Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 12 2011 9783486854084, 9783486706383

Herausgegeben von Heinz Duchhardt, wissenschaftliche Leitung: Zaur Gasimov Schwerpunktthema: Allianzen in Europa M. Pete

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German Pages 260 Year 2011

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema: Allianzen in Europa
Europäische Friedensprozesse der Vormoderne 1450–1800
Freundschaft, Fürsten, Patronage. Personale Beziehungsmuster und die Organisation des Friedens im Ancien Régime
Symbiose ungleicher Partner. Die französisch-eidgenössische Allianz 1516–1798/1815
Bündnissysteme um 1600 – Verflechtungen – Ziele – Strukturen
Verhandlungs- und Vertragssprachen in der „niederländischen Epoche“ des europäischen Kongresswesens (1678/79–1713/14)
Übersetzung oder Überformung? Wie sich der Staat vom Herrscher emanzipierte
Andere Beiträge
Wertewandel und Geschichtsbewusstsein – Überlegungen zur historischen Untersuchung einer Wechselbeziehung
Karl Anton Rohan (1898–1975) Europa als antimoderne Utopie der Konservativen Revolution
Zwischen Freiheitstopoi und Antikommunismus: Ordnungsentwürfe für Europa im Spiegel der polnischen Zeitung Przymierze
Forschungsbericht
Die europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung
Europa-Institute und Europa-Projekte
Europa von außen gesehen – Formationen nahöstlicher Ansichten aus Europa auf Europa
Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. Ein Tagungsbericht
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 12 2011
 9783486854084, 9783486706383

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Jahrbuch für Europäische Geschichte

Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt

Band 12 2011

Oldenbourg Verlag München 2011

Redaktion: Zaur Gasimov

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Grafik+Druck GmbH, München ISBN 978-3-486-70638-3 ISSN 1616-6485

Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema: Allianzen in Europa Martin Peters, Mainz: Europäische Friedensprozesse der Vormoderne 1450–1800

3

Klaus Oschema, Heidelberg/Hillard von Thiessen, Köln: Freundschaft, Fürsten, Patronage. Personale Beziehungsmuster und die Organisation des Friedens im Ancien Régime

23

Andreas Würgler, Bern: Symbiose ungleicher Partner. Die französisch-eidgenössische Allianz 1516–1798/1815

53

Heinhard Steiger, Gießen: Bündnissysteme um 1600. Verflechtungen – Ziele – Strukturen

77

Guido Braun, Bonn: Verhandlungs- und Vertragssprachen in der „Niederländischen Epoche“ des Europäischen Kongresswesens (1678/79–1713/14)

103

Daniel Hildebrand, Mainz: Übersetzung oder Überformung? Wie sich der Staat vom Herrscher emanzipierte

131

Andere Beiträge Kerstin Armborst-Weihs/Judith Becker, Mainz: Wertewandel und Geschichtsbewusstsein – Überlegungen zur historischen Untersuchung einer Wechselbeziehung

153

Nils Müller, Berlin: Karl Anton Rohan (1898–1975). Europa als antimoderne Utopie der Konservativen Revolution

179

Zaur Gasimov, Mainz: Zwischen Freiheitstopoi und Antikommunismus: Ordnungsentwürfe für Europa im Spiegel der polnischen Zeitung Przymierze 205

VI

Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011)

Forschungsbericht Friedrich Jaeger, Essen: Die europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung

221

Europa-Institute und Europa-Projekte Bekim Agai, Bonn: Europa von außen gesehen – Formationen nahöstlicher Ansichten aus Europa auf Europa

239

Kornelia Kończal, Berlin: Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung

245

Autorenverzeichnis

253

Die Auswahlbibliographie zum Europa-Schrifttum 2010 von Zaur Gasimov und Ines Grund (Mainz) ist als kostenloser Download auf der Website des Verlags und des Instituts für Europäische Geschichte verfügbar.

SCHWERPUNKTTHEMA

Allianzen in Europa Allianzen sind im Europa der Vormoderne ein wesentliches Strukturelement der internationalen Politik. Allianzen konnten, oft über lange Zeiträume hinweg, sichere, verlässliche Grundlagen der Mächtepolitik abgeben, Allianzen provozierten Gegenallianzen und trugen so zur Teilung Europas in Blöcke bei, Allianzen wurden zum Mythos („Große Allianz“) und zum Bezugspunkt und zum Antriebsmoment für Generationen von Politikern und Diplomaten, aus dem Bruch von Allianzen – so 1762 die britisch-preußische Allianz – resultierten Verstimmungen und erwuchsen Antipathien, die die Politik und bilateralen Beziehungen über lange Zeiträume hinweg prägten. Seit sich der europäische Kontinent dynamisierte und machtpolitisch auflud, waren Allianzen von Bündnisberechtigten ein, wenn nicht das bewegende Element der europäischen Geschichte. Das hatte etwas mit der relativen Kleinräumigkeit Europas zu tun, vor allem aber mit dem für Europa charakteristischen Phänomen ausgeprägter Konkurrenz zwischen den Gemeinwesen. Man benötigte Allianzen, um sich vor Angriffen des (größeren) Nachbarn sicherzustellen, man benötigte sie aber ebenso, um offensiv gegen Schwächere oder Anrainer vorzugehen. Die in diesem Schwerpunktthema zusammengefassten Beiträge stammen zum Teil aus einer Mainzer Forschergruppe, wurden überwiegend aber von außen eingeworben. Am Institut für Europäische Geschichte besteht seit längerer Zeit ein ausgeprägtes Interesse an den internationalen Beziehungen, in der europäischen Vormoderne, wie sie sich in Verträgen – zu denen eben auch Allianz- und Friedensverträge zählen – niederschlagen. Insofern spiegelt das Forschungsthema zugleich einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt des Instituts für Europäische Geschichte. Für das Einwerben der Beiträge zeichnete mein Projektmitarbeiter Dr. Martin Peters verantwortlich, der auch das Thema anregte. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Europäische Friedensprozesse der Vormoderne 1450–1800 Von

Martin Peters War die Frühe Neuzeit in Europa eine bellizistische Zeit? Oder könnte diese auch als eine Zeit der europäischen Friedenssicherung und spezieller europäischer Friedensprozesse beschrieben werden? Sind solche Friedensprozesse überhaupt identifizierbar? Wurde Frieden damals überhaupt als Prozess begriffen? Den Frieden für die Frühe Neuzeit in den Blick zu nehmen und vormoderne europäische Friedensprozesse für den Zeitraum 1450 bis 1800 überblicksartig zu skizzieren, soll die Aufgabe des folgenden Beitrags sein. Unter einem Friedensprozess wird ein Gewebe von zwischenstaatlichen Abkommen und Maßnahmen zur Lösung eines Konfliktes sowie zur Stabilisierung einer Region verstanden. Dabei ging es im vormodernen Europa primär um die Sicherung von Herrschaft über Personen, Land, Recht, Handel, bzw. Ressourcen und auch Kultur1. Wenn auch friedenserhaltende zwischenstaatliche Beziehungen durchaus auf verschiedenen Ebenen generiert wurden, auf dynastischer, politischer, rechtlicher, diplomatischer sowie auch auf religiöser, ökonomischer und kultureller2, wird hier das Augenmerk auf die interdynastische, „zwischenstaatliche“ Dimension vormoderner Friedensstiftung in Europa gelegt. Ausgespart werden insofern aber auch friedensstiftende familiäre und soziale Kontakte – hier wäre in erster Linie an den europäischen Hochadel zu denken. Frieden im Fokus der Frühneuzeitforschung Noch heute gehört es zu den Raritäten der Forschung, Geschichte aus der Perspektive des Friedens zu schreiben3, wie es einst Jean-Jacques Rousseau forderte4. Stattdessen werden militärische Konflikte sowie deren Folgen und Hintergründe erörtert; sie stehen vermutlich deshalb im Fokus, weil sie ereignisreicher sind als stabile Zustände und Regionen. Mit Krieg wird Dynamik verbunden und mit Frieden eher Ruhe. Schlachten zu beschreiben, zu kartie1

Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, hrsg. von Friedrich Beiderbeck [u. a.], Berlin 2003. 2 Über religiöse und kulturelle Transferprozesse in der Vormoderne: Cultural Exchange in Early Modern Europe, Bd. 1: Religion and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700, hrsg. von Heinz Schilling/István György Tóth, Cambridge 2006.

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ren und zu visualisieren, ist eine erprobte und kulturell verfestigte Form und daher offenbar naheliegender als befriedete Zonen zu markieren. Aber ist es nicht möglich, sowohl Ost-West-Konflikte als auch „Ost-West-Frieden“ zu untersuchen5? Möglicherweise werden vormoderne Kriege deshalb häufiger beschrieben als „Friedensereignisse“, weil die militärischen Aktivitäten das 17. und 18. Jahrhundert so sehr prägten. Die Bilanz aktiver Friedens- und Sicherheitspolitik dieser Zeit war in der Tat ernüchternd und nicht von Erfolg gekrönt. In fast jedem Jahr war mindestens eine Dynastie bzw. ein Gemeinwesen in einen militärischen Konflikt verwickelt6. Das frühneuzeitliche Europa stellen wir uns daher als bellizistisches vor, das auf der Suche nach einer nachhaltigen Ordnung war7, die auf politischer Konkurrenz, dem Wettbewerb um Ansehen und Ehre, konfessioneller Pluralität und kulturellen Innovationen begründet war8. Krieg war bisher konstitutiver Bestandteil einer defizitären vormodernen Ordnung; insofern war der 30jährige Krieg ein „Staatsbildungskrieg“9. Instabil dabei war auch die Kommunikation im vormodernen Friedensprozess – auch diese galt es zu professionalisieren in Hinblick auf geschulte diplomatische Ausbildungswege und dergleichen. Wie schnell Dialoge durch Polarisierung und Politisierung gestört und unterbrochen wurden, zeigt der Konfessionskonflikt vor Ausbruch des 30jährigen Krieges10. So mussten – während 3

Impulsgebend: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Heinz Duchhardt, Köln/Wien 1991. 4 Jean-Jacques ROUSSEAU, Émile, ou De l’éducation, Bd. 2, Den Haag 1762, S. 273–274. 5 Über Krieg und Frieden in der Sprache vgl. auch Harald KLEINSCHMIDT, Europäische und japanische Friedenslehren der Frühneuzeit im Vergleich, in: Studien zur Internationalen Politik, Heft 3 (2005), S. 5–76, hier: S. 7. Über den Wert Frieden: Michael HOWARD, Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt, Lüneburg 2001. 6 Ronald G. ASCH, Einleitung: Krieg und Frieden. Das Reich und Europa im 17. Jahrhundert, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. von Ronald G. Asch [u. a.], München 2001, S. 13–36, hier: S. 13; Heinz DUCHHARDT, Zwischenstaatliche Friedens- und Ordnungskonzepte im Ancien Régime: Idee und Realität, in: ebd., S. 37–45, hier: S. 38. 7 Johannes BURKHARDT, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509– 574. 8 DUCHHARDT, Zwischenstaatliche Friedens- und Ordnungskonzepte (wie Anm. 6), S. 37– 45, hier: S. 38. 9 Johannes BURKHARDT, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt 1992; DERS., Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg? Die frühmodernen Konflikte um Konfessions- und Staatsbildung, in: Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, hrsg. von Bernd Wegner, Paderborn 2000, S. 67–87. 10 Ralf-Peter FUCHS, Ein ‚Medium zum Frieden‘. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010, besonders S. 27–29 und S. 49– 56; Axel GOTTHARD, Der deutsche Konfessionskrieg seit 1619. Ein Resultat gestörter politischer Kommunikation, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 141–172, besonders

Peters, Europäische Friedensprozesse der Vormoderne

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und parallel zu den militärischen Auseinandersetzungen – neue, funktionstüchtige friedenswahrende und vertrauensbildende Instrumente geschaffen und kreiert werden, die die Sicherung und Stabilisierung, die friedliche Kooperation und Nachbarschaft zwischen den Dynastien förderten und sicherten. Insofern waren es auch die europäischen Friedensprozesse, die die Staatsbildung beeinflussten und lenkten. Während sich für die Moderne – vor allem für das 20. Jahrhundert – nach und nach Friedens- und Konfliktforschung als eigenständiges Fach etabliert11, ist die Erforschung des Friedens der Vormoderne erstaunlich zurückhaltend12 und eher Bestandteil der Diplomatie- und Völkerrechtsgeschichte13 wie der Geschichte des europäischen Staatensystems, der internationalen Beziehungen und Europas14. Hier haben sich Friedensverträge als Epochenmarken und -schwellen durchgesetzt15. Dabei nimmt der Westfälische Frieden eine gleichsam dominante Rolle ein16. Konsens in der Forschung ist freilich das Wissen um die Notwendigkeit, möglichst alle europäischen Friedensverträge und die S. 167–168. Über den Abbau von Institutionen und Foren im Zuge zunehmender Polarisierung vgl. auch Maximilian LANZINNER, Konfessionelles Zeitalter 1555–1618, Stuttgart 102004, S. 172–178. 11 Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, Bd. 1, hrsg. von Peter Imbusch/Ralf Zoll, Wiesbaden 42006; Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Bd. 1, hrsg. von Benjamin Ziemann, Essen 2001; Dimensionen des Friedens – Theorie, Praxis und Selbstverständnis der Friedensforschung, hrsg. von Mathias Jopp, Baden-Baden 1991/1992. 12 Jetzt neu erschienen: Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Inken Schmidt-Voges [u. a.], München 2010. 13 Heinhard STEIGER, Von der Staatengesellschaft zur Weltrepublik. Aufsätze zur Geschichte des Völkerrechts aus vierzig Jahren, Baden-Baden 2009; Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One, hrsg. von Randall Lesaffer, Cambridge 2004; Wilhelm G. GREWE, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984. 14 Peter H. WILSON, Europe‘s Tragedy. A History of the Thirty Years War, London 2009; ASCH, Frieden und Krieg (wie Anm. 6); Heinz DUCHHARDT, Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800, Stuttgart 2003; Günter VOGLER, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650, Stuttgart 2003; Das europäische Staatensystem im Wandel, hrsg. von Peter Krüger, München 1996; Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems, hrsg. von dems., Marburg 1991. 15 Beispielhaft bei Heinz SCHILLING, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Krüger, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 14), S. 19–46. 16 Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden, Münster 71998; Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte, hrsg. von Heinz Duchhardt, München 1998; Krieg und Frieden in Europa. Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, hrsg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling, Münster/Osnabrück 1998; Konrad REPGEN, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hrsg. von Franz Bosbach und Christoph Kampmann, Paderborn/München/Wien 1998. Vgl. das Großprojekt der „Acta Pacis Westphalicae“, in dem minutiös aus der Perspektive des Doppelfriedens von Münster und Osnabrück (1648) die politischen und kulturhistorischen Hintergründe dieses europaweiten Friedensbildungsprozesses ausgeleuchtet werden.

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vorausgehenden Verhandlungen umfassend aufzuarbeiten17, wie dies für den Frieden von Rijswijk18, den Pyrenäenfrieden19, den Frieden von Karlowitz20 und den Frieden von Passarowitz21 und einigen mehr ansatzweise geschehen ist22. Eine wichtige Säule der sich formierenden Historischen Friedensforschung der Vormoderne ist die Begriffsgeschichte mit ihren fruchtbaren Untersuchungen zur historischen Semantik23. Die Erforschung von völkerrechtlichen Schlüsselbegriffen – z. B. christianitas, tranquillitas, Souveränität, Amnestie, Gleichgewicht, Gleichheit, Freiheit – und deren narrative Einbettung im Rahmen von Friedensverhandlungen und -verträgen zeigt, wie sich der Stellenwert dieser Metaphern im Rahmen vormoderner Sicherheitspolitik änderte, wie sich das gegenseitige Verständnis der Verhandlungspartner verschieben konnte oder wie gemeinsame oder differente Konnotationen entstanden24. Neuere Forschungen widmen sich auf der Grundlage dieser Studien der

17 Heinz DUCHHARDT, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert, Darmstadt 1976. 18 Der Friede von Rijswijk 1697, hrsg. von Heinz Duchhardt [u. a.], Mainz 1998. 19 Der Pyrenäenfriede 1659. Vorgeschichte, Widerhall, Rezeptionsgeschichte, hrsg. von Heinz Duchhardt, Göttingen 2010. 20 La paix de Karlowitz, 26 janvier 1699: les relations entre l’Europe centrale et l’Empire ottoman, hrsg. von Jean Bérenger, Paris 2010. 21 The Peace of Passarowitz, 1718, hrsg. von Charles Ingrao [u. a.], [im Druck]. 22 Kalkül – Transfer – Symbol. Europäische Friedensverträge der Vormoderne, hrsg. von Heinz Duchhardt/Martin Peters, Mainz 2006-11-02, URL: http://www.ieg-mainz.de/viegonline-beihefte/01-2006.html (eingesehen am 28.09.2010); Instrumente des Friedens. Vielfalt und Formen von Friedensverträgen im vormodernen Europa, hrsg. von Heinz Duchhardt/Martin Peters, Mainz 2008-06-25, URL: http://www.ieg-mainz.de/vieg-onlinebeihefte/03-2008.html (eingesehen am: 28.09.2010); Grenzen des Friedens. Europäische Friedensräume und -orte der Vormoderne, hrsg. von Martin Peters, Mainz 2010-07-1, URL: http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/04-2010.html (eingesehen am: 28.09.2010). 23 Grundlegend: Wilhelm JANSSEN, Friede, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2: E-G (Studienausgabe), hrsg. von Otto Brunner [u. a. ], Stuttgart 2004, S. 543-591. Ferner: Jörg FISCH, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979. 24 Heinz DUCHHARDT, Concert of Europe, in: Publikationsportal Europäische Friedensverträge, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte, Mainz 2009-07-27, Abschnitt 1– 7. URL: http://www.ieg-mainz.de/publikationsportal/duchhardt07200901/index.html (eingesehen am 28.09.2010); DERS., „Europa“ als Begründungsformel in den Friedensverträgen des 18. Jahrhunderts: von der „tranquillité“ zur „liberté“, in: Instrumente des Friedens, hrsg. von Duchhardt/Peters (wie Anm. 22), Abschnitt 5–11; DERS., ‚Europa‘ als Begründungs- und Legitimationsformel in völkerrechtlichen Verträgen der Frühen Neuzeit, in: Faszinierende Frühneuzeit: Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang E. J. Weber/Regina Dauser, Berlin 2008, S. 51–60; Arno STROHMEYER, Theorie der Interaktion. Das europäische Gleichgewicht der Kräfte in der Frühen Neuzeit. Wien/Köln/Weimar 1994; FISCH, Krieg und Frieden im Friedensvertrag (wie Anm. 23).

Peters, Europäische Friedensprozesse der Vormoderne

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kommunikativen Dimension vormoderner Friedenspraxis und -theorie25. Dass in der Analyse vormoderner Friedenspraxis und -theorie noch ein reiches Maß an Zukunftspotential zu finden ist, zeigt eine jüngere Studie, in der das Friedenspotential vor Ausbruch vormoderner Kriege bemessen wurde, um zu erläutern, weshalb Friedensbemühungen scheiterten26. Für die Ausdeutung vormoderner Friedensprozesse ist ein Ansatz zukunftsweisend, der zeremonielle und symbolische Präsentations- und Translationsleistungen untersucht und so die Normen und Strukturen des „Prozesses des Aushandelns“ offenlegt27. Insgesamt existieren allerdings in Europa erst wenige monografische transferhistorische Forschungen zu vormodernen Friedensprozessen, die sich den vielfältigen Transfer- und Übersetzungsleistungen sowie -barrieren widmen würden28. Dieser Beitrag will daher v. a. den prozessualen Charakter vormoderner Friedenssuche darlegen sowie stärker Voraussetzungen und Bedingungen für durch Friedensprozesse ausgelöste oder ihnen zugrundeliegende Transferprozesse umreißen, als diese Transfers selbst darstellen. Friedenssicherung als Prozess Friedens- und Sicherheitspolitik mit europäischer Dimension wurde über biund multilaterale Bündnisse und Allianzen gestaltet29. Das Ziel der Vertragspartner war es einerseits, im Dialog einen tragfähigen Konsens zu bilden und freundschaftliche Beziehungen (wieder) herzustellen. Andererseits bemühte man sich, eigene Interessen überzeugend zu rechtfertigen und so durchzuset25

Vgl. z. B. das Forschungsprojekt „Übersetzungsleistungen von Diplomatie und Medien im vormodernen Friedensprozess. Europa 1490–1789“ im Internet unter http://www.uebersetzungsleistungen.de (eingesehen am 28.09.2010). 26 Friedliche Intentionen – Kriegerische Effekte. War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich?, hrsg. von Winfried Schulze, St. Katharinen 2002. 27 Barbara STOLLBERG-RILINGER, Völkerrechtlicher Status und zeremonielle Praxis auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Martin Kintzinger/Michael Jucker [im Druck]. 28 Eine Ausnahme: STROHMEYER, Theorie der Interaktion (wie Anm. 24). Jetzt auch: André KRISCHER, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ralph Kauz [u. a.], Wien 2009, S. 1–32. Einen gleichsam bündnistheoretischen Ansatz verfolgt nun auch Katja Frehland-Wildeboer, die sich nicht nur den (macht-)politischen Motiven und Hintergründen von Bündnissen zuwendet, sondern der Idee und Realität von Bündnissen, also dem „Bündnisverständnis und -missverständnis“. Katja FREHLAND-WILDEBOER, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714–1914, München 2010, besonders S. 20-21. 29 Über die Inklusion eines dritten Partners: Randall LESAFFER, Peace treaties from Lodi to Westphalia, in: Peace treaties, hrsg. von dems. (wie Anm. 13), S. 9–44, S. 34–37.

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zen. Über Bündnisse und Allianzen streben die Akteure danach, „Wettbewerbs- und Ansehensvorteile“ zu erlangen oder „Wettbewerbs- und Ansehensnachteile“ zu minimieren, beziehungsweise sich vor dem Zugriff mächtigerer Dynastien und Gemeinwesen zu schützen. Zentrale Verfahren dieser komplexen Verhandlungsprozesse, deren Abschlüsse die Friedensverträge symbolisierten und fixierten, waren Gabentausch und Geschenkpraktiken30. Darüber hinaus wurde auch Ehre generiert, Deutungen und Einschätzungen, Forderungen und Ansprüche, Bilder und Feindbilder wurden hier intensiv ausgetauscht, interessengeleitete Argumente und Forderungen vorgebracht; Vertrauen wurde gebildet, Misstrauen geschürt31. Dabei konnten Friedens- und Kriegsziele, denen ja auch militärisch Nachdruck verliehen wurde, je nach Situation durchaus neu formuliert werden32. Als Ausgangspunkte, Etappen, Meilensteine und mitunter auch Endpunkte steuerten Friedensverträge spezifische regional begrenzte oder auch europaweite Friedensprozesse. Insofern sind Friedensverträge als Momentaufnahmen der europäischen Geschichte ein bedeutsames kulturelles Erbe und spielten bei der Ausbildung der (früh-)modernen Staaten und ihrer Identitäten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn durch den Abschluss zwischenstaatlicher Friedensverträge bewegte sich Europa in seiner Binnenstruktur, etwa durch territoriale Grenzziehungen, und das Profil veränderte sich hin zu einer Staatengemeinschaft. Denn Frieden wurde errichtet, indem Herrschaftsbereiche neu definiert, Truppenbewegungen gesteuert, Besitzrechte ausgehandelt, Grenzen gezogen, Erbschaftsbestimmungen getroffen, Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen abgestimmt, Religionsausübung festgelegt, Durchmarschrechte bewilligt, Tribute und Mitgifte fixiert, dynastische Vermählungen vereinbart, Zölle erhoben, Kriegsgefangenenmodalitäten geregelt wurden u.v.m. Transferiert wurden Territorien, große Summen an Geld, kostbare Gastgeschenke und Präsente. Etwa seit 1648/50 waren die Verflechtungen zwischen den Staaten und Gemeinwesen so intensiv, dass Frieden eine europäische Angelegenheit 30

Rainer Christoph SCHWINGES/Klaus WRIEDT, Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, Sigmaringen 2003; FUCHS, Ein ‚Medium zum Frieden‘ (wie Anm. 10), S. 145 und S. 383. 31 Eine Auswahl: FUCHS, Ein ‚Medium zum Frieden‘ (wie Anm. 10), S. 6–7; Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, hrsg. von Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer, Münster 2007. 32 Über die wandelbaren Motive und Ziele: Anuschka TISCHER, Vom Kriegsgrund hin zum Friedensschluß: der Einfluß unterschiedlicher Faktoren auf die Formulierung von Friedensverträgen am Beispiel des Westfälischen Friedens, in: Kalkül – Transfer – Symbol, hrsg. von Duchhardt/Peters (wie Anm. 22), Abschnitt 99–108. Über den Zusammenhang von Kriegsverlauf und Friedensprozess vgl. z. B. Derek CROXTON, Peacemaking in early Modern Europe. Cardinal Mazarin and the Congress of Westphalia, 1643–1648, Selingsgrove/London 1999.

Peters, Europäische Friedensprozesse der Vormoderne

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war33. Im Zeitraum von 1450 bis 1789 wurden über 2.000 Friedensverträge zwischen europäischen Mächten, durch die Frieden gewahrt oder gestiftet wurde, in mehr als 500 europäischen Orten abgeschlossen34. Spezifische europäische Krisenregionen, die entweder besonders häufig Thema von Friedensverhandlungen waren oder wo besonders häufig Friedensverhandlungen abgehalten wurden, waren z. B. Italien, die Niederlande, Savoyen, Siebenbürgen und die Grenzregionen zwischen Dänemark und Schweden sowie Polen und Russland. Ein eindrucksvolles Zeugnis, in dem der Friede selbst als Prozess beschrieben wird, ist die Präambel des Friedensvertrags von Traventhal (1700 VIII 18). Hier ist die Rede von den vielfältigen Verhandlungen zwischen den Vertragspartnern, dem König von Dänemark und dem Herzog von SchleswigHolstein-Gottorf, und das über 25 Jahre währende Ringen um den Frieden zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein. Indem in dem angeführten Friedensvertrag die Jahrzehnte zuvor in Altona35 und Fontainebleau36 abgehaltenen Friedensgespräche zitiert und erwähnt werden, wird der prozessuale Charakter des Friedens in dieser Region beschrieben. Die Gründe dafür, dass bis dahin kein nachhaltiger Frieden zwischen den beiden Mächten gestiftet werden konnte, bestanden darin – so wurde es jedenfalls in der Präambel erläutert –, dass die einzelnen Vereinbarungen unverständlich gewesen seien, so dass Missverständnisse entstanden und mehrere Interpretationen und Auslegungen einzelner Bestimmungen ermöglicht worden seien. Krieg war demnach die Folge eines Kommunikationsdefizits, das auch durch die Friedensbemühungen eines Mediators, also eines von den Parteien anerkannten Vermittlers und Moderatoren, nicht kompensiert werden konnte. Es heißt: Im Nahmen der Heiligen Dreyfaltigkeit Kund und zu wissen sey hiemit jedermänniglich: Demnach seit Anno 1675 zwischen König[licher]. Majest[ät]. zu Dennemack und des Hertzogen zu Schleßwig-HollsteinGottorff Durchl[aucht]. verschiedene beschwerliche Mißverstände und Dissidien [kursive Markierungen vom Verf.] entstanden, und obgleich dieselbe durch die in Anno 1679 zu Fontainebleau und ferner Anno 1689 zu Altona errichtete Frieden-Schlüsse und Vergleiche componiret worden, solche dennoch occasione der über den eigentlichen Verstand und Interpretation ein- und andern in dem Altonaischen Vergleich enthaltenen 33

DUCHHARDT, Europa am Vorabend der Moderne (wie Anm. 14), S. 73. Am Institut für Europäische Geschichte Mainz wurden im Rahmen des DFG-geförderten Projektes „Europäische Friedensverträge der Vormoderne – online“ 1.800 Friedensverträge digitalisiert und online geschaltet. Siehe: www.ieg-mainz.de/friedensvertraege/. Zum Projekt vgl. Martin PETERS, Europäische Friedensverträge der Vormoderne – online. Ein Projektbericht, in: Pax Perpetua, hrsg. von Schmidt-Voges (wie Anm. 12), S. 73-79. 35 Altonaer Vergleich vom 30. Juni 1689, in dem Dänemark auf Drängen Englands, Schwedens und der Niederlande der Restitution Christian Albrechts, Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf, zustimmte. 36 Frieden von Fontainebleau vom 2. September 1679 zwischen Dänemark und Frankreich. 34

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Articuls aber einst entstandenen Zwistigkeiten von neuen rege gemacht, und es endlich, ohnerachtet der an Seiten Ihro Kayserl[ichen]. Maje[stä]t und Ihrer Churfürstl[ichen]. Durchl[aucht]. Durchl[aucht]. Zu Sachsen und Brandenburg bey der Sache interponirten hohen Mediation, auch der hohen Garandsgedachten Altonaischen Vergleichs angewandten vielfältigen Bemühungen darüber zu Thätlichkeiten und einen offentlichen Kriege zwischen beyderseits jetzo regierenden, Ihro Königl[iche]. Majest[ät]. in Dennemarck-Norwegen ec. und des Herrn Hertzogen zu Schleßwig-Hollstein-Gottorf ec. Durchl[aucht]., dero hohen Herrn Alliierten und Garands ausgeschlagen. Man aber nicht allein von Seiten Ihro Kayserl[ichen]. Majest[ät]. und S[eine]r ChurFürstl[ichen]. Durchl[aucht]. zu Brandenburg noch immerhin und biß ans Ende alleine continuiret, allen möglichsten Fleiß und Bemühung dahin anzuwenden, daß solche entstandene Kriegs-Unruhe in Zeiten wieder gedämpffet, und der Ruhe- und Friedens-Stand in diesem NiederSächsischenCrayß und denen benachbahrten nordischen Quartieren, durch einen billig-mäßigen Frieden retabliret, mithin ein völliges, auch beständiges gutes Vernehmen zwischen Ihro Königl[ichen]. Maj[estät]. in Dennemarck und des Herrn Hertzogen zu Hollstein-Gottorf ec. Durchl[aucht]. wieder gestifftet werden möchte, sondern auch folglich andere hohe Puissancen ihre Officia darunter mit angewandt. Daß demnach auf die zwischen beyder kriegenden Theilen und dero respective Alliirten und Garands darzu bevollmächtigten Ministris gepflogene mühsame Tractaten und von aller- und höchst ermeldter Herrn Mediatoren Abgesandten und Ministris dabey angewandten emsigsten Bemüh- und Vermittelung oberwehnte Mißverstände, Differentien und Streitigkeiten, gütlich componiret, und darüber nachfolgender Tractat und Vergleich verabredet und geschlossen worden: […].

Dieses Zitat zeigt nicht nur die innere Struktur von Friedensprozessen, sondern belegt auch die Kenntnis und das Wissen um vorhergehende Absprachen; in anderen Verträgen wurden sogar Artikel und Textpassagen im Wortlaut oder nur leicht verändert übernommen. Indem Friedensvereinbarungen – mitunter in formelhafter Ausprägung – Bezug auf bereits zuvor vereinbarte Abschlüsse nahmen, wird die Homogenität dieser Prozesse über die innere Verbundenheit einzelner Maßnahmen der Friedenswahrung sichtbar. Frieden wurde schon von den Zeitgenossen des 15.–17. Jahrhunderts als ein Prozess begriffen, der über Jahrzehnte verlaufen konnte und häufigen Rückschlägen unterworfen war. Friedensbemühungen verliefen mitunter parallel zu den Kriegsereignissen. Stets wurde der Wert des Friedens betont, vor allem von Theologen, Philosophen, Poeten, aber auch von Fürsten und Diplomaten37, und Ordnungsentwürfe zum Erhalt oder Aufbau eines nachhal-

37

Zur Präsenz des Friedens in friedloser Zeit vgl. Christoph KAMPMANN, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008, besonders S. 180–183.

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tigen Friedens entwickelt38. In einer Übersetzung der lateinischen Schrift Querela Pacis von Erasmus von Rotterdam (1517), die 1634, ein Jahr vor dem erfolglosen Prager Frieden, deutsch unter dem Titel „Klag des an allen Orten und enden vertribenen und ausgejagten Friedens“ veröffentlicht wurde, heißt es: „Nimm den Frieden hinweg: so verdirbt alle gemeinschafft des Christlichen Lebens“. Der Frieden wirkte – davon war man im Grunde im 16. nicht anders als im 17. Jahrhundert überzeugt – stets stabilisierend auf das christliche Europa. Der Friede, so hat es Christian Wolff gelehrt, ist ein Zustand, der von den Völkern gemeinsam errichtet werden müsse. Friedenswahrung und -stiftung ist somit für den Hallenser Völkerrechtler ein Prozess, an dem die Völker aktiv teilzunehmen hatten. Frieden zu schaffen war demnach sogar eine Pflicht: die Völker hätten, schreibt er, zum einen sich selbst zu enthalten, Krieg zu führen, und sie hätten zum anderen auch andere davon abzuhalten, Krieg zu führen. Wolff schreibt: „Friede wird der Zustand genennet, darinn wir mit keinem Krieg haben: folglich weil wir mit keinem gewaltthätig streiten dürfen (§.98.), so geniessen wir im Frieden unser Recht ruhig. Weil kein Volck einem andern Unrecht anthun (§.1089.), und sorgen soll, daß die Streitigkeiten ohne Gewalt der Waffen beygeleget werden mögen (§.1157.), und es folglich keine Ursach zum Kriege geben muß (§1158.); so sind die Völcker natürlicher Weise verbunden den Frieden unter einander zu bauen“39. Akteure, Instrumente und Standards im Friedensprozess Europa präsentiert sich in der Frühen Neuzeit auf den ersten Blick als ein auf gemeinsamen politischen, religiösen und kulturellen Werten beruhender Raum, der sowohl durch die Rivalität und Konkurrenz der damaligen Dynastien und Gemeinwesen als auch durch gegenseitige Verwandtschafts-40, Freundschafts-41 und Nachbarschaftsbeziehungen42 geprägt war. Auf den zweiten Blick jedoch ist festzustellen, dass die europäischen Dynastien und 38

Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit, Bde. I – III, hrsg. von Norbert Brieskorn/Markus Riedenauer, Stuttgart/Berlin/Köln 2000–2003. 39 Christian VON WOLFF, Von dem Frieden und dem Friedensvertrag, in: DERS., Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Halle 1754, S. 896. 40 Dynastizismus und dynastische Heiratspolitik als Faktoren europäischer Verflechtung, Jahrbuch für Europäische Geschichte 8 (2007). 41 Freundschaft oder „amitié“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.–17. Jahrhundert), hrsg. von Klaus Oschema, Berlin 2007. 42 Thomas OTT, Präzedenz und Nachbarschaft. Das albertinische Sachsen und seine Zuordnung zu Kaiser und Reich im 16. Jahrhundert, Mainz 2008.

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Gemeinwesen in Kultur, Religion, Verfassung, Herkommen und Tradition durchaus heterogen waren. Es gab den Kaiser in der Regel aus dem Haus Habsburg, das russische Zarenreich, das muslimische Sultanat (das Osmanische Reich), den Papst mit dem Vatikanstaat, die Monarchien (Frankreich, Portugal, Spanien, Schweden, Dänemark), die konstitutionelle Monarchie England, quasi- und temporäre souveräne Fürstentümer (deutsche Reichsstände, Savoyen, Siebenbürgen), Republiken (die Niederlande, die Schweiz) und auch Stadtrepubliken (Venedig, Mailand, Genua). Auch nicht-staatliche Akteure, wie die Hanse, die niederländische Ostindien-Kompanie oder Verbünde wie die deutschen Reichskreise und der Schweizer Zehngerichtenbund traten als Vertragspartner im vormodernen Friedensprozess auf. Die tonangebenden führenden Mächte in der Frühen Neuzeit waren nachund nebeneinander Spanien (Habsburg), Österreich (Habsburg), Frankreich (Bourbon) und England (Hannover). Das Osmanische Reich war als Vertragspartner der Franzosen im 16. Jahrhundert und zugleich als „Erzfeind der Christenheit“ in Europa präsent und verlor erst mit dem Friedensvertrag von Karlowitz 1699 seinen Einfluss43. Frankreich errang seine neue Vormachtstellung von Spanien im Pyrenäenfrieden 1659 und verlor sie im Frieden von Utrecht 1713 an England. Auch die Könige von Schweden – wie Frankreich eine Garantiemacht des Westfälischen Friedens 1648 – und Preußen – Rivale der Habsburger um Schlesien 1741/45 – gehörten zeitweise zu den führenden Großmächten in Europa. Russland unter der deutschstämmigen Katharina II. trat – zu denken ist an den Frieden von Teschen 1779 – aktiv ins west- und mitteleuropäische Geschehen ein. Frieden zu schaffen, war im frühneuzeitlichen Europa ausschließlich souveränen Fürsten sowie republikanischen Gemeinwesen vorbehalten. Die Akteure im vormodernen Friedensprozess waren daher die Fürsten- und Diplomatenfamilien. Persönliche Verhandlungen der Fürsten untereinander nahmen ab, nachdem sie die Aufgabe der Friedensstiftung ihren Botschaftern und Gesandten übertragen hatten. Wenn danach gefragt wird, welche vormodernen Instrumente und Standards der zwischenstaatlichen Friedenswahrung und -sicherung es gab, dann sind hier die Diplomatie mit ihrem diplomatischen Zeremoniell und das Völkerrecht zu nennen. Sie waren die zentralen vormodernen Regelwerke und Ordnungen, die den europäischen Friedensprozess steuerten. Seit dem 15. Jahrhundert sind in Italien – vor allem von Mailand ausgehend – Botschaftsgründungen bezeugt, im 16. Jahrhundert wurden Botschaften europaweit eingerichtet. Die Diplomatie regelte europaweit den Dialog 43

Ivan PARVEV, Land in Sicht. Südosteuropa in den deutschen politischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, Mainz 2008. Martin WREDE, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2005.

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zwischen den Dynastien und Gemeinwesen. Sogar die Signatur unter das „Unterhändlerinstrument“ war ihr vorbehalten. Diplomatisches „networking“44 prägte den vormodernen Friedensprozess, indem Informationen vermittelt oder unterbunden wurden. Um Absichten für eine erfolgreiche Verhandlungsstrategie zu verbergen, wurden Nachrichten systematisch verschleiert. Rhetorische Stilmittel und Praktiken, wie die dissimulatio, die „Sprache der Verstellung“, wurden von den Verhandlungspartnern bewusst eingesetzt45. Im diplomatischen Zeremoniell ging es um die Präsentation und Inszenierung von Ansehen, Macht und Herrschaft. Auch die Verortung der Dynastien und Gemeinwesen in Europa oder gegenüber dem Verhandlungs- und Vertragspartner musste gesichert werden. Stets wurden auf den Kongressen Rangfolgen der europäischen Mächte festgelegt, ferner Tisch- und Sitzordnungen geschaffen. Schon die Reihenfolge des Betretens eines Saals konnte ernsthafte Diskussionen hervorbringen. Generell sollten freilich die Beziehungen und Interaktionen reibungslos organisiert werden, indem zeremonielles Handeln festgelegt wurde46. Vormoderne Friedensprozesse besaßen sowohl eine machtpolitische als auch symbolische Dimension, wobei die soziale Schätzung noch vor machtpolitischen Interessen rangierte47. Ein professioneller Apparat mit Diplomaten- und Übersetzerschulen entstand, Standards bei der Ausfertigung der Urkundentexte und Urkundenarchiven in den europäischen Staaten entwickelten sich48. Die Sprache, in der das Instrument verfasst wurde, war häufig – gerade im 15. und 16. Jahrhundert – Latein, aber man einigte sich später auch auf andere „Friedensspra44

Eine Auswahl: KAUZ [u. a.], Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im mittleren Osten (wie Anm. 28); Arno STROHMEYER, Diplomatenalltag und die Formierung internationaler Beziehungen: Hans Khevenhüller als kaiserlicher Botschafter am Hof Philipps II. von Spanien (1574–1598), in: Dimensionen der europäischen Außenpolitik (wie Anm. 1); Anuschka TISCHER, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongress. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999; Lucien BÉLY, L’art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne XVIe– XVIIIe siècle, Paris 2007. DERS., Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990. 45 FUCHS, Ein ‚Medium zum Frieden‘ (wie Anm. 10), S. 7, S. 35; Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, hrsg. von Claudia Benthien/Steffen Martus, Tübingen 2006, hierin besonders Heidrun KUGELER, „Ehrenhafte Spione“. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts, S. 127–148; Caroline EMMELIUS, Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2004, besonders S. 25. 46 Andreas PEČAR, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740), Darmstadt 2003. Leopold AUER, Diplomatisches Zeremoniell am Kaiserhof der Frühen Neuzeit: Perspektiven eines Forschungsthemas, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im mittleren Osten, hrsg. von Kauz [u. a.] (wie Anm. 28), S. 33–53. 47 KRISCHER, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 28). 48 Ludwig BITTNER, Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden, Berlin/Leipzig 1924.

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chen“. Zwischenstaatliche Beziehungen wurden dadurch erst ermöglicht, dass sprachlich und begrifflich differente Konnotationen überwunden bzw. translationiert wurden. Stets lagen Fassungen in der Sprache der beteiligten Vertragspartner vor, mitunter wurden Verträge auch zweisprachig in Kolumnen ausgestellt. Die Verwendung der Sprache für den jeweiligen Friedensvertrag war nicht immer festgelegt und löste angesichts ihrer politischen Funktion Streit unter den Vertragspartnern aus49. Neben der Diplomatie stellte das Völkerrecht ein über den Grenzen der Territorialstaaten hinaus reichendes Regelwerk des europäischen Staatensystems bereit. Zu den völkerrechtlichen Regularien gehörten z. B. Bestimmungen über die Amnestie, die Dauer und Gültigkeit des Vertrags, die Rechte von Gefangenen, das Format und die Art des Vertragsschlusses, das Beurkundungsverfahren sowie auch die Vertragsauslegung. Kommissionen, z. B. Grenzkommissionen, die aus Vertretern der Vertragspartner bestanden, wurden eingesetzt, um strittige Detailfragen zu klären. Bei einigen Friedensverhandlungen wurden dritte, nicht am Krieg beteiligte Mächte herangezogen, um den Friedensprozess voranzubringen oder zu sichern. Hierbei handelte es sich um die Arbiter (Schiedsrichter) und Mediatoren (Vermittler). Dies waren in der Frühen Neuzeit wiederholt z. B. der Papst, Venedig, die Niederlande, Großbritannien oder auch einzelne deutsche Fürsten50. Um den Friedensverträgen ein möglichst hohes Maß an Nachhaltigkeit zu verleihen, wurden Garantiemächte als Kontrollinstanzen herangezogen – für den Westfälischen Frieden Frankreich und Schweden –, die sich verpflichteten, dass die Vereinbarungen umgesetzt und eingehalten wurden. Auch erhielten üblicherweise die Städte, in denen der Frieden abgeschlossen wurde, für die Zeit der Friedensverhandlungen das Privileg der Neutralität. Zudem wurden die Diplomaten rechtlich geschützt. Auf diese Weise wurde eine „Sprache des Friedens“ (Burkhardt) mit einer in Europa akzeptierten Grammatik konzipiert. Zu den Bausteinen dieser Sprache zählten auch rechtliche Standards. „Restitutio“ und „Utipossidetis“ z. B. sind zwei Prinzipien zur Regelung strittiger Besitzstände, auf die im vormodernen Friedensprozess zurückgegriffen wurde. Die Restitution regelte die Wiedererstattung abgenommener Sachen, wie Territorien und materielle Güter, aber auch Titel und Ehre. Das Uti-possidetisPrinzip erkannte Besitz zu nach der Formel „So wie ihr besitzt, sollt ihr weiterhin besitzen“. 49

Über Friedenssprachen vgl. Johannes BURKHARDT, Sprachen des Friedens und was sie verraten. Neue Fragen und Einsichten zu Karlowitz, Baden und „Neustadt“, in: Wege der Neuzeit, Festschrift für Heinz Schilling, hrsg. von Stefan Ehrenpreis [u. a.], Berlin 2007, S. 503–519. 50 Über die Aktivitäten Johann Philipps von Schönborn nach 1648 und Englands 1676– 1679: Heinz DUCHHARDT, Studien zur Friedensvermittlung in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1979.

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Mitunter kollidierten auf Friedensverhandlungen unterschiedliche Rechtsauffassungen, die angeglichen werden mussten; so entwickelten sich neue, (völker-)rechtliche Standards und Begründungsmetaphern51. Im Frieden von Karlowitz (1699) respektierte sogar das Osmanische Reich die christlichen Konventionen und Regeln und wuchs so in das Ius Publicum Europaeum hinein52. Parallel zur diplomatischen Praxis entwickelte sich eine am Naturrecht orientierte „europäische“ Wissenschaft, die u.a. vertreten wurde von Francisco de Vitoria (1483–1546), Francisco Suárez (1548–1617), Hugo Grotius (1583–1645), Samuel Pufendorf (1632–1694) und Emer de Vattel (17141767). Quellen völkerrechtlicher Studien waren und sind noch die nationalen Friedensvertragssammlungen, die wohl von jeder Dynastie und jedem Gemeinwesen – zumeist im Auftrag der jeweiligen Fürsten, später im Rahmen wissenschaftlicher Forschungstätigkeiten – hergestellt wurden. Einige von ihnen wurden mit zu den Friedensverhandlungen geschafft, um Passagen aus früheren Verträgen prüfen zu können. Frühneuzeitliche gelehrte und wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit Friedensverträgen beschäftigten, waren neben dem Völkerrecht auch Historie, Staatsrecht, Statistik und Geographie. Zu den renommiertesten frühneuzeitlichen Experten von Friedensverträgen zählten – um nur einige zu nennen – Thomas Rymer (1641–1713), Frédéric Léonard (1624–1711), Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716), Georges Holmes (1662–1749), Jean Dumont (1666–1727), Johann Jacob Schmauss (1690–1757), Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785), Christoph Wilhelm von Koch (1737–1813), Georg Friedrich von Martens (1756–1821) und Christian Daniel Voss (1761–1821). Vormoderne europäische Friedensprozesse und Krisenregionen Wurden bisher die Merkmale vormoderner Friedensprozesse, ihre Instrumente und Standards benannt, stellt sich nun die Frage, welche europäischen Friedensprozesse es zwischen 1450 und 1800 gegeben hat. Das vormoderne Europa kann – wie es in der Forschung praktiziert wird – nach dem Machtpo51

Eine Auswahl: Randall LESAFFER, War, peace, interstate friendship and the emergence of the „ius publicum Europaeum”, in: Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision, hrsg. von Klaus Garber, München 2001, S. 87–113; Karl-Heinz LINGENS, Internationale Schiedsgerichtsbarkeit und Jus Publicum Europaeum 1648–1794, Berlin 1988. Heinz MOHNHAUPT, „Europa“ und „ius publicum“ im 17. und 18. Jahrhundert, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte, Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, hrsg. von Christoph Bergfeld, Frankfurt/M. 1982, S. 207–232. GREWE, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. 13). 52 Zum Ius Publicum Europaeum: MOHNHAUPT, „Europa“ und „ius publicum“ (wie Anm. 51), S. 207–231.

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tential der Dynastien und Gemeinwesen beschrieben werden. Dabei werden die Zeiträume und Epochen nach den Kategorien „Universalismus“, „Hegemonie“ und „Gleichgewicht“ differenziert. Denn diese waren zentrale – wenngleich nicht die einzigen53 – Zielsetzungen der Außen- und Sicherheitspolitik der europäischen Mächte in der Frühen Neuzeit. Arno Strohmeyer bezeichnet in seiner interaktionstheoretischen Studie das Phänomen des Gleichgewichts als prägend für das zwischenstaatliche Zusammenleben bis heute, das die Vorstellungswelt führender Politiker und Diplomaten beherrscht54. Der Westfälische Frieden von 1648 wird demnach in der Forschung als Endpunkt des rechtlich und religiös legitimierten Konzepts der „Universalmonarchie“ bewertet. Der Friedenskongress von Utrecht 1713/14 wird hingegen als Ausgangspunkt der „Gleichgewichtsidee“ gesehen, sofern sie als Grundregel des europäischen staatlichen Zusammenlebens definiert wird, durch die mindermächtige Dynastien und Gemeinwesen geschützt und die „perhorreszierte ‚Universalmonarchie’ einer Großmacht“ verhindert wurde55. Auch wenn sich eine politisch-militärisch begründete Hegemonialmacht in Europa nicht durchsetzte, gab es herausgehobene Großmächte mit Führungsanspruch wie Frankreich und England56. Auf der Grundlage dieser drei Kategorien „Universalismus“, „Hegemonie“ und „Gleichgewicht“ ist eine Typologisierung des frühneuzeitlichen Mächteeuropa vorgenommen worden, die zu dem Ergebnis kommt, dass vier Zeiträume unterschieden werden können, als deren Meilensteine Friedensverträge erscheinen57: a) die Zeit des habsburgischen „Universalismus“ und seine Herausforderung durch Frankreich und das osmanische Weltreich von 1494 (Zug König Karls VIII. von Frankreich nach Italien) bis zum Frieden von CateauCambrésis (1559); b) die Zeit der spanischen „Hegemonie“ und deren Herausforderung durch die Niederlande und England sowie daran anschließend durch Frankreich von 1559 bis 1648/59, dem Westfälischen Frieden und dem Pyrenäenfrieden; c) die Zeit des „Westfälischen Friedenssystems“ mit den Garantiemächten Schweden und Frankreich von 1648/59 bis 1721, dem Nystader Frieden;

53 Heinz DUCHHARDT, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785, Paderborn [u. a.] 1997. 54 STROHMEYER, Theorie der Interaktion (wie Anm. 24), S. 7. 55 Hierzu besonders DUCHHARDT, Gleichgewicht der Kräfte (wie Anm. 17), S. 68–76. 56 Heinhard STEIGER, Der Westfälische Friede – Grundgesetz für Europa?, in: Der Westfälische Friede (wie Anm. 16), S. 33–80, S. 78. 57 Heinz SCHILLING, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit, in: Kontinuität und Wandel, hrsg. von Peter Krüger (wie Anm. 14), S. 21.

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d) die Zeit des ausgereiften „Balance-of-Power-Systems“ der fünf Großmächte, die Pentarchie von Frankreich, England, Russland, Österreich und Preußen von 1721 bis 1763, dem Hubertusburger und dem Pariser Frieden. Eine Neuakzentuierung dieser Zeiträume in Hinblick auf Friedensprozesse könnte nun darin bestehen, dass das Friedenspotential und die Stabilität bzw. Instabilität der Krisenregionen untersucht wird. Es ließen sich dann vier zentrale europäische Friedensprozesse – den von Cateau-Cambresis, den von Münster und Osnabrück bzw. von der Île des Faisans, den von Nystad und den von Hubertusburg/Paris – herausfiltern. Diese vier Friedensprozesse wurden von drei weiteren Konfliktherden begleitet: dem osmanischen, dem niederländischen und dem spanischen. Im ersten Zeitraum des „habsburgischen Universalismus“ 1494–1559 steht das Ringen um die Krisenregion Italien im Fokus. Der Friede von CateauCambrésis zwischen Spanien und Frankreich kann als ein Meilenstein des italienischen Friedensprozesses gedeutet werden und führte zu einem (vorläufigen) Ende der Kriegszeit in Italien58. Etappen auf dem Weg zur Beendigung des Italien-Konflikts waren die Verträge von Lodi (1454), Madrid (1526), Cognac (1526), Cambrai (1529), Nizza (1538) und Crépy (1544). Die Akteure in diesem italienischen Friedensprozess waren die Häuser Valois (Frankreich) und Habsburg (Kaiser, Spanien, Österreich), die ihren Einfluss auf Italien über Bündnisse mit mindermächtigen italienischen Stadtrepubliken sichern wollten. Ein weiterer europäischer Friedensprozess wäre der osmanische. Er findet seinen Anfang ebenfalls in der ersten Phase zwischen 1494–1559, denn er beginnt ca. 1535. Allerdings reicht er über das Ende der ersten Phase hinaus und zwar bis ca. 1774. Dieser Friedensprozess kann also nicht auf die erste Phase begrenzt bleiben, weil sich daran nicht nur Habsburg und die Osmanen, sondern auch das Zarenreich beteiligte. Zwar gehörte das Sultanat schon seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den Kreis der mächtigen Akteure des europäischen Staatensystems59. Das vorläufige Ende des osmanischen Friedensprozesses tritt allerdings erst mit dem Frieden von KütschükKainardschi (1774) zwischen Russland und dem Osmanischen Reich ein, wo die Grenze zwischen dem Kaukasus und der Ukraine zugunsten des Zarenreichs neu gezogen wurde und Österreich die Bukowina erhielt. Für den osmanischen Friedensprozess lassen sich drei Phasen herausfiltern: a) die osmanisch-französischen Beziehungen, b) die Türkenkriege und c) die Ansätze eines „Europäisierungsprozesses“60. Die erste Phase dieses Friedensprozesses wäre charakterisiert durch die privilegierte Stellung Frankreichs, die die Osmanen den Franzosen im Ver58

VOGLER, Europas Aufbruch in die Neuzeit (wie Anm. 14), S. 125. Ebd., S. 230. 60 DUCHHARDT, Europa am Vorabend der Moderne (wie Anm. 14), S. 330–331. 59

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gleich zu den anderen europäischen Mächten zubilligte. Vor allem auf ökonomischem Gebiet erhielten französische Untertanen in den „Kapitulationen“ bestimmte Vorrechte, auch wurden schon frühzeitig französische Diplomaten in Konstantinopel zugelassen. 1740 wurde dem französischen König sogar das Protektoratsrecht über die im osmanischen Reich lebenden Christen eingeräumt. Ein weiteres Merkmal des osmanischen Friedensprozesses ist, dass seit den letzten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in Westeuropa die Furcht vor dem „Erzfeind“ abebbte. Ein Wendepunkt des Friedensprozesses wäre der Frieden von Karlowitz (1699), in dem Österreich große Teile Ungarns und Siebenbürgens gewann. Weitere Gebiete – Banat, Nordserbien, Kleine Walachei – folgten im Frieden von Passarowitz (1718). Auch die Regierungszeit Ahmeds III. (1703–1730) wäre eine wichtige Phase dieses Friedensprozesses, die die Möglichkeiten und Grenzen der „Europäisierung“ des Osmanischen Reiches zeigt. Der Austausch europäischchristlicher und europäisch-muslimischer Kultur während der „Tulpenzeit“ umfasste Architektur, Mode, Literatur und militärisches Know-how. Im zweiten Zeitraum zwischen 1558 und 1648/59 sticht unter friedenshistorischer Perspektive die niederländische Krisenregion besonders heraus. Anders als in Italien handelt es sich hierbei um einen Befreiungskampf gegen die spanischen Habsburger, der zwischen 1566 und 1648 währte. Eine bedeutende Dimension dieses Friedensprozesses wäre, dass im Rahmen des Westfälischen Friedenskongresses 1648 in Münster ein Friedensvertrag zwischen einer niederländischen Delegation und Spanien abgeschlossen wurde, in dem die sieben nördlichen Provinzen als freie und souveräne Staaten anerkannt wurden61. Ein wichtiger Schritt zur Anerkennung der Generalstaaten als souveräner Staat war der Waffenstillstand von 1609 mit Spanien. Ein weiterer Friedensprozess dieses zweiten Zeitraums zwischen 1558 und 1648/59 wäre der von Münster und Osnabrück, der 1648 seinen Höhepunkt erreichte62. Ziel dieses Prozesses war es, eine nachhaltige Ordnung konfessioneller Pluralität zu bilden. Unter dieser Perspektive erstreckte sich dieser Friedensprozess vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zum Nürnberger Exekutionstag 1649/1650. An diesem Friedensprozess wirkte eine große Anzahl europäischer Dynastien und Gemeinwesen mit; auch gab es während des 30jährigen Krieges stets intensive Friedensbemühungen mit europäischer Ausstrahlung: z. B. 1630, auf dem Kurfürstentag zu Regensburg, 1631 auf dem Frankfurter Kompositionstag, 1635 bei den Prager Friedensverhandlungen, die die Dialogbereitschaft der befeindeten Parteien belegen. 61

VOGLER, Europas Aufbruch in die Neuzeit (wie Anm. 14), S. 101. Vor allem DICKMANN, Der Westfälische Frieden (wie Anm. 16); ferner DUCHHARDT, Der Westfälische Friede (wie Anm. 16).

