Jahrbuch für Geschichte: Band 9 [Reprint 2021 ed.]
 9783112530306, 9783112530290

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JAHRBUCH F Ü R GESCHICHTE

AKADEMIE DER

WISSENSCHAFTEN DER

ZENTRALINSTITUT FÜR

DDR

GESCHICHTE

JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE

Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier. Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur) Hans Schleier (Stellvertreter) Rosemarie Schumann Redaktionelle Bearbeitung: Karin Heller

JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1973

Redaktionsschluß: 1. Oktober 1972

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/58/74 Offsetdruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 752 400 4 (2130/9) • ES 14 E Printed in GDR EVP 2 5 , -

Inhalt GUNTHER

HILDEBRANDT

Programm und Bewegung des süddeutschen Liberalismus nach 1830 SIGRID DILLWITZ

Die Struktur der Bauernschaft von 1871 bis 1914. Dargestellt auf der Grundlage der deutschen Reichsstatistik

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GERHARD MEISEL

Zur Entwicklung der wissenschaftlichen Auffassung vom Sozialismus und Kommunismus in der Kommunistischen Partei Deutschlands während der Jahre der Weimarer Republik 129 KLAUS

KINNER

Zur Herausbildung und Rolle des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes in der K P D im Prozeß der schöpferischen Aneignung des Leninismus 1918 bis 1923. . . 217 GERHARD FUCHS

Die politischen Beziehungen der Weimarer Republik zur Tschechoslowakei vom Versailler Frieden bis zum Ende der revolutionären Nachkriegskrise 281 D I E T R I C H EICHHOLTZ

Die Vorgeschichte des „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" (mit Dokumenten) 339 HELMUT

ANDERS

Die Demokratisierung der Justiz beim Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung 1945 bis 1949 . . 385 GOTTFRIED DITTRICH

Die II. Parteikonferenz der S E D und der Ubergang zu höheren Formen der Wirtschaftsleitung und des Wettbewerbs im Jahre 1952. . . 439 MARTIN E R B S T Ö S S E R / K L A U S - P E T E R

MATSCHKE

Von Bayern nach Europa. Geschichtsbild und politischer Standort des Historikers Karl B o s l . . . . . . . 467 Dokumentation W O L F G A N G SCHUMANN

Das Scheitern einer Zoll- und Währungsunion zwischen dem faschistischen Deutschland und Dänemark 1940. . 515 Autorenverzeichnis

567

Abkürzungen BzG

Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung

DZAC

Deutsches Zentralarchiv Coswig

DZAP

Deutsches Zentralarchiv Potsdam

GdA

Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Berlin 1966)

HZ

Historische Zeitschrift

IML/ZPA

Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D , Zentrales Parteiarchiv

JfG

Jahrbuch für Geschichte (Berlin)

MEW

Marx/Engels, Werke (Berlin 1956ff.)

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

Die Werke Lenins werden nach der 40 bändigen Ausgabe des Dietz-Verlages, Berlin 1 9 5 6 - 1 9 6 5 , zitiert.

GUNTHER HILDEBRANDT

Programm und Bewegung des süddeutschen Liberalismus nach 1830

Der Liberalismus ist in Deutschland erstmals in der ersten Hälfte des 19. Jh., im Verlaufe der bürgerlichen Umwälzung, in stärkerem Maße wirksam geworden. Es ist daher in der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung üblich, das Programm und die politischen Aktivitäten des deutschen Liberalismus während des Vormärz im Rahmen der antifeudalen Opposition zu erforschen, was im folgenden auch in bezug auf den bisher noch nicht eingehender untersuchten süddeutschen Liberalismus der 30er Jahre des 19. Jh. geschehen soll. Gegenstand des Aufsatzes sind die theoretischen Vorstellungen und das politische Wirken der Liberalen in den süddeutschen Staaten Baden, Württemberg und Bayern von 1830 bis etwa 1833/34. Ohne Zweifel gehört es zu einer umfassenden Analyse des deutschen Liberalismus, auch seine mannigfache Verzahnung mit internationalen Prozessen und E r eignissen herauszuarbeiten. Der Liberalismus als Theorie und politische Bewegung der Bourgeoisie ist eng mit deren Formierung und Konsolidierung als Klasse verbunden. Die in Zusammenhang mit diesem auf der Durchsetzung und Festigung kapitalistischer Produktionsverhältnisse beruhenden Vorgang entstehende neue Qualität der internationalen Verflechtung des geschichtlichen Prozesses wird auch an der Entwicklung des Liberalismus sichtbar. Für den deutschen Liberalismus der 30er Jahre läßt sich das namentlich an seiner geistesgeschichtlichen Verwurzelung im deutschen und europäischen Naturrecht und in der Aufklärung, an der Rezeption solcher wichtigen internationalen Ereignisse wie der Revolutionen in Frankreich und Belgien 1830 oder etwa am Widerhall nachweisen, den der polnische Aufstand von 1830/31 bei den Liberalen fand. Auf diesen umfangreichen Fragenkomplex kann im folgenden nicht ausführlich eingegangen werden. Jedoch wird es nötig sein, Studien dieser Art durch eine eingehende Untersuchung der internationalen Zusammenhänge in der Geschichte des deutschen Liberalismus zu ergänzen.

Gunther Hildebrandt

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Unter dem Einfluß der Revolutionen in Frankreich und Belgien, mit dem Eintritt der Arbeiterklasse in die deutsche Geschichte begann auch in Deutschland zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jh. eine neue Etappe des antifeudalen Kampfes. Sowohl die Triebkräfte als auch der Inhalt dieses Kampfes wandelten sich. Neben Arbeitern, Bauern, Handwerksgesellen und Kleinbürgern trat jetzt in vielen deutschen Einzelstaaten auch das liberale Bürgertum als oppositionelle Kraft in E r scheinung. Außer Handelsbourgeois, deren einige bereits zwischen 1815 und 1830 Anteil an der Oppositionsbewegung genommen hatten, wurden nun auch Vertreter der entstehenden industriellen Bourgeoisie und des akademischen Bürgertums politisch aktiv. Der neue Inhalt dieser Etappe des antifeudalen Kampfes bestand vor allem darin, daß nach den thematisch, sozial und lokal zumeist eng begrenzten Aktionen der Burschenschafter in den Jahren von 1815 bis 1830 jetzt wirklich eine "Ära der Volksagitation und der bürgerlichen Agitation"* begann und daß erstmals seit der napoleonischen Zeit sich in Deutschland eine revolutionäre Massenbewegung ausbreitete, die den Kampf gegen die Feudalkräfte mit vielfältigen Mitteln sowohl auf legalem Wege als auch mit Hilfe bewaffneter Aktionen zu führen begann. Nach der Erhebung des Volkes von Paris am 27. Juli 1830 breitete sich die revolutionäre Bewegung wie in anderen europäischen Ländern auch in nahezu allen bedeutenderen Staaten des Deutschen Bundes aus. In Braunschweig vertrieb das Volk den verhaßten Herzog Karl, in Hannover, Hessen-Kassel und Hessen-Darm Stadt erhoben sich Bauern. Arbeiter und Handwerker und setzten konstitutionelle Reformen durch; in Sachsen wurde der Rücktritt des königlichen Ministeriums e r zwungen. Auch in Berlin und in den süddeutschen Staaten fanden revolutionäre Aktionen des Volkes statt. Die Welle revolutionärer Erhebungen von 1830/31 und ihre Ergebnisse bereiteten den Boden auch für die politischen Aktivitäten der Bourgeoisie in Deutschland und in anderen Ländern zu Beginn der 30er Jahre. Aber sie ließen namentlich die deutsche Bourgeoisie auch die Kraft und die Möglichkeiten revolutionärer Massenaktionen spüren - eine Erfahrung, die die Bourgeoisie später immer mehr auf ihre eigene Zukunft bezog. Objektiv zur Führung der Oppositionskräfte berufen und mit den werktätigen Massen durch den gemeinsamen Gegensatz zum halbfeudalen System verbunden, nahm die Bourgeosie im Verlaufe der revolutionären Kämpfe zu Beginn der 30er Jahre in Deutschland eine zunehmend zwiespältige Haltung ein. 1

Engels, Friedrich, Deutsche Zustände. Brief III, in: MEW, Bd. 2, S. 582.

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Das Programm und die politischen Aktivitäten der Liberalen waren von einem 2 tiefen Widerspruch gekennzeichnet. Das Bürgertum hatte 1830/31 in einer Reihe von deutschen Staaten die Aktionen der Volksmassen ideologisch gefördert und sich an die Spitze von Deputationen und Volksversammlungen gestellt. Nach zumeist formaler Erfüllung einiger konstitutioneller Forderungen konzentrierten sich jedoch die Liberalen fast überall darauf, die revolutionäre Bewegung zum Stehen zu bringen. Einerseits begann die liberale Bourgeoisie, sich als Hegemon der bürgerlichen Revolution zu formieren. Sie erhob antifeudale Forderungen, deren konsequente Durchsetzung die Beseitigung des halbfeudalen Regimes erfordert hätte. Als Ausbeuterklasse fürchtete sie andererseits die Aktionen der Massen. Sie schwächte ihre Opposition gegenüber dem halbfeudalen Regime in dem Maße ab, in dem der Klassengegensatz zwischen der Bourgeoisie und den werktätigen Massen zutage trat. Antifeudale revolutionäre Aktionen wurden von ihr daher als Kampfmittel abgelehnt. Statt dessen konzentrierte sie sich auf eine konstitutionelle Reformpolitik und gab sich zumeist mit Teilzugeständnissen zufrieden, mit Konstitutionen, mit der Einrichtung einer Bürgerwehr und der Modernisierung des staatlichen Machtapparates. Diese Züge bestimmten um 1830 allgemein die Vorstellungen und politischen Aktivitäten des deutschen Liberalismus, der zu diesem Zeitpunkt freilich noch eine meist regional geprägte und auch sozial verhältnismäßig stark differenzierte Bewegung darstellte. Hier ragte um 1830 eigentlich nur die Gruppe der süddeutschen Liberalen, d. h. die liberale Bewegung vor allem in den drei süddeutschen Staaten Baden, Württemberg und Bayern, heraus. Ihre relative Einheitlichkeit, sowohl untereinander als auch gegenüber den Liberalen in den anderen Gebieten, ergab sich vor allem aus der Geschlossenheit und theoretischen Fundierung ihres Programms, aus der Gleichartigkeit des politischen Vorgehens und aus der spezifischen sozialen Basis der liberalen Bewegung. Dabei spielte die Verwandtschaft der sozialökonomischen und politischen Bedingungen in den drei süddeutschen Staaten eine wesentliche Rolle. 2 Der marxistisch-leninistische Forschungsstand zur Liberalismusproblematik wird vor allem in den Materialien der Liberalismus-Konferenz der Arbeitsgemeinschaft "Geschichte der bürgerlichen Parteien in Deutschland" (19. 9.1966 in Jena) deutlich; vgl. Jenaer Beiträge zur Parteigeschichte, Nr. 16-18; vgl. auch Schmidt, Siegfried, Robert Blum. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, Weimar 1971; Bock, Helmut, Ludwig Börne. Vom Gettojuden zum Nationalschriftsteller, Berlin 1962. Zu nennen ist ferner auch die mit Einschränkung zu verwendende Arbeit von Loewenstein, Bedrich, K charakteru nemeckeno liberalismu 1830-1831, in: Ceskoslovensty Öasopis historickjr, 1960, H. 6, S. 814 -842.

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Wie in den meisten fortgeschritteneren Gebieten Deutschlands gab es Anfang der 30er Jahre auch in den süddeutschen Staaten eine, wenngleich erst in den Anfängen befindliche kapitalistische Industrie. Zur bürgerlichen Ober- und Mittelschicht, aus der sich auch die süddeutschen Liberalen im wesentlichen rekrutierten, gehörten neben den kapitalistischen Unternehmern hier vor allem die bürgerliche Intelligenz und das Bildungsbürgertum: Ärzte, Advokaten, Hochschullehrer, Beamte. Ihr Liberalismus war nicht - wie in den 40er Jahren bei der preußischen Bourgeoisie - das aus der unmittelbaren Geschäftsnot hervorbrechende politische 3

Begehren nach Umgestaltung , sondern er war stark theoretisch geprägt und auf die Durchsetzung einer konstitutionellen Reformpolitik gerichtet, deren oberstes Ziel in der Schaffung eines bürgerlichen Rechtsstaates bestand. Zu den Besonderheiten der Entwicklung in Süddeutschland gehörte ferner, daß Baden, Württemberg und Bayern, und zwar als einzige unter den bedeutenderen deutschen Staaten, bereits seit 1818 bzw. 1819 über landständische Verfassungen verfügten, die dem Bürgertum ständische Vertretungen sowie einige konstitutionelle Rechte, wie das Budgetrecht und Anteil an der Gesetzgebung, gewährten. Sie gefährdeten zwar nicht die Herrschaft der Feudalkräfte, schufen aber doch mit die Voraussetzung dafür, daß sich die Liberalen jetzt nicht mehr mit der Erlangung einzelner Rechte zufriedengaben, sondern bereits für die Durchsetzung einer Repräsentatiwerfassung eintraten. Sie trugen somit dazu bei, daß die süddeutschen Liberalen ihren Kampf für Reformen und konstitutionelle Rechte unter relativ günstigen Umständen führen konnten. Die - wenn auch bescheidene - konstitutionelle Praxis, die sich die süddeutschen Liberalen z. T. bereits vor 1830 erwarben, war einer der Gründe dafür, daß sie nach 1830 hier eine verhältnismäßig starke Stellung gegenüber den traditionellen Kräften erlangten und diese - ausgenommen in der Rheinpfalz - bis zum Beginn der Repressionsphase 1833/34 auch behaupten konnten. Die Verfassungen in Bayern, Württemberg und Baden ermöglichten es den Liberalen, Erfahrungen zu sammeln und diese theoretisch zu verallgemeinern. Sie boten einige - wenngleich nur geringe - Möglichkeiten zur Erprobung ihrer aus dem Studium französischer, belgischer und englischer Verhältnisse gewonnenen Erkenntnisse. Die Untersuchung der politischen Theorie der süddeutschen Liberalen und ihrer geistigen Wurzeln zeigt, daß sie nicht nur von den Verfassungs3

Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd. 21, S. 410.

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modellen westeuropäischer Länder beeinflußt wurde, sondern das Gedankengut der Aufklärung und des Konstitutionalismus in Frankreich rezipierte und weiterentwickelte. Auf eine kurze Formel gebracht, handelte es sich also beim süddeutschen Liberalismus um eine bürgerliche Bewegung, die ausgeprägt theoretischen Charakter besaß, sich vorwiegend auf Bildungsbürgertum und Beamtentum stützte, dagegen weitgehend frei von großbürgerlichem Einfluß war und eine konstitutionelle Reformpolitik verfolgte. Die bürgerliche Geschichtswissenschaft hat es sich angelegen sein lassen, die politische Theorie der süddeutschen Liberalen, vor allem ihre Gesellschafts- und Staatslehre, als die große Leistung der oppositionellen Bewegung der 30er Jahre hinzustellen, um die Bedeutung der revolutionären Massenaktionen nach 1830 herunterspielen und eine kontinuierliche Linie bis zu den gemäßigten Liberalen der Paulskirche ziehen zu können. Es schien deshalb im Rahmen dieses Aufsatzes nötig, neben der theoretischen Leistung den politischen und sozialen Hintergrund der liberalen Bewegung und auch die praktischen politischen Aktivitäten der Vertreter des Liberalismus sichtbar zu machen. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der politischen Theorie der süddeutschen Liberalen ergibt sich ein methodisches Problem: Das hier zu untersuchende theoretische Hauptwerk des süddeutschen Liberalismus der 30er Jahre, das 4 Rotteck-Welckersche Staatslexikon , erschien erst nach 1834, d. h. zu einer Zeit, da in Deutschland bereits die erneute Unterdrückung auch der liberalen Bewegung einsetzt. Wir glauben aber, mit dieser auf das Staatslexikon orientierenden Verfahrensweise unserem Thema dennoch gerecht zu werden, da ein enger innerer Zusammenhang zwischen der dort dargelegten politischen Theorie und den liberalen Aktivitäten von 1830 bis 1833/34 besteht. Zum einen kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die wichtigsten Grundsätze der Theorie des Staatslexikons - und nur sie sollen untersucht werden - im hier behandelten Zeitabschnitt bereits zum politischen Gedankengut der Liberalen gehörten und - bei dem theoretischen Charakter der Bewegung - das politische Wirken beeinflußten. Zum anderen haben sich im Staatslexikon nicht zuletzt die theoretisch verallgemeinerten Erfahrungen der Liberalen aus den Jahren 1830 bis 1833/34 niedergeschlagen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß dieser Zusammenhang bei den später erscheinenden Bänden des Staatslexikons immer weniger deutlich ist. 4

Staatslexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften (im folgenden: Staatslexikon), hrsg. vonC.v. Rotteck und C. Welcker, 15 Bde., Altona 1834-1843.

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Ferner erschien es - angesichts des Charakters der liberalen Bewegung in Süddeutschland - vom logischen, wenn auch nicht vom chronologischen Zusammenhang her gerechtfertigt, die Untersuchung der politischen Theorie voranzustellen. Die Entwicklung der politischen Vorstellungen der süddeutschen Liberalen und ihre Zusammenfassung zu einem System liberaler Ideen erfolgte vor allem seit Ende der 20er Jahre des 19. Jh. und in verstärktem Maße nach 1830. Sie ist vor allem mit den Namen Karl von Rotteck, Theodor Welcker, Paul Pfizer, Robert von Mohl und Karl Mittermaier verknüpft. Es handelte sich um ein System politischer, wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ideen und Forderungen, mit deren Hilfe das Regime des verschleierten Absolutismus allmählich in einen bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat umgewandelt werden sollte. Seine wichtigsten Grundprinzipien waren die Konstitutionalisierung des Staatswesens, die F o r derungen nach freier Verfügungsgewalt über Besitz und Vermögen und nach Einführung bürgerlicher Grundrechte. Dieses System politischer Ideen diente nicht nur der theoretischen Selbstverständigung der süddeutschen Liberalen, sondern war zugleich eine wichtige Voraussetzung für die politische Formierung des liberalen Bürgertums und seine Auseinandersetzung mit den Feudalkräften. Die Klassenbezogenheit dieses Programms war unverkennbar. Es stellte nicht die ideologische Plattform für die Oppositionsbewegung der 30er Jahre schlechthin dar, wie es bürgerliche Historiker bisweilen glauben machen wollen. Das konstitutionelle Reformprogramm war vor allem auf die Interessen der sozialen Träger des süddeutschen Liberalismus zugeschnitten, auf das Besitz- und Bildungsbürgertum und die Beamtenschaft. Und es war nicht auf die Anwendung revolutionärer Gewalt angelegt, sondern sollte auf friedlichem bzw. legalem Wege verwirklicht werden. Es soll jedoch nicht bestritten werden, daß Programm und politische Theorie der Liberalen auch der entschiedeneren Opposition Impulse vermittelten. Es lag in der Vielgestaltigkeit der bürgerlichen Opposition in den 30er Jahren und in der führenden ideologischen Stellung der süddeutschen Liberalen innerhalb dieses Teiles der antifeudalen Bewegung begründet, daß es auch entschiedenere bürgerliche Kräfte gab, die aus diesem Programm schöpften. Eine Reihe von Forderungen aus dem Grundrechtsprogramm der Liberalen wurde von der Volksbewegung im Verlaufe der revolutionären Kämpfe in den 30er Jahren und auch später aufgegriffen. Schon die Zusammensetzung des Mitarbeiterkreises des 5 Staatslexikons - neben den beiden Herausgebern Rotteck und Welcker sind u. a. Mittermaier, Karl Mathy, Paul Pfizer, Robert von Mohl und Friedrich List zu nennen - zeigte, daß die theoretischen Auffassungen fast aller führenden Ver-

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treter des süddeutschen Liberalismus hier ihren Niederschlag fanden. Mehr als eineinhalb Jahrzehnte blieb das Staatslexikon das wichtigste politische Handbuch der süddeutschen Liberalen, und teilweise war es auch in der liberalen Bewegung außerhalb Süddeutschlands verbreitet. 1845-1848 erschien eine zweite Auflage des Werkes. 1848/49 fanden sich in den Reden der linksliberalen und gemäßigten demokratischen Parlamentarier der Paulskirche nicht wenig Anknüpfungspunkte an das Gedankengut des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons. Diese Tatsache unterstreicht seine Bedeutung für die Geschichte der deutschen liberalen Bewegung, und sie weist auf den bereits genannten ausgeprägt theoretischen Zug im praktisch-politischen Wirken des süddeutschen Liberalismus hin. Breiten Raum nahm im Staatslexikon vor allem die Staats- und Gesellschaftslehre der süddeutschen Liberalen ein. In ihr spiegelten sich die Reformwünsche des liberalen Bürgertums wider, das zunächst für einen politischen Ausgleich mit den Feudalkräften und die allmähliche Könstitutionalisierung des halbabsolutistischen Staates eintrat. Demgemäß bezeichneten die Verfasser des Staatslexikons nicht die Republik, sondern die konstitutionelle Monarchie als das zu erstrebende 7 verfassungsmäßige Ziel. Sie wurde nicht in jedem Falle (!) als erstrebenswerter Endzustand, wohl aber als eine praktikable Lösung betrachtet, zumal sich gerade in Süddeutschland auch Ansätze zur Konstitutionalisierung zeigten. Die konstitutionelle Monarchie sei, so schrieb Rotteck, "ob auch nicht die der ganz reinen Idee eines Rechtsstaates theoretisch am vollkommensten entsprechende - doch die praktisch zur wenigstens annähernd befriedigenden Erreichung des Staatszwecks nach dem Charakter und g den Lebensverhältnissen der meisten Völker geeignetste . . . Verfassung". Die Staats- und Gesellschaftslehre war derjenige Teil der politischen Theorie des süddeutschen Liberalismus, der dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit für die antifeudale Bewegung besonders deutlich widersprach. Die Verfasser des Staatslexikons gaben dem Staats- und Gesellschaftsbegriff einen eindeutig auf das Reformprogramm ihrer Klasse bezogenen Inhalt. Das Entwicklungsprinzip für 5 6 7 8

Zehntner, Hans, Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Eine Studie zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus, Jena 1929, S. 36 f. (= ListStudien. Untersuchungen zur Geschichte der Staatswissenschaften, H. 3). Vgl. Schumacher, Martin, Gesellschafts- und Ständebegriff um 1840, phil. Diss., Göttingen 1955, S. IV. Vgl. Staatslexikon II, S. 521; X, S. 658; XV, S. 639-641; s.a. Schmitt, Herbert, Das vormärzliche Staatsdenken und die Revolution 1848/49 in Baden, in: Baden im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Karlsruhe 1950, S. 35. Staatslexikon X, S. 658.

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9 Staat und Gesellschaft sollte der vernünftige Gesamtwille sein , der die Interessen der Volksbewegung zwar nicht von vornherein ausschloß, jedoch nur so weit einbezog, als sie mit denen des gemäßigten und mittleren Bürgertums übereinstimmten. Analog hierzu betrachtete Rotteck "Demokratie, oder vielmehr demokratisches Prinzip . . . keineswegs für gleichbedeutend mit Volks-Herrschaft oder gar mit Pöbel-Herrschaft und keineswegs für einen Gegensatz der Monarchie". Die deutschen Liberalen rezipierten bei der Ausarbeitung ihrer Staats- und Gesellschaftslehre sowohl das politische Ideengut der europäischen Aufklärung als auch die Verfassungswirklichkeit der bürgerlichen Staaten Westeuropas. Ausschlaggebend hierfür war nicht nur der Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in jenen Ländern. Diese Rezeption war zugleich Ausdruck jener höheren Qualität der internationalen Verflechtung der historischen Prozesse in der Epoche der weltgeschichtlichen Durchsetzung des Kapitalismus, die gleichermaßen Grundlage und Ergebnis dessen waren, daß viele Vorgänge der einzelstaatlichen Entwicklung, selbst auf dem Gebiet der Ideologie, nunmehr in ein viel engeres Abhängigkeitsverhältnis rückten. Die süddeutschen Liberalen um Rotteck deuteten den Staat als Gesellschaftsvertrag. ** Im Unterschied zu liberalen Vertretern wie Dahlmann, die sich vor allem am konstitutionellen Vorbild Englands orientierten, gingen sie stärker von der Staats- und Gesellschaftslehre der französischen Aufklärung aus und gaben dem Staat eine im Prinzip konsequent antifeudale Interpretation. Sie lehnten jedoch die sich aus der Volkssouveränitätslehre Rousseaus ergebende Forderung nach einer Republik ab, da diese sich nur auf revolutionärem Wege hätte verwirklichen lassen. 12 Statt dessen orientierten sie sich stärker an den Lehren Montesquieus 13 und auch an der Philosophie Kants. Sie schwächten den revolutionären Charakter der französischen Naturrechtslehre ab, ohne jedoch auf die antiabsolutistische Position in ihrer eigenen Staatslehre zu verzichten. So entwickelten sie einen Staatsbegriff, der grundsätzlich den Interessen des liberalen Bürgertums entsprechen und sich zugleich ohne revolutionäre Umwälzung des bestehenden Gesell 9 10 11 12 13

Gall, Lothar, Benjamin Constant - seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 66 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 30). Staatslexikon IV, S. 254 f. Ebenda VI, S. 390 f . ; XV, S. 66 f. EbendaX, S. 658. Schmitt, Herbert, a . a . O . , S. 25 f.

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schaftssystems verwirklichen lassen sollte. Sie forderten eine Konstitutionalisierung des Staates vor allem durch eine nach dem allgemeinen Wahlrecht ge14 wählte zweite Kammer, Ministerverantwortlichkeit , Budgetrecht und verfas15 sungsmäßig gesicherte Grundrechte. Dafür sollte die stärkste Stütze der Feu-r dalkräfte, die Monarchie, samt der - nicht verantwortlichen - Stellung des Monarchen unangetastet bleiben. Der Einfluß16des Alleinherrschers, den man sich als einen aufgeklärten Monarchen vorstellte , sollte - allenfalls bis auf ein suspensives Veto - beschränkt werden. Jedoch das in der bürgerlichen Lehre vom Gesellschaftsvertrag ursprünglich enthaltene Widerstandsrecht des Volkes, die ideologische Begründung für revolutionäre Aktionen der Massen, wurde von den Theoretikern des Staatslexikons - mit Ausnahme von entschiedener einge17 - nicht übernommen. stellten Liberalen wie Murhard und Duttlinger Als Konzession für die Beseitigung der Adelsprivilegien waren die Liberalen bereit, dem Adel mit Hilfe der ersten Kammer Einfluß auf die Gesetzgebung einzuräumen. An mehreren Stellen unterstrichen die Verfasser des Staatslexikons den auf Ausgleich mit den Feudalkräften berechneten Charakter ihrer Staats und Gesellschaftslehre. Während sich Rotteck von der "Partei der Umwälzung" abgrenzte 18 , meinte Welcker, der Adel müsse dem liberalen Bürgertum, soweit "es Ehre, Recht und Freiheit erlauben, in freundlicher, billiger Ausgleichung 19 und gemeinschaftlicher Bestrebung" die Hände reichen. Sicher sind solche Worte nicht nur als Angebot zur Zusammenarbeit an die Feudalklasse, sondern - angesichts der Lage nach 1834 - auch als Versuch zur Verschleierung der eigenen politischen Ziele aufzufassen. Tatsache bleibt freilich, daß die Staatsund Gesellschaftslehre der süddeutschen Liberalen der antifeudalen Bewegung keine revolutionäre Perspektive wies, sondern ihrem Inhalt nach Teil eines bürgerlichen Reformprogramms war. Die Theoretiker des süddeutschen Liberalismus gingen zwar davon aus, daß Staat und Gesellschaft - den Interessen ihrer Klasse entsprechend - konstitutionalisiert und verfassungsmäßig umgestaltet 14 Allerdings setzten sich nicht alle Liberalen für dieses wichtige Parlamentsrecht mit gleichem Nachdruck ein; vgl. Brandt, Hartwig, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied/(West-)Berlin 1968, S. 163 f. 15 Staatslexikon XV, S. 639 ff.; Schumacher, Martin, S. 81 ff. 16 Staatslexikon II, S. 521; vgl. auch Schmitt, Herbert, a . a . O . , S. 37. 17 Gall, Lothar, S. 68 ff. 18 Staatslexikon II, S. 561 ff. 19 Ebenda I, S. 348.

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werden sollten. Aber sie betonten stets den friedlichen, evolutionären und gemäßigten Charakter dieses Umwälzungsprozesses. Dieser Grundzug fand im Staatslexikon seinen Ausdruck vor allem in den Auf20

fassungen Welckers, der den organischen Charakter des Staates betonte und sich hierdurch in einigen Punkten von der Theorie Rottecks unterschied. Rotteck gab - wie wir sahen - dem Staat eine rationale naturrechtliche Begründung, indem er ihn als Vertrag zwischen den einzelnen Gliedern der Gesellschaft auffaßte. Seine Theorie schloß mindestens einen zeitweiligen Dualismus zwischen Volk und Regierung auf dem Wege zum verfassungsmäßigen Endziel nicht aus. Welckers Auffassungen wichen demgegenüber von einer konsequent naturrechtlichen Begründung des Staates ab. Offenbar beeinflußt durch den gemäßigten Konstitutionalis mus etwa eines Benjamin Constant, der den Staat als prästabilisierte harmonische 21 Ordnung zu deuten versuchte , oder durch die englischen Verfassungsgrundsätze, interpretierte er den Staat im Unterschied zur Rotteck-Schule als eine historisch gewachsene Größe und näherte sich damit liberalen Staatstheoretikern wie Dahl22

mann und Ahrens , ohne sich freilich insgesamt auf die Position der historischen Rechtslehre zu begeben. Er forderte zwar die verfassungsmäßige Weiterentwicklung und Vervollkommnung des Staates durch Reformen, hob jedoch deren "organischen" Charakter hervor, was identisch war mit dem Postulat, daß sie in Einklang mit den historisch gewachsenen Eigentümlichkeiten dieses Staates stehen sollten. Das kam etwa darin zum Ausdruck, daß die von ihm geforderte Volksvertretung der "natürlichen" Gliederung der 23 Gesellschaft entsprechen, d.h. sozialständischen Charakter besitzen sollte. Was hier ins Auge fällt, ist die selbst innerhalb des süddeutschen Liberalismus nicht allgemein übliche Verknüpfung feudal-ständischer und konstitutioneller Elemente und Prinzipien. Auch wenn der Organismus-Gedanke in das bürgerliche Reformkonzept eingebaut wurde, muß er als restauratives Element in der liberalen Staatslehre und als Konzession an die feudal-ständische organische Staatslehre gewertet werden, deren Organismus darin bestand, "daß die Staatsgenossen sich in Adel, Bürger und Bauern scheiden", und deren Vertreter den -wieFriedrich 20 Vgl. hierzu Brandt, Hartwig, S. 199ff.; ferner Schmitt, Herbert, a . a . O . , S. 29; Goessler, Peter, Der Dualismus zwischen Volk und Regierung im Denken der vormärzlichen Liberalen in Baden und Württemberg, phil. Diss., Tübingen 1932, S. 27. 21 Gall, Lothar, S. 57. 22 Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1960, S. 374 ff. 23 Ausführlich hierzu Brandt, Hartwig, S. 203 ff.

