg ins Kino, wo er beispielsweise durch Filme wie Uprising noch weiter ausgeschmückt wurde. Und dies lag (und liegt) nicht zuletzt am Wesen des Mythos selbst, der, wie Jan Assmann konstatiert, „nicht lediglich die Vergangenheit ausmißt als Instrument chronologischer Orientierung und Kontrolle, sondern [der] aus dem Bezug auf Vergangenes die Elemente eines Selbstbildes sowie Anhaltspunkte für Hoffnungen und Handlungsziele gewinnt“²⁰. Als eine Form des Vergangenheitsbezugs erfüllt der Mythos zwei entgegengesetzte Funktionen, die Assmann als „fundierend“ und „kontrapräsentisch“ bezeichnet.²¹ Der fundierende Aspekt des Mythos „stellt Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt“²². Die kontrapräsentische Funktion, wie sie Assmann beschreibt, „geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist die Züge des Heroischen Zeitalters annimmt“.²³ Mit anderen Worten: Mythen haben genauso viel mit der Gegenwart zu tun, in der sie wiedergegeben werden, wie mit der Vergangenheit, von der sie erzählen – und zuweilen auch mit einer Zukunft, auf die sie verweisen möchten. Mythen haben also im gewissen Sinne immer mit uns selbst zu tun. Als „eine Form der Erinnerung“²⁴ bieten Mythen neben der Geschichtsschreibung eine andere Möglichkeit, um von der Vergangenheit, vom Vergangenen zu erzählen, „um daraus ein Bewußtsein von Einheit und Eigenart, d. h. von Identität zu beziehen“²⁵. In diesem Sinne kann der Mythos, wie Jan Assmann konstatiert, als ein Motor²⁶ betrachtet werden, der es Gemeinschaften ermöglicht, Identität und Kontinuität herzustellen und zu bewahren: „Jede Gesellschaft“, so Assmann, „hat ihre My-
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schriften, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2018, S. 78. Assmann spricht am Anfang des zitierten Satzes noch von „heißer Erinnerung“, die er am Ende des Satzes Mythos nennt bzw. umformuliert. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 78 – 79. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 79. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 79. Assmann, Mythomotorik, S. 40. Assmann, Mythomotorik, S. 41. Vgl. Assmann, Mythomotorik, S. 40.
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
thomotorik, d. h. einen Komplex narrativer Symbole, fundierender und mobilisierender Geschichten, die gegenwartsdeutend und zukunftsweisend wirken.“²⁷ Ich behaupte, ausgehend von Assmanns Hypothese, dass gewisse Mythen, die in einer Gesellschaft entstanden sind, sich auf andere Gesellschaften übertragen und somit ihre Ursprungsgesellschaft transzendieren. Der Mythos des Sisyphos etwa hat seinen Ursprung im antiken Griechenland, wurde im antiken Rom rezipiert und transformiert und erfuhr Jahrhunderte später unter Camus und Kertész als europäischer, westlicher Mythos eine erneute Umdeutung.²⁸ Der Mythos, der in einer Gesellschaft entstanden ist, kann also auf mehrere Gesellschaften einwirken und diese prägen. Die verschiedenen Mythen, die im Umfeld der Geschichte des jüdischen Widerstands entstanden sind, sind ebenfalls ein Kulturen und Gesellschaften übergreifendes Phänomen. Der Mythos der Passivität hat seinen Ursprung in der „hebräischen Bibel“ – bzw. im Tanach oder genauer: im Buch Nevi‘im („Propheten“) –, sowie in der jüdisch und christlich geprägten europäischen Literatur. Ähnlich verhält es sich beim Gegenmythos der Helden und Märtyrer.²⁹ Diese Erzählungen gründen auf Ideen und Vorstellungen, die im Umfeld der jüdischen und christlichen Religion und Kulturgeschichte entstanden sind. Mythen sind jedoch nicht nur durch Ideen begründet, sondern fungieren selbst als Träger von Ideen. Und als das US-amerikanische Kino sein Interesse auf den (bewaffneten) jüdischen Widerstand richtete, begann es gleichzeitig damit, diese aus der Literatur, Religion und Historiographie stammenden Ideen zu übernehmen und sie sichtbar zu machen – sie in visuelle Ideen zu übersetzen. Jon Avnets Uprising, in dem die Geschichte des Warschauer Ghettos als eine teleologische Geschichte hin zum Aufstand im April 1943 erzählt wird, ist dafür das beste Beispiel. Dieser Film ist keine cineastische Geschichtsrekonstruktion. Vielmehr dient ihm die Ereignisgeschichte als Folie für die Rekonstruktion, Repräsentation und damit auch Restauration des Mythos der Helden und Märtyrer. Uprising ist ein filmisches Mythen-Kompendium des Aufstands im Warschauer Ghetto, der nicht nur bereits bekannte mythische Erzählungen re-inszeniert, sondern eigene, neue Mythen konstruiert und damit einen Beitrag zur weiteren Mythologisierung dieser Geschichte leistet. Diesem Schicksal entgeht Tim Blake Nelsons The Grey Zone – und das liegt nicht zuletzt an der historischen Vorlage. Im Gegensatz zu den Erzählungen des Warschauer Ghettoaufstands ist die Geschichte des sogenannten jüdischen Son-
Assmann, Mythomotorik, S. 40. Siehe Kapitel 1. Siehe Kapitel 1.1.