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Auch nach dem Westfälischen Frieden herrschte in Europa keine allgemeine Ruhe. Für die Zeit zwischen 1648/59 und 1721, der dritten Phase, fehlte es an den Küstenstreifen an der Ostsee an einer stabilen, unumstrittenen politischen Ordnung. Dabei ließen sich verschiedene, miteinander verwobene Friedensprozesse unterscheiden. Denn es ging sowohl um den dänischschwedischen Konflikt, die schwedisch-russische Rivalität wie auch um die Krisenregion Schleswig-Holstein. Dieser „Ostsee-Friedensprozess“ zwischen Dänemark und Schweden (1524–1720), der durch die Teilnahme Polens und Russlands eine europäische Dimension erhielt, wurde in Nystad 1721 abgeschlossen, wo auch der Nordische Krieg beendet wurde. Wichtige Weichenstellungen und Etappen dieses Friedensprozesses wären die Bündnisse und Verträge von Brömsebro (1645), Roskilde (1660), Lund (1679) und Frederiksborg (1720). Ebenfalls in diese dritte Epoche zwischen 1648/59 und 1721 ist der spanische Friedensprozess zu datieren. Auf die spanische Erbfolge erhoben sowohl Ludwig XIV. von Frankreich Ansprüche als auch Kaiser Leopold I., denn beide waren Enkel Philipps III. Schon in den 1660er Jahren kursierten Teilungspläne, da der einzige männliche spanische Habsburger, König Karl II. (1661–1700), als Kind gesundheitlich angeschlagen war. Bereits vor dem Tod Karls II. kam es im Rahmen dieses Friedensprozesses zu Bündnissen und Verträgen über das spanische Erbe mit dem Ziel, den Frieden in Europa zu wahren. 1698 schlossen Frankreich, Großbritannien und die Generalstaaten auf der Grundlage des Friedensvertrags von Rijswijk ein Bündnis, das sie zwei Jahre später erneuerten. Den Durchbruch erzielten die beteiligten europäischen Mächte 1713/14 in Utrecht, wo man sich darauf einigte, dass der spanische Thron an die Bourbonen gehen solle. Im letzten Zeitraum sind zwei europäische Friedensprozesse festzustellen: der eine betrifft den österreichischen Erbfolgekonflikt, der 1748 in Aachen gelöst wurde, und der andere könnte als „Hubertusburger Friedensprozess“ von 1763 bezeichnet werden. Jedes Mal stellte Schlesien die vornehmliche Krisenregion dar. Schon bald nach Abschluss des Friedenswerks von Utrecht 1713 erließ Karl VI. am 19. April ein Hausgesetz, die „Pragmatische Sanktion“, in der die weibliche Thronfolge bestimmt wurde, sofern das Haus im Mannesstamm aussterben sollte. 1740, nach dem Ableben Karls VI., konnte auf der Grundlage der „Pragmatischen Sanktion“ Maria Theresia die Nachfolge ihres Vaters in den habsburgischen Ländern antreten. Zwar erkannten die europäischen Mächte zwischen 1725 und 1738 die „Pragmatische Sanktion“ an, aber Habsburg hatte einen großen Preis dafür zu entrichten und schlitterte in den 1740er Jahren in eine Staatskrise. Preußen dagegen stieg unter König Friedrich II. zu einem „european player“ auf und errichtete im deutschen Reich neben Wien ein zweites Gravitationszentrum. Stationen des Friedensprozesses waren die Friedenspräliminarien von Breslau 1742, der

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Friede von Berlin 1742 und der Friede von Dresden 1745. Diese Abkommen wurden im Frieden von Hubertusburg, der den Siebenjährigen Krieg (1756– 1763) beendete, aufgenommen und bestätigt. Habsburg erzielte am Ende zwar die Unteilbarkeit der habsburgischen Erblande, musste aber auf Schlesien verzichten. Fazit Obwohl es auch in der Frühen Neuzeit eine starke Sehnsucht nach Frieden in Europa gab und obwohl ausgefeilte rechtliche und zeremonielle Instrumentarien und Verfahren der Friedensstiftung und -wahrung entwickelt wurden, klafften Wunsch und Realität auseinander63. Militärische Konflikte blieben auch nach den extremen Erfahrungen des 30jährigen Krieges auf der Tagesordnung, und auch nach den Weichenstellungen der Jahre 1713/14 und in den 1740er Jahren fehlte es an einer nachhaltigen Friedensordnung. Die systemstabilisierende Wirkung gerade des Westfälischen Friedens war eher gering. Die „Signatur Europas“ (Duchhardt) machten auch nach 1648 die Kriege aus. Es ist daher gut nachvollziehbar, dass die Nachhaltigkeit von Friedensverträgen und damit ihr Sinn überhaupt schon damals in Zweifel gezogen wurden. Dennoch besaßen Friedensverträge als Stationen von Friedensprozessen weitreichende Folgen. Zunächst ist festzustellen, dass gewaltige Anstrengungen unternommen wurden, Friedensverträge zu vereinbaren und Bündnisse zu formieren. Es gab kaum ein Jahr, in dem nicht ein Friedensvertrag abgeschlossen wurde. Militärische Siege wurden darin zwar auch legitimiert, vor allem aber umgemünzt. Vor allem Frankreich profitierte an Ansehen von den vormodernen Friedensprozessen, indem es z. B. in der Diplomatie Maßstäbe setzte. Es gab aber auch Verlierer: Polen wurde in der Sicherheits- und Bündnispolitik seiner Nachbarn aufgerieben, auch den Medici wurde kein Platz mehr in Europa zugestanden. Internationale Institutionen, wie einen europäischen Gerichtshof oder dergleichen, die von den souveränen Dynastien und Gemeinwesen kreiert wurden und diese zugleich in ihren politischen Zielsetzungen leiteten, gab es nicht. Den Haag war trotz der hohen Anzahl dort vereinbarter Abkommen keine Hauptstadt von Europa. Die Großmächte richteten zwar seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Einzelinteressen nach dem Prinzip des Gleichgewichts und der Convenance aus. Auch lassen sich Ansätze eines Systems der kollektiven Sicherheit in der Politik und Diplomatie Richelieus

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Heinz DUCHHARDT, Beschleunigter Wandel. Vom fragilen System des Westfälischen Friedens zum labilen System der Pentarchie. Vierzehn Thesen, in: Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, hrsg. von Winfried Eberhard/Christian Lübke, Leipzig 2009, S. 647–653.

Peters, Europäische Friedensprozesse der Vormoderne

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nachweisen64. Die Tätigkeiten von Schiedsrichtern65 und Vermittlern66 aber waren eher auf moderierende Funktionen und den Entwurf von Lösungsmöglichkeiten beschränkt – Instrumente zur Umsetzung gab es dabei aber nicht. Dennoch: Bei allen Problemlagen stellt sich die Frage, wie sich Europa ohne dieses vormoderne Friedenssystem präsentiert hätte und sich heute präsentieren würde.

64 Klaus MALETTKE, Die Bourbonen, Bd. 1: Von Heinrich IV. bis Ludwig XIV. (1589– 1715), Stuttgart 2008. DERS., Richelieus Außenpolitik und sein Projekt kollektiver Sicherheit, in: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 14), S. 47–68. 65 Christoph KAMPMANN, Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn/München 2001. LINGENS, Internationale Schiedsgerichtsbarkeit (wie Anm. 51). 66 Allgemein dazu: Konrad REPGEN, Friedensvermittlung und Friedensvermittler beim Westfälischen Frieden, in: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede (wie Anm. 16), S. 695–719. Mit Blick auf Johann Philipp von Schönborn und die englische Friedensvermittlung auf dem Friedenskongress zu Nijmegen 1676–1679: DUCHHARDT, Studien zur Friedensvermittlung (wie Anm. 50).

Freundschaft, Fürsten, Patronage. Personale Beziehungsmuster und die Organisation des Friedens im Ancien Régime Von

Klaus Oschema & Hillard von Thiessen1 Mittelalterbilder – große Männer unter sich Zwei Männer hoch zu Ross, im Hintergrund die Burg von Kerak; heiß brennt die Sonne des Heiligen Landes, während es eine Schlacht zu vermeiden gilt. König Balduin IV. von Jerusalem und sein Gegenüber Saladin werden von den versammelten Heeren beobachtet, während sie in ihrer Einsamkeit als Führerfiguren über das Schicksal tausender entscheiden. Für einmal noch schließen sie Frieden, zwei Ehrenmänner, deren Wort in der direkten Begegnung genügend Sicherheit bietet, um die Heerscharen zum Abzug zu bewegen… Einschlägige Hollywood-Produktionen kennen die formelhaft-ritualisierten Umstände genau, die zu Friedensschlüssen in der Vormoderne führen: Im Mittelpunkt stehen große Männer, wie sie etwa Ridley Scott in „Kingdom of Heaven“ inszenierte2. Zuweilen tritt auch eine Frau auf, wie in Mel Gibsons „Braveheart“3, einer glorifizierenden Version vom Leben des schottischen Freiheitskämpfers (oder Rebellen) William Wallace. Der Held wird hier mit Isabelle konfrontiert, der Gemahlin des englischen Thronfolgers Eduard (II.), die als Emissärin von dessen Vater Eduard I. fungiert. ‚Natürlich‘ zeitigt dieses Zusammentreffen, das stereotypen Vorstellungen von der weiblichen

1 Der vorliegende Beitrag versteht sich als ‚mit vier Händen geschrieben‘; dabei sind die mediävistischen Anteile vorwiegend von K. Oschema zu verantworten, die neuzeitlichen von H. von Thiessen. 2 Kingdom of Heaven, Regie: Ridley SCOTT, Twentieth Century Fox Film Corporation 2005; zum historischen Hintergrund: Bernard HAMILTON, The leper king and his heirs: Baldwin IV and the Crusader Kingdom of Jerusalem, Cambridge 2000, S. 192–196. 3 Braveheart, Regie: Mel GIBSON, Icon Entertainment International 1995; zur Biographie: Andrew FISHER, William Wallace, Edinburgh 22002, hier 269–280 (mit Bezug auf die Filmfassung). Zu Frauen als Vermittler vgl. Nicolas OFFENSTADT, Les femmes et la paix à la fin du Moyen Âge: genre, discours, rites, in: Le règlement des conflits au Moyen Âge. XXXIe Congrès de la S.H.M.E.S. (Angers, juin 2000), Paris 2001, S. 317–333.

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Präsenz entgegenkommt4, katastrophale Folgen, da die Friedensgespräche dem König nur als Hinhalte-Manöver zur Vorbereitung einer Invasion Schottlands dienen. Ebenso ‚natürlich‘ erscheinen die Konsequenzen der Begegnung, insofern sich die Beteiligten offensichtlich nicht nur verbal über ein politisches Abkommen austauschten, sondern dem Film zufolge in so engen Kontakt traten, dass das Treffen auch einen Thronfolger für England hervorbrachte. Solche Darstellungen sind einfach zu vermitteln und in mancher Hinsicht vielleicht nicht einmal ganz falsch: Der vormoderne Frieden kann als ein Objekt verstanden werden, das zwischen Personen geschaffen wird, und zwar insbesondere indem sich diese näher kommen. Zumindest gilt dies für die narrative Welt zeitgenössischer Chroniken: Eine englische Erzähltradition führt das Friedensabkommen des Königs Edmund Ironside mit seinem dänischen Rivalen Knut als Resultat eines Zweikampfs zwischen den beiden Herrschern vor, der das Blutvergießen einer Schlacht vermeiden sollte. Erschöpft durch einen langen, unentschiedenen Kampf, entschließen sich die Kombattanten dazu, gemeinsam zu herrschen. Zur Bekräftigung gehen sie einen Freundschaftsbund ein, den sie durch Gesten der Nähe und den Tausch ihrer Waffen und Kleidung befestigen5. So verzerrt die Darstellungen aus Hollywood erscheinen, so können sie Historikerinnen und Historiker auch über die Analyse moderner MittelalterBilder hinaus zum Nachdenken anregen6. Führt man sich die Abwendung weiter Teile der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft vom Handeln und der Bedeutung der „großen Personen“, üblicherweise männlichen Geschlechts, vor Augen, wird die Tragweite des Denkanstoßes deutlich: Neue methodische Zugriffe verlagerten das Interesse mittelfristig auf die Kontexte und Handlungsbedingungen, in welche die Akteure eingebunden waren. Die

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Vgl. anhand der Figur der Jeanne d’Arc: Judith KLINGER, Die modernisierte Ikone. Mittelalter-Mythen und Inszenierungen von „Weiblichkeit” in Jeanne d’Arc-Filmen, in: Zeitschrift für Germanistik NF 13 (2003), S. 263–286. 5 Pierre CHAPLAIS, Piers Gaveston. Edward II’s adoptive brother, Oxford 1994, S. 16; Karl-Friedrich KRIEGER, Geschichte Englands von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, München 1990, S. 72. Die Geschichte ist weit verbreitet, vgl. etwa AELRED VON RIEVAULX, Genealogia Regum Anglorum, in: Patrologia Latina. Bd. 195, Sp. 711–738, hier Sp. 732 f.: „Depositis itaque armis, in oscula ruunt, [...]. Deinde in signum foederis vestem mutant et arma, reversique ad suos modum amicitiae pacisque praescribunt, et sic cum gaudio ad sua quisque revertitur“. 6 Zum „Mittelalter im Film“: Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, hrsg. von Mischa Meier und Simona Slanička, Köln/Weimar/Wien 2006; François AMY DE LA BRETÈQUE, L’imaginaire médiéval dans le cinéma occidental, Paris 2004; Film and Fiction: Reviewing the Middle Ages, hrsg. von Tom Shippey und Martin Arnold, Cambridge 2002; Sara S. POOR, Mittelalterbilder im Film, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45 (1998), S. 68–84.

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jüngst intensivierten Forschungen zum Phänomen des Friedens7 stellen hier keine Ausnahme dar: Während einerseits die juristischen und diskursiven Aspekte der Friedensproduktion und -sicherung in den Blick gerieten8, konzentrierte sich das Interesse andererseits stark auf institutionell gefasste Akteure: eidlich verbundene Schwureinigungen, das Papsttum, Mediatoren9. Dabei blieben der Frieden und die damit verbundenen Vorstellungen, Prozesse und Praktiken insgesamt stets im Schatten des ungleich intensiver erforschten Krieges10, wie schon der Blick in aktuelle Nachschlagewerke zeigt11. Über rein quantitative Befunde hinaus, ist auch die enge inhaltliche Verquickung von Krieg und Frieden in Erinnerung zu rufen, wie jüngst HansHenning Kortüm unter dem Titel „Krieg und Frieden“ erläuterte12. 7

Timothy REUTER, Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Früh- und Hochmittelalter: Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hrsg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1996, S. 169–201, hier S. 172, konstatiert eine relative Vernachlässigung des Themas in der englischsprachigen Historiographie. Jüngere Beiträge: Peace and Negotiation. Strategies for Coexistence in the Middle Ages and the Renaissance, hrsg. von Diane Wolfthal, Turnhout 2000; Prêcher la paix et discipliner la société. Italie, France, Angleterre (XIIIe–XVe siècle), hrsg. von Rosa Maria Dessì, Turnhout 2005, sowie die instruktive Monographie von Nicolas OFFENSTADT, Faire la paix au Moyen Âge: discours et gestes de paix pendant la guerre de Cent Ans, Paris 2007. 8 Jörg FISCH, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979; Randall LESAFFER, War, Peace, and Interstate Friendship and the Emergence of the Ius Publicum Europaeum, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. von Ronald G. Asch [u. a.], München 2001, S. 87– 113; DERS., Peace Treaties from Lodi to Westphalia, in: Peace Treaties and International Law in European History, hrsg. von dems., Cambridge 2004, S. 9–44. Vgl. die rechtshistorische Arbeit von Matthias FAHRNER, Der Landfrieden im Elsass: Recht und Realität einer interterritorialen Friedensordnung im späten Mittelalter, Marburg 2007, die zudem das zuweilen auftretende Unverständnis zwischen unterschiedlichen disziplinären Traditionen aufzeigt (S. 17). 9 Siehe die Beiträge in: Träger und Instrumentarien, hrsg. von Fried (wie Anm. 7), sowie Hermann KAMP, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001. 10 Siehe Diane WOLFTHAL, Introduction, in: Peace and Negotiation (wie Anm. 7), S. xixxx, hier S. xii, mit dem Hinweis, dass selbst die Beiträge des „Journal of Peace Research“ in den 1960er und 1970er Jahren überwiegend auf Aspekte des Krieges fokussierten. 11 Vgl. die Einträge zum Lemma „Frieden“ mit jenen zu „Krieg“, „Krieg, Heiliger ( ihād)“ und „Kriegsgefangene“ in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (1989) und Bd. 5 (1991). Für die Neuzeit vgl. Christoph KAMPMANN, Friede, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, hrsg. von Friedrich Jaeger, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1–21, gefolgt von „Friedensfeier“, „Friedensutopie“, „Friedensverhandlungen“ und „Friedensvertrag“, und Bernhard KROENER, Krieg, in: ebd., Bd. 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 137–162, dem die Lemmata „Krieg, gerechter“, „Kriegführung“, „Kriegsbeute“, „Kriegsbrauch“, „Kriegserklärung“, „Kriegsfinanzierung“, „Kriegsgefangenschaft“, „Kriegsrecht“, „Kriegsschulden“, „Kriegsunternehmer“ und „Kriegswissenschaft“ folgen. 12 Hans-Henning KORTÜM, Krieg und Frieden, in: Enzyklopädie des Mittelalters. 2 Bde., hrsg. von Gert MELVILLE und Martial STAUB, Darmstadt 2008, Bd. 1, S. 271–279 und Bd. 2, S. 423–425 (Bibl.), hier Bd. 1, S. 271: „Sowohl Verknüpfung wie Reihenfolge beider

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Die Bindung der Personen

Den Hollywood-Bildern des Friedens wie der strukturellen Fokussierung lässt sich in produktiver Spannung eine Beobachtung Heinz Duchhardts gegenüber stellen, der die Bedeutung der Herrscherperson im Ancien Régime in Erinnerung rief: „[...] es waren niemals die Herrscher als Mandatare ihres Staates, ihres Gemeinwesens, die Verträge eingingen, sondern immer die Personen qua Personen“13. In knappen Worten bringt dies auf den Punkt, was sich die jüngere Forschung erst wieder erschließen musste, indem sie die Tragweite personaler Beziehungen und des Freundschafts- und Liebesdiskurses als Medium der vormodernen (Friedens-)Politik neu für sich entdeckte14. Vor allem für das frühe Mittelalter, das mit unseren Kategorien der modernen Staatlichkeit nicht adäquat zu beschreiben ist, führte dies zu einer Sicht, die nicht nur die Bedeutung der häufig rituell gefassten Freundschaft unterstrich, sondern diese als zentrale Bindungsform neben die bislang vorrangig interessierenden Muster der herrschaftlichen und der familiären Beziehungen stellte15. Begriffe sind nicht zufällig: So läßt sich ‚Krieg‘ als Abwesenheit von ‚Frieden‘ definieren und die Voranstellung des Begriffes ‚Krieg‘ ist durch seine Bedeutung auch und gerade für das Mittelalter sicherlich gerechtfertigt, wenngleich die bisweilen vorgenommene Einschätzung des Mittelalters als einer im Vergleich zu anderen Epochen besonders kriegerischen Zeit problematisch ist“. Vgl. Norbert OHLER, Krieg und Frieden im Mittelalter, München 1997. Zuweilen erscheint der Krieg als konstitutives Merkmal von Geschichte, vgl. Stig FÖRSTER [u. a.], Kriegsherren in der Weltgeschichte, in: Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Porträts, hrsg. von dens., München 2006, S. 7–17, hier S. 17: „Ohne Kriege gibt es keine Weltgeschichte, ohne Schlachten und Kriegsherren gibt es keinen Krieg“. 13 Heinz DUCHHARDT, Das Vermächtnis des Spätmittelalters an die Frühe Neuzeit. Aspekte und Schlaglichter, in: Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur, hrsg. von Rainer C. Schwinges [u. a.], München 2006, S. 605–613, hier S. 609. Duchhardt folgt hier LESAFFER, Peace Treaties (wie Anm. 8), S. 18 f. 14 Schon in den 1930er Jahren unterstrichen Marc Bloch und Otto Brunner in gänzlich verschiedener Perspektivierung die Bedeutung der Freundschaft: Klaus OSCHEMA, Einleitung, in: Freundschaft oder amitié? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.–17. Jahrhundert), hrsg. von dems., Berlin 2007, S. 7– 21, hier S. 8. 15 Wegweisend hier die Arbeiten zum frühen Mittelalter von Gerd ALTHOFF, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, und DERS., Amicitiae und pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert, Hannover 1992. Vgl. auch Verena EPP, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter, Stuttgart 1999; Claudia GARNIER, Amicus amicis – inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert, Stuttgart 2000, sowie DIES., Politik und Freundschaft im spätmittelalterlichen Reich, in: Freundschaft oder amitié? (wie Anm. 14), S. 35–65. Für das spätmittelalterliche Frankreich OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), und Klaus OSCHEMA, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution, Köln/Wei-

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Da die Betrachtung historischer Prozesse immer wieder zum Aufzeigen langfristiger Entwicklungsverläufe reizt, die letztlich auf die eigene Gegenwart hin ausgerichtet sind, spricht vordergründig einiges für die Annahme, dass sich aus der personal ausgerichteten Organisation frühmittelalterlicher Gesellschaften durch immer stärkere Hinwendung zu abstrakteren Prinzipien schließlich die moderne Staatlichkeit entwickelte. Und wo sollte dieser Prozess – oder sogar ein Umbruch? – stärker fassbar werden als an der traditionellen Epochenscheide zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit – zumal ein internationales Forschungsprogramm die „Genèse de l’État moderne“ ab dem 14. Jahrhundert einsetzen ließ16? Angesichts dieser zunächst einmal plausibel erscheinenden Vermutung will unser Beitrag auf die fortdauernde Bedeutung des personalen Prinzips in Form von Freundschaft und Patronage als diskursiven und praktischen Phänomenen im Rahmen der Friedensorganisation fokussieren. Wenn auch bei der juristischen Organisation und der diplomatischen Theorie und Praxis im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markante Wandlungen erkennbar sind, so sind zugleich Kontinuitäten zu beobachten, die Duchhardts Beobachtung untermauern. Dabei verschob sich allerdings der Charakter der personalen Beziehungen weg von Gleichrangigkeit suggerierenden Freundschafts- und hin zu offen hierarchischen Patronagebeziehungen, wie weiter unten zu erläutern sein wird. Wenn wir uns im Folgenden vorrangig auf ‚außenpolitische‘ Zusammenhänge konzentrieren17, so bedeutet dies bereits eine pragmatisch motivierte Engführung – war doch gerade für die früheren Phasen der hier betrachteten Zeit vom 14. bis zum 17. Jahrhundert vor allem die ‚innere‘ Befriedung der Lebensverhältnisse auf ganz unterschiedlichen Ebenen von Bedeutung18. Galt mar/Wien 2006; zum spätmittelalterlichen Reich Mario MÜLLER, Besiegelte Freundschaft: Die brandenburgischen Erbeinungen und Erbverbrüderungen im späten Mittelalter, Göttingen 2010. 16 Jean-Philippe GENET, La genèse de l’État moderne. Les enjeux d’un programme de recherche, in: Actes de la recherche en science sociale 118 (1997), S. 3–18; DERS., Introduction: Which State Rises?, in: Historical Research 65 (1992), S. 119–133, hier S. 122, definiert die Periode zwischen 1260 und 1360 als „Geburtsdatum“ des „modernen Staates“. 17 Zur Problematik des Begriffs Martin KINTZINGER, Europäische Diplomatie avant la lettre? Außenpolitik und internationale Beziehungen im Mittelalter, in: Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, hrsg. von Christian Hesse und Klaus Oschema, Ostfildern 2010, S. 245–268, hier S. 245–250 (mit Bibl.). 18 Johannes FRIED, Einleitung, in: Träger und Instrumentarien (wie Anm. 7), S. 7–16, hier S. 14: „Überall hatte es eigens zu geschehen: im Königreich, im Heer, im Territorium, auf den Straßen, in der Stadt, auf dem Markt; jeder Friedensraum mußte eigens geschaffen und erhalten werden“. Vgl. die in Anm. 11 und 12 genannten Beiträge (mit Bibl.). Wilhelm JANSSEN, Friede, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, hrsg. von Otto Brunner [u. a.], Stuttgart 1975, S. 543–591, unterstreicht die augustinische Trennung zwischen einer göttlichen „pax aeterna“, die nur im jenseitigen Gottesstaat möglich sei, und der unter den Bedingungen der diesseitigen Zeitlichkeit stets imperfekten „pax temporalis“ (S. 548); in

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der Frieden in den christlichen Gemeinschaften des vormodernen Europa weithin als Ideal19, so waren die Realitäten häufig genug weit davon entfernt. Damit sind nicht nur jene Konflikte angesprochen, die gemäß der modernen Auffassung als „Kriege“ im Sinne „internationaler“ Auseinandersetzungen zu fassen sind20, sondern auch die gewaltsame Austragung von (Interessens-) Konflikten innerhalb einzelner Territorien und eng gesteckter Rechtskreise. Betrachtet man nun mittelalterliche Quellen, so fällt rasch auf, dass sie Auseinandersetzungen, die uns heute als zwischenstaatliche Kriege gelten, häufig personalisiert darstellen. So etwa in der (willkürlich gewählten) Chronik des Klosters Meaux, die kurz nacheinander zuerst auf den Streit (und daraus folgenden Krieg) zwischen Ludwig dem Bayern und Papst Johannes XXII.21 verweist, und dann auf den Krieg zwischen Eduard III. von England und dem französischen König Philipp von Valois22. Letzterer markiert den Beginn des „Hundertjährigen Kriegs“23, der das Valois-Königtum in Frankreich mehr als einmal in existentielle Krisen führte. Daher lässt die Wortwahl des Chronisten aufhorchen, der von einem Krieg zwischen den beiden Königen spricht. Ein Konflikt, der heute als entscheidendes Element für die Ausprägung einer nationalen Identität in den beteiligten Reichen gilt24, konnte mittelalterlichen Autoren also als Kampf zwischen Personen gelten. Angesichts dieser Vermengung mit der „germanischen Tradition“ des Friedens als positiver Sozialbindung (Liebesgemeinschaft) und der „aufgehobenen Gewalttätigkeit“ im rechtlich geschützten Raum (S. 545), ergibt sich für ihn die spezifische Dynamik wertgeladener Friedensvorstellungen im Mittelalter. Zur Bewegung des Gottesfriedens knapp Klaus ARNOLD, Mittelalterliche Volksbewegungen für den Frieden, Stuttgart 1996, S. 9–18. 19 Vgl. JANSSEN, Friede (wie Anm. 18), S. 551 f. 20 Zur Definitionsproblematik Heinrich von STIETENCRON, Töten im Krieg: Grundlagen und Entwicklungen, in: Töten im Krieg, hrsg. von dems. und Jörg Rüpke, Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 6, Freiburg /München 1995, S. 17–56, hier S. 22–24; mit Blick auf aktuelle Entwicklungen Herfried MÜNKLER, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, und DERS., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006. Die strukturellen Ähnlichkeiten mit vormodernen Erscheinungen unterstreicht KORTÜM, Krieg und Frieden (wie Anm. 12), S. 271 f. 21 THOMAS VON BURTON, Chronica monasterii de Melsa. 3 Bde. (Rolls series, 43), hrsg. von Edward A. Bond, London 1866-1868, Bd. 2, S. 321 f.: „Anno Domini 1323 [...] inter papam et ipsum Lodowicum orta est maxima dissensio et guerrarum principia“. 22 BURTON, Chronica monasterii de Melsa (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 325: „In cujus etiam tempore, incepit guerra inter dictum Edwardum 3 regem Angliæ et Philippum de Valoys, intrusorem regni Francorum“. 23 Für einen knappen Überblick: Philippe CONTAMINE, La guerre de Cent ans, Paris 82010; ausführlich das monumentale Werk von Jonathan SUMPTION, The Hundred Years War, London 1990–2009 (bislang 3 Bände, bis 1399). 24 Sabine SCHMOLINSKY und Klaus ARNOLD, Konfliktbewältigung. Kämpfen, Verhandeln und Frieden schließen im europäischen Mittelalter, in: Wie Kriege enden. Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Bernd Wegner, Paderborn [u. a.] 2002, S. 25–64, hier S. 58 (mit Bibl.).

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Darstellungstradition überrascht es nicht, dass auch die Lösungsansätze für Konflikte häufig in personalisierter Form gefasst wurden. Praktisch bedeutet dies, dass oftmals von Freundschaft (amicitia, amitié) und Liebe (amor, amour) die Rede ist, wo wir eher nüchterne politische Konzepte erwarten würden, etwa jene der Allianz und des Bündnisses, die auch den Zeitgenossen keineswegs unbekannt waren25. Dabei enthielten die Bestimmungen in Friedensverträgen oder Waffenstillständen auch Verweise auf Gruppen und Institutionen. So unterstrich der zwischen Johann II. von Frankreich und Eduard III. von England geschlossene Vertrag von Brétigny (1360) etwa die Sonderstellung der Universitäten und den freien Verkehr der Studierenden26. Vor allem enthielt er auch ausführliche Hinweise zu den Kollektiven und Individuen, die den Vertrag feierlich bestätigen sollten, womit die Abmachungen einerseits veröffentlicht wurden, zugleich aber auch alle Genannten auf ihre Einhaltung verpflichtet wurden27. In erster Instanz verweist das Protokoll aber auf das Abkommen zwischen den Herrschern: „[...] le traittié d’accort, fait n’aguieres, par certains traitteurs et procureurs, entre nous et nostre treschier frere le roy d’Angleterre, [...]“28. Dieser Ausrichtung auf die vertragschließenden Personen entspricht die Darstellung der neuen Beziehungsgrundlage, die neben dem Bündnis auch die Freundschaft zwischen den Königen und ihren Reichen hervorhebt29. Konsequent sah der Vertragstext, der einen dauerhaften Frieden anstrebte30, nicht nur vor, dass die Bestimmungen von den beiden Königen, ihren Erben und weiteren Großen beeidet werden sollten, sondern auch, dass dieser Schwur bei einer persönlichen Begegnung der Monarchen zu leisten war31. 25

Nathalie NABERT, Les réseaux d’alliance en diplomatie aux XIVe et XVe siècles, Paris 1999; vgl. OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 282 f. 26 Les Grands traités de la guerre de cent ans, hrsg. von Eugène Cosneau, Paris 1889, S. 61. Zahlreiche Verweise auf diesen Friedensschluss bei OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7). 27 Grands traités (wie Anm. 26), S. 66; vorgesehen ist entsprechend eine Erneuerung der eidlichen Verpflichtung im Abstand von fünf Jahren, „pour en estre plus fresche memoire“. Zur Dimension der Verkündigung OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), S. 236–256. 28 Grands traités (wie Anm. 26), S. 39; vgl. die Darstellung des Vertragshintergrunds: „De tous les debas et descors quelconques, meuz et demenez, entre Monsire le roy de France et nous pour lui et pour nous et pour tous ceuls a qu’il appartient, d’une part, et le roy d’Angleterre et tous ceuls a qu’il puet touchier de sa partie, d’autre, [...]“. 29 Ebd., S. 59: „Item, est accordé que bonnes alliances, amitiez et confederacions soient faites entre les deux Rois de France et d’Angleterre et leurs royaumes, en gardant l’honneur et la conscience de l’un Roi et de l’autre; [...]“. 30 Ebd, S. 63: „... pour tenir et garder parpetuelment la paix et toutes les choses par dessus accordées“. Der zitierte Passus verweist auf die Rechtssicherheit, die dem Vertrag durch die Unterstellung unter die päpstliche Autorität verliehen werden sollte; vgl. S. 65. 31 Ebd, S. 61 und 63: „Item, que ce présent traictié sera approuvé, juré et confermé par les deux Rois à Calais, quant il y seront, en leurs personnes; [...]”. Zur rituellen Dimension der

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In charakteristischer Weise spiegelt dieser Vertrag damit die Bedeutung der Herrscherpersonen. Zugleich aber zeigt er, dass die Zeitgenossen durchaus über ein variables Instrumentarium des Friedensschlusses verfügten: Beabsichtigt ist ein dauerhafter, dem Ideal gemäß ewiger Frieden32, der durch alle zur Verfügung stehenden Mittel bekräftigt und gesichert werden sollte. Die hierzu verwendeten Kategorien erscheinen aber, von den zitierten Verweisen abgesehen, im konkreten Fall recht ‚trocken‘. Erst eine breitere Analyse des Vokabulars und der zeitgenössischen Idealvorstellungen politischen Handelns zeigt, dass es den jeweiligen Autoren – und nur zu häufig wohl auch den realen Akteuren – nicht nur um die Herstellung situativ tragfähiger Verhältnisse ging. Vielmehr orientierten sich ihr Denken und Handeln an idealen Vorgaben, die durch kulturelle, darunter vor allem religiöse, Parameter geprägt waren. In diesem Sinn verschmolzen die unterschiedlichen Ebenen der Konzepte33, die mittelalterliche Autoren mit dem Begriff des Friedens (pax) verbanden, zu einer Einheit, die ihre Wirkung aus dem Zusammenklang unterschiedlicher Ideale bezog. Ein Indiz hierfür bietet das Freundschafts- und Liebesvokabular, das die vormodernen Ansätze zur Konfliktbeilegung zuweilen so deutlich von unseren eigenen Gewohnheiten unterscheidet – und das in seiner Bedeutung gerade deswegen ernst genommen werden sollte, weil den Zeitgenossen grundsätzlich auch alternative Formeln, wie jene der Allianz und des Bündnisses, zur Verfügung standen34. Dass es sich hierbei um ein weit verbreitetes Phänomen im vormodernen Europa handelt, können beliebig ausgewählte Beispiele aus unterschiedlichen Herrschertreffen als Bestandteil des Friedensprozesses Gerald SCHWEDLER, Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen – Rituale – Wirkungen, Ostfildern 2008, S. 257–295, der die zunehmende Bedeutung der schriftlich fixierten Vereinbarungen unterstreicht. Damit ist aber wohl nicht eine eindeutig-lineare Entwicklung vom „Ritual“ zur „Schrift“ anzunehmen, sondern sich wandelnde Mischformen. Noch am Beginn des 16. Jahrhunderts schlug Ludwig XII. seinem englischen Amtskollegen Heinrich VII. vor, den Frieden zwischen England und Frankreich, der für die Vorbereitung eines Zugs gegen die Türken nötig sei, bei einer anstehenden persönlichen Begegnung näher zu besprechen, s. Letters and Papers Illustrative of the Reigns of Richard III and Henry VII, 2 Bde., hrsg. von James Gairdner, London 1861–1863, Bd. 2, S. 146. 32 Zur Differenzierung zwischen dauerhaftem Frieden und befristeten Waffenstillständen im Spätmittelalter bzw. der „ewigen Dauer“ als Charakteristikum des „guten Vertrages“: FISCH, Krieg und Frieden (wie Anm. 8), S. 349–354; LESAFFER, Peace Treaties (wie Anm. 8), S. 37 f. 33 Zur systematischen Aufgliederung: Gerhard DILCHER, Friede durch Recht, in: Träger und Instrumentarien (wie Anm. 6), S. 203–227, hier 204 f.; vgl. auch die Ausführungen von Bernd SCHNEIDMÜLLER, Zusammenfassung II, in: ebd., S. 599–608. Im Überblick bereits JANSSEN, Frieden (wie Anm. 18). 34 Jean-Philippe GENET, Paix et guerre dans les sermons parlementaires anglais (1362– 1447), in: Prêcher la paix (wie Anm. 7), S. 167–200, hier S. 180, hebt den diskursiven Konnex zwischen Frieden und Einheit bzw. Liebe hervor; in den beigefügten KoOkkurenz-Tabellen erscheint allerdings der Begriff der Liebe kaum, jener der Freundschaft gar nicht.

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Räumen zeigen. So vermittelte etwa im Jahr 1336 der aragonesische Infant Don Pedro in Madrid einen Frieden (paz e auenençia) zwischen seinem Vater, König Alfons IV. von Aragon, und König Alfons XI. von Kastilien, der detaillierte Regelungen vorsah, insbesondere zur Verfügung über Rechte an Land etc. Die einleitenden Passagen führten aus, dass die beiden Könige nun Freunde seien und damit auch ihre Völker Frieden haben sollten35. 1381 verwies König Wenzel in seinem Schiedsspruch zwischen Pfalzgraf Ruprecht I. und Bischof Adolf von Speyer ebenfalls darauf, dass die beiden Kontrahenten nun „gude frunde sin und bliben“36. Derlei Wendungen begegnen häufig in spätmittelalterlichen Verträgen, die auf einen Friedenszustand abzielten, der seinerseits im Sinn der zeitgenössischen Theologie eine gerechte Ordnung wiederspiegelte37. Dass dabei mit regionalen Unterschieden und Transferprozessen zu rechnen ist, zeigte Michael Jucker am Beispiel der Eidgenossenschaft, in der das Freundschaftsvokabular erst im 14. und 15. Jahrhundert eine prominente Stellung erhielt38. Besonders intensive Bezugnahmen auf das entsprechende Vokabular sind vor allem in Krisensituationen zu beobachten, in denen die etablierten Praktiken ganz offensichtlich nicht zur Befriedung der Konflikte genügten. Eindrucksvolle Belege bietet hierfür nicht nur die lange Reihe der englischfranzösischen Verträge im Hundertjährigen Krieg, sondern auch die Folge immer wieder scheiternder Friedensschlüsse zwischen den französischen Bürgerkriegsparteien der Burgunder und Armagnaken am Beginn des 15. Jahrhunderts39. 35

Gran crónica de Alfonso XI, Bd. 2, hrsg. von Diego Catalán, Madrid 1977, S. 252 (Kap. 250): „[...] que los rreyes de Castilla y de Aragon fuessen amigos, e la gentes de ambos rreyes ouiesen paz e sosiego; [...]“. 36 Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. Erste Abteilung 1376–1387, hrsg. von Julius Weizsäcker, Göttingen 21956, Nr. 173, S. 301. 37 Vgl. insbesondere die Darstellung der englisch-französischen Verhältnisse in der Zeit des 100jährigen Krieges bei OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), hier S. 63–74. Sowohl Augustinus wie Thomas von Aquin sahen Frieden und Ordnung in enger Verbindung, vgl. Ulrich MEIER, Pax et tranquillitas. Friedensidee, Friedenswahrung und Staatsbildung im spätmittelalterlichen Florenz, in: Träger und Instrumentarien (wie Anm. 7), S. 489–523, hier S. 491–493; zur konzeptionellen Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit: Claude GAUVARD, Justice et paix, in: Dictionnaire raisonné de l‘Occident médiéval, hrsg. von Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt, Paris 1999, S. 587–594, hier S. 587 f. 38 Michael JUCKER, Und willst du nicht mein Bruder sein, so... Freundschaft als politisches Medium in Bündnissen und Korrespondenzen der Eidgenossenschaft (1291–1501), in: Freundschaft oder amitié? (wie Anm. 14), S. 159–190. 39 Vgl. insgesamt OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7); zu den Konflikten zwischen Burgund und Armagnak: Bertrand SCHNERB, Les Armagnacs et les Bourguignons. La maudite guerre, Paris 1988. In den immer wieder scheiternden Frieden zwischen den beiden Parteien erschien der Begriff der „paix fourrée“, vgl. OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), S. 19 (Jean Gerson), und OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 514, Anm. 2059 (Jean Juvénal des Ursins). Die westeuropäische Entwicklung, insbesondere in den Beziehungen zwischen Frankreich und England, kann dabei als modellbildend

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Dabei handelte es sich bei den Bezügen auf Freundschaft und Liebe keineswegs um undifferenzierte Verweise auf ein vages Ideal. Vielmehr boten diese beiden Grundkategorien der harmonischen Vergesellschaftung einen Rahmen, der die Ausarbeitung feiner Abstufungen erlaubte. Zwar bedeutete die Vereinbarung eines befristeten Waffenstillstands (treuga, trêve) bereits einen Fortschritt gegenüber akuten Kampfhandlungen und Übergriffen. Die Beteiligten wussten aber, dass dieser Zustand prekär war und keine dauerhafte Befriedung bot40. Als Endziel erstrebte man daher, auf der Grundlage einer positiv besetzten sozialen Bindung, ein harmonisches Verhältnis der Parteien. Zu erreichen war dies in rechtlicher wie in ideeller Hinsicht mit der amicitia, deren innere Triebkraft wiederum auf der Liebe, dem amor, beruhte41. Das Streben nach harmonischem Gleichklang trägt auch dazu bei, die Schwierigkeit des Friedensschlusses mit nicht-christlichen Partnern zu erklären: obschon einzelne erzählende Quellen von pax sprechen, handelte es sich häufig um befristete treugae, die zumeist auch als solche bezeichnet wurden42. In der innerchristlichen Praxis ist die gestaffelte Kombination von auf Zeit angelegten Waffenstillständen und idealiter ewigen Friedensschlüssen zu beobachten, die auch mit unterschiedlichen Konzepten gefasst wurden: Der Waffenstillstand erlaubte Verhandlungen zu strittigen Gegenständen, die noch einer Lösung zugeführt werden mussten. Zugleich eröffnete er die Mögim Bereich der Verhandlungsformen gelten, vgl. Franz BOSBACH, Friedensverhandlungen, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4 (wie Anm. 11), Sp. 34–41, hier Sp. 34–36. 40 Agnellus von Ravenna bemerkte im 9. Jh. zu den Waffenstillständen zwischen Lothar I. und seinen Brüdern: „Erat pax, sed instabilis“. Janet L. NELSON, The search for peace in a time of war: the carolingian Brüderkrieg, 840–843, in: Träger und Instrumentarien (wie Anm. 7), S. 86–114, hier S. 96 f. Vgl. John LYDGATE, On the truce of 1444, in: Political Poems and Songs relating to English history, composed during the period from the Accession of Edw. III. to that of Ric. III, 2 Bde., hrsg. von Thomas Wright, London 1859– 1861, Bd. 2, S. 215–220, hier S. 216: „Undir fals pees ther may be covert ffraude; / Good cheer outward, with face of innocence; / Ffeyned fflatterye, with language of greet laude; / But what is wers than shynyng apparence, / Whand it is prevyd ffals in existence?” Zu den Gefahren des „Schmeichlers“ als Gegentypus des Freundes: Klaus OSCHEMA, Riskantes Vertrauen. Zur Unterscheidung von Freund und Schmeichler im späten Mittelalter, in: Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter, hrsg. von Gerhard Krieger, Berlin 2009, S. 510–529. 41 Im Kontext der pragmatisch ausgerichteten Friedensregelungen ist die feine Differenzierung theologisch-religiöser Texte zwischen amor, caritas und dilectio weitgehend absent; vgl. knapp Klaus OSCHEMA, Liebe/Freundschaft, amicitia, caritas, in: Enzyklopädie des Mittelalters (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 263–266 und Bd. 2, S. 422. 42 Zur einschlägigen Vertragspraxis zwischen Christen und Muslimen im Mittelmeerraum und den unterschiedlichen Auffassungen: FISCH, Krieg und Frieden (wie Anm. 8), S. 370– 381 und 540–546; vgl. auch Nikolas JASPERT, Interreligiöse Diplomatie im Mittelmeerraum. Die Krone Aragón und die islamische Welt im 13. und 14. Jahrhundert, in: Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, hrsg. von Claudia Zey und Claudia Märtl, Zürich 2008, S. 151–189, hier S. 153–156.

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lichkeit, durch die Herstellung kommunikativer Kontakte an der personalen Bindung zu arbeiten – wobei gerade in der französischen Vertragssprache der Doppelsinn des Verbs „communiquer“ zu unterstreichen ist, der den religiösen Aspekte (der Eucharistie) ebenso umfassen konnte wie ein schlichtes „miteinander reden“43. Die entstehenden Bindungen avancierten dann wiederum zur Grundlage eines dauerhaften Ausgleichs. Aufschlussreich erscheint in diesem Sinn die in den Jahren 1395/96 zwischen Richard II. von England und Karl VI. von Frankreich anvisierte Strategie, ihre beiden Dynastien durch eine Ehe Richards mit der französischen Königstochter Isabelle zu verbinden44. Der 1396 geschlossene Waffenstillstand von Paris sah aber nicht in dieser Ehe selbst das Liebesband, sondern interpretierte die Verbindung vielmehr als Grundlage für den zukünftig angestrebten „guten Frieden und die Liebe“45. Solche Entwicklungsstrategien, die zunächst den (kommunikativen) Kontakt einleiten, um dann werthaft aufgeladene, positive Zustände herbeizuführen, lassen sich im 15. Jahrhundert vermehrt beobachten. Wenn in Vertragstexten nebeneinander von Freundschaft und Frieden die Rede ist, so mag dies auch auf die zeitgenössische Vorliebe für redundante Begriffshäufungen zurückzuführen sein46. Zugleich ist aber festzustellen, dass die Idealvorstellungen von Friede und Freundschaft sich insofern strukturell entsprachen, als beiden die Vorstellung der dauerhaften Geltung gemein war: sowohl der echte Frieden als auch die wahre Freundschaft zeichneten sich für die Zeitgenossen durch ihre theoretische Unauflösbarkeit aus47. Dies widerspiegelt die Staffelung von Waffenstillständen und Friedensverträgen: So vereinbarte ein auf neun Jahre geschlossener Vertrag zwischen Ludwig XI. von Frankreich und dem burgundischen Herzog Karl dem Kühnen im Jahr 1475 die Enthaltung von kriegerischen Aktivitäten und sah eine 43

So beschreibt der burgundische Chronist Enguerrand de Monstrelet im Vorfeld des Friedens von Auxerre (1412) den stufenhaften Ablauf mehrerer Begegnungen der Parteien, die im Abschluss des Friedens und dessen ritualisierter Präsentation kulminierten: Enguerran DE MONSTRELET, Chronique, 6 Bde., hrsg. von Louis Douët-d’Arcq, Paris 1858–62, Bd. 2, S. 280–299; OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 592– 594, und OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), S. 204–206. 44 Zur Praxis, mehrere Bindungstypen zu kombinieren: GARNIER, Amicus amicis (wie Anm. 15), S. 210–219; Sheila FFOLLIOTT, Make Love, Not War: Imaging Peace through Marriage in Renaissance France, in: Peace and Negotiation (wie Anm. 7), S. 213–231. 45 Grands traités (wie Anm. 26), S. 91. Zur Vorgeschichte und den mehrfachen Waffenstillständen von Leulinghem: SUMPTION, The Hundred Years War (wie Anm. 23), Bd. 3, S. 774–833. 46 Vgl. LESAFFER, Peace treaties (wie Anm. 8), S. 36 f., der Verweise auf die amicitia ab dem 15. Jahrhundert gehäuft beobachtet und von einer raschen Entwicklung hin zum Stereotyp ausgeht. FISCH, Krieg und Frieden (wie Anm. 8), S. 11 und 533, streift die Thematik nur kurz, sieht im „Freundschaftsvertrag“ aber „keine wirklich eigenständige Vertragskategorie“ (S. 11). 47 Zur Dauerhaftigkeit als Charakteristikum der Freundschaft OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 313–324.

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paix amiable lediglich als zukünftiges Endziel vor48. Dasselbe gilt für einen einjährigen Waffenstillstand, den Ludwig mit Karls Nachfolger, dem späteren Kaiser Maximilian I., schloss. Erst der Friede von Arras (1482), der zudem ein Eheprojekt zwischen den beiden Dynastien verabredete, sprach dann explizit von Freundschaft und Liebe, ebenso wie der 1493 geschlossene Friede von Senlis49. Zwar stellen die Formeln der hier angesprochenen Verträge die Begriffe der Freundschaft und der Allianz auch in den als endgültig präsentierten Friedensschlüssen nebeneinander, so dass man auf eine synonyme Bedeutung schließen könnte50. Dem widerspricht aber der Umgang mit Dritten im Rahmen solcher Verträge: während diese durchaus verlangen konnten, dass „Allianzen“ aufgelöst werden sollten51, um die Harmonie zwischen den Vertragspartnern zu sichern, scheint die Forderung nach der Aufkündigung von „Freundschaften“ unbekannt. Ganz im Gegenteil fällt der Begriff der Freunde (neben den Verbündeten und Untertanen) vorrangig an solchen Stellen, die auf Personen oder Gruppen verweisen, welche in die Vertragsbestimmungen mit einzubeziehen seien52. Dass hingegen die Verbündeten von Feinden auch im Auge der Juristen zu Feinden wurden, fasste etwa der Rechtsgelehrte Garatus im 15. Jahrhundert in knappe, aber eindeutige Worte53. 48

JEAN MOLINET, Chronique, 3 Bde., hrsg. von Georges Doutrepont und Omer Jodogne, Brüssel 1935–37, Bd. 1, S. 115–127, hier S. 116 und 126 (Zitat). 49 Hierzu OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 314 f., mit weiteren Belegen; die Texte auch in Corps universel du droit des gens [...], Bd. 3, hrsg. von Jean Dumont, Amsterdam/La Haye 1726, Tl. 2, S. 100–108 (Arras) und 303–309 (Senlis). 50 Etwa in Senlis (1493), vgl. MOLINET, Chronique (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 354–371, hier S. 354: „... bonne paix, union, aliance et amitié à tousjours a esté et est faitte, promise et jurée entre le très cristien roy de France, [...] et le roy des Romains, [...]“. 51 Grands traités (wie Anm. 26), S. 147 f. (Arras, 1435): „Item, et renoncera le Roy à l’aliance qu’il a faicte avec l’empereur contre mondit seigneur de Bourgoigne, et à toutes autres aliances par lui faictes avec quelques princes ou seigneurs que ce soient, à l’encontre de mondit seigneur, pourveu mondit seigneur le face pareillement“. 52 Dies gilt umso mehr, als die Aufkündigung einer (politischen) Freundschaft einer expliziten Desolidarisierung gleichkam: OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 320 f. 53 MARTINUS GARATUS LAUDENSIS, Tractatus de confederatione, pace, & conventionibus Principum, hrsg. von Alain Wijffels, in: Peace Treaties and International Law (wie Anm. 8), S. 412–447, hier S. 424, q. XXVI: „Si quis facit confederationem cum inimico, praesumitur inimicus, quia confederati sunt eiusdem intentionis, & voluntatis, [...]“. Zu Autor und Text Alain WIJFFELS, Martinus Garatus Laudensis on treaties, in: ebd., S. 184– 197. Das Motiv des gleichen Willens könnte hier als Brücke zwischen dem Konzept des Verbündeten und jenem des Freundes verstanden werden, vgl. M. TULLIUS CICERO, Laelius de amicitia, hrsg. von Robert Combès, Paris 31983, Kap. 20: „Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio; [...]“. Vgl. den Ausruf, den der burgundische Historiograph Chastellain Herzog Karl dem Kühnen in den Mund legte: GEORGES CHASTELLAIN, Œuvres. 8 Bde., hrsg. von Kervyn de Lettenhove, Brüssel 1863-1866, Bd. 5, S. 453: „Et alors ce duc tout animé, ce sembloit, et en argu, respondy et dit : ‚Entre nous Portugalois, avons une costume devers

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Das Gesamtsystem der personalen Bindungen, das diese Verweise als soziale Praxis mit Leben erfüllte, kann stellenweise mit dem Paradigma der „Patronage“ gefasst werden54, das vor allem in der Erforschung der Antike und dann wiederum der quellenreicheren Frühen Neuzeit eine große Rolle spielt55. Für die Ausprägung und die Funktion der spätmittelalterlichen Friedensverträge erscheint aber insbesondere die Bezugnahme auf dezidiert positiv aufgeladene Kategorien der personalen Bindung charakteristisch. Mit ihrer Hilfe konnten Wertvorstellungen abgerufen werden, die es den Partnern erlaubten, in einem diskursiven Raum idealer Gleichheit zu interagieren56. In Gesellschaften, die von starken Rangprinzipien und hierarchischer Gliederung geprägt waren57, wurden auf diese Weise flexible Ausgleichsprozesse möglich – vor allem in Situationen, in denen keine verbindliche Regelungsinstanz existierte. Dies zeigen die päpstlichen Vermittlungsversuche in den englisch-französischen Konflikten des späten Mittelalters: Im Streit zwischen Kaisern und Päpsten hatten letztere sich bis in das 13. Jahrhundert erfolgreich als Entscheidungsinstanz in der Christenheit positioniert, konnten diesen Anspruch im „avignonesischen Exil“ des 14. Jahrhunderts aber nicht mehr halten: so sollte etwa Clemens VI. 1343 dem Wunsch Eduards III. gemäß „nicht als Papst oder Richter, sondern als private Person und gemeinsamer Freund“ zwischen ihm und Johann II. von Frankreich vermitteln58. Nicht als Schiedsrichter, sondern als mit beiden nous, que quand ceux que nous avons tenus à nos amis, se font amis à nos ennemis, nous les commandons à tous les cent mille diables d’enfer‘“. 54 GARNIER, Amicus amicis (wie Anm. 15), S. 213. 55 Zur gegenseitigen Situierung von Freundschaft und Patronage OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 91–108 und 385. Wenn im vorliegenden Beitrag der traditionelle Epochenschnitt zugleich mit einem Wechsel der Analyseparadigmen verbunden ist, markiert dies weniger einen Bruch in den realen Verhältnissen, als eine Differenz in den disziplinären Zugängen, vgl. Klaus OSCHEMA, Clientèles – la perspective médiéviste, in: Sociétés Politiques Comparées [online] 9. November 2008, URL http://www.fasopo.org/ reasopo/n9/societespolitiquescomparees9article.pdf [21.09.2010]. 56 Vgl. hierzu Klaus VAN EICKELS, Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt. Die englisch-französischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter, Stuttgart 2002, S. 288 und 333–341; zur philosophischen Reflexion Bénédicte SÈRE, Penser l’amitié au Moyen Âge. Étude historique des commentaires sur les livres VIII et IX de l’Éthique à Nicomaque (XIIIe–XVe siècle), Turnhout 2007, S. 101–114. 57 Vgl. Politische Versammlungen und ihre Rituale: Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter, hrsg. von Jörg Peltzer [u. a.], Ostfildern 2009, sowie demnächst Princely Rank in late Medieval Europe. Trodden Paths and Promising Avenues, hrsg. von Torsten Huthwelker [u. a.] (im Druck). 58 ADAM MURIMUTH, Continuatio chronicarum, hrsg. von Edward M. Thompson, London 1889, S. 136 f.: „non ut papa vel ut judice sed persona privata et amico communi“. Vgl. Werner MALECZEK, Das Frieden stiftende Papsttum im 12. und 13. Jahrhundert, in: Träger und Instrumentarien (wie Anm. 7), S. 249–332; OFFENSTADT, Faire la paix (wie Anm. 7), S. 81 f.