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Engels schrieb - vergeblichen Versuch unternahmen, mit ihrer Organismustheorie "den toten Kadaver der Vergangenheit mit ihren galvanisierten Drähten 24 in Bewegung" zu setzen. Welckers Staatsauffassung konnte sich in diesem Punkte nicht im Staatsdenken der süddeutschen Liberalen durchsetzen. Es überrascht daher zunächst, daß in neueren Forschungen von BRD-Historikern gerade diese Seite der liberalen Staatstheorie relativ stark hervorgehoben, der Einfluß der Rotteckschen Richtung andererseits heruntergespielt wird. 25 Die Erklärung für den eklektischen und den ausgeprägten Kömpromißcharakter solcher Auffassungen sieht man letztlich 26

vor allem in der Schwäche der bürgerlichen Klassen. Gleichzeitig wird auf recht geschickte Weise versucht, einen Nachweis für den exzeptionellen Charakter der deutschen Verhältnisse im Vormärz und eine ganz "natürliche" Erklärung für das historische Versagen der Bourgeoisie zu liefern. In Wirklichkeit überschätzt man jedoch die Bedeutung jener sogenannten organisch-romantischen Richtung innerhalb des liberalen Denkens, ebenso wie man den Einfluß rational-naturrechtlichen Gedankengutes, namentlich innerhalb des süddeutschen Liberalismus, zu gering bewertet. Der Gedanke von einem Nationalstaat erhielt in der Theorie der süddeutschen Liberalen eine gegenüber der allgemeinen Liberalismus-Theorie etwas modifizierte Fassung. Im Grundsätzlichen ergab sich Übereinstimmung. Zwischen dem Inhalt des von ihnen erstrebten Verfassungszustandes und einem bürgerlichen Nationalstaat bestand nach liberaler Auffassung ein enger Zusammenhang: ein bürgerlicher Nationalstaat war gleichermaßen Voraussetzung wie Ergebnis freier ökonomischer und politischer Betätigung des einzelnen Bürgers. Im Begriff des Nationalstaats der süddeutschen Liberalen spiegelten sich die 27 sozialen und verfassungsmäßigen Merkmale der liberalen Staatslehre wider. Der Nationalstaat sollte nicht als einheitlicher bürgerlich-demokratischer Staat auf revolutionärem Wege geschaffen werden, sondern in Anlehnung an die territorial staatliche Gliederung des Deutschen Bundes als konstitutionell-monarchischer Bundesstaat. 24

Engels, Friedrich, Ernst Moritz Arndt, in: MEW, Ergänzungsband: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844 , 2. Teil, Berlin 1967, S. 127. 25 Vor allem bei Brandt, Hartwig; vgl. hier etwa die Abschnitte "Der organischromantische Konstitutionalismus nach 1820", S. 199-214, und "Die konstitutionell-fortschrittliche Richtung" (Rotteck), S. 255-266. 26 Ebenda, S. 280. 27 Vgl. Schib, Karl, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, phil. Diss., Basel 1927, S. 129.

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Neben der monarchischen Zentralgewalt sollte eine "Nationalrepräsentation", ein zentrales Parlament, amtieren, das die gesamtstaatlichen Belange mit ver28

fassungsmäßigen Mitteln vertreten würde. Mit den Liberalen in Preußen etwa stimmten Rotteck und seine Anhänger in bezug auf Inhalt und Ziel der nationalstaatlichen Entwicklung prinzipiell überein, und einig war man sich auch über die Reformbedürftigkeit der Verfassung des 29 Deutschen Bundes. Was die Art und Weise des Vorgehens, die Reihenfolge und auch die Dringlichkeit der einzelnen Schritte anbetraf, gab es jedoch verschiedenartige Auffassungen. Wir konnten mehrfach sehen, daß im politischen Denken des süddeutschen Liberalismus vor allem - bedingt durch dessen soziale Basis spezifisch ökonomische Interessen der jungen Bourgeoisie eine relativ geringe Rolle gegenüber den allgemeinen Kategorien des bürgerlichen Konstitutionalismus spielten. So beurteilten die süddeutschen Liberalen auch die sich seit Beginn der 30er Jahre abzeichnende Entwicklung zur preußisch-deutschen Zolleinheit aus wirtschaftlichen wie aus politischen Gründen wesentlich zurückhaltender als ein preußischer Liberaler wie Hansemann, wenn auch der Zollschutz nach außen 30 grundsätzlich bejaht wurde. Ein wichtiges Postulat der süddeutschen Liberalen war, daß die nationalstaatliche Entwicklung die konstitutionellen Errungenschaften in den süddeutschen Staaten nicht gefährden dürfe. Sie hielten daher zwar grundsätzlich am bundesstaatlichen Prinzip fest, gaben aber zunächst der Kbnstitutionalisierung der Einzelstaaten den Vorrang. Als Sofortmaßnahme wurde lediglich die Einberufung eines gesamtdeutschen Parlaments gefordert. Die bundesstaatliche Entwicklung, so wäre zu interpretieren, sollte in dem Maße fortschreiten, wie konstitutionelle Einzelstaaten und konstitutionelle Zentralgewalt eine gegenseitige Verzahnung erlaubten. Für die unmittelbare Gegenwart gaben sich Rotteck und seine Anhänger mit 31 dem relativ geringen Zentralisationsgrad eines losen Staatenbundes zufrieden. Rotteck umriß seine Position im Jahre 1832 mit folgenden Worten: "Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit und lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit... Ich will keine Einheit unter den Flügeln des preußischen oder des österreichischen A d l e r s . . . , ich will keine unter der Form einer allgemeinen deutschen Republik, weil der Weg, zu 28 Schmitt, Herbert, a . a . O . , S. 66. 29 Ebenda. 30 Ausführlicher über die Stellung der süddeutschen Liberalen zur Zolleinheit s. unten S. 35. 31 Vgl. Schmitt, Herbert, a . a . O . , S. 66; Schib, Karl, S. 92.

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einer solchen zu gelangen, schauerlich, und der Erfolg oder die Frucht der E r r e i 32 chung höchst ungewisser Eigenschaft erscheint. " Gegenüber liberalen Einheitsanbetern und Wortführern der Hegemonie Preußens lenkte Rotteck damit die Aufmerksamkeit auf den sozialen Inhalt der nationalen Frage. Aber er identifizierte diesen mit dem liberalen Freiheitsbegriff und grenzte ihn von den revolutionären Zielen der Volksbewegung ab. Seine vereinfachende Formel Einheit durch Freiheit wurde dem Zusammenhang zwischen bürgerlichem Freiheitskampf und nationalstaatlicher Entwicklung nicht voll gerecht. Sie resultierte aus einer Betrachtungsweise, die zunächst 33 ausschließlich auf den Konstitutionalismus der Klein- und Mittelstaaten baute. Dieser verbesserte die Bedingungen für die nationalstaatliche Entwicklung jedoch nur in geringem Maße; ein Gegengewicht zu den Hegemonialmächten Preußen und Österreich konnte er nicht sein. Mit Recht hat Friedrich Engels auf das Fehlen einer klaren Perspektive für die nationalstaatliche Entwicklung im politischen Denken 34 der süddeutschen Liberalen hingewiesen und ihren "Kantönligeist" gegeißelt. Als nach 1830 Preußen ökonomisch und politisch erstarkte und die Bourgeoisie sich auch in den süddeutschen Staaten als Klasse formierte, traten in der politischen Orientierung vieler süddeutscher Liberaler Veränderungen ein. Wie viele Bourgeois, so gewöhnten auch sie sich daran, "nach Preußen zu blicken als ihrer 35 ökonomischen und dereinst auch politischen Vormacht" . Pfizer war einer der wenigen namhaften süddeutschen Liberalen, die bereits um 1830 diese Richtung theoretisch antizipierten. In seinem 1831 erschienenen "Briefwechsel zweier Deutscher" trat Pfizer für ein preußisch geführtes36Kleindeutschland ein. Er verwies vor allem auf die Machtstellung Preußens. Den politischen Vorbehalten vieler Liberaler gegenüber Preußen trat Pfizer mit der Umkehrung des Rotteckschen Satzes entgegen, die darauf hinauslief, Freiheit 32

Zitiert nach Trautz, Fritz, Das Hambacher Fest und der südwestdeutsche Frühliberalismus, in: Heidelberger Jahrbücher n, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958, S. 36 f. 33 Ebenda, S. 37. 34 Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd. 21, S. 410, 423. 35 Ebenda, S. 422. 36 Über Pfizers Konzeption vgl. vor allem Rapp, Adolf, P. Pfizers Briefwechsel zweier Deutscher, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, 1935, S. 322 ff.

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durch Einheit zu erlangen: "Nicht zu bezweifeln ist . . . , daß, wenn einmal die Einheit vorhanden ist, die Freiheit, dieses heiligste Besitztum der Völker, die 37 aber ohne die Kraft der Einheit niemals Bestand hat, nicht ausbleiben kann." Auch diese Formel führte zu einer Fehllösung. Sie blieb noch weiter hinter den Forderungen eines demokratischen Nationalstaatsprogramms zurück als das Konzept Rottecks, weil sie selbst den bürgerlichen Kbnstitutionalismus zurückstellte38 und den Weg der direkten Unterordnung unter die Macht Preußens vorzeichnete. Wer von den süddeutschen Liberalen, wie Pfizer, Preußen eine führende Rolle zudachte, erhoffte freilich, daß dessen Politik und Verfassung zuvor nach konstitutionellen Grundsätzen umgestaltet würden. Als 1833 vor allem Preußen und Österreich zum reaktionären Gegenschlag ausholten, hat daher auch Pfizer seine Meinung teilweise korrigieren müssen, wie seine Worte im württembergischen Landtag 1833 erkennen lassen: " . . . ich wollte diejenigen, welche mich falsch beurtheilen, überzeugen, daß die Einheit Deutschlands, welche ich wünsche, die Einheit des Rechtes und der Freiheit ist, und daß ich die Einheit des gesammten Deutschlands nicht um den Preis der Unterdrückung und Vernichtung der einzelnen 39 deutschen Länder erkauft wissen möchte. " Die Staats- und Gesellschaftslehre der süddeutschen Liberalen korrespondierte eng mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen, was wiederum die relative Geschlossenheit ihres theoretischen Programms unterstreicht. Diese Vorstellungen wurden in erster Linie vom Streben nach Erhaltung von Besitz und Vermögen der bürgerlichen Mittelklasse sowie nach sozialpolitischer Absicherung des konstitutionellen Reformprogramms bestimmt. Es ist verständlich, daß die wirtschafts- und sozialpolitischen Ideen in besonderem Maße die in den süddeutschen Staaten herrschenden sozialökonomischen Bedingungen reflektierten. Gegenüber den wirtschaftlich führenden Gebieten, wie dem Rheinland, Schlesien und Sachsen, waren in den süddeutschen Staaten die kapitalistische Entwicklung und die hiermit verbundenen Klassenverhältnisse weniger ausgereift; die kleine Warenproduktion dominierte hier noch in stärkerem Maße. Eine liberale Forderung wie die nach Erhaltung von Besitz und Vermögen erlaubte verschieden37

Pfizer, Paul, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus, Tübingen 1832, S. 5. 38 Allerdings modifizierte Pfizer seine Haltung später dahingehend, daß er gewisse konstitutionelle Vorbehalte gegenüber einer Hegemonie Preußens geltend machte; vgl. Rapp, Adolf, a. a. O., S. 326 f . ; Huber, Ernst Rudolf, S. 38 f. 39 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem ersten Landtage von 1833, Bd. 2, Stuttgart 1833, S. 47.

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artige Ableitungen, je nachdem, ob sie im Interesse der kleinen Warenproduzenten und Händler oder der jungen kapitalistischen Unternehmer Schicht erhoben wurde. So reichte das Spektrum wirtschaftspolitischer Vorstellungen von der Befürwortung einer manchesterlichen Entwicklung bis zur z.T. rückwärts gewandten Kritik am Kapitalismus nebst der Forderung nach Erhaltung von Hand40 werk und Zünften , wobei die letztgenannte Komponente jedoch stärker ausgeprägt war. Dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand in den süddeutschen Staaten entsprechend neigte man zur Ablehnung freihändlerischer Tendenzen. Als Repräsentanten einer Klasse, die sich hauptsächlich auf Manufakturkapitalismus und Handwerk stützte, standen die Theoretiker des süddeutschen Liberalismus vor allem dem heraufziehenden Industriekapitalismus mit Skepsis gegenüber. Dieser bedrohte nicht nur die soziale Sicherheit des Kleinbürgertums und eines Teiles der bürgerlichen Mittelklasse, er gefährdete ihrer Ansicht nach durch die sich vertiefende Klassenspaltung und durch revolutionäre Konflikte zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten auch die Verwirklichung ihres konstitutionellen Reform Programms. So erklärt es sich, daß die Theoretiker des Staatslexikons neben ihrer zünftleri sehen Kritik am Kapitalismus auch eine Reihe echter sozialer Mißstände des beginnenden Industriekapitalismus aufdeckten, wie die ungleiche Verteilung von Besitz und Vermögen, insbesondere die Verarmung des Proletariats, Frauen- und Kinderarbeit, Trunksucht, Seuchen und Krankheiten und aii41 deres. Doch ihre soziale Kritik enthüllte selbstverständlich nicht das Wesen der neuen Produktionsweise, auch erkannte sie noch nicht die gesellschaftliche Bedingtheit jener Mißstände, 42 sondern machte hierfür vor allem Industrie und Maschine verantwortlich. Hieraus resultiert eine statt auf die Durchsetzung des gesellschaftlichen und industriellen Fortschritts auf die Bewahrung überlebter Verhältnisse gerichtete Tendenz ihrer sozialen Kritik. Wenn die Theoretiker des süddeutschen Liberalismus einerseits einen Beitrag zur Aufdeckung sozialer Mißstände des beginnenden Kapitalismus leisteten, so haben sie andererseits alles getan, um den Verdacht "sozialistischer" Anwandlungen von sich zu weisen. Das zeigt die namentlich an verschiedenen Stellen des Staatslexikons 40 Vgl. Haferland, Hans, Mensch und Gesellschaft im Staatslexikon von RotteckWelcker. Ein Beitrag zur Gesellschaftstheorie des Frühliberalismus, phil. Diss.,Westberlin 1957, S. 174. 41 So Staatslexikon V, S. 237 ff.; XI, S. 432; Supplementband 2, S. 25, 718; 3, S. 468. 42 So z. B. Mohl und Rotteck in Staatslexikon VI, S. 799 ff., bzw. X, S. 380 ff.

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geführte Auseinandersetzung mit den französischen utopischen Sozialisten. Ungeachtet ihrer Kritik an partiellen Mißständen grenzten sich die Theoretiker des süddeutschen Liberalismus in den Hauptpunkten vom utopischen Sozialismus eindeutig ab, etwa indem sie eine revolutionäre Veränderung des Gesellschaftszustandes ebenso ablehnten wie alle Schritte gegen das Privateigentum oder wie die 43 Gütergemeinschaft. Statt dessen empfahlen sie - dem Grundsatz "laissez faire, laissez aller" folgend - zur Behebung der sozialen Mißstände das Prinzip der Selbsthilfe bzw. der Selbstregelung. Versicherungsvereine, Spar- und Hilfskassen, die Pflege von Bildung und Religion sollten dem Notstand vorbeugen oder Abhilfe 44 schaffen. Darüber hinaus wurden von Wortführern des süddeutschen Liberalismus - wenn auch vereinzelt - Elemente einer wesentlich moderneren bürgerlichen Sozialpolitik entwickelt; Arbeiter sollten eine zusätzliche Gewinnbeteiligung erhalten, selbst kapitalistisches 45 Eigentum erwerben und damit zu Kleinunternehmern umfunktioniert werden. Obwohl die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der süddeutschen Liberalen sowohl Elemente kleinbürgerlichen Denkens als auch antikapitalistische Vorstellungen enthielten, entsprachen sie im ganzen durchaus den Grundinteressen der bürgerlichen Klasse. Ihr Hauptinhalt war die Erhaltung von Besitz und Sicherheit des Bürgers unter kleinstaatlich-konstitutionellen Verhältnissen. Sie korrespondierten also mit der politischen Theorie der süddeutschen Liberalen im allgemeinen. Die Forderung nach politischen Grundrechten für alle Bürger war ein Grundpfeiler der politischen Theorie der süddeutschen Liberalen. Neben einem Parlament und seinen verfassungsmäßigen Rechten wurden diese Grundrechte als wichtigste Garantien für den Konstitutionalismus betrachtet. Die am häufigsten erhobenen Forderungen waren die nach Einführung von Schwurgerichten sowie Mündlichkeit und Öffentlichkeit im Strafverfahren, von Presse- und Versammlungsfreiheit, von Selbstverwaltung und von Verbesserungen im Zensuswahlrecht. Dagegen wurde die von revolutionären Demokraten geforderte Volksbewaffnung von den Liberalen abgelehnt. Die meisten von ihnen widersetzten sich auch dem allgemeinen Wahlrecht. 46 Dennoch hätte die Verwirklichung der von den Liberalen gefor 43 So Staatslexikon VI, S. 812 ff.; VII, S. 290; Suppl. 2, S. 73, 271 ff.; vgl. ferner Haferland, Hans, S. 34 ff. 44 Staatslexikon H, S. 12 ff.; Suppl. 3, S. 643; vgl. ferner Schumacher, Martin, S. 318 f. 45 Staatslexikon VI, S. 816 f . ; Suppl. 2, S. 718 ff. 46 Loewenstein, Bedrich, a . a . O . , S. 828.

Süddeutscher Liberalismus derten Rechte auch den Interessen des Volkes entsprochen.

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Dies lag vor allem

darin begründet, daß die Bourgeoisie objektiv in bestimmtem Maße antifeudale Interessen bzw. Interessen der Gesamtopposition vertrat und die Volksmassen als Triebkraft im Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung benötigte.^® Die V e r treter des Reformliberalisms schwächten allerdings gerade dieses Moment in ihr e r politischen Theorie ab und grenzten sich von konsequent-demokratischen F o r derungen ab. Ein weiterer Mangel des liberalen Grundrechtprogramms lag darin, daß die liberalen Theoretiker die Bedeutung der Grundrechte verabsolutierten und vielfach von den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie verwirklicht werden sollten, abstrahierten. Das Grundrechtprogramm trug dazu bei, daß die Liberalen in Süddeutschland - in stärkerem Maße a l s in anderen Gebieten der antifeudalen Oppositionsbewegung ideologische Impulse vermittelten. Die konstitutionellen Illusionen, mit denen dieses Programm - wie die politische Theorie der Liberalen insgesamt - verknüpft war, wirkten sich jedoch andererseits retardierend auf die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins der Massen aus. Die politische Theorie des süddeutschen Liberalismus schloß - so war zu sehen - ein auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der bürgerlichen Mittelklasse zugeschnittenes Programm ein, das jedoch auch für bestimmte Forderungen der entschiedenen bürgerlichen Kräfte, ja sogar der Volksbewegung, offen blieb. Diese Zwiespältigkeit, die in ähnlicher Weise auch in der politischen Praxis des süddeutschen Liberalismus nachzuweisen ist, ist nicht nur für den deutschen Liberalismus typisch. Als Ideologie und Bewegung einer Ausbeuterklasse, der unter den Bedingungen des antifeudalen Kampfes im Prozeß der Durchsetzung und der Festigung des Kapitalismus objektiv eine führende Rolle zufällt, besitzt der Liberalismus von Anfang an stets und überall einen Doppelcharakter. Diesen Doppelcharakter und zugleich die jeweils dominierende Seite im Verhalten der Bourgeoisie unter den jeweils konkreten Bedingungen des antifeudalen Umwälzungsprozesses richtig herauszuarbeiten, ist eine der wichtigsten Aufgaben bei der Erforschung u . a . auch der Geschichte des deutschen Volkes in der ersten

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Von einem ständigen Ineinandergreifen "demokratischer und liberaler Gedanken" im politischen Denken der südwestdeutschen Frühliberalen kann jedoch keine Rede sein (zu Trautz, Fritz, a . a . O . , S. 19). Zum Verhältnis Bourgeois-Gesamtopposition nimmt auch Loewenstein Stellung; er betrachtet jedoch m. E. die Abgrenzung der Liberalen von konsequent demokratischen Forderungen zu stark als Spezifikum des deutschen Liberalismus; vgl. Loewenstein, Bedrich, a . a . O . , S. 840 f.

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Hälfte des 19. Jh. Hier und an einigen anderen Stellen dieses Aufsatzes kann das Problem, das uns auch in der Geschichte des süddeutschen Liberalismus entgegentritt, nur in aller Kürze umrissen werden. Unter den Bedingungen des antifeudalen Kampfes führte der gemeinsame Gegensatz zum Feudalsystem sowohl die Bourgeoisie a l s auch die revolutionäre Volksbewegung in die antifeudale Oppositionsfront. Wenngleich der übergeordnete antifeudale Gegensatz die sozialen Konflikte innerhalb der Opposition nicht überbrücken konnte, machte er doch ein politisches Bündnis beider Partner zum beiderseitigen Vorteil objektiv möglich. Ob und inwieweit sich ein solches Bündnis jedoch r e a l i sieren läßt, hängt - selbst beim Vorhandensein aller objektiven Voraussetzungen für den revolutionären Kampf - stets auch von einer Reihe subjektiver Faktoren, namentlich von der Bereitschaft der Bourgeoisie zur Führung der Revolution ab. Unter den ökonomischen und politischen Bedingungen um 1830 in Deutschland, a l s sich die Bourgeoisie noch nicht endgültig a l s Klasse formiert hatte, aber bereits mit revolutionären Massenaktionen in Berührung gekommen war, und a l s sich überdies in Süddeutschland Möglichkeiten für eine konstitutionelle Entwicklung ergaben, begann die bürgerliche Klasse nach anderen Wegen zu suchen, ihre Klassen- bzw. Ausbeuterinteressen durchzusetzen. Das Konzept der konstitutionellen Reformpolitik war jedoch zunächst lediglich die Antwort einer Fraktion der deutschen Bourgeoisie auf die Fragen des antifeudalen Kampfes unter den Bedingungen der 30er Jahre des 19. Jh. Diese Tatsache schloß jedoch nicht aus, daß die deutsche Bourgeoisie im weiteren Verlaufe des sich seit den 30er Jahren v e r schärfenden antifeudalen Kampfes diesen unter Umständen auch mit revolutionären Mitteln zu führen bereit war. Zwischen den politischen Ideen und den Aktivitäten der süddeutschen Liberalen - der Tätigkeit im Parlament sowie im außerparlamentarischen politischen Bereich bestand ein enger Zusammenhang. Ähnlich wie die Theorie, so war auch die politische Praxis des süddeutschen Liberalismus zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jh. vor allem darauf ausgerichtet, Teilschritte auf dem Wege zum bürgerlichen V e r fassungs- und Rechtsstaat zu vollziehen. Auch in der praktischen Tätigkeit der süddeutschen Liberalen offenbarte sich die bereits bekannte politische Grundhaltung: Soweit es für die Durchsetzung ihres konstitutionellen Reformprogramms erforderlich war, nahmen die Liberalen - im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten - in bestimmten Fragen eine antifeudale Haltung ein. Gleichzeitig grenzten sie sich von konsequent-demokratischen Forderungen und revolutionären Aktionen ab und betonten ihren Legalitätsstandpunkt. Parlament, P r e s s e und Publizistik,

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Vereins- und Versammlungstätigkeit waren daher die Hauptgebiete ihres politischen Wirkens. Ungeachtet der gemäßigten politischen Grundhaltung der süddeutschen Liberalen stieß jedoch ihr Bemühen, selbst nur begrenzte konstitutionelle Reformen auf v e r fassungsmäßigem Wege durchzusetzen, fast überall auf den energischen Widerstand des halbfeudalen Regimes. Ohne die Bereitschaft der Krone zu politischen Konzessionen boten sich für die Liberalen - sofern sie an der Ablehnung revolutionärer Aktionen festhielten - allerdings kaum Chancen, ihr Programm in seiner Gesamtheit durchzusetzen. Dennoch hielten sie, selbst als sich b e r e i t s 1832/33 die neue Repressionsperiode ankündigte, unverrückbar an ihrem Verfassungsstandpunkt fest. "Die beschworene Pflicht, unsere Verfassung heilig zu halten", so lautet eine für diese Haltung typische Äußerung P f i z e r s noch aus dem J a h r e 49 1833, "steht höher als jede politische Berechnung." Da sich in Baden, Württemberg und Bayern seit 1818/19 im Rahmen der b e stehenden Verfassungen eine bescheidene parlamentarische Praxis entwickelt hatte, bot sich zunächst in den vorhandenen parlamentarischen Einrichtungen, d. h. in den Landtagen, ein praktisches Tätigkeitsfeld an. Nachdem im Anschluß an die P a r i s e r Julirevolution auch in einer Reihe deutscher Staaten das halbfeudale Regime durch revolutionäre Aktionen der Volksbewegung erschüttert worden war, drängten die süddeutschen Liberalen auf die beschleunigte Einberufung der Landtage. Am stärksten entfaltete sich die parlamentarische Aktivität der L i b e r a len in dem an Frankreich und an die linksrheinische Pfalz grenzenden Baden. Dank der Unterstützung durch die Volksbewegung errangen die Liberalen hier unter der Führung von Rotteck, Welcker, Itzstein und Mittermaier die Mehrzahl der Sitze in dem am 1. März 1831 eröffneten Landtag. Auch in den bayrischen Landtagswahlen hatten die Liberalen einen starken Stimmenzuwachs erhalten. In dem etwa zur selben Zeit wie in Baden eröffneten Landtag (20. Februar 1831) verkörperten sie eine starke Gruppe unter der Führung von Ignaz v. Rudhart. In Baden, wo revolutionäre Ideen und der Konstitutionalismus überall lebendig waren, hatten die liberalen Kandidaten in nahezu allen Teilen des Landes, besonders in den größeren Orten und in den Städten, Siege errungen. In Bayern waren die Wahlen außer in der Rheinpfalz vor allem in Mittelfranken, im sogenannten Rezatkreis, sowie in Städten wie Würzburg oder Ansbach für die Liberalen erfolg -

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Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten..., Bd. 2, S. 49.

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reich verlaufen. Lediglich in Württemberg widersetzte sich die Regierung e r folgreich dem Verlangen der Liberalen um Pfizer, Römer und Schott nach beschleunigter Einberufung des Landtages. Die von den Liberalen mit Hilfe von Presseartikeln und öffentlichen Erklärungen eingeleitete und von weiten Kreisen 51 der Bevölkerung unterstützte Kampagne und sogar ein von 46 liberalen Abgeord52 neten unterzeichneter Aufruf an die Regierung hatten keinen Erfolg. So konstituierte sich der Landtag, dem Willen der Regierung gemäß, erst am 15. Januar 1833. Aus der Fülle der Debatten und Anträge kristallisierten sich vor allem folgende Hauptforderungen der süddeutschen Liberalen heraus, die zugleich auch wichtige Punkte ihres konstitutionellen Programms waren: Abschaffung der Zensur, Entscheidung über den Staatshaushalt, Bundesreform, Verbesserung der verfassungsrechtlichen Stellung von Parlament und Abgeordneten sowie die Reform der Agrarverfässung durch Ablösung einiger Feudallasten. In einigen Punkten, so bei der Aufhebung bzw. Einschränkung der Zensur und der Ausübung des Budgetrechtes, vermochten die Liberalen ihre Interessen vorübergehend zur Geltung zu bringen. Sie konnten hierbei den Umstand nutzen, daß sich die Feudalkräfte infolge revolutionärer Aktionen und der politischen Aktivität breiter Volksschichten nach 1830 zeitweilig zum Einlenken genötigt sahen. Die Pressefreiheit zu erlangen, war für den deutschen Liberalismus des Vormärz ein hochwichtiger Programmpunkt. Die Liberalen betrachteten Presse und Publizistik als ein äußerst wertvolles Instrument zur Gewinnung der öffentlichen Meinung, die - ihrer Auffassung nach - für die Durchsetzung ihres Reformprogramms von großer Bedeutung war. "Einer solchen Gewalt gegenüber werden die 50 Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München (im folgenden: HStaM), Staatsrat, Nr. 3053, o. P. Zur Opposition im bayrischen Landtag gehörten u.a. die Abgeordneten Scheuing, Schäffer, Reuthner, Lösch, Thomasius, Schalkhäuser, Weinmann, Zinn, Martius. 51 Vgl. etwa die Adresse von 1400 Einwohnern aus dem Oberamt Ravensburg an die württembergische Regierung (Juli 1832) sowie das etwa zur selben Zeit erschienene Flugblatt "Protestation und dringende Bitte", welche sich beide für die unverzügliche Einberufung des württembergischen Landtags aussprachen: Akten des Hauptstaatsarchivs Stuttgart (im folgenden: HStaS), E 9, Königliches Kabinett I, Nr. 58; Aufwieglerische Flugschriften 1832-1833, o. P. 52 Es handelte sich um einen von der Versammlung oppositioneller Landtagsabgeordneter in Bad Boll am 30. April 1832 verabschiedeten Aufruf: Schwäbischer Merkur, Extra-Beilage, 11. 5.1832.

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Machthaber nie Staatsstreiche wagen und nicht dem Vorwärtsschreiten Einhalt 53 zu thun vermögen. " Diese Worte des linksliberalen Publizisten Victor v. Coremans sind durchaus typisch für die unter den Liberalen verbreitete Überschätzung der Bedeutung einer freien Presse. Da die Unterdrückung und Knebelung der öffentlichen Meinung vor allem seit den Karlsbader Beschlüssen das erklärte Ziel des reaktionären Deutschen Bundes war, erhielt der Kampf um Pressefreiheit a l lerdings noch einen zusätzlichen Angriffspunkt. Dabei führten die süddeutschen Liberalen den Kampf um eine freie Presse mit mannigfachen Mitteln. So wurden Vereine zur Förderung und Verbreitung der oppositionellen Presse und Publizistik gegründet, deren bekanntester der "Preß- und Vaterlandsverein" war, der auch über Süddeutschland hinaus Bedeutung erlangte. Gleichzeitig versuchten die liberalen Abgeordneten in den Landtagen, die Pressefreiheit verfassungsmäßig zu verankern. Im bayrischen und badischen Landtag erreichten die Liberalen 1831 die vorübergehende Aufhebung der seit 1818/19 geltenden reaktionären Zensurvorschriften. In Baden und Württemberg konnte die Zensur bereits seit Ende 1830 zum Teil umgangen werden. In Bayern, wo Krone, Bürokratie und Feudalklasse der antifeudalen Bewegung stärkeren Widerstand entgegensetzten, war am 28. Januar 1831 eine neue Zensurverordnung erlassen worden. Die Abgeordnetenkammer hatte sich daraufhin bereits am 4. März 54 für die Verabschiedung eines fortschrittlichen Pressegesetzes ausgesprochen. Schließlich setzte es die Parlamentsopposition durch, daß die Verordnung am 13. Juni 1831 zurückgenom55 men wurde. Dieser Erfolg erhielt dadurch noch zusätzliches Gewicht, daß gleichzeitig der für die Ausübung der Zensur verantwortliche bayrische Innenminister Schenk zum Rücktritt gezwungen wurde. Der Versuch, ein fortschrittliches Pressegesetz zu verabschieden, scheiterte jedoch vor allem am Widerstand der Krone und der ersten Kammer, der durch die56Kompromißbereitschaft von liberalen Abgeordneten faktisch noch gefördert wurde. Die badischen Liberalen erzielten in dieser Frage einen größeren Erfolg. Sie verfügten nicht nur über eine bessere Position im badischen Landtag, sondern in 53 Blätter aus Unterfranken, hrsg. von V. Coremans, Nr. 10, 8. 3.1832. 54 Erklärung der bayerischen Abgeordneten-Kammer an den Konig vom 4. 3.1831: HStaM, Staatsrat, Nr. 3053, o. P. 55 Huber, Ernst Rudolf, S. 33; ferner Doeberl, Michael, Entwicklungsgeschichte Bayerns, Bd. 3, München 1931, S. 106. 56 Vgl. hierzu Erklärung und Antrag Seufferts im bayrischen Landtag, die diese Kompromißbereitschaft verdeutlichen: Bauer, Edgar, Geschichte der constitutionellen und revolutionären Bewegung im südlichen Deutschland in den Jahren 1831-34, Charlottenburg 1845, Bd. 2, S. 26.