7.2 Die unerträgliche Vergesslichkeit der Mythen
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derkommandos nicht von Mythen umrankt. Davon abgesehen scheint Nelson nicht viel an Helden- und Märtyrermythen interessiert gewesen zu sein. Seinen Fokus richtete der Regisseur eher auf die Darstellung von Brüchen, Zweifeln und Ängsten seiner Hauptfiguren – die Grauzonen, das Gebrochene im Innenleben der Sonderkommando-Häftlinge. The Grey Zone führt uns drastisch vor Augen, was Wolfgang Sofsky einst über das Sonderkommando geschrieben hat, nämlich, dass „sich die terroristische Perversion des Sozialen in seiner reinsten Form“³⁰ am Schicksal dieser Männer zeige. Der Tod der ankommenden Menschen sicherte ihnen für eine gewisse Zeit das Leben. Sie erhielten für ihre Arbeit, wie Sofsky schreibt, eine „Gnadenfrist“ – und „sie überlebten so lange, wie die Fabrik in Betrieb war und Menschen in großer Zahl getötet wurden. Jeder neue Transport war gewonnene Lebenszeit“³¹. Diese Ambivalenz läßt sich nur schwer in eine geradlinige Helden- und Märtyrererzählung integrieren. Die SonderkommandoHäftlinge waren keine Helden, wie sie etwa ein großer Teil der Rezeptionsgeschichte aus den ZOB-Kommandanten Mordechai Anielewicz und Yitzhak Zuckerman gemacht hat. Der Wunsch zu überleben wog bei den Häftlingen des Sonderkommandos schwerer als der Wille für ein Ideal kämpfend zu sterben. Diesem Wunsch, unter allen Umständen überleben zu wollen, verlieh auch Edward Zwick in seiner Adaption von Nechama Tecs Defiance eine zentrale Rolle. Dabei ließ er es sich nicht nehmen, in den Plot seines Films – wenn auch nur am Rande – antike jüdische und biblische Überlieferungen hineinzuweben, wie etwa Moses und den Exodus, den Aufstand der Makkabäer gegen das Seleukidenreich um 160 v.Chr., die Revolte Simon bar Kochbas gegen das Römische Reich von 132 bis 135 n. Chr. Ein weiterer Aspekt, auf den sich Zwick bei seiner Darstellung konzentriert, ist die Rettung von Menschenleben, die der Regisseur als Gegengewicht zur Rache am Feind inszeniert. Beinahe alle Entscheidungen die Zwicks zaudernder Held Tuvia Bielski trifft, trifft er aus dem Wunsch heraus, selbst überleben zu wollen und den Menschen, die sich in seine Obhut gegeben haben das Überleben zu sichern. Im Gegensatz zu seinem stets zugreifenden – und zuschlagenden – Bruder Zus, für den die Rache an erster Stelle steht. Und Quentin Tarantino? Er verzichtet schließlich auf alles andere und erzählt eine Geschichte des jüdischen Widerstands als eine einzige gewalttätige Rachegeschichte. Keine Ehre, keine Würde, kein Wunsch zu überleben und erst recht keine Rettung von irgendjemandem. Der Regisseur verzichtet auf Helden, Märtyrer und auf alle Mythen, die je im Umfeld der Geschichte des (bewaffneten) jüdischen Widerstands entstanden sind. „Tarantino erzählt vielleicht puren
Sofsky, Grenze des Sozialen, S. 1157. Sofsky, Grenze des Sozialen, S. 1157.