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Seiten verbundener Mediator sollte er also agieren, der damit in einer Art „positiver Neutralität“ stand59. Gerade jene Zeit, in der sich die Grundlagen einer modernen Staatsorganisation zu formieren begannen60, sah also einen starken Bedeutungszuwachs des personalen Prinzips für die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Einiges deutet darauf hin, dass im 15. Jahrhundert die Differenz zwischen der „Amtsperson“ eines Herrschers und seiner „privaten“ Rolle kategorial gefasst wurde; wenn man jetzt von seiner „privaten Person“ sprechen konnte, bedeutete dies aber nicht deren konsequenten Rückzug aus der Dimension des Politischen, sondern lässt vielmehr die Rolle der Person besonders deutlich hervortreten61. Dies manifestierte sich zu Beginn der Neuzeit besonders an den Hierarchiekonflikten zwischen Fürsten und der schärfer konturierten Rangdifferenz zwischen Herrschern. Für die ersten zwei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit ist es daher angemessen, die Beziehungen zwischen ihnen nicht weiter unter dem Paradigma einer konstruierten Gleichrangigkeit durch die Betonung der Freundschaft zu verstehen, sondern als vertikale Patronagebeziehungen. Damit ist auch ein methodischer Perspektivenwechsel verbunden: Nicht die Begriffsgeschichte, sondern eine Analyse der symbolischen Kommunikation und der diplomatischen Praxis steht nun im Vordergrund, ohne aber die – allerdings veränderte – Bedeutung des amicitia-Diskurses aus den Augen zu verlieren. Die Frühe Neuzeit: Dynastie und Hierarchie Die Frühe Neuzeit gilt gemeinhin als die Epoche, in der das europäische Staatensystem entstand. Heinz Schilling etwa spricht vom „Aufstieg eines neuzeitlichen Mächteeuropa“62. Dennoch behielten personale Beziehungsmuster in den grenzüberschreitenden Beziehungen auch im 16. und 17. Jahrhundert eine anhaltend hohe Relevanz oder erfuhren aus verschiedenen Gründen eine zusätzliche Aufladung und hierarchische Differenzierung. Damit blieben für Beziehungen zwischen Fürsten und Gemeinwesen im entstehenden europäischen Staatensystem Werte und Handlungserwartungen 59

Siehe v. a. für das 13. Jh. GARNIER, Amicus amicis (wie Anm. 15), S. 285 u. 288; zur Frage der Neutralität: Klaus OSCHEMA, Auf dem Weg zur Neutralität. Eine neue Kategorie politischen Handelns im spätmittelalterlichen Frankreich, in: Freundschaft oder amitié? (wie Anm. 14), S. 81–108. 60 Vgl. Anm. 16. 61 Vgl. demnächst die knappen Hinweise bei Klaus OSCHEMA, Die Öffentlichkeit des Politischen, in: Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, hrsg. von Martin Kintzinger und Bernd Schneidmüller, Ostfildern 2011, S. 41–86, hier S. 82 f. (im Druck). 62 Heinz SCHILLING, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660, Paderborn [u. a.] 2007, S. 21.

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verbindlich, die auch für soziale Beziehungen galten. Zwar entwickelte die politische Traktatliteratur schon im 16. Jahrhundert die Vorstellung, dass die eigenständige Gestaltung der Außenbeziehungen ein unerlässliches Merkmal von Souveränität sei und dem Maßstab zweckrationaler Staatsräson folge. Doch die endgültige Ausdifferenzierung zwischen beiden Sphären in der politischen Praxis – den informellen Handlungserwartungen, die für soziale Beziehungen galten, und den Maximen, nach denen die Außenpolitik gestaltet wurde – blieb der Moderne vorbehalten. So konnte sich vor dem Ende des 17. Jahrhunderts eine von der Gesellschaft konsequent abgetrennte Sphäre der Staatsräson noch nicht etablieren63. Welche grundsätzlichen Entwicklungen sind in den Beziehungen zwischen europäischen Fürsten und Gemeinwesen in der Frühen Neuzeit auszumachen, und welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen auf die Außenbeziehungen und die Friedenssicherung? Schon seit einiger Zeit hat die Forschung auf die hohe Bedeutung des dynastischen Denkens in der Frühen Neuzeit hingewiesen. Heinz Schilling zählt den Faktor „Dynastie“ – neben Konfession, Staatsinteresse und Tradition – zu den „Leitkräften“, die für den Aufbau und die Dynamik des internationalen Systems in dieser Epoche verantwortlich seien. Er spricht dabei dem Faktor Dynastie die größte Kontinuität zu, auch wenn er stets im Schatten anderer, phasenweise dominierender Leitkräfte gestanden habe und ihnen jeweils funktional zugeordnet gewesen sei64. Dieses Argument ist von der jüngeren Forschung umgedreht worden: Dynastie sei nicht nur die kontinuierlichste, sondern auch die durchgehend dominierende Leitkraft gewesen65. Somit wären es eher die übrigen Leitkräfte, die in Abhängigkeit zum dynastischen Denken standen. 63

Hillard VON THIESSEN, Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hrsg. von dems. [u. a.], Köln [u. a.] 2010, S. 471–503, hier S. 473. 64 Heinz SCHILLING, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems, hrsg. von Peter Krüger, Marburg 1991, S. 19–46, hier S. 22. 65 So wurde etwa für Spanien unter Philipp II. die Relevanz des Faktors Konfession relativiert: Markus REINBOLD, Jenseits der Konfession. Die frühe Frankreichpolitik Philipps II. von Spanien 1559–1571, Ostfildern 2005; Karin SCHÜLLER, Die Beziehungen zwischen Spanien und Irland im 16. und 17. Jahrhundert. Diplomatie, Handel und die soziale Integration katholischer Exulanten, Münster 1999. Die Dynastie charakterisiert als Leitfaktor der Außenpolitik in der Frühen Neuzeit schlechthin Christoph KAMPMANN, Einleitung, in: Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, hrsg. von dems. [u. a.], Köln [u. a.] 2008, S. 1–12, hier S. 2 f. Gleichwohl ist die Debatte zur Bedeutung der Konfessionalisierung für die Außenbeziehungen noch nicht abgeschlossen, wie sich etwa in den Beiträgen des folgenden Sammelbands zeigt: Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, hrsg. von Heinz Schilling, München 2007.

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Die Außenbeziehungen wurden also weiterhin weniger von Staaten als vielmehr von Dynastien und Fürsten geprägt, während republikanische bzw. oligarchische Gemeinwesen unter den bedeutenderen Herrschaften Europas in der Frühen Neuzeit die Ausnahme darstellten66. Allerdings standen die Fürsten und Dynastien nicht in einem Verhältnis von Gleichheit zueinander; vielmehr wurde die europäische Fürstengesellschaft hierarchisch gedacht67. Die Vorstellung von der res publica christiana als Universaleinheit ging mit der Reformation nicht vollständig verloren. Bedeutete die konfessionelle Spaltung der Christenheit auch einen Einschnitt für die Geschichte der Außenbeziehungen in Europa, so verstand sich die Fürstengesellschaft doch weiterhin als eine zur Wahrung der Christenheit verpflichtete Einheit, wie etwa die Abgrenzung zum Osmanischen Reich zeigte. Hier ist insbesondere die fortlebende Vorstellung zu erwähnen, die christlichen Fürsten müssten nach Beilegung ihrer Konflikte gemeinsam einen Krieg gegen die Türken führen68. Die Zuspitzung der Denkfigur der Fürstenhierarchie, die in machtpolitischen Auseinandersetzungen und in symbolischer Kommunikation sichtbar wurde, stellte im 16. und 17. Jahrhundert die Vorstellung von gleichrangigen Freundschaftsbeziehungen zwischen den Fürsten bzw. Dynastien Europas in Frage. Mit Beginn des 16. Jahrhunderts zeichneten sich Entwicklungen ab, die langfristig die Vorstellung von einer hierarchisch geordneten Pyramide von Fürsten und Dynastien aufsprengen sollten, auf kurze und mittlere Sicht jedoch gegenteilige Effekte hatten. Zum einen nahm die Rivalität zwischen Fürsten und Gemeinwesen um die rangmäßige Platzierung in der Hierarchie zu. Paradoxerweise bewirkte aber gerade der Versuch, die Rangordnung 66

Bezeichnend ist, dass die Handelsrepubliken Venedig und Genua sich im 17. Jahrhundert zunehmenden Schwierigkeiten gegenüber sahen, als nichtfürstliche Gemeinwesen in die Fürstenhierarchie eingeordnet zu werden. Sie versuchten, ihren Rang mit dem Einsatz fürstlicher Symbolik zu wahren. Venedig untermauerte seinen Anspruch auf einen königsgleichen Rang ab 1637 durch die Krönung des Dogen mit königlichen (statt herzoglichen) Insignien. Genua suchte im selben Jahr das Fehlen eines fürstlichen Oberhaupts dadurch abzumildern, dass die Jungfrau Maria in einem feierlichen Akt zur Königin Liguriens gekrönt wurde. Matthias SCHNETTGER, Rang, Zeremoniell, Lehnssysteme. Hierarchische Elemente im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit, in: Die frühneuzeitliche Monarchie und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Duchhardt, Münster 2003, S. 179–195, hier S. 186; DERS., „Principe sovrano“ oder „civitas imperialis“? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit (1556–1797), Mainz 2006. 67 Johannes BURKHARDT, Die entgipfelte Pyramide. Kriegsziel und Friedenskompromiß der europäischen Universalmächte, in: 1648 – Krieg und Frieden in Europa, hrsg. von Klaus Bußmann [u. a.], Textband 1, München 1998, S. 51–60. 68 Paul ALPHANDÉRY, La Chrétienté et l’idée de croisade, 2 Bde., Paris 1954-59; Hubert JEDIN, Pius V. und der Kreuzzugsgedanke, in: Il Mediterraneo nella seconda metà del‘ 500 alla luce di Lepanto, hrsg. von Gino Benzoni, Firenze 1974, S. 193–213; Géraud POUMARÈDE, Pour en finir avec la Croisade. Mythes et réalités de la lutte contre les Turcs aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 2004.

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eindeutig festzulegen, deren wachsende Instabilität und wirkte somit kriegstreibend: So anerkannt das Prinzip der Hierarchie im Grunde war, so umkämpft war seine Ausgestaltung. Rangfragen wurden auf diese Weise zu einem Politikum von hoher Relevanz im Selbstverständnis der Fürsten des 16. und 17. Jahrhunderts69. Dies galt umso mehr, als es an einer allgemein anerkannten regelnden Instanz fehlte, einem über den übrigen Fürsten stehenden arbiter, der kraft seiner herausragenden Autorität als Vermittler Konflikte zwischen ihnen zu schlichten vermochte70. Nicht, dass diese Position im Hoch- und Spätmittelalter unumstritten gewesen wäre, wie die oben genannten Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser zeigen – aber die Zahl der Kandidaten nahm in der Frühen Neuzeit zu. Mit Karl V. traten Kaiser und Papst erneut in eine gewisse Konkurrenz, wobei Karl die Oberhoheit des Pontifex in geistlichen Dingen anerkannte71. Die kaiserliche Stellung wurde vor allem von den „Allerchristlichsten Königen“ Frankreichs aus dem Haus Valois herausgefordert. Komplexer wurde die Lage noch nach der Resignation Karls V.: Da der Kaisertitel an die machtpolitisch relativ schwachen österreichischen Habsburger gegangen war, betrachtete sich der spanische König Philipp II. als wahrer Erbe des kaiserlichen Universalismus. Er argumentierte sowohl mit seiner Machtstellung als auch mit seiner Rolle als Verteidiger der Kirche, die sich im Ehrentitel „Katholischer König“ ausdrückte und die durch die Reconquista wie die Missionserfolge in der Neuen Welt glanzvoll unter Beweis gestellt worden sei. Damit stehe ihm die Stellung als universaler Herrscher in der Funktion einer Ordnungsmacht über den übrigen Fürsten zu. So weitete sich die Rivalität zwischen den spanischen Habsburgern und der französischen Krone auf Rangfragen aus72. 1630 trat als ‚Überraschungskandidat‘ für die Spitzenposition unter den europäischen Fürsten noch Gustav II. Adolf von Schweden auf73. Schließlich befand sich außerhalb der christianitas mit dem Osmanischen Reich noch eine weitere Macht mit universalen Ansprüchen74. Der weitge69

Barbara STOLLBERG-RILINGER, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Majestas 10 (2003), S. 125–150. 70 Zum Begriff des arbiter: Christoph KAMPMANN, Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn 2001, S. 9–16. 71 KAMPMANN, Arbiter und Friedensstiftung (wie Anm. 70), S. 58–62. 72 Michael J. LEVIN, A New World Order: The Spanish Campaign for Precedence in Early Modern Europe, in: Journal of Early Modern History 6 (2002), S. 233–264. 73 BURKHARDT, Pyramide (wie Anm. 67), S. 52. 74 Daniel GOFFMAN, The Ottoman Empire and Early Modern Europe, Cambridge 2002. Zum diplomatischen Zeremoniell an der Hohen Pforte und europäischen Versuchen, Unterordnungssymbole, welche den europäischen Fürsten eine dem Sultan nachrangige Stellung zuwiesen, umzuinterpretieren, vgl. Ernst Dieter PETRITSCH, Tribut oder Ehrengeschenk? Ein Beitrag zu den habsburgisch-osmanischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des

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hende Konsens über die hierarchische Ordnung der Herrschaften Europas führte also zur Notwendigkeit, einen Herrscher als Schiedsrichter an die Spitze zu setzen. Da diese Position jedoch stets umstritten blieb, generierte die Vorstellung von der gottgewollten Einheit der christianitas unter einem arbiter Konflikte. Im Pontifikat Julius’ II. (1503–1513) nahm das Papsttum einen neuen, immerhin teilweise erfolgreichen Anlauf, sich mittels des diplomatischen Zeremoniells als arbiter zu präsentieren: Die Verdichtung der diplomatischen Beziehungen durch die zunehmende Einrichtung von Dauergesandtschaften führte zu dem Problem, wie der Umgang mit und die Begegnung zwischen Diplomaten als Vertretern von Dienstherren unterschiedlichen Rangs symbolisch zu bewältigen war. Im Zeremoniell schlüpften Botschafter in die Rolle des alter ego ihres Herrn. Daher musste mit ihnen in Relation zu anderen Diplomaten zeremoniell so verfahren werden, wie es dem Rang ihres Herrn entsprach75. Die konstituierende Wirkung des Zeremoniells76 brachte es mit sich, dass die Behandlung des Dieners auch seinem Herrn den Rang zuwies. Dass es der päpstlichen Kurie gelang, den römischen Hof als zentralen Ort der Rangzuweisung zu etablieren, war zwar ein beachtlicher Erfolg, aber ebenso ein Pyrrhussieg. Denn der Durchsetzung der päpstlichen Regelungskompetenz – die zudem nur von den katholischen Fürsten akzeptiert wurde – folgte ihre ständige Infragestellung durch rivalisierende Fürsten, die sich falsch platziert glaubten und dies nun über ihre Gesandten auf der Bühne des diplomatischen Zeremoniells in Rom und auch an anderen Höfen ausfochten77. Unumstritten war im katholischen Teil Europas lediglich, dass den 16. Jahrhunderts, in: Archiv und Forschung. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in seiner Bedeutung für die Geschichte Österreichs und Europas, hrsg. von Elisabeth Springer und Leopold Kammerhofer, Wien/München 1993, S. 49–58; Christian WINDLER, Tribut oder Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation, in: Saeculum 50 (1999), S. 24–56. 75 William James ROOSEN, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: Journal of Modern History 52 (1980), S. 452–476, hier S. 455 f. Zur Rangkonflikte geradezu herausfordernden Vorstellung des Botschafters als image sacrée des von ihm vertretenen Souveräns: Heinz DUCHHARDT, Krieg und Frieden im Zeitalter Ludwigs XIV., Düsseldorf 1987, S. 30. 76 „Das Zeremoniell […] bewirkt, was es abbildet“. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 91–132, hier S. 95. 77 Ernest NYS, Le règlement de rang du pape Jules II, in: Revue de droit international et de legislation comparée 25 (1893), S. 513–519; Mario ROSA, The ‚World’s Theatre’: The Court of Rome and Politics in the First Half of the Seventeenth Century, in: Court and Politics in Papal Rome, 1492–1700, hrsg. von Gianvittorio Signorotto [u. a.], Cambridge 2002, S. 78–98; Maria Antonietta VISCEGLIA, Il cerimoniale come linguaggio politico. Su alcuni conflitti di precedenza alla corte di Roma tra Cinquecento e Seicento, in: Cérémonial et rituel à Rome (XVIe–XIXe siècle), hrsg. von ders. und Catherine Brice, Roma 1997, S. 117–176; Julia ZUNCKEL, Rangordnungen der Orthodoxie? Päpstlicher

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Nuntien als Vertretern des Heiligen Stuhls der Vorrang, die „Präzedenz“, zustand78. Bereits die folgenden Rangplätze waren zwischen den oben genannten Kandidaten umkämpft. Noch 1661 kam es in London zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen der Entourage des spanischen und jener des französischen Botschafters um die Präzedenz beim Einzug des neuen schwedischen Botschafters. Die Spanier setzten sich hier durch, doch Ludwig XIV. reagierte mit Kriegsdrohungen gegen Philipp IV. Dieser sah sich gezwungen, dem französischen König durch einen Sondergesandten zu versichern, fortan würden spanische Vertreter diejenigen des Königs von Frankreich nicht mehr herausfordern. Die schwierige Lage der spanischen Monarchie nach dem Pyrenäenfrieden ließ ihm kaum eine andere Wahl79. Das Beispiel zeigt, wie konfliktträchtig der Kampf um die Spitze der Hierarchie der weltlichen Fürsten war. Die Frage nach den Ursachen dieser ausgeprägten Agonalität, welche die Errichtung einer Friedensordnung unter einem arbiter praktisch unmöglich machte, führt wiederum zum Prinzip der personalen Herrschaft. Denn primär waren es Fürsten und Dynastien, deren Ansprüche hier aufeinanderprallten, nicht Staatswesen. Auch die Diplomatie wirkte hier nicht konfliktentschärfend, sondern spitzte Präzedenzkonflikte vielmehr zu, weil sie über das Konzept des Botschafters als alter ego des Fürsten die Rangkonflikte an die wichtigsten Höfe Europas trug80. Der hohe Grad von Agonalität ist darauf zurückzuführen, dass die Beziehungen in der société des princes ähnlichen Logiken folgten wie der Ehrdiskurs in der ständischen Gesellschaft. Das bedeutet, dass Rang sichtbar gemacht und die mit ihm verbundene Ehre unbedingt verteidigt werden musste81. Im Fall des Suprematieanspruch und Wertewandel im Spiegel der Präzedenzkonflikte am heiligen römischen Hof in post-tridentinischer Zeit, in: Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom, hrsg. von Günther Wassilowski [u. a.], Münster 2005, S. 101–128, hier S. 113–120. 78 Matthew Smith ANDERSON, The Rise of Modern Diplomacy, Harlow 1993, S. 17. 79 Klaus MALETTKE, Dynastischer Aufstieg und Geschichte. Charakterisierung der Dynastie durch bourbonische Könige und in der zeitgenössischen Historiographie, in: Bourbon – Habsburg – Oranien (wie Anm. 65), S. 13–26, hier S. 16; Miguel Ángel OCHOA BRUN, El incidente diplomático hispano-francés de 1661, in: Boletín de la Real Academia de la Historia 201 (2004), S. 97-159; Michael ROHRSCHNEIDER, Das französische Präzedenzstreben im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Francia 36 (2009), S. 135–179, hier S. 150–152; DERS., Friedenskongress und Präzedenzstreit: Frankreich, Spanien und das Streben nach zeremoniellem Vorrang in Münster, Nijmegen und Rijswijk (1643/44–1697), in: Bourbon – Habsburg – Oranien (wie Anm. 65), S. 228–240, hier S. 235. 80 Die Diplomaten entwickelten eine gewisse Findigkeit, um den Rangkonflikten auszuweichen. So gab es in Rom beispielsweise informelle Absprachen zwischen dem französischen und dem spanischen Botschafter, um Begegnungen im Zeremoniell zu vermeiden. LEVIN, Order (wie Anm. 72), S. 261; Hillard VON THIESSEN, Außenpolitik im Zeichen personaler Herrschaft. Die römisch-spanischen Beziehungen in mikropolitischer Perspektive, in: Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua, hrsg. von Wolfgang Reinhard, Tübingen 2004, S. 21–177, hier S. 46. 81 Vgl. Anm. 75.

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Fürsten war dies sein Ruhm bzw. der seiner Dynastie82, der mit dem Rang in der Fürstenhierarchie verbunden war. Dessen Infragestellung oder eine zu tiefe Positionierung erforderten notfalls den Einsatz von Gewalt – bis hin zum Krieg. Legitimiert wurde dieses Verhalten, das durchaus auch als unchristliche Hoffart kritisiert werden konnte, mit dem Hinweis, dass Ruhe und Eintracht nur dann herrschen konnten, wenn die von Gott geschaffene Rangordnung von Fehlern bereinigt werde83. Dies galt insbesondere für Fürsten, die einen höheren Rangplatz anstrebten; sie konnten mit der Bereitschaft, hierfür zu den Waffen zu greifen, ihren Anspruch untermauern. Handlungsleitend waren dann nicht die Normen des Völkerrechts, das den gerechten Krieg definierte84, sondern die Verteidigung bzw. der Erwerb von Ruhm, um so unter Beweis zu stellen, dass man des angestrebten Rangs würdig war. Dies galt in besonders ausgeprägter Form für den Versuch Ludwigs XIV., sich als arbiter an die Spitze der Fürstengesellschaft zu stellen. Für ihn war, wie Anuschka Tischer pointiert feststellte, der Krieg „weder ultima ratio noch ein politisches Instrument, er war ein wesentlicher Teil seiner Selbstdarstellung“85. Indes wäre es einseitig, den Handlungs- und Denkrahmen der Fürsten des 16. und 17. Jahrhunderts auf agonalen Ruhmerwerb zu beschränken. Mars war nur ein Leitbild unter mehreren. Die nach innen, auf die eigenen Untertanen, wie nach außen – auf die europäische „Öffentlichkeit“ – zielende Inszenierung Ludwigs XIV. lässt erkennen, dass es des Rückgriffs auf weitere Herrschertugenden bedurfte, um die führende Stellung in der Fürstenhierarchie als Arbitre Souverain de la Republique Chrestienne zu untermauern. Die ludovizianische Herrscherpanegyrik argumentierte durchaus auch mit der Machtstellung des Königs, die ihm die Möglichkeit wie auch die Berechtigung gebe, als über die übrigen Fürsten gesetzter Schiedsrichter zu wirken und die gefällten Schiedssprüche tatsächlich durchzusetzen. Diese Argumentationsfigur findet sich in ähnlicher Form bereits im Universalismuskonzept Gattinaras für Karl V., war seinerzeit allerdings an den Kaisertitel und die 82

Bereits Norbert ELIAS, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main 81997, S. 206, betrachtete den fürstlichen Ruhm als eine Variante der adeligen Ehre: „Der Ruhm war für den König das gleiche, was für den Adeligen die ‚Ehre‘ war“. 83 STOLLBERG-RILINGER, Zeremoniell (wie Anm. 76), S. 108. Vgl. zu den mittelalterlichen Vorstellungen Anm. 37. 84 Zum Völkerrecht und der Lehre vom gerechten Krieg in der Frühen Neuzeit: Heinhard STEIGER, Ius bändigt Mars. Das klassische Völkerrecht und seine Wissenschaft als frühneuzeitliche Kulturerscheinung, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. von Ronald G. Asch [u. a.], München 2001, S. 59–85. 85 Anuschka TISCHER, Mars oder Jupiter? Konkurrierende Legitimationsstrategien im Kriegsfall, in: Bourbon – Habsburg – Oranien (wie Anm. 65), S. 196–211, hier S. 197.

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Vorstellung eines göttlichen Auftrags gebunden: Wenn ein Kaiser über eine derartige Macht und ein so großes Herrschaftsgebiet wie Karl verfügte, dann sei dies als göttlicher Auftrag zu verstehen, sich als Universalherrscher an die Spitze der Christenheit zu stellen86. Die französische Panegyrik stellte aber nicht nur die exzeptionelle Machtstellung des Königs dar, sondern betonte ebenso stark, dass Ludwig XIV. sich durch eine Reihe von Tugenden und Fähigkeiten auszeichne, die bereits für seine bourbonischen Vorfahren – namentlich den „guten König“ Heinrich IV. – typisch gewesen und in seiner Person zur vollen Entfaltung gelangt seien. Er verfüge insbesondere über drei Kardinaltugenden: die sagesse, also das Vermögen, ein gerechtes Urteil in allen politischen Fragen zu fällen, er sei vom Wunsch nach Frieden erfüllt und zeichne sich außerdem durch fidelité aus. Das bedeutete, dass seine Verbündeten auf sein einmal gegebenes Wort vertrauen konnten; er lasse diejenigen, denen er verpflichtet sei, nicht im Stich und sei daher ein zuverlässiger Beschützer oder Freund87. Vor allem die beiden erstgenannten Tugenden sollten ihn als Herrscher darstellen, der dem Idealbild des Fürsten als gerechter Richter und Friedenswahrer entsprach88. Die Tugend der fidelité ist einerseits dem Lehnsrecht zuzuordnen. Sie drückt die gegenseitige, durch Treueversprechen bindende Verpflichtung aus zwischen Lehnsherr, der Schutz gewährte, und Lehnsmann, der dafür Dienste leistete. Wiewohl auch in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit lehnsrechtliche Bindungen in verschiedenen europäischen Regionen – vor allem im Reich und in Italien – relevant blieben89, zielte die Betonung der fidelité des Königs aber noch in zwei andere Richtungen: Sie hob seine Ver-

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Zum kaiserlichen Universalismus: Franz BOSBACH, Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988, S. 45–56; John M. HEADLEY, The Habsburg World Empire and the Revival of Ghibellinism, in: Medieval and Renaissance Studies 7 (1978), S. 93–127; Frances A. YATES, Astraea. The Imperial Theme in the Sixteenth Century, London/Boston 1975. 87 KAMPMANN, Arbiter (wie Anm. 70), S. 209 f. 88 Zur Rezeption des Bildes des Königs als gerechter Richter am Beispiel Frankreichs: Jens Ivo ENGELS, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Bonn 2000, S. 16. 89 Zur Relevanz des Lehnsrechts in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, vor allem in Italien: Karl Otmar VON ARETIN, Die Lehensordnungen in Italien im 16. und 17. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, hrsg. von Hermann Weber, Wiesbaden 1980, S. 53–84; Friedrich EDELMAYER, Maximilian II., Philipp II. und Reichsitalien. Die Auseinandersetzungen um das Reichslehen Finale in Ligurien, Stuttgart 1988; Heinhard STEIGER, Völkerrecht versus Lehnsrecht? Vertragliche Regelungen über reichsitalienische Lehen in der Frühen Neuzeit, in: L’Impero e l’Italia nella prima età moderna. Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Matthias Schnettger [u. a.], Bologna/Berlin 2006, S. 115– 152; SCHNETTGER, Rang (wie Anm. 66).

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tragstreue bei Bündnisabkommen hervor90 und betrieb seine Stilisierung als guter Patron. Die Patronage kann als weitere Leitkraft der Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit angesehen werden, implizierte die Denkfigur der hierarchischen Fürstenpyramide doch Patron-Klient-Beziehungen zwischen den Fürsten, die als vertikale dyadische Beziehungen informeller Natur zwischen Personen oder Gruppen charakterisiert werden können. Zwischen beiden Seiten bestand ein wechselseitiges Verpflichtungsverhältnis. Während vom Patron Schutz, Unterstützung und die Vermittlung von Ressourcen erwartet wurde, hatte der Klient Dienstleistungen zu erbringen, die allerdings nie den Gegenwert der Leistungen des Patrons aufwiegen konnten91. Die dauerhafte Erfüllung der reziproken Verpflichtungen des Patronage-Verhältnisses stiftete Vertrauen und galt als gesellschaftsstabilisierender Wert an und für sich; man kann von einem „Ethos der Patronage“92 sprechen. Solange die Fürstengesellschaft der Frühen Neuzeit hierarchisch verstanden wurde, bestanden zwischen den Herrschern überwiegend Beziehungen ungleichen Rangs. Auch wenn diese Beziehungen nicht nur informellen Charakters waren – Bündnisse und Friedensverträge bedeuteten die Kodifizierung gegenseitiger Verpflichtungen –, so lassen sich dennoch zahlreiche Patronagebeziehungen zwischen Fürsten ausmachen. Dies gilt in besonders ausgeprägter Weise für Verbindungen zwischen einem mächtigen Fürsten, der über Patronageressourcen in großem Ausmaß verfügte, und schwächeren Herrschern oder Gemeinwesen. Letztere erwarteten für klienteläre Dienstleistungen – etwa die Beteiligung an einem Kriegszug – vom Patron Schutz und materielle Gaben, zum Beispiel in Form von Subsidien, sowie symbolische Auszeichnungen wie die Aufnahme in exklusive Ritterorden oder Standeserhöhungen93. 90

Bereits im politischen Denken Richelieus spielte die Vertragstreue als Grundbedingung der Reputation des Königs eine bedeutende Rolle: Michael ROHRSCHNEIDER, Reputation als Leitfaktor in den internationalen Beziehungen der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 331–352, hier S. 335 f. 91 Shmuel Noah EISENSTADT/Luis RONIGER, Patron-Client-Relations as a Model of Structuring Social Exchange, in: Comparative Studies in Society and History 22 (1980), S. 42–77; Guido KIRNER, Politik, Patronage und Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften, in: Berliner Debatte Initial 14 (2003), S. 168–183, hier 170; Wolfgang REINHARD, Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979, S. 38–40. 92 Hillard V. THIESSEN, Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive, Epfendorf 2010, S. 31. 93 Hillard V. THIESSEN, Patronageressourcen in Außenbeziehungen. Spanien und der Kirchenstaat im Pontifikat Pauls V. (1605–1621), in: Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, hrsg. von dems. [u. a.], Berlin 2005, S. 15–39. Die spanische Krone nutzte damit den Orden vom Goldenen Vlies ebenso zur Einbindung einer adligen Klientel, wie dies die burgundischen Herzöge bereits im späten Mittelalter getan hatten, vgl. Sonja DÜNNEBEIL, Der Orden vom Goldenen Vlies und die

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In verschiedenen Regionen Europas standen sich ab dem frühen 16. Jahrhundert Karl V. und der jeweilige französische König aus dem Haus Valois als auswärtige Patrone in Konkurrenz gegenüber. Ab 1555 entwickelte sich daraus eine Rivalität zwischen der spanischen und der französischen Krone. Beide pflegten klienteläre Beziehungen zu den machtpolitisch relativ schwachen nord- und mittelitalienischen Fürsten und Republiken94 und zu den Reichsständen95 sowie zu dortigen Adligen und Räten. Auch in der Eidgenossenschaft traten sie als Patrone gegenüber verschiedenen Orten und im Söldnerwesen engagierten Familien auf96. In Italien gelang es den spanischen Habsburgern, sich auf der Basis ihrer umfangreicheren Ressourcen und ihrer machtpolitischen Präsenz auf der Halbinsel als Schutzherren über den Frieden Italiens zu inszenieren. Ihre Patronage, so die Legitimation dieser Form von Machtpolitik, sei die Garantie für die pax hispanica über Italien; der Patron sollte also – um den Preis einseitiger machtpolitischer Abhängigkeit der klientelären staterelli – eine regionale Friedensordnung sichern97. Vor allem in den Phasen, in denen diese Dominanz von der französischen Krone herausgefordert wurde – etwa unter Heinrich IV.98 –, sahen sich die Beherrschung des Adels. Karl als Herr oder Ordensbruder?, in: Karl der Kühne von Burgund. Fürst zwischen europäischem Adel und der Eidgenossenschaft, hrsg. von Klaus Oschema/Rainer C. Schwinges, Zürich 2010, S. 171–183. 94 Thomas James DANDELET, Spanish Rome, 1500–1700, New Haven/London 2001; Angelantonio SPAGNOLETTI, Principi italiani e Spagna nell’età barocca, Milano 1996; V. THIESSEN, Diplomatie und Patronage (wie Anm. 92); Maria Antonietta VISCEGLIA, Roma papale e Spagna. Diplomatici, nobili e religiosi tra due corti, Roma 2010. 95 Friedrich BEIDERBECK, Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände, in: Francia 23 (1996), S. 1–32 und 25 (1998), S. 1–26; Friedrich EDELMAYER, Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich, München 2002; Ruth KOHLNDORFER-FRIES, Diplomatie und Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des französischen Gesandten Jacques Bongars (1554–1612), Tübingen 2009. 96 Daniel SCHLÄPPI, „In allem übrigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissen“. Akteure in der eidgenössischen Aussenpolitik des 17. Jahrhunderts. Strukturen, Ziele und Strategien am Beispiel der Familie Zurlauben von Zug, in: Der Geschichtsfreund (Stans) 151 (1998), S. 5–90; DERS.: Diplomatie im Spannungsfeld widersprüchlicher Interessen: Das Beispiel von Zug, einer schweizerischen Landsgemeindedemokratie (17. und 18. Jahrhundert), in: Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 63), S. 95–110; Christian WINDLER, „Ohne Geld keine Schweizer“: Pensionen und Söldnerrekrutierung auf den eidgenössischen Patronagemärkten, in: Nähe in der Ferne (wie Anm. 93), S. 105–133; DERS., „Allerchristlichste“ und „Katholische Könige“. Verflechtung und dynastische Propaganda in kirchlichen Räumen (Katholische Orte der Eidgenossenschaft, spätes 16. bis frühes 18. Jahrhundert), in: Zeitschrift für Historische Forschung 33 (2006), S. 585–629. 97 DANDELET, Spanish Rome (wie Anm. 94), S. 7. Während Dandelet für den Kirchenstaat von einer „imperial domination“ (S. 12) durch Spanien spricht, betont Levin, dass die spanische Monarchie nie die unangefochtene Dominanz über die italienische Halbinsel im Allgemeinen und den Kirchenstaat im Besonderen erlangt habe, vgl. Michael J. LEVIN, Agents of Empire. Spanish Ambassadors in Sixteenth-Century Italy, Ithaca 2005. 98 Vgl. Bernard BARBICHE, L’influence française à la cour pontificiale sous le règne de Henri IV, in: École française de Rome. Mélanges d’archéologie et d’histoire 77 (1965),

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spanischen Könige dazu veranlasst, regelrecht um ihre Klienten zu werben. Die Argumente dieser Werbung werfen ein Licht auf die Elemente des Ethos der Patronage. Die Stilisierung des spanischen Königs als Friedensgarant und gerechte Ordnungsinstanz weist dabei Parallelen zur Selbstdarstellung Ludwigs XIV. als arbiter auf. Das gilt auch für das Argument, die spanische Krone habe sich als Schutzherr über Italien bewährt, während der französische Rivale seine italienischen Klienten immer wieder im Stich lasse99. Das war eine Anspielung auf die Zeit der Bürgerkriege in Frankreich ab den 1560er Jahren, als die französische Krone ihre italienischen Klienten gezwungenermaßen vernachlässigte und ihr Ansehen beschädigte. Der Versuch Heinrichs IV., insbesondere im Kardinalskollegium und bei den Papstfamilien Klienten zu werben, konnte von der spanischen Krone als schnöde Bestechung denunziert werden, die gegenüber der bewährten spanischen Förderung abfalle100. Die fidélité war demnach in diesem Fall eine Eigenschaft des spanischen Patrons, der zeige, dass er das Ethos der Patronage, also die dauerhafte Erfüllung der reziproken Verpflichtungen, beachte. Dass man aber ebenso bereit und (zumindest phasenweise) auch in der Lage dazu war, Treuebruch zu strafen, zeigte sich in einem Fall, bei dem das französische Werben erfolgreich gewesen war. 1610 musste der savoyische Herzogssohn Filiberto durch einen Kniefall vor Philipp III. von Spanien im Namen seines Vaters Abbitte dafür leisten, dass jener, Herzog Carlo Emanuele, im Bündnis mit Frankreich die Eroberung der spanischen Lombardei geplant hatte101. Patronage stellte somit einen Rahmen zur Verfügung, der informelle hierarchische Beziehungen und politische Abhängigkeiten legitim und für beide Seiten akzeptabel gestaltete und dessen Nichtbeachtung empfindliche Sanktionen des Patrons nach sich ziehen konnte. Dass der spanisch-savoyische Konflikt mit der demütigen Abbitte des Klienten endete, ist auch mit der Heiratsverbindung zwischen den spanischen Habsburgern und dem Haus Savoyen zu erklären: Herzog Carlo Emanuele hatte 1585 die spanische Infantin Catalina Micaela geheiratet, eine Tochter Philipps II. und Halbschwester Philipps III. Diese Ehe kann als eine besondere Gunst des spanischen Patrons betrachtet werden, zumal sie auch ein gewisS. 277–299, hier S. 277 f.; Guido METZLER, Französische Mikropolitik in Rom unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621), Heidelberg 2008, S. 7 f. 99 So argumentierte der spanische Botschafter am Heiligen Stuhl, der Marqués de Aytona, 1607 gegenüber Papst Paul V. Borghese, dass von der französischen Patronage nicht viel zu halten sei, da es ihr an Zuverlässigkeit fehle. Der spanische König hingegen sei amigo provado, ein bewährter Freund. Vgl. Archivo General de la Fundación Casa Ducal de Medinaceli: Archivo Histórico Leg. 55, Ramo 8 (Audienz Aytonas bei Paul V. am 24.3.1607). 100 V. THIESSEN, Diplomatie und Patronage (wie Anm. 92), S. 432. Allgemein zur französischen Patronage im Kirchenstaat im frühen 17. Jahrhundert: METZLER, Mikropolitik (wie Anm. 98). 101 Romolo QUAZZA, Preponderanza spagnola (1559–1700), Mailand 21950, S. 403.

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ses Maß an Gleichrangigkeit implizierte. Dass der derart Begünstigte sich dann treulos zeigte, verlangte nach besonders scharfen Sanktionen. Es zeigt aber auch, dass die zwischenfürstlichen Beziehungen in der Frühen Neuzeit zwar im Prinzip hierarchisch gedacht wurden, die Vorstellung eines gewissen Maßes an Gleichrangigkeit zwischen den regierenden Häusern – in Abgrenzung von adligen Vasallen – aber dennoch erhalten blieb. Mittels Heiratsverbindungen konnte ein Kreis von Dynastien erfasst werden, die ein Herrscherhaus für rangmäßig so nahe stehend erachtete, dass eine Eheverbindung mit den eigenen legitimen Nachkommen in Frage kam102. Die Verwendung der Begriffe amicitia bzw. amitié in diplomatischen Korrespondenzen und Friedensverträgen ist aber nur bedingt ein Zeichen rangmäßiger Nähe zwischen Fürsten103, da die amicitia in diesem Kontext keineswegs Ranggleichheit oder doch wenigstens Rangnähe implizieren musste, sondern vor allem als Ausdruck für die wechselseitige Verpflichtung galt, den Frieden und die guten Beziehungen aufrecht zu halten. Dies konnte auch aus der Distanz geschehen, durch Briefkommunikation oder über den Austausch von Gesandten. Die Notwendigkeit der personalen Begegnung entfiel damit, aber die Verbindlichkeit von Handlungserwartungen blieb erhalten. Unter Freundschaft wurde hier also eine gegenseitige, auf Dauer angelegte Handlungsverpflichtung verstanden, die nicht den Rang der Beteiligten betraf und die immer mehr vom Ideal personaler Nähe und des Strebens nach harmonischem Gleichklang abgekoppelt war. Amicitia konnte daher in der Frühen Neuzeit auch ein Bündnis mit Nichtchristen umschreiben, so etwa das zwischen dem osmanischen Sultan und der französischen Krone. In den Verträgen zwischen beiden Partnern tauchen wiederholt die Formulierungen wie „ancienne et parfaite union“ und „amitié“ auf. Doch war damit, wie Michael Hochedlinger betont, weder gemeint, dass der Sultan dem französischen König Gleichrangigkeit einräumte, noch, dass der roi très chrétien tatsächlich die kulturell-religiöse Kluft zu einem muslimischen Herrscher zu überwinden glaubte. Vielmehr ging es um eine Vertrauensgrundlage für gedeihliche Beziehungen längerer Dauer, die den Interessen beider Seiten dienlich war, sei es in Bezug auf den Handel oder die Schwächung der casa de Austria104. 102

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ludwig XIV. zu Beginn seiner Alleinregierung (1661) sein Verhältnis zu Philipp IV. von Spanien für kurze Zeit als gleichrangig darstellen ließ. Beide Könige wachten demnach gemeinsam als arbitri über den Frieden in Europa. Diese Sichtweise wurde aber nach und nach zugunsten des Vorranganspruchs des französischen Königs ersetzt: KAMPMANN, Arbiter (wie Anm. 70), S. 200. 103 Tobias MÖRSCHEL, Buona amicitia? Die römisch-savoyischen Beziehungen unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien, Mainz 2002, S. 1; LESAFFER, War (wie Anm. 8), S. 107 f. Vgl. auch Andreas WÜRGLER, Freunde, „amis“, „amici“. Freundschaft in Politik und Diplomatie der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Freundschaft oder amitié? (wie Anm. 14), S. 191–210. 104 Michael HOCHEDLINGER, Die französisch-osmanische Freundschaft 1572–1792. Elemente antihabsburgischer Politik, Gleichgewichtsinstrument, Prestigeunternehmung –

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„Freundschaft“ bezeichnet also einen Verhaltenskodex für Kommunikationsbeziehungen wechselseitigen und auf einen längeren Zeitraum gerichteten, mehr oder weniger stark ausgeprägten Vertrauens. Im diplomatischen Alltag wurde dieser Zustand mit dem Begriff „gute Korrespondenz“105 umschrieben, die ganz auf den Appell an den Freundschaftsdiskurs verzichtet, dafür aber den Kommunikationsaspekt hervorhebt. Zumindest für die spanische Diplomatie des frühen 17. Jahrhunderts lässt sich auch eine Abstufung erkennen zwischen „muy buena correspondencia“ oder „mucha confiança“, welche die Beziehungen zu sehr nahestehenden Herrschern und Klienten beschrieben, der „buena correspondencia“, die gewissermaßen den Standardzustand eines gedeihlichen Verhältnisses bezeichnete, und der „general correspondencia“, die nur ausdrückte, dass man überhaupt miteinander kommunizierte106. Der Verpflichtungscharakter und das Ideal der Dauerhaftigkeit wurden aber zumindest in den ersten beiden Varianten dieser Begriffsverwendung impliziert. 1609 wurde der spanische Botschafter am Heiligen Stuhl angewiesen, mit dem Herzog von Poli, einem Klienten der spanischen Krone, „buena correspondencia“ zu halten, „um ihn damit zu verpflichten“107. Dieses diplomatische Vokabular musste in Verträgen zwischen Herrschern durch direkte Verweise auf den Freundschaftsdiskurs untermauert und damit aufgeladen werden. In den Westfälischen Friedensverträgen findet sich dementsprechend sehr häufig die Bezeichnung „amicabilis compositio“108. Der Frieden besteht demnach aus personalen, mit dem Ideal der Dauerhaftigkeit aufgeladenen Vertrauensbeziehungen zwischen Fürsten oder Gemeinwesen. Gleichheit besteht in den Verpflichtungen, im Prinzip der Reziprozität, aber wiederum nicht unbedingt im Rang der Beteiligten. Dieses Verständnis findet eine Parallele in der Sprache der Patronage. Auch dort war – zumindest von Seiten des Patrons – häufig von „Freundschaft“ die Rede, wenn es um ein klienteläres Abhängigkeitsverhältnis ging. Den Klienten als Freund zu be-

Aufriß eines Problems, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 102 (1994), S. 108–164. 105 Zum Begriff der „guten Korrespondenz”: EDELMAYER, Söldner und Pensionäre (wie Anm. 95), S. 110. 106 V. THIESSEN, Diplomatie und Patronage (wie Anm. 92), S. 321 f. 107 „(...) para obligarle con esto”. Archivo General de Simancas, Estado Legajo 992, unfol. (darin: Philipp III. an den Conde de Castro, 20.10.1609). 108 Vgl. z. B. die häufige Verwendung des Adjektivs „amicabilis“, meist in Kombination mit „compositio“ im Friedensvertrag zwischen dem Kaiser und der schwedischen Krone in: Instrumenta Pacis Westphalicae, Die Westfälischen Friedensverträge. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigsten Teile und Regesten, bearb. von Konrad Müller, Bern [u. a.] 31975, S. 16, 18, 20, 22, 25, 32, 35, 42–43 und 76.

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zeichnen war von Seiten des Patrons ein der Höflichkeit geschuldeter Euphemismus, den sich der Klient seinerseits keineswegs erlauben konnte109. Noch in den Utrechter Friedensverträgen von 1713 wird der Begriff „amitié“ mit Adjektiven wie „vraye & sincere“, „fidèle“ und „ancienne“ versehen und zusammen mit dem Substantiv „affection“ verwendet110. Auffallend ist aber, dass in den Verträgen des 18. Jahrhunderts die Betonung der Ranggleichheit der vertragschließenden Parteien deutlich zunimmt. Anders als etwa die westfälischen Instrumenta pacis enthalten die Utrechter Verträge auch Passagen, in denen die Ranggleichheit der beteiligten souveränen Herrscher explizit und wiederholt betont wird111. Hier zeigt sich ein grundlegender Wandel im Verständnis des Charakters der Außenbeziehungen, der sich auch in der Entwicklung des diplomatischen Zeremoniells auf den großen Friedenskonferenzen widerspiegelte. Mit der zunehmenden Durchsetzung des Konzepts absoluter fürstlicher Souveränität fand die Vorstellung, dass regierende Fürstenhäuser eine Statusebene teilten und deutlich vom Adel abzugrenzen waren, Eingang in das entstehende Völkerrecht und nach und nach auch in die außenpolitische Praxis112. Während die Ablehnung der Denkfigur der Hierarchie und der Vorstellung, an der Spitze der Fürstenpyramide müsse ein arbiter stehen, im 16. und frühen 17. Jahrhundert ein eher taktisches Argument derer war, die den Universalismus konkurrierender Häuser anprangern wollten, änderte sich dies zum Ende des 17. Jahrhunderts hin. Einerseits mussten auf den großen Friedenskonferenzen seit den Verhandlungen in Münster und Osnabrück zeremonielle Lösungen gefunden werden, mittels derer Rangstreitigkeiten entschärft oder umgangen werden konnten. Die Dysfunktionalität des Hierarchieprinzips wurde so offenkundig; pragmatische Lösungen umgingen die aus ihm resultierenden Konflikte. Michael Rohrschneider hat darauf hingewiesen, dass auf den Verhandlungen in Münster, Osnabrück, Nimwegen und Rijswijk einerseits viel Zeit und Energie in die Klärung von Rangfragen investiert wurde und die direkte Begegnung zwischen den Botschaftern rivalisierender 109

Wolfgang REINHARD, Freunde und Kreaturen. Historische Anthropologie von Patronage-Klientel-Beziehungen, in: Freiburger Universitätsblätter 139 (1998), S. 127–141, hier S. 133. 110 Treaty of Peace and Friendship between France and Great Britain, signed at Utrecht, 11 April 1713, in: The Consolidated Treaty Series, hrsg. von Clive Perry, Dobbs Ferry 1969, Bd. 27, S. 475–501, hier S. 479 und 480; Treaty of Peace and Amity between France and the Netherlands, signed at Utrecht, 11 April 1713, in: ebd., Bd. 28, S. 37–82, hier S. 40, 42 und 58; Treaty of Peace and Amity between France and Savoy, signed at Utrecht, 11 April 1713, in: ebd., S. 123–140, hier S. 125. 111 So werden etwa im Abkommen zwischen der britischen und der französischen Krone Königin Anne und König Ludwig XIV. im Text gleichermaßen spiegelbildlich als „Sérénissime-très-Puissant“ bezeichnet. Vgl. Treaty of Peace between France and Great Britain, signed at Utrecht, 11 April 1713 (wie Anm. 110), hier S. 487 und 490. 112 SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 62), S. 138–144.

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Fürsten durch den Einsatz von Mediatoren vermieden wurde. Andererseits aber nahm die Bereitschaft zu Kompromisslösungen zu. Vertragsunterzeichnungen zwischen den Vertretern der französischen und der spanischen Krone wurden als Akte der Gleichheit inszeniert. Dies implizierte, dass die französische Seite nun auf die Darstellung ihrer Präzedenz, die ihr 1661 noch Kriegsdrohungen wert gewesen war, verzichtete. Rohrschneider vermutet, dass die militärische, machtpolitische und mit der Person des Fürsten verbundene Überlegenheit des Frankreichs Ludwigs XIV. gegenüber dem Spanien des zeugungsunfähigen Karl II. in ausreichendem Maß offenkundig war, um dieses Entgegenkommen zu verschmerzen113. Das bedeutet freilich auch, dass die Vorstellung von der Rang konstituierenden Qualität des diplomatischen Zeremoniells auf dem Rückzug war und damit ein konfliktgenerierender Faktor entfiel. Die Einordnung des Rangs eines Fürsten oder Fürstenstaates wurde nun hingegen eher auf der Basis seines Machtpotentials hin vorgenommen. Ein Europa gleichrangiger souveräner Staatswesen stand freilich nicht am Ende dieser Entwicklung. Zum einen konnte sich bis zum Ende des Ancien Régime immer noch kein trennscharfes Souveränitätskonzept gegen die Restbestände der alten Lehnsordnung, namentlich im Reich und in Italien, vollständig durchsetzen114. Zum andern lebte die Vorstellung von friedenssichernden Ordnungsmächten in Gestalt der Pentarchie fort, also der fünf Garantiemächte der europäischen balance. An der Spitze der europäischen Staatenwelt stand somit das Kollektiv der fünf Großmächte. Es sollte idealerweise den Frieden sichern oder ihn, wenn es doch zum Ausbruch eines Krieges gekommen war, wiederherstellen115. Frieden wie im Film? Ein Fazit Blickt man auf die eingangs evozierten Bilder zurück, so fällt auf, dass sich eine Form mittelalterlicher Konfliktbeilegung in der Frühen Neuzeit nur noch sehr selten finden lässt: die der persönlichen Herrscherbegegnung. Interessanterweise zeichnen die Produkte der Traumfabriken diesen Sachverhalt nach, wie etwa Shekhar Kapurs Film „Elizabeth“ belegt, dessen Erzählung maßgeblich durch das Intrigenspiel auswärtiger Gesandter vorangetrieben wird116. Aus der Perspektive Philippe de Commynes‘, der um 1500 seine

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ROHRSCHNEIDER, Friedenskongress (wie Anm. 79). Vgl. Anm. 89. Heinz DUCHHARDT, Balance of Power und Pentarchie, Paderborn [u. a.] 1997, S. 7–19. 116 Elizabeth, Regie: Shekhar KAPUR, Polygram Filmed Entertainment 1998; dieser Verweis zielt nicht auf die „historische Korrektheit“ des Films, der in zahlreichen Aspekten von den rekonstruierbaren Ereignisverläufen abweicht. 114 115

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„Mémoires“ verfasste, sollte die Kommunikation mithilfe diplomatischer Kontakte die Gefahr persönlicher Antipathien reduzieren117. In der modernen Rekonstruktion der späteren Entwicklung ist dagegen festzustellen, dass durch die Hierarchisierung der Beziehungen zwischen den Fürsten eine repräsentative Konkurrenz geschaffen wurde, die persönliche Treffen zwischen ihnen zeremoniell kaum mehr umsetzbar erscheinen ließ118. Paradoxerweise war es somit gerade die fortbestehende Relevanz personaler, zwischenfürstlicher Beziehungen, die solche Treffen nahezu unmöglich machte. Erst mit der Entpersonalisierung von Herrschaft in der Moderne wurden Staatsbesuche wieder üblich – dies aber nun in einer Welt, in der personale Herrscherbeziehungen zumindest in offizieller Lesart kaum noch Relevanz für die Wahrung oder Herstellung des Friedens aufweisen sollten und in der Diplomaten sich nicht mehr in erster Linie als Vertreter von Fürsten, sondern von Staatswesen oder Nationen verstanden.

117 PHILIPPE DE COMMYNES, Mémoires. 2 Bde., hrsg. von Joël Blanchard, Genf 2007, Bd. 1, S. 79, 126 f. und 131 f.; s. OSCHEMA, Freundschaft und Nähe (wie Anm. 15), S. 287– 290. Vgl. allg. SCHWEDLER, Herrschertreffen (wie Anm. 31), S. 405–414, und KINTZINGER, Europäische Diplomatie (wie Anm. 17), S. 264–268. 118 Johannes PAULMANN, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn [u. a.] 2000, S. 34–37.