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Baden sah sich die großherzogliche Regierung durch die revolutionäre Aktivität breiter Volksschichten auch zu größerer Rücksichtnahme auf die Forderung der Liberalen gezwungen. Welcker hatte bereits im Jahre 1830 wegen der Aufhebung 57 der Zensur vergeblich an den Bundestag appelliert. Wenige Wochen nach E r 58 Öffnung des badischen Landtages wiederholte er hier seine Forderung. Ähnlich wie in Bayern weitete sich auch in Baden die Debatte zu einer Auseinandersetzung 5S über Grundfragen des Könstitutionalismus aus. Die Liberalen forderten neben der Pressefreiheit auch die Änderung des Gerichtsverfahrens bei Pressevergehen, nämlich die Einführung von Schwurgerichten. Rotteck und Welcker nahmen überdies die Auseinandersetzung über die Pressefreiheit zum Anlaß, das Recht Badens zu bekräftigen, seine Verfassung, auch im Widerspruch zum Deutschen Bund, selbständig zu verbessern. Pfizer, der 1833 im württembergischen Landtag zum 60 selben Thema sprach, bekannte sich ebenfalls zu diesem Grundsatz. Wie in Bayern, so setzten auch in Baden die Liberalen erfolgreich ihr Budgetrecht in der Pressegesetzgebung als Druckmittel ein. So kam das Preßgesetz vom 28. Dezember 1831 zustande, das die Pressefreiheit - außer für Angelegenheiten des Bundes und anderer deutschen Staaten - fixierte. Die sechs Artikel der Frankfurter Bundesversammlung von 1832 machten allerdings die Errungenschaften des süddeutschen Liberalismus auf dem Gebiete der Pressegesetzgebung rasch wieder zunichte. Die vorübergehend erkämpfte Pressefreiheittrug dennoch zur Verbreitung oppositionellen - sowohl liberalen als auch demokratischen - Gedankenguts in der Öffentlichkeit bei. Wie die Debatten über Pressegesetze und Pressefreiheit zeigten, war vor allem das Budgetrecht der Kammern nicht nur als direkter, sondern auch als indirekter Verhandlungsgegenstand von nicht geringer Bedeutung. Da das Budget verfassungsgemäß für jede Legislaturperiode bewilligt werden mußte, besaßen die Kammern die Möglichkeit, die Bewilligung des Staatshaushaltes von Konzessionen in der Gesetzgebung abhängig zu machen. Die parlamentarische Tätigkeit der süddeutschen Liberalen zu Beginn der 30er Jahre des 57

Treitschke, Heinrich v., Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 4. Teil, Leipzig 1927, S. 226. 58 Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 65 ff. 59 Zur Debatte über das Preßgesetz ebenda, S. 190 ff.; Huber, Ernst Rudolf, 5. 41; Treitschke, Heinrich v., S. 226. ff. 60 Vgl. hierzu Glück, O., Beiträge zur Geschichte des württembergischen Liberalismus 1833-48, phil. Diss., Tübingen 1931, S. 39 ff.; Huber, Ernst Rudolf, S. 38. 61 Näheres ebenda, S. 43 f. und 154 ff.

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19. Jh. ist daher ein anschauliches Beispiel für ihre Taktik, das Budgetrecht als Druckmittel zu benutzen, um konstitutionelle Zugeständnisse zu erhalten. Einzelne Erfolge, wie die in der Pressegesetzgebung, wurden als Beweis für die Richtigkeit dieser Taktik betrachtet. Ohne verfassungsmäßig gesicherte Verantwortlichkeit des Monarchen und der Minister hafteten diesem Recht allerdings formale Züge an. Überdies zeigte die Praxis in den süddeutschen Kammern, daß sich für die konsequente Anwendung dieses Rechtes zugunsten der Opposition nur selten eine Mehrheit fand. So erreichten die Liberalen im bayrischen Landtag 1831 zwar eine Kürzung der Ausgaben, doch gelang es ihnen, wie auch den badischen Liberalen, beispielsweise nicht, mit Hilfe des Budgetrechts die Vereidigung des 62

Heeres auf die Verfassung durchzusetzen. Auch eine generelle Verbesserung der verfassungsmäßigen Stellung der Kammern, wie sie den liberalen Vorstellungen vom Repräsentativstaat entsprachen, konnten die süddeutschen Liberalen nicht erreichen. Nur in einem Einzelfall, beim Sturz des bayrischen Innenministers Schenk, war es gelungen, das Prinzip der ministeriellen Verantwortlichkeit faktisch zur Geltung zu bringen. Gesetze über die Verantwortlichkeit der Minister kamen jedoch nicht zustande. Gerade das Beispiel Bayern 1831 zeigt, wie sich die Regierung durch ihre Taktik des Nachgebens in einzelnen Punkten ohne verfassungsrechtliche Konzessionen ihren Handlungsspielraum bewahrte. So behielt sie die Möglichkeit, jederzeit - sofern es die Umstände zuließen - einen härteren Kurs einzuschlagen, ohne sich einer Verfassungsklage auszusetzen. Mit Recht wies eine nach der Aufhebung der Zensurverordnung im August 1831 in Bayern erschienene Broschüre mit dem Titel "Dringende Erinnerung an die nun über 6 Monate versammelten Abgeordneten des bayerischen Volkes", die wahrscheinlich der Liberale Wilhelm Joseph Behr herausgegeben hatte, auf die allgemeine Reformbedürftigkeit von Verfassung und Verwaltung hin. Als besondere Punkte wurden in diesem Zusammenhang vor allem die Reform des Strafgesetzes 63 sowie die Kontrolle von Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk genannt. Ein weiteres Anliegen der liberalen Parlamentarier war es, die Unabhängigkeit der Abgeordneten gegenüber der Regierung zu sichern. Eine namentlich von den Regierungen in Bayern und Württemberg praktizierte Taktik bestand darin, 62

Vgl. Doeberl, Michael, S. 107; Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 134 ff. ; Huber, Ernst Rudolf, S. 35; Treitschke, Heinrich v., S. 239 f. 63 Zit. nach Pfeiffer, Eva, Wilhelm Joseph Behr. Studie zum bayerischen Liberalismus der Metternich-Zeit, phil.Diss., München 1936, S. 62.

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in einer Reihe von Fällen Abgeordneten wegen ihrer Gesinnung die Beurlaubung vom Staatsdienst bzw. ihre Wählbarkeit streitig zu machen. Die Verweigerung der Abgeordnetenmandate durch die Regierungen der süddeutschen Staaten ist ein Musterbeispiel für die auch nach 1830 weiterhin geübte Praxis der Rechtsbeugung und des Verfassungsbruchs. In Bayern nutzte die Regierung eine schikanöse InkompatibilitätsbeStimmung aus, in Württemberg wurden politische Vergehen und längst verbüßte Festungsstrafen aus den 20er Jahren als pseudorechtliche Grundlage ausgenutzt, um insgesamt 10 Abgeordneten die Ausübung ihrer Mandate 64 zu verwehren. In Württemberg waren die liberalen Abgeordneten Wagner, Kübel, Rödinger und Friedrich Tafel sowie der ehemalige Minister Wangenheim, in Bayern u. a. die Abgeordneten Behr und Closen betroffen. Nur in einem einzigen Falle gelang es, einen derartigen 65 Eingriff in die Rechte der Abgeordneten mit gesetzliehen Mitteln zu unterbinden. In den anderen Fällen wurde den Abgeordneten die Ausübung ihres Mandates verwehrt, zumindest jedoch erschwert, was wiederum auch die Grenzen einer politischen Taktik erkennen läßt, die nur auf legale Möglichkeiten orientierte. Ebenso erfolglos wie der Streit um die Abgeordnetenmandate verlief für die bayrischen Liberalen auch die parlamentarische Auseinandersetzung über die Inkompatibilitätsbestimmung. Diese Bestimmung machte bei besoldeten Hofdienern, unmittelbaren Staatsdienern, rechtskundigen Bürgermeistern, Offizieren und Militärbeamten sowie Pensionären aus Hof- oder Staatskassen die66 Ausübung von Abgeordnetenmandaten von der Zustimmung des Königs abhängig. Formal war diese Bestimmung aus dem konstitutionellen Grundsatz der Unvereinbarkeit von Amt und Mandat abgeleitet. In Wirklichkeit wurde sie jedoch als Instrument der politischen Bevormundung und Reglementierung Andersdenkender benutzt, da sie ausschließlich gegen die Vertreter der politischen Opposition angewandt wurde. Schon am 4. März 1831 hatte die bayrische Abgeordnetenkammer verlangt, die Inkompatibilitätsbestimmung müsse "durch ein dem 67 Geiste der Verfassung angemessenes erläuterndes Gesetz" ersetzt werden.

Der Landtags-

opposition gelang es jedoch lediglich, die "rechtskundigen Bürgermeister" von der Inkompatibilität zu befreien. 68 Für die anderen Personenkreise behielt die Ein64 Vgl. HStaM, Staatsrat, Nr. 2789, o. P . , und Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten..., Bd. 1, S. 13. 65 Zu dieser Frage insgesamt Glück, O., S. 29 f. und 46; Doeberl, Michael, S. 102; Treitschke, Heinrich v., S. 237 und 283; Huber, Ernst Rudolf, S. 34 f . , 39. 66 HStaM, Staatsrat, Nr. 2789, O.P. 67 Ebenda, Nr. 3053, O.P. 68 Ebenda, Nr. 2789, O.P.

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willigungsklausel dagegen Gültigkeit. Damit verblieb der Regierung ein Mittel des Gesinnungsdrucks auf oppositionelle Abgeordnete, und sie hatte - was von allgemeiner Bedeutung war - das Prinzip der Einmischung in parlamentarische Angelegenheiten erneut durchgesetzt. Solange die Liberalen nicht von ihrem Legalität sStandpunkt und von den Grundsätzen ihres Verfassungsdenkens abwichen, unterwarfen sie sich den Spielregeln eines scheinkonstitutionellen Systems, das noch immer in erster Linie von Krone und Bürokratie manipuliert und gesteuert wurde. Die Folge mußte sein, daß die Durchsetzung ihres Reformprogramms behindert wurde. Namentlich in der parlamentarischen Praxis der süddeutschen Liberalen in den 30er Jahren finden sich eine Reihe von Beispielen, die diesen Zusammenhang deutlich werden lassen. In Baden, wo die Liberalen im Landtag eine eindeutige Mehrheit besaßen, scheiterten ihre relativ weitgehenden Vorschläge zur Agrarreform - wie in der Preßgesetzdebatte in Bayern - am Widerstand der ersten Kammer, die - wie zu sehen war - gerade von ihnen als verfassungsmäßige Institution bejaht wurde. Die Abgeordneten Rotteck und Albert Knapp hatten in der badischen Kammer die Ablösung der Frohnden und Zehnten gefordert. Als Ablösungssumme sollte lediglich eine minimale Nominalentschädigung festgesetzt werden. Die Vorlage unterschied sich von der üblichen liberalen Agrargesetzgebung dadurch, daß sie die Interessen der Bauern stärker zur Geltung brachte. Durch den Widerspruch der ersten Kammer kam jedoch ein Ablösungsgesetz zustande, das auf einen Interessenausgleich mit den Feudalherren zugeschnitten war und - wie in den meisten anderen Staaten - auch den badischen Bauern hohe 69 Ablösungssummen aufbürdete. Die parlamentarische Tätigkeit der süddeutschen Liberalen wurde vor allem durch die Praxis des kleinstaatlichen Konstitutionalismus und das Bemühen um die Umsetzung ihres Reformprogramms in die praktische Politik bestimmt. Dieser Konstitutionalismus sollte durch eine Bundesreform Ergänzung und politische Absicherung erhalten. Der Antrag Welckers auf "Vervollkommnung der organischen Entwicklung des Deutschen Bundes zur bestmöglichen70Förderung Deutscher Nationaleinheit und Deutscher staatsbürgerlicher Freiheit" vom 15. Oktober 1831 griff somit eine auch von anderen bekannten süddeutschen Liberalen wie Friedrich von Gagern und Wilhelm Schulz vertretene Forderung auf. Der Antrag 69

Zur Debatte über die Aufhebung der Feudallasten Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 166 ff. 70 Ebenda, Bd. 2, S. 34 ff.

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zielte nicht auf eine Ablösung des reaktionären Bundestages, sondern - analog zur liberalen Staatslehre - auf seine "organische Weiterentwicklung", d.h. seine Ergänzung durch ein Nationalparlament. Trotz ihres gemäßigten Charakters stieß diese Forderung bereits auf den Widerstand der badischen Regierung, die den Liberalen - schon in Vorwegnahme der sechs Artikel - die Zuständigkeit für d e r artige Anträge bestritt. Es veranschaulicht wohl auch den Stellenwert dieser F o r derung im politischen Programm der badischen Liberalen, daß sie daraufhin von einer Beratung des Antrages im Plenum absahen. Die Perspektive einer nationalstaatlichen Entwicklung auf dem Wege von oben wurde von den süddeutschen Liberalen unter den gegebenen Machtverhältnissen in der Mehrzahl zurückhaltend beurteilt. Hierin unterscheidet sich die Position des süddeutschen Liberalismus ohne Zweifel von der des preußisch-norddeutschen Liberalismus, vor allem in den Jahrzehnten nach 1840. Hierfür gibt e s m e h r e r e Gründe. Einerseits waren die wirtschaftlichen Hauptinteressen der süddeutschen Bourgeoisie in geringerem Maße auf die Schaffung und Entwicklung des Binnenmarktes konzentriert, wie etwa die sehr zwiespältige Haltung der süddeutschen Liberalen zum Zollverein zeigt. Andererseits erblickten die Liberalen in der Stärkung des Bundes eine Gefahr für die eigene Entwicklung, sofern jene nicht mit 71 konstitutionellen Garantien verbunden war. Eine Zentralisierung unter den gegebenen Machtverhältnissen mußte aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Ausweitung des Einflusses der Hegemonialmächte verbunden sein. Sie gefährdete nach Auffassung der Liberalen die konstitutionellen Errungenschaften in den süddeutschen Staaten oder doch zumindest die Realisierung des Reformprogrammes. Die reaktionären Bundesbeschlüsse von 1832 und 1834, die u . a . auch eine Zurücknahme aller nach 1830 auf Landesebene verabschiedeten fortschrittlichen Verfassungen und Gesetze verlangten, bewiesen, daß die Befürchtungen der süddeutschen Liberalen berechtigt waren. Die Proteste der Abgeordnetenkammern gegen diese Beschlüsse - am bekanntesten hiervon war die Motion P f i z e r s im württembergi72 sehen Landtag vom 13. Februar 1833 - blieben ohne Erfolg. Festgehalten aber werden kann, was sich in den Debatten der süddeutschen Kammern über das V e r hältnis von Bundesreform und Einzelstaaten zeigte, nämlich das Bemühen einer 71 72

Vgl. Ausführungen über den Nationalstaatsbegriff der süddeutschen Liberalen (obenS. 18 ff.). Auch a l s Sonderdruck erschienen: Pfizer, Paul, Motivirter Antrag, betreffend die Beschlüsse des Bundestags vom 28. Juni 1832, entwickelt in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg am 13. Februar 1833, Stuttgart 1833.

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Reihe von Liberalen - im Gegensatz zu Einheitsanbetern späterer Jahrzehnte -, die nationalstaatliche Entwicklung unter dem Aspekt ihres politischen und sozialen Inhaltes zu sehen. Der Anteil und die Ergebnisse der parlamentarischen Tätigkeit der süddeutschen Liberalen auf dem Gebiet der Gesetzgebung von 1830 bis 1833/34 waren nicht sehr umfangreich. Nicht zu unterschätzen war jedoch die Tatsache, daß die e r s t e Generation der süddeutschen Liberalen Erfahrungen in einer Institution sammelte, die objektiv eine Reihe von Möglichkeiten für den antifeudalen Kampf bot. In den Verhandlungen der süddeutschen Kammern traten - analog zum politischen Differenzierungsprozeß außerhalb des Parlamentes - in bestimmten Punkten verschiedene Positionen, ein unterschiedliches Maß an Konsequenz innerhalb der liberalen Opposition zutage. Das war u. a. in den bayrischen Debatten über das Preßgesetz und die Ministerverantwortlichkeit sowie in der Haushaltsdebatte des württember73

gischen Landtags von 1833 der Fall.

Verlauf und Ergebnisse der Parlaments-

tätigkeit der Liberalen in den 30er Jahren vermitteln ferner die Erkenntnis, daß der Erfolg der Parlamentsopposition wesentlich vom Stand der revolutionären Auseinandersetzung im allgemeinen abhängt, was den objektiven Zusammenhang zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf unterstreicht. Andererseits trat unter den Bedingungen des außerparlamentarischen politischen Kampfes das Wesen der liberalen Politik deutlicher hervor a l s in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Durch ihre Tätigkeit im Parlament, wo die Liberalen die alleinigen Opponenten des halbfeudalen Systems waren, vermochte sich eine Reihe von ihnen - nicht ohne Erfolg - mit dem Nimbus wirklicher Volksvertreter zu umgeben, zumal, wenn sich Teilerfolge einstellten. Außerhalb der Parlamente gerieten nicht wenige Liberale durch ihre Opposition gegenüber den Feudalkräften unter gleichzeitiger Abgrenzung von der revolutionären Volksbewegung in die makabre Situation des Sitzens zwischen zwei Stühlen. Doch gab e s auch hier wiederum Gegenbeispiele, etwa den Würzburger Bürgermeister Behr, der konstitutionelle Prinzipien mit großer Standhaftigkeit gegenüber dem halbfeudalen Regime verteidigte. Bezweckte die Parlamentstätigkeit der Liberalen die direkte Mitsprache und 73 74

Glück, O., S. 62. Näheres über Behrs politische Tätigkeit nach 1830, u . a . seine Beteiligung am Closen-Verein, einem Verein zur Unterstützung des liberalen Abgeordneten v. Closen, der wie Behr zum Amtsverzicht gezwungen worden war, sowie sein Auftreten auf Volksversammlungen und den Prozeß gegen Behr 1832 bei Pfeiffer, Eva.

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Mitentscheidung in politischen Angelegenheiten, so zielte ihre außerparlamentarische Aktivität - Presse und Publizistik, Vereins- und Versammlungstätigkeit vor allem auf die Gewinnung der öffentlichen Meinung für das konstitutionelle Reformprogramm. "Das Mittel zur Herbeiführung einer . . . innern Aufrichtung des Volkes war - nach den Worten eines der namhaftesten oppositionellen Publizisten 75 jener Jahre - die Presse und die Rednertribüne der Volksversammlungen. " So vollzog sich unter den Bedingungen der nach 1830 in allen süddeutschen Staaten mehr oder minder erkämpften Zensurfreiheit ein Aufschwung in der Entwicklung von Presse und Publizistik. Es entstand, erstmals im Verlaufe der bürgerlichen Umwälzung in Süddeutschland, eine oppositionelle Presse und Publizistik, die hinsichtlich ihrer Ausstrahlung und ihres politischen Gewichtes nicht hinter der Tätigkeit der Parlamentsopposition nach 1830 zurückstand. Eine große Zahl liberaler Zeitungen und Flugschriften wurde gegründet. In Baden waren es unter anderem der "Freisinnige" und der "Zeitgeist", an denen neben Rotteck und Welcker andere bekannte Liberale wie Karl Mathy, Johann Georg Duttlinger und Karl Mittermaier mitarbeiteten, sodann die "Freiburger Zeitung" und der "Wächter am Rhein". In Bayern zählten dazu das "Bayrische Volksblatt" von Gottfried Eisenmann und die ebenfalls von ihm herausgegebene Flugschriftenreihe "Das konstitutionelle Bayern". In der Pfalz erschien die Flugschrift "Deutschland, was es ist und was es werden muß... " In Württemberg entstanden unter anderen der von dem Liberalen Rudolf Lohbauer herausgegebene "Hochwächter" und 76 die "Stuttgarter Allgemeine Zeitung". Hauptthemen der liberalen Presse und Publizistik waren die Konstitutionalisierung des Staates auf friedlichem Wege, Reformen in Schul-, Verwaltungs-, Rechts- und Steuerwesen und die Erlangung und Sicherung bürgerlicher Freiheiten, namentlich der Pressefreiheit. Auch in der Presse spiegelte sich der konzeptionelle Grundgedanke der Liberalen wider, der Fortschritt müsse zunächst auf dem Wege einer verfassungsmäßigen Umbildung der Klein- und Mittelstaaten erreicht werden. Die Forderung nach Einberufung eines zentralen Parlamentes, einer "Nationalrepräsentation", die von Mathy 75 76

Zit. nach Trautz, Fritz, a . a . O . , S. 24. Zur Entwicklung der Presse in Bayern, Württemberg, Baden vgl. vor allem Raubold, Georg, Die bayrische Landtagsberichterstattung vom Beginn des Verfassungslebens bis 1850, phil. Diss., München 1931, S. 73 ff.; Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 87 ff. und 282 ff.; Schoch, Albert, Analyse der politischen Gedankenwelt K. Mathys, phil. Diss., Heidelberg 1933, S. 24 ff.; Treitschke, Heinrich v., S. 242 ff.

Süddeutscher Liberalismus im "Zeitgeist" erhoben wurde

35 77

, vermochte - wie wir sehen konnten -.hiermit

durchaus in Einklang zu stehen. Daneben meldete sich, wenn auch noch vereinzelt, die junge Bourgeoisie zu Wort, die im Interesse der kapitalistischen Entwicklung für eine raschere Überwindung des Partikularismus eintrat. Die wie Pfizers "Briefwechsel" 1831 erschienene Schrift "Deutschland, was es ist und was es werden m u ß . . . " empfahl, ähnlich wie Pfizer, Preußen und Bayern, die beiden "größten Staaten des Nordens und des Südens", sollten die Initiative bei der Über78 Windung der Spaltung übernehmen. Man geht in der Annahme wohl nicht fehl, dies als Reflex auf die Anfang der 30er Jahre laufenden Zollverhandlungen zwischen Preußen und Bayern zu betrachten. Allerdings wurde der preußische Zollverein von den süddeutschen Liberalen und ihrer Presse durchaus nicht einhellig befür79 wortet , wie auch die politisch motivierte Ablehnung von württembergischer Seite zeigt: "Wäre Württemberg diesem Lande (Preußen - G. H.) an Größe gleich, ja wäre die Garantie seiner Verfassung - auch bei minderer Größe - mehr e r s t a r k t . . . , dann möchte das Wagnis weniger groß sein; wer wird aber beim jetzigen Stand der Dinge nicht befürchten, daß wir mit preußischen Zöllen und Instituten der Mauth auch preußische Institute anderer Art bekämen, überhaupt: daß der 80 mächtige absolute Staat den kleinen Constitutionellen sich anpassen würde?" Auch in den ideologischen Positionen einer Reihe von Blättern zeigten sich Unterschiede, teilweise auch eine Verwandtschaft mit demokratischem Gedankengut, die den anfangs noch relativ breiten Spielraum des süddeutschen Liberalismus deutlich werden ließen. Allerdings zeichnete sich im Verlaufe der politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen nach 1830 eine neue Tendenz ab: Blätter, die vielfach von den Grundlagen konstitutionellen Denkens ausgingen und mit diesen vorerst verbunden blieben, strebten durch eine wesentlich schärfere Akzentuierung ihres Programms nach selbständigen, zum Teil demokratischen Positionen. Zu den Zeitungen und Zeitschriften, in denen auch konsequentere und mitunter sogar radikale politische Forderungen erhoben wurden, zählten u. a. der Reutlinger "Beobachter", die von dem linksliberalen Journalisten Victor Coremans in Bayern 77 Schoch, Albert, S. 29. 78 Nach Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 90. 79 Mathy befürwortete beispielsweise den Beitritt Badens zum Preußischen Zollverein; vgl. Schoch, Albert, S. 36 ff. Im württembergischen Landtag lehnten 1833 22 Abgeordnete den Anschluß an den preußischen Zollverein ab; vgl. Huber, Ernst Rudolf, S. 39. 80 Der Hochwächter ohne Censur, 1832, S. 76.

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herausgegebene "Freie Presse", der Würzburger "Volkstribun" und einige namentlich in der bayrischen Rheinpfalz erscheinende Blätter, wie die "Deutsche Tribüne" (Johann Georg August Wirth), der "Bote aus dem Westen" (Jakob Philipp Sie81

benpfeiffer) und die "Speyersche Zeitung" (Friedrich Georg Kolb). Auch die demokratischen Blätter hielten zunächst am Grundsatz friedlicher Reformen fest, vertraten ihn aber mit mehr Konsequenz und verlangten vor allem die Berücksichtigung des Prinzips der Volkssouveränität, d.h. eine demokratische Verfassung. So wurden auch in der Entwicklung der oppositionellen Presse und Publizistik von 1830 bis 1834 verschiedenartige Positionen deutlich, die sich aus der unterschiedlichen Stellung und Teilnahme der einzelnen Klassen am antifeudalen Kampf ergaben. Vergleicht man etwa den im "Volkstribun" erläuterten Begriff der Volkssouveränität mit den Prinzipien der Staats- und Gesellschaftslehre im Staatslexikon, so wird mindestens der theoretische Unterschied beider Richtungen deutlich. "Die Volkssouveränität besteht dem Wesen nach in der gesetzgebenden Gewalt. Dies ist die höchste. Jeder, auch der Regent ist ihr unterworfen. Die Gesetzgebung steht82dem Volke ursprünglich, ganz und untheilbar zu. Jede Trennung ist unzulässig. " Vor allem die bayrische Rheinpfalz wurde zu einem Zentrum für die Erzeugung und Verbreitung der radikal-bürgerlichen P r e s se und Publizistik. Verlage wie Krower und Ritter (Zweibrücken) brachten neben einheimischen Schriften auch solche heraus, die in den anderen süddeutschen Staaten nicht erscheinen durften. Zweierlei Gründe waren hierfür ausschlaggebend. Einerseits waren in der Pfalz, vor allem durch die rheinischen Institutionen, r e lativ günstige Bedingungen für eine demokratische Presse gegeben. Andererseits litt die pfälzische Bevölkerung infolge von Mißernten und vor allem infolge der Zollpolitik Preußens und Bayerns in besonderem Maße unter wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, was sich verständlicherweise auf die revolutionäre Aktivität der Volksmassen auswirkte. Bekanntlich wurde die Rheinpfalz zwar formal in den bayrisch-württembergischen und später in den preußisch-hessischen Zollverein einbezogen. Allerdings - und hier lag eine entscheidende Einschränkung durften Wein und Tabak, Haupterzeugnisse der Pfalz, nicht zollfrei nach Hessen und Preußen ausgeführt werden. Ferner wurde eine Zollmauer um die Rheinpfalz 81 Das gilt namentlich für die Zeitungen "Tribüne" und "Bote aus dem Westen"; vgl. hierzu insbesondere Wirth, Johann Georg August, Deutschlands Pflichten, in: Tribüne v. 3. 2.1832, und ebenda den gleichfalls von Wirth verfaßten Aufruf "An die Volksfreunde in Deutschland" vom 21.4.1832. 82 Entnommen HStaM, Ministerium des Innern, Nr. 25102, o. P.

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errichtet, was zu Preiserhöhungen führte. Hierdurch verschlechterte sich die soziale Lage der pfälzischen Bevölkerung enorm. Neben den bekannten konstitutionellen Forderungen wurden daher hier in der Pfalz auch solche wie die nach 83 Beseitigung aller Feudallasten und Besserung der Lage der Bauern erhoben. Die Pfalz wurde auch für die bekannten radikalen Publizisten Wirth und Siebenpfeiffer zum Tätigkeitsgebiet, nachdem die Münchener Regierung ihre publizistische Tätigkeit in Altbayern unterbunden hatte. Im Wirken von Wirth und Siebenpfeiffer, die sich von den Positionen linksliberaler Publizisten zu aktiven Vertre84 tern der demokratischen Kräfte entwickelten , zeigt sich die Herausbildung demokratischer Positionen im Verlaufe der Kämpfe nach 1830 in Deutschland. Dieser Differenzierungsprozeß wurde durch die Entfaltung der revolutionären Auseinandersetzungen zwischen 1830 und 1834 gefördert, blieb aber im Prinzip zunächst der gemeinsamen antifeudalen Grundhaltung untergeordnet. So waren liberale und radikale Blätter - auch unter den Bedingungen der teilweise erkämpften Zensurfreiheit - in nahezu derselben Weise von Diskriminierung und Verfolgung bedroht. Der liberale "Hochwächter" beispielsweise, der lediglich "durch gegensei85 tiges Aufklären verschiedener Ansichten" zu einer Staatsreform beitragen wollte , machte so oft mit dem Zensor Bekanntschaft, daß die Streichungen einen ganzen Band füllten, den die Redakteure unter dem Titel "Hochwächter ohne Censur" 1832 illegal erscheinen ließen. Zumeist waren es Artikel oder Gedichte über den polnischen Freiheitskampf, Artikel gegen die zu hohe Steuerlast und über die schlechte soziale Lage der Weinbauern, die der Streichung zum Opfer fielen. Auch die reaktionären Ausnahmegesetze von 1832 und 1834 wurden gegen Liberale und kleinbürgerliche Demokraten vielfach in gleicher Weise angewendet. Umfangreich war die Liste der vom Bundestag bzw. von den Regierungen verbotenen Zeitungen, Zeitschriften und sonstigen Druckerzeugnisse. Sie umfaßte liberale Blätter wie den "Freisinnigen" und den "Hochwächter", radikale Zeitungen wie die "Tribüne" und den "Westboten" und schließlich eine große Zahl politischer und wissenschaftlicher Schriften unterschiedlicher Provenienz, u. a. die Titel "Über die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung 83 Vgl. Raubold, Georg, S. 78. 84 Zur Entwicklung von Wirth und Siebenpfeiffer vor allem Bock, Helmut, S. 273 ff., und Obermann, Karl. Deutschland 1815-1849, 3. überarbeitete Aufl., Berlin 1967, S. 81 ff. (= Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge). 85 HStaS, E 8, Königliches Kabinett I, Nr. 18: Hochverrat, revolutionäre Komplotte 1831-1833, 1838 (Vortrag der Bundes-Central-Behörde von November 1834, S. 7).

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des Deutschen Bundes" (Paul Pfizer), "Was darf das deutsche Volk von seinen Landständen erwarten" (Wilhelm Schulz), "Der Hessische Landbote" (Georg Büchner), "Authentische Nachrichten aus den Archiven des deutschen Bundes zur Aufklärung über die hochverräterischen Umtriebe der teutschen Fürsten" (Dr. Spatzier), 86

"Die romantische Schule" (Heinrich Heine). Demokratische wie auch liberale Journalisten und Publizisten wurden Opfer der Gesinnungsjustiz in den süddeutschen Staaten, unter ihnen Johann Georg August 87 Wirth, Philipp Jacob Siebenpfeif fer, Rödinger, Friedrich Tafel, Widemann. Rudolf Lohbauer, dem Herausgeber des "Hochwächters", gelang es zu entkommen. Ein Liberaler wie Karl Mathy mußte 1835 in die Schweiz emigrieren und arbeitete hier sogar in Publikationsorganen des von Mazzini geleiteten bürgerlich-revolutionären "Jungen Europa" .. 88 mit. Der politische Differenzierungsprozeß zwischen Liberalen und demokratischen Kräften war mithin wesentlich vom Stand der revolutionären Auseinandersetzung im allgemeinen abhängig. Auf verschiedenen Klassenpositionen fußend, war er seit dem Beginn der 30er Jahre der antifeudalen Bewegung immanent. Das gilt zum Teil auch für die Vereins- und Versammlungstätigkeit der süddeutschen Liberalen zu Beginn der 30er Jahre, was sich vor allem an der Entwicklung des "Preßvereins" sowie an Vorgeschichte und Verlauf des Hambacher Festes von 1832 zeigte. Die siegreichen Aktionen der Volksmassen im Jahre 1830 hatten - wie für die liberale Presse und Publizistik - auch für die Vereins- und Versammlungstätigkeit der süddeutschen Liberalen günstige Bedingungen geschaffen. Ähnlich wie auf publizistischem Gebiet entwickelten die Liberalen auch im Bereich der Vereins- und Versammlungstätigkeit eine rege Aktivität, wenn auch die Ergebnisse hierbei bescheidener blieben. Die Liberalen verfolgten auf diesem Gebiet vor allem zwei Ziele: Sie erstrebten einmal eine Verstärkung ihres politischen Einflusses in der Öffentlichkeit, wobei versucht wurde, die Vereins- und Versammlungstätigkeit mit Aktivitäten in anderen Bereichen, wie Parlament und Publizistik, zu koordinieren, und zum anderen ging es ihnen darum, durch einen engeren Zu86 HStaM, Ministerium des Innern, Nr. 15760, 15762, o. P. 87 Ebenda, Nr. 25102, o. P . ; HStaS, E 221, Finanzministerium, Nr. 3875: Wegen politischer Vergehen Verurteilte 1825-1856, o. P . ; E 301, Justizministerium, Nr. 266: Politische Umtriebe, Versammlungen, Presse 1832-1834, o. P. 88 Zu Mathys publizistischer Tätigkeit in der Emigration vor allem Schoch, Albert, S. 48 ff.