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
Blödsinn“, wie Seeßlen festhält, „aber er duldet keinen Mythos“³². Ist das korrekt? Verzichtet er auf alle Helden- und Märtyrerdarstellungen, auf alle Mythen? Vielleicht muss ich mich am Ende doch etwas korrigieren. Tarantino befreit zwar die Darstellung des bewaffneten jüdischen Widerstands von bekannten und überlieferten Helden, Märtyrern und Mythen, aber nur um neue Helden, Märtyrer und Mythen zu erschaffen. Anti-Helden, Anti-Märtyrer, Anti-Mythen, die er aus dem italienischen und US-amerikanischen (Trash‐)Kino der 1960er und 1970er Jahre, die ihm schon immer als Referenz gedient haben³³, konstruiert. Und am Ende sind es seine HeldInnen-Bastarde, die den geübten ZuschauerInnen zahlreicher NSund Holocaust-Filme eine Befriedigung zuteil werden lassen, die sie so noch nie im Kino verspürt haben: den brutalen Hinrichtungen von Hitler, Goebbels und Göring beiwohnen zu können. Tarantinos Mythos ist eine große geniale Lüge. Dieser Mythos ist vielleicht nicht fundierend im Sinne Assmanns, doch dafür in hohem Maße kontrapräsentisch. Und für einen kurzen Augenblick lässt er uns vergessen, dass die Geschichte erst über die Ungerechtigkeit gesiegt hat, als es schon zu spät war. Denn der Mythos ist letztendlich nicht nur eine Form des Vergangenheitsbezugs bzw. der Erinnerung, sondern auch eine Form des Vergessens. Elemente, die nicht in die mythisch erhöhten Erzählungen passen, verblassen mit der Zeit, rücken aus dem Fokus und schließlich aus dem Gedächtnis. So erging es auch Sisyphos: Die Geschichte vergaß irgendwann den gerissenenen und skrupellosen Schurken, den der König Sisyphos zu Lebzeiten verkörperte, und erinnerte sich fortan hauptsächlich an den leidenden Mann und die absurde Strafe, die ihm auferlegt wurde.
7.3 Exkurs und Ausblick: Das Kino und die Wirklichkeit der ZuschauerInnen „Kultur“ sei eigentlich, schreibt Michael Althen in einem seiner Essays, ein „merkwürdiger Ausdruck für das, was das Kino und seine Technik mit der Welt angestellt haben“³⁴. Vielmehr handele es sich Althen zufolge um eine Kolonisation: „Das Kino hat den Menschen eine Sprache aufgedrängt, die sie auf Teufel komm raus lernen mussten. […] Die Leinwand zeigt also ein Gesicht, eine Wolke, einen Baum – und alle verstehen, was gemeint ist.“³⁵ Das Kino konstruiert zwei Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 100 – 101. Seeßlen, Quentin Tarantino, S. 12 und 20 – 21. Althen, Michael: Die Sache mit dem Schwein, in: Althen, Michael: Warte, bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung ans Kino. München 2002, S. 11– 17, hier: S. 13. Althen, Die Sache mit dem Schwein, S. 13.
7.3 Exkurs und Ausblick: Das Kino und die Wirklichkeit der ZuschauerInnen