Symbiose ungleicher Partner. Die französisch-eidgenössische Allianz 1516–1798/1815 Von

Andreas Würgler Wer heute auf die Frage nach dem berühmtesten Eidgenossen der Frühen Neuzeit den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. nennt, der gibt zwar eine überraschende, aber keine abwegige Antwort. Wenn der König auch mit dem französischen „confédéré“, nicht aber mit dem deutschen Pendant „Eidgenosse“ betitelt wurde, so hieß man ihn doch „Pundts Verwandter, Freund und Mitburger“, während er die Eidgenossen „Freünde, Eidt und Bundtsverwante“1 nannte. Sein Vorläufer Heinrich II. richtete sich 1554 mit den Worten „fürgeliebte / fürtraffenliche fründ / Bunds vnd Einigsverwandten und liebe Gevattern“2 an die Eidgenossen. Den König Heinrich IV. sprachen die Eidgenossen im Jahr 1600 als ihren „Herren und Pundtsgenosen“3 an. Diese Anreden als „Bundesgenossen“ und „Bundesverwandte“ oder „confédéré“ und „Einigungsverwandte“ zwischen dem französischen König und den Schweizer Ratsherren beruhten auf dem 1516 geschlossenen „Ewigen Frieden“, der die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bestehenden französischeidgenössischen Beziehungen auf Dauer gestellt hatte und die Basis für den 1521 geschlossenen und bis 1777 immer wieder erneuerten Allianz- und Soldvertrag bildete. Dass die Beziehung sich derart dauerhaft gestaltete, lag auch in der extremen Verschiedenheit der beiden Partner begründet. Mit Frankreich und der Eidgenossenschaft standen sich eine zunehmend zentralistischer werdende 1

Amtliche Sammlung der älteren eidgenössischen Abschiede, Bd. 6, Abt. 2: Die eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1681 bis 1712, bearb. von Martin Kothing und Johannes B. Kälin, Einsiedeln 1882, S. 1643 und 1644 (Allianz 1663). 2 Staatsarchiv Zürich: B VIII 99, Abschiede 1553–1555, fol. 120, König Heinrich II. an die Eidgenossen, Fontainebleau, 21. Februar 1554. 3 Nachweis bei Andreas WÜRGLER, Freunde, amis, amici. Freundschaft in Politik und Diplomatie der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Freundschaft oder amitié? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.– 17. Jahrhundert), hrsg. von Klaus Oschema, Berlin 2007, S. 191–210, hier: S. 196; dort mehr zur Bedeutung von „Freund“ bzw. „Freundschaft“. Für spätere Belege zu „Bundesgenossen“ und ähnlichen Termini: Thomas LAU, „Stiefbrüder“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712), Köln [u. a.] 2008, S. 183–185.

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absolute Monarchie und ein föderatives Netzwerk souveräner Republiken, eine europäische Großmacht zwischen Ärmelkanal, Atlantik und Mittelmeer mit rund zwanzig Millionen Einwohnern und ein kleines, zu großen Teilen alpines Binnenland mit etwa einer Million Einwohnern gegenüber. Gerade diese Verschiedenheit bot die Voraussetzung für eine enge, symbiotische Zusammenarbeit mit Vorteilen für beide Seiten, wobei die Art der Vorteile für die beiden Partner völlig verschieden war. Die Eidgenossenschaft bestand seit 1513 aus einem Bündnisgeflecht von dreizehn Orten oder Kantonen, von denen jeder auf seine Autonomie beziehungsweise Souveränität Wert legte. Die dreizehn Kantone unterschieden sich hinsichtlich Größe, Verfassungstyp, Konfession, ökonomischer Strukturen und Prioritäten erheblich voneinander. Ihre Bindungen waren komplex, da sie nicht durch einen einzigen Vertrag geregelt waren, sondern durch rund vierzehn, nicht identische Vertragstexte unter jeweils einigen der dreizehn Orte. Außerdem gehörten in der eidgenössischen wie europäischen Wahrnehmung auch einige nur locker assoziierte sogenannte „Zugewandte Orte“ wie etwa Genf, das Wallis, Graubünden, St. Gallen, Biel, Neuenburg oder Teile des Fürstbistums Basel zur Schweiz4. Was auf diese Weise zur Eidgenossenschaft geworden war, hatte sich im Lauf des Spätmittelalters durch eine sich wandelnde Praxis der Beziehungen aus einem noch viel größeren Netz an Bindungen und Bündnissen herausgeschält. Während andere Netzwerke sich wieder auflösten oder aufgelöst wurden – etwa die vielen Städtebünde im Reich, der Schwäbische Bund und andere mehr –, konsolidierte sich die Eidgenossenschaft, wiewohl sie von der Verschiedenheit der Mitglieder – sechs „demokratische“ Länderorte, sieben „aristokratische“, von Patriziern oder Zünften dominierte Städte – dazu nicht prädestiniert schien. Ebenfalls mit einer Vielzahl von Bündnissen und Verträgen wurde das Verhältnis der eidgenössischen Orte zu den benachbarten und weiteren europäischen Mächten geregelt. So war der Friede mit Frankreich ein Pendant zum „Ewige Richtung“ genannten Vertrag mit dem Herzog von Österreich von 1474. Die Aussöhnung der Eidgenossen mit dem bisherigen Feind und Herrn Habsburg hatte der französische König Ludwig XI. vermittelt. Dessen Interesse war es, mit diesem Friedens- und Beistandsvertrag eine große Allianz gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund zu schmieden. Nach dem Sieg über Burgund wurde das Abkommen als „Erbeinung“ 1477 und 1511 erneuert. Der Nichtangriffs- und Nachbarschaftsvertrag enthielt weiterhin 4

Vgl. Andreas WÜRGLER, Art. Eidgenossenschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 114–121, hier: S. 115 f. (online: www.hls.ch); zur Diskussion über die territorialen Grenzen der Eidgenossenschaft vgl. Andreas WÜRGLER, Which Switzerland? Contrasting Conceptions of the Early Modern Swiss Confederation in Minds and Maps, in: Political Space in Pre-Industrial Europe, hrsg. von Beat Kümin, Farnham/Burlington 2009, S. 197–213.

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eine gegenseitige Besitzstandsgarantie, aber keine Hilfsklausel mehr. Für diesen Nachbarschaftsvertrag, auf dem die gegenseitigen Beziehungen bis 1798 beruhten, zahlten die Habsburger den Eidgenossen ein jährliches bescheidenes Friedensgeld5. Die vertragliche Friedensbindung mit HabsburgÖsterreich und Frankreich platzierte die Eidgenossenschaft genau zwischen den Hauptfronten des pluri-säkularen Machtkampfs der beiden größten Rivalen im christlichen Abendland. In Kriegssituationen ergriffen die Eidgenossen als Föderation nach 1515 nicht mehr Partei – was damals „still sitzen“ hieß und sich seit dem Dreißigjährigen Krieg zum Grundsatz der „Neutralität“ – der erste explizite Beleg stammt von 16746 – entwickelte7. Daher bedeutete die Soldallianz mit Frankreich seit 1521 eine faktische Bevorzugung der französischen Krone, selbst wenn zahlreiche Vorbehalte in den Soldverträgen und -kapitulationen sicherstellen sollten, dass die eidgenössischen Truppen in Frankreich nicht gegen Habsburg eingesetzt werden durften. Doch spätestens Ludwig XIV. missachtete diese Bestimmung regelmäßig, was zu langen Verhandlungen über diese sogenannten Transgressionen führte8. Wenn es auch keine wichtigen Soldbündnisse mit Österreich mehr gab, so entstanden im Lauf der Frühen Neuzeit doch solche mit anderen Mächten. Der Hauptunterschied zur französischen Soldallianz bestand darin, dass sie alle konfessionell gebunden waren. Bei diesen konfessionsspezifischen außenpolitischen Absprachen handelte es ich um jene aller oder einiger katholischer Orte zum Beispiel mit Österreich 1529, Savoyen 1560/77, dem Heiligen Stuhl 1565 und schließlich Spanien-Mailand 1587, mit dem sich die spanischen Habsburger einen Korridor für Truppendurchzüge von Mailand in die umkämpften spanischen Niederlande einrichten konnten9. In gewisser Weise war auch das Bündnis der katholischen Orte mit Frankreich 1715 konfessionell einseitig, aber nicht in der ursprünglichen Intention Frank-

5 Bettina BRAUN, Die Eidgenossen, das Reich und das politische System Karls V., Berlin 1997, S. 205–311. 6 Thomas MAISSEN, L’invention de la tradition de neutralité helvétique: une adaptation au droit des gens naissant du XVIIe siècle, in: Les ressources des faibles. Neutralités, sauvegardes, accommodements en temps de guerre (XVIe–XVIIIe siècle), hrsg. von JeanFrançois Chanet und Christian Windler, Rennes 2009, S. 17–46, hier: S. 30–35. 7 André HOLENSTEIN, L’enjeu de la neutralité: les cantons suisses et la guerre de Trente Ans, in: ebd., S. 47–61. 8 MAISSEN, Invention (wie Anm. 6), S. 31. Vgl. dazu die ältere Arbeit von Adolf NIETHAMMER, Das Vormauersystem an der eidgenössischen Nordgrenze. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizerischen Neutralität vom 16. bis 18. Jahrhundert, Basel 1944. 9 Dazu Rudolf BOLZERN, Spanien, Mailand und die katholische Eidgenossenschaft: militärische, wirtschaftliche und politische Beziehungen zur Zeit des Gesandten Alfonso Casati (1594–1621), Luzern/Stuttgart 1982.

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reichs, sondern aufgrund der reformierten Abstinenz10. Die reformierte Entsprechung dazu bildeten die Bündnisse einiger, aber selten aller evangelischen Orte etwa in Form der christlichen Burgrechte mit protestantischen Städten und Fürsten des Reiches 1527–1531 oder dann der beiden evangelischen Orte Bern und Zürich mit Genf 1536 bzw. 1584, mit Straßburg 1588, mit der Markgrafschaft Baden 1612 und mit Venedig 1615/1706 oder mit den Niederlanden 1712 (alle reformierten Orte 1748), bei denen es den europäischen Vertragspartnern vor allem um den Zugang zum schweizerischen Söldnerpotential ging11. Diese Bündnisse verweisen zudem nochmals auf den Autonomie- bzw. Souveränitätsanspruch der einzelnen Orte der Eidgenossenschaft, die durchaus als Orte und nicht nur als Gesamteidgenossenschaft Außenbeziehungen pflegten. Im Folgenden sollen zunächst die Entwicklung der vertraglichen Beziehungen zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft dargestellt und danach in ihren politisch-militärischen, diplomatischen, sozialen und konfessionellen sowie ökonomischen und kulturellen Aspekten analysiert und schließlich bilanziert werden. 1. Bündnisse und Verträge: die Allianz 1516–1798 Die ersten politischen Begegnungen zwischen Frankreich und der entstehenden Eidgenossenschaft waren kriegerischer Art. Insbesondere der Einfall der Armagnaken, beschäftigungslose Söldnergruppen unter Führung des Dauphin, und die verheerende Niederlage der Eidgenossen in der Schlacht bei Sankt Jakob an der Birs (1444) führten zu einer Verstetigung der Beziehungen mit einem bezeichnenden Schwerpunkt. Beeindruckt von der Tapferkeit der eidgenössischen Krieger versuchte die französische Krone, deren militärisches Potential an sich zu binden. Auf den Frieden von Ensisheim (1444) folgten 1452–1453, 1463 und 1470 befristete Freundschafts- und Soldverträge mit denen auch die Zusammenarbeit gegen Herzog Karl den Kühnen von 10

Georges LIVET, Introduction, in: Suisse: Receuil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France des Traités de Westphalie jusqu’à la Révolution française, Bd. 30/1, hrsg. von Georges Livet, Paris 1983, S. IX–CLXI, hier: S. LXXVII: so wurde zum Beispiel der im Vertrag stipulierte Ausschluss reformierter Kaufleute von den Handelsprivilegien in der Praxis nicht umgesetzt. 11 Andreas WÜRGLER, Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext, Epfendorf [i.V.], Einleitung, Kapitel 1. Vgl. Martin KÖRNER, Art. Allianzen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 1, Basel 2002, S. 195–197 (auch online unter www.hls.ch); vgl. André HOLENSTEIN, Beschleunigung und Erstarrung. Asynchrone Transformation und Modernisierungskrisen im späten Ancien Régime und in der Helvetik (1712–1802/03), in: Neue Schweizer Geschichte, hrsg. von Georg Kreis, Basel [i.V.], Kapitel „Mitten in Europa“.

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Burgund vorbereitet wurde (Vertrag 1474/75). Je nach Bedarf der französischen Seite fielen die Vereinbarungen für die Eidgenossen mehr oder weniger attraktiv aus (1480, 1499). Zum ersten Zerwürfnis zwischen den Partnern kam es im Kampf um das Herzogtum Mailand, wo Frankreich und die Eidgenossenschaft zu Rivalen und von 1500 bis 1513 sowie von 1515 bis 1535 erstmals und nur vorübergehend zu Nachbarn mit einer gemeinsamen Grenze wurden. Weil die französischen Zahlungen nicht befriedigend ausfielen, wechselten die Eidgenossen auf die Seite des Papstes (1509) und vertrieben die Franzosen aus Mailand (1513)12. Doch nach der demoralisierenden Niederlage der eidgenössischen Infanterie gegen die französische Artillerie bei Marignano in der Poebene 1515 schlossen der König und die jetzt dreizehn eidgenössischen Orte mit allen Zugewandten am 29. November 1516 einen nun unbefristeten „Ewigen Frieden“, der für die Eidgenossen trotz der Niederlage sehr vorteilhaft ausfiel. Für ihren Verzicht auf Mailand erhielten sie im Gegenzug hohe Kriegsentschädigungen und jährliche Pensionen von 2000 Franken pro Ort zugesichert. Außerdem bestätigte der Friede die bisherigen Zoll- und Handelsprivilegien der Eidgenossen im Mailänder Herzogtum und im französischen Königreich. Gegenseitig versprach man sich freien Handel, schiedliche oder gerichtliche Lösung von Streitfragen und Verzicht auf die Unterstützung jeweiliger Gegner13. Auf der Basis dieses Friedens-, Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages einigten sich die Partner 1521 auf ein ausgedehnteres militärisches Hilfs- und Soldbündnis. Das zeitlich befristete Bündnis regelte gegenseitige militärische und finanzielle Hilfeleistungen im Kriegsfall und öffnete den eidgenössischen Söldnermarkt für Frankreich. Es wurde 1549, 1564 und 1582 erneuert, allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Denn die vor allem in Zürich, das schon 1521 dem Bündnis ferngeblieben war, vorhandenen moralischen Zweifel am „Soldatenhandel“ verstärkten sich durch die reformatorische Kritik eines Zwingli zusätzlich und verleiteten auch Bern dazu, ein Jahr nach seiner Wende zur Reformation aus der Allianz auszutreten (1529). Während Bern angesichts der Feindseligkeiten mit dem Herzog von Savoyen bereits 1582 wieder zurückkehrte, trat Zürich erst 1614 dem 1602 nochmals erneuerten und abgeänderten Bündnis bei14. Die Zahlungsmodalitäten für die notorisch rückständigen Pensionsgelder wurden neu 12

Alain DUBOIS, Art. Frankreich, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 652–654 (auch online unter www.hls.ch). Die Vertragstexte finden sich in den entsprechenden Bänden der sogenannten EA: Amtliche Sammlung der älteren eidgenössischen Abschiede [1245–1798], 8 Bde. in 22 Teilen, hrsg. auf Anordnung der Bundesbehörden von Bundesarchivar Jakob Kaiser u. a., versch. Bearbeiter, versch. Erscheinungsorte 1856– 1886. 13 André HOLENSTEIN, Art. Ewiger Friede, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 652–654, hier: S. 353 (auch online unter www.hls.ch). 14 LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XVI–XVIII; DUBOIS, Art. Frankreich (wie Anm. 12), S. 654.

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geregelt und die Geltungsdauer deutlich verlängert auf die Lebenszeit des Königs, des Dauphins und weitere acht Jahre. Frankreich erhielt den Zugang zu den Alpenpässen einschließlich der bündnerischen15. Nun waren Frankreich und die Eidgenossenschaft seit 1601 direkte Nachbarn geworden, da das Pays de Gex um Genf aus savoyischer unter französische Herrschaft kam. Die während der Religionskriege des 16. Jahrhunderts schwierigen Beziehungen – Zahlungen blieben aus, die rivalisierenden Parteien in Frankreich beanspruchten die legitime Vertretung des Königreichs für sich16 – wurden erst unter Henrich IV. intensiviert, kühlten sich aber während des Dreißigjährigen Krieges wieder merklich ab. Doch verdankten die Eidgenossen an dessen Ende der französischen Diplomatie, dass jene Exemtion der Eidgenossenschaft vom Reich vertraglich festgehalten wurde, die später als Beweis für ihre völkerrechtliche Souveränität interpretiert werden konnte17. Mit dem elsässischen Sundgau, dem „Brotkasten“18 der Schweiz, war ein ehemals habsburgisches Gebiet zur französischen Krone gekommen. Gleichzeitig wurden 3000 Schweizer Söldner in Frankreich ohne Sold und Abschied entlassen. Die Erneuerung der 1651 auslaufenden Soldallianz gestaltete sich daher und auch aufgrund innereidgenössischer Konflikte wie dem Bauernkrieg 1653 und dem konfessionellen Bürgerkrieg mit der Schlacht bei Villmergen 1656 schwierig und konnte erst 1663 realisiert werden. Die Eidgenossen erhielten zwar erneute Zusicherungen betreffend ausstehender Soldzahlungen und gefährdeter Handelsprivilegien, doch mussten sie gleichzeitig auf ihre Schutzmachtfunktion gegenüber der (habsburgischspanischen) Freigrafschaft Burgund verzichten und dafür das Elsass verteidigen. Nach der pompösen Allianzbeschwörung in Paris 1663, die auch eine diplomatische Demütigung der Eidgenossen darstellte19, hielt sich der französische König nicht an seine Versprechungen. Die Zahlungen blieben weiterhin aus, die Handelsprivilegien wurden nicht garantiert, die Freigrafschaft Burgund ebenso erobert (1668/1674) wie das elsässische Straßburg (1681), mit dem die Orte Zürich und Bern seit 1588 in einem Burgrecht standen. Die 15

Zu diesem strategischen Grundinteresse der europäischen Mächte an der Schweiz siehe LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. X f. 16 Die Einzelheiten in der stupenden Materialzusammenstellung von Edouard ROTT, Histoire de la représentation diplomatique de la France auprès des cantons Suisses, de leurs alliés et de leurs confédérés, 10 Bde., Bern 1900–1935. Vgl. WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil I, Kapitel 1.1.3. 17 Thomas MAISSEN, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, Göttingen 2006, S. 187–198; vgl. Claudius SIEBERLEHMANN, Die Eidgenossenschaft und das Reich (14.–16. Jahrhundert), in: 1648. Die Schweiz und Europa. Aussenpolitik zur Zeit des Westfälischen Friedens, hrsg. von Marco Jorio, Zürich 1999, S. 25–40, hier: S. 30 f. 18 Zit. bei LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. LXXI. 19 MAISSEN, Geburt (wie Anm. 17), S. 230–242.

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gemeinsame Grenze der Eidgenossen zu Frankreich wurde immer länger20. Die Revokation des Toleranzedikts von Nantes 1685 reizte die reformierten Orte zusätzlich21. Diese Irritation nutzten die protestantische Mächte Niederlande, Großbritannien und auch Preußen, um sich ebenfalls Zugang zum eidgenössischen Söldnermarkt, oder zumindest zu dessen reformiertem Teil, zu verschaffen22. Die Entfremdung der reformierten Orte von Frankreich spitzte sich zu im Streit um die Neuenburger Sukzession, in der vor allem Bern die preußischen Ansprüche gegen jene der Bourbonen unterstützte. Daher überrascht es nicht, dass die Erneuerung der Allianz von 1663 scheiterte. Lediglich ein Separatbündnis mit den katholischen Orten kam 1715 zu Stande. Spannungen mit Frankreich betrafen aber auch katholische Orte, in denen es aus Unzufriedenheit über die Bedingungen des Soldgeschäftes zu antifranzösischen Unruhen kam (Zug 1728-1734; Schwyz 1764). Erst das warnende Exempel der ersten Teilung Polens 1772 führte den konfessionellen Blöcken in der Eidgenossenschaft vor Augen, dass es sicherer sei, gemeinsam einen starken Verbündeten unter den europäischen Mächten zu suchen. Und so wurde die alte Soldallianz 1777 nochmals erneuert23. Der auf fünfzig Jahre ausgelegte Vertrag wurde durch die Französische Revolution obsolet. Die Entlassung der eidgenössischen Söldner in der Folge des Tuileriensturms 1792 belastete die Beziehungen ebenso wie die zahlreichen französischen Emigrés, die von der Schweiz aus die Konterrevolution betrieben. Weil aber die französische Armee viele Güter über die Schweiz beziehen konnte, blieb der Gesandte der französischen Republik bis 1797 in Solothurn präsent. Kaum hatte er sich zurückgezogen, erfolgte im Frühjahr 1798 die französische Invasion, die der Alten Eidgenossenschaft ein definitives Ende setzte. Nun bestimmten französische Interessen nicht nur die Helvetische Verfassung, sondern auch das im August 1798 diktierte Angriffs- und Verteidigungsbündnis, das die Schweiz 1799 zum Kriegsschauplatz und bis 1814/15 zum französischen Satelliten werden ließ24, bevor der Wiener Kongress die neu erstandene Schweizerische Eidgenossenschaft für die „immerwährende Neutralität“ bestimmte25. 20

Vgl. die Karten bei Philippe GERN, Art. Frankreich, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 652 f. Vgl. auch LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XLII–XLVI. 22 Vgl. Thomas MAISSEN, Petrus Valkeniers republikanische Sendung. Die niederländische Prägung des neuzeitlichen schweizerischen Staatsverständnisses, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 48 (1998), S. 149–176; erste befristete Kapitulationen entstanden mit den Niederlanden 1676, mit England 1690, Paul DE VALLIÈRE, Art. Kapitulation, in: Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Neuchâtel 1927, S. 448, 450. 23 GERN, Art. Frankreich (wie Anm. 20), S. 652 f. 24 GERN, Art. Frankreich (wie Anm. 20), S. 658–659. 25 Alois RIKLIN, Art. Neutralität, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 209–214, hier S. 210 (auch online www.hls.ch). 21

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) 2. Politisch-militärische Aspekte

Zum Ruhm der Schweizer Söldner in Europa trug die Einrichtung der sogenannten Hundertschweizer bei. Dieser Gardetruppe von Eidgenossen vertraute der französische König 1497 die Bewachung seiner Person und des königliches Siegels an. Sie war die erste ständige eidgenössische Einheit in Frankreich und wurde zum Vorbild der Schweizer Garde des Papstes sowie ähnlicher Verbände an europäischen Höfen. Bis etwa 1670 wurden die großen Söldnerkontingente für einzelne Kriegszüge temporär angeworben und danach wieder entlassen. Seit 1671 entstanden permanente Regimenter, die dem neuen stehenden Heer dauerhaft dienen konnten. Geführt wurden sie von eidgenössischen Offizieren aus den bekannten Militärunternehmerfamilien26. In den Kapitulationen genannten Soldverträgen wurde im Einzelnen geregelt, dass die Schweizer Söldner weiterhin eidgenössischem Recht unterstanden und nur von Landsleuten befehligt werden durften. Zudem konnten die Soldtruppen, falls die Eidgenossenschaft militärisch angegriffen würde, unverzüglich zurückgerufen werden. Solche offiziell organisierten Soldverträge existierten außer mit Frankreich auch mit Spanien, Savoyen bzw. SardinienPiemont, Venedig, Genua und seit dem späten 17. Jahrhundert auch mit den Niederlanden, Großbritannien und Österreich. Offiziell nicht gedeckte, aber stillschweigend tolerierte „unkapitulierte“ oder nicht-avouierte Söldnerlieferungen gingen an Schweden, Modena, Neapel, Sachsen, Bayern, Preußen27. Der Vorteil dieser Diversifizierung der Abnehmer bestand in der Zunahme und Verstetigung der Nachfrage. Der Nachteil aber darin, dass sich eidgenössische Söldner auf europäischen Schlachtfeldern gegenüber stehen konnten. Dies wurde zwar zu umgehen versucht, kam aber vom 16. Jahrhundert (Arques 1589 und Ivry 1590 in Nordfrankreich) bis ins 18. Jahrhundert vor, wo 1709 in einer Entscheidungsschlacht des Spanischen Erbfolgekriegs bei Malplaquet in Nordfrankreich insgesamt 8 000 eidgenössische Söldner im Kampf gegeneinander fielen28. Erst die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und das Ende der Schweizer Garde im Tuileriensturm 1792 beendeten die Solddienste der Eidgenossen für den französischen König. In Napoleons Armeen kämpften sie dann unter völlig anderen Bedingungen29. 26

Hermann ROMER, Art. Militärunternehmer, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 8, Basel 2009, S. 589–591. 27 Philippe HENRY, Art. Fremde Dienste, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 789–796, hier: S. 792; Hans Conrad PEYER, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 81. Zu den preußischen Diensten vgl. Rudolf GUGGER, Preußische Werbungen in der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, Berlin 1997; eine Liste der Kapitulationen bei DE VALLIÈRE, Art. Kapitulationen (wie Anm. 22), S. 445–451. 28 LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XVII; Hervé DE WECK, Art. Malplaquet, in: Historisches Lexikon der Schweiz, elektronische Version, www.hls.ch (1.11.2010). 29 HENRY, Dienste (wie Anm. 27), S. 791–793.

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Die Zahlungsmoral der französischen Krone war äußerst schwankend. War sie in Bedrängnis, wie etwa während der Religionskriege der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, so blieben die Zahlungen jahre-, wenn nicht jahrzehntelang aus oder wurden nur teilweise und unvollständig geleistet. Im Vorfeld der Allianzerneuerung von 1777 verhandelten die Eidgenossen mit der französischen Krone ebenso über die Zahlung von jährlichen Pensionen, die bis zu dreißig Jahre lang im Rückstand waren, wie über die Rückzahlung von Krediten, die im 16. Jahrhundert gewährt worden waren30. Und so bildeten Klagen über den Zahlungsverzug des französischen Königs ein Dauerthema an den Tagsatzungen der Eidgenossen seit dem 16. Jahrhundert. Zwar hielt die französische Diplomatie die geschuldeten Gelder manchmal auch bewusst zurück, um dadurch die eidgenössischen Gläubiger an sich zu binden, doch diese Taktik war gefährlich. Denn 1587 gelang es der mailändischspanischen Partei, die katholischen Orte für ein Soldbündnis zu gewinnen und sie damit teilweise von Frankreich wegzuziehen31. Da die spanische Zahlungsmoral auf Dauer nicht besser war, erreichte Heinrich IV. mit großzügigen Zuwendungen 1602 trotzdem die Erneuerung der französischen Allianz mit allen Orten, sogar Zürich trat ihr 1614 erstmals bei. Nicht nur mit den angehäuften Schulden, sondern auch mit der Konfessionspolitik Ludwigs XIV. hing die zweite große Krise der eidgenössisch-französischen Beziehungen am Ende des 17. Jahrhunderts zusammen. Die Eroberung der Freigrafschaft Burgund 1674 und die Ausweisung der Hugenotten 1685 führten zum Frontenwechsel der reformierten Orte, die sich dezidiert von Frankreich ab- und den protestantischen Mächten England und Niederlande zuwandten, die nicht zuletzt dank ihrer besseren Zahlungsmoral attraktiver erschienen32. Jedoch bildete die Allianz trotz dieser Krisen und Einschränkungen ein konstantes und stabilisierendes Element nicht nur für die Beziehungen zwischen den beiden ungleichen Partnern, sondern auch für die Stabilisierung der in sich sehr heterogenen Eidgenossenschaft. Aufgrund des Friedens und der Allianz wurden nämlich Konflikte von gemeinsam bestellten Schiedsgerichten bereinigt – eine Praxis, die sich im 16. Jahrhundert institutionalisiert hatte. Im 17. und 18. Jahrhundert dagegen verlagerte sich die Konfliktlösung wieder auf die diplomatische Ebene33.

30

Dazu ausführlich: Philippe GERN, Aspects des relations franco-suisses au temps de Louis XVI. Diplomatie, économie, finances, Neuchâtel 1970, S. 174–180. 31 Dazu exemplarisch BOLZERN, Spanien (wie Anm. 9). 32 LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XXV–XXVII; MAISSEN, Valkenier (wie Anm. 22); Christian WINDLER, „Ohne Geld keine Schweizer“: Pensionen und Söldnerrekrutierung auf den eidgenössischen Patronagemärkten, in: Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, hrsg. von Hillard von Thiessen und Christian Windler, Berlin 2005, S. 105–133. 33 WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kapitel 1.2.3.

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Für die Eidgenossenschaft, die nach 1536 nicht mehr außerhalb ihres Territoriums Krieg führte, bot das Söldnergeschäft auch den nicht zu unterschätzenden Vorteil, trotz ihrer Existenz als Friedensinsel in Europa über zahlreiche, gut ausgebildete und kampferfahrene Offiziere und Soldaten zu verfügen, ohne dafür selbst die Kosten zu tragen. Man kann von einem vom Ausland finanzierten und – im Ausland – stehenden Heer sprechen. 3. Diplomatische Verhandlungen Die Fremden Dienste und die damit verbundenen Geldflüsse schufen eine Vielzahl an Kontakten zwischen den beiderseitigen Akteuren, wovon die diplomatischen die sichtbarsten waren. Sichtbar wurde dabei auch die asymmetrische Beziehung der beiden Partner. Während der König die Eidgenossen mit einer veritablen ständigen Botschaft beehrte, verzichteten die Eidgenossen auf eine ebensolche in Paris oder Versailles. Dasselbe Muster galt übrigens auch für die Beziehungen zu Spanien-Mailand, zum Kaiser und zum Papst und war nicht außergewöhnlich, da diplomatische Vertretungen in der Frühen Neuzeit nicht zwingend reziprok gestaltet wurden34. Die Wertschätzung der Eidgenossenschaft durch die französische Diplomatie und Außenpolitik lässt sich daran ablesen, welche anderen Mächte Frankreich mit einer Ambassade – der ranghöchsten aller möglichen Vertretungen – beschickte. Nach dem Westfälischen Frieden unterhielt die französische Krone insgesamt zwölf diplomatische Vertretungen im Rang einer Ambassade. Außer in Solothurn für die Eidgenossenschaft auch in Rom, Venedig, Madrid, Lissabon, Turin, Wien, London, Stockholm, Den Haag, Neapel und Konstantinopel. Damit figurierte die Eidgenossenschaft in der französischen Diplomatie in der ersten Liga. Lediglich mit rangniedrigeren Envoyés oder Residenten wurden dagegen die Könige von Dänemark und Preußen, die deutschen Territorien, die italienischen Fürstentümer, der Reichstag zu Regensburg, die österreichischen Niederlande, Russland und seit 1783 die Vereinigten Staaten sowie zwei Zugewandte Orte der Eidgenossenschaft, Genf und Graubünden, bedacht. Die hochrangige Vertretung in der Eidgenossenschaft symbolisierte das große Gewicht, das Frankreich ihr beimaß. Das galt auch für die einzelnen französischen Diplomaten. Unter ihnen gab es solche, die gleich nach ihrer Station in Solothurn zu Spitzenämtern am königlichen Hof aufstiegen. Andere starteten von Solothurn aus eine beeindruckende Karriere, wieder andere beendeten eine solche in der Eidgenossenschaft35. 34

Matthew Smith ANDERSON, The Rise of Modern Diplomacy 1450–1919, London/New York 1993, S. 11. 35 Bernard BARBICHE, Les institutions de la monarchie française à l’époque moderne, Paris 1999, S. 234. Vgl. Paul SCHWEIZER, Einleitung, in: Correspondenz der Französischen

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Wichtigster Faktor der Institutionalisierung der Beziehungen war zweifellos die ständige französische Ambassade in der Eidgenossenschaft. Seit der Soldallianz von 1521 war faktisch permanent ein Vertreter der französischen Krone in der Eidgenossenschaft akkreditiert. Von 1530 bis 1797 residierte er in Solothurn. Dieser kleine eidgenössische Ort eignete sich besser als das an sich prädestinierte, weil zweisprachige Fribourg – wo auch der Ewige Friede 1516 und die Allianz 1521 geschlossen worden waren –, weil es an einer französischen Postroute und an der Außengrenze der Eidgenossenschaft lag, während Fribourg eine Enklave im Gebiet des 1528 reformiert gewordenen Kantons Bern bildete. Die permanente Präsenz des Ambassadeur füllte die Allianz mit Leben und machte sie zu einem tragenden Pfeiler der eidgenössischen Einheit. Denn so zerstritten die Kantone in konfessioneller, ökonomischer und bündnispolitischer Hinsicht auch waren, der Kontakt mit Frankreich war für alle eminent wichtig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ging es den reformierten Handelsorten Zürich, Basel und den Zugewandten St. Gallen und Genf vor allem um die Handelsprivilegien und – zumindest dem Klerus – um reformierte Solidarität mit den Hugenotten36, interessierten sich die Militärunternehmen vornehmlich aus den katholischen Orten, aber auch aus Bern, primär für die Fremden Dienste. Aber nur in ihrer Summe erreichten die kleinen Kantone der Eidgenossenschaft jene kritische Größe, die sie als Partner für Frankreich langfristig attraktiv erscheinen ließ. Die Eidgenossen ihrerseits begnügten sich mit – nicht einmal immer ständigen – informellen Agenten in Paris (und auch Mailand, Madrid und Rom), was das ungleiche Verhältnis der beiden Partner zum Ausdruck bringt. Die am häufigsten genannte Begründung für den Verzicht auf ständige Vertretungen argumentierte zwar mit den hohen Kosten, doch dürfte damit vor allem das Problem der mangelnden Einigkeit und der fehlenden ständischen Qualifikation der eidgenössischen Gesandten für das traditionell stark an höfische Konventionen angelehnte diplomatische Zeremoniell kaschiert worden sein. Jedenfalls werden hier Probleme des sozialen Status der bürgerlichen oder kleinadeligen eidgenössischen Aristokraten sichtbar, die sich im Verkehr mit dem oft (hoch-)adeligen diplomatischen Corps der europäischen Mächte zeigten37.

Gesandtschaft in der Schweiz 1664–1671, hrsg. von Paul Schweizer, Basel 1880, S. XXII, Anm. 1; Les affaires étrangères et le corps diplomatique français, Bd. 1: De l’Ancien Régime au Second Empire, hrsg. von Jean Baillou, Paris 1984, S. 274–275 (Karte). Zu den Karrieren der französischen Ambassadeurs in Solothurn vgl. WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kapitel 1.2.2. 36 Vgl. dazu LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XLI–XLVI; LAU, Stiefbrüder (wie Anm. 3), S. 197. 37 Andreas WÜRGLER, Verflechtung und Verfahren: Individuelle und kollektive Akteure in den Außenbeziehungen der Alten Eidgenossenschaft, in: Außenbeziehungen in

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Den zentralen Ort der Begegnung französischer (und anderer) Diplomaten mit den eidgenössischen Eliten bildeten die Tagsatzungen und Konferenzen. Diese Versammlungen von meist ein bis zwei Vertretern pro Kanton, manchmal ergänzt um Deputierte der Zugewandten Orte, traf sich mindestens einmal pro Jahr zur Kontrolle der Verwaltung der gemeinsam beherrschten Gebiete. Um diese Abrechnungen über die „Gemeinen Herrschaften“ herum lagerten sich viele andere Themen, welche die Mitglieder im Rahmen ihres eidgenössischen Bündnisgeflechts zu besprechen hatten. Solche Tagsatzungen, zu denen alle Mitglieder geladen wurden, sind seit dem 14. Jahrhundert sporadisch, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts regelmäßiger dokumentiert. Dann fanden von 1470 bis 1532 rund zwanzig Tagsatzungen pro Jahr statt, von 1532 bis 1712 noch rund vier und im 18. Jahrhundert noch etwa zwei Tagsatzungen pro Jahr. Der Rückgang der allgemeinen Tagsatzungen wurde teilweise kompensiert durch die Einrichtung neuer Versammlungstypen, wie etwa der Konferenzen, die ausschließlich zur Verwaltung der Gemeinen Herrschaften einberufen wurden, oder der im Gefolge der Glaubensspaltung entstandenen konfessionellen Konferenzen, zu denen nur die Vertreter katholischer oder nur die Vertreter reformierter Kantone geladen wurden38. Wie wichtig nun die diplomatischen Kontakte mit Frankreich und anderen Mächten waren, zeigt die Tatsache, dass von 1470 bis 1600 über ein Drittel aller an den Tagsatzungen behandelter Geschäfte Fragen der Außenbeziehungen betrafen. Somit können die Versuche der Eidgenossen, ihre Außenbeziehungen gemeinsam zu regeln als eine wesentliche Klammer des lockeren Bündnisses der oft uneinigen Partner gesehen werden39. Nicht nur für die Eidgenossen bildeten die Tagsatzungen eine zentrales Forum politischer Kommunikation, sondern auch für die Gesandten fremder Mächte. Wenn sie mit der Eidgenossenschaft in Kontakt treten wollten, so geschah dies an den Tagsatzungen, denn eine andere Anlaufstelle für die Eidgenossenschaft als Ganze gab es nicht. Die Eidgenossenschaft verfügte über keine permanenten Institutionen, denn auch der sogenannte Vorort (seit der Reformation Zürich) diente lediglich als Briefkasten und Organisationsbüro, hatte aber keine besonderen Kompetenzen. Die Tagsatzung war darüber hinaus der Treffpunkt für alle Diplomaten der europäischen Mächte. Sie pflegten auch dann an die Verakteurszentrierter Perspektive: Verflechtung – Gender – Interkulturalität, hrsg. von Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln [u. a.] 2010, S. 79–93, hier: S. 81. 38 Zu den Zahlen WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kapitel 2.1.2 39 Die Stichprobe umfasst die Jahre 1470, 1480, 1490, 1500, 1510, 1520, 1530, 1540, 1550, 1560, 1570, 1580, 1590 und 1600, vgl. WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kap. 2.2.3. Vgl. Andreas WÜRGLER, „The League of the Discordant Members“ or How the Old Swiss Confederation Operated and it Managed to Survive for so Long, in: The Republican Alternative. The Netherlands and Switzerland compared, hrsg. von André Holenstein [u. a.], Amsterdam 2008, S. 29–50, hier: S. 35–43. Für die Verfassungsgeschichte auch schon PEYER, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 27), S. 81–84.

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sammlungen, die von der Reformation bis ins frühe 18. Jahrhundert fast immer in Baden stattfanden, zu reisen, wenn sie kein aktuelles Anliegen hatten. Vielmehr ging es ihnen darum, am Nachrichtenfluss teilzuhaben, der sich bei solchen Treffen der politischen Elite der Eidgenossenschaft mit den Gesandten aus Frankreich, Spanien-Mailand, Österreich und oder dem Reich, Savoyen, Venedig und anderen mehr automatisch ergab. Es ging darum, die neuesten Informationen zu erhalten, die Schritte der Gegner zu beobachten und die Kontakte zu pflegen. Denn während der Tagsatzungen fanden sich nicht nur die offiziellen Delegierten der Kantone, die „Tagherren“, ein, sondern auch eine im Einzelnen schwer zu fassende Gruppe von Soldunternehmern und Kriegsmateriallieferanten, Salzhändlern und Textilkaufleuten, die auf Aufträge hofften oder auch nur am Informationsfluss partizipieren wollten. Insofern wurde die Tagsatzung während der Sitzungen und der Versammlungsort insgesamt vor und nach den Sitzungen für die Gesandten fremder Mächte ebenso zur Bühne zeremonieller, mitunter pompöser Auftritte wie zum Ort vertraulicher und geheimer Unterredungen40. Dabei konnten im Umfeld der Tagsatzungen und auch der konfessionellen Konferenzen, zumindest der katholischen, soziale Netzwerke aufgebaut und gepflegt, Geschäfte, Geldtransfers und Söldnerrekrutierungen eingefädelt werden. 4. Soziale und konfessionelle Verflechtungen Denn die beschriebenen offiziellen diplomatischen Kontakte bildeten nur die Spitze des Eisbergs zahlreicher informeller und doch auf die Diplomatie bezogener Beziehungen, die sich am Beispiel der Geldtransfers zwischen der französischen und der eidgenössischen Seite darstellen lassen. Mit dem Allianzvertrag von 1521 sicherte sich die französische Krone gegen die Bezahlung jährlicher sogenannter ordentlicher Pensionen an die beteiligten Kantone und Zugwandten Orte das Recht, eine bestimmte Anzahl Söldner gegen Bezahlung anzuwerben. Diese Soldzahlungen wurden in der Regel über die Tagsatzung abgewickelt. Die französischen Gelder wurden, wie Abbildungen aus dem 16. Jahrhundert zeigen und andere Quellen bestätigen, meist in Form von Münzen in großen Kisten auf dem Rücken von Maultieren, Eseln oder Pferden in die Schweiz transportiert und an der Tagsatzung

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WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kapitel 1; Teil 2, Kapitel 1 und 2. Ferner: Daniel SCHLÄPPI, „In allem übrigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissen“. Akteure in der eidgenössischen Außenpolitik des 17. Jahrhunderts. Strukturen, Ziele und Strategien am Beispiel der Familie Zurlauben von Zug, in: Der Geschichtsfreund 151 (1998), S. 5–90.

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aufgeteilt41. Der Geldtransfer ruhte somit auf einem ganzen Netz von Personen, die für die reale Übermittlung der Zahlungen tätig waren. Da die konkreten Bewilligungen zur Aushebung von Soldtruppen von der Politik abhängig waren, galt es aus Sicht der französischen Diplomatie, die Politiker entsprechend zu beeinflussen. Sie taten dies mit sogenannten „außerordentlichen“ Pensionen, die in der Historiographie oft als Bestechungsgelder bezeichnet wurden. Diese Zahlungen flossen ausschließlich an involvierte Ratsherren und Entscheidungsträger. Sie waren anfänglich geheime ad hoc-Zuwendungen. Je mehr sie sich perpetuierten und öffentlich bekannt wurden, desto stärker wurde deren Verteilung von eidgenössischer Seite politisch reglementiert. Begünstigte waren je nach politischem System des Ortes die Ratsherren (zum Beispiel in Luzern oder Basel) oder die ganze Landsgemeinde (z. B. Schwyz oder Zug)42. Schließlich existierten weitere Transferleistungen, die heimlich erbracht wurden und aus Geld, materiellen Geschenken (Silbergeschirr, Schmuck, Seidenstoffe u. ä.) oder immateriellen Diensten (Posten und Stellen, Empfehlungen, Orden und Titel) bestehen konnten43. Dieses Phänomen der Fremden Dienste ist ein Schlüsselelement der eidgenössischen Geschichte und des Verhältnisses zu europäischen Mächten. Ein Schlüsselelement ist das Söldnerwesen, weil einerseits durch den Verkauf von Lizenzen zur Rekrutierung von Söldnern große Geldsummen in die kantonalen Kassen sowie in die Taschen der Regierenden und der Soldunternehmer flossen, die beide aus den Familien der soziopolitischen Elite stammten. Bis an die 50 % der Staatseinnahmen in Geld konnten, so wurde für Appenzell errechnet, durch die Pensionen bestritten werden44. In einigen Stadtkantonen (Luzern, Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen) erreichten 41

Belege bei Andreas WÜRGLER, Boten und Gesandte an der eidgenössischen Tagsatzung. Diplomatische Praxis im Spätmittelalter, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hrsg. von Rainer C. Schwinges und Klaus Wriedt, Ostfildern 2003, S. 287–312, hier S. 306 f.; Martin H. KÖRNER, Solidarités financières suisses au XVIe siècle. Contribution à l’histoire monétaire, bancaire et financière des cantons suisses et des Etats voisins, Lausanne 1980, S. 366–368. Auf Pferderücken gelangten 1703 Kreditzahlungen aus der Eidgenossenschaft (Genf) an die französische Armee in Mailand, LÜTHY, Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 118, 123 f., 149. 42 Zu den Typen der Pensionen GERN, Aspects (wie Anm. 30), S. 74–80; Valentin GROEBNER, Art. Pensionen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 606 f. (auch online www.hls.ch); zu den Landsgemeindeorten SUTER, Korruption (wie Anm. 47). 43 LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. LXXII f.; WÜRGLER, Boten (wie Anm. 41), S. 303; WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 1, Kapitel 1.3.3. 44 Appenzell 1582/83: 28 %, 1595/96: 13 %; Appenzell Innerrhoden 1628/29: 49 %, Beat IMMENHAUSER und Barbara STUDER, Geld vor Glauben? Die Teilung Appenzells 1597 aus finanzgeschichtlicher Sicht, in: Appenzell und Oberschwaben. Begegnungen zweier Regionen in sieben Jahrhunderten, hrsg. von Peter Blickle und Peter Witschi, Konstanz 1997, S. 177–199, S. 191 (Diagramm).

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die Pensionen in den Jahren 1500–1520 eine Höhe, die rund 40 % der Staatsausgaben in Geld entsprach45, bis ins 17. Jahrhundert schwankten sie je nach Kanton und Periode (bzw. Zahlungsmoral der fremden Mächte) zwischen 10% und 50%46. Die Transferleistungen aus dem halboffiziellen und geheimen Bereich alimentierten langfristig eine Schicht von Ratsherren, Soldunternehmern, Salzhändlern und Pensionenausteilern. Die Konstanz dieser französischen Geldflüsse ermöglichte es dieser Schicht, von solchen Tätigkeiten dauerhaft zu leben. Da diese Funktionen oft in Personalunion ausgeübt wurden, könnte man auch sagen, dass die politische Funktionselite in der Eidgenossenschaft nicht – wie überall sonst in Europa – durch steuerliche Leistungen der Untertanen finanziert wurden, sondern durch die Fremden Dienste (wobei Frankreich zwar den Löwenanteil, aber keineswegs alle Kosten beisteuerte)47. Berühmte Familiendynastien – etwa die Zurlauben aus Zug, die Reding aus Schwyz – lebten von ihrer Zusammenarbeit mit Frankreich, andere hatten sich den Spaniern unentbehrlich gemacht48. Neuere Forschungen, die mit dem Patronage- und Klientelansatz arbeiten, verweisen auf die Normalität solcher Netzwerke und Ressourcentransfers und sehen darin primär epochenspezifische Formen von Dienstleistungen und ihrer Entschädigung49. Andere betonen eher, dass auch die Zeitgenossen 45

Martin H. KÖRNER, Der Einfluß der europäischen Kriege auf die Struktur der schweizerischen Finanzen im 16. Jahrhundert, in: Krieg, Militärausgaben und wirtschaftlicher Wandel. Akten des 7th International Economic History Congress Edinburgh 1978, hrsg. von Othmar Pickl, Graz 1980, S. 37–45, hier: S. 40–41. 46 Martin KÖRNER, The Swiss Confederation, in: The Rise of the Fiscal State in Europe, c. 1200–1815, hrsg. von Richard Bonney, Oxford 1999, S. 327–357, hier: S. 341 (Table 10.2), 347, 349 f. 47 Vgl. Valentin GROEBNER, Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000; WINDLER, Geld (wie Anm. 32), S. 105–133; Andreas SUTER, Korruption oder Patronage? Außenbeziehungen zwischen Frankreich und der Alten Eidgenossenschaft als Beispiel (16. bis 18. Jahrhundert), in: Zeitschrift für Historische Forschung 37 (2010), S. 187–218; WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 3, Kapitel 1.1.3. 48 Dazu SCHLÄPPI, Akteure (wie Anm. 40); Nathalie BÜSSER, Salpeter, Kupfer, Spitzeldienste und Stimmenkauf. Die kriegswirtschaftlichen Tätigkeiten des Zuger Militärunternehmers und Magistraten Beat Jakob II. Zurlauben um 1700 für Frankreich, in: Kriegswirtschaft und Wirtschaftskriege, hrsg. von Valentin Groebner [u. a.], Zürich 2008, S. 71–84. 49 GROEBNER, Geschenke (wie Anm. 47); WINDLER, Geld (wie Anm. 47); Christian WINDLER, „Allerchristlichste“ und „Katholische“ Könige. Verflechtung und dynastische Propaganda in kirchlichen Räumen (Katholische Orte der Eidgenossenschaft, spätes 16. bis frühes 18. Jahrhundert), in: Zeitschrift für Historische Forschung 33 (2006), S. 585–629. Vgl. schon Ulrich PFISTER, Politischer Klientelismus in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 42 (1992), S. 28–68. Zum Ansatz: Wolfgang REINHARD, Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979; Sharon KETTERING, Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth Century France, New York/Oxford 1986.

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diese Zahlungen, jedenfalls die heimlichen, verdeckten Zuwendungen, die sich einer politischen Kontrolle entzogen, als problematisch bewerteten. Dafür sprechen nicht nur die zahlreichen Versuche der politischen Gremien, solche Geldströme zu regeln, zu verbieten, zu steuern oder deklarationspflichtig zu machen50, sondern auch die zeitgenössische politische Sprache, die explizit von „Korruption“ spricht und diesen Begriff durchaus im heutigen, moralisch negativ wertenden Sinne verwendet51. Die Übergänge von akzeptierten Zahlungen zu diffamierten und teilweise kriminalisierten Bestechungen dürften fließend sein. Sie haben aber ganz sicher mit dem Grad der Transparenz solcher Vorgänge und damit zu tun, wie viele Personen von solchen Geldströmen profitierten und wie viele davon ausgeschlossen wurden. Eine von zahlreichen europäischen Diplomaten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert geäußerte Beobachtung geht dahin, dass es in der Eidgenossenschaft zwei Kulturen im Umgang mit heimlichen Zahlungen gebe, nämlich eine katholische und eine reformierte. In der in Diensten Kaiser Karls V. stehenden Mailänder Gesandtschaft kursierte schon in den 1540er Jahren ein Erfahrungsbericht, der unter anderem feststellte, die Reformierten würden geheime Zahlungen nicht annehmen, weil sie dafür, falls es bekannt werden sollte, streng bestraft würden. Die katholischen Eidgenossen dagegen würden offene und heimliche Zahlungen immer annehmen, solange man ihnen das Gefühl vermittle, alles werde ehrenvoll abgewickelt52. Am Ende des 17. Jahrhunderts bestätigt der französische Ambassadeur Baron de Saint Romain diese Feststellung mit seiner Charakterisierung eines typischen Zürcher Bürgermeisters: Er „benimmt sich auf allen Tagsatzungen, als Vorsitz[end]er derselben, sehr klug und mäßig, obgleich er für seine Person durchaus kein Jahrgeld oder Gnadengeschenk annehmen will“53. Neuere Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass etwa die burgundische Diplomatie durchaus Wege zu finden wusste, auch reformierte (Berner) Ratsherren von heimlichen Geschenken etwa in Form von verbilligten Salzlieferungen – „Salzpensionen“ – profitieren zu lassen, jedenfalls bis ins frühe 17. Jahrhundert54. Um 1700 dagegen war dies nicht mehr denkbar, und der Ambassadeur Puyzieulx unterstrich 1708 den Befund, dass es konfessionell getrennte Verhandlungskulturen gebe: 50

GROEBNER, Geschenke (wie Anm. 47); WÜRGLER, Verflechtung (wie Anm. 37). SUTER, Korruption (wie Anm. 47), S. 211–216. 52 [Anonymus], De costumi et ordini de gli Svizzeri [1525/49], in: Der Discorso de i Sguizzeri des Ascanio Marso von 1558. Mit verwandten Texten hrsg. von Leonhard Haas, Basel 1956, S. 11–27, hier: S. 14. 53 [Baron de SAINT ROMAIN], Des französischen Gesandten bei der Eidgenossenschaft, Baron von Saint Romain, Denkschrift über die Schweiz im Jahre 1676 (aus der französischen Handschrift übersetzt), in: Helvetia 1 (1823), S. 61–85, hier: S. 79. 54 WINDLER, Geld (wie Anm. 47), S. 126–130. 51

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Si les protestants de Suisse sont plus puissants en hommes et en terres que les catholiques, il est constant aussi qu’ils […] ont plus de règle et d’exactitude dans l’administration de leur gouvernement intérieur […]. Les catholiques, au contraire, sont plus foibles, sont moins appliqués au bien public“. Das liege daran, so Puyzieulx, dass „les principaux magistrats dans les villes [catholiques] songent presque uniquement à avancer leurs familles et à s’enrichir pendant qu’ils sont en crédit, et toute la substance de l’Etat, pour ainsi dire, entre dans la bourse d’un petit nombre de particuliers qui gouvernent55.

Trotzdem wirkte die Glaubensspaltung aber nicht nur trennend, sondern auch einigend56. So ähnlich die Diplomaten aus verschiedenen Ländern und Jahrhunderten die politische Kultur der eidgenössischen Kantone als ausgeprägt konfessionelle beschrieben, so wenig fehlten Beobachtungen, welche die verbindenden Elemente jenseits der Konfession betonten. Der eben zitierte Puyzieulx schließt seine Unterscheidung der Katholiken von den Reformierten mit der Feststellung: „mais cette différence de religion parmi les Suisses, cette animosité qui règne dans les deux partis opposés, ne les empêcheroient pas de se réunir dans un moment, si quelqu’un des Cantons étoit attaqué par une puissance étrangère: alors tous leurs intérêts deviendroient communs, et ils sont persuadés que leur liberté, dont le maintien […] dépend absolument de ces mutuels secours“57. 5. Ökonomische und kulturelle Interessen Schon der Ewige Friede bestätigte die bereits zuvor ausgehandelten ökonomischen Komponenten der französisch-eidgenössischen Kooperation. Die Zusicherung des freien Handels beruhte auf Gegenseitigkeit, an den Zoll- und Handelsprivilegien in Frankreich waren vor allem die eidgenössischen Kaufleute interessiert. Es ging dabei um den unbeschränkten Zugang zu den Lyoner Messen, der bis ins 18. Jahrhundert ein Hauptanliegen der Kaufmannaristokratien der Eidgenossenschaft blieb. Vor allem die Zürcher, St. Galler, aber auch Basler und Genfer Textilproduktion, aber später auch die Genfer und Neuenburger Uhrenfabrikanten und Buchdrucker waren am französischen Markt ebenso interessiert wie die Unternehmen, die im Zwischenhandel mit meist kriegswichtigen Gütern tätig waren. Im Gegenzug kamen Luxuswaren 55 Marquis de PUYZIEULX, Mémoire de l’ambassadeur sur la Suisse, 16 mars 1708, in: Les Suisses et le Marquis de Puyzieulx ambassadeur de Louis XIV (1698–1708). Documents inédits précédés d’une notice historique, hrsg. von Jean de Boislisle, Paris 1906, S. 21–63, hier: S. 27. 56 Die weiteren Argumente dazu bei WÜRGLER, League (wie Anm. 39). 57 PUYZIEULX, Mémoire 1708 (wie Anm. 55), S. 28. Vgl. dazu WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 3, Kapitel 1.4.3; WINDLER, Geld (wie Anm. 47).