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sammenschluß der liberalen Bewegung mehr ideologische und organisatorische Stabilität zu verleihen. Dabei blieb die Vereins- und Versammlungstätigkeit, soweit sie von den Liberalen gesteuert werden konnte, streng dem Legalitätsprinzip untergeordnet. Die liberalen Vereine in Süddeutschland, die zu den ersten Organisationsformen der liberalen Opposition in Deutschland nach 1830 gehörten, besaßen noch nicht ausgesprochenen Parteicharakter. Sie unterschieden sich auch von den in mancherlei Hinsicht verwandten lokalen politischen Vereinen der Jahre 1848/49: Sie besaßen weniger organisatorische und politische Stabilität als diese, und sie waren in der Regel nur auf einen relativ eng begrenzten Zweck ausgerichtet, etwa auf die Durchführung liberaler Wahlpropaganda und politischer Solidaritätsaktionen oder auf die Förderung und Verbreitung der liberalen Presse. So bildete sich beispielsweise 1831 in Württemberg erstmalig ein Netz von liberalen Wahlvereinen zur Vorbereitung der Landtagswahlen. Die Wahlvereine sorgten für die Auf89 Stellung liberaler Kandidaten und trieben Wahlpropaganda. Ein besonders wichtiges Anliegen liberaler Vereins- und Versammlungstätigkeit nach 1830 war die Durchführung von Unterstützungs- und Solidaritätsaktionen zugunsten der polnischen Erhebung von 1830/31. Der Aufstand der polnischen Patrioten, der wie bei vielen anderen europäischen Völkern auch in Deutschland 90 ein lebhaftes Echo fand , hat auch der politischen Tätigkeit der süddeutschen Liberalen in allen Bereichen wesentliche Impulse vermittelt. Materielle Hilfe und moralische Unterstützimg wurden meist auf Initiative der liberalen Polenkomitees in mannigfaltiger Form und auf den verschiedensten Ebenen organisiert. So wurden Ärzte und Medikamente zur Betreuung der Verwundeten entsandt. Sammelaktionen sowie Solidaritäts- und Wohltätigkeitsveranstaltungen erbrachten nicht unbeträchtliche finanzielle Beiträge zur Unterstützung der Erhebung. Die Abgeordneten des bayrischen Landtages beschlossen 1831, monatlich die ihnen 91 zustehenden Diäten eines Tages für kranke und notleidende Polen zu spenden.

Frei-

heitskämpfer, die auf der Durchreise nach oder von Polen waren, wurden vielerorts 89 Glück. O., S. 33 f. 90 Vgl. Obermann, Karl, S. 79 ff.; Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 290 ff.; Haering, J . , Württemberg unter dem Einfluß der Julirevolution, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, Bd. 1, 1937, S. 450. Umfangreiches Material enthält die nahezu rein faktologische Arbeit von Gerecke, Anneliese, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Wiesbaden 1964 (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München, Bd. 24). 91 Bauer, Edgar, Bd. 1, S. 290.

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mit Solidaritätskundgebungen empfangen, unentgeltlich verpflegt und untergebracht. 92 Verwundeten wurde ein Genesungsaufenthalt ermöglicht. Die Regierungen beantworteten diese Solidaritätsaktionen mit einem strikten Aufenthaltsverbot für polnische Revolutionäre. So konnte das bayrische Innenministerium dem König am 26. Juni 1832 mitteilen, daß sich mit Ausnahme eines erkrankten polnischen Offi93 z i e r s kein "polnischer Militär" mehr in Bayern befinde. Die unverzüglich eingehende Erwiderung des Königs vom 30. Juni 1832 lautete, 94 e s müßte auch auf der "Entfernung dieses Individuums bestanden werden". Dieser konterrevolutionären Aktionsgemeinschaft der halbabsolutistischen und absolutistischen Regierungen gegenüber blieb die Taktik der Liberalen freilich inkonsequent. Einerseits hatten viele Liberale, wie der Philhellenismus der 20er Jahre und die Solidaritätsbekundungen gegenüber Polen bewiesen, den inneren Zusammenhang des Freiheitskampfes der europäischen Völker zumindest intuitiv erfaßt. Andererseits enthielten sie sich in der überwiegenden Mehrzahl bewußt jeden direkten Angriffs auf die konterrevolutionären Hauptmächte Preußen und 95 Rußland , wodurch die politischen Möglichkeiten jener breiten Solidaritätsbewegung nicht voll zum Tragen kommen konnten. Einen anderen Charakter besaßen die liberalen Lesegesellschaften. Auch hier handelte es sich um politische Vereine, die jedoch - ähnlich den Lesevereinen der 40er Jahre - in erster Linie der Belehrung und Bildung ihrer Mitglieder dienten, also eine "innerparteiliche" Funktion zu erfüllen hatten. Die Stuttgarter Mittwoch- (später: Montag-)Gesellschaft - und vermutlich existierten in anderen süddeutschen Städten Organisationen ähnlichen Charakters - bestand von Oktober 1832 bis Juli 1833. 96 Ihr Ziel war streng legal, nämlich 97 Belehrung über die b e stehenden Gesetze und die Verfassung Württembergs. Etwa 100 Mitglieder S2

Gerecke, Anneliese, S. 54 f f . ; HStaS, E 14, Nr. 1032, Kabinetts-Akten IV, Teil 7, Bl. 8. 93 HStaM, Ministerium des Innern, Nr. 24370/1, o. P. 94 Ebenda. 95 Ein bezeichnender Vorfall ereignete sich am 25. 11.1831 auf einem Bankett zu Ehren der auf der Durchreise in Regensburg befindlichen polnischen Generale Romarino, Langermann und Schneider. Der Ruf eines jungen Regensburgers "ä bas les Russes" wurde von den Anwesenden, unter denen sich neben Offizieren jüngere Advokaten, Ärzte und Apothekergehilfen befanden, "mit allgemeinem Zischen erwidert": HStaM, Ministerium des Innern, Nr. 24370/1, o. P. 96 Näheres in HStaS, E 8, Königliches Kabinett I, Nr. 18: Hochverrat, revolutionäre Komplotte 1831-1833, 1838, Bl. 90 f f . ; E 10, Königliches Kabinett I, Nr. 165: Tumulte und Unruhen 1827-1832, Bl. 130; E 146, Innenministerium II, Nr. 1924: Politische Verhältnisse 1809-1848, o. P. 97 Ebenda, E 8, Königliches Kabinett I, Nr. 18, Bl. 92.

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leisteten einen monatlichen Beitrag, der zur Anschaffung des benötigten Studienmaterials diente. Bemerkenswert war, daß auf Veranlassung der Gründer Theodor Malte und Eduard Schmidlin auch eine größere Zahl von Handwerksgesellen in den Verein eingeführt wurde. Dies geschah ohne Zweifel nicht ohne eigennützige Motive, aber es läßt zumindest darauf schließen, daß hier von liberaler Seite die A r beiterschaft als wichtiger Faktor des öffentlichen politischen Lebens erkannt wurde. Eine weitergehende Bedeutung für die Entwicklung der antifeudalen Opposition erlangten die Organisationsbestrebungen zur Förderung und Verbreitung der libe98 ralen P r e s s e , die in der Gründung des Deutschen Preßvereins gipfelten. Sie überwanden die lokale Enge und stark begrenzte Zielsetzung der Wahl- oder Bildungsvereine. Dafür rückte die Propagierung und Verwirklichung des politischen Programms in seiner Gesamtheit stärker in den Mittelpunkt der Organisationsarbeit, womit ein Schritt in Richtung der oppositionellen politischen Partei späterer Jahrzehnte getan wurde. Die Herausbildung des Preßvereins wird zu Recht a l s Höhepunkt dieser Entwicklung betrachtet. Die Idee einer solchen Vereinsgründung war - wenn wohl auch nur im regionalen Rahmen - auch außerhalb der Rheinpfalz lebendig, wie der von dem linksliberalen Journalisten Coremans am 8. März 1832 veröffentlichte "Plan zur Oppositions-Verbindung des Rezatkreises" b e 9C wies. Zu den liberalen Programmpunkten, für die sich dieser Plan - ähnlich wie der Aufruf "Deutschlands Pflichten" von Wirth - aussprach, gehörten die konstitutionelle Monarchie, ein der "allgemeinen Stimmgebung sich annäherndes Wahlrecht", Pressefreiheit, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege und Handelsfreiheit. Daneben wurden jedoch auch demokratische Forderungen, wie Unterrichtsfreiheit, Entwicklung der Gemeindefreiheiten und Abschaffung der Zehnten wie der übrigen die Landleute drückenden "Feudal-Lasten" genannt. Was den praktischen Weg zur Verwirklichung dieser Forderungen anbelangte, so blieb Coremans Plan freilich hinter dem Konzept Wirths und Siebenpfeiffers zurück, weil er - ähnlich wie deren Gegenspieler im Preßverein - annahm, der Verein werde sein Ziel in erster Linie mit Hilfe der freien P r e s s e erreichen. Innerhalb des Preßvereins, wo die gegensätzlichen Auffassungen in voller Schärfe 98 89 100 101

Zu den folgenden Ausführungen über den Preßverein vor allem Bock, Helmut, S. 277 ff. Blätter aus Unterfranken, Nr. 10, 8. 3. 1832. Ebenda. Ebenda.

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aufeinandertrafen, wurde nunmehr ein deutlicher Differenzierungsprozeß sichtbar. Die liberale Führung des am 21. Februar 1832 gegründeten Vereins - Friedrich Schüler, Joseph Savoye und Karl Gustav Geib - beabsichtigte, diesen als Instrument zur Förderung und Verbreitung der liberalen Presse und ihres konstitutionellen Reformprogramms in Südwestdeutschland zu benutzen. Wirth und Siebenpfeiffer legten dagegen eine andere Konzeption vor. Sie überwanden den kleinstaatlichen Konstitutionalismus der Liberalen und traten für das Prinzip der Volkssouveränität und die Schaffung eines bürgerlich-demokratischen deutschen Föderativstaates ein. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Vereins vertieften sich insbesondere während der Vorbereitung und Durchführung des Hambacher Festes. Der Einfluß der Liberalen um Savoye, Geib und Schüler wurde in dem Maße zurückgedrängt, wie die revolutionäre Stimmung unter der Pfälzer Bevölkerung wuchs und die mit der Vorbereitung des Festes verbundene Bewegung Massencharakter annahm. Es zeigte sich, daß die liberale Vereinsführung mit ihrer Politik und ihrem Programm den in Hambach versammelten Massen keine klare Orientierung für den politischen Kampf bieten konnte. Während das liberale Zentralkomitee des Preßvereins die Durchführung einer friedlichen Bürgerversammlung mit bayrisch-pfälzischem Charakter beabsichtigte, gestaltete sich das Fest zur ersten antifeudalen und nationalen Massenkundgebung in Deutschland. Die Hauptredner waren Wirth und Siebenpfeiffer. Das liberale Zentralkomitee dagegen verzichtete auf Ansprachen. Von den ferner anwesenden prominenten Liberalen wie Itzstein, Rudolf Lohbauer, Ernst Emil Hoffmann und einigen badischen Landtagsabgeordneten (wahrscheinlich gehörten auch die Württemberger Scheuffele und Rödinger zu den Teilnehmern) sprach allein Lohbauer. Seine sehr gemäßigte politische Rede wurde jedoch von den Teilnehmern 102

des Festes mit Mißfallen aufgenommen. Rottecks Absage an die Republik auf der zwei Wochen später stattfindenden Volksversammlung in Badenweiler (11. Juni 103 1832) unterstrich überdies die ablehnende Haltung der süddeutschen Liberalen gegenüber den Zielen der in Hambach versammelten Demokraten. In ähnlicher Weise traten führende Vertreter des süddeutschen Liberalismus auch auf den Volksversammlungen von Gaibach am 27. Mai 1832 (Wilhelm Behr) und Spaichingen Ende Juli 1832 (Rheinwald/Stuttgart) auf. 104 102 HStaS, Königliches Kabinett n, Nr. 1032: Gesetze und Verordnungen 1820-1898, Teil 7, Bl. 3, 22; ferner Trautz, Fritz, a . a . O . , S. 33 ff. 103 Ebenda, S. 36 f . ; vgl. auch oben Anm. 28. 104 Pfeiffer, Eva, S. 65 f f . ; HStaS, E 301, Justizministerium, Nr. 266: Politische Umtriebe, Versammlungen, Presse 1832-1834, Bl. 17.

Süddeutscher Liberalismus

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So deutet sich namentlich an den Höhepunkten der antifeudalen Bewegung der Jahre 1830 bis 1833/34 in Süddeutschland ein Differenzierungsprozeß an, der - neben anderen Momenten - die Grenzen des süddeutschen Liberalismus .deutlich erkennen läßt. Dieser Vorgang, der auf verschiedenen Klassenpositionen innerhalb der antifeudalen Opposition fußte, stand in enger Wechselwirkung mit der Rolle der einzelnen Oppositionskräfte im antifeudalen Kampf und im Prozeß der bürgerlichen Umwälzung. Im hier untersuchten Zeitraum war er aber noch nicht Ausdruck des gesellschaftlichen Hauptwiderspruchs, sondern ein Element im System sich wechselseitig bedingender Faktoren des Klassenkampfes. Unter den Bedingungen der 1833/34 wieder einsetzenden Repression trat er sogar zeitweilig stärker zurück, zumal auch eine große Anzahl von Liberalen Opfer von Maßregelungen und Verfolgungen wurde. So wurde der bereits mehrfach erwähnte Behr zu einer Haftstrafe auf unbestimmte Zeit und Abbitte vor dem Bilde des Königs verurteilt. Der Stuttgarter Schmidlin, der zu den Gründern der Mittwoch-Gesellschaft gehörte, wurde noch 1839 zu einer zehnmonatigen Festungsstrafe verurteilt. Savoye wurde disziplinarisch gemaßregelt. Der Würzburger Jurist Seuffert, der 1833 den Plan zum Frankfurter Wachensturm verriet, wurde im selben Jahr 105 vom Dienst suspendiert. Auf die Gesinnungsurteile gägen demokratische und liberale Journalisten haben wir bereits oben hingewiesen. Verfolgungen und Maßregelungen, die auch die Vertreter der gemäßigten Opposition zu erdulden hatten, und der standhafte Protest vieler Liberaler gegen den nun wieder einsetzenden reaktionären Kurs vervollständigen das Bild von der politischen Rolle des süddeutschen Liberalismus in den Jahren von 1830 bis 1833/34, ohne daß sie die Grenzen seines Wirkens vergessen lassen. Durch die Akzentuierung und Verbreitung oppositioneller Forderungen und Ideen vermittelte der süddeutsche Liberalismus - wie wir sehen konnten - teilweise auch der antifeudalen Volksbewegung ideologische Impulse. Indem die Liberalen jedoch ihren Legalitätsstandpunkt betonten und nahezu ausschließlich für Verfässungsreformen auf friedlichem Wege eintraten, trugen sie gleichzeitig wesentlich dazu bei, auf Seiten der Volksbewegung konstitutionelle Illusionen zu erwecken bzw. zu festigen. 105

Pfeiffer, Eva, S. 71 ff.; HStaS, E 221, Finanzministerium, Nr. 3875: Wegen politischer Vergehen Verurteilte 1825-1856, o. P . ; HStaM, Ministerium des Innern, Nr. 24301; Einzelheiten über Seufferts Rolle beim Verrat des Wachensturms, ebenda.

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In der Theorie des süddeutschen Liberalismus fanden sich Elemente kleinbürgerlich-demokratischen Denkens, was vor allem mit dem sozialökonomischen Entwicklungsstand in den süddeutschen Staaten und der Hegemonialfunktion des Bürgertums im Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung zusammenhing. Aber an den Höhepunkten der antifeudalen Bewegung von 1830 bis 1834 in Süddeutschland zeigte sich, daß die Liberalen in den Grundfragen der politischen Auseinandersetzung mit den Feudalkräften und der weiteren Gestaltung der Verhältnisse in Deutschland ihre Positionen von denen der demokratischen Volksbewegung und ihrer Repräsentanten deutlich abgrenzten. Die von der liberalen Landtagsopposition in den süddeutschen Kammern erzielten Erfolge auf dem Gebiet der Gesetzgebung, denen auch ein Großteil der sonstigen politischen Aktivitäten untergeordnet war, blieb gering. Von Bedeutung war aber, daß die süddeutschen Liberalen in den Jahren von 1830 bis 1833/34 eine Reihe legaler Möglichkeiten und Institutionen des antifeudalen Kampfes wie P a r lament, Presse und politische Vereinstätigkeit entwickelten und erprobten. So war, wie Friedrich Engels rund 10 Jahre später schrieb, der süddeutsche Liberalismus nicht als ein "verlorener Vorposten, nicht als ein mißlungenes Experiment zu fassen; wir haben durch ihn Resultate errungen, die wahrlich nicht zu verachten sind. Vor allem war er es, der die Opposition begründete und so eine politische Gesinnung in Deutschland möglich machte und das parlamentarische Leben erweckte, der das Samenkorn, das in den deutschen Verfassungen lag, nicht ein106 schlummern und verfaulen ließ... " Sein erklärtes Ziel, die Könstitutionalisierung der süddeutschen Staaten, hat der süddeutsche Liberalismus nicht erreicht. Selbst die bis zur Anwendung der reaktionären Gesetze von 1832 und 1834 erzielten und danach wieder rückgängig gemachten Fortschritte reichten hierfür bei weitem nicht aus. Der süddeutsche Liberalismus war seinem Wesen nach der von einer Fraktion des Bürgertums unternommene Versuch, die eigene Emanzipation in Staat und Gesellschaft voranzutreiben. Er trug den Stempel des süddeutschen Konstitutionalismus und sollte - aus der Sicht der süddeutschen Liberalen - den hier herrschenden Bedingungen des Klassenkampfes Rechnung tragen. Im Unterschied zu den tonangebenden Vertretern des rheinisch-preußischen Liberalismus, vor allem nach 1848, waren die süddeutschen Liberalen jedoch keine ausgesproche-

106 Engels, Friedrich, Nord- und süddeutscher Liberalismus, in: MEW, Ergänzungsband: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, 2. Teil, S. 248.

Süddeutscher Liberalismus

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nen Anhänger einer politischen Vereinbarung mit der Feudalklasse, und ihr Programm bot auch für entschiedenere bürgerliche Kräfte Anknüpfungspunkte. Dennoch konnte der süddeutsche Liberalismus mit seiner Theorie und seinen politischen Erfahrungswerten den Bedingungen des Klassenkampfes nach 1840, auch aus der Sicht der Bourgeoisie, nicht mehr gerecht werden. In den Vordergrund traten jetzt der auf dem raschen Aufschwung der kapitalistischen Produktionsweise fußende politische Macht- und Geltungsanspruch der Bourgeoisie und die unmittelbare Vorbereitung der bürgerlich-demokratischen Revolution. So wurde das Verfassungsprogramm, das Kernstück des süddeutschen Liberalismus, nicht im ganzen, sondern nur teilweise, und zwar, seinem Wesen entsprechend, wiederum in widersprüchlicher Weise rezipiert: das Grundrechtprogramm von den demokratischen Gegnern der großpreußisch-militaristischen Reichsgrtindung und der konstitutionell-monarchische Grundgedanke von den liberalen Verfechtern einer politischen Vereinbarung zwischen Bourgeoisie und Feudalklasse.

SIGRID DILLWITZ

Die Struktur der Bauernschaft von 1 8 7 1 bis 1 9 1 4 . Dargestellt auf der Grundlage der deutschen Reichsstatistik

Einleitung Die Struktur der Bauernschaft ist für einen Zeitraum zu beschreiben, in dem sich Deutschland bei einem außerordentlich raschen Aufschwung der Produktivkräfte von einem Agrar- zu einem Industriestaat wandelte und in Europa zur ersten kapitalistischen Großmacht aufstieg. Anfang der 70er Jahre erreichte der Kapitalismus der freien Konkurrenz im neugegründeten Deutschen Reich seinen Höhepunkt. Der industriellen Hochkonjunktur folgte noch in den 70er Jahren eine Wirtschaftskrise mit anhaltender Depression, die infolge des massenhaften Zusammenbruchs kleiner und mittlerer Unternehmen die Konzentration der Produktion und des Kapitals beschleunigte. Anfang der 80er Jahre hatte der Kapitalismus in Deutschland bereits sein vormonopolistisches Stadium überschritten und im letzten Jahrzehnt des 19. Jh vollzog sich der unmittelbare Übergang zum Imperialismus. Die Monopole der Hauptproduktionszweige - Kohle, Stahl, Elektrotechnik, Chemie -, die mit dem konzentrierten Bankkapital verschmolzen, gewannen wachsenden Einfluß auf die gesamte Wirtschaft, auf den Staat und die Politik der herrschenden Klassen, zu denen neben der Industrie- und Finanzbourgeoisie nach wie vor die junkerlichen Großgrundbesitzer gehörten. Die Entwicklung der industriellen Produktivkräfte, mit der die Herausbildung von Industriezentren, die Vergrößerung der Städte und der Märkte verbunden waren, wirkte auch stimulierend auf die agrarische Produktion. Der mit dem Übergang zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft einsetzende Aufschwung der agrarischen Produktivkräfte, der durch die Art und Weise dieses Übergangs auf dem "preußischen Weg" - mit seiner enormen Belastung der Bauern durch die Ablösung - im Tempo allerdings gedrosselt war, setzte sich in den 70er und 80er Jahren verstärkt fort. Das Wachstum des Produktionsumfangs war im wesentlichen eine Folge verbesserter Produktionsmethoden auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsverhältnisse, von denen hier nur der endgültige Übergang von der Dreifelderwirtschaft zur verbesserten Dreifelder- bzw. zur Fruchtwechselwirtschaft, die zunehmende Verwendung industriell hergestellter

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Sigrid Dillwitz

(eiserner) landwirtschaftlicher Geräte und landwirtschaftlicher Maschinen, die steigende Verwendung künstlicher Düngemittel und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Gebiet der Pflanzen- und Tierzüchtung genannt sein sollen. In welchem Umfang die landwirtschaftliche Erzeugung in dem zu betrachtenden Zeitraum gewachsen ist, soll mit einigen wenigen statistischen Angaben sichtbar gemacht werden. Von 1883 bis 1913 erhöhten sich die Erntemengen bei den wich2

tigsten Feldfrüchten wie folgt : Tabelle Steigerung der Erntemengen bei wichtigen Feldfrüchten von 1883 bis 1913 (1883 = 100) Produkt Index Brotgetreide

165

Futtergetreide

161

Hackfrüchte

280

Futterpflanzen

151

Produktion insgesamt

160

Die Getreideproduktion stieg also im Durchschnitt um 60 Prozent, während die Produktion von Hackfrüchten sich nahezu verdreifachte. Besondere Beachtung verdient die Zuckerrübenproduktion, die in einigen Gebieten (besonders in Anhalt und Schleswig) zum entscheidenden Faktor der Intensivierung wurde. Der durchschnittliche Hektar-Ertrag stieg jeweils in den Jahren von 1868/72 b i s 1908/12 bei Weizen von 15,1 auf 20, 7 dz/ha, bei Roggen von 12, 8 auf 17, 8 dz/ha, bei Kartoffeln von 89,4 auf 133,4 dz/ha und bei Zuckerrüben von 237, 2 auf 317, 9 3 dz/ha. Das war eine erhebliche Leistungssteigerung. 1 Zur Entwicklung der agrarischen Produktivkräfte und der Agrarproduktion vgl. Rothmann, Helmut, Zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion und der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse in Deutschland in der Zeit von 1871 b i s 1918, ldw.wiss. Diss., Leipzig 1963, sowie Bittermann, Eberhard, Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland von 1800 b i s 1950. Ein methodischer Beitrag zur Ermittlung der Veränderungen des Umfangs der landwirtschaftlichen Produktion in den letzten 150 Jahren, ldw.wiss. Diss., Halle 1956. 2 Berechnet nach den bei Bittermann, S. 38, zusammengestellten Tabellen. 3 Diese und die folgenden Daten sind ebenfalls der Arbeit von E. Bittermann entnommen.

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Die Struktur der Bauernschaft

Die tierische Produktion entwickelte sich in ähnlichem Tempo. Es v e r g r ö ß e r ten sich die Bestände z . B . bei Rindvieh von 1883 bis 1913 um 34 Prozent, bei Pferden um 29 Prozent und bei Schweinen um 260 Prozent. Entsprechend der Entwicklung der Viehbestände in Stückzahlen hat sich auch die Produktion an Fleisch und anderen tierischen Erzeugnissen erhöht: Tabelle Die Steigerung von ausgewählten tierischen Erzeugnissen von 1883 bis 1813 (1883 = 100) Fleischart

Index

Rindfleisch

1£3

Kalbfleisch

210

Schweinefleisch

348

Fleischproduktion

insgesamt

Milch

257 208

Die Gesamtproduktion des pflanzlichen und tierischen Sektors der deutschen Landwirtschaft stieg in Mill. t GE von 50, 490 im Jahre 1883 auf 81, 284 im Jahre 1913, also um 61 Prozent. Das Produktionsvolumen erhöhte sich von 6 871, 0 Mill. Mark im Jahre 1883 auf 12 076, 4 Mill. Mark im Jahre 1913, also um 76 Prozent. Das besondere Merkmal dieser Leistungssteigerung in der deutschen Landwirtschaft war die Erhöhung der Flächenleistung. Die vom Boden insgesamt erzeugte Produktion (nach Bittermann Bruttoproduktion) je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche entwickelte sich von 14, 0 dz GE auf 21, 6 dz GE im Zeitraum von 1883 bis zum Jahre 1913. An dieser Leistungssteigerung der Agrarproduktion hatten die verschiedenen Gruppen von Landwirtschaftsbetrieben einen ganz unterschiedlichen Anteil, ebenso wie sie stark voneinander abweichende Möglichkeiten hatten, moderne Produktionsinstrumente und -methoden anzuwenden. Von einer Identität des Fortschritts der landwirtschaftlichen Produktion im Kapitalismus mit einem fortschreitenden Wohlstand der Masse der Produzenten kann ebenfalls nicht ausgegangen werden. In der kapitalistischen Landwirtschaft, die den Bedingungen der Warenwirtschaft und des Marktes unterworfen ist, bestehen alle dem Kapitalismus eigenen Widersprüche: "Konkurrenz, Kampf um wirtschaftliche Selbständigkeit, Ansich-

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reißen des Bodens, Konzentration der Produktion in den Händen einer Minderheit, Ausstoßung der Mehrheit in die Reihen des Proletariats, ihre Ausbeutung durch die Minderheit mit Hilfe des Handelskapitals und der Einstellung als Landarbeiter. " 4 Im folgenden soll die Wirkung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise auf die Entwicklung der Agrarstruktur anhand einiger ausgewählter Kennziffern dargestellt werden. Bei der Auswahl dieser Kennziffern wurde von den für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse typischen Merkmalen ausgegangen, soweit der Zustand der veröffentlichten zentralen Agrarstatistik eine solche Auswahl gestattete. Die Agrar statistik für diesen Zeitraum ist allerdings noch mit vielen Mängeln behaftet, und eine ganze Reihe von Fragen (z. B. die nach der Konzentration des Eigentums am Boden, nach der Entwicklung des Produktionsumfangs in den verschiedenen Betriebsgrößengruppen u. ä. m.) kann auf ihrer Grundlage nicht geklärt werden. Immerhin wurden aber in dem uns interessierenden Zeitraum von 1871 bis 1914 drei große landwirtschaftliche Betriebszäh5 lungen durchgeführt (1882, 1895 und 1907) , die - wenn auch zum Teil nur begrenzte - Einblicke in die Agrarstruktur und ihre Entwicklungstendenz zulassen.

Die Betriebsgrößen nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche Zum Problem der Betriebsgrößen in der kapitalistischen Landwirtschaft Die landwirtschaftlichen Betriebszähluhgen in Deutschland von 1882, 1895 und 1907 verwendeten die Größe der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) der Betriebe als Hauptkennziffer und - durch die Bildung von Größengruppen - als Ordnungsfaktor für alle weiteren Daten der Zählung. Da der Boden das Hauptproduktionsmittel in der Landwirtschaft ist, bietet eine Gruppierung der Betriebe nach der Nutzfläche einen annehmbaren Ausgangspunkt für die Beurteilung weiterer agrarischer Kennziffern und für die Charakterisierung des sozialökonomischen Typs des Betriebes. Sofern allerdings der 4 Lenin, W. I., Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Werke, Bd. 3, S. 167. 5 Statistik des Deutschen Reiches, hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, N . F . , Bd. 5, Berlin 1885; Bd. 112, Berlin'1898; Bd. 212, 1 und 2, Berlin 1912.

Die Struktur der Bauernschaft

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Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche (und noch ungünstiger der gesamten Bodenfläche eines Betriebes) zum ausschließlichen Kriterium für die Gruppenbildung und für die Kennzeichnung von Wirtschaftstypen verwandt wird, muß unter den Bedingungen einer kapitalistischen Landwirtschaft ein verzerrtes Bild entstehen. Darauf hat Karl Kautsky auf der Grundlage der von Karl Marx im "Kapital" erarbeiteten ökonomischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur zu den Entwicklungstendenzen g der kapitalistischen Landwirtschaft bereits 1899 hingewiesen , wobei ihm jedoch mit den landwirtschaftlichen Betriebszählungen von 1882 und 1895 noch unvollständiges Material für eine Beweisführung zur Verfügung stand. Die Zählung von 1907 lieferte W.I. Lenin dann mit den erstmals ermittelten Daten zur Anwendung von Lohnarbeit in der Landwirtschaft die entscheidenden Angaben für eine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Agrarstatistik und mit der bürgerlichen Literatur zur Frage7der Betriebsgrößen, der Wirt schaftstypen und ihrer Kriterien im Kapitalismus. Eine Analyse der sozialökonomischen Struktur der Landwirtschaft, schreibt Lenin, muß die "Aufmerksamkeit vor allem und in erster Linie auf die Frage lenken, welches die Grundzüge des kapitalistischen Systems der modernen Landwirtschaft sind. . . . Die Anwendung der Lohnarbeit aber ist das g wichtigste Wesensmerkmal jeder kapitalistischen Landwirtschaft." Um eine relativ genaue Bestimmung der Wirtschaftstypen zu treffen, müsse folglich die Gruppierung der Betriebe nach dem Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche mindestens kombiniert werden mit einer Gruppierung nach dem Umfang der Lohnarbeit. Das Ergebnis der von Lenin nach der Deutschen Reichsstatistik begonnenen Untersuchungen war unter.anderem der Beweis, daß die aus der bürgerlichen Statistik in die Literatur übernommene Gruppenbildung nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche ganz unterschiedliche Wirtschaftstypen (proletarische und kapitalistische) in einer Gruppe vereint und dementsprechend9 zu völlig falsehen Urteilen über die Entwicklungstendenzen gelangen mußte. 6 Vgl. Kautsky, Karl, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie (1. Auflage, Stuttgart 1899), Hannover 1966, S. 92 ff. 7 Vgl. Lenin, W. I., Die Agrarfrage und die Marxkritiker, in: Werke, Bd. 5, S. 101 ff.; ferner derselbe, Das kapitalistische System der modernen Landwirtschaft, in: Werke, Bd. 16, S. 635 ff. 8 Derselbe, Das kapitalistische System..., a . a . O . , S. 436 f. 9 Vgl. ebenda, S. 442 ff.