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Arten von Wirklichkeit: Zum einen die filmische Realität, die sich auf der Leinwand den ZuschauerInnen präsentiert; „eine vom Bewusstsein des Zuschauers scheinbar unabhängige autonome Wirklichkeit“³⁶. Zum anderen – und darauf verweist Michael Althen – produziert das Kino eine individuelle Realität im Bewusstsein des Publikums: die Wirklichkeit der ZuschauerInnen. Denn die Filmwahrnehmung ist ein „kommunikativer Akt“, der ein „hohes Maß an kognitiver Aktivität und kommunikativem Wissen“³⁷ voraussetzt: optische und akustische Informationen werden interpretiert, sortiert, rekonstruiert und mit den Inhalten und Formen anderer Filme verglichen.³⁸ Dabei kommen unterschiedliche Wissensformen zur Anwendung: z. B. generelles Weltwissen und narratives Wissen bzw. „Wissen um filmische Darbietungsformen“³⁹. Die ZuschauerInnen sind demnach „nicht nur Projektionsfläche“, die „zur Inaktivität verdammt“⁴⁰ sind. Vielmehr dechiffrieren sie „die autonom konstruierte Welt auf der Leinwand dank [ihrer] Gedächtnisleistung und kraft [ihrer] Phantasie“⁴¹. Diese „Wahrnehmungsleistung“ der ZuschauerInnen, die im engen Verhältnis zum „Organisationsmuster des Films“⁴² steht, lässt sich nach der neoformalistisch-kognitivistischen Filmtheorie David Bordwells, in der „die allgemeine Wahrnehmungsfähigkeit des Zuschauers und sein medialer Erfahrungsschatz in Beziehung zur Struktur und Eigenschaft des filmischen Materials gesetzt werden“⁴³, zumindest theoretisch untersuchen. Eine auf diese Art durchgeführte Rezeptionsanalyse, in der sowohl die visuelle Gestalt des Films als auch die Wahrnehmung der ZuschauerInnen berücksichtigt wird, könnte auch für eine geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kino von Interesse sein. Denn damit ließen sich nicht nur Schlüsse über das Verhältnis zwischen historischen Ereignissen und ihrer Inszenierung, sondern auch über die „Arbeit der ZuschauerInnen“ ziehen. Am Beispiel der Pyknolepsie⁴⁴, wie sie Paul Virilio in seinem Buch über die Ästethik des Verschwindens beschreibt, erläuterte einst Michael Althen diese
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7 Schlussbetrachtung: Die Rache des Kinos
„Arbeit der ZuschauerInnen“.⁴⁵ Althens Beispiel folgend, möchte ich als Abschluss dieselbe Passage aus Virilios Buch zitieren: Stellt man einen Blumenstrauß vor den kleinen Pyknoleptiker und fordert ihn auf, diesen zu zeichnen, dann zeichnet er nicht nur den Strauß, sondern auch die Person, die ihn vermutlich in die Vase gestellt hat, ja selbst die Wiese, auf der die Blumen vielleicht gepflückt worden sind. Darin zeigt sich die Gewohnheit, die Sequenzen zusammenzufügen, ihre Umrisse aufeinander abzustimmen und eine Entsprechung herzustellen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man nicht gesehen haben kann, zwischen dem, woran man sich erinnern, und dem, woran man sich offenbar nicht erinnern kann.⁴⁶
Vgl. Althen, Michael: Der Mann, der vom Himmel fiel. In: DIE ZEIT, 49 (1991). http://www.zeit. de/1991/49/der-mann-der-vom-himmel-fiel (10. Januar 2017). Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986, S. 10.