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(Parfum, Seife), Modeartikel, Öle, Wolle, Getreide und vor allem Salz aus dem französischen Herrschaftsbereich58. Obwohl der eidgenössische Markt klein war, konnte er im Fall kriegerisch bedingter Blockaden für Frankreich strategische Bedeutung erlangen. So waren im Dreißigjährigen Krieg und in den französischen Expansionskriegen unter Ludwig XIV. Metallwaren (Kupfer, Eisendraht) ebenso begehrt wie Pferde und Vieh59. Und im Spanischen Erbfolgekrieg avancierte Genf als Zugewandter Ort der Eidgenossen nicht nur zum „dépôt centrale de la contrebande“60, auf dem sich vor allem Frankreich an den Handelsblockaden seiner Gegner vorbei mit knappen Rohstoffen und Produkten versorgen konnte61, sondern auch zur Drehscheibe für die französische Kriegsfinanzierung durch eidgenössische, niederländische und andere Handelshäuser bzw. Banken62. Für die Kriegsfinanzierung erwiesen sich die Eidgenossen über Jahrhunderte als verlässliche Gläubiger63. Ja, es war geradezu eine Taktik der französischen Seite, die Eidgenossen dadurch an sich zu binden, dass sie ihnen die Vergütung ausstehender Kredite und Zinsen zwar versprach, aber nie vollständig einlöste. Daher sah die französische Diplomatie mit Skepsis, wie sich die Schweizer Protoindustrie im 18. Jahrhundert kräftig entwickelte. Denn, so die Analyse aus dem französischen Außenministerium um 1765, wenn die Eidgenossen anfangen, Produkte, die sie bisher aus Frankreich bezogen, selber herzustellen, sinkt ihre Interesse an der Allianz: „Ce commerce, source de l’argent et des richesses, doit affoiblir le prix des pensions et autres fruicts que la Suisse a tiré de notre alliance“64. Die in Frankreich, vor allem in Lyon, ansässigen Schweizer Kaufleute nutzten die Handelsprivilegien für ausgedehnte Importe von schweizerischen und anderen Waren nach Frankreich. Auch viele der im stehenden Heer 58

LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. LXVIII–LXXII, LXXVIII. Herbert LÜTHY, Die Tätigkeit der Schweizer Kaufleute und Gewerbetreibenden in Frankreich unter Ludwig XIV. und der Regentschaft, Aarau 1943, S. 35–42 (Kupfer aus Österreich oder Ungarn im Zwischenhandel; Eisen aus Basler, später Solothurner, Bieler und Neuenburger Produktion); S. 42–46 (Pferde und Vieh aus Luzern, Solothurn und Freiburg, Käse aus Freiburg). 60 LÜTHY, Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 218. 61 BÜSSER, Salpeter (wie Anm. 48), S. 71–84. 62 LÜTHY, Tätigkeit (wie Anm. 59), S. 114 f. (besonders betätigte sich die Familie Fatio als Bankiers der französischen Diplomatie in der Eidgenossenschaft); S. 124–129 (die St. Galler Kaufmannsdynastie der Hoegger und ihre Niederlassung in Genf); S. 129 f. (die Familie Lullin, 1691 in Genf eingebürgerte Hugenotten, mit Niederlassungen in Genf, Lyon und Turin, entwickelte sich, wie andere Handelshäuser auch, durch Kriegsgeschäfte zur Bank); S. 147 (Genf wurde dank dem Spanischem Erbfolgekrieg zum Finanzplatz von internationaler Bedeutung). 63 KÖRNER, Solidarités (wie Anm. 41), S. 429 f.; vgl. GERN, Aspects (wie Anm. 30), S. 174–180; LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. XIV. 64 Zit. bei LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. LXXIX ; vgl. auch ebd., S. LXXXIII. 59

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Ludwigs XIV. dienenden Soldaten verbesserten während ihrer Wartezeiten in den Kasernen der Garnisonsstädte ihre vor allem im 18. Jahrhundert karger werdenden Lebensbedingungen durch die Nutzung von Privilegien, die ihnen als Eidgenossen zustanden: Sie konnten Waren zollfrei aus der Eidgenossenschaft einführen und weiterverkaufen, um auf diese Art den schmalen Sold aufzubessern, was natürlich zu Konflikten mit den lokalen Zünften und Krämern führte65. Seit 1496 waren in den Sold- und Allianzbündnissen auch Artikel enthalten, die über das Kommerziell-Militärische hinaus kulturelle Dimensionen aufwiesen. Zu den Leistungen des französischen Königs gehörten auch eine Anzahl Studienplätze für jeden der unterzeichnenden Kantone66. Auf diese Weise wurde ein konstanter Fluss von Schweizer Studenten an französische Universitäten (Paris und andere) wenn nicht inauguriert, so doch gefördert und verstetigt. Alle Schweizer Offiziere und Soldaten, die in Frankreich dienten, kamen mit der französischen Sprache und Kultur in Kontakt. Gerade die Offiziere brachten nicht wenig davon zurück in die Eidgenossenschaft. Wer in der Eidgenossenschaft zur politischen Elite gehören wollte, war in der Frühen Neuzeit mindestens zweisprachig, konnte neben Deutsch auch Französisch (und/oder Italienisch, zum Teil auch Spanisch)67. Das lag aber nicht an der heute bestehenden, in der Verfassung verankerten Vielsprachigkeit der Schweiz. Zwar wurden auch in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft viele – die Rede ist von vierzig68 – Sprachen gesprochen. Für die Kommunikation unter sich – etwa an den Tagsatzungen und Konferenzen oder in den offiziellen Korrespondenzen – verwendeten die Eidgenossen aber nur die deutsche Sprache. Die – wohl meistens pragmatische, nicht perfekte – Mehrsprachigkeit der Elite verweist vielmehr auf die prominente Bedeutung der Außenkontakte für politische Karrieren in den eidgenössischen Kantonen. Diese Bedeutung war nicht zuletzt pekuniär begründet69 und hatte sich längst etabliert, als der europäische Adel und die europäischen Aristokratien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen, auch im privaten und familiären Rahmen „à la mode“, das heißt Französisch zu sprechen. Wenn die eidgenössischen Eliten im späten 17. Jahrhundert wie ganz Europa die Modetrends aus Versailles – Perücke, französische Sprache und anderes mehr – mitmachten, so baute diese Nähe zur französischen Leitkultur auf eine lange Tradition seit den Pagendiensten Berner Kleinadeliger am 65

Hanna SONKAJÄRVI, Qu’est-ce qu’un étranger? Frontières et identifications à Strasbourg (1681–1789), Strasbourg 2008, S. 146–153. 66 LIVET, Introduction (wie Anm. 10), S. LXVII f.; GERN, Aspects (wie Anm. 30), S. 165. 67 WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Teil 2, Kapitel 1.2.3. 68 Norbert FURRER, Die vierzigsprachige Schweiz. Sprachkontakte und Mehrsprachigkeit in der vorindustriellen Gesellschaft (15.–19. Jahrhundert), 2 Bde., Zürich 2004. 69 Dazu WÜRGLER, Tagsatzung (wie Anm. 11), Einleitung, Kapitel 1 und Teil 2, Kapitel 1.2.3.

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französischen Hof des 15. Jahrhunderts, die immer wieder durch persönliche Beziehungen erneuert und vertieft wurde. In den katholischen Orten betätigten sich etwa der französische Botschafter im Namen des „Allerchristlichsten Königs“ als wohltätiger Stifter für Sakralkunst und rivalisierte hierin mit dem Gesandten des „Katholischen Königs“ von Spanien70. Besonders in der solothurnischen Residenz des Ambassadeur entfaltete Frankreich eine demonstrative Spendetätigkeit, die sich nicht auf Sakralkunst beschränkte, sondern auch in aufwändigen Feuerwerken bei der Geburt königlicher Familienmitglieder, bei Regierungsjubiläen oder Schlachtensiegen weithin sichtbar wurde. Die französische Botschaft sollte eben auch französische Kultur in die Schweiz bringen71. Weil sich generöse Spenden in Form von Kirchenausstattungen bei den protestantischen Orten nicht anboten, hatten Geschenke hier andere Formen, aber nicht weniger Wirkungen. Eine Kopie des berühmten Porträts Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud erhielt etwa der Berner Schultheiß Hieronymus von Erlach im frühen 18. Jahrhundert, worauf die Berner Porträtmaler sich bei künftigen Porträts zum Beispiel der siegreichen Generäle von 1712 an Bildausschnitt, Ausstattung und Rahmung der Tafeln am Versailler Vorbild orientierten72. Sogar im frankreichfeindlichen Zürich ließ sich der Soldunternehmer Lochmann um 1600 den Prunksaal seines Landhauses mit 54 Porträts französischer Könige ausmalen73. 6. Symbiose ungleicher Partner Die Symbiose der ungleichen Partner lebte davon, dass beide profitierten. Diese „Win-Win-Situation“ kann für das Verhältnis zwischen der französischen Krone und den Kantonen der Eidgenossenschaft wie folgt bilanziert werden. Der militärische Akzent des Verhältnisses, der sich vom Anfang bis zum Ende wenn auch mit abnehmender Bedeutung durchzog, bestand darin, dass das französische Königreich, das vor allem unter Ludwig XIV. nach der Vorherrschaft in Europa strebte, kooperierte mit einer Eidgenossenschaft, die seit ihrer Niederlage gegen Frankreich in Norditalien 1515 keine außenpolitischen Ambitionen mehr hegte. Gerade deshalb konnte sie ihr militärisches Potential an Frankreich vermieten. Der Ruf als ebenso tapfere wie treue Krieger, den die Eidgenossen in den Burgunderkriegen und in den italieni70

WINDLER, Könige (wie Anm. 49). Vgl. auch LAU, Stiefbrüder (wie Anm. 3), S. 176–193. 72 Peter JEZLER und Peter MARTIG, Von Krieg und Frieden. Bern und die Eidgenossen bis 1800, Bern 2003, S. 46 f., 54 f. 73 Eine Abbildung bei ROMER, Art. Militärunternehmer (wie Anm. 26), S. 590. 71

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schen Kriegen aufgebaut hatten, machten die Söldner für Frankreich zusätzlich attraktiv. Indem Frankreich das eidgenössische Söldnerpotential weitgehend an sich binden konnte, standen diese Soldaten den Feinden Frankreichs nicht zur Verfügung. Seit direkte Grenzen zwischen den Ländern existierten (1601) und bedeutend länger wurden (1648, 1674/78), bot die Allianz mit den Eidgenossen eine willkommene Grenzsicherung. Ebenfalls von strategischem Interesse war die Eidgenossenschaft als Hüterin zahlreicher Alpenpässe im Nord-Süd-Verkehr. Der Zugang zu diesen Pässen konnte für Frankreich selber von eminentem Nutzen sein, wie etwa während der Italienischen Kriege an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, im Spanischen Erbfolgekrieg und wieder in den Koalitionskriegen seit den 1790er Jahren. Wenn Frankreich die Pässe nicht direkt für sich nutzen konnte, so war es daran interessiert, seinen Gegnern den Durchgang zu versperren. Insofern war das Bündnis der katholischen Orte mit Spanien 1587 eine herbe Niederlage, denn es öffnete spanischen Truppen den camino de Suizos von Mailand nach den Niederlanden. Die Söldner und die Pässe waren das Kapital der Eidgenossen. Vom Soldatenhandel etwa profitierten sie auf mehreren Ebenen. Einerseits bot er den Söldnern – Soldaten wie Offizieren – Arbeit und Einkommen. Dann ernährte er, wie gezeigt, auch die politische Elite dank der vielfältigen Pensionen. Schließlich füllte er auch die Staatskassen der eidgenössischen Orte, die als einzige im Europa des 18. Jahrhunderts ansehnliche Überschüsse erwirtschafteten. Militärisch bot der Fremde Dienst in Frankreich (und bei anderen Mächten) den Vorteil, dass die Eidgenossenschaft über eine beträchtliche Zahl an kriegserfahrenen Offizieren und Soldaten verfügte, ohne selber – oder gar auf eigenem Territorium – Krieg führen zu müssen. Dank der Rückrufklausel kann man zugespitzt formulieren: die Eidgenossen hatten eine stehende Armee, die von Frankreich (und anderen europäischen Mächten) finanziert wurde. Deshalb mussten die Eidgenossen keine (direkten) Steuern zahlen. Auf diplomatischer Ebene brachte die Allianz den Eidgenossen den Einschluss in europäische Friedensverträge, auch ohne dass sie an den vorangegangenen Kriegen selbst teilgenommen hatten. Durch solche Einschlüsse entstand in Europa die Vorstellung von der Existenz und dem Umfang der Eidgenossenschaft. Es bereitete ihren Status als völkerrechtliches Subjekt vor, den sie erst im Westfälischen Frieden erlangte, indem sie vom Reich als exemt anerkannt wurde. Dies war dank französischer Unterstützung gelungen und konnte danach mit französischer Hilfe als veritable „Souveränität“ ausgelegt werden. Für diesen Prozess war die an Konflikten unbeteiligte Haltung der Eidgenossen, die zuerst „stille sitzen“ und später „Neutralität“ hieß, durchaus förderlich. Sie etablierte damit eine Pufferzone im jahrhundertlangen Konflikt zwischen Habsburg und den Valois bzw. den Bourbonen. Die unentschiedene Haltung der Eidgenossen resultierte nicht nur aus ihrer struk-

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turellen Unfähigkeit, auf eigene Faust in Europa Kriege führen zu können, sondern auch aus der konfessionellen Spaltung. Vor allem im Dreißigjährigen Krieg waren die beiden Konfessionsparteien kurz davor, auf der Seite ihrer Glaubensgenossen in das Geschehen einzugreifen. Doch letztlich bildete die eidgenössische Friedensperspektive die stärkere Klammer als die konfessionsspezifischen und mit dem Kriegsrisiko verbundenen Optionen. Diese konfessionsübergreifende Einigkeit zu bewahren war ein permanentes Ziel der französischen Außenpolitik in der Eidgenossenschaft. Denn sie versuchte immer, das Alleinstellungsmerkmal des überkonfessionellen Bündnisses mit Frankreich gegenüber den konfessionellen Soldbündnissen mit Spanien hervorzuheben, um sich den schweizerischen Söldnermarkt nicht mit anderen teilen zu müssen. Umgekehrt konnten selbst reformierte Eidgenossen in der Zusammenarbeit mit einer katholischen Krone einen Sinn sehen, weil sie dadurch die reformierten Hugenotten in Frankreich besser stützen zu können glaubten74. Neben dem Soldgeschäft interessierten sich die Eidgenossen für die Allianz mit Frankreich, weil sie Handelsprivilegien und Steuerbefreiungen für Eidgenossen in Frankreich vorsahen. Dadurch ergaben sich für verschiedene Produktionszweige interessante Export- oder Zwischenhandelsoptionen. Dies gilt für das Ostschweizer Leinwandgewerbe ebenso wie für die Genfer und Neuenburger Uhrenmanufakturen, Zeug- und Buchdruckereien, für den Freiburger oder Emmentaler Käse und das Innerschweizer Vieh sowie für die Pferde und die Metalle (Eisen, Kupfer) aus eigener Förderung (Basel) oder aus dem Transithandel mit Österreich und Ungarn. Für die französische Seite wiederum bot die neutrale Eidgenossenschaft die Möglichkeit, kriegsbedingte Handelsblockaden zu umgehen. Dies galt nicht nur für Waren, sondern auch für Kredite. Die eidgenössischen Eliten investierten seit dem 16. Jahrhundert bedeutende Summen in die französische Krone, sei es als explizite Darlehen, sei es in Form ausstehender Sold- und Pensionsschulden der Krone. Die vielfältigen ökonomischen Interessen der Eidgenossen an Frankreich und das Ziel des französischen Königs, die ganze Eidgenossenschaft als Rekrutierungsfeld nutzen zu können, ergaben zusammen die einheitsstiftende Wirkung der Allianz. Diese Wirkung war mehr als nur französische Propaganda, wie etwa die Vermittlungsversuche des Königs bei innereidgenössischen Konflikten deutlich machten. Trotzdem zeitigte die Allianz auch spaltende Effekte. Denn in den meisten Kantonen war die Elite zweigeteilt in eine profranzösische und eine antifranzösische – je nach Ort und Epoche promailändische, prospanische, prokaiserliche, proösterreichische, provenezianische, protoskanische, propäpstliche, prosavoyische – Faktion. Die Pensionen als direkte Folge der Außenbeziehungen gaben auch des Öfteren An74

Vgl. KÖRNER, Solidarités (wie Anm. 41), S. 397.

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lass zu schwerwiegenden sozialen Konflikten wie etwa den Pensionenunruhen in Bern, Solothurn, Luzern und Zürich in den Jahren 1513–1516, zur Absetzung des Bürgermeisters in Basel 1521, zu den Landsgemeindekonflikten in Schwyz 1677–1679 und 1763–1765 sowie in Zug 1728–36 oder zu den „Allianzunruhen“ in der Stadt Zürich 1777. Insofern wirkte die französische Allianz nicht nur (außenpolitisch) einigend, sondern auch (innenpolitisch) spaltend. Die französisch-eidgenössisch Allianz hielt nicht zuletzt so lange, weil die Beziehungen mehrdimensional – militärisch, strategisch, ökonomisch, sozial, konfessionell und kulturell – waren und weil sie in ständigen, oft genug schwierigen und zähen Verhandlungen und Kommunikationsprozessen zwischen den französischen Diplomaten und den eidgenössischen Politikern und Kaufleuten immer wieder neu ausgehandelt werden mussten und realisiert werden konnten.

Bündnissysteme um 1600 – Verflechtungen – Ziele – Strukturen Von

Heinhard Steiger Durch die Pluralisierung der politischen Welt im Zeichen der werdenden Souveränität der Herrscher, später der Staaten, und den Zerfall der religiösen Einheit der politischen Mächte im Zuge der Reformation hatte sich selbst der Schein einer hierarchischen Ordnung der respublica christiana aufgelöst1. Eine neue Ordnung musste für sie gefunden werden2. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen sich dauerhafte rechtlich formierte Verbindungen politischer Mächte, d. h. von Herrschern bzw. Staaten zu bilden, die die europäische Ordnung bis weit in das 17. Jahrhundert hinein, wenn auch mit gewissen Wandlungen, strukturell prägten: Das habsburgisch bestimmte und das antihabsburgisch ausgerichtete Bündnissystem. Der Berliner Historiker Heinz Schilling bringt ihre Entstehung außer mit der „gesteigerten Staaten- und Handelskonkurrenz“ in engen Zusammenhang mit der Konfessionalisierung auch des internationalen Systems um 16003. Ich bin der Frage, wieweit die Bündnisverträge um 1600 religiös-konfessionelle Ziele, Zwecke und Regelungen zum Gegenstand haben, in einer allgemeineren Untersuchung zu Religion und Frieden in dieser Zeit nachgegangen4. Im 1 Noch 1521 hatten sich Karl V. und Leo X. in der Präambel ihres Bündnisvertrages als „veros et primarios Principes Christanitatis“, bezeichnet, denen „gubernatio et administratio totius Reipublicae Christianae“ und die „Sicherung „pacis universalis“ obliege, Vertrag v. 8. Mai 1521, Corps Universel diplomatique du Droit des Gens etc., hrsg. von Jean Dumont, Bd. IV, Supplement, Amsterdam/Brunel 1728, S. 96. 2 Heinz SCHILLING, Konfessionalisierung und Staatsinteressen 1559–1660, Paderborn [u. a.] 2007, S. 385. 3 SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 395 ff. Bereits DERS., Formung und Gestaltung des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: DERS., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hrsg. von Luise Schorn-Schütte [u. a.], Berlin 2002, S. 588–617, S. 605 ff. 4 Heinhard STEIGER, Frieden und Religion in der Völkerrechtspraxis um 1600 oder die Geburt des europäischen Völkerrechts, in: Völkerrecht und Außenpolitik von Schweden und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Christoph Schmelz, Hamburg 2011 (im Druck); Kein politischer Frieden ohne Religionsfrieden, kein Religionsfrieden ohne Rechtsfrieden – Das Modell des Westfälischen Friedens, in: Frieden – Einsichten für das 21. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Richard Reuter, Münster 2009, S. 43–83.

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Folgenden werde ich mich in allgemeiner Hinsicht mit der rechtlichen Formierung der Bündnissysteme durch die Bündnisverträge, ihren Zielen und Zwecken beschäftigen. Ich konzentriere mich auf Bündnisse, die im Hinblick auf Konflikte zwischen den europäischen Mächten geschlossen wurden. Daher werden die antitürkischen Bündnisse nicht einbezogen. Die Regelungen über die einzelnen gegenseitigen Verpflichtungen, insbesondere zum gegenseitigen Beistand, werden aus Raumgründen nicht dargestellt. Der Zeitraum „um 1600“ umfasst die Zeit zwischen dem Ende der Kaiserherrschaft Karls V. bis zum Westfälischen Frieden. Die Grundlinien bildeten sich vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Danach wurden sie den Erfordernisse des Krieges angepasst. Die Formierung der Bündnissysteme I. Das habsburgische Bündnissystem a. Casa de Austria Innerhalb der Domus Austriae bestimmten die dynastische Solidarität und die gemeinsame Konfession die Beziehungen, wenn auch beide Zweige rechtlich völlig unabhängig voneinander waren5. Erst nach dem Kriegseintritt Gustav Adolfs wurde 1632 zwischen den beiden Zweigen des Hauses Habsburg ein Bündnisvertrag geschlossen. Bis dahin gab es lediglich dynastische Hausverträge von 1551 und 1617. Dieser, der sogenannte Oñate-Vertrag, regelte innerdynastische Territorialfragen, aber mit allgemeinen Konsequenzen für Europa6. Philipp III. verzichtete auf die Erbfolge in Ungarn zugunsten des späteren Kaisers Ferdinand II. und erhielt dafür nicht näher spezifizierte Ausgleichsansprüche in anderen Provinzen des Hauses Österreich, wohl im Elsass, aber auch für Lehen in Italien. Der Vertrag bekräftigte zwar die Familienbande zwischen den beiden Zweigen der Habsburger Dynastie und das Zusammenstehen, enthielt aber keine Bündnisabreden, insbesondere nicht zu gegenseitigem Beistand im Kriegsfall7.

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Dazu SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 375 ff. mit weiteren Verweisen. Die Verbindungen gingen wohl auch auf die – wenn auch gescheiterten Erbabsprachen – der fünfziger Jahre zurück, Karl BRANDI, Kaiser Karl V., 3. Aufl., München 1941, S. 512 ff. 6 Vertrag v. 6. Juni 1617, Corps (wie Anm. 1), Bd. V Teil 2, Amsterdam 1728, S. 298. 7 Zur allgemeinen Bedeutung des Vertrags, SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 376 ff.

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b. Philipp II. – Französische katholische Liga Im Zuge der religionspolitischen französischen Auseinandersetzungen schloss Philipp II. 1584 und erneut 1590 Verträge mit der katholischen Liga8. Einerseits sollte ein katholischer Thronfolger gegen Heinrich von Navarra installiert werden, andererseits die protestantische Häresie auf französischem Boden völlig verboten und unterdrückt werden. Zwar erledigte sich diese Bündnisbildung mit dem Frieden von Vervins von 1598, prägte aber doch die europäische Politik nachhaltig. c. Spanische Könige – Schweizer und Graue Bünde Spanische Könige schlossen als Herzöge von Mailand mehrfach ein allgemeines Bündnis mit den katholischen Kantonen der Inneren Schweiz, so Philipp II. 15879. Hierin wurde die lange Dauer der guten Beziehungen zwischen dem Haus Österreich und den Kantonen herausgestellt. Die Vereinbarungen des 1617 geschlossenen allgemeinen Bündnisses des spanischen Königs Philipp III. als Herzog von Mailand mit den drei Bünden und dem Veltlin enthielten das Versprechen gegenseitiger wahrer Freundschaft, guter Nachbarschaft und enger „Correspondance“10. Es ging in diesem Vertrag u. a. um Durchzugsrechte durch das Veltlin auf der sogenannten Spanischen Straße aus Italien in den Norden. Gegner werden nicht genannt, aber der Bezug auf die gesamteuropäischen Konflikte ist offensichtlich. d. Kaiser Matthias – Sigismund III. von Polen Für das habsburgische Bündnissystem war hingegen das allgemeine Friedens-, Freundschafts- und Hilfsabkommen, das Kaiser Matthias 1613 mit dem polnischen König Sigismund III. abschloss und in das auch der Papst und vor allem Philipp III. einbezogen wurden, ein wesentlicher Baustein 11. Es wurde in die Reihe früherer Abkommen etc. zwischen habsburgischen und polnischen Herrschern gestellt. Eine spezielle Zielrichtung auf einen bestimmten Gegner nannte das Bündnis aber nicht. Es ging um konfessionelle Fragen, aber wohl vor allem um die Position in der Ostsee und an ihren Ufern, insbesondere in Livland. Denn Sigismund stand 1613 bereits seit längerem im Krieg mit den schwedischen Königen Karl IX. und Gustav Adolf, gegen die er immer noch Thronansprüche erhob, und dem Großfürstentum Moskau12. Durch diese Verbindung wurde die habsburgische Politik auch in die nord- und osteuropäischen Konflikte rechtlich einbezogen. 8

Verträge v. 31. Dezember 1584 und 11. Januar 1590, Corps (wie Anm. 1), Bd. V, Teil 1, S. 441 und S. 481. 9 Vertrag v. 12. Mai 1587, Corps (wie Anm. 8), S. 459. 10 Vertrag v. 1. März 1617, Corps (wie Anm. 6), S. 291. 11 Corps (wie Anm. 6), S. 220. 12 Dazu SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 498 ff.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Das antihabsburgische Bündnissystem

Die Bündnisbildung des antihabsburgischen Systems, die nur über völkerrechtliche Verträge erfolgen konnte, begann auf drei Linien, der französischenglischen, der englisch-niederländischen und der französisch-niederländischen. Sie wurden später in einer Tripelallianz als Kern des Systems zusammengeführt. Schließlich lagerten sich weitere Ausleger in das Reich und nach Nordeuropa an. a. Französisch – englische/britische Allianz. Grundlage für eine dauerhafte, immer wieder erneuerte Allianz bildete das allgemeine Freundschafts-Bündnis, das Karl IX. und Elisabeth I. 1572 abschlossen13. In der Präambel wurden zunächst die gegenseitige alte Freundschaft und Affektion sowie die gemeinsamen Aufgaben als Herrscher ihrer Reiche, ihre jeweilige von Gott gegebene „pareille grandeur & Dignité Roiale“, also der gleiche Rang, hervorgehoben. Deswegen seien die beiden Majestäten veranlasst worden, „de faire entre elles une tres étroite Ligue, Alliance et Confédération, pour la conservation et entretenement d’icelle leur amitié, seureté de leurs Roiaumes et États, et commodité et repos de leurs sujets“. Sie schlossen den Vertrag „pour fortifier et davantage confirmer et entretenir la bonne Paix, amitié et commune intelligence“. Dieser „Traité de Confédération et Union“, der ausdrücklich ältere Verträge zwischen ihnen aufrecht erhielt, sollte „perpetuel“ für die Lebenszeit der beiden Partner gelten und darüber hinaus mit dem jeweiligen Nachfolger, falls dieser binnen eines Jahres nach dem Tode des Vorgängers die Fortsetzung zu denselben Bedingungen erklären würde. Andernfalls sei der Überlebende aus den Pflichten des Vertrages entlassen. Das sollte auch für die weiteren Nachfolger gelten. Zwar wurden keine möglichen Gegner genannt. Gemeint ist aber vor allem Philipp II., der Elisabeth wegen ihrer Exkommunikation 1570 die Thronberechtigung absprach14 und es in Frankreich in den steigenden religiösen Spannungen mit der katholischen Liga der Guise hielt. Zunächst erneuerte Karls Nachfolger Heinrich III. 1575 den Vertrag15. 1592 schlossen dann Heinrich IV. und Elisabeth I. einen ersten Allianzvertrag, in dem die Königin dem König eine Hilfstruppe zur Unterstützung im

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Vertrag v. 29. April 1572, Corps (wie Anm. 8), S. 211. Deswegen hatten Elisabeth I. und Jakob VI. 1586 zur Verteidigung des evangelischen Glaubens gegen „principes vicini“, die sich „catholici“ nennen, ein „foedus“ geschlossen, Corps (wie Anm. 8), S. 457. 15 Erklärung Heinrichs III. v. 29. April 1575, Corps (wie Anm. 8), S. 237. 14

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Krieg gegen die katholische Liga in der Bretagne zusagte16. Dieses Bündnis richtete sich aber auch ausdrücklich gegen die spanischen Truppen Philipps II., die dieser auf Grund seines Bündnisses mit der Liga nach Frankreich entsandt hatte. Es folgte 1596 ein Offensiv- und Defensivbündnis gegen den spanischen König17. 1595 hatte der französisch-spanische Krieg mit gegenseitigen Kriegserklärungen formell begonnen18. Art. I bestätigte die bisherigen Bündnisverträge und Art. II begründete eine „confoederatio offensiva et defensiva inter dictos Regem et Reginam, eorumque Regna, Status et Dominia, contra regem Hispaniarum, et regna et Dominia ejus“. Es ginge aber nicht um Eroberung, sondern um die Verteidigung ihrer Königreiche „contra invasiones et attentata Regis Hispaniae“. Darüber hinausgehende Zwecke hatte das Bündnis nicht. Jedoch wurden alle anderen Fürsten, die sich gegen Philipp II. wenden wollten, eingeladen, der Allianz beizutreten. Es sollten dazu Botschafter an die Höfe gesandt werden. Trotz der Friedensvertrags zwischen Heinrich IV. und Philipp II. von Vervins 159819 erneuerten Heinrich IV. und Jakob I. 1603 die alten Bündnisse Frankreichs sowohl mit Schottland als auch mit England20. Es wurde eine Liga zur gemeinsamen Verteidigung ihrer Personen, Reiche und Untertanen sowie ihrer Alliierten eingegangen. Vor allem vereinbarten sie, die Vereinigten Niederlande gegenüber dem spanischen König und den Erzherzögen mit Rat und Tat, aber nötigenfalls auch mit Geld und Truppen zu unterstützen. Die Maßnahmen sollten jedoch unter allergrößter Geheimhaltung erfolgen, um den Frieden von 1598 und die Friedensbemühungen Jakobs I. nicht zu gefährden21. Für den Fall eines Krieges mit Spanien, sei es durch einen Angriff auf einen von ihnen oder durch den Zwang, „par raison d’État, & pour la seureté, repos et utilité de leurs Personnes, Roiaumes & Sujets“ selbst Krieg zu eröffnen, versprachen sich beide Könige gegenseitige Hilfe22. Die Abrede in Bezug auf die Vereinigten Niederlande entsprach der zwischenzeitlich gebildeten Tripelallianz.

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Vertrag v. 1592, Corps (wie Anm. 8), S. 489. Andere Hilfstruppen standen wohl schon in der Normandie. Vertrag v. 14./24. Mai 1596, Corps (wie Anm. 8), S. 525. 18 Erklärung Heinrichs IV. v. 16. Januar 1595 und Gegenerklärung Philipps II. v. 7. März 1595, Corps (wie Anm. 8), S. 512 und 515. STEIGER, Frieden (wie Anm. 4). 19 Vertrag v. 2. Mai 1598, Corps (wie Anm. 8), S. 561. 20 Vertrag v. 30. Juli 1603, Corps (wie Anm. 6), S. 30. 21 Art. IV: Lesquelles choses se feront le plus secretement & couvertement que faire se pourra, afin de ne préjudicier directement ni ouvertement à la Paix de France, ou à celle où Angleterre se pourra porter avec l’Espagne. 22 Diese Aufzählung der Gründe für einen Angriffskrieg zeigt, wie in der Praxis ein Krieg gerechtfertigt wurde. 17

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1610 wurde das Bündnis zwischen dem neuen französischen König Ludwig XIII. durch die Regentin Maria de Medici, seine Mutter, und Jakob I. gemäß der Fortsetzungsklausel bestätigt, erneuert und ausdrücklich fortgeführt23. Weitere Verträge folgten 1625, 1629 und 163224. Sie alle erneuerte Ludwig XIV. 1644 durch einen bestätigenden Eid25. b. Englisch-niederländische Allianz Die Bildung der Utrechter Union von 1579 aus den sieben nördlichen Provinzen hatte eine dauerhafte Vereinigung hervorgebracht26. Durch die Erklärung der Absetzung Philipps II. von 1581 war – zunächst tatsächlich – eine neue politische Einheit entstanden27. Mochte auch die religiöse Konfrontation wesentliches Movens für die Unionsbildung gewesen sein, sie gewann nunmehr staatsbildenden Charakter, mochte die Union auch noch für eine Weile auf der Suche nach ihrer (staats-)rechtlichen Form sein. Im Unabhängigkeitskrieg gegen die spanische Krone gewann sie aber mehr und mehr internationale Bündnisfähigkeit und wurde zum begehrten Partner im antihabsburgischen Bündnissystem. Als erste schloss wohl Elisabeth I. noch vor der Bildung der Utrechter Union mit den Niederlanden 1577 einen Bündnisvertrag gegen den spanischen König28. Er bildete den Grundstein einer dauerhaften, immer dichter und enger werdenden Verbindung zwischen den Vereinigten Niederlanden der Utrechter Union und den englischen Herrschern. 1585 folgte ein weiterer Vertrag29. Er fiel nun mitten in die Kriege beider Partner mit dem spanischen König. Aus Einzelabreden ergibt sich, dass dieses neue Defensivbündnis gegen Philipp II. auch religiös begründet war. Die englischen Truppen sollten u. a. der Bewahrung „de la vraye religion“ dienen „selon qu’elle est presentement exercée en Angleterre & les Provinces-Unies“. Der Vertrag begründete zudem eine Art englischer Oberhoheit oder Protektorat, für das die Königin einen englischen Gouverneur bestellen sollte, „affectionné à la vraie religion“. Seine Rechte umfassten in den Niederlanden nicht nur die Kriegführung30. Graf Leicester wurde auf diese Position berufen; aber er gab drei Jahre später auf31. Nach dem Friedensvertrag von Vervins 1598, der

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Vertrag v. 19. August 1610, Corps (wie Anm.6), S. 149. Unten S. 90 ff. 25 Eid v. 3. Juli 1644, Corps (wie Anm. 1), Bd. VI, Teil 1, Amsterdam/Brunel 1728, S. 301. 26 Vertrag v. 23. Januar 1579, Corps (wie Anm. 8), S. 322. 27 Erklärung v. 26. Juli 1581, Corps (wie Anm. 8), S. 413. 28 Vertrag v. Ende 1577, Corps (wie Anm. 8), S. 315. 29 Bitte der Generalstaaten v. 6. Juni 1585 und Vertrag v. 10. August 1585, Corps (wie Anm. 8), S. 446 und 454. 30 Dekret der Generalstaaten v. 6. Februar 1586, Corps (wie Anm. 8), S. 456. 31 Erklärung der Generalstaaten v. 12. April 1588, Corps (wie Anm. 8), S. 472. 24

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ohne die Königin und die Generalstaaten geschlossen worden war, erneuerten diese den Vertrag. Der Generalgouverneur entfiel32. c. Französisch - niederländische Allianz Der Weg zu einer französisch-niederländischen Allianz ging über den Herzog von Anjou, einzigen Bruder des Königs und Nachfolger, mit dem die Generalstaaten der noch geeinten Niederlande 1578 einen ersten Allianzvertrag gegen „la tirannie insupportable des Espagnols“ und gegen die Invasion Don Juans schlossen33. Aber es war ein gegenseitiger Vertrag mit Beistandspflichten auch der Niederländer, die aber für einen Religionskrieg des Herzogs ausdrücklich ausgeschlossen wurden. Die englische Königin, aber auch der König von Navarra und andere wurden eingeladen, sich mit der Allianz zu verbinden. Ziel war also ein breites anti-spanisches Bündnis. 1580 wurde in einem weiteren Vertrag vereinbart, den Herzog zum „Prince et Seigneur“ der Union mit den gleichen „superiorités et prééminences“, wie sie seine Vorgänger innehatten, zu bestellen34 – hier ging es also um eine enge französisch-niederländische Union mit eher staatsrechtlichen Elementen. 1584 boten die Vereinigten Niederlande nach dem Tod des Herzogs von Anjou Heinrich III. selbst die Oberhoheit an35. Aber der Plan scheiterte. Die französisch–niederländischen Beziehungen blieben in der Folge völkerrechtlicher Art. d. Tripelallianz Der Einladung Heinrichs IV. und Elisabeths I., ihrem Offensiv- und Defensivbündnis von 1596 gegen Philipp II. beizutreten, leisteten nur die Niederlande Folge, so dass eine Tripelallianz entstand36. Der Beitrittsvertrag benennt ebenfalls als Zweck den Kampf gegen „entreprises et desseins ambitieux“, die der spanischen König „contre tous les Princes et Potentats de la Chrétienté“ hege und verfolge, insbesondere die Niederlande. Der spanische König wird als ein Störenfried der allgemeinen Ordnung und nicht nur als ein Feind der drei Mächte dargestellt. Diese selbst nehmen daher für sich offenbar nicht nur die Verteidigung ihrer Lande, sondern eine allgemeine Aufgabe gegenüber diesem Störenfried in Anspruch. Die Religionsfragen wurden in diesen Verträgen nicht erwähnt. In einem weiteren Vertrag zwischen dem Herzog von Bouillon im Namen Heinrichs IV. und den General32

Verträge v. 16. August 1598, Corps (wie Anm. 8), S. 584 und 589. Vertrag v. 13. August 1578, Corps (wie Anm. 8), S. 320. Der Herzog erhält den Titel „Défenseur de la liberté des Païs-Bas contre la tirannie des Espagnols“. 34 Vertrag v. 19. September 1580, Corps (wie Anm. 8), S. 380. 35 Testament des Herzogs v. Anjou v. 8. Juni 1584 und Erklärung der Generalstaaten, Corps (wie Anm. 8), S. 436. 36 Vertrag v. 31. Oktober 1596, Corps (wie Anm. 8), S. 531. 33

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staaten wurden noch einmal alle interessierten Fürsten, die sich gegen die Machenschaften des spanischen Königs zur Wehr setzen wollten, eingeladen, der Liga beizutreten37. Der Ansatz, ein umfassendes antispanisches Bündnis zu errichten, blieb also erhalten. Die Konföderierten sollten sich alsbald zu einem Kongress versammeln, um über das gemeinsame Vorgehen gegen Philipp II. zu beraten. Die Parteien verfolgten wohl allgemeine Ziele der Ordnung Europas. Weder die Erweiterung noch der Kongress kamen zustande. Vielmehr wurde der Frieden von Vervins geschlossen, der von den beiden anderen Partnern als Verrat empfunden wurde38. Aber, wie dargelegt, unterstützten Heinrich IV. und Jakob I. durch ihren Vertrag von 1603 weiterhin die Niederlande. Dieser wurde auch nicht durch den englisch-spanischen Friedensvertrag von 1604 obsolet39, obwohl ihm das in den Verträgen von 1598 wie von 1604 enthaltene Verbot entgegenstand, eine Allianz etc. gegen den Partner einzugehen. So blieben die Verbindung und die Unterstützung für die Vereinigten Niederlande bestehen. Daher schlossen Heinrich IV. und Jakob I. 1608 Garantie- und Defensivverträge mit den Generalstaaten zur Sicherung ihrer Position in den Friedensverhandlungen mit den Spaniern40. Im Vertrag mit Jakob I. wurden zunächst alle älteren Verträge bestätigt und ihre Fortgeltung bekräftigt. Außerdem wurde nachdrückliche Unterstützung in den Friedensverhandlungen und, falls der Frieden zustande käme, dessen Garantie und Verteidigung gegen jede Verletzung zugesagt. Auch die Generalstaaten versprachen Beistand für den Fall eines Angriffs auf die Herrschaftsgebiete des englischen Königs. Der Vertrag sollte nach dem Friedensschluss in Kraft treten und auch für die Nachfolger des englischen Königs gelten, falls diese eine entsprechende Erklärung abgäben. Da der Friedensvertrag nicht zustande kam, kamen diese Verträge nicht zum Zuge. Jedoch sie bekräftigten noch einmal die Bündnisverbindung der Tripelallianz. Die beiden Könige wirkten auch in den Verhandlungen neben anderen weiter als Vermittler. Als 1609 zwar kein Frieden aber der zwölfjährige Waffenstillstand zwischen den Vereinigten Niederlanden und Philipp III. abgeschlossen wurde41, schlossen die beiden Mächte mit den Vereinigten Niederlanden unter Bestätigung der beiden genannten Verträge wiederum einen Garantievertrag für dessen Dauer42. Ludwig XIII. und die Generalstaa-

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Corps (wie Anm. 8), S. 537. SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 471. 39 Vertrag v. 29. August 1604, Corps (wie Anm. 6), S. 32. 40 Verträge v. 23. und 26. Juni 1608, nur der zweite in Corps (wie Anm. 6), S. 94. 41 Vertrag v. 9. April 1609, Corps (wie Anm. 6), S. 99. 42 Vertrag v. 17. Juni 1609, Corps (wie Anm. 6), S. 110. 38

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ten bestätigten durch gegenseitige Erklärungen die Fortgeltung der beiden Verträge vom 23. Januar 1608 und 17. Juni 160943. Auf diese Weise war der niederländische Konflikt vorerst beruhigt, insbesondere da bereits 1607 in einem ersten Waffenstillstandsvertrag die Vereinigten Niederlande als „États, Provinces & Paїs libres“ und unabhängig von Spanien und den Erzherzögen anerkannt worden waren44. Aber die Spannungen in Europa bestanden fort, ja wuchsen eher an. e. Erweiterungen der Tripelallianz Im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurde der antihabsburgische Bogen geschlossen. Auf die Bündnisse mit den evangelischen Reichsständen ist später einzugehen. Zu nennen ist aber der Bündnisvertrag der Niederlande mit der Hansestadt Lübeck von 161345. Denn er hatte vornehmlich „la défence et le maintien de la liberté de la navigation, negoce & commerce“ mit den zugehörigen Privilegien auf der Ost- und der Nordsee zum Gegenstand. Es wurde ausdrücklich festgestellt, dass diese Union sich nicht gegen Kaiser und Reich richte. 1614 gingen die Vereinigten Niederlande ein Bündnis mit Gustav Adolf mit derselben Zweckbestimmung ein46. Beide Bündnisse nannten diejenigen, von denen die Gefahren für die Schifffahrtsprivilegien ausgingen, nicht. Aber es handelte sich wohl um die spanische Flotte. Es wurden zudem auch gegenseitige Hilfeleistungen bei Angriffen auf die Territorien der Partner und für ihre Verwicklungen in einen Krieg vereinbart. Der Vertrag wurde auf fünfzehn Jahre geschlossen mit der Möglichkeit der Verlängerung. Zwar schloss der schwedische König noch keine Bündnisverträge mit den Königen von Frankreich und England. Aber politisch war er nunmehr in den antihabsburgischen Bogen einbezogen. Da, wie erinnerlich, Kaiser Matthias in demselben Jahr sein Bündnis mit Gustav Adolfs Gegner Sigismund III. schloss, waren nunmehr deren Konflikte durch beide Bündnissysteme mit den anderen europäischen Konflikten verbunden. f. Heinrich IV. – Herzog von Savoyen Gewissermaßen am anderen Ende waren die Bündnisverträge der französischen Könige mit den Herzögen von Savoyen nicht räumlich und rechtlich, wohl aber politisch mit dem antihabsburgischen Bündnissystem verknüpft. 43

Erklärungen v. 31. Mai und 20. Juni 1610, Corps (wie Anm. 6), S. 138. Für den noch minderjährigen französischen König gab seine Mutter Maria de Medici als Regentin die Erklärung ab. 44 Vertrag v. 24. April 1607, Corps (wie Anm. 6), S. 83. 45 Vertrag v. Mai 1613, Corps (wie Anm. 6), S. 231. Eingeschlossen sind alle Hansestädte an den Küsten der beiden Meere. 46 Verträge v. 5. April 1614, Corps (wie Anm. 6), S. 245 und S. 249.

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1610 schloss Heinrich IV. mit dem Herzog von Savoyen ein Offensiv- und Defensivbündnis zur Eroberung Mailands47. Aber der König wollte erklärtermaßen die Auseinandersetzungen um Jülich und Cleve nutzen und gegen den spanischen König Krieg führen. Der Herzog sollte Pignerol erhalten. Auch hier luden die Partner alle Fürsten ein, die die Freiheit der Kirche, den Papst und ganz Italien gegen den spanischen König verteidigen wollten, dem Bündnis beizutreten. Zwar war das Bündnis für die Lebenszeit der Partner und deren Kinder bis vier Jahre nach dem Tode des letzten abgeschlossen, aber die Regentin Maria de Medici erhielt es nach der Ermordung Heinrichs IV. nicht aufrecht. g. Französische Könige – Schweizer und Graue Bünde Auch die französischen Könige schlossen eine Serie von Verträgen mit den Schweizer und Grauen Bünden und ihren Gliedern. Im Vertrag zwischen Heinrich IV. und den beiden Bünden von 1602 wurde in der Präambel in besonderer Weise die lange „Amitié et bonne intelligence“ seit Karl VII., also seit dem 15. Jahrhundert, Schritt für Schritt belegt48. Gegenstand oder Zweck des Vertrags war, wie schon in den älteren Verträgen, „le repos, deffense et conservation de nos Personnes, Honneurs, Roiaumes, Duchez, Principautez, Païs, Terres, Droits, Seigneuries et Sujets“ sicherzustellen. Zwar wurden weder ein Gegner noch ein Konflikt benannt, aber den Umständen nach konnte es wiederum nur um die Auseinandersetzungen mit dem spanischen König gehen. Die Bündnisse im Reich und ihre auswärtigen Verknüpfungen Beide Bündnissysteme ließen das Reich zunächst außen vor. Ein Bündnis des Fürstenbundes mit Heinrich II. blieb ein vorübergehender Kontakt49. Auch die Kaiser waren als Glied des Hauses Habsburg bzw. Könige von Ungarn und Böhmen in das habsburgische System einbezogen. Das änderte sich im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. a. Evangelische Union und katholische Liga Als Folge der anwachsenden konfessionellen Streitigkeiten um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens entstanden 1608 die Union der evan-

47 Verträge v. 25. April 1610, Corps (wie Anm. 6), S. 137. Vorausgegangen war ein Vertrag v. 7. Januar 1610. 48 Vertrag v. 31. Januar 1602, Corps (wie Anm. 6), S. 18. Dazu auch die Reihe von Erklärungen der Schweizer Kantone aus dem Jahre 1605, ebd. S. 55 ff. 49 Vertrag von Chambord v. 5. Oktober 1551, Corps (wie Anm. 1), S. 31.

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gelischen und 1609 die Liga der katholischen Reichsstände50. Auch der Erbschaftsstreit um die Herzogtümer Cleve und Jülich spielte wegen seiner Auswirkungen auf die konfessionellen Verhältnisse zugunsten der evangelischen Seite eine erhebliche Rolle. In der Union stand die Verteidigung gegen feindliche Gewalt im Zentrum51. Schon in der Präambel wurden die Kriegsgefahren und der Mangel einer hinreichenden Sicherheit durch die Reichsinstitutionen, aber auch die Gefahren für den Bestand der Reichsverfassung durch Angriffe von außen und von innen beschworen. Auffälliger Weise wurde die Verteidigung der evangelischen Religionsrechte oder auch des Religionsfriedens nicht ausdrücklich genannt. Es wurde jedoch auf die Gravamina der evangelischen Stände auf dem letzten, gescheiterten Reichstag von 1608 verwiesen, die gerade auch solche Fragen betrafen. Die katholische Liga, an der die Habsburger nicht beteiligt waren, nannte hingegen sowohl in der Präambel als auch in Artikel 1 die Verteidigung der katholischen Religion und des allgemeinen Religions- neben dem Profanfrieden als erstes Ziel des Zusammenschlusses52. Jedoch stand auch hier die Verteidigung gegen feindliche Angriffe und Gewaltanwendung im Zentrum der Abreden. Als Oberst wurde Herzog Maximilian von Bayern mit erheblicher innerer Entscheidungsmacht und einer Art Außenvertretung bestellt. b. Bündnisverträge der Union Die Union beschloss auf ihrem Treffen in Halle 1610 ganz allgemein zum Schutz gerade und ausdrücklich in Sachen des wahren Glaubens u. a. auch Bündnisse mit auswärtigen Mächten abzuschließen53. Der erste Vertrag wurde noch in Halle selbst von den vereinigten Fürsten, an der Spitze die Kurfürsten von der Pfalz und Brandenburg, mit Hein-

50

Zum umstrittenen Bündnisrecht der Reichsstände: Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände in: Der Staat 8 (1969), S. 449–478. 51 Auhausener Unionsakte v. 4./14. Mai 1608, Quellen zur Vorgeschichte und zu den Anfängen des Dreißigjährigen Krieges, hrsg. von Gottfried Lorenz, Darmstadt 1991, S. 66. Sie bildet die letzte einer Reihe von Unionsakten der evangelischen Reichsstände seit 1591, ebd. Anm. 1. 52 Liga Vertrag v. 10. Juli 1609, Quellen (wie Anm. 51), S. 103. Der Rezess v. 1610, Corps (wie Anm. 6), S. 118 ist eine erheblich verkürzte Fassung, weshalb auch die Anmerkung, er entbehre jeder Feierlichkeit, sei ohne Präambel, Datum, Unterschriften, etc. abgefasst, nicht zutrifft. 53 Abschied vom 3. Februar 1610, Corps (wie Anm. 6), S. 126, 130 r. Sp. Genannt werden die Könige von Großbritannien, Dänemark, Frankreich, mit dem die Verhandlungen bereits auf gutem Wege seien, aber auch die Republik Venedig und die Schweizer Bünde, jedoch nicht der König von Schweden. Sie nennen als Grund ähnliche Bemühungen der Ligisten, vor denen sie „den Vorsprung nehmen“ wollen.

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rich IV. geschlossen54. Also nicht die Union als solche, sondern ihre Mitglieder waren die Vertragspartner. Heinrich sicherte seine Hilfe für die Bewahrung „de la liberté et tranquillité de la Germanie“ und den Schutz und die Verteidigung der beiden von der Union gestützten Prätendenten PfalzNeuburg und Kurbrandenburg für die Sukzession in den genannten Fürstentümern zu. In einer Erklärung der in der Union verbundenen evangelischen Reichsstände gegenüber dem Gesandten Heinrichs IV. zur Vorbereitung des Vertrags wurden zudem „les machinations cauteleuses de certains Étrangers (qui pour parvenir à la Monarchie du Monde, ont accoûtumé de ne laisser rien à tenter)“ gegen „l’ingenuë candeur et sincere foi et integrité des Allemans“ gegeißelt55. Gemeint sind die Habsburger, die, gestützt auf eine kaiserliche Sequestration, versuchten, sich in den Herzogtümern festzusetzen. Der Streit um Jülich wurde so in den Kampf um die Vorherrschaft bzw. den Universalis mus in Europa eingeordnet. Zwar handelte es sich nicht um ein Offensiv-, sondern um ein Defensivbündnis. Aber es sollte wohl einen europäischen Krieg um die Herzogtümer vorbereiten, der letztlich nur durch den Tod des französischen Königs verhindert wurde56. Der Vertrag enthielt dafür die wohl singuläre Übereinkunft, dass die Reichsstände sich keinem Mandat oder Bann des Kaisers beugen würden, da dies bereits Abrede der Union sei57. Also ein Bündnis gegen Kaiser und Reich? 1612 folgte ein Vertrag der Union mit Jakob I., durch den ein allgemeines Defensivbündnis für den Fall abgeschlossen wurde, dass der Herzog von Pfalz-Neuburg und der Kurfürst von Brandenburg, die sich inzwischen in den Besitz der Herzogtümer gesetzt hatten, in ihren Rechten beeinträchtigt oder gar angegriffen würden58. Als Zweck wurden aber ganz allgemein „la Grandeur, Autorité & Repos du St. Empire de sa Majesté Impériale, & manutention des Constitutions dudit Empyre & de la Liberté germanique“ genannt. Partner waren einerseits der König, andererseits wiederum die Fürsten. Auch die Fürsten versprachen Beistand für den Fall eines Angriffs auf die Herrschaftsgebiete des Königs. Zwar befand sich zur Zeit des Abschlusses keiner der beiden Partner im Kriege. Ein solcher wurde aber insbesondere von den Fürsten befürchtet. Noch kurz vor Ausbruch des Kriegs erneuerten die Partner das allgemeine Defensivbündnis59. Kurfürst Friedrich V. schloss 54 Vertrag v. 11. Februar 1610, ratifiziert noch v. Heinrich IV. bereits am 23., Corps (wie Anm. 6), S. 135. 55 Erklärung v. 30. Januar 1610, Corps (wie Anm. 6), S. 126. 56 Dazu SCHILLING, Konfessionalisierung, (wie Anm. 2), S. 483 ff. 57 Der Vertrag hat eine eigentümliche Form. Der 1. Teil enthält in sieben Artikeln Forderungen oder Fragen des Königs, der 2. Teil enthält die Erklärungen der Reichsstände dazu. Der König hat das Ganze dann ratifiziert. 58 Vertrag v. 28. März 1612, Corps (wie Anm. 6), S. 637. 59 Vertrag v. 6. Mai 1619, Corps (wie Anm. 6), S. 332.

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den neuen Vertrag zwar als Reichsvikar während der Vakanz des Throns nach dem Tod des Kaisers Matthias, aber nicht für das ganze Reich, sondern nur für die unierten evangelischen Stände. Bereits 1605 hatten die Niederlande mit den Kurfürsten von der Pfalz und Brandenburg sowie anderen Reichsständen einen Vertrag geschlossen, in dem sich die deutschen Partner zur Zahlung von Subsidien an die Niederlande und diese sich für den Fall der Fälle zur militärischen Hilfe zur Durchsetzung der Ansprüche der deutschen Partner auf die genannten Herzogtümer und Grafschaften nach dem Tod des Herzogs verpflichteten60. 1613 wurde ein Vertrag der Fürsten der Union durch den damit beauftragten Kurfürsten von der Pfalz mit den „Herren Staten General“ der Vereinigten Niederlande vereinbart, um die bereits lange bestehende „Correspendents und Freundschafft vermittelst einer engern Allianze und beyderseits versprochene Hülfeleistung und Aßistenz zu vermehren und zu besterken“. Es wurde zudem eine inhaltliche Bindung mit den Bündnisverpflichtungen aus den Verträgen beider Seiten mit dem französischen und dem englischen König hergestellt. Mit den nordeuropäischen Königen von Dänemark und Schweden wurden seitens der Unionsfürsten vor 1618 bzw. 1630 keine allgemeinen Bündnisse eingegangen. Die Bündnissysteme im Krieg Mit dem Ausbruch des Kriegs in Böhmen und im Reich, dem Ende des niederländisch-spanischen Waffenstillstands 1621 und den Auseinandersetzungen um Mantua in Italien wurden die Bündnissysteme „aktiviert“. Am Rande spielten die Konflikte in Übersee hinein. I. Das Reich – Das habsburgische Bündnissystem Nach Ausbruch des böhmischen Kriegs schlossen Ferdinand II. und Herzog Maximilian von Bayern und die Liga 1619 das erste noch reichsinterne Kriegsbündnis über die Übernahme der Kriegführung durch den Herzog gegen Friedrich V. und seine Konföderierten. Als Grund nannte die Präambel die „gegenwertige äusserste, gefahr darin Höchsternant I. Kays. M. sambt dero löbl. Hauß, und folgends auch alle Catholische Chur-Fürsten und Stände des Reichs, ja, die Catholische Religion selbsten, begriffen sind“61. Maximilian erklärte ausdrücklich, dass er damit den Schutz der katholischen Religion und der ihr zugewandten Stände übernehme. Da an verschiedenen Stellen auf 60 61

Vertrag v. 25. April 1605, Corps (wie Anm. 6), S. 53. Recess v. 8. Oktober 1619, Corps (wie Anm. 6), S. 354.