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Sigrid Dillwitz Über die Lohndaten hinaus spielen bei einer Strukturanalyse der kapitalisti-

schen Landwirtschaft, deren ökonomische Entwicklung vor allem ein Prozeß der Intensivierung ist - beruhend auf Kapitalinvestitionen bei in der Regel gleichbleibendem Bodenumfang -, eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle, von denen Lenin am Beispiel der amerikanischen Landwirtschaft besonders den Produktenwert (Produktionsumfang) und die Haupteinnahmequellen sowie am Beispiel der ungarischen Statistik besonders die Anwendung der Maschinen hervorhob. ^ Ein relativ genaues Bild kann nur gewonnen werden, wenn mehrere, vor allem typische Kennziffern sowohl für die zu untersuchende Produktionsweise als auch für die jeweilige Landwirtschaft vergleichend erarbeitet werden. J e intensiver die Landwirtschaft betrieben wird, desto untauglicher wird die ausschließliche Gruppierung nach dem Bodenumfang, desto mehr verschleiert oder verzerrt sie die tatsächlichen Verhältnisse, da sie "den Intensivierungsprozeß..., die Steigerung der Kapitalaufwendungen pro Bodeneinheit für Vieh, Maschinen, veredeltes Saatgut, verbesserte Bebauungsmethoden usw. völlig unbeachtet l ä ß t " A l l e Einwände gegen die Gruppenbildung nach dem Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche richten sich folglich nur gegen die Ausschließlichkeit einer solchen Methode, sie richten sich nicht gegen diese Methode als Ausgangspunkt und Grundlage für eine weitergehende Betrachtung unter Zuhilfenahme anderer, die kapitalistische Landwirtschaft charakterisierender Merkmale. Die vergleichende Betrachtung mehrerer agrarischer Kennziffern der deutschen Statistik von 1907 führte Lenin zu folgender Darstellung einer allgemeinen Struktur der kapitalistischen Landwirtschaft: 1. Proletarische Wirtschaften, 2. bäuerliche Wirtschaften, 3. kapitalistische Wirtschaften.

12

An anderer Stelle nahm Lenin im Zusammenhang mit einer allgemeinen Analyse der ländlichen Klassenverhältnisse im Kapitalismus eine Differenzierung der bäuerlichen Produzenten in Klein- und Mittelbauern (werktätige Bauern) sowie Großbauern vor, die er als kapitalistische Unternehmer charakterisierte, die 10

Vgl. ebenda, S. 451 ff., sowie Sachse, Rosemarie, Zur Agrarstatistik. Hinweise Lenins zur Agrarberichterstattung und ihre Anwendung auf die westdeutsche Landwirtschaft, Berlin 1954, S. 47 ff. 11 Lenin, W. I . , Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft, I. Folge: Kapitalismus und Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Werke, Bd. 22, S. 51 f. 12 Vgl. derselbe, Das kapitalistische S y s t e m . . . , a. a. O., S. 440 f.

Die Struktur der Bauernschaft

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"mit den ' Bauern' durch ihre niedrige Kulturstufe, ihre Lebensweise und die 13 eigene körperliche Arbeit in ihrer Wirtschaft verbunden sind" . Die marxistische Literatur für diesen Zeitraum schließt sich im wesentlichen der Leninschen Darstellung an, wobei Solta nach Untersuchungen in wirtschaftlich unterschiedlich entwickelten Gebieten der Lausitz die Betriebe zwischen 10 und 100 ha LN in Betriebe von Großbauern und Betriebe von bäuerlichen Gutsbesitzern gliedert, allerdings mit dem Hinweis, daß das langsame Entwicklungstempo des Kapitalismus in der Landwirtschaft die Beibehaltung des Begriffes Großbauern für die gesamte Gruppe rechtfertige. 14 Die folgende Darstellung legt ebenfalls die von Lenin erarbeiteten Wirtschaftstypen zugrunde und wird anhand der ausgewählten Kennziffern: Größe der landwirtschaftlichen Nutzfläche, Haupt- und Nebenberuf der Betriebsinhaber, Anwendung von Lohnarbeit und schließlich die Haltung von Großvieh in den Größengruppen versuchen, die Struktur der Bauernschaft sowie einige Entwicklungsmomente in der kapitalistischen Landwirtschaft um die Jahrhundertwende darzustellen.

Die Betriebsgrößen in der Entwicklung nach dem Flächenumfang 1882 bis 1907 Die landwirtschaftlichen Statistiken von 1882, 1895 und 1907 ordneten das Material in einer Feingliederung nach 18 und in einer Zusammenfassung nach folgenden 6 Größengruppen: 1. Betriebe bis zu 0, 5 ha LN, 2. Betriebe von 0, 5 bis 2 ha LN, 3. 4. 5. 6.

Betriebe Betriebe Betriebe Betriebe

von 2 bis 5 ha LN, von 5 bis 20 ha LN, von 20 bis 100 ha LN, über 100 ha LN.

Da die Feingliederung nicht durchgängig für alle Kennziffern bzw. zum Teil nicht für die Daten in den einzelnen Territorien und für die Relativzahlen aufrechterhal13 Vgl. derselbe, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage, in: Werke, Bd. 31, S. 145. 14 Solta, Jan, Die Bauern der Lausitz. Eine Untersuchung des Differenzierungsprozesses der Bauernschaft im Kapitalismus, in: Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung in Bautzen, Bd. 36, Bautzen (1966), S. 98.

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ten wurde, muß die folgende Darstellung, um die Vergleichbarkeit der statistischen Angaben zu erhalten, vorwiegend auf die zusammengefaßten Größengruppen zurückgreifen. Dadurch läßt sich die von Lenin gezogene Grenze zwischen mittel und großbäuerlichen Betrieben um 10 ha LN nicht in jedem Falle deutlich machen. Nach der landwirtschaftlichen Betriebszählung von 1882 gab es im Deutschen Reich über 5 Millionen Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche. Mehr als die Hälfte dieser Betriebe (58 Prozent) gehörten den beiden untersten Größengruppen bis zu 2 ha LN an. Diese beiden Gruppen werden im weiteren zu einer zusammengefaßt. Die Betriebe mit einer Nutzfläche von 2 bis 20 ha LN hatten einen Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe von mehr als einem Drittel (36, 2 Prozent), davon waren die untersten Gruppen ( 2 - 5 ha) mit 18, 6 Prozent und (5 - 10 ha) mit 10, 5 Prozent am stärksten vertreten. Die restlichen 5, 8 Prozent der Gesamtzahl aller Betriebe verteilten sich zu 5, 3 Prozent auf die Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 20 bis 100 ha und zu 0, 5 Prozent 15 auf die Großbetriebe über 100 ha LN. Die Verteilung der landwirtschaftlichen Nutzfläche verlief in einem umgekehr16

ten Verhältnis. Die Betriebsgrößen mit mehr als 20 ha LN bewirtschafteten über die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche (55, 5 Prozent), dabei entfielen 31,1 Prozent auf die Betriebe der Gruppe von 20 bis 100 ha LN. Die Größengruppen von 2 bis 20 ha LN bewirtschafteten reichlich mehr als ein Drittel, nämlich 38, 8 Prozent, davon die unteren Gruppen ( 2 - 5 ha) 10 Prozent bzw. (5 - 10 ha) rund 12 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die Betriebe bis zu 2 ha hatten mit 5, 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche einen ganz geringen Anteil. Die durchschnittliche Größe dieser Betriebe betrug einen halben ha L N . 1 7 Betrachten wir die analogen Daten aus der Zählung von 1907 (siehe dazu die Tabellen 1 und 2), so hat sich das Gesamtbild in dem dazwischen liegenden Vierteljahrhundert nur unwesentlich verändert. Noch immer machten die Kleinstbetriebe die Masse aller Wirtschaften aus mit einem Minimum an landwirtschaftlicher Nutzfläche, und noch immer bewirtschaftete der geringe Prozentsatz von Betrieben über 20 ha LN über die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Eine Entwicklungstendenz ist jedoch auch bei diesen allgemeinen Durchschnitts15 Vgl. Tabelle 1. 16 Vgl. Tabelle 2. 17 Vgl. Tabelle 3.

Die Struktur der Bauernschaft

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werten erkennbar. Die Zahl der Betriebe unter 2 ha LN hat noch weiter zugenommen und ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche sich noch mehr verringert. Die Betriebe in der Gruppe von 2 - 5 ha LN haben dagegen zahlenmäßig etwas abgenommen, und zwar in Relation zur Gesamtzahl der Betriebe um 1,1 Prozent. Die Abnahme lag aber ausschließlich in den Jahren nach 1895; bis dahin war die Zahl dieser Betriebe ebenfalls angewachsen. Wir können diese Erscheinung ohne Hinzuziehen anderer Kennziffern nicht voll klären, doch läßt sich bereits an dieser Stelle sagen, daß ein Teil der Betriebe von 2 - 5 ha LN die Wirtschaft nicht im vollen Umfang hatte aufrechterhalten können und sich aus ihnen der Zuwachs der Kleinstbetriebe rekrutierte. Ein Teil der Betriebsinhaber aber wird durch Zukauf oder -pachtung von Land aufgestiegen sein, denn die beiden folgenden Gruppen (von 5 - 1 0 und von 10 - 20 ha LN) waren wiederum zahlenmäßig angewachsen, dabei die untere Gruppe von 5 - 10 ha wesentlich stärker als die Gruppe von 10 - 20 ha LN. Die landwirtschaftliche Nutzfläche hat bei diesen beiden Gruppen erheblich zugenommen - zusammen um mehr als 1 Million ha Nutzfläche -, ohne aber den Ausgleich zur gewachsenen Zahl der Betriebe herzustellen, denn die Durchschnittsgröße der Betriebe war in der Gruppe von 5 - 10 ha konstant geblieben und in der Gruppe 10 - 20 ha sogar gesunken. Die beiden übrigen Größengruppen (von 20 - 100 und über 100 ha LN) haben von 1882 bis 1907 sowohl der Zahl als auch dem Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche nach abgenommen. Die Durchschnittsgröße dieser Betriebe hat sich jedoch in der Gruppe von 20 bis 100 ha LN recht erheblich erhöht, und zwar besonders in den Betrieben von 50 bis 100 ha, die mit einem durchschnittlichen Zuwachs um rund 3 ha LN je Betrieb am stärksten von allen Größengruppen gewachsen ist. Die Betriebe über 100 ha dagegen verringerten die Durchschnittsgrößen um rund 12 ha LN pro Betrieb. Natürlich spiegeln diese sehr allgemeinen Daten auch nur eine allgemeine Tendenz wider, die erst unter Berücksichtigung anderer Tatbestände eingeschätzt werden kann. In den Territorien des Deutschen Reiches vollzog sich der Prozeß außerdem unterschiedlich - in Abhängigkeit von ganz verschiedenen Faktoren, wie zum Beispiel von der historisch gewachsenen spezifischen Agrarstruktur, dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kapitalismus in Industrie und Landwirtschaft, den damit verbundenen Marktverhältnissen als Hauptmomente, aber auch von den spezifischen Merkmalen der Agrarverhältnisse, wie zum Beispiel den Erbgewohnheiten und anderem mehr. Den mannigfaltigen Ursachen für unterschiedliche Entwicklungsprozesse in den Territorien des Deutschen Reiches kann hier nicht nachge-

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Sigrid Dillwitz

gangen werden, doch soll zunächst (nach dem Stand von 1882) ein Blick auf die räumliche Verteilung der Betriebsgrößengruppen in Deutschland geworfen werden und dann die Entwicklung in einigen unterschiedlich strukturierten und unterschiedlich industriell entwickelten Gebieten nachgezeichnet werden. Den veröffentlichten Ergebnissen der drei landwirtschaftlichen Betriebszählungen sind eine Reihe anschaulicher Karten zur räumlichen Verteilung der landwirtschaftlichen Betriebs großen im Deutschen Reich beigefügt.

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Ihre Betrachtung macht sofort deutlich,

daß auch nach der kapitalistischen Bauernbefreiung Elbe und Saale das Gesamtterritorium des Reiches zweiteilten in das überwiegend durch den Großbetrieb gekennzeichnete ostelbische und 18 das vorwiegend durch Klein- und Mittelbetriebe

geprägte westelbische Gebiet.

Wir finden (der territorialen Gliederung der Sta-

tistik folgend) die größte Konzentration von Betrieben über 100 ha LN in Pommern, im Regierungsbezirk (RB) Stralsund, wo diese Betriebe über Dreiviertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten, und noch einmal 15 Prozent (also insgesamt 90 Prozent) die Betriebe der Größengruppe von 20 bis 100 ha LN. Eine annähernde Konzentration der Betriebe über 100 ha finden wir noch in beiden Mecklenburg mit einem Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche von rund 60 Prozent. In den übrigen preußischen Provinzen östlich der Elbe lag die Konzentration landwirtschaftlicher Nutzfläche bei den Großbetrieben zwischen 55 (Posen) und 35 Prozent (Schlesien). Aber auch im mitteldeutschen Gebiet zwischen Elbe und Saale (in Anhalt und in sächsischen Gebieten) war der Großbetrieb über 100 ha mit einem Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche noch recht stark vertreten. In den Gebieten, deren Struktur durch die Großbetriebe über 100 ha LN bestimmt war, finden wir in der Regel auch eine starke Gruppe von Betrieben der Größengruppe von 20 bis 100 ha sowie eine weit über dem Durchschnitt des Reiches liegende Zahl von Betrieben der untersten Größengruppe unter 2 ha LN. In Mecklenburg-Strelitz waren beispielsweise 83, 8 Prozent aller Betriebe kleiner als 2 ha LN, ähnlich lagen die Anteilziffern in den übrigen Gebieten des Großgrundbesitzes. Wir kommen bei der Darstellung von Haupt- und Nebenerwerb in landwirtschaftlichen Betrieben noch einmal darauf zurück. 18

Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, N . F . , Bd. 5 (1882), Bd. 112 (1895) und Bd. 212, 2 b (1907). 19 Zu den historischen Wurzeln der als kapitalistischen Agrardualismus gekennzeichneten Zweiteilung vgl. Heitz, Gerhard, Agrardualismus, Eigentumsverhältnisse, Preußischer Weg, Masch, druck eines Vortrages, gehalten auf dem Kongreß für Wirtschaftshistoriker, Leningrad 1970.

Die Struktur der Bauernschaft

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Westlich der Elbe gab es eine weitere Abstufung in den Größengruppen von Ost nach West: Der äußerste Westen und Südwesten des Reiches waren das Zentrum der Größengruppen von 2 bis 5 ha LN und von 5 bis 10 ha LN (Betriebe der Größengruppe 2 - 5 ha fanden sich im ostelbischen Gebiet in einer Konzentration über dem Reichsdurchschnitt nur in dem schlesischen RB Oppeln und der sächsischen Kreishauptmannschaft [KH] Bautzen). Ihm schloß sich an ein Gebiet mit vorherrschenden Größengruppen von 20 bis 100 ha LN in Nordsüdrichtung verlaufend (von Schleswig-Holstein über Hannover, Anhalt und Bayern) und mit v o r h e r r schenden Größengruppen von 10 bis 20 ha in Richtung von Süden nach Norden v e r laufend (von Franken über Württemberg, Königreich Sachsen, Schaumburg-Lippe bis Hannover). Für die weitere Untersuchung wurden unter den Gesichtspunkten der geographischen Lage, der Betriebsgrößenstruktur und der industriellen Entwicklung die folgenden 15 Territorien (Verwaltungseinheiten) ausgewählt (s. S. 58). Die Tabelle 4 im Anhang gibt einen Überblick über die Veränderungen der einzelnen Betriebsgrößengruppen in den ausgewählten Territorien, und zwar über die absolute Zu- und Abnahme der Betriebe, über die Veränderungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Betriebe sowie über die Entwicklung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, ausgedrückt in der Durchschnittsgröße der Betriebe der jeweiligen Größengruppe. E s ist als e r s t e s festzustellen, daß die Entwicklung im Zeitraum bis 1895 verhältnismäßig häufig genau umgekehrt verlief als in den 12 J a h ren um die Jahrhundertwende. Bei den Großbetrieben ist das besonders deutlich: Im Zeitraum von 1882 bis 1895 nahmen in den meisten ausgewählten Gebieten sowohl die Betriebe a l s auch der Umfang der Nutzfläche in dieser Gruppe zu, im Zeitraum zwischen 18S5 und 1S07 dagegen nahm sowohl die Zahl der Betriebe a l s auch der Umfang der Nutzfläche ab. Zur Beurteilung der Entwicklungstendenz wird uns unter dem Aspekt der weiter fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung in der Landwirtschaft vorwiegend der Zeitraum um die Jahrhundertwende interessieren. Es ist zweitens zu bemerken, daß die Entwicklung in den ausgewählten ost- und westelbischen Gebieten im wesentlichen entgegengesetzt verlief und die Veränderungen in den mitteldeutschen Gebieten fast immer denen in O s t elbien glichen. Eine Divergenz zwischen industriell entwickelten Gebieten e i n e r seits und industriell noch kaum erschlossenen Gebieten andererseits, wie sie V

J. Solta in der Gegenüberstellung des RB Frankfurt und der KH Bautzen h e r a u s arbeiten konnte, ergab sich in diesem Vergleich größerer Räume nicht. So geht die oben bereits festgestellte absolute Zunahme der Betriebe unter 2 ha LN zwischen 1895 und 1907 fast ausnahmslos auf die Entwicklung in den westelbischen

Sigrid Dillwitz

58 Lfd. Territorium Nr. (Verwaltungseinheit)

geographische Lage

über dem Reichsdurchschnitt liegender Anteil an Betrieb sgrößengruppen

Stand der industriellen Entwicklung

1.

Großherzogtum Mecklenburg Schwerin

Ostelbien - Norden

über 100 ha unter 2 ha

keine Industrie

2.

RB Stralsund (Pro--Ostelbien - Norden vinz Pommern) RB Königsberg Ostelbien - Nord(Provinz Ostosten preußen)

über 100 ha unter 2 ha

keine Industrie

über 100 ha 50 bis 100 ha

geringe Industrie

4.

RB Frankfurt (Pro-Ostelbien - Osten vinz Brandenburg

über 100 ha

geringe Industrie

5.

RB Oppeln (Provinz Schlesien)

Ostelbien - Südosten unter 2 ha 2 bis 10 ha über 100 ha

entwickelte Industrie

6.

Herzogtum Anhalt

Mitteldeutschland

Agrargebiet Industrie

7.

KH Dresden (Königreich Sachsen)

Mitt eldeut sch land

10 bis 20 ha 20 bis 50 ha

entwickelte Industrie

8.

KH Bautzen (Kö- Mitteldeut schland nigreich Sachsen)

unter 2 ha 2 bis 5 ha 10 bis 20 ha

entwickelte Industrie

9.

SchleswigHolstein

Westelbien - Norden

20 bis 100 ha

Agrargebiet

10.

Herzogtum Braun schweig

Westelbien - Mitte

20 bis 100 ha

vorwiegend Agrargebiet

11.

Provinz Westfalen Westelbien - Mitte (Preußen)

12.

RB Düsseldorf

13.

RB Wiesbaden Westelbien - Westen unter 2 ha (Provinz Hessen2 bis 5 ha Nassau) 5 bis 10 ha

3.

Uber 100 ha 50 bis 100 ha unter 2 ha

unter 2 ha 2 bis 5 ha 5 bis 10 ha 10 bis 50 ha

entwickelte Industrie

Westelbien - Westen unter 2 ha 5 bis 10 ha 10 bis 50 ha

entwickelte Industrie entwickelte Industrie

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Die Struktur der Bauernschaft Lfd. Territorium Nr. (Verwaltung s einheit)

geographische Lage

über dem Reich s durchschnitt liegender Anteil an Betrieb sgrößengruppen

Stand der industriellen Entwicklung

14.

Großherzogtum Baden

Westelbien - Süden

unter 2 ha 2 bis 5 ha 5 bis 10 ha 10 bis 20 ha

Industrie

15.

Königreich Württemberg

Westelbien - Süden

unter 2 ha 2 bis 5 ha 5 bis 10 ha 10 bis 20 ha

Industrie

Gebieten zurück. In allen ausgewählten ostelbischen Territorien nahm die Zahl der Parzellenbetriebe ab, und zwar auch in den Gebieten mit entwickelter Industrie wie im RB Oppeln und den sächsischen KHen Dresden und Bautzen. Die Betriebe von 2 bis 5 ha LN nahmen um die Jahrhundertwende in fast allen westelbischen und mitteldeutschen Territorien ab (ausgenommen der RB Wiesbaden: dort gab es eine Zunahme der Zahl der Betriebe bei verringerten Durchschnittsgrößen) und in den ostelbischen Territorien zu (ausgenommen der RB Oppeln, wo es eine absolute Abnahme gab, in Relation zur Gesamtzahl der Betriebe jedoch ebenfalls eine Zunahme). Die Durchschnittsgrößen haben sich in der Regel geringfügig verringert oder sind konstant geblieben. In den Größengruppen von 5 bis 20 ha LN gab es in der Mehrzahl der ausgewählten Territorien um die Jahrhundertwende eine absolute Zunahme der Betriebe. Bei den wenigen Gebieten, in denen die Zahl der Betriebe abnahm, handelte es sich um die west- bzw. südwestdeutschen Industriegegenden Düsseldorf, Baden und Württemberg und als einzige Ausnahme im ostelbischen Raum um den RB Königsberg. Der Vergleich der Relativwerte, das heißt des Anteils der Betriebe dieser Größe an der Gesamtzahl der Betriebe, zeigt zwischen 1895 und 1907 dagegen wieder ein eindeutig entgegengesetztes Bild in West- und Ostelbien. In allen ausgewählten ostelbischen und in den mitteldeutschen Territorien nahm der Anteil der Betriebe zu, in allen ausgewählten westelbischen Gebieten veränderten sich die Relationen weiter zuungunsten dieser Größengruppe. Die Durchschnittsgröße der Betriebe nahm in der Mehrzahl der ausgewählten Territorien ab. Damit wird das oben gezeichnete Bild, das im Reichsdurchschnitt eine allgemeine Zunahme der Betriebe dieser Größerigruppe zeigte, doch wesentlich verändert, vor al-

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Sigrid Dillwitz

lern wenn wir davon ausgehen, daß die im Kapitalismus bestimmende Entwicklungstendenz sich (von anderen Faktoren hier abgesehen) in den kapitalistisch fortgeschrittenen westlichen Gebieten klarer ausprägte. Die Zahl der Betriebe von 20 bis 100 ha LN nahm im selben Zeitraum in den ausgewählten Gebieten ab, lediglich in der KH Bautzen geringfügig zu. Die Durchschnitt sgrößen jedoch verminderten sich nicht in gleicher Weise: In 9 von den ausgewählten 15 Territorien vergrößerten diese Betriebe ihre Nutzfläche in der Regel um durchschnittlich 1 bis 2 ha, im RB Oppeln immerhin um die recht beachtliche Zahl von 4 ha Nutzfläche, bei sonst absolutem Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzfläche dieser Größengruppe im Reichsdurchschnitt. In der Größengruppe über 100 ha LN gab es im Verhältnis zur Gesamtzahl der Betriebe um die Jahrhundertwende kaum Veränderungen. Die Durchschnittsgrößen jedoch, die sich im Maßstab des Reiches allgemein verringerten, erhöhten sich in all den Gebieten, die nur geringen Großgrundbesitz hatten - so in Westfalen, Wiesbaden, Baden, Dresden und schließlich auch in einigen Gebieten mit bereits ausgeprägtem Großgrundbesitz, so im RB Stralsund und in Anhalt. Im allgemeinen aber war die Ausdehnung der Bodenfläche über ein bestimmtes Maß hinaus nicht typisch. Kautsky bemerkte bereits 1899,^die Zentralisierungstendenz in der Landwirtschaft äußere sich weniger darin, daß ein Großbetrieb "mit genügendem Kapital und Boden" das Bestreben zeige, sich weiter auszudehnen, sondern 20 Einzelbeispiele dafür

vielmehr darin, außer ihm einen zweiten zu erwerben.

findet man schon in den agrarstatistischen Untersuchungen von Johannes Conrad 21

"Die Latifundien im preußischen Osten" aus dem Jahre 1888.

Ohne Eigentums-

statistik läßt sich die Bodenkonzentration über Beispiele hinaus auch nicht nachweisen. Das Wachstum der Betriebsgrößen von 5 b i s 20 ha LN im Reichsdurchschnitt und die Abnahme der Nutzfläche in den Großbetrieben um die Jahrhundertwende hat die zeitgenössische bürgerliche Literatur als einen Sieg22des bäuerlichen Mittelbetriebes gegenüber dem Großbetrieb ausgiebig gefeiert

und die Unanwend-

barkeit der Marxschen Theorie des Kapitalismus auf die Entwicklung in der Landwirtschaft für bewiesen geglaubt. 20 Kautsky, Karl, S. 150. 21 Conrad, Johannes, Agrarstatistische Untersuchungen, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1888, Bd. 16 (N.F.), S. 121-170. 22 Hervorzuheben ist vor allem Eduard Davids Buch "Sozialismus und Landwirtschaft", 1. Auflage 1903, mit dem sich I^enin besonders auseinandersetzt; vgl. Lenin, W. I . , Die Agrarfrage und die Marxkritiker, a. a. O.

Die Struktur der Bauernschaft

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E s ging ihnen insbesondere darum, den Prozeß der Konzentration der Produktion und seine Parallelerscheinung, die Differenzierung der Bauernschaft bis zur schließlichen Auflösung der kleinen und mittleren Betriebe, zu leugnen und dagegen zu beweisen, daß sich die Klein- und Mittelbetriebe in den Agrarkrisen der 70er und 90er Jahre weniger anfällig gezeigt und ihre Überlegenheit gegenüber dem Großbetrieb demonstriert hätten. Die These von der Perspektive des landwirtschaftlichen Klein- und Mittelbetriebes war keineswegs nur theoretischer Natur, sondern der Versuch, der marxistischen Theorie vom Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft und einer marxistischen A g r a r politik eine bürgerliche Alternative (und ein Programm zur Förderung des Kleinund Mittelbetriebes) zu geben. Wie wenig geeignet sich die Daten der Betriebsgrößen nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche a l s theoretisches Fundament einer solchen Alternative erweisen mußten, ist weiter oben bereits deutlich geworden. Der dem Kapitalismus wesenseigene Kbnzentrationsprozeß ist in der Landwirtschaft nicht in e r s t e r Linie eine Konzentration des Bodenbesitzes, sondern eine Konzentration der Produktion in einem Teil der Betriebe auf Kosten der großen Mehrheit der Betriebe. Dieser Prozeß spiegelt sich nur außerordentlich langsam - a l s Ergebnis eines längeren Kampfes der kleineren und mittleren Betriebe um die Existenz - in Veränderungen des Flächenumfanges wider. Um ihn zu erfassen, müssen andere für den kapitalistischen Produktionsprozeß typische Faktoren hinzugezogen werden.

Die sozialökonomische Struktur in der Landwirtschaft Haupt- und Nebenerwerb der landwirtschaftlichen Betriebsinhaber Die Frage nach dem Haupt- oder Nebenberuf der landwirtschaftlichen Betriebsinhaber hat in den einzelnen Betriebsgrößengruppen eine unterschiedliche Bedeutung und hing unter anderem von der Art des sogenannten Nebenberufes ab. Landwirtschaftliche Betriebe, deren Inhaber im Hauptberuf Lohnarbeiter waren oder einen Teil des Betriebskapitals aus einem Nebenerwerb als Lohnarbeiter beziehen mußten, da die Wirtschaft selbst keine ausreichenden Einnahmen zur Reproduktion abwarf, gehörten zu einer anderen sozialökonomischen Kategorie a l s jene Betriebe, deren Inhaber im Haupt- oder Nebenberuf einen selbständigen Handwerksbetrieb besaßen, und beide wiederum waren rficht gleichzusetzen mit den Junker-

Sigrid Dillwitz

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wirtschaften, deren Inhaber industrielle Unternehmen oder die Beteiligung daran während der landwirtschaftlichen Zählungen als "Nebenerwerb" angaben. Mit der Betrachtung des Haupt- und Nebenberufes in den einzelnen Betriebsgrößengruppen soll im folgenden begonnen werden, den sozialökonomischen Typ des Betriebes näher zu bestimmen und zunächst den Teil der Wirtschaften herauszuarbeiten, der als proletarisch zu kennzeichnen und für die weitere Darstellung nicht mehr von Interesse ist. Vergleichbare Zählungen über den Haupt- und Nebenberuf des landwirtschaftlichen Betriebsinhabers fanden 1895 und 1907 statt, so daß eine Entwicklung um die Jahrhundertwende deutlich gemacht werden kann. Die Zählungen weisen alle Betriebsinhaber (nicht alle Beschäftigten) aus, die die Landwirtschaft hauptberuflich entweder als Selbständige oder als Unselbständige mit oder ohne Nebenerwerb betrieben, und stellen sie denjenigen gegenüber, die zwar einen landwirtschaftlichen Betrieb besaßen, aber ihre Haupteinkünfte aus anderer selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit, die in Wirtschaftsbereichen nachgewiesen ist, bezogen. Im Gesamtüberblick des Deutschen Reiches waren 1907 32, 7 Prozent - also noch nicht einmal ein Drittel - aller landwirtschaftlichen Betriebsinhaber selbstän dige Landwirte ohne einen Nebenerwerb. Die übrigen zwei Drittel waren im Hauptoder Nebenberuf Selbständige oder Lohnarbeiter in anderen Wirtschaftsbereichen, 24 vorwiegend in der Industrie. In den einzelnen Betriebsgrößengruppen lagen die Verhältnisse jedoch sehr unterschiedlich. Im folgenden soll dieser Frage anhand der Entwicklung in den ausgewählten Territorien nachgegangen werden. a) Die Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche bis zu 2 ha In Deutschland waren von den über 3 Millionen Betrieben der Größengruppe bis zu 2 ha LN im Jahre 1895 12, 9 und 1907 9,4 Prozent selbständige Landwirte ohne Nebenerwerb. Dieser geringe Prozentsatz wurde - wie Tabelle 5 ausweist in der Mehrzahl der ausgewählten Territorien noch weit unterboten und lag nur in einigen wenigen Gebieten mit vorwiegenden Klein- und Mittelbetrieben (Wiesbaden, Baden, Württemberg) bzw. im industriellen RB Oppeln über dem Reichsdurchschnitt. Die übergroße Mehrheit (75 bis über 90 Prozent) der Besitzer von Betrieben unter 2 ha LN war im Haupt- oder Nebenberuf Lohnarbeiter. Dabei überwogen in den Gebieten mit überwiegendem Großgrundbesitz die landwirtschaft23 24

Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 112 (1895) und Bd. 212 (1907). Vgl. ebenda.

Die Struktur der Bauernschaft

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liehen Lohnarbeiter; in Mecklenburg-Schwerin, in den RBen Stralsund, Königsberg und Frankfurt betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Betriebsinhaber dieser Größengruppe 1895 zwischen einem Drittel (Frankfurt) und fast zwei Dritteln (Königsberg). In den ausgewählten Industriegebieten Oppeln, Dresden, Bautzen, Düsseldorf, Westfalen sowie in Anhalt und Braunschweig überwog dagegen der Anteil der industriellen Lohnarbeiter. Es handelt sich also bei der Masse dieser "Landwirte" in Wirklichkeit um Proletarier, die ihre Lebensbedingungen durch die Bewirtschaftung eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes aufzubessern suchten. Lenin bezeichnete sie "auf der einen Seite als ein direktes Überbleibsel der Leibeigenschaft im Kapitalismus" und meinte hier besonders die ostelbischen Landarbeiter mit Deputatland, und auf der anderen Seite als einen Teil der Reservearmee der Arbeitslosen im Kapi25 talismus, und zwar die lantente Form dieser Armee. "Ein Gemüsegarten oder ein Stückchen Kartoffelland sind für diese Armee von Hungerleidern ein Mittel zur Ergänzung ihres Lohnes bzw. ein Mittel, um in Zeiten, da sie keine Arbeit haben, ihr Dasein zu fristen. Der Kapitalismus braucht diese ' Zwerg- oder P a r zellen' -Quasi-Landwirte, um ständig ohne irgendwelche Unkosten eine Menge 26 billiger Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben." Im Zeitraum von 1895 bis 1907 verringerte sich die kleine Zahl der selbständigen Landwirte unter diesen Betriebsinhabern in allen ausgewählten Gebieten; ebenfalls verringerte sich in der Mehrzahl dieser Gebiete die Durchschnittsgröße ihrer Betriebe und auch ihr Viehv, * 27 besatz. Gleichzeitig nahm der Anteil der industriellen Lohnarbeiter unter den Besitzern von Parzellenbetrieben zu, zum Teil bis über 10 Prozent. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich hier - auch unter dem Aspekt der weiter oben bereits angeführten beträchtlichen Zunahme der Gesamtzahl dieser Betriebe - um einen Prozeß der Proletarisierung handelte; um einen Prozeß, der sich in den ausgewählten westelbischen Industriegebieten schneller vollzog als in den ostelbischen Agrargebieten - sich aber auch hier in der Verminderung der selbständigen Landwirte und der Zunahme von Industriearbeitern unter den Besitzern der Parzellenbetriebe zeigte. In Agrargebieten, wo sich keine oder geringe Möglichkeiten für einen Nebenerwerb als Lohnarbeiter boten, waren die Verhältnisse der Parzellen25 Vgl. Lenin, W.I., Das kapitalistische System, a . a . O . , S. 442 f. 26 Ebenda, S. 443. 27 Vgl. die Tabellen 3, 5a und 8.