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Verzeichnis der Filme 24 Wirklichkeiten in der Sekunde (A 2004, Regie: Nina Kusturica und Eva Testor) Apocalypse Now (Apocalypse Now, USA 1979, Regie: Francis Ford Coppola) Braveheart (Braveheart, USA 1996, Regie: Mel Gibson) Barry Lyndon (Barry Lyndon, GB 1975, Regie: Stanley Kubrick) Comedian Harmonists (D, A 1997, Regie: Joseph Vilsmaier) Defiance (Defiance, USA 2008, Regie: Edward Zwick) Django Unchained (Django Unchained, USA 2012, Regie: Quentin Tarantino) Das dreckige Dutzend (The Dirty Dozen, USA, GB 1967, Regie: Robert Aldrich). Die Fälscher (A 2007, Regie: Stefan Ruzowitzky) Fellinis Schiff der Träume (El la nave va, I,F 1983, Regie: Federico Fellini). Flags of Our Fathers (Flags of Our Fathers, USA 2006, Regie: Clint Eastwood) Geheimsache Ghettofilm (Shtikat Haarchion, IL, D 2010, Regie: Yael Hersonski) Das Geschäft in der Hauptstraße (Obchod na korze, ČSSR 1965, Regie: Ján Kadár und Elmar Klos) Gladiator (Gladiator, USA, GB 2000, Regie: Ridley Scott) Gloomy Sunday, Ein Lied von Liebe und Tod (D 1999, Regie: Rolf Schübel) Glory (Glory, USA 1989, Regie: Edward Zwick) Die Grauzone (The Grey Zone, USA 2001, Regie: Tim Blake Nelson) Die Grenzstrasse (Ulica Graniczna, P 1948, Regie: Aleksander Ford) Holocaust (Holocaust, USA 1978, Regie: Marvin J. Chomsky) In der Glut des Südens (Days of Heaven, USA 1978, Regie: Terrence Malick) Inglourious Basterds (Inglourious Basterds, USA, D 2009, Regie: Quentin Tarantino) Jakob der Lügner (Jakob the Liar, USA, F, H 1999, Regie: Peter Kassovitz) Korczak (Korczak, P,D 1990, Regie: Andrej Wajda) Last Samurai (The Last Samurai, USA, NZ, J 2003, Regie: Edward Zwick) Das Leben ist schön (La vita è bella, I 1997, Regie: Roberto Benigni) Legenden der Leidenschaft (Legends of the Fall, USA 1994, Regie: Edward Zwick) Die letzte Etappe (Ostatni Etap, P 1948, Regie: Wanda Jakubowska). Die Passion der Jungfrau von Orléans (La Passion de Jeanne d’Arc, F 1928, Regie: Carl Theodor Dreyer) Der Pianist (The Pianist F, P, UK, D 2002, Regie: Roman Polanski) Schindlers Liste (Schindler‘s List, USA 1993, Regie: Steven Spielberg) Der Schmale Grat (The Thin Red Line, USA 1998, Regie: Terrence Malick) Shoah (Shoah, F 1985, Regie: Claude Lanzmann) Sie sind Frei, Doktor Korczak (Dr. Korczak, The Martyr, D,IL 1974, Regie: Aleksander Ford) Der Soldat James Ryan (Saving Private Ryan, USA 1998, Regie: Steven Spielberg) Son of Saul (Saul fia, H 2015, R: László Nemes) Spartacus (Spartacus, USA 1960, Regie: Stanley Kubrick), Traffic (Traffic, USA 2000, Regie: Steven Soderbergh) Der Untergang (D, I, RUS, A 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel) Uprising (Uprising, USA 2001, Regie: Jon Avnet) Zug des Lebens (Train de vie, F, B, NL, IL, RO 1998, Regie: Radu Mihaileanu)
https://doi.org/10.1515/9783110604726-011
Personenregister Achilleus 101, 115 Ainsztein, Reuben 46 – 49, 73, 80, 84, 93, 112 Aldrich, Robert 225, 229 Alighieri, Dante 157 f. Althen, Michael 81, 234 – 236 Amarant, Shmuel 203 Améry, Jean 224 Anielewicz, Mordechai 66, 73, 75, 78 – 91, 93 – 96, 98 – 101, 105 f., 110, 112 – 117, 180, 201, 221 f., 233 Arad, Yitzhak 117, 124, 173 Arendt, Hannah 48 Aristoteles 134, 136 Arluk, Zorach 204, 219 Arquette, David 143 Assmann, Aleida 37 Assmann, Jan 4, 231 Atlas, Ezekiel 199 Avnet, Jon 2 f., 8 f., 54 f., 79, 81, 96 – 98, 101, 106, 108, 112 f., 119 f., 124, 173, 228, 232 Azaria, Hank 79 Bacon, Francis 141 Badiou, Alain 34 Baer, Ulrich 37 Bairach, Mosche 194 Baron, Lawrence 154 Barthes, Roland 77 Beckett, Samuel 7 Bell, Jamie 180, 192 Bender, Sara 92 f., 117 f. Benigni, Roberto 11, 14, 32 f. Benton, Thomas Hart 140 Benz, Wolfgang 29 f., 42, 128, 163 Benzali, David 154 Beres, Witold 57 f., 73, 84 Bettelheim, Bruno 46, 48 Bielski, Aron 56, 180 f., 192, 200, 209 – 211, 214 Bielski, Asael 9, 181, 184 – 190, 192 f., 195, 197 f., 202 f., 206, 208, 210 f., 214, 216 f. https://doi.org/10.1515/9783110604726-012