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das gesamte Haus Österreich Bezug genommen wird, waren indirekt auch der spanische König und das niederländische Erzherzogspaar einbezogen, wenn auch nicht als Partner. Das Verhältnis der Kaiser Ferdinand II. und Ferdinand III. zu dem Herzog, dann Kurfürsten von Bayern schwankte. Er schied 1647 sogar vorübergehend durch einen Waffenstillstandsvertrag mit Ludwig XIV. und dessen Verbündeten aus62, schloss aber am 7. September 1647 erneut einen Vertrag mit Ferdinand III.63 Ausgelöst durch den Kriegseintritt Gustav Adolfs vereinbarten die beiden habsburgischen Herrscher Ferdinand II. und Philipp IV. 1632 doch einen Bündnisvertrag64. Sein Zweck war die Verteidigung und die Wiederherstellung der Verfassung des Reiches sowie die Restitution des Zustands vor dem Einfall des schwedischen Königs. Er sollte mit seinen auswärtigen Anhängern aus dem Reich gedrängt und seine innerdeutschen Verbündeten zur Niederlegung der Waffen und zum Gehorsam gegenüber dem Kaiser gezwungen werden. Für den Mantua-Krieg hatte es zwar gemeinsame Kriegführung, aber kein Bündnis gegeben. 1639 schlossen Ferdinand III. und die Erzherzogin Claudia de Medici, Witwe des Erzherzogs Leopold V., mit Philipp IV. einen weiteren Bündnisvertrag zur Sicherung der Herrschaftsgebiete der Erzherzogin in Tirol und den österreichischen Vorlanden65. Da dieses Teilproblem zur allgemeinen Sache des Hauses Österreich gehörte, wurde es ausdrücklich in den Gesamtkrieg auch im Reich eingefügt. II. Das Reich – Das antihabsburgische Bündnissystem a. Christian IV. – Jakob I./Karl I. – Generalstaaten Die offene Internationalisierung des innerreichischen Kriegs begann mit dem Kriegseintritt Christians IV. 1625. Er agierte zwar als Herzog von Holstein und niedersächsischer Kreisoberst, aber er war vor allem unabhängiger dänischer König. Bereits 1621 hatte er ein Bündnis mit Jakob I. geschlossen, in dem beide unter Berufung auf Verwandtschaft, Compaterschaft und die Freundschaft zwischen den Vorgängern und als Ratschlag für die Nachfolger eine „sincera, vera, irrevocabilis, et perfecta Amicitia, Pax et Confoederatio“ begründeten66. Es wurden aber keine bestimmten Zwecke des Bündnisses genannt. Wenige Monate später schloss der dänische König einen ähnlichen

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Vertrag v. 14. März 1647, Corps (wie Anm. 25), S. 377. Corps (wie Anm. 25), S. 399. 64 Vertrag v. 14. Februar 1632, Corps (wie Anm. 25) S. 30. 65 Vertrag v. 18. September 1639, Corps (wie Anm. 25), S. 180. 66 Vertrag v. 19./29. April 1621, Corps (wie Anm. 6), S. 391. 63

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Vertrag mit den Vereinigten Niederlanden67. Art. 1 bezeichnet als Ziel „[q]u’il y aura une perpetuelle paix, union, correspondance et amitié“ zwischen dem dänischen König und den Generalstaaten. Die Partner verpflichteten sich, „fidelement le bien, salut et prospérité les uns des autres“ zu suchen. 1625 wurden beide Bündnisse in einer Tripelallianz, jetzt mit Karl I., zusammengeführt, die auf die Abwehr der Bedrohungen und Bedrückungen, die durch offenen Krieg von den Kaisern gegen die Grundgesetze des Reichs und die Wahlkapitulation geführt würden, ausgerichtet war68. Dies gehe nicht nur die Kurfürsten und Fürsten des Reiches an, „mais aussi par une inévitable consequence les Roys, Princes et Estats voisins, Amis et Alliés, à cause de l’interest qu’ils ont en la conservation des dites Paix, Constitutions, Capitulations et pour le retablissement & conservation de ladite liberté, droicts, & constitutions de l’Empire“. Deswegen sei man gezwungen, beizeiten diese Entwicklungen zu stoppen und sich zu verbünden. Dem dänischen König wurde von den beiden Partnern Unterstützung zugesagt. Wiederum erging eine Einladung zum Beitritt an die Könige von Frankreich und nunmehr auch von Schweden, die Republik Venedig, den Herzog von Savoyen, die Reichsstände ohne Konfessionsbenennung. Erstrebt wurde also eine umfassende konfessionsübergreifende Koalition. Aber nur der Fürst von Transsylvanien, Gabor Bethlen, folgte der Einladung69. Schon 1620 hatte er durch ein Bündnis mit Friedrich V. Anschluss an die antihabsburgische Koalition gesucht, war aber in demselben Jahr geschlagen worden70. Christian IV. musste sich im Frieden von Lübeck aus dem Krieg im Reich zurückziehen71. b. Ludwig XIII – Gustav Adolf/Christina Ins Zentrum rückte 1631 das Bündnis der französischen Könige mit den schwedischen Herrschern durch den Vertrag von Bernwald oder Bärwalde 163172. Es sollte der Verteidigung ihrer Sicherheit wie der ihrer Freunde, der Freiheit des Handels auf der Ostsee und dem Ozean sowie der Wiederherstellung der Ordnung des Reiches dienen. Darunter konnte auch der Religionsfrieden gefasst werden. Andere Staaten und Fürsten in Deutschland und außerhalb sollen als Bündnispartner eingeladen werden. Vor allem sollte dem bayerischen Herzog, der inzwischen die pfälzische Kurfürstenwürde erhalten 67

Vertrag v. 14. Mai 1621, Corps (wie Anm. 6), S. 399. Vertrag v. 5. Dezember 1625, Corps (wie Anm. 6) S. 482. 69 Vertrag mit den Vereinigten Niederlanden v. 18. September 1626, Corps (wie Anm. 6), S. 498. 70 Vertrag v. 15. Januar 1620, Corps (wie Anm. 6), S. 356. 71 Vertrag v. 12./22. Mai 1629, Corps (wie Anm.6), S. 584. Das britisch-dänische allgemeine Friedens-, Freundschafts- und Defensivbündnis wurde zwar 1639 erneuert, betraf aber nicht in ausgesprochener Weise den Krieg im Reich, Vertrag v. 6. April 1639, Corps (wie Anm. 25), S. 173. 72 Vertrag v. 11./21. Januar 1631, Corps (wie Anm. 25), S. 1. 68

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hatte, und der katholischen Liga Freundschaft (amicitia) oder Neutralität angeboten werden. 1633 erneuerte Ludwig XIII. das Bündnis mit Christina v. Schweden73. Das Bündnis wurde später um die schwedischen evangelischen Verbündeten aus dem Vertrag von Heilbronn erweitert74. Weitere Verträge folgten 1634, 1635, 1636, 1638, 164175. Der Vertrag von 1635 passte die Allianz den neuen Verhältnissen nach dem Kriegseintritt Ludwigs XIII. gegen „la Maison d’Autriche“ an, zielte also nicht nur gegen Philipp IV., gegen den sich die französische Kriegserklärung richtete. U. a. verpflichteten sich beide, keinen Separatfrieden abzuschließen. 1638 vereinbarten sie die Fortsetzung des Krieges gegen Ferdinand III. nach dem Tod seines Vaters. Der Krieg wurde also von beiden gegen die Kaiser geführt. Eine besondere Kriegserklärung war aber von keinem erfolgt. Der Vertrag von 1641 wurde durch die Vereinbarung über die Friedensverhandlungen von Hamburg notwendig. c. Gustav Adolf/Christina – Evangelische Reichsstände Nach seiner Landung in Usedom schloss der schwedische König zunächst Einzelbündnisse mit evangelischen Reichsständen, u. a. mit dem Herzog von Pommern Bogislav76, dem Landgrafen von Hessen-Kassel77 sowie dem Kurfürsten von Sachsen Georg78. Erst 1633 konnte Christina in Heilbronn ein umfassendes Bündnis mit den evangelischen Ständen des Rheinischen, Fränkischen, Schwäbischen und Oberrheinischen Reichskreises abschließen, das 1634 um die Stände des Obersächsischen und des Niedersächsischen Reichskreises erweitert wurde79. Bereits in den Einzelverträgen war in unterschiedlichen Formulierungen die Verteidigung der Freiheit und Verfassung des Reiches, des Religions- und Prophanfriedens gegen die Störungen und Beeinträchtigungen des öffentlichen Friedens als Bündniszweck genannt worden. So heißt es in Art. 1 des Heilbronner Vertrags, dass die Verbündeten ständig beieinander bleiben sollten, die gegenseitige Wohlfahrt fördern, Schaden voneinander abwenden, „auch Leib, Leben und Vermögen aufsetzen und wollen, so lang und so viel, bis die Teutsche Libertät auch Observanz des Heiligen Reichs Satzungen und Verfassungen wiederum stabiliert und Resti73

Vertrag v. 9. April 1633, Corps (wie Anm. 25), S. 48. Vertrag v. 15. September 1633, Corps (wie Anm. 25), S. 56. 75 Verträge v. 26. August 1634, 9. Oktober 1634, 28. April 1635, 30. März 1636, 5. März 1638, 30. Januar 1641, Corps (wie Anm. 25), S. 74, 78, 88, 123,161, 207. 76 Vertrag v. 10./20. Juli 1630, Corps (wie Anm. 6), S. 606. 77 Vertrag v. 12. August 1630, Corps (wie Anm. 6), S. 611. 78 Erklärungen v. 1. September 1631, Corps (wie Anm. 25), S. 18 und 19. Zwar ist das nicht die zu der Zeit bereits übliche Form eines Vertrags in einem gemeinsamen Dokument. Aber die beiden einseitigen Erklärungen sind dergestalt aufeinander bezogen, dass sie als Begründung eines Vertragsverhältnisses anzusehen sind. 79 Verträge v. 13. April 1633 und 3. September 1634, Corps (wie Anm. 25), S. 51, 75. 74

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tution der Evangelischen Stände erlanget, in Religions- und Profan-Sachen ein richtiger und sicherer Frieden erhalten und geschlossen“. Auch wollte man weitere ausländische Mächte auf seine Seite ziehen. Der Vertrag von Frankfurt hob deutlich hervor, man sei das Bündnis eingegangen „einig und allein zu dem Ende, damit die rechtmäßig ergrieffene, und in der Natur und allen Geist- und Weltlichen Rechten erlaubte hochfavorisierte DefensionsWaffen fortgesetzt“ werden könnte. Gerade von schwedischer Seite wurde die Rechtmäßigkeit der Verteidigung immer wieder ausdrücklich hervorgehoben80. d. Ludwig XIII. – Kurfürst Maximilian von Bayern Zunächst gelang es Ludwig XIII. 1631 mit dem bayerischen Kurfürsten einen „Traité de Confédération et de Ligue défensive“ für acht Jahre zu schließen81. Beide Seiten begründeten „une sincere, bonne et constante Amitié et une ferme et étroite obligation de se défendre“. Er betraf aber nicht den Krieg im Reich. Denn daran war Ludwig XIII. noch nicht formell beteiligt. Es wurde festgestellt, dass der Vertrag zwar dem „droit naturel“ entspreche, aber den Eid des Kurfürsten gegenüber Kaiser und Reich unberührt lassen sollte. Ein weitergehender Neutralitätsvertrag zwischen Gustav Adolf und dem Kurfürsten und der Liga, der diese aus dem aktuellen Krieg herausgenommen hätte, scheiterte hingegen82. e. Ludwig XIII. / Ludwig XIV. – Reichsstände Schon vor 1635 hatte Ludwig XIII. Verträge auch mit anderen Reichsständen geschlossen. 1631 nahm er den Kurfürsten von Trier unter seinen Schutz83. 1633 folgen Verträge mit den Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen84. Ludwig XIII. hatte zugesagt, mit Fleiß zu einem Frieden im Reich insbesondere in Religionssachen beizutragen. Der König hatte sich darin sogar für ein weitgehend freies und sicheres Religionsexerzitium ausgesprochen. 1634 werden Verträge mit süddeutschen evangelischen Reichsständen geschlossen, um Truppen im Reich stationieren zu können85. Diese stellten eine Art Vorabvereinbarung über eine mögliche, von reichsständischer Seite erwünschte Kriegsbeteiligung des französischen Königs dar, die sich gegen das Haus 80

So schon in dem Manifest Gustav Adolfs bei seiner Landung auf Usedom (s. u. Anm. 114). 81 Vertrag v. 30. Mai 1631, Corps (wie Anm. 25), S. 14. 82 Vertragsprojekt v. 29. Januar 1632, Corps (wie Anm. 25), S. 29. 83 Erklärung des Kurfürsten v. 21. Dezember 1631 und Vertrag v. 9. April 1632, Corps (wie Anm. 25), S. 24, 35. Der Kurfürst schloss auch ein Neutralitätsabkommen mit Oxenstierna, 12. April 1632, ebd. S. 36. 84 Verträge v. 26. Februar 1633, Corps (wie Anm. 25), S. 44, 46. 85 Verträge v. 26. August 1634 in Bezug auf Philippsburg, 20. September 1634 in Bezug auf das Elsass, Corps (wie Anm. 25), S. 74, 78.

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Österreich, Spanien und seine Anhänger, also nicht gegen „Kaiser und Reich“ als solche richten sollte, wenn der Kaiser auch als Glied des Hauses Österreich „gemeint“ war86. Dem König wurden u. a. Protektionsrechte im Elsass zugesagt. Der nachfolgende Vertrag Ludwigs XIII. mit dem Herzog von Württemberg und anderen Ständen konkretisierte dies schon zu einem Bündnis für den Fall eines offenen Bruchs87. Als Begründung wurden auch hier die Verteidigung der Verfassung und der Kampf für den Frieden im Reich und das Ende der Wirren angegeben. Nach dem Kriegseintritt Frankreichs wurde 1635 ein erster Vertrag mit Bernhard von Weimar geschlossen88. Es folgten im Lauf der Jahre Verträge mit dem Landgrafen von Hessen-Kassel89, und dem Herzog von Braunschweig-Lüneburg90. Als Zwecke wurden in unterschiedlichen Formulierungen stets die Wiederherstellung der Rechte und Freiheiten des Reichs und des Friedens im Reich und in der gesamten „chrétienté“ genannt. Der junge König Ludwig XIV. folgte der bisherigen Bündnispolitik und erneuerte 1644 durch die Regentin, seine Mutter Anna von Österreich den Vertrag mit dem Herzog von Württemberg91 und 1646 den Vertrag mit dem Kurfürsten von Trier92. 1647 kam es zu dem erwähnten vorübergehenden Waffenstillstand mit dem Kurfürsten von Bayern. III. Niederlande Nach dem Wiederbeginn des niederländisch-spanischen Krieges 1621 wurden die alten Bündnisstrukturen erneuert und weitergeführt. Ludwig XIII. schloss 1624 einen Subsidienvertrag mit den Generalstaaten ausdrücklich als eine Konkretisierung des langen allgemeinen Freundschaftsverhältnisses Frankreichs mit den Niederlanden93. Der folgende Vertrag von 1634 diente, 86

Vertrag v. 20. September 1634, Corps (wie Anm. 25), S. 78. Diese Abrede wurde lediglich von Vertretern beider Seiten in Frankfurt getroffen und auch nicht ratifiziert, stellt also noch keinen Bündnisvertrag im eigentlichen Sinn dar. 87 Vertrag v. 1. November 1634, Corps (wie Anm. 25), S. 79. 88 Vertrag v. 27. Oktober 1635, Corps (wie Anm. 25), S. 118. Dieser Vertrag wurde mehrfach erneuert: 17. April 1637, ebd. S. 147; 9. Oktober 1639, ebd. S. 185. 89 Vertrag v. 2. Oktober 1637, Corps (wie Anm. 25), S. 128. Auch dieser Vertrag wurde mehrfach erneuert: 22. August 1639, nach dem gescheiterten Friedensvertrag des Landgrafen mit Kaiser Ferdinand II., ebd. S. 178; 1. Februar 1640, ebd. S. 190; einschließlich Christina 25. April 1647, ebd. S. 394. 90 Vertrag v. Mai 1640, Corps (wie Anm. 25), S. 192. Dieser hatte wie der Landgraf und der Herzog v. Württemberg den Prager Frieden nicht angenommen. Sie konnten daher derartige Bündnisse ohne Friedensbruch eingehen. 91 Vertrag v. 25. Januar 1644, Corps (wie Anm. 25), S. 292. 92 Vertrag v. 1. Juli 1646, Corps (wie Anm. 25), S. 346. Der Kurfürst unterstellte Philippsburg und andere Gebiete dem Schutz des französischen Königs. 93 Vertrag v. 15. Juni 1624, Corps (wie Anm. 6), S. 461.

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wie die Verträge desselben Jahres mit den evangelischen Reichsständen, offenbar der Kriegsvorbereitung, wenn er auch nicht als Offensivbündnis geschlossen worden ist94. Ludwig XIII. versprach, „sa Majesté rompra à guerre ouverte avec le Roy d’Espagne“, sobald der Vertrag von den Niederlanden ratifiziert sei. Das nachfolgende Offensiv- und Defensivbündnis gegen den spanischen König von 1635 soll die Allianz erneuern, um „la bonne et seure paix dans la Chrétienté“ wieder herzustellen, der durch die Spanier durcheinander gebracht werde95. Dieser Vertrag richtete sich aber nach dem Wortlaut nur gegen den spanischen König, noch nicht gegen das Haus Österreich. Im Verlauf des Krieges wurden von Ludwig XIII. und Ludwig XIV. weitere Verträge mit den Niederlanden abgeschlossen, der letzte vor dem Friedensschluss am 29. Juli 164796. Auch Karl I. knüpfte 1625 bewusst an die älteren Bündnisse, vor allem Jakobs I. an, als er eine Offensiv- und Defensivallianz mit den Vereinigten Niederlanden gegen den König von Spanien abschloss97. Sie vereinbarten, gegen diesen überall, auch „deça et dela la Ligne par Mer et par Terre“ vorzugehen. Damit werden die antispanischen Konflikte in Europa und in Übersee zum ersten Mal bündnisrechtlich miteinander verbunden. Die genannte, später im Jahr geschlossene Tripelallianz unter Einschluss Christians IV. war hingegen beschränkt und sollte ausdrücklich dieses territorial weiter gespannte Bündnis nicht berühren. Erst 1640 gingen Christina und die Niederlande ein Bündnis ein, wobei Christina sich ausdrücklich auf das ausgelaufene Bündnis von 1614 berief98. Es war, wie jenes, darauf gerichtet, die Sicherheit und Freiheit des Handels auf der Ostsee und der Nordsee bis zum Kanal zu gewährleisten, die Verteidigung ihrer Königreiche oder Provinzen und die Herrschaften, Rechte, Freiheiten, Verträge und Gewohnheiten zu Land und auf dem Meer zu sichern. Zwar versprachen sich beide Seiten auch für den Fall eines Krieges Beistand, aber einen direkten Bezug auf die von ihnen geführten Kriege enthielt der Vertrag nicht. Es wurde nicht einmal ein konkreter Gegner genannt.

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Vertrag v. 15. April 1634, Corps (wie Anm. 25), S. 68. Vertrag v. 8. Februar 1635, Corps (wie Anm. 25) S. 80. 96 Corps (wie Anm. 25), S. 396. 97 Vertrag v. 17. September 1625, Corps (wie Anm. 6), S. 478. Die rechtliche Bedeutung dieser „ligne“ für das Völkerrecht des 17. Jahrhunderts ist strittig, dazu u. a. Wilhelm G. GREWE, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 182 ff.; Jörg FISCH, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, Stuttgart 1984, S. 57 ff. 98 Vertrag v. 1./11. September 1640, Corps (wie Anm. 25), S. 192. 95

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) IV. Italien

Wenn auch regional begrenzt, waren die Auseinandersetzungen in Italien doch durch den französisch-spanisch/habsburgischen Gegensatz politisch eng mit dem Konflikt im Reich verknüpft. a. Das habsburgische Bündnissystem Innerhabsburgische Bündnisse fehlten auch in dieser Epoche. Zwar lagen die Absprachen des Oñate-Vertrags von 1617 dem Mantua-Konflikt zugrunde. Aber er war, wie bereits dargelegt, kein Bündnisvertrag mit gegenseitigen Beistandsabreden. Im Übrigen bestand für Italien in dieser Epoche lediglich das bereits genannte allgemeine Bündnis des spanischen Königs als Herzog von Mailand von 1617 mit den drei Bünden. Es enthielt das Versprechen gegenseitiger wahrer Freundschaft, guter Nachbarschaft und enger „Correspondance“ 99. In dem Konflikt um das Veltlin mit Ludwig XIII. zu Beginn der zwanziger Jahre unterstützte zwar Papst Gregor XV. den spanischen König. Aber ein formelles Bündnis wurde nicht geschlossen100. Außerdem bestanden keine Bündnisse mit nichthabsburgischen italienischen Mächten, auch nicht während des Krieges um Mantua oder des französisch-spanischen Kriegs ab 1635. Dem spanischen König gelang es nur, außer dem innerhabsburgischen Bündnis von 1632 mit Nebenlinien regierender Dynastien Verträge zu schließen101. b. Das antihabsburgische Bündnissystem Hingegen schlossen Ludwig XIII., Venedig und der Herzog von Savoyen 1623 einen Bündnisvertrag zur Restitution des Veltlin an Graubünden102. In der Präambel wurde dieser Konflikt in die Gesamtauseinandersetzung mit dem König von Spanien eingeordnet, ohne jedoch ausdrückliche Bezüge zu den Kriegen im Reich und in den Niederlanden herzustellen103. Auch im Krieg um Mantua schloss Ludwig XIII. mit Venedig und dem Herzog von Gonzaga-Nevers als Herzog von Mantua 1629 ein Bündnis, dem Papst Urban VIII. nach anfänglicher Bereitschaft offenbar nicht beitrat104. Es 99

Vertrag v. 1. März 1617, Corps (wie Anm. 6), S. 291. SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 547 f. Im spanisch-französischen Vertrag v. 25. April 1621, Corps (wie Anm. 6), S. 395, war das Veltlin neutralisiert und dem päpstlichen Schutz unterstellt worden. 101 SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 550. 102 SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 547 f.; Vertrag v. 7. Februar 1623, Corps (wie Anm. 6), S. 417. 103 Der neue Konflikt wurde durch einen zweiten französisch-spanischen Vertrag v. 5. März 1626, wiederum vorläufig, beendet, Corps (wie Anm. 6), S. 487. 104 Vertrag v. 8. April 1629, Corps (wie Anm. 6), S. 580. 100

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nannte als Anlass „l’oppression des Espagnols“ auf den Herzog von Mantua. Allgemein sollten „le repos de l’Italie et de toute la Chrétienté“ gesichert werden. Dieser Vertrag richtete sich aber nicht gegen den spanischen König, sondern das Haus Österreich insgesamt. Der Kaiser war der Kriegsgegner Ludwigs XIII., da er als Lehnsherr über die heimfallenden Herzogtümer Mantua und Monferrat zu entscheiden hatte und sie der spanischen Linie zuwenden wollte105. Die Friedensverträge von Regensburg 1630 und Cherasco 1631 wurden nicht vom spanischen König, sondern zwischen ihm und Ludwig XIII. geschlossen106. Auch der Vertrag Richelieus für Ludwig XIII. mit dem Fürsten von Piemont für den Herzog von Savoyen von 1629 über Durchzugsrechte sowie die zeitweise Überlassung von festen Plätzen für die französischen Truppen, diente diesen im Mantuanischen Erbfolgekrieg107. Ab 1635 setzte Ludwig XIII. seine Bündnispolitik mit dem Herzog von Savoyen fort108, zunächst zur Eroberung des Herzogtums Mailand und später ganz allgemein gegen Spanien109. 1645 wurde die Liga von Ludwig XIV. durch die Regentin, seine Mutter, erneuert und bestätigt110. Fazit Da es im habsburgischen Bündnissystem mit wenigen Ausnahmen an Verträgen fehlt, lassen im Grunde nur die Verträge des antihabsburgischen Bündnissystems gewisse verallgemeinernde Schlussfolgerungen zur völkerrechtlichen Bündnisbildung um 1600 zu. a. Rechtsformen Das habsburgische System stellte durch die nur dynastische Ordnung seines inneren habsburgischen Kerns kein ausgebildetes völkerrechtliches Bündnissystem dar, sondern ein eher vormodernes Familienbündnis mit einigen unsystematischen völkerrechtlichen Ausläufern111. Für den Mantuanischen 105

Dazu SCHILLING, Konfessionalisierung (wie Anm. 2), S. 548 ff. Vertrag v. 13. Oktober 1630, Corps (wie Anm. 6), S. 615; Verträge v. 6. April und 19. Juni 1631, Corps, (wie Anm. 25), S. 9, 14. 107 Vertrag v. 11. März 1629, Corps (wie Anm. 6), S. 571. 108 Vertrag v. 11. Juli 1635, Corps (wie Anm. 25), S. 109, Erneuerungen 3. Juni 1638, ebd. S. 162, 2. Dezember 1640, ebd. S. 196, 3. April 1645, ebd. S. 308. 109 Erneuerungen 3. Juni 1638, Corps (wie Anm.25), S. 162, 2. Dezember 1640, ebd. S. 196. 110 Vertrag 3. April 1645, Corps (wie Anm. 25), S. 308. 111 Als im 18. Jahrhundert die Bourbonen nach dem französischen auch den spanischen Thron, das Königreich Neapel und das Herzogtum Parma besetzt hatten, genügte der dynastische Zusammenhalt für dieses zweite europäische „Haus“ anscheinend auch nicht. Sie 106

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Krieg könnte ein Bündnis überflüssig gewesen sein, weil er für das Haus Österreich als ein dynastischer Krieg herkömmlicher Art angesehen wurde, wie die Kriege um Mailand oder um Burgund. Der Krieg im Reich reichte über den dynastischen Aspekt für das Haus Österreich bei weitem hinaus. Da mag die dynastische Solidarität nicht mehr gereicht haben und ein Bündnis notwendig erschienen sein. Die voneinander völlig unabhängigen Mächte der antihabsburgischen Seite spiegeln die neue pluralistische Situation. Sie hatten keine anderen normativen Möglichkeiten als den völkerrechtlichen Bündnisvertrag, zumal sie auch nicht auf eine gemeinsame konfessionelle Grundlage zurückgreifen konnten. Die Verträge wurden zwischen den Herrschern geschlossen. Für die Niederlande sind es die Generalstaaten, nicht der Statthalter. Gebunden sind ausschließlich die abschließenden Partner. Zwar werden auch die Nachfolger und Erben auf der Seite der Partner genannt, aber sie müssen den jeweiligen Vertrag fortsetzen wollen. Dadurch unterscheiden sich die Bündnisse grundlegend von den „ewigen“ Friedensverträgen der Zeit. Die Bündnisse sollen zwar auch dem Schutz der Sicherheit der Königreiche und sonstigen Herrschaftsgebiete, der Vasallen, Untertanen etc. dienen. Aber diese erscheinen nicht als Subjekte, sondern als Objekte der Vereinbarungen. b. Dauerhaftigkeit Die Bündnisstruktur um 1600 war über ein Jahrhundert stabil. Sie löste sich nicht auf, und erst recht gab es kein renversement des alliances. Zwar wurden 1598, 1604 und 1609 bündnisübergreifende Friedens- bzw. Waffenstillstandsverträge geschlossen. Aber der Frieden war zumindest unsicher und die Bündnisstrukturen blieben erhalten. Mit ihnen ging es 1618 in die Kriege und auch in die Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück. Diese Stabilität unterscheidet sie wohl von den häufig wechselnden Bündnissen zur Zeit Karls V. und davor, die sich eher an den aktuellen Konflikten orientierten. Das habsburgische System wurde durch die Dynastie zusammen gehalten. In den Bündnisverträgen der antihabsburgischen Seite wurden die alten Freundschaften und Vertragsbindungen oft bis weit zurück hervorgehoben und die alten Verträge immer wieder bestätigt und als fortgeltend angeführt, so dass eine kontinuierliche Kette von Verträgen dauerhafter Bündnisse entstand. Somit kann von einer bündnisrechtlichen Strukturbildung gesprochen werden.

schlossen 1761 zum gegenseitigen Beistand einen pacte de famille, Vertrag v. 15. August 1761, Recueil des Principaux Traités d’Alliances, de Paix, de Trêve, de Neutralité etc, conclus par les Puissances de l’Europe, hrsg. von Georg Friedrich Martens, Bd. 1, Göttingen 1791, S. 3.

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c. Ziele und Zwecke Die wenigen Bündnisse der habsburgischen Seite haben einen defensiven, keinen offensiven Charakter. Sie enthalten zwar eine deutlich ausgesprochene religionspolitische Motivation, aber ihre Zwecksetzung ist politisch auf die Verteidigung der bestehenden Verhältnisse überall in ihrem ausgedehnten Machtbereich, auch im Reich, gerichtet. Das allgemeine dynastische Interesse am Erhalt der politischen Stellung der Maison d’Autriche in Europa und im Reich bedurfte offenbar keiner ausdrücklichen vertraglichen Formulierung. Jedoch richteten sich beide Zweige der Casa de Austria allmählich bündnis-politisch unterschiedlich aus, der spanische mehr nach Westen und Süden, der österreichische mehr nach Südosten, Osten und Norden. Zusammengehalten wurden sie noch durch die Dynastie. Da das antihabsburgische Bündnissystem europäischer Mächte konfessionell ein cross-over System war, konnte sein verbindender gemeinsamer Zweck nur politisch sein. Wie die meisten Verträge ganz deutlich hervorheben, war dies der Kampf gegen den Universalismus des Hauses Österreich, vornehmlich gegen die spanischen Könige, der von den evangelischen Partnermächten jedoch nicht nur als eine säkular-politische, sondern auch oder vornehmlich als eine konfessions-politische Bedrohung angesehen wurde. Aber für alle gilt, dass das gesamte Haus Österreich durch sein Vorgehen den gesamten Frieden und die Ruhe der Christenheit störte. Die Tripelallianz von 1625 formulierte das besonders deutlich. Daher wurde wiederholt vereinbart, alle antihabsburgischen Mächte von Italien bis in den Norden und Südosten Europas unabhängig von der Konfession in das jeweilige Bündnis einzubinden, um eine umfassende Koalition gegen die Casa de Austria herzustellen112. Zwar stand der Kampf gegen die spanischen Könige bis zum Beginn des Krieges im Vordergrund. Aber spätestens dann richtete er sich auch, für einige nur gegen die österreichische Linie, den Kaiser. Jedoch waren die Akzentuierungen unterschiedlich. Die französischen Könige sahen sich vor allem den spanischen Königen wegen deren Umklammerung gegenüber gestellt, wie auch die spätere Kriegserklärung von 1635 gegen den spanischen König Philipp IV. widerspiegelt, obwohl der Krieg auch gegen die Kaiser Ferdinand II. und Ferdinand III. geführt und mit letzterem der Friede in Münster geschlossen wurde. Das war der überkommene Gegensatz Habsburg – Valois/Bourbon, der am Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Einmarsch Karls VIII. nach Italien begonnen hatte und immer grundsätzlicher und umfassender wurde. Ludwig XIII. meinte gar, Ferdinand II. handelte auf Druck Philipps IV.113. Für Gustav Adolf ging es hingegen wohl in 112

Selbst die Union umwarb die katholischen italienischen Mächte Venedig und den Herzog von Savoyen. Mit diesem schloss sie am 28. Mai 1619 den Vertrag von Rivoli. 113 Schreiben an den Gouverneur von Paris, den Herzog von Montbazon v. 6. Juni 1635, Corps (wie Anm. 25), S. 106 zur Rechtfertigung seiner Kriegserklärung am 19. Mai 1635.

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erster Linie um den Krieg gegen den Kaiser. So berief er sich in seinem Manifest zur Rechtfertigung seines Kriegseintritts von Juli/August 1630 auf das, was „alle Völker und Staaten der Christenheit“ wüssten, „le dessein perpetuel des Espagnols et de la Maison d’Autriche à la Monarchie Universelle, ou du moins à la conqueste des Estats et Provinces de la Chrestienté d’Occident, et partiquillierement des Principautez et Villes libres de la Germanie“114. Die Gegensätze der anderen Mächte gegen die Habsburger waren auf die Abwehr und Sicherung gegen das spanische oder habsburgische Dominanzstreben auf bestimmten Sachgebieten und in bestimmten Regionen gerichtet, die Freiheit der Religion, die Freiheit der Schifffahrt und des Handels in Ost- und Nordsee, die freie Schifffahrt nach Indien und Amerika, die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft, die reichsständische Libertät, Verfassung und Rechte des Reiches, die Gewinnung territorialen Zuwachses im Reich oder in Italien. Dementsprechend war das antihabsburgische Bündnissystem um den Kern der drei westlichen Mächte Frankreich, Großbritannien und des newcomer Niederlande intern strukturiert. Zwar rückte Schweden kriegspolitisch ab 1630 in das Zentrum der antihabsburgischen Koalition. Aber das strukturelle Dreierbündnis Frankreich – Großbritannien – Niederlande erweiterte sich nicht zu einem echten Viererbündnis. Es blieb bei bilateralen Verträgen mit den Niederlanden und Frankreich. Die territorialen Beschränkungen der Verträge Gustav Adolfs und Christinas mit den Vereinigten Niederlanden auf den Norden und Nordwesten Europas einerseits und die weltweite Ausrichtung der Verträge derselben mit Jakob I. und Karl I. andererseits geben einen Hinweis. Schweden suchte regionalen europäischen Machtzuwachs. Die drei westlichen Mächte begriffen sich hingegen als weltweite Konkurrenz der weltweit agierenden Habsburger, insbesondere der Spanier115. Andererseits blieben Savoyen auf Italien und die evangelischen Reichsstände auf das Reich beschränkt. d. Spaltung Europas? Zwar haben die Bündnisbildungen zwischen 1559 und 1648 zu zwei einander gegenüberstehenden rechtlich verfassten und gefestigten Bündnissystemen mit partiell konfessionellen Akzentuierungen geführt, die mehrfach gegeneinander Krieg führten. Aber schon die zentrale Stellung der allerchristlichsten katholischen Könige Frankreichs im antihabsburgischen Bündnissystem verhinderte eine absolute politisch–rechtliche Spaltung Europas aus konfessionellen Gründen. Beide Seiten behielten die überkommene Vorstellung der 114

Corps (wie Anm. 8), S. 608. So ging es in den Verhandlungen sowohl für die Friedensschlüsse von Vervins 1598 und Westminster 1604 als auch für den Waffenstillstand von Antwerpen 1609 auch um Fragen der Zugänge nach Übersee, dazu GREWE und FISCH (wie Anm. 99). 115

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einen respublica christiana bei. Die Bündnispolitik Philipps II. gegen Heinrich IV. in Frankreich hat gewisse Züge einer absoluten Gegnerschaft. Aber der Frieden von Vervins verbindet beide als christliche Könige aus derselben göttlichen Gnade. Zwar wird mehrmals versucht, ein umfassendes, aber konfessionsübergreifendes Bündnis gegen das Haus Habsburg als den allgemeinen Störenfried des Friedens und der Ruhe Europas zustande zu bringen. Aber in keinem der Bündnisverträge wird dieser rechtlich zum absoluten Feind, z. B. wie die Türken im 16. Jahrhundert zum „ennemi de la chrétienté“ erklärt. Die grundsätzliche gegenseitige Anerkennung als „iustus hostes“ innerhalb der herkömmlichen, wenn auch umstrittenen politischen Ordnung war nicht in Frage gestellt. Die chrétienté bildete trotz konfessioneller Spaltungen nach wie vor die grundlegende Einheit aller. Die Wiederherstellung ihres Friedens (paix) und ihrer Ruhe (repos), die durch das Haus Habsburg gestört seien, wird in vielen Verträgen als grundlegendes Ziel des Bündnisses benannt. Es wurden auch vor 1648 Friedens- und Waffenstillstandsverträge nicht nur über die Bündnis-, sondern auch über die Konfessionsgrenzen hinweg geschlossen, „ad omnipotens Dei gloriam, totius Orbis Christiani beneficium“, wie es im spanisch-englischen Friedensvertrag heißt. In Europa herrschte trotz der hohen Bellizität der Epoche nicht der von Thomas Hobbes in eben dieser Zeit daraus abgeleitete Naturzustand zwischen den Staaten des „bellum omnia contra omnes“. Aber die neue rechtliche Ordnung der respublica christiana musste noch über die konfessionellen und politischen Gegensätze hinweg ausgeformt werden. Das war die Aufgabe der „langen“ zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von den Friedensschlüssen in Münster und Osnabrück 1648 bis zum Frieden von Utrecht und Rastatt 1713/14.

Verhandlungs- und Vertragssprachen in der „niederländischen Epoche“ des europäischen Kongresswesens (1678/79–1713/14) Von

Guido Braun In der Frühen Neuzeit wurde die Vormachtstellung des Lateinischen in der europäischen politischen Kultur zugunsten der Volkssprachen aufgebrochen. Von dieser Entwicklung blieb auch die Diplomatie nicht verschont. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts stellte Latein die erste Diplomatiesprache Europas dar. Um 1750, so lässt sich rückblickend konstatieren, war es vom Französischen als europäische Verkehrssprache in den internationalen Beziehungen weitgehend abgelöst worden. Eine wichtige Etappe auf dem Weg vom Latein zum Französischen als lingua franca der europäischen Diplomatie bildete die Zeit um 1700, die im Hinblick auf das europäische Kongresswesen auch als „niederländische Epoche“ bezeichnet wird. Darunter wird gemeinhin der Zeitraum zwischen den Friedensverhandlungen von Nimwegen und dem Abschluss des Vertragswerks von Utrecht verstanden. Während dieses Zeitabschnitts der Geschichte der Friedensstiftung unter den europäischen Mächten fanden die großen multilateralen Friedenskongresse an niederländischen Orten statt. Die 1678/79 abgeschlossenen Friedensabkommen von Nimwegen beendeten den von Ludwig XIV. in der expansiven Phase seiner Außenpolitik initiierten Holländischen Krieg. Das Friedenswerk von Utrecht (1713), das seine Fortsetzung in den 1714 in Rastatt und in Baden im Kanton Aargau unterzeichneten Verträgen zwischen Frankreich und dem Kaiser beziehungsweise dem Reich fand, legte den Spanischen Erbfolgekrieg bei. Dieser bildete nach dem Großen Nordischen Krieg die längste kriegerische Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts. Zwischen diesen beiden Vertragswerken von Nimwegen und Utrecht fällt als dritte Friedenskonferenz auf niederländischem Boden der Kongress von Rijswijk, durch den 1697 der Pfälzische Krieg beendet wurde, der auch als Neunjähriger Krieg oder (von der französischen Historiographie) als guerre de la Ligue d’Augsbourg bezeichnet wird1. 1

Zur internationalen Politik in Europa während der niederländischen Epoche des Kongresswesens vgl. als Überblick die Handbuchdarstellungen von Heinz DUCHHARDT, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785, Paderborn [u. a.] 1997; DERS., Barock und Aufklärung, München 42007; Guido BRAUN, Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs, 1648–1789, Darmstadt 2008.

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Wie schon bei den Friedensverhandlungen in Münster und in Osnabrück, endeten die drei genannten Kongresse mit mehreren Verträgen. 1648 waren insgesamt drei Verträge geschlossen worden: zwischen Spanien und den Generalstaaten am 30. Januar auf Niederländisch und Französisch sowie am 24. Oktober zwischen Kaiser und Reich einerseits sowie Frankreich beziehungsweise Schweden andererseits jeweils auf Lateinisch. Weder 1648 noch auf den Kongressen der niederländischen Epoche (Nimwegen, Rijswijk und Utrecht) gab es eine einheitliche Vertragssprache. Auch die Verhandlungssprachen, die mit den Vertragssprachen nicht identisch sein mussten und es oftmals tatsächlich nicht waren, variierten je nach den Verhandlungspartnern. In einem ersten Schritt ist daher festzuhalten, in welchen Sprachen zwischen 1678/79 und 1713/14 Friedensverträge ausgehandelt und ausgefertigt wurden. Dabei wird zu untersuchen sein, inwieweit der Westfälische Friedenskongress, den man auch als den „Archetypus“ der modernen Friedenskongresse bezeichnet hat2, bei diesen Verhandlungen und Vertragsschlüssen ein Vorbild darstellte. Ferner ist nach den Gründen zu fragen, welche bei den Kongressen der niederländischen Epoche die Auswahl der Verhandlungsund Vertragssprachen leiteten. Schließlich sollen diese Kongresse, die trotz der Verstetigung des europäischen Kongresswesens eine Ausnahmesituation blieben, in Relation zum diplomatischen Alltagsgeschäft gesetzt werden. Dafür werden als Vergleichsfolie europäische Verträge aus dem Zeitraum von 1678 bis 1714 herangezogen, die in der Friedensvertrags-Datenbank des Instituts für Europäische Geschichte Mainz publiziert sind. I. Die Vertrags- und die Verhandlungssprachen in der niederländischen Epoche des europäischen Kongresswesens. Eine Bestandsaufnahme In Nimwegen rekurrierten die Unterhändler – zumindest in einigen Punkten nachweislich bewusst – auf die Verhandlungsformen und damit auch auf die Vertrags- und Verhandlungssprachen, die in Münster benutzt worden waren. Daher ist die Ausgangslage, die auf dem Westfälischen Friedenskongress geschaffen worden war, zunächst kurz darzustellen. Der Ausgangspunkt: Vertrags- und Verhandlungssprachen in Münster und Osnabrück In Münster und Osnabrück existierte keine allgemein verbindliche Regel oder Übereinkunft über die Verhandlungssprachen3. Dieser Umstand ist auf die 2

Jörg ULBERT, Artikel „Kongresspolitik“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. VI, Stuttgart 2007, Sp. 1086–1088, hier Sp. 1087. 3 Die sprachliche Situation und die Übersetzungsprobleme auf dem Westfälischen Friedenskongress sind bereits verschiedentlich behandelt worden. Einzelnachweise für den

Braun, Verhandlungs- und Vertragssprachen

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Struktur des Kongresses zurückzuführen, der nicht zu Plenarsitzungen zusammentrat, sondern sich durch bilaterale (direkte oder über Vermittler geführte) Verhandlungen bestimmter Mächte in den Gesandtschaftsquartieren und in der Form eines Quasi-Reichstags sowie in den konfessionellen reichsständischen Gremien des Corpus Catholicorum und des Corpus Evangelicorum konstituierte. Das Lateinische als lingua communis des christlichen Abendlandes und als neutrale Diplomatensprache par excellence war zwar die wichtigste, aber längst nicht die einzige Verhandlungssprache. In Latein, das schon in der Goldenen Bulle von 1356 als von Reichs wegen benutzte Sprache erwähnt und in der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 sowie den folgenden kaiserlichen Wahlkapitulationen neben dem Deutschen als zweite Amtssprache des Reiches fixiert wurde, wurden die Friedensverträge mit Frankreich und mit Schweden aufgesetzt. Hingegen war der spanisch-niederländische Sonderfriede ein zweisprachiges, in Niederländisch und in Französisch abgefasstes Vertragsinstrument. Neben dem Lateinischen gehörte auch das Französische zu den in mündlichen Gesprächen und Verhandlungen sowie in schriftlichen Dokumenten benutzten Verkehrssprachen des Kongresses. Ferner kam dem Italienischen (unter anderem als Muttersprache der Mediatoren, des Nuntius Chigi und des venezianischen Botschafters Contarini) eine sehr bedeutende Rolle zu. Weiterhin wurden Deutsch und, in etwas geringerem Maß, Spanisch und Niederländisch benutzt. Das Deutsche war vor allem in Osnabrück sehr verbreitet. Es wurde nicht nur von den Deutschen selbst, sondern auch von den Repräsentanten der nordischen Mächte verwendet. Komplizierter war die Situation in Münster, wo germanische und romanische Muttersprachler aufeinandertrafen. Wenngleich in Westfalen keine allgemeine Vereinbarung über die Verhandlungs- und die Vertragssprachen getroffen wurde, gab es doch bilaterale Abmachungen hierüber. Wie über andere Fragen des Zeremoniells und des Verhandlungsprozederes, so wurde auch über die zu benutzenden Sprachen folgenden Überblick finden sich in den ausführlicheren Darstellungen von Guido BRAUN, Les traductions françaises des traités de Westphalie (de 1648 à la fin de l’Ancien Régime), in: XVIIe siècle 190 (1996), S. 131–155; DERS., Une tour de Babel? Les langues de la négociation et les problèmes de traduction au Congrès de la paix de Westphalie (1643–1649), in: Le Diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses, hrsg. von Rainer Babel, München 2005, S. 139–172; DERS., Fremdsprachen als Fremderfahrung. Das Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, in: Wahrnehmung des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, hrsg. von Michael Rohrschneider und Arno Strohmeyer, Münster 2007, S. 203–244. Zu den Diplomatiesprachen im 17. und 18. Jahrhundert vgl. ferner DERS., Frédéric-Charles Moser et les langues de la diplomatie européenne (1648–1750), in: Revue d’histoire diplomatique 113 (1999), S. 261–278; DERS., Hegemonie (wie Anm. 1), S. 181–202; DERS., La connaissance du Saint-Empire en France du baroque aux Lumières (1643–1756), München 2010, S. 185–340, zu den Westfälischen Friedensverhandlungen besonders S. 211–237.

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verhandelt. Die Sprachen waren also nicht nur Instrument, sondern auch Gegenstand der Verhandlungen. Dies gilt im Übrigen auch für die niederländischen Kongresse. Die Haltung in der Sprachenfrage übernahm in Westfalen – wie später auch in Nimwegen – die Funktion eines Indikators: Der Wille, zu einer politischen Übereinkunft zu gelangen, manifestierte sich nicht selten in sprachlichen Konzessionen, während Intransigenz in diesem Punkt mangelnde Verhandlungsbereitschaft signalisierte. Allein die Spanier und die Niederländer folgten in ihrem Sprachgebrauch einer konkreten, schriftlichen Vereinbarung, die am 5. Mai 1646 getroffen wurde4. Sie sah Latein, Französisch und Niederländisch als mündliche Verhandlungssprachen vor; die Schriftsätze sollten allerdings ausschließlich in Französisch und Niederländisch aufgesetzt werden. Diese beiden Sprachen waren in gewissem Sinn auch die eigenen Sprachen der Spanier, denn es handelte sich um die Verwaltungssprachen der Niederlande (auch der Spanischen)5. Der Kompromiss in puncto Zeremoniell und Sprachen war Ausdruck des politischen Willens der Spanier, zu einem Waffenstillstand oder Friedensschluss mit den Generalstaaten zu gelangen. Für die Niederländer, die ihre Souveränität durchzusetzen suchten, war die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Sprache wichtig; daher benutzten sie auch im Verkehr mit den Franzosen Niederländisch neben Französisch. Besonders schwierig gestalteten sich dagegen die französisch-spanischen Verhandlungen über die Vertragssprachen, während die (letztlich gescheiterten) Friedensverhandlungen zwischen beiden Parteien bereits festgefahren waren. Das Herkommen, mit dem sowohl die französische als auch die spanische Seite argumentierten, war umstritten und bedurfte daher zunächst einer Klärung. Der französische Staatssekretär Brienne wies den Prinzipalgesandten Longueville schließlich an, einem zweisprachigen, französisch-spanischen Vertragsinstrument zuzustimmen, weil dies auch in der Vergangenheit so gehandhabt worden sei, sofern man nicht auf eine dritte (neutrale) Sprache zurückgegriffen habe6. Nach dem Kongress von Nimwegen wurde 1682 in

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Die spanisch-niederländische Vereinbarung zu den allgemeinen Verhandlungsprinzipien, zum Zeremoniell und zur Sprachenfrage ist kopial überliefert: Paris, Ministère des Affaires étrangères (im Folgenden zitiert: AE), Correspondance politique (CP) Munster 1 fol. 21– 21’; Paris, Institut de France, Collection Godefroy (IF, CG) 87 fol. 396–397; Druck: Leo ab AITZEMA, Historia Pacis, A’ Foederatis Belgis, Ab Anno (I)I)(XXI. ad hoc usque tempus Tractatæ, Leiden 1654, S. 376. 5 Zur sprachrechtlichen Situation in den Spanischen bzw. Österreichischen Niederlanden vgl. Thomas NICKLAS, Praxis und Pragmatismus. Zum offiziellen Sprachengebrauch in den Spanischen und Österreichischen Niederlanden, in: Politik und Sprache im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. von dems. und Matthias Schnettger, Mainz 2007, S. 113–125. 6 Brienne an Longueville, Paris, 15. März 1647; französische Kopie: AE, CP All. 99 fol. 152–153’, hier fol. 152; Druck einer spanischen Übersetzung: Colección de documentos inéditos para la historia de España, hrsg. von Marqués de la Fuensanta del Valle, José

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Frankfurt bei der französischen Konferenz mit Kaiserlichen und Reichsständen der Grundsatz der gleichberechtigten Verwendung der Sprachen beider Verhandlungspartner von der französischen Seite im Übrigen als völkerrechtliches Vorbild formuliert. Was die Sprachgewohnheiten unter den Parteien betrifft, die kein Abkommen zur Sprachenfrage getroffen hatten, ist grundsätzlich zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch zu differenzieren. Als schwieriger erwies sich die Regelung des schriftlichen Sprachgebrauchs, denn dieser war eventuell für die Zeitgenossen und die Nachwelt nachvollziehbar. Anweisungen zum Sprachgebrauch, die das Prinzip der Latinität der schriftlichen Verhandlungen formulierten, aber einen größeren Spielraum für die Unterredungen eröffneten, erhielten die schwedischen Gesandten von ihrer Heimatregierung bereits in der Hauptinstruktion mit auf den Weg nach Osnabrück7. Die ersten sehr diskreten Versuche von französischer Seite, die eigene Sprache als Diplomatensprache zu etablieren, beschränkten sich im Wesentlichen darauf, selbst Französisch verwenden zu dürfen, ohne Widerspruch zu ernten. Diesen formulierten die Kaiserlichen, als die Franzosen ihre erste Friedensproposition auf Französisch präsentierten8. Aber auch kleine Reichsstände bestanden nicht selten auf der Verwendung des Lateinischen9. Für die französische Seite liegt ein Rechtsgutachten über die anzustrebende Regelung der Vertragssprache mit den Kaiserlichen vor; Théodore Godefroy, der juristische Berater der französischen Gesandten in Münster, ist als dessen

Sancho Rayon und Francisco de Zabalburu, Bd. 83, Madrid 1885, ND Vaduz 1966, S. 192–195. 7 Text der schwedischen Hauptinstruktion vom 5./15. Oktober 1641: Acta Pacis Westphalicae (APW), hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. durch Max Braubach (†), Konrad Repgen und Maximilian Lanzinner, bislang 42 Teilbände, Münster seit 1962, hier Serie I: Instruktionen, Bd. 1: Frankreich-Schweden-Kaiser, bearb. von Fritz Dickmann [u. a.], Münster 1962, Nr. 17, bearb. von Ernst Manfred Wermter, S. 231–255; zu den Verhandlungs- und Vertragssprachen: Artikel 27 und [53], S. 245 und 255. 8 Vgl. Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden, Münster 1959, 71998, S. 214; APW (wie Anm. 7), Serie III, Abteilung C: Diarien, Bd. 2: Diarium Volmar 1643–1649, 1. und 2. Teil: Text, bearb. von Roswitha Philippe und Joachim Foerster, Münster 1984, hier Teilbd. 1, S. 452 f. unter dem 16. Oktober 1645. 9 Beim Straßburger Gesandten Markus Otto stießen die Franzosen beispielsweise auf Widerstand, als sie ihn mit dem Hinweis, dass das Französische in seiner Heimatstadt bekannt sei, dazu verleiten wollten, ihre Sprache zu gebrauchen. Der Vertreter der Stadt Straßburg bediente sich jedoch des Lateinischen, weil die Straßburger als deutsche Muttersprachler gemeinhin Deutsch sprächen und das Lateinische als (internationale) Verkehrssprache akzeptierten; vgl. Winfried KATTERFELD, Die Vertretung Straßburgs auf dem Westfälischen Friedenskongress, Straßburg 1912, S. 12.

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Verfasser anzunehmen10. Das französische Gutachten gelangt zu derselben Schlussfolgerung, die auch die Schweden und die Kaiserlichen vertraten: Die Verträge seien auf Latein abzufassen11. Unter anderem – so betonte Godefroy – seien die deutsche und die französische Sprache und ihre jeweiligen Rechtsbegriffe derart unterschiedlich, dass ein zweisprachiges deutschfranzösisches Abkommen unweigerlich zu mannigfachen Zweifelsfällen führen müsse; Vorbild solle daher die lateinische Sprache des Regensburger Vertrags von 1630 sein. Aus diesem Gutachten ist zum einen ersichtlich, dass Latein zwar die vorherrschende Diplomatensprache war, jedoch keineswegs so unangefochten, dass es keiner Vorüberlegung zum Sprachgebrauch bedurft hätte. Zum anderen ist bisweilen in der Literatur unterstellt worden, das Lateinische habe seine Führungsrolle eingebüßt, weil es die Ideen der modernen Welt nicht mehr auszudrücken vermocht habe12. Nach Godefroys Einschätzung (das heißt der Meinung eines ausgewiesenen Rechtsexperten seiner Zeit zufolge) war dem mitnichten so. Wenn man die von Godefroy angeführten rechtlichen Argumente betrachtet, so wird deutlich, dass die Richtschnur, an der sich der Rechtsberater orientierte, das Herkommen war. Der deutsche Jurist Friedrich Carl Moser nennt 1750 in seiner Definition des Begriffs Staats=Sprachen zwei Rechtsgrundlagen, auf denen die Sprachenwahl sich gründet: zum einen das genannte Herkommen, zum anderen besondere Vertrage und Schlusse, das heißt positives Recht13. Auch Moser insistiert aber hauptsächlich auf der Verbindlichkeit des Herkommens14. 10

Das französische Gutachten unter dem Lemma Que le traicté de paix entre l’Empereur et le Roy se doibt plustost faire en langue latine que en [sic] langue françoise ist überliefert: IF, CG 22 fol. 90–91’. 11 Die schwedischen und die kaiserlichen Positionen lassen sich aus den Instruktionen bzw. aus den Stellungnahmen in den Verhandlungen deduzieren. Ein Godefroys Memorandum vergleichbares Gutachten zur Sprachenfrage ließ sich jedoch nicht ermitteln. 12 Vertreten hat diese Position namentlich Ferdinand BRUNOT, Histoire de la langue française des origines à nos jours, Nouvelle édition, 13 Bde. in 20 Teilbänden, Paris 1966– 1968, hier Bd. V, S. 388 f.: „malgré la Renaissance et aussi à cause de la Renaissance, le latin avait cessé d’être apte à vivre de la vie des nations modernes. Restauré dans sa pureté antique, il était devenu en effet par cela même à peu près incapable d’exprimer certaines idées modernes, scientifiques ou politiques.” 13 „Unter den Staats=Sprachen verstehe ich diejenige Sprachen, deren sich souveraine Staaten und Regenten, und deren Gesandte, sowohl in schrifftlichen Handlungen, als mundlichen Unterredungen und Vortragen, entweder freywillig bedienen, oder, Krafft, Herkommens, ingleichen besonderer Vertrage und Schlusse, gebrauchen mussen“; Friedrich Carl MOSER, Abhandlung von den Europäischen Hof- und Staats-Sprachen, nach deren Gebrauch im Reden und Schreiben. Mit authentischen Nachrichten belegt, Frankfurt 1750, S. 2 f. 14 Moser begründet die Anlage seiner Schrift folgendermaßen: „ich habe nur jedesmal die Regel festsetzen und dieselbe so dann (weil doch alles in dergleichen Sachen auf dem Beweiß des Herkommens beruhet) mit Anfuhrung etlicher Exempel erlautern wollen“; MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13), S. 46 f. Anm. (*).