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besitzer nach den Berichten des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen

28

Zustände in Deutschland 1883 oft sehr viel dürftiger als die von Proletariern. Das galt jedoch nicht für eine allerdings sehr geringe Zahl von Betrieben dieser Größengruppe, die sich durch besondere Umstände - günstige Marktlage in der Nähe von Industriestädten, gute Bodenqualität oder ähnliches - zu intensiven kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieben entwickeln konnte. Solche Betriebe finden wir unter den ausgewählten Territorien besonders in Baden und Württemberg (wie Tabelle 5 zeigt, waren hier 1895 ein Viertel der Besitzer von Betrieben bis zu 2 ha LN selbständige Landwirte ohne einen Nebenerwerb) sowie in den RBen Wiesbaden und Oppeln. In diesen Gebieten gab es - berechnet auf 100 B e triebe - eine etwas größere Anzahl von Lohnarbeitern und zum Teil einen höheren Viehbesatz. Wir finden in allen ausgewählten Gebieten Betriebe, die bei einer Nutzfläche bis 2 ha LN über 6 Arbeitskräfte (familieneigene und fremde) beschäf29 tigten. Zwar war ihr Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe in dieser Größengruppe sehr gering - er lag im allgemeinen unter einem, lediglich im RB Oppeln über zwei Prozent -, doch gab es darunter einzelne Betriebe (besonders in Baden, Württemberg und in der sächsischen KH 30 Dresden), die mehr als 50 und zum Teil über 100 Arbeitskräfte beschäftigten. Eine solche Zahl von Arbeitern läßt keinen Zweifel, daß es sich hier um kapitalistische Großproduktion handelt, große Viehzuchtwirtschaften in Vorstädten zum Beispiel, Spezialkulturen oder ähnliches. Sie haben vom sozialökonomischen Typ her mit den proletarischen Parzellenbetrieben nichts gemeinsam und sind nur durch die gleichgroße Fläche in eine gemeinsame Gruppe geraten. Zusammenfassend können wir feststellen: Es gab unter den Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche bis zu 2 ha eine verschwindend geringe Anzahl kapitalistischer Großbetriebe und bäuerlicher Wirtschaften, die sich vorwiegend in der Nähe von Industriestädten entwickeln konnte; bei der großen Masse dieser Betriebe handelte es sich jedoch nicht um selbständige Wirtschaften, sondern um Parzellen von Industrie- und Landarbeitern.

28 29 30

Vgl. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Leipzig 1883, Bd. 22-24, Bäuerliche ISuständFiiTDeüticI^ S. 67; vgl. ferner Kautsky, Karl, S. 176. Vgl. Tabelle 7a. Vgl. ebenda.

Die Struktur der Bauernschaft

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b) Die Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 2 bis 5 ha Von den Betriebsinhabern in der Größengruppe von 2 bis 5 ha LN bezogen 1895 etwas unter und 1907 etwas über die Hälfte Einkünfte aus einem außerhalb der 31 eigenen Landwirtschaft liegenden Haupt- oder Nebenberuf. Der Anteil der Lohnarbeiter unter diesen Betriebsinhabern war jedoch geringer a l s bei den Parzellenbesitzern; er betrug 1907 im 32Durchschnitt 10 Prozent, davon waren 8, 2 Prozent Lohnarbeiter im Hauptberuf. Die Verhältnisse lagen in den ausgewählten Territorien wieder etwas unterschiedlich: Den höchsten Anteil von Lohnarbeitern (im Hauptberuf) finden wir unter den Inhabern mit Betrieben von 2 bis 5 ha LN in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Schwerin (15,4 bzw. 13, 7 Prozent). Das waren auch die beiden einzigen der ausgewählten Territorien, in denen über 10 Prozent dieser Betriebsbesitzer als Hauptberuf Landarbeiter angegeben hatten. Man wird diese Betriebe ohne Zweifel den proletarischen Parzellenbetrieben zurechnen müssen. Ihr Anteil lag in den ostelbischen Gebieten mit großem Grundbesitz und geringer Industrie höher als in den übrigen ausgewählten Gebieten. Die Mehrzahl der Inhaber von Betrieben mit 2 bis 5 ha LN, die ihre Haupteinkommensquelle außerhalb der Landwirtschaft hatten, waren Selbständige in der Industrie, im Handel usw., das heißt Handwerker, Dorfkaufleute, Gaststättenbesitzer. Die Größe dieser gewerblichen Betriebe ist der Statistik nicht zu entnehmen. In der Regel werden es nur kleine, höchstens mittlere Betriebe gewesen sein, die es erlaubten oder auch notwendig machten, die kleine Landwirtschaft noch zu betreiben. Nehmen wir an, daß es sich bei den selbständigen Landwirten mit einem Nebenerwerb zum größten Teil ebenfalls um kleine selbständige Handwerker gehandelt hat, so lag der Anteil von Landwirtschaftsbetrieben mit Haupt- oder Nebenerwerb aus Handwerk, Handel, Gaststättengewerbe usw. in dieser Größengruppe zwischen 30 und 40 Prozent, wobei in den ausgewählten Territorien lediglich der Vorrang der Einkommensquelle unterschiedlich war. Als selbständige bäuerliche Wirtschaften können wir diese Betriebe nicht kennzeichnen; sie waren in der Mehrzahl ohne den zusätzlichen Erwerb aus einem anderen Wirtschaftsbereich nicht existenzfähig. In anderem Zusammenhang, bei der Betrachtung der Lohnarbeit und des Viehbesatzes, wird darauf noch zurückzukommen sein. Als selbständige Landwirtschaftsbetriebe waren 1895 im Durch31 Vgl. die Tabellen 5a und 5b. 32 Vgl. Tabelle 5b.

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schnitt des Deutschen Reiches nur rund die Hälfte aller Betriebe dieser Größengruppe zu bezeichnen. Von den ausgewählten Territorien hatte der Südwesten und Westen - in der Reihenfolge Baden, Württemberg, Düsseldorf, Wiesbaden den höchsten Anteil an selbständigen Landwirten mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 2 bis 5 ha. Den geringsten Anteil wies der RB Stralsund mit nicht 33 einmal einem Drittel selbständiger Landwirte ohne Nebenerwerb auf. Hier gilt, was bereits für die wenigen Ausnahmen unter den Parzellenbetrieben gesagt wurde: Unter günstigen Marktbedingungen in der Umgebung von Industriestädten war die Chance, die Existenz des Landwirtschaftsbetriebes meist durch die Umstellung auf Spezialkulturen im Konkurrenzkampf zu behaupten, zunächst größer. In den vornehmlich Getreide und Kartoffeln anbauenden Agrargebieten konnten Betriebe bis zu 5 ha LN bei der Konkurrenz der Großbetriebe wesentlich schwerer bestehen. Die fortschreitende Entwicklung zeigte bis 1907 in allen ausgewählten Territorien (abgesehen von zwei Ausnahmen) eine 34 Verringerung der selbständigen Landwirtschaftsbetriebe ohne Nebenerwerb. Gleichzeitig nahm fast überall der Anteil der Wirtschaften mit Nebenerwerb zu sowie ohne Ausnahme die Zahl derjenigen Landwirte, die bei Aufrechterhaltung des 35 Betriebes ihren Haupterwerb als Lohnarbeiter in der Industrie suchten. Sehen wir von den beiden Ausnahmen mit einer geringfügigen Zunahme der selbständigen Landwirte ohne Nebenerwerb ab (die in Mecklenburg-Schwerin und im RB Düsseldorf ganz entgegengesetzten Bedingungen entsprang), so läßt sich die Entwicklungstendenz einerseits als Proletarisierung eines Teiles der kleinen Landwirte charakterisieren. Andererseits ging die Tendenz dahin, daß immer mehr Betriebe dieser Größengruppe durch die Verbindung mit einer selbständigen Tätigkeit in anderen Wirtschaftszweigen den Charakter eines reinen Landwirtschaftsbetriebes verloren. c) Die Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 5 bis 20 ha Die Mehrzahl der Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 5 bis 20 ha waren 1895 selbständige Landwirtschaftsbetriebe ohne einen Nebenerwerb; »

ihr Anteil war in agrarischen Gebieten mit Großgrundbesitz und größeren bäuerlichen Betrieben (von den ausgewählten Territorien nur in Mecklenburg-Schwerin, 33 Vgl. Tabelle 5a. 34 Vgl. ebenda. 35 Vgl. Tabelle 5b.

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im RB Stralsund und in Schleswig-Holstein) geringer als in Gebieten mit Indu36 strie. Ein geringer Prozentsatz der Inhaber von Betrieben dieser Größe (in der Regel unter ein Prozent) war im Hauptberuf Lohnarbeiter in Industrie und Landwirtschaft, und relativ wenige sahen ihren Hauptberuf als Selbständige in anderen 37 Wirtschaftsbereichen. Der Nebenerwerb der selbständigen Landwirte dieser Gruppe bestand zum geringen Teil in zeitweiligem Tagelohn, zum größten Teil in der selbständigen Tätigkeit in Handwerk, Handel, Gaststättengewerbe sowie in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse (Zucker- und Stärkefabriken, Branntweinbrennereien, Getreidemüllereien, Sägemühlen usw.). Eine Untergliederung der Größengruppe mit der Zäsur bei 10 ha LN (auf die wir hier aus den oben genannten Gründen verzichten müssen) würde deutlich machen, daß es vornehmlich die Besitzer der Betriebe von 5 bis 10 ha LN waren, die einen Haupt- oder Nebenerwerb in Lohnärbeit, im Handwerk usw. suchten, und die Besitzer der größeren Betriebe von 10 bis 20 ha LN in weitaus geringerem Maße einem Erwerb außerhalb der eigenen Landwirtschaft nachgingen, der dann38vornehmlich bei der Verarbeitungsindustrie landwirtschaftlicher Produkte lag. Insgesamt aber war für die Betriebe mit einer Nutzfläche zwischen 5 und 20 ha ein Nebenerwerb nicht typisch, es handelte sich hier in der großen Masse um reine Landwirtschaftsbetriebe. In der Entwicklung zwischen beiden Zählungen 1895 und 1807 hat die Zahl der selbständigen Landwirte ohne Nebenerwerb im allgemeinen abgenommen (nur in ganz wenigen der ausgewählten Territorien gab es eine Zunahme, und auch nur in der KH Bautzen war sie mit 10 Prozent bemerkens39 wert), und die Zahl der Betriebe mit einem Nebengewerbe hat sich erhöht. Das läßt in den meisten Fällen darauf schließen, daß die Lage der Betriebe sich verschlechtert hatte und Einnahmen aus anderen Wirtschaftsbereichen gewonnen werden mußten. In manchen Fällen aber kann es sich auch durchaus um eine günstige Anlage überschüssigen Kapitals gehandelt haben. Weitere Faktoren für eine Einschätzung dieses Prozesses werden sich aus der Untersuchung des Viehbesatzes in diesen Betrieben ergeben. 36 Vgl. Tabelle 5a. 37 Vgl. Tabelle 5c. 38 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2a (1907), Tabelle 9. 39 Vgl. Tabellen 5a und 5c.

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d) Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 20 bis 100 ha Es handelt sich bei den Betrieben mit mehr als 20 ha LN um die Jahrhundertwende fast ausschließlich um reine Landwirtschaftsbetriebe; rund 90 Prozent der Betriebsinhaber wirtschafteten ohne Nebenerwerb. Lohnarbeit als Haupt- und Neben40 beruf kam in so geringen Fällen vor , daß sie nicht mehr erwähnenswert ist. Aber auch die Verbindung von Landwirtschaftsbetrieben dieser Größe mit industriellen Unternehmen, mit Handwerks-, Handels-, Gaststätten-Betrieben usw. war zu dieser Zeit gering und überschritt von den ausgewählten Territorien nur in den RBen Wiesbaden und Düsseldorf, in der KH Bautzen sowie in Baden und Württemberg den Reichsdurchschnitt von rund ein Zehntel aller Betriebe dieser 41 Ganz offensichtlich bestand hier ein Zusammenhang Größengruppe wesentlich. mit den günstigeren Möglichkeiten für einen rentablen Nebenerwerb. In Mecklenburg-Schwerin, wo es ebenfalls einen relativ hohen Anteil von Nebenerwerbsbetriebe'n in dieser Größengruppe gab (10, 6 Prozent), bestand dieses Nebengewerbe fast ausschließlich in Getreidemühlen und Ziegeleien, wobei vorwiegend die Betriebe in der Größe von 20 bis 50 ha LN einen solchen Betrieb führten, Betriebe über 50 ha LN nur noch in Ausnahmefällen. In den südwestdeutschen Territorien dagegen - und hier vorwiegend von Betrieben der Größengruppe über4250 ha LN wurden als Nebenerwerb vor allem Branntweinbrennereien geführt. Die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe mit Nebengewerbe stieg zwischen 1895 und 1907 leicht an (in Baden allerdings recht erheblich). Besonders in den industriell entwickelten Gebieten, wo das Nebengewerbe weiter verbreitet war, bedeutete in der Regel die Verbindung des Landwirtschaftsbetriebes dieser Größe mit der Verarbeitungsindustrie landwirtschaftlicher Produkte eine Stärkung der ökonomischen Position des Betriebsinhabers. Der Nebenbetrieb war eine einträgliche Kapitalanlage und nur selten ein Zwang, um den Landwirtschaftsbetrieb zu erhalten. e) Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche über 100 ha Bei den in den Statistiken als Nebenerwerb bezeichneten Einkommensquellen handelte es sich in der Größ^ngruppe mit mehr als 100 ha LN fast ausschließlich

4 0 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2b (1907), Übersicht 8. 41 Vgl. Tabelle 5c. 42 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2a (1907), Tabelle 8.

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um eine Verbindung des Landwirtschaftsbetriebes mit der landwirtschaftlichen Industrie. Im Durchschnitt des Deutschen Reiches waren 1895 22, 8 Prozent aller Inhaber von Betrieben über 100 ha LN entweder im Haupt-, vorwiegend aber im "Nebenberuf" Industrielle. In einzelnen der ausgewählten Territorien lag dieser Prozentsatz wesentlich höher: So waren 1895 zum Beispiel in den KHen Dresden und Bautzen 69, 9 bzw. 41, 9 Prozent, in den RBen Frankfurt (Oder) und Wiesbaden 41, 7 bzw. 32, 5 Prozent und in Anhalt 29,7 Prozent der Betriebe über 100 ha LN 43 mit Indüstriebetrieben verbunden. Diese Verbindung des Großgrundbesitzes mit der landwirtschaftlichen Industrie, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. ein umfangreicher Wirtschaftszweig wurde, bezeichnete Lenin als "eines der charakteristischsten Merkmale des kapitalistischen Fortschritts in der Landwirt 44 Schaft" . Es verbanden sich Grundrente und industrieller Profit in einer für den landwirtschaftlichen Großbetrieb vorteilhaften Weise. Die weiter oben festgestellte Verringerung der Nutzfläche von Großbetrieben - in der zeitgenössischen b ü r gerlichen als Rückgang der bäuerlichen 45 -Großbetriebe Klein- undLiteratur Mittelbetriebe gewertetder erweist sich zugunsten unter Berücksichtigung der 46 Konzentration der landwirtschaftlichen Industrie beim Großgrundbesitz im allgemeinen nur als Umdisponierung der Kapitalanlage zugunsten des industriellen Profits. Zwar ging zwischen 1895 und 1907 der Prozentsatz der Betriebe mit industriellem "Nebengewerbe" - zum Teil recht erheblich - zurück, und es erhöhte sich die Zahl der Großgrundbesitzer, die als Hauptberuf "Selbständiger in der Industrie" angaben, nur wenig, doch wäre es verfrüht, daraus Schlüsse über das Wachstum der Kapitalkonzentration zu ziehen. Im selben Zeitraum erhöhte sich die Konzentration der landwirtschaftlichen Industrie beim Großgrundbesitz, die absolute Zahl der Indu47landwirtschaftlichen •• striebetriebe nahm bei Betrieben über 100 ha LN zu. Uber den Umfang der P r o duktion gibt die Statistik keine Auskunft, aber es gibt um die Jahrhundertwende, wie wir bereits sahen, keinen Anhaltspunkt für einen Rückgang. 43 44 45

Vgl. Tabelle 5c. Lenin, W.I. Die Agrarfrage, a . a . O . , S. 193 f. Mit diesen Auffassungen setzten sich bereits Kautsky, Karl, a. a. O., und Lenin, Die Agrarfrage und die Marxkritiker, auseinander. 46 Vgl. dazu ausführlich Rothmann, Helmut, S. 87 ff., und Kautsky, Karl, S. 257 ff. 47 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2b (1S07), Abschnitt IX, S. 87.

70

Sigrid Dillwitz Die Analyse der Statistik über den Haupt- und Nebenerwerb in der Landwirt-

schaft machte im Überblick deutlich, daß sich in den unteren Betriebsgruppen mit der wachsenden Aufnahme von Lohnarbeit durch landwirtschaftliche Betriebsinhaber ein Prozeß der Proletarisierung vollzog, der Betriebe bis zu 5 ha LN erfaßte, daß gleichzeitig in Betriebsgrößen über 100 ha LN mit der Verbindung von Industrie und Landwirtschaft ein Prozeß der Kapitalkonzentration stattfand. Die Betriebsgrößen von 5 bis 100 ha LN schienen von beiden Prozessen nur mäßig berührt; e s dominierte der selbständige Landwirtschaftsbetrieb ohne Nebenerwerb, der um die Jahrhundertwende nur geringe Verluste erlitt. Die Daten für die Anwendung von Lohnarbeit in der Landwirtschaft sollen weiteren Aufschluß über die sozialökonomische Struktur in diesen Größengruppen geben.

Die Anwendung von Lohnarbeit in der Landwirtschaft Die landwirtschaftliche Betriebszählung von 1907 lieferte zum ersten Mal ausführliches Material über die Anwendung von Lohnarbeit in den Landwirtschaftsbetrie48 ben der einzelnen Größengruppen. Es wurden die ständigen und zeitweiligen Lohnarbeiter verschiedener Art gezählt und über ihre Verteilung auf die Größengruppen berichtet. Diese Daten sind für die Charakterisierung der Wirtschaften sehr wesentlich, doch gibt es in der Zusammenstellung erhebliche Mängel: E s wurde nicht ausgewiesen, wieviele Betriebe in jeder Gruppe ständig oder vorübergehend in bestimmter Anzahl Lohnarbeiter beschäftigten und wieviele Betriebe ohne Lohnarbeiter arbeiteten. Dadurch lassen sich Angaben nur auf 100 Betriebe berechnen, die natürlich mangelhaft sein müssen, wenn beispielsweise 99 von den 100 Betrieben keine Lohnarbeiter beschäftigen sollten. Das gleiche gilt für den Vergleich zwischen der Anzahl von mithelfenden Familienangehörigen und Lohnarbeitern, dem Lenin für die Unterscheidung 49 von bäuerlichen und kapitalistisehen Betrieben besondere Bedeutung beimaß. Die Zählung von Betrieben, die am 12. Juni 1907 eine bestimmte Anzahl von Personen (von 1 bis über 200 P e r s o nen in Gruppen zusammengefaßt) beschäftigten, ergänzt das Material über die Anwendung von Lohnarbeit, ist allerdings in unserem Zusammenhang nicht von 48 49

Vgl. ebenda, Bd. 212, la (1907),Tabellen 4 und 5. Vgl. Lenin, W. I . , Das kapitalistische System, a . a . O . , S. 441.

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eindeutiger Aussagekraft, weil hier ständig und zeitweilig beschäftigte Personen zum Stand vom 12. Juni, der nicht der Höchststand war, zusammengefaßt wurden. Beide Zählungen müssen jedoch unter Berücksichtigung dieser Vorbehalte die Grundlage für die folgende Darstellung über die Anwendung von Lohnarbeit bilden. Die Lohnarbeit in Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche unter 2 ha wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Im Durchschnitt des Deutschen 50 Reiches kamen auf 100 Betriebe 3 ständige und 11 zeitweilige Lohnarbeiter. In den ausgewählten Gebieten mit verbreiteter Industrie - Baden, Oppeln, Dresden, Bautzen - war der Prozentsatz der Lohnarbeiter höher (aber nicht in allen Industriegebieten: In Düsseldorf zum Beispiel war die Zahl der Parzellenbesitzer, die selbst Lohnarbeiter waren, größer, hingegen die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe, die Lohnarbeiter beschäftigten, kleiner a l s im Reichsdurchschnitt), in den agrarischen Gebieten mit großem Grundbesitz - wie Mecklenburg und auch Anhalt - war er wesentlich geringer. Die Lohnarbeiter konzentrierten sich außerdem in einigen wenigen Spezialbetrieben dieser Größengruppe, die zum Teil über 50 Lohnarbeiter beschäftigten. E s gab in 51 Deutschland 66 solcher Betriebe, davon allein in Baden 11 und in Württemberg 6. In der Masse der ß e t r i e b e dieser Größe war die Beschäftigung von Lohnarbeitern nicht üblich, denn es handelte sich, wie bereits geklärt, in der Mehrzahl um Parzellenbetriebe von Lohnarbeitern. Demgegenüber wandten die Betriebe über 100 ha LN Lohnarbeit im großen Ausmaß an. Im Durchschnitt des Reiches beschäftigte jeder Großbetrieb 34 ständige 52 Lohnarbeiter und außerdem 17 Arbeitskräfte während der Arbeitsspitzen. In den meisten ausgewählten Gebieten entsprach die Zahl der Landarbeiter pro Betrieb ungefähr dem Durchschnitt. In Südwestdeutschland hatten die wenigen Großbetriebe (mit relativ geringem Flächenumfang) im allgemeinen eine geringere Zahl von Lohnarbeitern. Die Betriebe mit den durchschnittlich meisten Lohnarbeitern gab es in Anhalt, bedingt durch den intensiven Zuckerrübenanbau (52 ständige und 49 Saisonarbeitskräfte, also rund 100 Lohnarbeiter pro Betrieb im Juni), und im RB Oppeln (rund 58 ständige und 25 zeitweilige Lohnarbeiter). Gebiete, in denen die Großbetriebe die Masse der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten, blieben zum Teil unter dem Reichsdurchschnitt an Landarbeitern pro Betrieb - so in Mecklenburg-Schwerin und in den RBen Stralsund 50 Vgl. Tabelle 6a. 51 Vgl. Tabelle 7a. 52 Vgl. Tabelle 6a.

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und Königsberg. Das kann seine Ursache sowohl in einem höheren Grad der Mechanisierung als auch in einem geringeren Grad der Intensivierung haben. Die Zählung der am 12. Juni 1907 beschäftigten Personen in den Größengruppen 53 unterstreicht diese Feststellungen : In Anhalt, Oppeln, Braunschweig beschäftigte die Mehrheit der Großbetriebe über 50 Personen, in Anhalt 36 Prozent aller Betriebe über 100 Personen. In Westfalen, Düsseldorf, Baden, Schleswig-Holstein beschäftigten dagegen keine 20 Prozent der Großbetriebe über 50 Personen. Insgesamt aber ist eindeutig, daß es sich bei den Landwirtschaftsbetrieben über 100 ha LN ausschließlich um kapitalistische Großbetriebe handelte, die mehr oder weniger intensiv arbeiteten. Die Anwendung von Lohnarbeit in Betrieben der Größengruppen von 2 bis 100 ha LN soll im folgenden etwas eingehender betrachtet werden; die Kennzeichnung der Wirtschaftstypen fällt schwerer, da die Grenzen sich vielfach überlagern und verwaschen. Wenden wir uns zunächst wieder den Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 2 bis 5 ha LN zu. Im Durchschnitt des Deutschen Reiches beschäftigten 100 Betriebe ständig 13 Lohnarbeiter. Bezieht man nur die selbständigen Landwirtschaftsbetriebe ohne Nebenerwerb in diese 100 Betriebe ein (weil anzunehmen ist, daß die übrigen nur selten fremde Arbeitskräfte beschäftigen konnten), so erhöht sich der Prozentsatz auf rund 26 Lohnarbeiter. Das ist eine geringe Zahl. Selbst wenn sich diese Lohnarbeiter auf die Betriebe verteilten, hatten von der Gesamtzahl der Betriebe ca. neun Zehntel und von den selbständigen Landwirtschaftsbetrieben ohne Nebenerwerb Dreiviertel keine ständigen Lohnarbeiter. Die Zahl der zeitweilig beschäftigten Lohnarbeiter lag etwas höher. Etwas über ein Viertel der gesamten und fast ein Drittel aller selbständigen Betriebe hatten in den landwirtschaftlichen Arbeitsspitzen fremde Arbeitskräfte. Diese Feststellungen, die von einer gleichmäßigen Verteilung der Landarbeiter ausgehen, wurden durch die Zählung der Betriebe nach beschäftigten Personen korrigiert. Dieser Statistik zufolge arbeiteten weit weniger Betriebe ohne Lohnarbeiter (Tabelle 7b - die Personengruppen 1 bis 3 und 4 bis 5), und nur in einer relativ geringen Zahl - 10 Prozent der Gesamtzahl der Betriebe nicht übersteigend - war die Masse der in dieser Größengruppe gezählten ständigen und zeitweiligen Lohnarbeiter beschäftigt. Rund 3 Prozent der Betriebe arbeiteten mit 6 bis 53 Vgl. Tabelle 7a.

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10 Personen, 0, 2 Prozent mit mehr als 10 Personen - davon 22 Betriebe 54 mit mehr als 100 Personen. In den ausgewählten Territorien war die Beschäftigung von Lohnarbeitern - sowohl was den Umfang als auch die Kombination ständiger und zeitweiliger Lohnarbeiter sowie den Vergleich selbständiger Landwirte und Lohnarbeiter betrifft - so unterschiedlich, daß sich kaum Gemeinsamkeiten in mehreren Gebieten herausarbeiten lassen. Unter dem Reichsdurchschnitt blieb die Beschäftigung von ständigen Lohnarbeitern in den RBen Stralsund und Frankfurt und den beiden 55 westdeutschen Territorien Wiesbaden und Württemberg , am höchsten war sie in den ausgewählten Industriegebieten Düsseldorf und in Braunschweig sowie - bei den zeitweilig beschäftigten Landarbeitern - in Oppeln, Königsberg, Anhalt und nochmals in Braunschweig. In einigen Industriegebieten blieb die Zahl der selbständigen Landwirte ohne Nebenerwerb in dieser Gruppe unter dem Reichs56 durchschnitt , während die Zahl der Betriebe mit über 6 Beschäftigten über dem Reichsdurchschnitt lag (so in Oppeln, Anhalt, Braunschweig), das heißt, es gab eine Mehrheit von Landwirtschaftsbetrieben, die ihren Betrieb durch Nebenerwerb erhalten mußten, und eine kleinere Zahl, die sich hocharbeiten und ein oder mehr e r e Lohnarbeiter halten konnte. Die meisten Großbetriebe unter den Wirtschaften von 2 bis 5 ha Nutzfläche, in denen nach der Zählung von 1907 über 20 und in Einzelfällen über 100 Personen beschäftigt waren, finden wir in Westfalen (60 Be57 triebe), Baden (43) und Oppeln (39). Zusammengefaßt läßt sich feststellen: Von den Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 2 bis 5 ha beschäftigte die Mehrzahl um die Jahrhundertwende keine oder nur zeitweilig Lohnarbeiter. Ein geringer Prozentsatz arbeitete regelmäßig während der Arbeitsspitzen mit fremden Arbeitskräften. Es gab jedoch unter diesen Betrieben eine geringe Zahl, die sich unter günstigen Bedingungen, zu denen vor allem die Nähe von Industriestädten gehörte, zu kapitalistischen Spezialbetrieben mit einer größeren Anzahl von Lohnarbeitern entwickeln konnte. Nehmen wir diese wenigen Betriebe sowie die an anderer Stelle bereits ausgesonderten Wirtschaften, deren Besitzer selbst Lohnarbeiter waren, hier aus, so können wir sagen, daß es sich bei der Masse der Wirtschaften dieser Größengruppe um kleine bäuerliche Betriebe ohne ständige Lohnarbeiter handelte. 54 55 56 57

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, la (1907), Tabelle 4. Tabelle 6b. Tabelle 5a. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, la (1907), Tabelle 4.

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Die Tabellen 6b und c geben in der Spalte 5 Auskunft über die Anzahl der ständig und der vorübergehend beschäftigten Lohnarbeiter in 100 Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 5 bis 10 ha. Die Zahl der Lohnarbeiter lag in diesen Betrieben im Reichsdurchschnitt höher a l s bei den kleinbäuerlichen Betrieben, die Differenz zwischen ständig und zeitweilig Beschäftigten war geringer - es gab auf 100 Betriebe berechnet 33, 8 ständige und 40, 8 zeitweilige Lohnarbeiter. Selbst wenn diese sich gleichmäßig auf alle Betriebe verteilten, hatten zwei Drittel der Betriebe keine ständigen und ein Viertel weder ständige noch Saisonarbeitskräfte. Dafür lag der Prozentsatz der ständig mithelfenden Familienangehörigen in diesen Betrieben höher, im Durchschnitt 1, 5 Personen pro Betrieb. Im Reichsdurchschnitt kamen in dieser Größengruppe auf ein ständig mithelfendes 58 Mitglied der Familie 0, 2 Landarbeiter , ein Verhältnis von 5 zu 1 also. Wie in den Betrieben unter 5 ha LN gab es auch in dieser Größengruppe eine kleine Zahl von Intensivbetrieben (im Reichsdurchschnitt 0 , 1 Prozent), die Lohnarbeiter in großer Zahl - über 20 Personen und59 in Einzelfällen (in Deutschland 9 Betriebe) über 200 Personen - beschäftigten. Von den ausgewählten Territorien gab es in den Industriegebieten (Düsseldorf, Bautzen, Dresden, Braunschweig sowie - mit vorwiegend Saisonarbeitern - in Oppeln und Königsberg) eine weit über dem Durchschnitt des Reiches liegende Anzahl von Lohnarbeitern in 100 Betrieben dieser Größe. Über dem Durchschnitt lag der Prozentsatz der Lohnarbeiter auch in Baden, Westfalen, Anhalt und geringfügig im RB Stralsund. In den vorwiegend agrarischen Gebieten Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerin und im RB Frankfurt, aber auch in Württemberg und Wiesbaden, war die Zahl besonders der ständigen Lohnarbeiter auf 100 Betriebe dieser Größengruppe geringer als im Durchschnitt des Reiches. Die Daten über den Anteil von60 Betrieben mit verschieden großer Personenzahl vermitteln ein fast gleiches Bild ; In Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerin, zum Teil im RB Stralsund arbeitete die Mehrzahl der Betriebe (über Dreiviertel bzw. über zwei Drittel) mit 1 bis 3 Personen, also ohne Lohnarbeiter, und nur relativ wenige Betriebe mit mehr als 6 Personen. Auch der Prozentsatz der m i t helfenden Familienangehörigen war hier kleiner a l s im Reichsdurchschnitt. Berück-

58 59 60

Vgl. Tabelle 6d. Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, la (1907), Tabelle 4. Vgl. Tabelle 7b.