Bielski, Avremale 181, 189 Bielski, Beila 180 f. Bielski, Chaim 21, 56, 181 Bielski, Chaja 186 f., 189, 193, 197, 203, 210 Bielski, David 183, 188, 193 Bielski, Estelle 181, 184 Bielski, Jakov 181 Bielski, Joshua 181 Bielski, Lilka 177, 186, 195, 210 f., 214, 220 f. Bielski, Nathan 181 Bielski, Rifka 184 – 186, 189, 193 Bielski, Tajba 181, 184, 189 Bielski, Tuvia 9, 20, 176 – 181, 183 – 186, 188 – 190, 192 – 212, 214 – 218, 220 – 222, 233 Bielski, Zus 9, 20, 180 f., 184 f., 188 f., 192 f., 195 – 201, 207 f., 210, 217 f., 221, 233 Bismarck, Otto von 19 Bleichröder, Gerson von 19 Böhler, Jochen 56 – 59, 92 Boldo, Pinchars 219 Bomba, Abraham 125 f. Bordwell, David 76, 78, 235 Bösch, Frank 10 f., 14, 16 – 18, 36 – 38, 120, 226 Brecht, Bertolt 136 Brickman, Paul 55, 96 – 98, 106, 108, 112 f., 173 Broszat, Martin 27 – 30, 36 Browning, Christopher R. 35, 41, 59, 61 f. Bruch, Max 79 Bucher, Peter 25 Buddha 82 Burnetko, Krzysztof 57 f., 73, 84 Campbell, Joseph 82, 115, 222 Camus, Albert 6 f., 232 Chandler, David 151 Chasan, Shaul 130 Chomsky, Marvin J. 31, 95 Cohen, Leon 127, 145 f., 153
252
Personenregister
Coppola, Francis Ford 141 Corduner, Allan 151 Craig, Daniel 192 Crowe, Russel 114 Czerniakow, Adam 21, 58 – 61, 64, 70 – 72, 79, 81, 83 – 91, 98 f., 101 Davis, Natalie Zemon 11 – 13, 23 f., 29 f., 140 Dawidowicz, Lucy 93 f., 114 Dengel, Oskar 62 Didi-Huberman, Georges 140 Dieckmann, Christoph 38, 118, 126 f. Dostojewskij, Fjodor 150 f. Douglas, Kirk 114 Dragon, Abraham 151 Dragon, Shlomo 151 Dreyer, Carl Theodor 11, 13, 23 Eastwood, Clint 107 Edelman, Marek 1 f., 9, 21, 52 f., 57 f., 63, 66, 71, 73 – 75, 84, 88, 91 f., 94, 97 f., 106, 108, 112 f., 115 – 117, 222 Eichmann, Adolf 48, 166 Eliot, T. S. 1, 22, 228 Elwes, Cary 76 Emcke, Carolin 170 f. Erich, Muhsfeldt 134, 156 Eschwege, Helmut 50 Falconetti, Maria 13 Fanon, Frantz 213 – 215 Fellini, Federico 14 Ferro, Marc 24 f. Fine, Russell Lee 142, 219 Fischer, Ludwig 62 Fitzgerald, F. Scott 176, 222 Földényi, Lászlo F. 32 Ford, Aleksander 54, 85, 87, 95, 141 Frank, Anne 155 f. Frank, Hans 62 Frei, Norbert 35 f., 41 f. Friedländer, Saul 18, 31, 36, 41, 61 f., 72, 146, 166 Friedler, Eric 39, 125 – 127, 129 – 131, 141, 145, 149, 151, 156, 165, 171, 173 Frohman, Clayton 178 f., 192, 197, 207, 216, 220