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Hinsichtlich der Sprachen der schriftlichen Verhandlungen beim Westfälischen Friedenskongress ist zusammenfassend festzuhalten, dass die Kaiserlichen und die Schweden sich des Lateinischen bedienten, die Franzosen (ungeachtet des Widerspruchs der Kaiserlichen) des Französischen und die Spanier gegenüber den Franzosen des Spanischen15. Mündliche Vorschläge wurden von den Mediatoren, die sie auch in Französisch und Spanisch anzuhören pflegten, häufig in Italienisch notiert und später gegebenenfalls in Latein übersetzt16. Quellenbelege zu den mündlichen Sprachgewohnheiten finden sich vor allem in den Korrespondenzen aus der Anfangszeit des Kongresses und in den Diarien17. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Latein18, Italienisch, Französisch und ein wenig Spanisch gingen in Münster relativ freizügig durcheinander; in Osnabrück herrschte ein mit Latein durchsetztes Deutsch vor19. Das Bemühen der Kongressgesandten, sich an Vorbildern (sei es der spanisch-französische Friede von Vervins, sei es der Sprachgebrauch an der römischen Kurie oder ähnliche Präzedenzfälle) zu orientieren, belegt den Einfluss der Tradition auf diesen Kongress, der im Wesentlichen frühere Traditionslinien bündelte und in Anwendung auf eine neue Situation punktuell weiterentwickelte. Das Französische stand zur Zeit des Westfälischen Friedens noch nicht im Glanz des Sonnenkönigs und der politischen und 15

Ferner sind die zweisprachigen (spanisch-französischen) Verhandlungsakten zu nennen. In ihren Verhandlungen mit den Niederländern bedienten sich die Spanier, wie gesagt, des Französischen und des Niederländischen; aus diesem Grunde sind die spanischniederländischen Provisionalartikel vom 8. Januar 1647 in diesen beiden Sprachen verfasst. Das Gleiche gilt für den Frieden vom 30. Januar 1648. 16 Dass Chigi bereit war, Vorschläge in Französisch oder Spanisch anzuhören, im Gegenzug aber selbst Italienisch sprach, berichtet er der Kurie in einem Resümee seiner Mitteilungen an den Pariser Nuntius Bagni; Chigi [an das Staatssekretariat], Münster, 1. Mai 1648 (dechiffriert 20. Mai), Dechiffrat: Archivio Segreto Vaticano, Nunziature per le Paci 22 fol. 115–116 (Zitat fol. 116), mit Dorsal fol. 116’. Als Beispiel für die Übersetzung vom Lateinischen ins Italienische sind anzuführen Contarinis Aufzeichnungen vom 30. November 1646 über die Vereinbarung zwischen dem Schweden Salvius und den französischen Gesandten betr. die kurbrandenburgische Entschädigung für die Zession Pommerns; italienische Kopie: Paris, Bibliothèque de l’Assemblée Nationale, Manuskript 276 fol. 389. 17 Vgl. insbesondere das Diarium Volmar (APW III C 2 [Anm. 8]). Einige Gesandtschaften, namentlich die schwedische, berichten über die Sprachgewohnheiten genauer als andere (die Franzosen übersetzen in der Regel sogar stillschweigend Zitate ihrer Verhandlungspartner). 18 Vgl. zum Lateinischen als mündlicher Verkehrssprache vor allem in der spätmittelalterlichen Diplomatie Thomas HAYE, Die lateinische Sprache als Medium mündlicher Diplomatie, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hrsg. von Rainer Schwinges und Klaus Wriedt, Ostfildern 2003, S. 15–32. 19 Beispiele hierzu finden sich, trotz der besagten Unterschiede, in den Berichten oder in den Diarien aller Gesandtschaften der Großmächte, und zwar entweder in Form expliziter Hinweise zum Sprachgebrauch oder in Form von fremdsprachigen Zitaten aus den Verhandlungen.

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kulturellen Suprematie Frankreichs, die eine spätere Erscheinung waren und deren sprachliche Folgen auf den Kongressen der niederländischen Epoche deutlicher hervortraten. Auf dem Westfälischen Friedenskongress gehörte es nicht zu den Sprachen, die allgemein verstanden wurden. Daher baten die Reichsstände, wie wir aus den Osnabrücker Fürstenratsprotokollen erfahren, am 9. Juli 1648 bei der Erörterung eines lothringischen Memorandums darum, „daßelbe ad dictaturam zu bringen und nebens dem Französischen original auch eine version in einer sprache, so allen gesandten bekant, also in der Teutschen oder Lateinischen“ zu verlesen20. Noch 1682 ersuchte der französische Resident beim Regensburger Reichstag Verjus andere diplomatische Vertreter Frankreichs im Reich darum, man möge ihm lateinische Schriftsätze einreichen, denn bei der Reichsdiktatur säßen 50 Sekretäre, die kein Französisch verstünden21. Der theoretischen Literatur zufolge wurde der Westfälische Kongress selbst zum sprachlichen Vorbild für das folgende Jahrhundert. So stellte es Friedrich Carl Moser später dar22. Ob diese Einschätzung allgemein ganz zutrifft, haben genauere Untersuchungen der Aktenberge zu zeigen, die das betreffende Jahrhundert uns hinterlassen hat23. Hinsichtlich der niederländischen Epoche der europäischen Kongresspolitik ist dieser Frage nun zunächst anhand des Nimwegener Kongresses nachzugehen. Zwischen Tradition und Innovation: Der Friedenskongress von Nimwegen Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für die folgenden Friedenskongresse konstatiert Rietbergen: 20

Plenum, Sitzung des Fürstenrates sowie Re- und Correlation, Osnabrück, 29. Juni/9. Juli 1648; APW (wie Anm. 7), Serie III, Abteilung A: Protokolle, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, Teile 1–6: 1645–1648 Juli, bearb. von Maria-Elisabeth Brunert (Teil 3: und Klaus Rosen), Münster 1998–2009, Teilbd. 6, Nr. 190, S. 239–255, namentlich Salzburgisches Direktorium in der Re- und Correlation, S. 251–253, Zitat S. 253; für den Hinweis auf diese Belegstelle danke ich der Bearbeiterin. 21 Zur Kenntnis des Französischen bei der Reichsdiktatur wörtlich: „où il y a cinquante secrétaires qui ne l’entendent pas“; Louis comte de Verjus de Crécy an die französischen Unterhändler bei der Frankfurter Konferenz, Saint-Romain und Harlay, [Regensburg], 4. Mai 1682, Kopie: AE, CP All. 297 fol. 150–155, Zitat fol. 153’. 22 MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13) wählte den Kongress als chronologischen Ausgangspunkt seiner Betrachtungen zu den Hof- und Staatssprachen; vgl. auch BRAUN, Moser (wie Anm. 3). 23 In diesem Zusammenhang erweist es sich als gravierender Nachteil, dass den APW entsprechende, moderne Akteneditionen für die folgenden Friedenskongresse, namentlich für Nimwegen und Rijswijk fehlen, die fast ausschließlich über die Forschungsliteratur, Quelleneditionen des späten 17. und 18. Jahrhunderts sowie die Originalakten zu erschließen sind. Zu Utrecht vgl. Lucien BÉLY, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990, S. 450–455.

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The congresses of Munster and Osnabrück have been called the laboratory of the theorists of international law, and indeed, a great number of ideas of diplomatic procedure, which had been more or less put into practice in the 15h and 16th centuries, were, by their acceptance at Munster, definitely enshrined in the corpus of empirical data which scholars began to use in their text-books – and stored in the powder-flask of precedents, which diplomats used in their battles at the following congresses24.

Folgte man in Nimwegen auch in der Sprachenfrage den Gewohnheiten des Westfälischen Friedenskongresses, oder bezogen sich die Gesandten dort zumindest – wie Rietbergen nahelegt – auf die Präzedenzfälle aus Münster und Osnabrück? Auf dem Nimwegener Friedenskongress fanden sich gleichfalls mehrere vielsprachige Gesandte zusammen. Schweden wurde unter anderem durch Johann Paulin Oliverkrantz vertreten, der neben seinem Verhandlungsgeschick durch seine Sprachkenntnisse und literarischen Fähigkeiten hervortrat25. Wegen seiner außergewöhnlichen Sprachkompetenz fiel ebenfalls der kaiserliche Gesandte Baron Johann von Goes, Bischof von Gurk in Kärnten, auf. Er hatte den Kaiser zuvor bereits in Warschau und Den Haag sowie in türkischen Angelegenheiten vertreten26. Der englische Gesandte Sir William Temple war durch seine Teilnahme an den Verhandlungen zu den Friedensverträgen von Aachen und von Westminster (1668 und 1674) kongresserfahren, auch sonst viel gereist, vor allem durch Frankreich, und galt in vielen Sprachen als bewandert27. Nach Paul Otto Höynck „verstanden und sprachen“ auf dem Nimwegener Friedenskongress „alle Diplomaten Französisch“. Er fährt fort: „Selbst Engländer, Spanier, Deutsche etc. hielten ihre Konferenzen in französischer Sprache. Die meisten Papiere wurden bereits in Französisch abgefaßt, wenngleich das Dokumentenlatein noch nicht ganz verdrängt war und von den Kaiserlichen wie von der Kirche ausschließlich benutzt wurde. Die in Nymwegen tätigen französischen Diplomaten“, so schließt Höynck seine kurzen Ausführungen zur Sprachenfrage, „wunderten sich jedenfalls über den außerordentlichen Fortschritt, den die französische Sprache im Ausland gemacht habe“28. Diese Aussage stützt sich auf die Memoiren Temples, die 24 P. J. RIETBERGEN, Papal Diplomacy and Mediation at the Peace Congress of Nijmegen, in: La paix de Nimègue, 1676–1678/79. Actes du colloque international du tricentenaire, Nijmegen 1978 septembre 14–16, hrsg. von J. A. H. Bots, Amsterdam 1980, S. 29–96, hier S. 30. 25 Paul Otto HÖYNCK, Frankreich und seine Gegner auf dem Nymwegener Friedenskongreß, Bonn 1960, S. 39 f. 26 Dennoch wird berichtet, dass die Besuche Goes’ von seinen Kollegen nicht geschätzt wurden, weil sie immer länger als drei Stunden gedauert hätten; HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 41 f. 27 HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 43 f. 28 HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 57.

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allerdings auch über einen veritablen Sprachenstreit in Nimwegen berichten29, hauptsächlich aber auf die Geschichte des Nimwegener Friedenskongresses, die Saint-Didier bereits 1680 veröffentlichte30. Dieser hatte sich im Gefolge von Jean-Antoine de Mesmes, comte d’Avaux, einem der französischen Botschafter, in Nimwegen befunden und darf somit als Augenzeuge gelten. Auch Roelofsen rekurrierte 1999 bei seiner kurzen Schilderung der Sprachgewohnheiten in Nimwegen auf Saint-Didier: Der Winter 1677/78 wurde zu einer richtigen ‚Saison’ mit Karnevalsfeiern, professionellem und Liebhabertheater. Die gemeinsame Sprache dieses gesellschaftlichen Verkehrs war das Französische. Nach der Formulierung Bruno Neveus entstand auf diese Weise eine „communauté d’expression assurée par la langue française“31. Und Roelofsen fährt seinerseits fort: „Es war, nach dem zeitgenössischen französischen Geschichtsschreiber des Kongresses [Saint-Didier], das erste Mal, daß ein europäischer Kongreß das Französische in dieser Weise anerkannte. Die diplomatische Solidarität und der Sieg der französischen Sprache inspirierten sogar die gemeinsame Einladung einer französischen Schauspielertruppe 32. Auf Saint-Didier gründen sich auch die Ausführungen Ragnhild Hattons zu den Sprachgewohnheiten in Nimwegen: ˮ

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Vgl. unten. HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25) benutzt (laut Literaturverzeichnis, S. 210) die zweite Auflage London 1692; das Werk wurde auch in französischer Übersetzung 1692 zum zweiten Mal aufgelegt: [William] TEMPLE, Memoires de ce qui s’est passé dans la Chretienté, depuis le commencement de la guerre en 1672, jusqu’à la paix coucluë [sic] en 1679. Par Monsieur le Chevalier Temple […] Traduit de l’anglois. Seconde édition, revuë & corrigé[e], La Haye 1692. Darin führt Temple im Kontext des Kongressreglements zu den Sprachgewohnheiten bei den von den Engländern geführten Verhandlungen aus: „nous nous appliquâmes à proposer quelques réglemens pour conserver la tranquilité, & pour prevenir tous les desordres qu’une si grande Assemblée, que celle-là devoit être, selon toutes les apparences, pouvoit causer dans une Ville si petite que Nimegue, & dont les ruës sont extremement étroites. Nous songeâmes aussi à fixer l’étenduë de la Neutralité aux environs de la Place, afin que la Compagnie qui s’y rendroit pût se divertir, & se promener. A l’égard du premier point nous donnâmes certains articles par écrit aux Ambassadeurs de France & de Hollande, & nous les priâmes d’y vouloir consentir, ne doutant point que tous ceux qui viendroient ensuite ne se conformassent aux reglemens, dont ils seroient convenus auparavant avec nous à nôtre priere. Les voici en François dans les mêmes termes que nous les leur donnâmes. Ce fut de cette langue que nous nous servîmes dans toutes les conferences, & dans laquelle la plûpart des Actes de ce Traité furent écrits“; ebd., S. 194 f. Es folgt die französischsprachige Version des Kongressreglements und eine Schilderung der darüber stattfindenden Verhandlungen. 30 [Alexandre Toussaint de LIMOJON DE SAINT-DIDIER], Histoire des negotiations de Nimegue, 2 Bde., Paris 1680. 31 Vgl. NEVEU, Nimègue ou l’art de négocier, in: Bots, Nimègue (wie Anm. 24), S. 237– 260, hier S. 244 f. 32 C. G. ROELOFSEN, Von Nimwegen (1676–79) bis Utrecht (1712–13). Die „niederländische Epoche“ in der Geschichte des europäischen Kongreßwesens, in: Städte und Friedenskongresse, hrsg. von Heinz Duchhardt, Köln [u. a.] 1999, S. 109–115, hier S. 113.

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Language, on the other hand, presented no problem: French being, as one observer noted, ‚almost the Mother tongue’ of all who attended the congress and even of their families. It was also largely used (though not always: German being also in evidence) in the written or printed memorials which were handed to the mediators and in the conter-proposals or answers which were then delivered by interested parties33.

Wie verlässlich ist jedoch in der Sprachenfrage die angeführte Quelle? Schon Brunot hob hervor, dass Saint-Didier die Verbreitung des Französischen auf dem Kongress überzeichne34. Diese Kritik Brunots ist von den nachfolgenden Historikern oftmals übersehen worden. Brunot weist ferner darauf hin, dass Saint-Didier – anders als es die späteren Historiker und Sprachhistoriker suggerieren – an keiner Stelle behaupte, das Französische sei die offizielle Kongresssprache gewesen. Von einer allgemeinen Anerkennung des Französischen als Verhandlungssprache ist bei diesem Gewährsmann nicht die Rede. Für formelle Friedensverhandlungen galten anders als bei gesellschaftlichen Anlässen bestimmte verbindliche Regeln. Brunot selbst folgert, dass sich die Sprachgewohnheiten in Nimwegen gegenüber dem Westfälischen Friedenskongress nicht grundlegend verändert hätten. Als zutreffenden Kern der Beobachtungen Saint-Didiers wird man die augenfällig zunehmende Beherrschung des Französischen durch die europäischen Diplomaten annehmen dürfen. Insoweit ist sein Bericht mit der Aktenüberlieferung des Kongresses konform. Dagegen kann in Nimwegen von einer allgemeinen Benutzung oder gar Verbindlichkeit des Französischen als Verhandlungssprache noch keine Rede sein. Trotz der Fortschritte, die ihre Sprache bei den fremden Gesandten gemacht hatte, betonten die französischen Unterhändler selbst gegenüber den (englischen) Mediatoren, namentlich Temple, dass deren Kenntnisse keines33

Ragnhild HATTON, Nijmegen and the European Powers, in: Bots, Nimègue (wie Anm. 24), S. 1–16, hier 8. Für den zweiten Teil dieser Schilderung bietet Hatton keinen Beleg, während für den ersten die 1681 in London erschienene englische Übersetzung einer zuvor (wie Hatton meint: angeblich) in französischer Sprache publizierten und Colbert gewidmeten Geschichte des Friedens von Nimwegen angeführt wird. Hatton behauptet zwar, es habe vor 1681 überhaupt keine gedruckte französische Darstellung dieses Friedenskongresses gegeben, übersieht dabei jedoch die erstmals 1680 veröffentlichte und Colbert gewidmete Kongressgeschichte Saint-Didiers (vgl. Anm. 30). 34 Neben den genannten modernen Autoren benutzte auch Nicolas-Louis Le Dran, ein leitender Beamter (premier commis) im französischen Außenministerium, 1722 in einer Denkschrift über das Zeremoniell des Friedenskongresses von Nimwegen (und dessen Verhandlungssprachen) die Darstellung Saint-Didiers, die somit schon die Vorstellungen der französischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts über die Diplomatensprachen des vorangegangen Jahrhunderts mit prägte; vgl. AE, Mémoires et documents (im Folgenden: MD) Hollande 40: Mémoire sur le cérémonial observé au congrès de Nimègue, von Le Dran, 1722, Kopie aus dem 18. Jahrhundert, darin fol. 40’ Verweis auf Saint-Didier zur Sprachenfrage; diese Textstelle wurde schon hervorgehoben durch BRUNOT, Histoire (wie Anm. 12), Bd. V, S. 406 f.

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wegs denen eines französischen Muttersprachlers entsprachen und somit nicht als tatsächlich verhandlungssicher zu bezeichnen seien. Daher lehnten sie es ab, ein von diesen präsentiertes gemeinsames Formular für die Vollmachten der in Nimwegen vertretenen Gesandtschaften anzuerkennen, denn es enthalte Mängel in seiner Diktion und seiner Substanz35. Der Vermittler Temple, der das Zeremoniell im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen als überflüssiges Beiwerk ansah36, greift in seinen Memoiren nur zwei zeremonielle Streitfragen detaillierter auf: Neben der Behandlung Kurbrandenburgs geht er auf das Streben der schwedischen und der dänischen Bevollmächtigten nach Gleichbehandlung aller gekrönten Häupter ein. Dabei ging es auch um die Sprache der Vollmachten. Dänemark wollte die französischsprachigen Vollmachten der Gesandten Ludwigs XIV. nicht akzeptieren und bestand auf Latein – sonst werde man die eigene Vollmacht auf Dänisch vorlegen37. Die französischen Vertreter entgegneten ihm, dass sie auch bei früherer Gelegenheit ihre Vollmachten schon auf Französisch präsentiert hätten, und schlugen ihm vor, dies anhand von zwei Vertragsverhandlungen zu belegen, die der dänische Gesandte aus den letzten drei Fällen auswählen könne38; wenn der dänische Vertreter ihnen das Gegenteil beweise, möge er ihnen seine eigene Vollmacht nicht nur auf Dänisch, sondern gar auf Hebräisch aushändigen. Der dänische Gesandte insistierte zwar zunächst, dass Latein als lingua communis zu gelten habe, dass etwaige frühere französische Vollmachten nicht regelkonform ausgestellt worden seien (mauvais) und dass das dänische Königtum unterdessen erblich geworden sei und der 35

Vgl. französische Kongressbotschafter an Ludwig XIV., [Nimwegen], 29. Dezember 1676; [Godefroy D’ESTRADES], Lettres et negociations de Messieurs le Marechal d’Estrades, Colbert, Marquis de Croissy, et Comte d’Avaux, Ambassadeurs Plenipotentiaires du Roi de France, à la paix de Nimegue, et les reponses & instructions du Roi, & de Monsieur de Pomponne, 3 Bde., La Haye 1710, Bd. I, S. 403–410, hier 406. Zwar hatten die Mediatoren betont, dass das Vorgehen in Münster dem Prozedere in Nimwegen nicht zum Vorbild dienen solle, die französischen Gesandten bezogen dieses Diktum aber nur auf die dort hauptsächlich durch die umständlichen schriftlichen Verhandlungsformen entstandenen Langatmigkeiten und Verzögerungen; vgl. ebd., hier S. 405 f. 36 Zu seiner Bewertung der zeremoniellen Streitigkeiten vgl. TEMPLE, Memoires (wie Anm. 29), S. 228 f. 37 „L’Ambassadeur de Dannemarc ne cédoit pas aux Suedois en delicatesse: car lors que les Ministres de France eurent remis leur Plein-pouvoir en François, celuy de Dannemarc dit qu’il donneroit le sien en Dannois, à moins que les François ne donnassent le leur en Latin, qui devoit être la langue commune, alleguant qu’il ne reconnoissoit point de difference entre les Têtes Couronnées; que les Rois de Dannemarc avoient été aussi puissants que le Roy de France l’étoit alors; & qu’ils étoient aussi absolus encore dans leurs Etats que les Rois de France dans les leurs“; TEMPLE, Memoires (wie Anm. 29), S. 231. 38 Als Vertragssprache sei, so fügten die französischen Botschafter hinzu, in vielen Verträgen ihres Landes mit England Französisch, in allen Verträgen mit Schweden und Dänemark jedoch Latein benutzt worden. Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 5. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 86–90, hier S. 87 f.

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König in seinem Königreich absoluter regiere als jeder andere Herrscher – was ihm umso mehr Recht verleihe, auf lateinischen Vollmachten zu bestehen. Der Däne lehnte es daher ab, das Herkommen zur Richtschnur zu machen, zumal es in den vergangenen zwanzig Jahren auch andere verfahrensrechtliche Neuerungen gegeben habe, und bestand auf einer völligen Gleichrangigkeit zwischen seinem Land und Frankreich39. Den englischen Mediatoren zufolge erwies er sich in diesem Punkt als besonders hartnäckig40. Da Dänemark aber von den Verbündeten, insbesondere den Niederländern (und nach der französischen Darstellung auch durch die Mediatoren) nicht unterstützt wurde und sein Kongressvertreter überdies keine Belege für frühere lateinische Vollmachten französischer Gesandtschaften gegenüber Dänemark beizubringen vermochte, konnte Frankreich sich durchsetzen. Der englische Vermittler Temple wertete das dänische Nachgeben als Scheitern des Versuchs zur Durchsetzung der Gleichrangigkeit der gekrönten Häupter41. Immerhin hatte Temple aber die französische Zustimmung dazu eingeholt, dem dänischen Botschafter das Angebot zu unterbreiten, dass ein Vorbehalt aufgesetzt werden solle, der den Sprachgebrauch in den Vollmachten als für künftige Verhandlungen nicht maßgeblich bezeichnete42. Die französischen

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Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 9. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 92–96, hier S. 94. 40 Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 12. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 102 –104., hier S. 103. 41 TEMPLE, Memoires (wie Anm. 29), S. 274 –276 schildert die Argumentation der Parteien und den Ausgang des Streits wie folgt: „L’Ambassadeur de Dannemarc demeuroit ferme dans la résolution qu’il avoit prise de ne recevoir point le Plein-pouvoir des François s’il n’étoit en Latin, qui selon luy devoit être la langue commune entre les deux Couronnes, & il protestoit qu’à moins de cela il alloit donner le sien en Danois. Les Ambassadeurs de France répondirent que c’étoit une nouveauté, pour ne pas dire une impertinence; & que si on leur faisoit voir un exemple que dans toutes les affaires qui s’étoient passées entre les deux Couronnes, les François ne s’étoient pas toûjours servi de la langue Françoise, & les Danois de la Latine, ils consentoient que l’Ambassadeur de Dannemarc donnât son Pleinpouvoir non-seulement en Danois, mais encore en Hebreu s’il vouloit. Le Ministre de Dannemarc répondit qu’il ne pouvoit pas alleguer tous les exemples sur ce sujet; mais que si par le passé, il y en avoit eu de mauvais, il étoit tems d’en établir de nouveaux qui fussent bons. Que son Maître avoit plus de droit que ses Predecesseurs, sa Couronne ayant été déclarée successive, au lieu qu’auparavant elle n’étoit qu’élective; & qu’il étoit plus absolu dans ses Etats, que pas un autre Roy de la Chrêtienté ne l’étoit dans les siens. Il ajoûta que ses ordres étoient positifs sur cet article, & qu’il ne pouvoit pas agir à moins qu’on ne luy accordât sa pretention. […] L’Ambassadeur de Dannemarc voyant que pas un des Conféderez n’appuyoit ni n’approuvoit ce qu’il pretendoit au sujet du langage, renonça à sa pretention, & réüssit fort mal en cette occasion dans le dessein qu’il avoit d’établir le principe de l’égalité entre les Têtes Couronnées”. 42 Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Pomponne, [Nimwegen], 12. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 105 f., hier S. 105.

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Kongressbotschafter hatten sich schließlich geweigert, den dänischen Vorschlag überhaupt förmlich zu beantworten43. Hinsichtlich der Formalien der französisch-kaiserlichen und der französisch-spanischen Verhandlungen rekurrierten die französischen Gesandten in Nimwegen, wie sie im Februar 1677 Ludwig XIV. berichteten, auf den Kongress von Münster, den Pyrenänenfrieden und den Frieden von Aachen mit Spanien sowie auf das Herkommen der früheren Vertragsverhandlungen mit dem Kaiser44. Allerdings existierte nicht überall ein Herkommen, weil einzelne Mächte noch nicht in Friedensverhandlungen miteinander gestanden hatten. Ein solches Problem stellte sich im Hinblick auf Spanien und Schweden. Ähnlich wie im Fall des französisch-dänischen Sprachdissenses kündigten die Schweden in Nimwegen für den Fall der Vorlage spanischsprachiger Vollmachten an, den Spaniern ihre eigenen Vollmachten in Schwedisch zu übergeben. Die Franzosen, die vermuteten, dass damit die dänischen Sprachforderungen an Frankreich flankiert werden sollten, betonten, dass es anders als bei Schweden und Spanien für die französisch-dänischen Verhandlungen ein etabliertes Herkommen gebe. Das Herkommen oder genauer den langen Gebrauch (französisch: long usage) bezeichneten sie dabei als einzige Regel, nach der solche Streitfragen entschieden werden könnten45, und aufgrund dieses Herkommens und dieses Gewohnheitsrechts (französisch usage und coûtume) als allein maßgeblicher Rechtsgrundlage (l’unique regle) lehnte auch Ludwig XIV. selbst die dänische Forderung als Neuerung (nouveauté) ab46. Er berief sich auf die früheren Vertragsschlüsse samt der zugehörigen Vollmachten47. Seine Gesandten berichteten ihm am 5. März 1677, dass sich alle Parteien der Gewohnheit (dem usage) gebeugt hätten48. Wenn sie sich auch letztlich durchzusetzen vermochten, hatte der scharfe Nordwind der schwedischen und dänischen Forderungen die Seereise ihrer Friedensver-

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Vgl. ihr o. g. Schreiben an Ludwig XIV. vom 9. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, hier S. 94 f. 44 Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 5. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 86–90, hier S. 89. 45 Vgl. ihr o. g. Schreiben an Ludwig XIV. vom 5. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, hier S. 89, wo es unter anderem heißt: „il n’y a nulle raison de changer ce qu’un long usage, qui est la seule regle, sur laquelle on puisse regler de pareilles contestations, a suffisament établi“. 46 Vgl. Ludwig XIV. an französische Botschafter in Nimwegen, Saint-Germain-en-Laye, 18. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 108–110., hier S. 109. 47 Vgl. Ludwig XIV. an die französischen Botschafter in Nimwegen, Saint-Germain-enLaye, 25. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 126–129, hier S. 126, wo unter anderem betont wird: „l’usage & la coûtume sont l’unique regle de la décision de ces sortes de difficultez“. 48 Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 5. März 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 145–148, hier S. 145.

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handlungen zunächst einmal zum Stillstand gebracht, wie sich die französischen Gesandten selbst metaphorisch ausdrückten49. Es ist daher festzuhalten, dass die Sprachenfrage in den Verhandlungen durchaus umstritten war und die Kommunikation nicht so reibungslos verlief, wie dies offensichtlich im gesellschaftlichen Umgang gelang. Für das Alltagsleben in Nimwegen liefert das Tagebuch zweier junger Kongressbeobachter aus dem Umkreis der kurialen Gesandtschaft aufschlussreiches Material50. Guido und Giulio de’ Bovi, die aus einem in Bologna ansässigen vornehmen Adelsgeschlecht stammten, machten auf ihrem Grand Tour von Oktober 1677 bis April 1678 in Nimwegen Station51 und gehörten in dieser Zeit zur Entourage des päpstlichen Nuntius Luigi Bevilacqua. Ihnen verdanken wir eine anschauliche Schilderung der gesellschaftlich-kulturellen Seite des Kongresslebens. Auch von den einzelnen Gesandten vermittelt das Tagebuch prägnante Charakterisierungen, in denen die Sprachkenntnisse der kaiserlichen Gesandten Kinsky und Stratmann sowie des schwedischen Prinzipalgesandten Oxenstierna und seines dänischen Kollegen Anton von Oldenburg gelobt werden52. Kinsky, so rühmen die Brüder Bovi, spreche a meraviglia Italienisch, Französisch und Latein. Stratmann beherrsche molto bene die lateinische Sprache53. Der als hochgebildet angesehene pfälzische Gesandte Ezechiel Spanheim beherrsche nicht nur hervorragend das Französische und das Italienische so ausgezeichnet, dass er verdiente, in die florentinische Accademia della Crusca aufgenommen zu werden, sondern könne auch Latein und Griechisch54. Von Colbert, dem Bruder des gleichnamigen Ministers Ludwigs XIV., heißt es, er habe Latein, Deutsch und Spanisch beherrscht55; auch d’Avaux, der zuvor Botschafter in Venedig gewesen war, und der spanische Sekundargesandte Pietro Ronquillo werden als vielsprachig gerühmt56. Die beiden Italiener führten mindestens einen Dolmetscher in ihrem Haushalt mit57. Dennoch sprachen selbstverständlich, wie wir sahen, einige Kongressteilnehmer Italienisch. Diese Sprache wurde natürlich nicht zuletzt von den romanischen Nationen auf dem Kongress gepflegt: am 49 Vgl. französische Botschafter in Nimwegen an Pomponne, [Nimwegen], 9. Februar 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. II, S. 97 f. 50 Ediert von Gisbert BROM, Een italiaansche reisbeschrijving der Nederlanden (1677– 1678), in: Bijdragen en mededeelingen van het Historisch Genootschap 36 (1915), S. 81– 230. 51 Vom 30. Oktober 1677 bis zum 17. April 1678, mit einer längeren Unterbrechung zu einer Reise durch die (Spanischen) Niederlande vom 6. November bis 19. Dezember 1677. 52 Vgl. BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 201. 53 Vgl. BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 199. 54 BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 202. 55 Nach RIETBERGEN, Diplomacy (wie Anm. 24), S. 53. Bei BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 200 heißt es lediglich: ha notizia di più lingue. 56 Vgl. BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 200 f. 57 Vgl. BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 89 unter dem 1. November 1677.

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6. März 1678 hörte Giulio de’ Bovi zunächst eine italienische Predigt in der spanischen Botschaftskapelle, am Nachmittag in Begleitung seines Bruders eine französische in der Kapelle der Franzosen58. Aus ihrer Darstellung ergibt sich, dass das Französische auch im gesellschaftlichen Verkehr keineswegs Ausschließlichkeit beanspruchen konnte. Im Alltagsleben des Kongresses wurde wie zuvor in Münster und in Osnabrück eine Vielzahl von Sprachen verwendet. Gleichwohl ist das Vordringen des Französischen offensichtlich. Es ging im Übrigen nicht allein zu Lasten des Lateinischen. Betroffen war davon (was oftmals übersehen wird) in besonderer Weise das Italienische als Diplomatensprache. In Münster hatte es als Idiom der Mediatoren noch eine bedeutende Rolle gespielt. Dagegen kam es in Nimwegen zu Klagen der Engländer an den Nuntius ob des Gebrauchs der italienischen Sprache. Die Engländer selbst bedienten sich sowohl des Lateinischen als auch des Französischen, forderten aber, auch Englisch verwenden zu dürfen, weil der Nuntius bei der Übersetzung der Propositionen ins Italienische deren Ton ändere. Die Kaiserlichen und die Spanier baten den Nuntius deshalb, sich künftig des Lateinischen zu bedienen. Bevilacqua lehnte mit den Worten ab, Italienisch sei seit Langem an den Höfen der katholischen Fürsten, zwischen denen er vermittelte, bestens verstanden worden: ottimamente intesa […] nelle corti de’ prencipi cattolici59. Die Entschärfung der Formulierungen rechtfertigte der Nuntius damit, dass er die ihm unterbreiteten Friedensvorschläge nicht als Schriftsätze, sondern als Diktat entgegennehme und weitergebe60. Latein und Französisch blieben daher die zugelassenen Verhandlungssprachen, während Italienisch aufgrund des Widerstands des Nuntius weiterhin als Arbeitssprache benutzt werden durfte. Wie Chigi in Münster, so notierte auch Bevilacqua in Nimwegen französisch vorgetragene Vorschläge der Franzosen in Italienisch. Auf das Englische wurde letztlich verzichtet. Selbstverständlich gab es in den Kanzleien der Gesandtschaften in Nimwegen sprachkundiges Personal. In der erhaltenen Aufstellung der famiglia Bevilacquas findet sich mit Francesco de Corn ein segretario dell’imbasciate tedesche, ein für deutsche Schreiben zuständiger Sekretär61. Auch für den Nimwegener Friedenskongress gibt es Belege, welche die Übersetzungstätig-

58 Vgl. BROM, Reisbeschrijving (wie Anm. 50), S. 178 unter dem 6. März 1678. Bei der Darstellung des Zeremoniells des Nimwegener Friedenskongresses erwähnen sie die Verhandlungssprachen nicht. 59 Bevilacqua an Cybò, 19. November 1677; zitiert nach RIETBERGEN, Diplomacy (wie Anm. 24), S. 61. 60 RIETBERGEN, Diplomacy (wie Anm. 24), S. 61. 61 Gedruckt RIETBERGEN, Diplomacy (wie Anm. 24), S. 82 f., hier S. 82 (Beilage zu Bevilacqua an Cybò, 18. April 1677).

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keit in den Gesandtschaftskanzleien illustrieren. In der französischen Kanzlei wurden auch niederländische Flugschriften übersetzt62. Hinsichtlich der Legitimation der Verhandlungssprachen konnte Rietbergen nachweisen, dass der Nuntius (wie auch die Gesandten anderer Mächte) sich in Nimwegen auf die Erfahrungen früherer Kongresse beriefen, an denen sie entweder selbst teilgenommen hatten oder die ihnen durch einschlägige Akten und Aktenpublikationen bekannt waren. Bevilacqua bediente sich sowohl der Nuntiaturkorrespondenz Chigis als auch des Mercurio Vittorio Siris, der viele Akten zu den Westfälischen Friedensverhandlungen gedruckt hatte. Auf Siri beriefen sich ferner die französischen Kongressgesandten hinsichtlich der Titulatur ihres Königs in päpstlichen Bullen und Breven63. Rietbergen zufolge benutzte auch der englische Vermittler Leoline Jenkins diese Aktenedition64. Die Rolle des Westfälischen Friedens als Vorbild für die späteren Kongresse dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass viele seiner Akten im 17. und 18. Jahrhundert schon publiziert wurden und daher leicht zugänglich waren. Wie in Westfalen, so finden sich auch beim Nimwegener Kongress unterschiedliche Auffassungen über den lateinischen Stil. Die französischen Kongressgesandten vermeinten in den lateinischen Schriftsätzen des bischöflichstraßburgischen Gesandten Ducker Germanismen zu erkennen, verstanden seine Texte jedoch65. Sie bemängelten allerdings, dass sich in dem von ihm entworfenen Manifest zugunsten des Bischofs von Straßburg erhebliche sprachliche Fehler fänden66. Die Kaiserlichen legten ihre Verhandlungsakten an Frankreich wie in Münster in lateinischer Sprache vor, während sich die Franzosen ihrer Muttersprache bedienten. In den mündlichen Verhandlungen bestanden die Bevollmächtigten Leopolds I. darauf, dass sich beide Parteien des Lateinischen bedienen sollten. Dies geht aus einem Protokoll hervor, das sie über eine 62

Vgl. französische Kongressbotschafter an Pomponne, [Nimwegen], 18. September 1676; Lettres (wie Anm. 35), Bd. I, S. 191 f., hier S. 192. Hier allerdings negativ mit dem Hinweis, dass eine vom Nuntius in einem Memorandum angeführte Passage aus Siri sachlich nicht einschlägig sei. Vgl. französische Gesandte an Pomponne, [Nimwegen], 3. August 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. III, S. 54–60, hier S. 57. 64 Ferner rekurrierte er auf den Kongress von Aachen, an dem er selbst teilgenommen hatte, sowie auf den Kölner Kongress. Vgl. RIETBERGEN, Diplomacy (wie Anm. 24), S. 61 f. 65 Französische Gesandte in Nimwegen an Pomponne, [Nimwegen], 10. September 1677; D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. III, S. 131 -133, hier S. 132 f.; diese Passage nach einer anderen Vorlage auch zitiert bei HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 69 Anm. 28. Auch Temple schloss aus dem Stil eines anonymen lateinischen Schriftsatzes auf eine deutsche Autorschaft; TEMPLE, Memoires (wie Anm. 29), S. 432. 66 Vgl. das in der letzten Anmerkung genannte Schreiben, hier bei D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. III, S. 132. Dafür, dass die französischen Gesandten das Manifest nicht ohne königliche Approbation präsentieren wollten, waren jedoch ihre inhaltlichen Bedenken gegen den Schriftsatz ausschlaggebend. D’ESTRADES, 63

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Unterredung mit den Franzosen im Quartier des englischen Vermittlers anfertigten. Dieses Protokoll wurde in Rijswijk wieder hervorgezogen und in der kurz darauf erschienen Aktenedition zum Rijswijker Frieden abgedruckt. Der Mediator habe sie auf Französisch begrüßt, so berichten darin die kaiserlichen Gesandten, und sich für den Gebrauch dieser Sprache entschuldigt, nachdem sie selbst ihm auf Latein geantwortet hätten. Der Marschall d’Estrades habe sich daraufhin seinerseits entschuldigt, nicht Latein sprechen zu können, weil er sich seit seiner Jugend dem Militärdienst verschrieben habe. Auch Colbert behauptete, diese Sprache nicht mehr ebenso gut zu beherrschen wie früher, gestand jedoch zu, dass der usage deren Gebrauch in den französisch-kaiserlichen Verhandlungen erfordere. Die Kaiserlichen bestanden auf deren dem Herkommen gemäßer Latinität67. Die Unterfertigung des französisch-kaiserlichen Friedens erfolgte am 5. Februar 1679. Er war in lateinischer Sprache verfasst. Bezüglich der Vertragssprache hatten ihre französischen Kollegen zuvor die Zustimmung Ludwigs XIV. eingeholt. Am 8. November 1678 hatten sie Latein dabei als natürliche Sprache des Römischen Königs bezeichnet. Mit dem Römischen König war in diesem Kontext offensichtlich nicht der Nachfolger des Kaisers gemeint, sondern der Kaiser selbst, aber dieser Terminus passte besser in ihre Argumentation. Sie führten zur Vertragssprache aus: „quoiqu’on puisse soutenir que la langue latine devant être censée comme naturelle au Roi des Romains, nous soyons en droit de faire notre exemplaire en langue française“68 – zu Deutsch: „obwohl man behaupten kann, dass wir unsere Urkunde in französischer Sprache aufsetzen können, weil die lateinische Sprache als natürliche Sprache des Römischen Königs zu gelten hat“. Ludwig XIV. antwortete seinen Bevollmächtigten, dass er dem Kaiser das Vorrecht eines lateinischen Vertragsschlusses gewähren wolle, da seine Vorgänger dies ebenso getan hätten. Größe und Macht seien ohnehin mit der französischen Krone verbunden, während sich in Deutschland nur ihr Schein finde69. Bei der Unterzeichnung des französisch-spanischen Friedens, die im Haus des niederländischen Diplomaten Beverning vollzogen wurde, wurde sehr genau auf die protokollarische Gleichrangigkeit der Parteien geachtet. Der Frieden wurde in französischer und spanischer Sprache geschlossen, wobei

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Vgl. den Auszug Du Protocole de Nimégue touchant les entrevües, & la Langue en laquelle l’on devoit traiter, in: Actes et mémoires des négociations de la paix de Ryswick, 4 Bde., La Haye 1725, ND Graz 1974 [11699], Bd. II, S. 20–22; der lateinische Text ist abgedruckt D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. III, S. 19 f. 68 Französische Gesandte in Nimwegen an Ludwig XIV., [Nimwegen], 8. November 1678; zitiert nach HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 193 Anm. 138. 69 Ludwig XIV. an die französischen Gesandten in Nimwegen, 28. Januar 1679; zitiert nach HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 193 Anm. 138.

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jede Delegation die jeweils in ihrer Landessprache verfasste Unterhändlerurkunde zuerst unterfertigte, anschließend die Gegenpartei70. Der Friedenskongress von Nimwegen schloss mit neun Friedensverträgen. Neben dem französisch-kaiserlichen Vertrag war auch das kaiserlich-schwedische Abkommen vom 5. Februar 1679 in lateinischer Sprache verfasst. Ferner war Latein die Vertragssprache zwischen Frankreich und Dänemark im Frieden von Fontainebleau am 2. September 1679 und beim Vertrag von Nimwegen zwischen Schweden und den Generalstaaten am 12. Oktober 1679. Hingegen waren der französisch-niederländische Frieden vom 10. August 1678, der erwähnte französisch-spanische Vertrag vom 17. September 1678, das Abkommen zwischen Frankreich und Schweden auf der einen sowie Braunschweig-Celle und Braunschweig-Wolfenbüttel auf der anderen Seite vom 5. Februar 1679, der Vertrag zwischen Ersteren und dem Fürstbischof von Münster vom 29. März 1679 und schließlich der französisch-schwedische Frieden mit Kurbrandenburg in SaintGermain-en-Laye vom 29. Juni 1679 in Französisch und gegebenenfalls einer weiteren Sprache geschlossen worden71. Eine Doktrin zur Festlegung der Verhandlungssprachen hat es offenbar in Nimwegen (wie zuvor in Münster und Osnabrück) nicht gegeben. Allgemein anerkannte Richtschnur war das (gleichwohl nicht selten ambivalente) völkerrechtliche Herkommen. In Nimwegen ist jedoch erstmals (bei den französischen Gesandten) eine naturrechtliche Begründung belegt, der zufolge jedes Land sich seiner natürlichen (Mutter-) Sprache zu bedienen habe. Dieses Argument hatte in Münster noch keine Rolle gespielt. Tendenziell lässt sich auf französischer Seite seit Nimwegen eine Abkehr vom Prinzip des Gebrauchs der neutralen lingua communis, Latein, zugunsten des (zwischen Frankreich und Spanien bereits üblichen) bilingualen Prinzips (das heißt Gebrauch der Sprachen der beiden Verhandlungsparteien) erkennen. Der Friedenskongress von Rijswijk zwischen völkerrechtlichem Herkommen und kulturellem Wandel Als der Friedenskongress von Rijswijk zusammentrat, hatte die politische Macht des Sonnenkönigs ihren Zenit bereits überschritten. Die französische Kultur 70

Helmuth K. G. RÖNNEFARTH (Begr.), Konferenzen und Verträge („Vertrags-Ploetz“). Ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen, 5 Bde., Würzburg 1953–1975, Bd. III, S. 103 nennt jedoch nur Französisch als Vertragssprache; zur Sprache des Pyrenäenfriedens – ebenso nur französisch – vom 7. November 1659 ebd., S. 92. Tatsächlich gab es zwei Ausfertigungen in Französisch und Spanisch, wobei (wie in Nimwegen) jeweils das Exemplar in der eigenen Sprache von der betreffenden Partei zuerst unterfertigt wurde; vgl. MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13), S. 147 f. (nach Lünig). 71 Vgl. RÖNNEFARTH, Konferenzen (wie Anm. 70), Bd. III, S. 103. Er gibt jeweils nur eine Vertragssprache an. Zumindest beim französisch-spanischen Frieden beschreibt HÖYNCK, Frankreich (wie Anm. 25), S. 151 jedoch eine zweisprachige Vertragsausfertigung.

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übernahm zu dieser Zeit jedoch in gewissem Maß die Funktion einer europäischen Leitkultur. Damit verbunden war die Verbreitung des Französischen. Als Gelehrtensprache hatte Französisch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beachtliche Fortschritte erzielt. Es ist bezeichnend, dass der deutsche Universalgelehrte Leibniz, der durchaus die deutsche Sprache zu pflegen empfahl, seine Betrachtungen über den Friedensschluss des Reiches mit Frankreich von Rijswijk in Französisch unter dem Titel Considerations sur la paix faite à Riswyck verfasste72. Die Geschichte des Kongresses von Rijswijk belegt gleichwohl, dass sich die vielfach polyglotten Gesandten gerne mehrerer Sprachen bedienten – wie dies in Nimwegen und zuvor in Westfalen der Fall gewesen war. Der spanische Unterhändler Graf von Tirimont verfasste von Februar bis November 1697 ein detailliertes Tagebuch zum Verhandlungsverlauf abwechselnd in französischer und in spanischer Sprache73. Der Friedenskongress von Rijswijk führte zu vier Vertragsschlüssen. Die französischen Bevollmächtigten Nicolas Auguste de Harlay Bonneuil, Louis Verjus de Crécy und François de Callières schlossen am 20. September 1697 in lateinischer Sprache einen von Schweden vermittelten Vertrag mit Großbritannien. Ihr am 20. Oktober 1697 unterzeichneter Frieden mit Kaiser Leopold I. ist ebenfalls in Latein verfasst. Dagegen wurde Französisch als Vertragssprache in den am 20. September desselben Jahres von Frankreich mit Spanien und den Generalstaaten geschlossenen Abkommen benutzt74. Die kaiserlich-französischen Verhandlungen folgten hinsichtlich der Sprachenwahl in den Schriftsätzen dem in Münster und Nimwegen etablierten Verfahren: Die Kaiserlichen legten ihre Verhandlungsakten auf Latein vor, die Franzosen hingegen auf Französisch. 72

Vgl. [Gottfried Wilhelm LEIBNIZ], Die Werke von Leibniz gemäß seinem handschriftlichen Nachlasse in der Königlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. von Onno Klopp, Bd. VI, Hannover 1872, Abschnitt B: Politische Kundgebungen und Briefe während und in Anlaß des Krieges von 1689–1697, Nr. L, S. 162–170. 73 Reginald DE SCHRYVER, Spanien, die Spanischen Niederlande und das Fürstbistum Lüttich während der Friedenskonferenz von Rijswijk, in: Der Friede von Rijswijk 1697, hrsg. von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Matthias Schnettger und Martin Vogt, Mainz 1998, S. 179–194, hier 186 nennt dieses 451 Folioseiten umfassende Diarium mit seinen sorgfältigen Notizen zu den einzelnen Unterredungen und Verhandlungen „eine eintönige Chronik“ und übersieht dabei offensichtlich den einzigartigen Wert, den ein solch verhandlungsnahes Tagebuch für die Rekonstruktion des Kongressgeschehens besitzt; bei seiner Darstellung der spanischen Verhandlungen in Rijswijk rekurriert De Schryver im Übrigen mehrfach auf Tirimonts Tagebuch (er führt als Quellennachweis an: Brüssel, Algemeen Rijksarchief, Fonds Secretarie van Staat en Oorlog, 612/2). 74 RÖNNEFARTH, Konferenzen (wie Anm. 70), Bd. III, S. 114. Zum Vertrag zwischen Frankreich und England liegt ein Protocole de la Médiation, touchant la langue pour le Traité avec l’Angleterre, du 10/20 Septembre 1697 vor, das sich zu Beginn auf seine Sprache bezieht; Actes et mémoires des négociations de la paix de Ryswick (wie Anm. 67), Bd. IV, S. 174 f.; vgl. MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13), S. 126 und BRUNOT, Histoire (wie Anm. 12), Bd. V, S. 417 Anm. 5, die jeweils das Protokoll der Mediation dazu abdrucken.

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Nachdem die Reichsstände sie am 2. August 1697 ausdrücklich darum gebeten hatten75, protestierten die kaiserlichen Vertreter drei Tage darauf in ihrer Replik auf den französischen Vertragsentwurf vom 20. Juli gegen die nicht mit dem Herkommen konforme Benutzung des Französischen76. Die Quellen des Kongresses von Rijswijk publizierten niederländische Verleger (ebenso wie beim Kongress von Nimwegen) bereits kurze Zeit nach Vertragsschluss. Im Wesentlichen handelt es sich um zweisprachige französische und lateinische Textausgaben, nach denen die Forschung mangels neuerer Editionen heute noch zitiert77. Die Zweisprachigkeit dieser älteren Ausgaben legt Zeugnis davon ab, dass es sich in sprachlicher Hinsicht um eine Übergangszeit handelte, in der das Publikum sowohl nach lateinischen als auch nach französischen Textfassungen verlangte78. Das Bild des Rijswijker (und des Nimwegener) Friedens in der Nachwelt wurde hinsichtlich seiner Sprachgewohnheiten nicht zuletzt dadurch beeinflusst, dass die niederländischen Verleger, namentlich Adrian Moetjens, gerne französische Texte publizierten79. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass auf dem Kongress oftmals allein

75

Vgl. das Gutachten der Reichsstände vom 2. August 1697; Text (deutsch): Actes et mémoires des négociations de la paix de Ryswick (wie Anm. 67), Bd. II, S. 281–289; französische Übersetzung: ebd., S. 290–298. Deutsche Fassung auch gedruckt bei MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13), S. 152. 76 Vgl. die Replik der Kaiserlichen vom 5. August 1697; Text (lateinisch): Actes et mémoires des négociations de la paix de Ryswick (wie Anm. 67), Bd. II, S. 299–318; französische Übersetzung: ebd., S. 319–342. Diese Passage wird zweimal auf Latein zitiert von MOSER, Abhandlung (wie Anm. 13), S. 55 und 390. 77 Eine Übersicht über (ältere) Akteneditionen zum Friedenskongress von Nimwegen, die (abgesehen von der Korrespondenz Innozenz’ XI. und dem Recueil des instructions données aux ambassadeurs de France) zwischen 1680 und 1724 erschienen, bietet NEVEU, Nimègue (wie Anm. 31), S. 239 f. 78 Neveu konstatiert hierzu: „Cette attention vigilante à la forme, cette sensibilité au style [mit der die Diplomaten über Texte verhandelten] conduisent à des recherches de composition et d’expression qui sont incontestablement favorisées par l’emploi de la langue française, même si les puissances du Nord et l’Empereur gardent l’usage d’un latin qui ne manque pas de conviction oratoire (mais toutes les pièces latines sont déjà traduites dans les 4 volumes d’Actes parus quasi sur le champ)“; NEVEU, Nimègue (wie Anm. 31), S. 246. 79 Vgl. D’ESTRADES, Lettres (wie Anm. 35), Bd. I.: Adrian Moetjens betont im nicht paginierten Avis Du Libraire Au Lecteur, dass er vor der nun veranstalteten Edition der französischen Korrespondenzen bereits die Akten des Kongresses von Nimwegen in sieben Bänden dreimal zum Druck gebracht habe, zudem die Geschichte der Verhandlungen von Saint-Didier und die Memoiren von Temple. Das ihm vorliegende Material zu den Jahren 1676 und 1677 habe er auf drei Bände verteilt und bitte darum, ihm die noch nicht vorliegenden Korrespondenzen der Jahre 1678 und 1679 zukommen zu lassen. Er begründet dies in erster Linie damit, dass er der Verleger sei, der alles, was man in französischer Sprache vom Nimwegener Kongress besitze, zum Druck gebracht habe („c’est moi qui ai imprimé tout ce qu’on a en François sur la Paix de Nimegue“).