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sichtigen wir außerdem die im vorhergehenden Abschnitt getroffene Feststellung, daß hier der Anteil der selbständigen Betriebe ohne Nebenerwerb (in der Größengruppe 5 bis 20 ha) unter dem Reichsdurchschnitt lag, so kommen wir zu dem Schluß, daß die Mehrzahl dieser Betriebe mit 5 bis 10 ha LN in diesen Gebieten den kleinbäuerlichen Betrieben im Südwesten bzw. in Industriegebieten Deutschlands gleichzusetzen war. Anders sah es in den Betrieben der ausgewählten Industriegebiete Düsseldorf, Oppeln, Bautzen und Westfalen aus. Hier arbeitete die Mehrheit der Betriebe mit über 4 und ein relativ großer Prozentsatz mit über 6 Personen. Die Zahl der mithelfenden Familienangehörigen erreichte den Durchschnitt des Reiches, und die selbständigen Wirtschaften ohne Nebenerwerb lagen im allgemeinen beträchtlich über dem Reichsdurchschnitt. Für Baden wiederum war eine große Zahl von mithelfenden Familienangehörigen in selbständigen Wirtschaften ohne Nebenerwerb und bei einer nur etwas über dem Durchschnitt liegenden Zahl von Lohnarbeitern charakteristisch. Gleichzeitig aber gab es hier die meisten von den insgesamt 101 Betrieben Deutschlands mit mehr als 50 Beschäftigten in dieser Größengruppe, nämlich 13 Betriebe, davon 2 mit mehr als 100 Beschäftigten. Fassen wir zusammen: Von den Betrieben mit einer Nutzfläche von 5 bis 10 ha hatte die Mehrheit keine ständigen Lohnarbeiter und ungefähr die Hälfte nicht einmal zeitweilige Arbeitskräfte. Dafür war die Zahl der ständig mitarbeitenden Familienangehörigen (besonders in Südwestdeutschland) relativ groß. Einem Teil der Wirtschaften gelang es - vor allem wiederum in den Industriegebieten-, Überschüsse zu erzielen, die es erlaubten, Lohnarbeiter entweder ständig oder während der Arbeitsspitzen in der Landwirtschaft zu beschäftigen. Einige wenige Betriebe entwickelten sich zu kapitalistischen Großbetrieben. Bei der Masse der Wirtschaften handelte es sich jedoch um mittlere bäuerliche Familienbetriebe. Wenden wir uns den Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 10bis20hazu, von denen Solta nach seinen Untersuchungen in der Lausitz feststellte, daß es "grundfalsch" wäre, sie mit den Betrieben von 5 bis 10 ha LN in einer 61

Gruppe zusammenzufassen. Das trifft unter dem Aspekt der Anwendung von Lohnarbeit im Rahmen unserer ausgewählten Territorien besonders für die KHen Bautzen und Dresden und außerdem für Braunschweig zu. In diesen Gebieten waren im Durchschnitt pro Betrieb genausoviel ständige Landarbeiter beschäftigt wie 61 Vgl. Solta, Jan, a. a. O., S. 76.

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Mitglieder der Familie. In Bautzen gestaltete sich das Verhältnis bereits zuungun62

sten der Familienmitglieder.

100 Betriebe beschäftigten hier fast 200 ständige

und 40 zeitweilige Lohnarbeiter; beinahe die Hälfte aller Betriebe arbeitete mit 6 und mehr Personen. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Dresden und Braunschweig, wobei in Braunschweig darüber hinaus eine große Zahl von Saisonarbeitskräften beschäftigt wurde (173 auf 100 Betriebe). 6 3 In diesen Gebieten gehörte die Mehrzahl der Betriebe von 10 bis 20 ha LN also einem anderen bäuerlichen Typ an als die Betriebe der Größengruppe von 5 bis 10 ha LN. Es waren großbäuerliche und zum Teil kapitalistische Großbetriebe. So eindeutig läßt sich das jedoch für die übrigen ausgewählten Territorien nicht feststellen. Zwar war im allgemeinen die Zahl der ständig und zeitweilig beschäftigten Lohnarbeiter, auf 100 Betriebe berechnet, größer als in den Betrieben von 5 bis 10 ha LN, aber auch die Zahl der ständig mitarbeitenden Familienmitglieder war angestiegen. In den RBen Stralsund, Frankfurt und Königsberg sowie in Schleswig-Holstein beschäftigten 100 Betriebe 64 bis 88 ständige Lohnarbeiter. Es gab also noch eine beträchtliche Zahl von Betrieben, in denen keine Lohnarbeiter arbeiteten. In allen übrigen Gebieten kamen auf 100 Betriebe über 100 Lohnarbeiter, in einigen Gebieten (besonders in Oppeln) außerdem über 100 zeitweilig beschäftigte Arbeitskräfte und - vor allem in den südwestlichen und westlichen Gebieten Württemberg, Baden, Wiesbaden, Düsseldorf, Westfalen sowie außerdem in Oppeln und Frankfurt - über oder fast 200 mitarbeitende Familienangehörige. Aus den Angaben über die Lohnarbeit kann man als Ergebnis ableiten, daß die Betriebe mit 10 bis 20 ha LN in Gebieten mit wenig oder gering entwickelter Industrie, mit überwiegendem Getreide- und Kartoffelanbau und vorwiegendem Großgrundbesitz um die Jahrhundertwende noch zu den mittelbäuerlichen Wirtschaften zu zählen waren. Auch in den südwest- und westdeutschen Gebieten handelte es sich noch vorwiegend um mittelbäuerliche Betriebe, die Lohnarbeiter in geringer oder - während der Arbeitsspitzen - in größerer Zahl beschäftigten. In den mitteldeutschen Industriegebieten und in Braunschweig war jedoch ein hoher Prozentsatz der Betriebe zwischen 10 und 20 ha LN den großbäuerlichen Betrieben zuzurechnen. 62 63

Vgl. Tabellen 6b, 6c und 6d. Vgl. Tabellen 6b und 6c.

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Als großbäuerlich können wir im allgemeinen die Wirtschaften mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 20 bis 50 ha kennzeichnen. Im Durchschnitt des Deutschen Reiches beschäftigten 100 Betriebe 220 ständige und 123 zeitweilige 64 Lohnarbeiter. Im Vergleich zur Größengruppe von 10 b i s 20 ha LN hat sich die Zahl der Lohnarbeiter verdoppelt, in einer ganzen Reihe der ausgewählten T e r r i torien hat sie sich (besonders die Zahl der ständigen Lohnarbeiter) sogar v e r d r e i facht - so in den RBen Königsberg, Stralsund, Oppeln, in Anhalt, Braunschweig 65 und in dem RB Wiesbaden. Das Verhältnis von mithelfenden Familienangehörigen und Lohnarbeitern hat sich zugunsten der letzteren gewandelt: Die Relation zwischen Familienmitgliedern und Lohnarbeitern lag im Reichsdurchschnitt bei 1 zu 1,4; in den Industriegebieten lag sie b e r e i t s bei 1 zu 3, 3 (Braunschweig) bzw. 2, 5 (Bautzen, Dresden, Anhalt, Wiesbaden, Düsseldorf). E s ist gegenüber den Betrieben von 10 bis 20 ha LN deutlich die neue Qualität erkennbar, und zwar nicht nur für einen Teil, sondern für die Masse der Betriebe. Aus Tabelle 7c ist ersichtlich, daß die Mehrheit der Betriebe im Juni 1907 mit Lohnarbeitern arbeitete, davon 60 Prozent mit 6 bis 10 Personen, über 10 Prozent mit mehr als 10 Personen. Von den ausgewählten Territorien nahm nur Schleswig-Holstein eine Sonderstellung ein: Mit 125 ständig und 76 zeitweilig beschäftigten Lohnarbeitern in 100 Betrieben blieb es weit unter dem Reichsdurchschnitt; das Verhältnis von mitarbeitenden Familienmitgliedern und ständigen Lohnarbeitern stand 1 zu 1; die Mehrzahl der Betriebe (58, 3 Prozent) arbeitete mit weniger a l s 6 Arbeitskräften, also in der Regel ohne ständige Lohnarbeiter. Ein größerer Teil der Betriebe mit 20 bis 50 ha LN muß hier also unter dem Aspekt der Lohnarbeit noch zu den mittelbäuerlichen Betrieben gezählt werden. Demgegenüber entwickelte sich in den Industriegebieten Bautzen, Dresden, Oppeln, Düsseldorf, Wiesbaden sowie in Anhalt und Braunschweig in dieser Größengruppe eine breite Schicht von Großbauern mit mehreren ständigen und während der Arbeitsspitzen zusätzlichen Lohnarbeitern (die Zahl der ständigen Lohnarbeiter überwog die der zeitweiligen Arbeitskräfte), die die Zahl der mitarbeitenden Familienangehörigen überstiegen. Das galt, a l l e r dings nicht ganz so ausgeprägt, auch für die agrarischen Gebiete MecklenburgSchwerin, die RBe Königsberg und Frankfurt, während in den südwestdeutschen Gebieten Baden und Württemberg der Anteil der mithelfenden Familienangehörigen dem der Lohnarbeiter noch die Waage hielt. 64 65

Vgl. ebenda. Vgl. ebenda.

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Sigrid Dillwitz Ein Teil der Betriebe dieser Größengruppe entwickelte sich zu kapitalistischen

Großbetrieben; sie waren besonders in Baden, Wiesbaden, Braunschweig und Anhalt zu finden. ^ Die Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 50 bis 100 ha bezeichnet Solta (vorwiegend auf der Grundlage des Materials aus der Oberlausitz) als Betriebe bäuerlicher Gutsbesitzer (mittlere Agrarkapitalisten) und möchte sie 67 damit von den Großbauern abheben. Tatsächlich hat sich die Zahl der ständigen und zeitweiligen Lohnarbeiter in dieser Betriebsgrößengruppe beträchtlich erhöht: im Durchschnitt des Deutschen Reiches verdreifacht, bezogen auf die ausgewählten Territorien teils verdoppelt (Mecklenburg-Schwerin, Stralsund, Königsberg, Schleswig, Düsseldorf), teils verdreifacht (Frankfurt, Dresden, Bautzen, Anhalt, Westfalen, Braunschweig) und in einigen Gebieten vervierfacht (Oppeln, Wiesbaden, Baden, Württemberg). 100 Betriebe beschäftigten im Reichsdurchschnitt rund 660 ständige und 310 zeitweilige Lohnarbeiter; in den Industriegebieten Oppeln, Dresden, Bautzen, Wiesbaden sowie in Baden (mit mehr zeitweilig Beschäftigten), in Anhalt und Braunschweig war die Zahl der C OLohnarbeiter wesentlich höher und betrug in 100 Betrieben zum Teil über 2000. Der Unterschied zur Größengruppe von 20 bis 50 ha LN wird besonders deutlich in den Relationen zwischen ständig mithelfenden Familienmitgliedern und ständig beschäftigten Lohnarbeitern. Im Reichsdurchschnitt kamen auf 1 Familienmitglied 5 Lohnarbeiter, in den Industriegebieten aber stand das Verhältnis 1 zu 19 (Wiesbaden, Bautzen), 1 zu 16 bzw. 15 (Oppeln, Braunschweig) und 1 zu 12 (Dresden, Anhalt). Berücksichtigen wir, daß in der Größengruppe von 20 bis 50 ha LN das Verhältnis im Höchstfalle 1 zu 3 stand, so kann wohl in den Industriegebieten durchaus von einer neuen Qualität, von kleinen Gutsbetrieben oder mittleren A g r a r kapitalisten gesprochen werden. Das gilt jedoch wiederum nicht für alle ausgewählten Territorien: In Schleswig-Holstein beschäftigten 100 Betriebe nur 325 ständige Lohnarbei69 ter, die Mehrheit der Betriebe arbeitete mit 6 bis 10 Personen , und das Verhältnis von mithelfenden Familienangehörigen und Lohnarbeitern stand 1 zu 2, 8. Hier wäre es sicher verfehlt, von bäuerlichen Gutsbetrieben zu sprechen, und das 66 67 68 69

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Tabelle 7c. Solta, Jan, a . a . O . , S. 98. Tabellen 6b und 6c. Tabelle 7c.

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gilt für die Mehrzahl der Betriebe dieser Größengruppe in den agrarischen Gebieten. Während in Bautzen oder Braunschweig zum Beispiel fast die Hälfte aller Wirtschaften dieser Gruppe über 20 Personen beschäftigte, waren es in den RBen Königsberg und Stralsund sowie in Mecklenburg-Schwerin nur 1, 2 bis 3, 2 Prozent der Betriebe; die Mehrzahl beschäftigte 6 bis 10 Personen. Die beiden südwestdeutschen Länder Württemberg und Baden nahmen insofern eine besondere Stellung ein, als hier neben einer besonders großen Zahl von zeitweilig beschäftigten Lohnarbeitern die Zahl der Familienmitglieder noch sehr hoch war (wenn auch geringer a l s in den übrigen bäuerlichen Größengruppen). Dadurch gestaltete sich die Relation zwischen mithelfenden Familienangehörigen und Lohnarbeitern nur 1 zu 5, wie in den Agrargebieten, doch arbeitete die Hälfte der Betriebe mit 11 bis 20 Personen und noch einmal ein Fünftel mit über 20 Personen. Wiederum finden wir, wie schon bei den übrigen Größengruppen, hier die meisten Betriebe mit 50 bis 100 ha LN, die über 100 Beschäftigte hatten. Insgesamt kann man im Hinblick auf die Anwendung von Lohnarbeit in dieser Größengruppe sagen: Während Betriebe mit 50 bis 100 ha LN in den Industriegebieten bereits zu bäuerlichen Gutsbetrieben, ihre Besitzer zu mittleren Agrarkapitalisten sich entwickeln konnten, unterschied sich die Mehrzahl der Betriebe dieser Größengrüppe in den Agrargebieten nur unwesentlich von den großbäuerlichen Betrieben. Gehen wir vom Reichsdurchschnitt aus, so überwogen um die Jahrhundertwende die großbäuerlichen Wirtschaften in dieser Gruppe. Es läßt sich unter dem Aspekt der Anwendung von Lohnarbeit in den Landwirtschaftsbetrieben folgendes zusammenfassen: Die nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche gebildeten Größengruppen waren in sozialökonomischer Hinsicht in der Mehrzahl keine homogenen Gruppen, sondern vor allem in der Größenordnung von 2 bis 100 ha LN sehr differenziert. Wir finden kapitalistische Betriebe in allen Größengruppen, wenn auch in unterschiedlicher Zahl, proletarische Betriebe in den beiden unteren Größengruppen, mittelbäuerliche in den Gruppen von 5 b i s 50 ha usw. Eine Gruppenbildung nach dem Umfang der Lohnarbeit würde zweifellos das Bild der Betriebsgrößenstruktur in Deutschland korrigieren, zum Beispiel wäre ein wesentlich höherer Anteil kapitalistischer Großbetriebe in den westelbischen Industriegebieten zu erwarten, und auch in den bäuerlichen Betriebsgruppen könnte mit Verschiebungen zugunsten großbäuerlicher Wirtschaften in Industriegebieten gerechnet werden. Eine solche Gruppenbildung läßt sich nach den vorliegenden Daten der Zählung von 1907 jedoch nicht vornehmen, und da es in dem von uns überblickten Zeitraum die einzige derartige Zählung war, lassen sich auch der

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Prozeß der Konzentration und Differenzierung in den einzelnen Größengruppen sowie Verschiebungen der Größenstruktur in Industrie- und Agrargebieten nicht nachzeichnen. Soviel kann man aber sagen: Während bei der Darstellung der Betriebsgrößen struktur nach dem Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche die Linie Elbe/Saale noch die entscheidende Rolle spielte, kann ihr für die Betrachtung der Betriebsgrößen nach dem Haupt- und Nebenerwerb der Besitzer und dem Umfang der Anwendung von Lohnarbeit nicht mehr die Hauptrolle zugemessen werden. Wichtiger wurde der Vergleich zwischen Industrie - und Agrargebieten, unabhängig davon, ob sie westlich oder östlich der Elbe lagen, da der Grad der kapitalistischen Entwicklung, die Marktverhältnisse usw. allmählich den entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Landwirtschaftsbetriebe gewannen und andere Einflüsse dahinter langsam zurücktraten. Die Daten über die Anwendung von Lohnarbeit in den einzelnen Betriebsgrößengruppen vermitteln das folgende Bild der sozialökonomischen Struktur der Landwirtschaft um die Jahrhundertwende: Fast zwei Drittel aller Wirtschaften mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche waren Betriebe von Industrie- und Landarbeitern (proletarische Wirtschaften). Ihre Inhaber beschäftigten keine Lohnarbeiter, sondern waren selbst als Lohnarbeiter tätig. Zu diesen Wirtschaften gehörte die große Masse der Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche unter 2 ha und in den Agrargebieten ein größerer, in den Industriegebieten ein geringerer Teil der Betriebe von 2 bis 5 ha LN. Rund ein Drittel aller Landwirtschaftsbetriebe waren Bauernwirtschaften. Davon waren 10 bis 15 Prozent kleinbäuerliche Betriebe. Ihre Besitzer waren selbständige Landwirte, die die Wirtschaft mit einer kleinen Zahl von Familienangehörigen und in der Regel ohne fremde Arbeitskräfte betrieben. Kleinbäuerliche Betriebe hatten in Südwestdeutschland sowie in Industriegebieten östlich und westlich der Elbe im allgemeinen 2 bis 5 ha LN, in Agrargebieten und in Gebieten mit wenig Industrie hatten sie vielfach bis zu 10 ha LN. Die mittelbäuerlichen Wirtschaften hatten um die Jahrhundertwende einen ungefähren Anteil von 8 bis 10 Prozent an der Gesamtzahl der Betriebe. Es handelte sich vorwiegend um F a milienbetriebe; ständige Lohnarbeiter wurden kaum, zeitweilige Lohnarbeiter während der Arbeitsspitzen jedoch häufiger beschäftigt. Mittelbäuerliche Betriebe hatten in den Industriegebieten westlich und östlich der Elbe sowie in Südwestdeutschland im allgemeinen 5 bis 10, in den Agrargebieten vorwiegend bis zu 20 ha LN. Der Anteil der großbäuerlichen Wirtschaften an der Gesamtzahl der B e -

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triebe betrug ungefähr 7 bis 10 Prozent. Es Warenwirtschaften, die neben einer größeren Zahl von Familienangehörigen sowohl 1 bis 3 ständige als auch eine größere Zahl zeitweiliger Lohnarbeiter beschäftigten. Dabei überwogen jedoch im allgemeinen noch die Familienarbeitskräfte.oder waren doch in gleicher Anzahl vertreten wie die ständigen Lohnarbeiter. Solche Betriebe umfaßten in den Industriegebieten 10 bis 20, zum Teil auch 20 bis 50 ha LN, in den Agrargebieten vorwiegend 20 bis 50, zum Teil bis zu 100 ha LN« Um die Jahrhundertwende begann sich in den Industriegebieten eine kleine Zahl bäuerlicher Gutsbesitzer zu entwickeln - insgesamt kaum 0, 5 Prozent aller Betriebe. In ihren Wirtschaften überstieg die Zahl der ständigen Lohnarbeiter die der Familienarbeitskräfte beträchtlich. Sie umfaßten vorwiegend 50 bis 100 ha, es gab aber darunter in den Industriegebieten auch Betriebe, die weniger als 50 ha LN hatten. Solche Betriebe gab es in den überwiegend agrarischen Gebieten nur in Einzelfällen. Die kapitalistischen Großbetriebe in der Landwirtschaft, deren Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe wir (in Abweichung von der Betriebsgrößenstruktur nach dem Flächenumfang) mit 1 bis 3 Prozent berechnen können, beuteten ständig Lohnarbeiter in großer Zahl aus. Zu ihnen gehörten alle Betriebe mit mehr als 100 ha LN in Industrie- und Agrargebieten und außerdem Spezialbetriebe aller HektarGrößen, angefangen von Wirtschaften mit weniger als 2 ha bis zu Wirtschaften mit 100 ha LN, die es in den Industriegebieten westlich und östlich der Elbe gab. Der Viehbesatz in den Betriebsgrößengruppen Zur Abrundung des aus den Daten über Nebenerwerb und Lohnarbeit gewonnenen Bildes soll im folgenden ein Teil der Statistik zum Viehbesatz in den Größengruppen ausgewertet werden. Dabei wurden nur Pferde und Rinder ausgewählt - P f e r de, um einen Vergleich über die Zugkraft in den bäuerlichen Größengruppen zu gewinnen, und Rinder, weil sie für Deutschland das typische Großvieh in der Bauernwirtschaft waren, sowohl als Milch- und Fleischproduzent als auch noch als Zugkraft. Vergleichbares Material über den Umfang der landwirtschaftlichen Produktion, differenziert nach Betriebsgrößen, war für den hier behandelten Zeitraum sehr spärlich und für größere geographische Räume oder gar für das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches nicht vorhanden. Die Statistik über den Viehbestand kann dafür zwar kein voller Ersatz sein (vor allem weil zwar über Stückzahlen, nicht aber über tierische Leistungen Aussagen getroffen werden), doch vermittelt

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der Großviehbestand um die Jahrhundertwende im allgemeinen noch einen Einblick in den Gesamtzustand der bäuerlichen Wirtschaft. Der Zusammenhang zwischen Viehbesatz - natürliche Düngung

Bodenbestellung und entsprechenden Hektar-

erträgen war noch voll vorhanden, er wurde erst bei umfassenderer Chemisierung und Mechanisierung und bei weitgehender Spezialisierung in der Landwirtschaft weniger bedeutungsvoll. Insgesamt hat der Großviehbestand in der deutschen Landwirtschaft von 1882 bis 1907 zugenommen, und zwar bei Pferden vorwiegend von 1882 bis 1895, dann wurde die Zuwachsrate parallel zum anwachsenden Maschinenbesatz kleiner, und 71 bei Rindern vorwiegend im Zeitraum von 1895 bis 1907. Wir können diesen Zuwachs als Zeichen der Intensivierung der Landwirtschaft werten. Der Vergleich des Viehbesatzes in den einzelnen Betriebsgrößen macht zugleich ihren unterschiedlichen Grad der Intensivierung deutlich. Betrachten wir die Größengruppen im einzelnen: Die proletarischen Wirtschaften unter 2 ha LN hatten in der Regel keine Pfer72 de , ihr Land wurde (meist gegen Abarbeit) von größeren Bauern oder vom Gut mitbearbeitet, wenn nicht die häufiger vorhandene Kuh auch für Ackerarbeiten verwendet wurde. Bei den wenigen Betrieben, die Pferde hielten, handelte es sich häufig um kleine Fuhrbetriebe. Wenn im Reichsdurchschnitt 1882 auch die Hälfte aller proletarischen Wirtschaften eine Kuh hielt, so wurde dieser Durchschnitt in 8 von den 15 ausgewählten T e r ritorien doch wesentlich unterboten, in drei Gebieten lag er etwas und in vier we73 sentlich darüber.

Bei diesen vier handelte es sich um die Gebiete Oppeln, Kö-

nigsberg, Wiesbaden und Baden. Dabei war in den ostelbischen Gebieten des Großgrundbesitzes die Kuh des Landarbeiters häufig Bestandteil des Naturallohnes (Deputatkuh) und freies Eigentum. Nach Solta hatten die 2halbproletarischen Wirtschaften den nicht Lausitzer Verhältnissen entsprechend 1 bis Rinder.• 74Das 70

Die Schweinehaltung wurde in die Betrachtung nicht einbezogen, obwohl die Betriebszählungen über die Zahl der Schweine in den Betriebsgrößengruppen Auskunft gaben. Meines Erachtens wird (anders als beim Rind) der Unterschied im Grad der Intensivierung der Viehhaltung in den Größengruppen in der Anzahl der Schweine nicht widergespiegelt. Hier wäre es angebracht, von der Schweinefleischproduktion in den verschiedenen Größengruppen pro Jahr auszugehen. Dafür lagen jedoch keine vergleichbaren Angaben vor. 71 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2b (1907), Übersicht 19. 72 Vgl. Tabelle 8a. 73 Vgl. Tabelle 8d. 74 Vgl. Solta, Jan, a . a . O . , S. 93. ä. verwendet hier eine Gruppierung der B e triebe nach dem Rinderbestand, eine Methode, die - kombiniert mit anderen

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scheint indessen zu hoch gegriffen. Selbst in der KH Bautzen entfielen auf 100 Betriebe der Größengruppe unter 2 ha LN 1882 lediglich 33, 1895 26 und 1907 nur 75 noch 23 Rinder; hier hatten 1907 84 Prozent der Betriebe keine Kuh. Und die KH Bautzen gehörte nicht zu den Gebieten, in denen auf der Grundlage anderer Kennziffern eine größere Zahl der Betriebe von 2 bis 5 ha LN proletarische Wirtschaften waren und den Viehbestand damit erhöht hätten. Während der Pferdebestand in den proletarischen Wirtschaften zwischen 1882 und 1895 geringfügig zunahm, 76 verringerte sich von 1895 bis 1907 Pferde- und Rinderbesatz recht erheblieh - wie wir wissen, bei zunehmender Zahl der Betriebe in dieser Gruppe. Auf die wenigen Ausnahmen einer geringfügigen Zunahme in den KHen Dresden und Bautzen (bei Pferden) und in Oppeln und Baden (bei Rindern) wollen wir hier nicht eingehen. Der geringe Viehbestand und die allgemein rückläufige Tendenz bestätigen die Charakterisierung der Betriebe als proletarische und die getroffene Feststellung der weiteren Proletarisierung. Die kleinbäuerlichen Betriebe mit 2 bis 5 ha LN hatten ebenfalls wenig P f e r de -77rund 80 Prozent der Betriebe hatten 1907 im Reichsdurchschnitt keine P f e r de. Wenn wir auch einen Teil dieser Betriebe wegen der Lohnarbeit ihrer Besitzer zu den proletarischen gezählt hatten und einen Teil der Betriebe bis zu 10 ha LN mit einem etwas höheren Pferdebestand den kleinbäuerlichen zurechneten, so bleibt doch als Einschätzung, daß Kleinbauern nur selten Pferdebesitzer waren. Von den ausgewählten Territorien besaß 1907 nur im RB Königsberg die Mehrzahl der kleinbäuerlichen Wirtschaften Pferde, in einigen Gebieten (Württem78 berg, Wiesbaden, Dresden, Bautzen) hatten nicht einmal 15 Prozent ein Pferd. Die Mehrzahl der kleinbäuerlichen Betriebe war in der Feldarbeit auf den Einsatz von Ochsen und Kühen angewiesen, was namentlich in West- und Südwestdeutschland üblich war, oder lieh sich gegen Abarbeit Zugvieh von Großbauern oder Gutsbesitzern und war auf diese Weise abhängig und zu Lohnarbeit gezwungen. Der Rinderbestand war dagegen größer; im Durchschnitt des Reiches hatte die Masse der Betriebe mit 2 bis 5 ha LN 1882 je 1 bis 3 Rinder. In Anhalt, Schleswig und

75 76 77 78

Gruppierungen - die Strukturverhältnisse deutlicher herausarbeiten würde. Sie läßt sich für das Gesamtgebiet des Deutschen Reiches nach dem bisher aufgearbeiteten statistischen Material jedoch nicht durchführen. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 212, 2a (1907), Tabelle 6 (errechnet nach den Spalten 7 und 8). Vgl. die Tabellen 8b, 8c und 8e und 8f. Vgl. Tabelle 8g. Vgl. ebenda.

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Braunschweig gab es eine größere Zahl von Betrieben, die gar keine Rinder hatten (in Anhalt waren es 1907 28,4, in Braunschweig und Schleswig 20 Prozent aller 79 Betriebe).

Bei diesen Betrieben handelte.es sich in der Regel um proletarische

Wirtschaften. Insgesamt gab es 1882 unter den ausgewählten 15 Territorien noch 10, in denen der KleinbauernbetriebV im Durchschnitt weniger als 2 Rinder hatte. Dazu gehörte auch Bautzen. Wenn Solta bei kleinbäuerlichen Betrieben von einem 80 Mindestbestand von 3 Rindern ausgeht , so ist das meines Erachtens wiederum zu hoch angesetzt; die Betriebe, die diese Mindestzahl nicht erreichten, zu den proletarischen Wirtschaften zu zählen - das würde den Rinderbestand gegenüber anderen Faktoren ungierechtfertigt zum Hauptkriterium machen. Es ist andererseits aber anzunehmen, daß gerade in den ostelbischen Gebieten des Großgrundbesitzes, wo der Rinderbestand in dieser Größengruppe allgemein höher lag als in den Industriegebieten, dennoch ein Teil der Wirtschaften von 2 bis 5 ha LN auf Grund der Daten über den Haupt- und Nebenerwerb zu den proletarischen zu rechnen war. In jedem Falle aber wirft der geringe Viehbesatz in den kleinbäuerlichen Wirtschaften ein Licht auf ihre dürftigen Verhältnisse, denn wir können selbst in Industriegebieten, wo die kleinbäuerlichen Betriebe sich durch den Anbau von Gemüse und anderen Handelsgewächsen zu stabilisieren suchten, nicht davon ausgehen, daß chemische Düngemittel im allgemeinen die natürliche Düngung ersetzten oder wesentlich ergänzten und die Ackerarbeiten bereits weitgehend durch Maschinen erleichtert wurden. Die absolute Zahl der Rinder nahm in der Regel von 81 1882 bis 1907 auch in dieser Größengruppe zu, bei der angewachsenen Zahl der Betriebe in dieser Gruppe aber nahm die Zahl der Rinder auf 100 Betriebe in den 82

meisten der ausgewählten Territorien (zum Teil sogar beträchtlich) ab. Wir können zusammenfassen, daß die überwiegende Mehrheit der Kleinbauern ohne Pferde, das hieß in der Regel ohne eigenes Zugvieh, arbeitete und daß im Durchschnitt 1 bis 3 Rinder gehalten wurden. Die Kuhhaltung war für die kleinbäuerlichen Betriebe typisch, der Rückgang des Rinderbesatzes traf den Kleinbauern in seiner Substanz und war meistens gleichbedeutend mit seinem Übergang ins Proletariat. Bei der Betrachtung der Betriebe von 5 bis 20 ha LN wäre es wichtig, die 79 80 81 82

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebenda. Solta, Jan, a . a . O . , S. 83. Tabelle 8f. Tabelle 8e.

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Zäsur bei 10 ha LN herauszuarbeiten. Das ist hier nur für die Daten aus dem Jahre 1907 möglich. In dieser Größengruppe hatten im Reichsdurchschnitt 100 Betriebe über 100 Pferde, doch gab es unter den ausgewählten Territorien 1882 5 und 1907 noch 3, 83 in denen 100 Betriebe nur 60 bis 80 Pferde besaßen. Die Zahl der Rinder war 1882 in den Betrieben von 5 bis 20 ha LN mit durchschnittlich 4 bis 8 pro Betrieb 84 recht hoch. Am höchsten war der Rinderbesatz 1882 in den KHen Dresden und Bautzen sowie in Südwestdeutschland, 1907 in Düsseldorf, Dresden und Schleswig. Sehen wir davon ab, daß in Südwestdeutschland Rinder traditionell als Zugvieh verwandt wurden und der Bestand schon deshalb etwas höher lag, so bestätigt der Rinderbesatz in industriellen Gebieten die bereits an anderer Stelle getroffene Feststellung, daß hier ein Teil der Betriebe dieser Größengruppe großbäuerliche Wirtschaften waren. In Schleswig stand der relativ große Viehbesatz im Widerspruch zu der geringen Zahl der familieneigenen und fremden Arbeitskräfte in diesen Betrieben. Das kann seine Gründe sowohl in einer noch vorwiegend extensiven Weidewirtschaft als auch in einem hohen Maschinenbesatz haben. Zwischen 1882 und 1907 gab es in dieser Größengruppe einen Zuwachs an P f e r den und ganz besonders an Rindern, doch wies Lenin im Vergleich der Daten von 1882 und 1895 nach, daß in diesem Zeitraum der Zuwachs allein zugunsten der großbäuerlichen Betriebe in dieser Gruppe erfolgte, bei 85 den mittelbäuerlichen Betrieben hatte sich die Situation sogar verschlechtert. Die von Lenin vorgenommene Analyse läßt sich für 1907 nicht in gleicher Weise fortführen, da die Statistik nicht mehr vergleichbare Daten bietet, doch wird das Ergebnis auf andere Weise bestätigt. Wenn man in den Größengruppen mit 5 bis 10 ha und 10 bis 20 ha LN getrennt die Zahl der Betriebe ohne Pferde ermittelt, ergibt sich im Reichsdurchschnitt bei den Wirtschaften mit 5 bis 10 ha LN ein Prozentsatz von 46, 5 ohne Pferde (in den südwestdeutschen Gebieten Wiesbaden, Baden, Württemberg sowie in der sächsischen KH Bautzen betrug dieser Prozentsatz 50 bis 65). Von den Betrieben mit 10 bis 20 ha LN hatten dagegen die 86 meisten Pferde, nur 16, 6 Prozent hatten im Reichsdurchschnitt keine Pferde. Der Prozentsatz der Wirtschaften, der keine Rinder hielt, war in den beiden Gruppen nur gering und bot kein Merkmal für die Differenzierung. E s gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß sich der 83 84 85 86

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Tabelle 8a. Tabelle 8d. Lenin, W. I., Die Agrarfrage und die Marxkritiker, a . a . O . , S. 197-202. Tabelle 8g.