Frydrych, Zalman 72 Fuchrer, Mira 80 Gabai, Jaacov 151 – 153 Gainsborough, Thomas 12 Gerlach, Christian 163 – 165, 182, 187 f. Gibson, Mel 114 Glass, James M. 213 f. Glazar, Richard 125 f. Goebbels, Joseph 76, 225, 234 Goethe, Johann Wolfgang 201 Goldhagen, Daniel J. 35 f. Göring, Hermann 225, 234 Goya, Francisco de 40 Gradowski, Salman 22, 126, 153 Greif, Gideon 38 f., 121 – 123, 127 – 133, 139, 145 – 147, 149 – 153, 159 f., 162, 167, 171 f., 174 f. Gutkowski, Eliyahu 103 Gutman, Israel 9, 50, 54, 66, 73, 80, 102, 112 f. Haneke, Michael 41, 141, 144 f., 211 f. Hartman, Geoffrey 37 Herbert, Ulrich 35 f., 38, 126 f. Hersonski, Yael 9 Heydrich, Reinhard 61 Hilberg, Raul 46 – 48, 173 f. Himmler, Heinrich 34, 57 Hippler, Fritz 76, 107 Hirschbiegel, Oliver 16 Hitler, Adolf 17, 21, 33, 35 f., 42, 50, 56, 58, 60, 62, 94, 187, 225, 229, 234 Höfle, Hermann 70 Homer 5 f., 101 Höß, Rudolf 165 f. Huberband, Shimon 102 f. Jäckel, Eberhard 50, 66, 80 Jakubowska, Wanda 10 Jarecka, Gustawa 70 f., 73 f., 89 Jesus 82 Johanna von Orléans 13 Kahlenberg, Friedrich P. 25 Kansteiner, Wulf 41 f. Kaplan, Chaim A. 21, 56, 58 – 64
Personenregister
Kaplinski, Raja 194, 215 – 217, 219 Karny, Miroslav 124, 174 Kassow, Samuel D. 65, 69, 71, 73 f., 87, 91 f., 103, 152 Keegan, John 57 Keitel, Harvey 156 Kertész, Imre 7, 13 f., 32 f., 146, 164 f., 232 Kesler, Israel 206 Kielar, Wieslaw 126 Kilian, Andreas 38 f., 125 – 131, 133, 141, 145, 149, 151, 156, 165, 171, 173 Klüger, Ruth 23, 126 Korczak, Janusz 54, 72, 87, 90, 95 f., 98 f., 101 Kovner, Abba 46, 92 Krakowski, Shmuel 50, 67 Krall, Hanna 9, 71, 75, 94, 97 f., 108, 112, 115 f. Kreimeier, Klaus 235 Kruk, Herman 45 f. Krützen, Michaela 78, 82 Kubrick, Stanley 11 – 13 Kulski, Julian 62 Kundera, Milan 7 Kundrus, Birthe 42 Kurzman, Dan 95, 109 f. Kwiet, Konrad 50 Langbein, Hermann 50, 125, 127, 156 Langer, Lawrence L. 1 Langfus, Lejb 128 Lanzmann, Claude 22, 31 f., 68, 111 f., 116, 125, 166 – 168 Laurent, Mélanie 224 Lefkowitz, Hanan 203 f. Leist, Ludwig 62 Lejkin, Jakub 73 Levi, Primo 21, 122, 126, 129 – 132, 139, 147 – 149, 155 f., 158, 173 – 175 Lévi-Strauss, Claude 5 Levin, Itamar 121 – 123, 128 – 131, 153, 159 f., 171 f., 174 f. Lewenthal, Salman 22, 126, 153 Longerich, Peter 66, 80 Löw, Andrea 35, 44, 46, 53, 60 – 66, 70, 72, 74, 86, 112, 117 Lubczanski, Arkie 207
253
Lubetkin, Zivia 21, 66, 75, 82 f., 89 f., 116 f. Lustiger, Arno 38 f., 41, 47, 50 f., 113, 162, 167, 230 MacKay, George 192 Malbin, Lazar 198 Malick, Terrence 139 f. Mallmann, Klaus-Michael 57 Mamet, David 134 Márai, Sándor 164 Margolis-Edelmans, Alina 1 Matthäus, Jürgen 57 Mayzel, Maurycy 57 McKee, Robert 179, 190 – 192 Meckl, Markus 1 – 3, 9, 53 – 55, 75, 82, 88, 93, 97, 101 f., 108 – 110, 115, 120 Michman, Dan 46, 49 Middleton-Kaplan, Richard 8 Mihaileanu, Radu 11 Milton, John 121, 169 Mitchell, Radha 79 Moll, Otto 128 f., 134, 157, 161 f., 165 Mommsen, Hanns 48 Monaco, James 140 Moore, Michael 16 Moses 50, 82, 215 f., 233 Moyer, Stephen 79 Müller, Filip 22, 121, 124 – 127, 134 – 136, 147, 151, 153, 155, 157, 159 f., 165 – 168 Nelson, Tim Blake 8 f., 11, 21, 38, 123 f., 132 – 144, 147 – 149, 151, 153 – 156, 158 f., 161 f., 169, 172 f., 227 f., 232 f. Nemes, László 123, 140 Neuenfels, Clemens 142 Nyiszli, Miklós 8, 21, 126 f., 134, 137 – 139, 143, 148, 151, 155 f., 159 – 161, 172, 227 Nyman, Andy 79 Odysseus 5, 82, 115, 222 Olère, David 140 – 142 Orth, Karin 38, 126 f. Ovid 6 Owen, Wilfred 44 Paisikovic, Dov 156 Panchenko, Victor 198 – 201
254
Personenregister
Paul, Gerhard 25 – 27, 55, 96 f., 126, 173, 235 f. Paulsen, Jörg 47, 49 Picasso, Pablo 23, 40, 141 Piper, Franciszek 128, 166 f. Pitt, Brad 196, 225 Platon 101 Podchlebnik, Mechl 68 Polanski, Roman 9, 11, 142 Popitz, Heinrich 155, 209 Presser, Jacques 157 Prometheus 82, 136 Quinn, Aidan
196
Rabe, David 134 Radisch, Iris 7 Rapoport, Nathan 104 f., 107 Reemtsma, Jan Philipp 103 f., 146 f. Reich-Ranicki, Marcel 45, 56, 63 – 65, 70 f., 73 f., 85, 101 Reich-Ranicki, Tosia 73 f., 79, 83, 90, 99, 106, 112, 114 Ringelblum, Emanuel 65 f., 69 – 71, 73 f., 87, 91 f., 94, 102 f., 152 Rings, Werner 49 f. Rosenthal, Joe 107, 134 – 138, 151, 153 – 156, 159 – 162, 167 – 172, 227 Rotem, Simha 9, 21, 72, 74 f., 85, 111 – 113, 116 Roth, Markus 44, 53, 60 – 66, 70, 72, 74, 112, 117 f., 128, 154 Rother, Rainer 11 f., 24 f. Ruzowitzky, Stefan 142 Sackar, Josef 127, 145, 149, 153 Sakowska, Ruta 66 f., 70 Sawicki, Cila 205 f. Schabbetai, K. 48, 51 Schildt, Axel 26 Schoeps, Julius H. 50 f., 66, 80, 118, 230 Schreiber, Liev 192 Schüler-Springorum, Stefanie 1 f., 8 f., 37 Schultz, Sonja M. 10, 29, 33 f., 225 f. Schwimmer, David 79 Scorsese, Martin 140 Scott, Ridley 176, 222
Seeßlen, Georg 42, 120, 142, 224 – 226, 228 f., 234 Segev, Tom 44, 54, 117, 124 Sennett, Richard 198, 204 f. Shakespeare, William 17, 191, 201, 222 f. Shepard, Sam 134 f. Siebert, Barbara 39, 125 – 127, 129 – 131, 133, 141, 145, 149, 151, 156, 165, 171, 173 Simon bar Kochba 233 Sisyphos 5 – 7, 232, 234 Smolar, Hersch 221 Snyder, Timothy 56, 58 f. Sobieski, Leelee 79 Soderbergh, Steven 16 Sofsky, Wolfgang 19, 127, 141, 143, 146 f., 150, 155, 175, 233 Sokrates 100 f. Sontag, Susan 40 Spartacus 114 f., 222 Spielberg, Steven 9, 15, 29 – 35, 42, 226 Starzynski, Stefan 59, 62 Stern, Fritz 9, 19, 163 Stolowicki, Hana 206 Stroop, Jürgen 76, 106 – 108 Sutherland, Donald 79 Sutin, Rochelle 214 Szerynski, Jozef 73, 106 Szlamek 67 – 69, 151 f. Szpilman, Wladyslaw 11 Tarantino, Quentin 20 f., 212, 224 – 226, 228 f., 233 f. Tec, Nechama 8, 22, 176 – 189, 193 – 195, 197 – 207, 212 f., 215 – 219, 221 f., 233 Tenenbaum, Mordechai 80 Thackerey, William Makepeace 12 Thanatos 5 Thomas, Henry 196 Timm, Uwe 4 Trier, Lars von 16 Trilling, Lionel 19 Vargas Llosa, Mario 40 f. Venezia, Shlomo 127, 143, 156 f. Vergil 52, 157 Virilio, Paul 235 f.
Personenregister
Voigt, Jon 76 Vrba, Rudolf 125 f. Wachsmann, Nikolaus 121 f., 126, 128 f., 163, 166 Wajda, Andrej 54, 87, 95 Wallace, William 114 Waltz, Christoph 140, 224 Wasser, Bluma 236 Wasser, Hersh 67, 152 Watteau, Jean-Antoine 12 Weber, Max 194 f., 221 Weckel, Ulrike 8, 144 Werfel, Franz 45 f., 164 White, Hayden 41 Wiesel, Elie 32 Wieviorka, Annette 37 Wildt, Michael 9, 16 – 18, 29 – 31, 38, 42, 58
255
Wilner, Arie 75, 106, 112 Wood, Grant 140 Worthoff, Hermann 71 Yehuda Ha’ Makkabi 194 Young, James E. 104 f. Zeus 5 Zizek, Slavoj 34 Zuckerman, Yitzhak 21, 48, 66, 71, 73, 75, 79, 82 f., 89 f., 98, 101, 103 f., 106 f., 109 f., 115 – 117, 221, 233 Zweig, Max 94, 109 Zweig, Stefan 94 Zwick, Edward 8 f., 22, 176 – 180, 190, 192, 195 – 197, 201 f., 207 – 209, 212, 214 – 216, 218, 220, 222, 228, 233 Zywulska, Krystyna 146, 159