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Zuwachs bei Rindern grundsätzlich anders verteilte als bei den Pferden. Wir können also insgesamt festhalten: In den mittelbäuerlichen Betrieben von 5 bis 10 und zum Teil von 10 bis 20 ha LN war die Pferdehaltung verbreitet, dennoch hatte fast die Hälfte der Betriebe keine Pferde. Diese Betriebe unterschieden sich von den kleinbäuerlichen Wirtschaften (abgesehen von der Zahl der Arbeitskräfte) besonders durch die größere Zahl der Rinder, die auch als Zug- und Arbeitsvieh verwendet wurden. Die großbäuerlichen Betriebe in dieser Größengruppe hatten in der Regel Pferde und eine größere Zahl von (6 - 10) Rindern. In den Betrieben mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 20 b i s 100 ha traten Unterschiede in der Pferdehaltung zwischen dem Südwesten und dem Osten nicht mehr deutlich hervor. Die Mehrheit aller Betriebe hatte Pferde - im Reichsdurchschnitt 4 in jedem Betrieb. Nur im RB Königsberg gab es wesentlich mehr Pferde. Von 1882 bis 1895 nahm die absolute Zahl der Pferde zu, im darauffolgenden Zeitraum bis 1907 nahm sie - parallel mit der stärkeren Maschinenanwendung in dieser "Gruppe - ab; lediglich in den Industriegebieten Düsseldorf, Dresden, Bautzen nahm sie trotzdem weiter zu. In den Betrieben dieser Größengruppe gab es einen umfangreichen Rinderbestand - im Durchschnitt rund 15 Rinder pro Betrieb. Doch gab es in den ausgewählten Territorien erhebliche Unterschiede: In den ostelbischen Gebieten Mecklenburg-Schwerin, Stralsund, Königsberg, Frankfurt, Oppeln sowie in Anhalt, Braunschweig und Westfalen lag der durchschnittliche Bestand pro Betrieb zwischen 10 und 14 Rindern, in den Industriegebieten Dresden, Bautzen, Düsseldorf sowie im Südwesten hatten die Wirtschaften durchschnittlich 15 bis 20 Rinder. Im Zeitraum von 1882 bis 1907 erhöhte sich der Rindviehbestand insgesamt in dieser Größengruppe um mehr als 1 Million Stück. Erinnern wir uns, daß diese Wirtschaften einen geringen Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe hatten, ihre Zahl von 1882 bis 1907 noch abnahm, die Durchschnittsgrößen der Betriebe sich in 9 von 15 Gebieten jedoch erhöht hatten und, wie wir nun sahen, auch der Viehbestand erheblich anstieg, so wird die Konzentration von Kapital in diesen Betrieben sehr deutlich. Die Masse des Viehbestandes war jedoch in den kapitalistischen Großbetrieben konzentriert. Im Durchschnitt des Reiches hatte ein Betrieb mit mehr a l s 100 ha 87 8fi LN 1882 23 und 1907 27 Pferde. Der Pferdebestand war stetig angewachsen , obwohl auch die Verwendung von Maschinen auf den Gütern um die Jahrhundert87 88

Vgl. Tabelle 8a. Vgl. Tabelle 8b.

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wende zugenommen hatte. Pferde spielten besonders beim ostelbischen Großgrundbesitz eine andere Rolle als in den bäuerlichen Betrieben, sie wurden über die Zugkraft hinaus teils zur Zucht, teils für den Sport oder aus Luxus gehalten. Der Rinderbestand betrug gegenüber den Betrieben der Größengruppe von 20 bis 89 100 ha LN ungefähr das Fünffache. Durchschnittlich hatte jeder Betrieb 1882 20 und 1907 zwischen 50 und 125 Rinder. Die höchste Zuwachsrate lag in der Zeit 90 zwischen 1895 und 1907. Diese durchschnittlichen Angaben über den Viehbestand widerspiegeln die Konzentration noch nicht einmal deutlich, da sie die Spezialisierung der Betriebe nicht berücksichtigen. Es wird jedoch klar, daß die Großbetriebe den Markt der Milch- und Rindfleischerzeugnisse beherrschten, mit ihnen konnten selbst die großbäuerlichen Betriebe nicht konkurrieren. Die kleinund ein Teil der mittelbäuerlichen Betriebe produzierten tierische Erzeugnisse im wesentlichen nur für den eigenen Bedarf, und wo das nicht geschah, ging die Marktproduktion häufig genug zu Lasten der Ernährung der Familie. Insgesamt bestätigen die ausgewählten Daten über den Großviehbestand in den einzelnen Betriebsgrößengruppen die im Abschnitt über die Lohnarbeit getroffenen Aussagen zur sozialökonomischen Struktur und ergänzen sie. Es tritt die Konzentration des Großviehbestandes beim Großgrundbesitz und bei einem Teil der großbäuerlichen Betriebe auf der einen Seite, die Proletarisierung in den kleinbäuerlichen sowie die Verschlechterung der Situation in den mittelbäuerlichen Wirtschaften auf der anderen Seite hervor. Wenn dieses Material, wie weiter oben bereits angedeutet, auch nicht die Produktionsleistungen erfaßt, so wollen wir es im Rahmen dieser Studie dabei 91 bewenden lassen und eine Darstellung der Struktur nach den besprochenen Kriterien versuchen. Ergebnisse Nach den von Georg Moll zusammengefaßten Forschungsergebnissen zur kapitalistischen Entwicklung in der deutschen Landwirtschaft waren gegen Ende der 60er 89 Vgl. Tabelle 8d. 90 Vgl. die Tabellen 8e und 8f. 91 Die ursprüngliche Absicht, in Anlehnung an J. äolta auch die preußische Statistik über den Grundsteuerreinertrag der Betriebe als Ersatz für das fehlende Material über das Einkommen bzw. den Produktionsumfang zu nutzen, wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten wieder aufgegeben, u.a. weil nur der preußische Teil der ausgewählten Gebiete Berücksichtigung gefunden hätte, aber auch weil die Angaben zu wenig zuverlässig erschienen.

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Jahre des 19. Jh. die feudalen Produktionsverhältnisse im wesentlichen beseitigt, es herrschten in der deutschen Landwirtschaft kapitalistische Produktionsverhält92 nisse. Die sozialökonomische Struktur der kapitalistischen Landwirtschaft war mit der Existenz (mehr oder weniger) freier Lohnarbeiter und einer größeren Schicht von feudaler Ausbeutung freier agrarischer Warenproduzenten herausgebildet; sie hatte durch den preußischen Weg des Übergangs zum Kapitalismus in Deutschland insofern ein besonderes Gepräge erhalten, als sich neben einer unterschiedlich starken Schicht von Groß-, Mittel- und Kleinbauern östlich der Elbe aus den Gütern des Feudaladels vor allem junkerlich-kapitalistische Großbetrie93

be entwickelt und stabilisiert hatten.

Die weitere Entwicklung der Agrarstruktur unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz und - gegen Ende des Jahrhunderts - unter den B e dingungen des Übergangs zum Monopolkapitalismus ließ sich anhand der ersten landwirtschaftlichen Betriebszählungen für das Deutsche Reich aus den Jahren 94 1882, 1895 und 1907 in Grundzügen herausarbeiten. Diese Entwicklung vollzog sich in ihrem Wesen nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie in der Industrie. Als wichtigste Erscheinung war im Zuge der allgemein noch anhaltenden Prosperität eine Konzentration des Kapitals und der Produktion beim Großgrundbesitz sowie bei einer schmalen Schicht von Großbauern zu beobachten. Diese Konzentration war nicht in erster Linie eine Erweiterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, obwohl diese, wie wir bei der Betrachtung der 95 Durchschnittsgrößen sahen, letztlich ebenfalls angestrebt und erreicht wurde , sie konnte also durchaus mit einer Konzentration des Bodens einhergehen, was sich ohne Eigentumsstatistik nur an Einzelbeispielen bzw. nur indirekt über die 96 Erweiterung der Pachtflächen und des Umfangs der Hypotheken nachweisen läßt. 92 93 94

95 96

Moll, Georg, Der preußische Weg der Entwicklung des Kapitalismus in der deutschen Landwirtschaft. (Die kapitalistische Bauernbefreiung). Abriß, 1971 (ungedr.). Vgl. ebenda. Die bisherige Forschung zur Agrargeschichte dieses Zeitraums läßt Vergleiche der Struktur nach gleichen oder doch vergleichbaren Kriterien zwischen dem Ende der 60er Jahre, den 70er Jahren und der ersten Gesamtzählung von 1882 bisher nicht zu. Nach Solta würden solche Vergleiche infolge der völlig unterschiedlichen Erhebungsmethoden selbst in regionalenJUntersuchungen sehr schwierig und das Ergebnis unzuverlässig sein; vgl. Solta,, Jan, a. a. O., S. 53. Vgl. Tabelle 3. Diese Seite der Lage der Bauern ist noch kaum untersucht und konnte auch in dieser Studie bei den Auswirkungen auf die Struktur nicht berücksichtigt werden.

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Den Nachweis für eine Konzentration des Kapitals und der Produktion auf der Grundlage einer bereits vorhandenen hohen Konzentration der landwirtschaftlichen Nutzfläche bei einer relativ kleinen Zahl von Großbetrieben konnten wir mit Hilfe der Daten über die Verbindung mit der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie, über den Umfang der Lohnarbeit und über den Viehbesatz in den Betriebs größengruppen führen. Diese Daten legten neben dem Konzentrationsprozeß zugleich den analogen Prozeß der Differenzierung der Bauernschaft mit einer f o r t schreitenden Proletarisierung der kleinen und dem wirtschaftlichen Abstieg eines Teiles der mittleren Bauernschaft auf der einen sowie dem Aufstieg einer geringen Zahl von Großbauern auf der anderen Seite bloß. Die Vielschichtigkeit des Differenzierungsprozesses hat Lenin in seiner Untersuchung zur Entwicklung des Kapi97 talismus in Rußland sichtbar gemacht und besonders darauf hingewiesen, daß er sich nicht nur auf die Herausbildung von Vermögensunterschieden der ländlichen Produzenten reduziert. In der Tendenz führt der kapitalistische Differenzierungsprozeß zur völligen Auflösung der Bauernschaft und zur Herausbildung der beiden Hauptklassen im Kapitalismus: der Bourgeoisie und des Proletariats in Gestalt der Agrarkapitalisten und der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter. Das ist jedoch ein äußerst langwieriger und für die Bauernschaft qualvoller Prozeß, nicht nur weil die kapitalistische Entwicklung in der Landwirtschaft insgesamt langsam (langsamer a l s in der Industrie) verlief, sondern auch weil die kleine und mittlere Bauernschaft mit einer weitestgehenden Bedürfnislosigkeit und Steigerung ihrer Arbeitsintensität um die Erhaltung ihrer bäuerlichen Existenz kämpfte und sie nur 99 durch Raubbau an der eigenen Kraft, am Vieh und am Boden existent erhielt. Im folgenden wollen wir zunächst die einzelnen Wirtschaftstypen charakterisieren. Das wird nach dem Stand von 1907 geschehen, weil mit der landwirtschaftlichen Betriebszählung von 1907 zum erstenmal Angaben über den Umfang der Lohnarbeit in der Landwirtschaft vorlagen. Dem wird sich ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung der sozialökonomischen Struktur, wiederum nach Größengruppen geordnet, anschließen. Schließlich soll zusammenfassend etwas zur Entwicklungstendenz unter territorialem Aspekt gesagt werden. 97 98 99

Vgl. Bd. Vgl. Vgl.

Lenin, W. I . , Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Werke, 3, S. 51 ff. ebenda, S. 169. derselbe, Die Agrarfrage, a . a . O . , S. 175.

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Sigrid Dillwitz Mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft bilde-

ten sich in Deutschland folgende sozialökonomische Wirtschaftstypen heraus: 1. Proletarische Wirtschaften, 2. bäuerliche Wirtschaften, die sich in klein-, m i t t e l - u n d großbäuerliche Wirtschaften differenzierten, 3. kapitalistische Großbetriebe. Wir wollen sie jeweils nach folgenden Kriterien charakterisieren: Haupt- und Nebenerwerb des Besitzers, Beschäftigung von Lohnarbeitern und familieneigenen Arbeitskräften, Umfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche und Umfang des Großviehbestandes. Proletarische Wirtschaften Die Besitzer proletarischer Wirtschaften waren in der Regel entweder im Hauptoder im Nebenberuf Lohnarbeiter, und zwar je nach den Möglichkeiten vorwiegend in der Industrie oder vorwiegend in der Landwirtschaft. Der Betrieb wurde von einer kleinen Zahl von Familienangehörigen (die Mehrzahl der Betriebe a r beitete mit 1 bis 3 Personen) zum Teil ebenfalls neben einem zweiten Erwerb betrieben; fremde Arbeitskräfte wurden nicht beschäftigt. Die Mehrzahl der p r o letarischen Wirtschaften hatte weniger als 2 ha landwirtschaftliche Nutzfläche, in Agrargebieten ohne nahegelegenen städtischen Absatzmarkt für landwirtschaftliche Produkte hatten proletarische Wirtschaften vielfach bis zu 5 ha landwirtschaftliche Nutzfläche. Proletarische Wirtschaften hatten einen geringen Großviehbestand - die Mehrzahl besaß weder Pferde noch Kühe, nur etwas mehr als ein Drittel der Betriebe hatte eine Kuh. Diese Wirtschaften produzierten nicht für den Markt, die Bewirtschaftung des Bodens diente der Aufbesserung ihrer proletarischen Lebensverhältnisse. Kleinbäuerliche Wirtschaften Ungefähr die Hälfte der Besitzer kleinbäuerlicher Wirtschaften konnte den Betrieb führen, ohne selbst zu einem Nebenerwerb gezwungen zu sein, was nicht bedeutete, daß die Familienangehörigen nicht aus einer anderen Tätigkeit finanziell zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft beitragen mußten. Die übrige Hälfte der kleinbäuerlichen Betriebe war entweder mit einem kleinen Gewerbe (Handwerk, Gaststätte, Kleinhandel) verbunden oder ihre Besitzer waren vorübergehend als Lohnarbeiter tätig. Ständige Lohnarbeiter wurden in kleinbäuerlichen Betrieben in der

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Regel nicht beschäftigt. In Industriegebieten, wo es kleinbäuerlichen Wirtschaften gelang, sich mit dem Anbau marktgängiger Gewächse zu stabilisieren, w u r den während der Arbeitsspitzen Saisonarbeitskräfte beschäftigt. In diesen Gebieten war auch die Zahl der in der Wirtschaft ständig mitarbeitenden Familienangehörigen etwas größer (mit dem Betriebsinhaber 4 - 5 Personen), im allgemeinen aber war die Mehrzahl der Kinder der Kleinbauern außerhalb der eigenen Wirtschaft tätig. Kleinbäuerliche Betriebe hatten eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 2 bis 5 ha, selten darunter (in der Nähe großer Städte), häufiger darüber bis zu 10 ha (in Agrargebieten mit vorherrschendem Großgrundbesitz sowie Kartoffel- und Getreideanbau). Im allgemeinen hielten Kleinbauern keine Pferde; der Besitz von Rindern (im Durchschnitt 1 bis 3) aber war für Kleinbauernwirtschaften typisch. Mittelbäuerliche Wirtschaften Ein besonderes Merkmal der mittelbäuerlichen Betriebe war die ständige B e schäftigung einer größeren Zahl von Familienangehörigen in der elterlichen Wirtschaft. Die Besitzer der Betriebe waren "selbständige Landwirte", nur selten verbanden sie ihre Wirtschaft mit einem Nebenerwerb. Ständige Lohnarbeiter wurden in der Regel nicht beschäftigt, 1 bis 2 Saisonarbeitskräfte dagegen relativ häufig; zuweilen gab es auch mittelbäuerliche Betriebe, in denen k u r z f r i stig eine größere Zahl von Lohnarbeitern arbeitete. In den Agrargebieten r e c h nen wir Betriebe mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 5 (bzw. 10) bis 20 ha zu den mittelbäuerlichen, in Industriegebieten hatten Mittelbauern um die Jahrhundertwende im allgemeinen 5 bis 10 ha LN. Ungefähr die Hälfte aller m i t telbäuerlichen Betriebe hatte ein, höchstens noch ein zweites Pferd. Die übrige Hälfte war genau wie die Kleinbauern auf die Zugkraft der Rinder oder auf die Feldbestellung gegen Abarbeit angewiesen. Die Masse der mittelbäuerlichen Betriebe hatte im Durchschnitt einen Bestand von 4 bis 5 Rindern und produzierte für den Markt. Großbäuerliche Wirtschaften Großbäuerliche Wirtschaften sind kapitalistische Landwirtschaftsbetriebe. Sie beschäftigten um die Jahrhundertwende ständig m e h r e r e Lohnarbeiter neben einer größeren Zahl zeitweiliger Arbeitskräfte und produzierten vornehmlich für

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den Markt. In der Mehrzahl der Betriebe arbeiteten die Familienangehörigen in der Wirtschaft mit. Die Zahl der ständigen Lohnarbeiter war zum Teil ebenso groß wie die der mitarbeitenden Familienangehörigen, meistens aber etwas größer. Großbauernwirtschaften hatten eine landwirtschaftliche Nutzfläche in Industriegebieten mit 10 ha, in Agrargebieten mit rund 20 ha beginnend bis zu 100 ha. Sie hatten m e h r e r e Pferde (im Durchschnitt 4 pro Betrieb) und einen umfangreichen Rinderbestand von 10 bis über 20 Rindern. Um die Jahrhundertwende zeichneten sich unter den Großbauern Differenzierungen ab, auf die für das Gebiet der Lausitz Jan Solta hingewiesen hat, die es aber auch in anderen Industriegebieten gab. Es entstand unter den Großbauern eine stärkere Schicht von "bäuerlichen Gutsbesitzern" (Solta) bzw. mittleren Agrarkapitalisten. Sie unterschieden sich von der Masse der Großbauern vor allem durch eine sehr hohe Zahl von ständigen Lohnarbeitskräften (durchschnittlich 10 bis 15) und eine geringe Zahl von mitarbeitenden Familienangehörigen. Solche Betriebe entwickelten sich bis 1907 vornehmlich in Industriegebieten, in Agrargebieten gab e s sie selten. Unter ihnen war eine kleine Anzahl von B e t r i e ben mit wenigen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche (Spezialkulturen oder spezialisierte Viehwirtschaft in der Nähe großer Städte), in der Regel aber hatten sie eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 50 bis 100 ha. Kapitalistische Großbetriebe Die kapitalistischen Großbetriebe beuteten Lohnarbeiter in großer Zahl aus. Ein Betrieb beschäftigte im Durchschnitt 34 Lohnarbeiter, in den ostelbischen und mitteldeutschen Industriegebieten war die Zahl der Lohnarbeiter wesentlich höher. Die kapitalistischen Großbetriebe hatten in der Regel mehr als 100 ha LN, eine geringe Zahl von Spezialbetrieben kam mit weniger landwirtschaftlicher Nutzfläche aus; sie besaßen einen umfangreichen Pferde- und Rinderbestand, der ungefähr das Fünffache des Bestandes starker Großbauern betrug. Im letzten Viertel des 19. Jh. trat als ein neues Merkmal die Verflechtung kapitalistischer Großbetriebe in der Landwirtschaft mit der Industrie, insbesondere mit der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie stärker hervor. Die kapitalistischen Großbetriebe der Landwirtschaft hatten das Monopol agrarischer Produktion, sie b e herrschten den Agrarmarkt. Unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen im letzten Viertel des

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19. Jh. und beim Übergang zum Imperialismus b i s in das erste Jahrzehnt des 20. Jh. hatte die Landwirtschaft im Deutschen Reich folgende sozialökonomische Struktur: Die große Masse der Landwirtschaftsbetriebe - fast zwei Drittel - waren p r o l e tarische Wirtschaften. ^ ^ Ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche e r reichte keine 10 Prozent, ihr Anteil am gesamten Großviehbestand war noch g e ringer. Sie waren an der landwirtschaftlichen Marktproduktion nicht beteiligt. Die Zahl der proletarischen Wirtschaften nahm in den 70er und 80er Jahren des 19. Jh. langsam, um die Jahrhundertwende rascher zu. Die Durchschnittsgröße der Betriebe verringerte sich. Der Zuwachs rekrutierte sich im wesentlichen aus ruinierten Kleinbauernbetrieben. Das zahlenmäßige Wachstum der p r o l e t a r i schen Wirtschaften war ein Ausdruck des Proletarisierungsprozesses der Bauernschaft. Rund ein Drittel aller Landwirtschaftsbetriebe waren Bauernwirtschaften, und zwar 10 bis 15 Prozent kleinbäuerliche, 8 bis 10 Prozent mittelbäuerliche und bis unter 10 Prozent großbäuerliche Wirtschaften. Die Kleinbauern bewirtschafteten ungefähr ein Zehntel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche und hatten einen fast ebenso geringen Anteil am gesamten Großviehbestand. Bis in die 80er Jahre - und in den industriell wenig entwickelten Gebieten bis um die Jahrhundertwende - nahm die Zahl der kleinbäuerlichen Betriebe geringfügig zu, in Industriegebieten hatten die Kleinbauern b e r e i t s V e r luste. Deutlicher als im zahlenmäßigen Rückgang spiegelte sich die in den 90er Jahren wachsende Proletarisierung in der Zunahme des Nebenerwerbs wider. An dem allgemeinen Wachstum des Großviehbestandes hatten die Kleinbauern nur einen geringen Anteil. Im Besitz der Mittelbauern befanden sich rund 15 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und knapp 30 Prozent des Großviehbestandes, vorwiegend Rinder. Die Zahl der mittelbäuerlichen Betriebe nahm im Gesamtüberblick des Deutschen Reiches zu, wobei sich diese Zunahme weniger aus einem Aufstieg kleinbäuerlicher als vielmehr aus der Differenzierung unter den großbäuerlichen Betrieben erklärt. Um die Jahrhundertwende aber verringerte sich in den Industriegebieten 100

Diese quantitativen Angaben sind nicht identisch mit den Angaben über die Betriebsgrößengruppen nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Tabelle 1. E s wurden alle analysierten Daten berücksichtigt und danach ein Mittel e r rechnet, das sich nur in einer ungefähren Quantität ausdrücken läßt. Das gilt auch für die Anteilziffern an der landwirtschaftlichen Nutzfläche und am Großviehbestand.

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der Anteil der mittelbäuerlichen an der Gesamtzahl der Betriebe. Hier trat die Polarisierung - Vermehrung der proletarischen Betriebe auf der einen und Konzentration der Produktion in den kapitalistischen Betrieben auf der anderen Seite - b e r e i t s deutlicher hervor. Bei den Großbauern konzentrierten sich fast 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und ein Drittel der Pferde und Rinder. Ein Teil der Großbauernbetriebe konnte im Konkurrenzkampf nicht bestehen, andere verpachteten Boden bei gleichzeitiger Intensivierung des Restbetriebes. Dadurch verringerte sich um die Jahrhundertwende die Gesamtzahl der Großbauernwirtschaften. Gleichzeitig aber wuchsen die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Nutzfläche pro Betrieb und der Rindviehbestand. Die Spitze der Pyramide bildeten die knapp 3 Prozent an kapitalistischen Großbetrieben, die fast ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche und mehr a l s 15 Prozent des gesamten Großviehbestandes besaßen. Die Zahl dieser Betriebe nahm um die Jahrhundertwende ab, ihre landwirtschaftliche Nutzfläche, die bis in die 80er Jahre noch angewachsen war, verringerte sich um die Jahrhundertwende ebenfalls. Gleichzeitig fand eine Konzentration des Kapitals und der P r o duktion statt, die sich in den von uns betrachteten Kennziffern in der Zunahme des Großviehbestandes und der Verschmelzung mit der landwirtschaftlichen Industrie widerspiegelte. Diese für das Deutsche Reich im ganzen dargestellte Agrarstruktur sah in den einzelnen Territorien sehr unterschiedlich aus. Weiter oben wurde unter dem Aspekt des Umfangs der landwirtschaftlichen Nutzfläche bereits ein Überblick über die räumliche Verteilung der Betriebsgrößengruppen gegeben. Dieses allgemeine Bild der Gliederung nach Größengruppen wurde bei Berücksichtigung der Daten über Lohnarbeit, Nebenerwerb und Viehbesatz nicht grundsätzlich k o r r i giert. Es läßt sich aber insofern modifizieren, als deutlich wurde, daß sich in den Industriegebieten westlich und östlich der Elbe der Differenzierungsprozeß der Bauernschaft rascher vollzog als in den Agrargebieten. E s gab in entwickelten Industriegebieten in allen Größengruppen kapitalistische Landwirtschaftsbetriebe, besonders in den Größengruppen ab 10 ha LN, mit einer höheren Konzentration an Lohnarbeitskräften und Großvieh (um nur die beiden von uns untersuchten Daten zu nennen) als in Betrieben mit gleichgroßer landwirtschaftlicher Nutzfläche in Agrargebieten. E s vollzog sich aber auch der Übergang von selbständigen Landwirten mit weniger als 2 ha LN und von Kleinbauern bis 5 ha LN zum Industriearbeiter schneller und im größeren Umfang a l s in den Agrargebieten.

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Im Durchschnitt waren in Industriegebieten die Nutzflächen der bäuerlichen Wirtschaften kleiner, der Intensivierungsgrad größer und daher der sozialökonomische Typ der Wirtschaften im Vergleich zu einem gleichgroßen Flächenumfang in agrarischen Gebieten höher.

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96 ANHANG

Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe 1882, 1895 und 1907 und die Relationen zwischen den einzelnen Betriebsgrößengruppen a) Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe 1882, 1895 und 1907 b) Die Relationen zwischen einzelnen Betriebsgrößengruppen in Prozent und die Veränderung der Relativwerte von 1882 bis 1907 Tabelle 2: Die landwirtschaftliche Nutzfläche in der Verteilung auf die Betriebsgrößengruppen 1882, 1895 und 1907 a) Die landwirtschaftliche Nutzfläche in ha in der Verteilung auf die Betriebsgrößengruppen 1882, 1895 und 1907 b) Die landwirtschaftliche Nutzfläche in der prozentualen Verteilung auf die Betriebsgrößengruppen 1882, 1895 und 1907 Tabelle 3: -Die Durchschnittsgröße der Betriebe in den Größengruppen 1882, 1895, 1907 Tabelle 4: Die Entwicklung der Größengruppen in den ausgewählten Verwaltungseinheiten. Die Zu(+)- oder Ab(-)nahme der Zahl der Betriebe, der Relativwerte (bezogen auf 100 Betriebe der jeweiligen Größengruppe) und der Durchschnittsgröße der Betriebe von 1882 bis 1907 a) b) c) d) e)

Betriebe Betriebe Betriebe Betriebe Betriebe

unter 2 ha LN von 2 - 5 ha LN von 5 - 20 ha LN von 20 - 100 ha LN über 100 ha LN

Tabelle 5: Die Verbindung der Landwirtschaftsbetriebe mit anderen Erwerbszweigen 1895 und 1907 a) Von 100 Betriebsinhabern in der jeweiligen Größengruppe waren 1895 und 1907 selbständige Landwirte ohne Nebenerwerb b) Von 100 Betriebsinhabern in den Größengruppen unter 2 ha und von 2 - 5 ha LN waren 1895 und 1907 im Hauptberuf selbständige Landwirte mit Nebenerwerb, Lohnarbeiter in der Landwirtschaft und Lohnarbeiter in der Industrie bzw. Selbständige in der Industrie, im Handel usw. (Bl. 1 u. 2)

Die Struktur der Bauernschaft

97

c) Von 100 Betriebsinhabern in den Größengruppen von 5 bis über 100 ha LN waren 1895 und 1907 im Hauptberuf selbständige Landwirte mit Nebenerwerb bzw. Selbständige in der Industrie, im Handel usw. (Bl. 1 u. 2) Tabelle 6: Die Beschäftigung von Lohnarbeitern in den einzelnen Betriebsgrößen gruppen in ihrer Relation zur Zahl der ständig mitarbeitenden Familienangehörigen 1907 a) Die Zahl der Lohnarbeiter in den Betrieben unter 2 ha LN und in den Großbetrieben über 100 ha LN am 12. Juni 1907 Berechnet auf 100 Betriebe b) Die Zahl der ständigen Lohnarbeiter in den Betriebsgrößengruppen von 2 bis 100 ha LN am 12. Juni 1907 Berechnet auf 100 Betriebe c) Die Zahl der zeitweilig beschäftigten Lohnarbeiter in den Betriebsgrößengruppen von 2 bis 100 ha LN am 12. Juni 1907 Berechnet auf 100 Betriebe d) Die Relation zwischen ständig mitarbeitenden Familienangehörigen (ohne Betriebsleiter) und ständig beschäftigten Lohnarbeitern in den Größengruppen von 5 bis 100 ha LN im Jahre 1907 Tabelle 7: Die Zahl der in den einzelnen Betriebsgrößengruppen beschäftigten Personen 1907 a) In 100 Betrieben der Größengruppe unter 2 ha LN sowie der Größengruppe über 100 ha LN waren am 12. Juni 1907 . . . Personen (einschließlich Betriebsleiter) beschäftigt b) In 100 Betrieben der jeweiligen Größengruppe waren am 12. Juni 1907 . . . Personen (einschließlich Betriebsleiter) beschäftigt c) In 100 Betrieben der jeweiligen Größengruppe waren am 12. Juni 1907 Personen (einschließlich Betriebsleiter) beschäftigt Tabelle 8: Der Großviehbestand in den landwirtschaftlichen Betriebsgrößengruppen 1882, 1895 und 1907 a) 100 Betriebe der einzelnen Größengruppen hatten 1882, 1895 und 1907 . . . Pferde b) Die Zu(+)- oder Ab(-)nahme der Pferde in den Größengruppen 1895 gegenüber 1882 und 1907 gegenüber 1895 (berechnet auf 100 Betriebe) c) Zu(+)- oder Ab(-)nahme der absoluten Zahl der Pferde in den Größengruppen 1882 bis 1907 d) 100 Betriebe der einzelnen Größengruppen hatten 1882, 1895 und 1907 . . . Rinder e) Die Zu(+)- oder Ab(-)nahme der Rinder in den Größengruppen 1895 gegenüber 1882 und 1907 gegenüber 1895 (berechnet auf 100 Betriebe) f) Zu(+)- oder Ab(-)nahme der absoluten Zahl der Rinder in den Größengruppen 1882 bis 1907 g) Von 100 Betrieben der einzelnen Größengruppen hatten 1907 keine Pferde und keine Rinder h) Der Anteil der einzelnen Betriebsgrößengruppen am Pferde- und Rinderbestand 1907

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R B Königsberg

1

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1

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1

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R B Frankfurt

1

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1

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1

1,2

1

4,5

R B Oppeln

1

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1

0,6

1

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1

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1

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1

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1

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1

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1

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1

1

1

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1

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1

1

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1

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1

1

1

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1

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1

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1

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1

5

1

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1

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1

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1

0,1

1

0,5

1

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1

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1

0,2

1

0,5

1

1

1

5

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1

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1

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1

1

1

5,5

1

1,4

1

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Deutsches R e i c h

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6

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Die Struktur der Bauernschaft

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