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die lateinische Fassung, nicht die französische als authentisch galt80. Dass die einzelnen Friedenskongresse des 17. Jahrhunderts jeweils bei den nachfolgenden Kongressen hinsichtlich der Verfahrensweisen und Verhandlungstechniken als Vorbild galten, lag neben den Aktenpublikationen81 und den Akten ihrer Vorgänger, welche die Bevollmächtigten heranziehen konnten, jedoch vermutlich nicht zuletzt auch an personellen Kontinuitäten zwischen den Kongressen. Es mangelt zwar an systematischen prosopographischen und verfahrensrechtlichen Studien, einzelne Beispiele vermögen aber solche Abhängigkeiten zu belegen82. Auch in Rijswijk wurden die Verhandlungen großenteils über eine Mediation geführt. Der mit der Vermittlung betraute schwedische Diplomat Freiherr Niels Lillieroot führte darüber ein schwedischsprachiges Verlaufsprotokoll, das auf mehr als eintausend Seiten die offiziellen Friedensverhandlungen schriftlich festhielt. Werner Buchholz zufolge wurden sie offenbar größtenteils in französischer Sprache geführt83. Buchholz’ Mutmaßung verrät die Unsicherheit, mit der selbst ein guter Kenner dieses Verhandlungsprotokolls die Sprachgewohnheiten bei dieser Mediation beschreibt. Evident ist dennoch die augenscheinliche Verbreitung des Französischen außerhalb der förmlichen lateinischen Dokumente, ferner der Rückgang des Italienischen, das allerdings kurz darauf, 1698, bei den Friedensverhandlungen von Karlowitz mit dem Osmanischen Reich als zentrale Verhandlungssprache fun80

Zu Missverständnissen hinsichtlich der Sprachgewohnheiten des Kongresses von Rijswijk mag auch beitragen, dass in der Literatur nicht nur aus dem französischkaiserlichen Friedensvertrag, sondern auch aus den kaiserlichen Propositionen oftmals in Französisch zitiert wird. Die Originale waren gleichwohl nicht in dieser Sprache, sondern in Latein verfasst. 81 Zu Beginn der zeitgenössischen Aktenedition (der erste Band erschien bereits 1679) zum Kongress von Nimwegen erklärte der Verleger: L’histoire parlera de l’assemblée de Nimègue comme d’un modèle sur lequel se pourra former un parfait ministre d’Etat; zitiert bei NEVEU, Nimègue (wie Anm. 31), S. 255. Hierbei handelt es sich zwar um eine Aussage, die als Werbung des Verlegers für seine Actes et Mémoires zu verstehen ist, durchaus wurden solche Akteneditionen aber von Kongressgesandten – auch um eigene Ansprüche zu legitimieren (so in Münster von Longueville gegenüber Spanien) – herangezogen. Vgl. Actes et mémoires des négociations de la paix de Nimègue, 4 Bde., Amsterdam/Nimègue 1679–1680, ND Graz 1974. 82 Der Kaiser wurde in Rijswijk außer von Kaunitz und Stratmann (dem Sohn) durch Seilern vertreten. Die Instruktion für die kaiserlichen Bevollmächtigten weist ausdrücklich darauf hin, dass ihm die in Nimwegen befolgten Verfahrensweisen bekannt seien: „Was sonsten den modum tractandi weiter anbetrifft, wird darin fürnemblich das nimmegische, unserm dritten gesandten, dem freyherrn von Seilern am besten bekanntes exempel“ zu befolgen sein; zitiert nach Christine ROLL, Im Schatten der spanischen Erbfolge? Zur kaiserlichen Politik auf dem Kongreß von Rijswijk, in: Duchhardt, Rijswijk (wie Anm. 73), S. 47–91, hier S. 76, Anm. 68. 83 Überliefert ist dieses Protokoll in Stockholm, Reichsarchiv, Allmänna Fredskongresser 51; vgl. Werner BUCHHOLZ, Zwischen Glanz und Ohnmacht. Schweden als Vermittler des Friedens von Rijswijk, in: Duchhardt, Rijswijk (wie Anm. 73), S. 219–255, besonders S. 219 und 225 (Zitat Anm. 19).

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gierte84. Bei Verhandlungen mit Mächten im östlichen Mittelmeerraum, der lange unter dem Einfluss Venedigs gestanden hatte, war Italienisch auch im 18. Jahrhundert noch als Verhandlungs- und bisweilen als Vertragssprache gebräuchlich. Von der kulturellen Suprematie zur völkerrechtlichen Anerkennung: Das Französische am Ausgang des Spanischen Erbfolgekriegs Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Verbreitung des Französischen als mündliche Kongresssprache im Vergleich zur Zeit des Westfälischen Friedens erheblich zugenommen. Vom informellen gesellschaftlichen Raum war es in den Kernbereich der Verhandlungen vorgedrungen. Für wichtige Dokumente, nicht zuletzt für die Friedensverträge von Kaiser und Reich, wurde jedoch weiterhin das traditionelle Latein benutzt. Im Friedenswerk von Utrecht, Rastatt und Baden wurde diese letzte Grenze erstmals – wenn auch nicht dauerhaft – durchbrochen, denn der Kaiser schloss am 6. März 1714 in Rastatt einen französischsprachigen Frieden mit Frankreich. Der Separatartikel, welcher für die Zukunft den Gebrauch der lateinischen Sprache vorsah, blieb allerdings keineswegs toter Buchstabe, denn wenige Monate später kehrte man im Friedensschluss von Baden zur lateinischen Vertragssprache zurück. Die Verhandlungen wurden auch dort jedoch hauptsächlich auf Französisch geführt85. Rastatt markiert insofern keine Zäsur, sondern vielmehr eine Übergangszeit hinsichtlich der Vertragssprachen. Erst mit dem Aachener Frieden von 1748 gingen der Kaiser und Frankreich endgültig zur französischen Vertragssprache über; die in den französischen Verträgen seit Rastatt bis zur Wiener Schlussakte 1815 üblichen Rechtsvorbehalte zugunsten des fürderhin obligatorischen Gebrauchs des Lateinischen wurden zu einer bloßen Formalie. Die Bedeutung von 1714 liegt also nicht darin, dass Französisch Latein seinerzeit dauerhaft ersetzt habe (wie in der Literatur häufig fälschlich zu lesen steht), sondern dass das Französische zum ersten Mal durch den Kaiser seine völkerrechtliche Anerkennung durch die (zunächst einmalige) Zulassung als Vertragssprache erfuhr. 84

Als Wortführer bei den kaiserlich-osmanischen Verhandlungen dienten die jeweiligen Sekundargesandten Leopold Graf Schlick und Alexander Mavrokordato, der den Titel eines Pfortendolmetschers führte. Sie wurden wegen der ausgezeichneten Italienischkenntnisse Mavrokordatos auf Italienisch geführt; Ernst D. PETRITSCH, Rijswijk und Karlowitz. Wechselwirkungen europäischer Friedenspolitik, in: Duchhardt, Rijswijk (wie Anm. 73), S. 291– 311, hier S. 305 f. Als friedensvermittelnde Mächte traten in Karlowitz England und die Niederlande auf, wobei der niederländische Vertreter Jakob Colyer seit seinem elften Lebensjahr im Osmanischen Reich lebte und dementsprechend des Türkischen mächtig war. Neben Colyer war als englischer Repräsentant und Friedensvermittler Lord William Paget in Karlowitz tätig. Vgl. ebd., S. 300. 85 Freundlicher Hinweis von Frau Prof. Dr. Siegrid Westphal.

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Latein wurde am Ende der niederländischen Kongressepoche keineswegs vollständig als Kongresssprache verdrängt. Dies gilt auch für die Kongressreglements, die das Alltagsleben in den betreffenden Städten regelten. In Utrecht wurde dieses Reglement wie zuvor in Nimwegen und Rijswijk auf Latein publiziert. Erst auf dem Friedenssicherungs-Kongress von Cambrai ging man 1724 – übrigens nicht ohne Widerstände, vor allem seitens der Engländer – dazu über, für die Reglements auch Französisch zuzulassen86. Ein wichtiges Moment, das für die Verwendung des Französischen sprach, war die offensichtlich abnehmende Latein-Kompetenz der Unterhändler. Diese Tendenz ist, wie oben dargelegt, bei den Militärs schon seit dem Kongress von Nimwegen greifbar. Beim Frieden von Rastatt, der eben von Militärs – zumal von einem Franzosen (Marschall Villars) und einem Frankophilen (Prinz Eugen für den Kaiser) – ausgehandelt wurde, führte dies dazu, dass zur Vereinfachung des Prozederes ein französischer Vertragstext aufgesetzt und unterzeichnet wurde. Bei den englisch-französischen HandelsvertragsVerhandlungen zeigte sich im Übrigen 1712, dass bestimmte Handelswaren mit der lateinischen Terminologie nicht hinreichend klar bezeichnet werden konnten, sodass auch hier letztlich Französisch als Vertragssprache dem ursprünglichen lateinischen Entwurf vorgezogen wurde87. Selbst Ludwig XIV. hatte jedoch in Rastatt eigentlich einen lateinischen Vertragsschluss vorgesehen88. Der Wechsel wurde also nicht aus politischen Gründen vollzogen. Bei den Friedensverhandlungen von Utrecht wird jedoch deutlich, dass Sprache auch als Ausdruck politischer Machtverhältnisse und Ranghierarchien interpretiert werden konnte. Zeigte sich Ludwig XIV. bereit, mit etablierten Monarchen wie dem König von England oder dem Kaiser Verträge in lateinischer Sprache abzuschließen, so wollte er eine vergleichbare Konzession im Hinblick auf Preußen nicht zulassen. Zwar erkannte der Sonnenkönig die königliche Stellung des preußischen Herrschers an, aber eine Gleichrangigkeit resultierte daraus seiner Auffassung nach nicht. Daher untersagte er die Ausfertigung eines lateinischen Vertragstextes und wies seine Gesandtschaft an, nur einen französischsprachigen Friedensvertrag zu unterzeichnen: je vous dirai premièrement que, quoique je veuille bien lui [dem König von Preußen] accorder les honneurs de tête couronnée, il ne doit pas y

86

Vgl. Lothar SCHILLING, Zur rechtlichen Situation frühneuzeitlicher Kongreßstädte, in: Duchhardt, Städte (wie Anm. 32), S. 83–107. 87 Vgl. BÉLY, Espions (wie Anm. 23), S. 454 f. Dieser Befund widerspricht der oben für die Mitte des 17. Jahrhunderts aus der Denkschrift Godefroys gewonnenen Einschätzung, dass Latein als Vertragssprache sehr verständlich sei. 88 Auf einem Bericht Villars’ vom 18. Februar 1714 wurde in Versailles vermerkt: „Le roy consent que le traitté soit dressé en latin“; ausführlichere Darstellung zu Rastatt und Baden bei BRAUN, Connaissance (wie Anm. 3), S. 280–282, Zitat S. 281.

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avoir de parité de moi à lui; ainsi le traité de paix doit être signé simplement en français et vous n’en signerez aucun exemplaire en latin89.

Folglich erklärten die französischen Friedensunterhändler den preußischen Vertretern am 1. März 1713, dass sie keiner lateinischen Ausfertigung des Vertrages zustimmen könnten, ferner müsse das Recht der ersten Unterschrift den Franzosen vorbehalten bleiben. Einer der preußischen Gesandten habe, so wurde nach Paris berichtet, daraufhin in deutscher Sprache gegenüber dem Count of Strafford erklärt, diese Nachricht sei dazu angetan, seinem Herrn (der tatsächlich bereits am 25. Februar verstorben war) einen Rückfall zu bereiten: Ils [die Preußen] furent si sensibles à cette déclaration que l’un d’eux ne put s’empêcher de dire en allemand au comte de Strafford que la nouvelle qu’en recevrait leur maître était capable de le faire retomber malade90.

Neben Latein und Französisch waren selbstverständlich weiterhin auch andere europäische Sprachen gebräuchlich, soweit sie von den Parteien verstanden wurden – oder eben bewusst nicht verstanden wurden, denn der Rekurs auf eine nicht allgemein verständliche Sprache konnte in den Konferenzen dazu dienen, vertrauliche Mitteilungen vor dem politischen Gegner geheim zu halten. So bediente sich, nach einem englischen Bericht, innerhalb der kaiserlichen Vertretung Graf Sinzendorf 1712 des Niederländischen (high dutch), um Kaspar Florenz von Consbruch im Vertrauen seine Verhandlungsposition zu Katalonien zu erläutern, ohne dass die Engländer dies verstehen sollten91. II. Kongresssprachen und (bilaterale) Vertragssprachen zwischen dem Holländischen Krieg und dem Ausgang des Spanischen Erbfolgekrieges. Tendenzen und Widersprüche Während jüngere Forschungen gerade in Mittelosteuropa nachdrücklich die Bedeutung des Lateinischen als Staats- und Verwaltungssprache weit über das frühe 18. Jahrhundert hinaus hervorheben92, verschob sich der gängigen 89 Ludwig XIV. an die französischen Bevollmächtigten, 13. Februar 1713; AE, CP Holl. 248 fol. 126, hier zitiert nach BÉLY, Espions (wie Anm. 23), S. 453 mit Anm. 85 auf S. 805. 90 Bericht der französischen Bevollmächtigten an Ludwig XIV., 1. März 1713; AE, CP Holl. 249 fol. 1–9, hier zitiert nach BÉLY, Espions (wie Anm. 23), S. 453 mit Anm. 86 auf S. 805. 91 Vgl. dazu den Bericht Straffords an Bolingbroke vom 27. September 1712 bei BÉLY, Espions (wie Anm. 23), S. 453. Ebd. ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1713. 92 Vgl. etwa zu Böhmen und Ungarn Vlasta VALEŠ, Sprachverhalten in den Ländern der böhmischen Krone in der Frühen Neuzeit, in: Frühneuzeit-Info 10 (1999), S. 30–42; Jean BÉRENGER, Charles KECSKEMÉTI, Parlement et vie parlementaire en Hongrie, 1608–1918,

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Historiographie zufolge das Gewicht unter den europäischen Diplomatiesprachen zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Vertrag von Rastatt vom Lateinischen hin zum Französischen. Diese Einschätzung basiert auf den „großen“ Friedensverträgen. Welches Bild bietet sich, wenn man neben diesen „großen“ Verträgen auch Waffenstillstände, Allianzen und Ähnliches, das heißt das diplomatische Alltagsgeschäft berücksichtigt? Mit dem Ziel einer ersten, angesichts des Forschungsstandes notwendigerweise vorläufigen Annäherung an diese Frage wurden aus der Datenbank des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 345 internationale Abkommen aus der „niederländischen Epoche“ ausgewertet93. Daraus ergibt sich 1678–1687 Lateinisch: 35 Französisch: 35 Lateinisch und Französisch: 3 Andere Sprachen94: 20 1688–1697 Lateinisch: 24 Französisch: 19 Lateinisch und Französisch: 3 Andere Sprachen: 29 1698–1714 Lateinisch: 39 Französisch: 63 Lateinisch und Französisch: 5 Andere Sprachen: 70 Paris 2005. Zu Ungarn auch der ältere Beitrag von Jean BÉRENGER, Latin et langues vernaculaires dans la Hongrie du XVIIe siècle, in: Revue historique 242 (1969), S. 5–28. Zum Beharren Polens auf Latein als Sprache seiner auswärtigen Beziehungen zwischen 1648 und 1750 vgl. BRAUN, Moser (wie Anm. 3). 93 Vgl. http://www.ieg-mainz.de/likecms/likecms.php?site=site.htm&nav=233&siteid=26 (letzter Zugriff 04.11.2010). Die Datenbank weist für den Zeitraum 1678–1714 insgesamt 362 Verträge aus, davon sind jedoch 17 unzugänglich. Für die Mitarbeit bei der statistischen Auswertung danke ich meinen studentischen Hilfskräften, den Herren Philipp Hartmann, Markus Laufs und Lukas Schulte-Vennbur. 94 Eine genauere Anlayse der Verteilung unter diesen „anderen“ Sprachen behalte ich einer späteren Publikation vor. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass neben dem französischen Text oder einem Vertragstext in einer anderen modernen Sprache, der in der Datenbank publiziert ist, eventuell Ausfertigungen desselben Vertrages in weiteren Sprachen existieren (weniger wahrscheinlich beim Latein als neutraler Sprache). Selbst für das leitende Archivpersonal ist heutzutage im Einzelfall schwer zu ermessen, inwieweit andere europäische Archive über anderssprachige Ausfertigungen verfügen als in der jeweils eigenen Überlieferung; freundlicher Hinweis von Frau Isabelle Richefort, Chef du département des Archives du ministère des Affaires étrangères et européennes, Paris.

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Gesamtzeitraum 1678–1714 Lateinisch: 98 Französisch: 117 Lateinisch und Französisch: 11 Andere Sprachen: 119 Aus dieser für die Forschung sehr nützlichen Friedensvertrags-Datenbank folgt, dass im Zeitraum zwischen 1678 und 1714 (zumindest innerhalb der in dieser Datenbank erfassten Dokumente) das Französische Latein als Vertragssprache überflügelt hatte. Diese Entwicklung verlief jedoch nicht kontinuierlich: Bereits im Jahrzehnt, das mit der Unterzeichnung der Nimwegener Friedensverträge beginnt, lag Französisch mit Latein gleichauf, während in der Dekade vom Ausbruch des Pfälzischen Krieges bis zum Frieden von Rijswijk Letzteres wieder leicht überwog. Schließlich spricht jedoch nach den Friedensschlüssen von Rijswijk bis zum Jahr 1714 ein deutliches Übergewicht von etwa 3:2 für das Französische. Abgesehen von der Verschiebung vom Lateinischen hin zum Französischen besteht ein gemeinsames Charakteristikum der Zeit zwischen dem Westfälischen Friedenskongress und dem Friedenswerk von Utrecht in der Vielsprachigkeit der europäischen Diplomatie. Auch dies führt die Friedensvertrags-Datenbank des IEG eindrücklich vor Augen: Auf die anderen Sprachen entfällt in der „niederländischen Epoche“ immerhin ein Drittel aller Vertragsschlüsse, und zwar bezogen auf die einzelnen Teilabschnitte mit steigender Tendenz! Künftige Forschungen sollten sich daher auch diesen „kleineren“ Diplomatiesprachen zuwenden. Namentlich der offensichtliche Abstieg des Italienischen von einer „großen“ zu einer fast unbedeutenden diplomatischen Verkehrssprache zwischen 1648 und 1713/14 sollte näher untersucht werden. Neben dem allgemeinen Rückgang der kulturellen Bedeutung Italiens mag dabei eine Rolle gespielt haben, dass Italienisch als Sprache der römischen Kurie galt. Während beim Niedergang des Lateinischen konfessionelle Motive weitgehend auszuschließen sein dürften, da Latein nicht als Sprache der römischen Kirche, sondern (aus Sicht der protestantischen Reichsstände) als Sprache des Reiches und (für die protestantischen europäischen Mächte) als etablierte Verkehrssprache der internationalen Beziehungen galt, wurde das Italienische zumindest punktuell als Idiom des Papsttums wahrgenommen, so durch die englischen Vermittler in Nimwegen. Der Abstieg des Italienischen dürfte durchaus mit dem Niedergang der päpstlichen (aber auch der venezianischen) Friedensvermittlung und dem Auftreten weltlicher, nicht romanischer Mediatoren (England, Schweden) im Zusammenhang stehen. Die europäische Diplomatie war also um Vieles „polyglotter“, als es die Forschungsliteratur suggeriert, die sich um 1700 auf den Aufstieg des Fran-

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zösischen konzentriert, oder als es die englischen Unterhändler in Cambrai nahelegen, die im April 1724 pointiert formulierten, das Lateinische sei la langue commune, et le langage ordinaire des congrèz95.

95 Laut Bericht der französischen Kongressbevollmächtigten de Barberie de Saint-Contest und Rottembourg [für de Morville], Cambrai, 12. April 1724 (Eingang 13. April); Ausfertigung: AE, MD France 486 fol. 55–58, hier fol. 55–55’.

Übersetzung oder Überformung? Wie sich der Staat vom Herrscher emanzipierte Von

Daniel Hildebrand Staat – dieses Phänomen changiert für den Menschen der Postmoderne zwischen Selbstverständlichkeit und Fragwürdigkeit. Dabei droht aus dem Blick zu geraten, dass der Staat nicht zu allen Zeiten ausschließlicher Ort von Souveränität war. Vielmehr waren es der Herrscher, der als natürliche Person, und die Krone, die als abstrakte Institution jene Entwicklung der Gewaltkonzentration seit dem ausgehenden Mittelalter betrieben, welche schließlich den frühmodernen Staat hervorbrachte. Was Verständnis und Rekonstruktion, Archäologie und Terminologie dieses Ablösungsprozesses derart erschwert, sind Parallelität und Paradoxizität verschiedener historischer Abläufe, die überdies begrifflich eindeutig eher selten fassbar sind: Ist der zunehmende Rekurs auf Staat eine Übersetzung oder eine Überformung, ist er Translation oder Transformation? Eines der grundlegenden Probleme, an denen die zu diesem Ablösungsprozess bislang ohnehin eher spärlich anzutreffende Forschung leidet1, besteht in 1

Allein schon aufgrund der Fülle des verarbeiteten Materials ist bis heute Ernst H. Kantorowicz (Ernst H. KANTOROWICZ, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Frankfurt am Main 1990) unübertroffen, wenn es gilt, die Grundlagen jenes Ablösungsprozesses zu betrachten. Unter dem Begriff der Souveränität hat Helmut QUARITSCH sowohl 1970 im Rahmen seiner Habilitationsschrift, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt am Main 1970 wie auch nochmals vermittels einer bündigen Monographie, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, den Vorgang der Ablösung und Abstraktion des Staates von der Herrscherperson behandelt. Obwohl es gerade das Verdienst von Quaritsch ist, die Offenheit und die Künstlichkeit des Souveränitätsbegriffs ebenso wie seine Inadäquanz, mittelalterliche Verhältnisse zu begreifen, darzulegen, so bleibt eben jener Begriff leitendes Thema, und sein Schicksal bestimmt die Fragen von Quaritschs Forschung. Bei aller untrennbaren Verwobenheit lautet hier die Frage nicht, wann und wie sich Souveränität verbreitet habe. Das Anliegen ist vielmehr geschärft: Wann und wie sich die Ablösung beim Staat konzentrierter Herrschaftsgewalt von der Person des Herrschers vollzogen habe und in welchem Maß Staat mithin zum politischen Argument wird, beschäftigt diese Untersuchung. Die nicht minder grundlegende Studie des Germanisten Albrecht KOSCHORKE und seiner Kollegen, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, versucht das Problem auf dem Wege der Organsprache zu fassen. Die material- wie gedankenreich vertretene These, Staat bilde eine metaphorisch produzierte Fiktion, die sodann ihre eigene Wirklichkeit geschaffen habe, enthält zwar ebenfalls Erkenntnisse, die die Erforschung des

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der begrifflichen Erfassung des Phänomens, was sich ontologisch betrachtet vom Herrscher auf den Staat übertragen hat. Behelfsmäßig wird dies mit dem Begriff der Souveränität bezeichnet, was jedoch mehrere Probleme mit sich bringt: Zum einen wird dieser Begriff erst durch Jean Bodin in seinem auf das Jahr 1576 zu datierenden Werk Six livres de la république geprägt. Er bezeichnet dort neben einer Reihe anderer Kompetenzen das „donner loy à tous en general, et à chacun en particulier“ als „souveraineté“2. Damit wird jedoch politik- bzw. rechtstheoretisch das zentrale Moment einer Entwicklung begriffen, die historisch bereits seit mindestens dreihundert Jahren ablief. Einmal mehr läuft die Sprache der Wirklichkeit gleichsam hinterher. In der Forschung ist die Forderung erhoben worden, mittelalterliche Souveränität als unmöglich auszuweisen3. Dies begründet sich einerseits damit, dass mittelalterliche politische Herrschaft auf Personenverbandlichkeit gründet und eben jene Abstraktion, die Souveränität ausmacht, gleichsam parallel zur Herausbildung des Abstraktums Staat führt. Andererseits bezeichnet der Begriff „souveraineté“ dort, wo er anzutreffen ist, letztinstanzliche Entscheidungsgewalt und fehlende Subordinationspflicht eines Entscheidungsträgers4. Solcher Art kompetenzielle Schwalbe einzelner Akteure macht jedoch eben noch nicht den Sommer jener ganzen Machtfülle aus, den wir heute am Ende dieser Entwicklung stehend mit einem Terminus wie demjenigen der Staatsgewalt oder der Souveränität im modernen Sinn begreifen. Zum anderen verbreitet sich der Begriff, hat ihn Bodin erst einmal in die Welt gesetzt, offensichtlich bewusst und intentional als dem wissenschaftlichen Diskurs entlehnter terminus technicus: Es handelt sich um jene Form von Wissen, die heute als intendiertes von nicht-intendiertem Wissen unterschieden wird. Er entsteht nicht emergent, sondern ist ein sich konzentrisch verbreitendes Artefakt5: Zumindest legen die sauberen und umfänglichen begriffshistorischen Ablösungs- und Abstraktionsprozesses befördern, stellt aber ebenfalls letztlich ein anderes Erkenntnisinteresse in den Mittelpunkt, vor allem bleibt sie gleichsam souveränitätslastig. Die kaum überschaubare internationale Literatur zu Souveränität kreist ebenfalls um Begriff und Sache im Allgemeinen. Die Erforschung des spezifischen Abstraktions- und Emanzipationsprozesses, den der frühmoderne Staat gegenüber dem Herrscher erlebt, muss als Desiderat der Forschung bezeichnet werden. 2 Erste Stelle: Jean BODIN, Six livres de la République, Ausgabe Paris 1583, ND Aalen 1961, I, 10. 3 QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 34. 4 QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 35 f.; eine prominente Quelle hierfür bildet das „somnium Viridarii“, in dessen auf die Zeit um 1376/77 datierenden französischen Übersetzungen es heißt: „car lesditz subietz saivent ou doivent savoir qu’ilz sont subjetz du roy de France quant à la souveraineté et ressort de tant de temps qu’il n’est mémoire du contraire“. ,Le songe du vergier qui parle de la disputation du clerc et du chevalier’, zit. nach ND J. L. BRUNET, Traitez des droits et libertez de l’Eglise gallicane, Bd. 2 o. O. 1731, I chapitre 146, S. 172. 5 Die Reichspublizistik betreffend spricht Quaritsch von einem „importierten Wort“, QUARITSCH 1970 (wie Anm. 1), S. 400.

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Forschungen von Quaritsch6 dies nahe. Diesem begrifflichen faute de mieux entspricht indes ein sachliches Gebrechen: Welche Merkmale politischer Herrschaftsorganisation lassen sich an der Wende von Mittelalter zu Neuzeit dem zuordnen, was sich später als Staat vom Herrscher emanzipiert? Und von welchen Herrschaftsformen lässt sich behaupten, dass sie sich bereits zu dieser Zeit beginnen zu entpersonalisieren und zu einem eigenständigen politischen Argument werden? Was ist der metaphorische Text, der übersetzt wird? Einen entscheidenden Begriff, zumindest jedoch eine unterscheidbare Kategorie, diese Fragen zu beantworten, bildet die Krone. Zeitgenössisch ist außerdem das Argument der auctoritas bzw. der autorité erkenntnisträchtig: Die Kompetenzen des Herrschers werden wie die kompetenziellen Abgrenzungen im politischen Gefüge des ausgehenden Mittelalters und der anbrechenden Neuzeit allgemein nicht material und inhaltlich beschrieben, sondern formal und sektoral abgegrenzt. Manchmal bis ins Synonyme parallel wird der vorbodinsche Souveränitätsbegriff verwandt: „la conservazion des droiz, auctorité et souveraineté du roy en ceste parti“, wird beispielsweise die Kompetenz Karls VIII. (1483–1498) beiläufig in den Akten des Regentschaftsrates definiert7. Ebenfalls formal wird diese auctoritas, die die Souveränität ausmacht, qualifiziert, wenn sie zunehmend als „absolut“ ausgewiesen wird, was auf deren Unverantwortlichkeit hinweist. Hierbei ist der doppeldeutige deutsche Begriff „Unverantwortlichkeit“ nicht allgemein als fehlende „responsibility“ zu verstehen, die dem Herrscher als Mandatar gottgegebener Macht selbstverständlich eignet, sondern ist als ausgesetzte „accountability“ zu begreifen. Sprache stößt hier an ihre Grenzen: Es ließe sich dann von Unverantwortlichkeit sprechen, wenn diesem Begriff die Verantwortungslosigkeit kontrastiert würde. Es geht um ausbleibende Rechenschaftspflicht, nicht aber um Aussetzung von Legitimationsbedürftigkeit. Daraus erklärt sich auch die für den englischen Parlamentsabsolutismus bis heute geltende ultra-vires-Regel8: Absolutheit ist sektoral begrenzt. Die Forschung erblickt in diesem Konzept sektoraler absoluter Autorität eine Übersetzung des hochmittelalterlichen Grundsatzes „rex […] imperator in regno suo est“. Diese Auffassung ist dann vertretbar, wenn regnum hierbei nicht allein geographisch, sondern in einem weiteren Sinn als kompetenziell sektoral ver-

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QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 66 ff.: Hier findet sich eine vergleichsweise detaillierte Ausführung der Verbreitungspfade, die der Begriff namentlich in das deutsche Schrifttum und die Quellen während des 17. Jahrhunderts nahm. 7 Procès-verbaux, 239 vom 8. Januar 1485, zit. nach QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 28. 8 Das vergleichsweise ungehinderte und relativ kontinuierliche Fortwirken (spät-) mittelalterlicher, i.e. personenverbandlicher Verfassungsverhältnisse im politischen System des heutigen England ist gleichsam als lebendes Fossil geschichtswissenschaftlich instruktiv.

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standen wird, wie es tatsächlich dem mittelalterlichen Sprachgebrauch entspricht9. Allgemein anerkannt ist der sich bereits am Ausgang des Mittelalters schürzende Konzentrationsvorgang von Herrschaft, den Erich Meuthen beschreibt, indem er „die sich wechselnd überschichtenden Rechtskreise“ soweit gedeckt sieht, dass sich „alle Rechtsmacht innerhalb eines Raumes bündelte und das Verhältnis des einzelnen zu einer einzigen ‚Obrigkeit‘ eindeutig machte“10. Festhalten lässt sich, dass in der Zeit, bevor Bodin den rechts- und politikwissenschaftlich ausgearbeiteten Souveränitätsbegriff als terminus technicus in die Welt setzte, die damit bezeichnete Angelegenheit begrifflich nicht eindeutig fassbar ist. Des Weiteren ist klar, dass es parallel bereits sowohl zu einer allmählichen Bündelung und Konzentration von Kompetenzen bei der Krone kam, als auch, dass dies zu ersten Verselbstständigungstendenzen gegenüber der konkreten natürlichen Herrscherperson, vermutlich sogar gegenüber der Dynastie führte: „Le roi est mort, vive le roi“. Diese in Frankreich erstmals beim Tod Karls VI. im Jahre 1422 und in England bereits 1272 anlässlich des Todes Heinrichs III. belegte Heroldsformel zeugt von einem sich herausbildenden Kontinuitätsdenken, das notwendig eine relative Eigenständigkeit des zu Kontinuierenden impliziert11. Dieses Kontinuitätsdenken spielt bereits die spätmittelalterliche Herrschaftstheorie variantenreich durch: „Dignitas non moritur“, „Dignitas nunquam perit“12 oder „dignitas vel imperium semper est“13 stellen weitere Belege einer ausgeprägten Kontinuitätsme-

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QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 30. „Regnum“ wird im Frühmittelalter gar synonym mit „imperium“ verwandt, was wiederum an den römischen Sprachgebrauch anschließt, der ursprünglich ausschließlich kompetenziell zu verstehen war. Werner SUERBAUM, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis, Münster 1961. Nicht zuletzt auch aus dem hochmittelalterlichen Grundsatz, es dürfe kein Gebiet geben, das der Lehnsherrschaft entzogen sei, „nulle terre sans seigneur“, erhellt, dass regnum als oberste (weltliche) Lehnsherrschaft nicht geographisch beschränkt gemeint sein kann. 10 Erich MEUTHEN, Das 15. Jahrhundert, München/Wien 1980, S. 39. 11 Diese Formel evoziert zumindest das Taciteische Dictum: „principes mortalis, rem publicam aeternam esse.“, Tac. Ann. III, 6. Jenseits der Frage, ob bewusst an diese Tradition angeknüpft wurde, zeigt sich, dass anthropologisch konstant Staatlichkeit dazu neigt, vom konkreten Träger abstrahiert zu werden. Auch stilistisch entfaltet sich dies bereits durch die formulatorische Figur der Epanalepsis, die die Übergabe nochmals anlauten lässt, in der französischen Version zudem noch gesteigert durch den kombinierten Chiasmus, der die Aussage mit dem Begriff „roi“ umklammert. 12 Damasus zu c. 14 X 1, 29, zit. nach Otto VON GIERKE, Das Deutsche Genossenschaftsrecht , Bd. 3, Berlin 1881, S. 271; dazu auch KANTOROWICZ (wie Anm. 1), S. 384. 13 Johannes ANDREAE, Novella, zu c. 5 VI 1, 3, Nr. 5 zit. nach VON GIERKE, Genossenschaftsrecht, 3, S. 271, Anm. 73.

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taphorik dar14. Unsterblichkeit adressiert das Unsterbliche aber zwingend an eine von der natürlichen Herrscherperson abstrahierte Größe. Dasjenige, was sich von der Herrscherperson während der Frühen Neuzeit zu emanzipieren beginnt, ist maßgeblich die entstehende Gesetzgebungskompetenz, im weiteren Sinn eine „allgemeine Handlungsvollmacht“15. Bodin zählt immer wieder herausragende Einzelkompetenzen auf, ohne wirklich erschöpfend zu sein. Das, was er unter dem Begriff der Souveränität zusammenfasst, umschreibt er auch als „imperii summi definitionem“ und synonymisiert dies ideengeschichtlich durchaus unzutreffend mit einer Reihe weiterer Begriffe von Herrschaftszusammenhängen: „quem Aristoteles ò ΰι ί sive ί ἀή , Itali signoriam: nos suverenitatem: Latini, summum imperium appellant“16. Historische Kontinuität konstruierend erschafft Bodin tatsächlich etwas Neues. Diese ihrer Eigenart nach zutiefst unhistorische, nämliche technokratische Kompetenzkonzentration reagiert bekanntlich auf das Erlebnis der konfessionell begründeten Unruhe und politischen Instabilität seiner Zeit: Sein Konzept ist zeithistorisch, historisch aber eben gerade nicht. Aus dieser in ihrer Artefakteigenschaft liegenden Abstraktion resultiert auch die Unpersönlichkeit des Souveränitätskonzepts: Selbst eben nicht wirklich historisch gewachsen, wenn auch über Jahrhunderte angebahnt, ist suverenitas definierbar. Was aber definierbar ist, hat in Anlehnung an Nietzsche formuliert keine Geschichte. Folglich kann es auch nicht mehr etwas dynastisch oder gar persönlich Eigenes darstellen wie etwa einen Ausfluss der mittelalterlichen Geblütsheiligkeit. Alle jene Figuren mögen sich noch als Legitimationsargumente eignen: Historische Erklärung sind sie nicht mehr. Jene Gewalt, die den sich allmählich herausbildenden Staat ausmacht, ist langfristig ungeeignet, personal gedacht zu werden. Johannes Althusius und Hermann Kirchner übertrugen die von Bodin generell formulierte Lehre auf die speziellen Verhältnisse des Reiches. Dabei handelte es sich insofern um ein schwieriges Unterfangen, als das Reich bekanntlich gerade nicht Ort absoluter monarchischer Herrschaftsmacht war. Für den hiesigen Zusammenhang bemerkenswert ist auch vielmehr, dass sich gelegentlich dieser Anwendungsversuche der neuen französischen Lehren auch im deutschsprachigen Bereich eine Terminologie findet, die von einem Abstraktionsvorgang (prospektiver) Staatsgewalt zeugt: Herrmann Kirchner begriff die verfassungsrechtlichen Befugnisse des Kaisers als maiestas personalis. Die maiestas realis liege jedoch bei der res publica. Kirchner stellte fest, bei dieser maiestas realis handele es sich um die eigentliche maiestas. Die Bodinsche Souveränität, die mit diesem Begriff bezeichnet 14

Eingehend KANTOROWICZ (wie Anm. 1), S. 318 ff. QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 47. 16 Jean BODIN, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, hrsg. von Pierre Mesnard, Paris 1566, 174 r. Sp. 15

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wird, hat sich damit auch im Reich spätestens im Jahre 1608 von der Herrscherperson emanzipiert17. Freilich gilt es, diese dezidierte Perspektive auf jene unter dem Begriff der Souveränität traditionell zusammengefasste Herrschaftsgewalt zu relativieren. Wenn es sich hierbei schon nicht um ein organisch gewachsenes Konzept handelt, so doch auch nicht um eine reine juristische Fiktion, die ihre eigene Wirklichkeit geschaffen habe, wie methodisch und disziplinär so unterschiedlich ausgerichtete Forscher wie Quaritsch und Koschorke glauben machen wollen. Das Phänomen einer personalen Herrschaftsvorstellungen abgeneigten Herrschaftsgewalt lag gleichsam in der Luft. Um aller Künstlichkeit solcher Kategorisierungen zum Trotz die Grenzen moderner Disziplinen avant la lettre zu bemühen, ließe es sich folgendermaßen greifen: sie war weder mit der Geschichtlichem typischen Allmählichkeit historisch gewachsen noch juristischer Kunstgriff, sondern ein gleichsam soziologisches Phänomen: Hatte Machiavelli bereits ein Jahrhundert zuvor einer entsprechenden Gewaltkonzentration und deren relativer Entpersonalisiertheit das Wort geredet, so folgte ein knappes Jahrhundert später der Engländer Thomas Hobbes: Die Tatsache, dass frühneuzeitliche Herrschaftsorganisation auf Kontinuierung und Entpersonalisierung, also Staatlichkeit abzielt, wird ebenso wie die Tatsache, wie diese Verstaatlichung durch Sukzessionsordnungen erfolgt, theoretisch bei Hobbes folgendermaßen begründet: Die Staatsverwaltung mag sein, welche sie will. Das, woraus sie besteht (d. h. die Menschen), ist sterblich. Und dies ist nicht bloß von einzelnen Menschen, sondern auch von ganzen Gesellschaften zu behaupten. So wie also zur Errichtung eines Staates ein künstlicher Mensch nötig war, so wird auch zur Fortdauer des Staates ein künstliches Leben erfordert, weil in dessen Ermangelung nach einem Menschenleben mit dem Tod des Monarchen der ganze Staat untergehen würde. Dies künstliche Leben ist eben das, was Recht der Erbfolge genannt wird18.

Gewiss, Bodin kannte Machiavelli und Hobbes wiederum Bodin. Gleichwohl lässt sich bei diesen Denkern nicht eine solche geradezu genealogische Verbindung ausmachen, wie sie sich für die Verbreitung des spezifischen, von Bodin geschaffenen Souveränitätsbegriffs nachweisen lässt. Beinahe ließe sich das Konzept des modernen Staates als emergent bezeichnen, auch wenn eine solche These selbstverständlich nicht nachweisbar wäre. Eine auf Dauer gestellte Monopolisierung von Gewalt, die als arbiträre Größe letztlich un17 Johannes ALTHUSIUS, Politica methodice digesta, Herborn 1603, XV, 167; Hermann KIRCHNER, Respublica, Marburg 1608, S. 2 f.; Johannes LIMNAEUS, Juris Publici Imperii Romano-Germanici libri IX, Straßburg 1629, S. 146. 18 Thomas HOBBES, Der Leviathan, nach der ersten deutschen Übersetzung, Halle 1794 hrsg. von Kai Kilian, Köln 2009, S. 196. Dass der Altphilologe Hobbes hier bewusst Tacitus, vgl. Anm. 11, evoziert, ist naheliegend.

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persönlich gedacht werden muss: Das war die Reaktion der Intellektuellen auf die Krise der sich auflösenden mittelalterlichen Welt. Die Sehnsucht nach einer Frieden stiftenden und erhaltenden Macht, die allem Partikularen enthoben ist, bildet das übergeordnete Dritte jener Anliegen, die der gefolterte Florentiner Kanzleisekretär in seinem Exil zu Sant’Andrea in Percussina, die selbst ebenfalls in Lebensgefahr schwebenden politiques in Frankreich und der von der sprichwörtlichen „Hobbesian fear“ getriebene Hauslehrer aus Malmesbury verfolgten. Das verschwindende Lehnswesen und die verlorene Alleinheit der christianitas waren längst als bergende Größe entfallen. Es bedurfte etwas grundlegend Neuem. Im Verlauf der Frühen Neuzeit wird das Begriffsinstrumentarium, eine Trennung von natürlicher Herrscherperson und Eigenpersönlichkeit des Staates zu erfassen, immer vielseitiger: Es wird beispielsweise im 18. Jahrhundert üblicherweise zwischen Souveränität und Souverän unterschieden. So liest sich bei Emer de Vattel: „Cette autorité Politique est la souveraineté; & celui, oui ceux qui la possédent sont le Souverain“19. Es zeugt von jener Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die die Frühe Neuzeit gleichwohl als gemeinhin noch vormodern ausweist, dass neben jener sich entwickelnden frühmodernen Staatlichkeit die in ihr verwobenen materialen Herrschaftskompetenzen des Herrschers mit überkommenen, letztlich lehnsrechtlichen Termini beschrieben werden: „Ces droits sont ceux que l’on appelle Droits de Majesté, ou droit Regaliens“20. Systemische Ursachen zu ergründen wird in der Geschichtswissenschaft nicht selten als rechtfertigungsbedürftig erachtet, scheint es doch die Organizität von Abläufen, also die gleichsam natürliche Ordnung des Chronologischen zu durchbrechen. Jenseits grundsätzlicher methodischer Debatten, die zu führen hier nicht der Ort ist, rechtfertigt im vorliegenden Fall aber allein schon die Planmäßigkeit der Einführung des Souveränitätsbegriffs, ihre bewusste und teilweise sogar rekonstruierbare Ausbreitung als wissenschaftlicher Kunstbegriff eine systemische Betrachtung des Phänomens. Dabei ist die Wissenschaftlichkeit des Souveränitätsbegriffs nur der Kern einer verglichen mit mittelalterlichen Verhältnissen verstärkt um sich greifenden Rationalisierung absolutistischer Fürstenherrschaft. Diese gesamte Tendenz erfordert, systemische, der Eigendynamik historischer Erkenntnisgegenstände Rechnung tragende Analyse einzufügen. Dies gründet nicht zuletzt in der als neuem Kompetenzkern erachteten postestas condendi leges: An die Stelle eines organischen, nämlich kasuistisch gewonnenen Rechts tritt die planmäßige Regulierung von Lebensverhältnissen als Inhalt politischer Herrschaft. 19 Emer DE VATTEL, Ius publicum Europaeum, Neuchâtel 1758, ND Washington 1916, I, 1 § 1. 20 DE VATTEL (wie Anm. 19), I, 4, § 45.

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Daraus fließt auch die Absolutheit der Herrschaft aus, das „donner loy à tous en general, et à chacun en particulier“21. Damit einher geht die Verfügungsgewalt über älteres Recht und die allmähliche Überwindung des „guten alten Rechts“ als dem mächtigeren und überlegenen hin zur modernen rechtstechnischen Devise „lex posterior legi priori antecedat“22. Amtsträger sind endgültig mit der Bodinschen Revolution nicht mehr „private“ Gehilfen des Herrschers, sondern „Officiers du Royaume“, deren Kompetenz sich aus der „souveraineté du Peuple“ ableitet: Denn „de laquelle souveraineté & le Roy & tous les Officiers & tous les officiers du royaume doyvent dependre“23. Dass das Souveränitätsprinzip die mittelalterliche Lehnsherrschaft beendend wirkt, tritt auf das Eindringlichste im Fall Preußens zu Tage, wo der Souveränitätsbegriff bereits durch die Verträge von Labiau vom 10. November 165624 und im Friedensvertrag von Wehlau vom 19. September 165725 politische Wirklichkeit schafft. Nachdem zunächst gegenüber dem polnischen König das Lehnsverhältnis im Königsberger Vertrag vom 7. Januar 165626 gelöst worden war, wird nunmehr das surrogatäre wie politisch transitorische Lehnsverhältnis zum schwedischen König aufgehoben: An dessen Stelle tritt ein preußischer Kurfürst als „princeps summus & suverenus“27. Hier wird zugleich die Verschränkung von politischen Ebenen deutlich, die wir heute mit den Kategorien von Außen- und Innenpolitik zu begreifen pflegen, was aber erst als Produkt des modernen Souveränitätsdenkens möglich wird. Es sind just die „auswärtigen“, aber eben so nicht wahrgenommenen und begriffenen Beziehungen zu anderen Monarchen, die in Gestalt von Friedensverträgen Souveränität begründen: „suverenitas“ als Vertragsargument verschafft dem Herrscher Unabhängigkeit. Indem darüber jedoch das alte Lehnswesen aufgelöst wird, entsteht zugleich eine neue, letztlich nicht mehr personal zu denkende Herrschaftsgrundlage. Will sich ein „princeps suverenus“ legitimieren, so ist dies, weil er sich doch gerade als „summus & suverenus“ legitimieren will, nur mehr über eine entpersona21

BODIN (wie Anm. 2), I, 8, 122. QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 47. 23 So lautend wird bereits 1581 das (proto-) staatliche Erzwingungspersonal bei einem Anonymus legitimiert, der unter dem Namen Estienne Junius BRUTUS schreibt: Vindiciae contra Tyrannos, 1581, III, 108. 24 Vertrag von Labiau vom 1656 XI 10 zwischen Brandenburg und Schweden, in: Europäische Friedensverträge der Vormoderne. http://www.ieg-mainz.de/likecms/likecms.php? site=site.htm&dir=&nav=85 (Zugriff vom 25. Oktober 2010). 25 Vertrag von Wehlau vom 1657 IX 19 zwischen Brandenburg und Schweden, in: Europäische Friedensverträge der Vormoderne. http://www.ieg-mainz.de/likecms/likecms.php? site=site.htm&dir=&nav=85 (Zugriff vom 25. Oktober 2010). 26 Vertrag von Königsberg vom 1656 I 7 zwischen Brandenburg und Polen, in: Europäische Friedensverträge der Vormoderne. http://www.ieg-mainz.de/likecms/likecms.php?site= site.htm&dir=&nav=85 (Zugriff vom 25. Oktober 2010). 27 Vertrag von Labiau (wie Anm. 24). 22

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lisierte, abstrakte Größe möglich: Damit ist der Souverän als Person aber auf jene Souveränität verwiesen, die sich in Gestalt des modernen Staates konkretisiert. Als der Kurfürst 1656 souverän wird, da wird zugleich Preußen souverän. Uno actu hört das mittelalterliche Lehnswesen nun auch de jure auf zu bestehen, und an seine Stelle tritt der frühmoderne Staat28. Dieses Beispiel illustriert den gesamten in dieser Untersuchung abzuhandelnden Vorgang, dessen Teleologie die „Verstaatlichung des dynastischen Verbandes“ ist29. Einschlägiger Ort entpersonalisierter, abstrahierter Herrschaft, also dessen, was sich im weitesten Sinn mit dem Begriff des Staates begreifen ließe, sind die leges fundamentales30. Zwar als Legitimation gerade der Dynastie gedacht, bilden sie gleichwohl faktisch den einzig greifbaren immanenten Bezugsrahmen und die einzig kodifizierte Verantwortungsgröße absolutistischer Herrschaft. Dabei handelt es sich originär um spätmittelalterliche Herrschaftsinstitute, die von Bodin gleichsam „eingestaatet“ werden, indem er sie rationalisiert und juridisch werden lässt31. Zugleich säkularisiert er sie32. Diesen Abstraktionsvorgang setzt sodann ein Völkerrechtler wie Emer de Vattel fort, indem er die Stände mit in die Pflicht dieses Normtypus nimmt und somit jenem Prozess Vorschub leistet, den Walter Demel als „Einstaatung der Stände“ bezeichnet hat33. Mit der Gleichschaltung dieser intermediären Größe schärft er zwar einerseits den Absolutismus34, abstrahiert und verselbständigt zugleich aber auch den Staat weiter. Die leges imperii sind zunehmend der eigentliche Ort, wo Herrschaftsgewalt absolutistisch 28

Dass sich Staatlichkeit als deskriptiver Strukturbegriff verstanden auch in Preußen sachlich schon früher beobachten lässt, ist evident, aber hier zu erörtern abwegig. Rudolf VIERHAUS, Absolutismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 1, Freiburg 1966, Sp. 33. 30 Grundlegend ist hierzu der Band: Johannes KUNISCH/ Helmut NEUHAUS, Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982. Die dort versammelten Erkenntnisse, in den leges fundamentales den Ort sich verselbständigender Staatlichkeit auszumachen, gründen ihrerseits wiederum maßgeblich auf KUNISCHS Forschungen, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, Berlin 1979: In dieser Studie hatte Kunisch zuvor rekonstruiert, wie sich maßgeblich mit den leges fundamentales ein System legalistisch begründeter und geordneter Politik zwischen den „souveränen“ Herrschern Europas einrichtete. Dynastisch motivierte Ansprüche und entpersonalisierte Herrschaftsrechte standen Pate, als sich eine Art „Außenpolitik“ herauszubilden begann. 31 QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 41. Zum Begriff der „Einstaatung“ vgl. Anm. 33. 32 QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 51. 33 DE VATTTEL (wie Anm. 19), I, 3, § 34. Der Terminus wird von Walter DEMEL, Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus, München/Wien 1993, S. 1 und 285, geprägt. 34 Die auf Roscher zurückgehende Bezeichnung wird hier wie im folgenden behelfsmäßig verwandt, da die Dekonstruktion des Absolutismuskonzepts, wie sie die Geschichtswissenschaft während der vergangenen vierzig Jahre ins Werk gesetzt hat, keinen alternativen Begriff von vergleichbarer Einschlägigkeit hervorgebracht hat. 29

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wird. Der traditionelle Konflikt zwischen Ständen und Herrscher lässt letztlich beide als relative Verlierer hervorgehen: Tertius gaudens ist der Staat als Abstraktum. Am vorläufigen Ende dieser Verselbständigungsentwicklung steht sodann die ausdrückliche Benennung des Staats als „Gegenstand und Bereich“ absolutistischer Herrschaft35. Das in mehreren Varianten vorliegende berühmte Diktum Friedrichs des Großen ist für diesen vorläufigen Abschlusspunkt einschlägig: „Le souverain est le premier serviteur de l’État“36. Immerhin war diese Formulierung deutlich herrscherfreundlicher gewählt als jene, die sich im jugendlichen Antimachiavell von 1739 findet. Dort wurde der Souverän als „le premier domestique des peuples qui sont sous sa domination“ bezeichnet, was der väterliche Erzieher Voltaire in der von ihm betreuten zweiten Ausgabe ins rein Funktionale abmilderte, wenn er von „le premier magistrat“ sprach37. Sodann erscheint im Jahre 1747 soweit ersichtlich erstmals der Terminus des „serviteur“, als der Monarch in seinen „Mémoires pour servir á l’histoire de la Maison de Brandebourg“ die Herrscherperson als „le premier serviteur et le premier magistrat de l’etat“ qualifiziert38. Auch wenn sich sein habsburgischer Standesgenosse Joseph II. nicht ganz so häufig und explizit über das hier interessierende Verhältnis von Herrscher und Staat äußerte, so ist möglicherweise am Wiener Hof die Abstraktion des Staates konzeptionell und theoretisch noch weiter vorangetrieben worden39. Zumindest legt eine berühmt gewordene Denkschrift, die Joseph II. 1765 verfasst hat, nahe, dies zu vermuten: Der Kaiser ist zwar ein wenig zurückhaltender, was sein persönliches Dienen an der Bevölkerung anbetrifft, überlegt dafür aber umso ausgedehnter das „animer les gens à servir l’Etat“. Was auf den ersten Blick minder aufgeklärt anmutet, betont es doch die subordinative Wirkung von Staat, erweist sich keinesfalls auch als minder fortschrittlich: Der Sohn Maria Theresias hütet sich nämlich davor, ungeschützt den eigenen Nutzen und Machtgewinn anzudeuten, den er als Monarch aus der

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QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 95: Diese Formulierung wird hier übernommen, weil sie typisch juristisch das Bezugsfeld von Herrscher und Staat griffig ordnet, aber das Problem zugleich geschickt verschleiert. Tatsächlich stellt sich, die Eigenmacht des Staates konsequent gedacht, die Frage, ob nunmehr der Staat Objekt monarchischer Herrschaft oder der Monarch funktionelles Objekt des Staates ist. 36 Politische Korrespondenz Friedrichs des Großen, Ergänzungsband, Die politischen Testamente, red. von Gustav Volz, Berlin 1920, S. 38. 37 L’Antimachiavell, ou Examen du prince de Machiavell, in: Œuvres VIII, S. 72. 38 Œuvres I, S. 142. 39 Ernst WALDER, Aufgeklärter Absolutismus und Staat. Zum Staatsbegriff der aufgeklärten Despoten, in: Der aufgeklärte Absolutismus, hrsg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Köln 1974, S. 123-136, hier: S. 125 ff.

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Stärkung von Staat bezieht. Damit entwirft er aber tendenziell noch ungeschützter als der Hohenzoller den Plan einer effizienten Staatsmaschinerie40. Damit ist der Staat als abstrakte Bezugsgröße einer ansonsten jeglicher immanenter „accountability“ entzogenen Herrschaftsgewalt adressiert. Auffallend ist, dass der Souverän, wenn auch nicht die Souveränität als Abstraktum, dem Staat opponiert wird41. Zwar war es den 1750er Jahren geläufig, zwischen „Souverain“ und „Souverainität“ zu unterscheiden, zumindest findet sich sechs Jahre, nachdem Friedrich sein Politisches Testament verfasst hatte, die bereits erwähnte Unterscheidung auch bei einem Juristen wie Vattel. Der erläuterte jedoch gerade, dass „Souverain“ gleichsam nomen Agentis zum Abstraktum „Souverainität“ sei. Wird nun bei Friedrich Souveränität mit „l’état“ wenn nicht gar synonymisiert, so doch zumindest funktional äquivalent gestellt oder bleibt Souveränität als eigenständige Größe neben dem Staat bestehen? Die bisherige Forschung geht davon aus, dass die Terminologie auch im 18. Jahrhundert nicht konsequent ist, sich sogar zunehmend verwirrt, da weitere neue Begriffe auftauchen, die bald als Phänomene des ontologischen Befunds einer absoluten, unverantwortlichen, tendenziell gewaltmonopolisierenden Herrschaftskompetenz firmieren42. Namentlich die Karriere der Nation als politischem Konzept lässt bereits am Vorabend der Atlantischen Revolutionen einen weiteren Träger dieser Gewalt erscheinen43. Gleichermaßen kunstvoll wie künstlich sucht Vattel zu komponieren, was alsbald in der Kakophonie der terreur untergehen soll: „la souveraineté est cette autorité publique, qui commande dans la société civile“, aber „cette autorité appartient essentiellement au corps de la société“. Da jedoch mit der Nation eine zwar nichtnatürliche, wohl aber aus natürlichen Handlungssubjekten zusammengesetzte Körperschaft auf den Plan des politischen Systems tritt, muss in der Blüte der Theorie absoluter Herrschaft auch zugleich deren Weiterentwicklung zu jenem Gedanken der Wahlmonar40

Anhang zum Briefwechsel zwischen Maria Theresia und Joseph II., Bd. 3, hrsg. von Alfred Ritter von Arneth, Wien 1868, S. 335–361. 41 Vgl. die in Anm. 35 angedeutete Offenheit. 42 Eine der wohl treffendsten Diagnosen stellt Walder, wenn er postuliert, dass nichts geringeres als jener abstrakte Funktionsmechanismus, der bis in die heutige Zeit des Gefangenendilemmas als vorwaltendem Paradigma Staat definiert, Friedrich bereits leitende Idee war, „dass nämlich das Gesamtinteresse und das wohlverstandene Interesse des Einzelnen miteinander übereinstimmen“, WALDER (wie Anm. 39), S. 129. Insofern war die genaue Begrifflichkeit nachrangig, entscheidend vielmehr die konnotierte Koordinationsfunktion. 43 Eine sprichwörtliche Karriere zu beobachten ist seit dem Titel von ANDERSONs Monographie, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998, cantus firmus. Anderson geht davon aus, auch die Nation sei ein au fond fiktives Artefakt, das ursprünglich nur vorgestellt, seine eigene Wirklichkeit geschaffen habe. Er postuliert sie überdies als insofern mit der Souveränität gekoppelte Größe, als Souveränität konstitutive Eigenschaft von Nation sei.

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chie als bereits angelegt erkannt werden, der sodann im 19. Jahrhundert reüssieren wird. Vattel zufolge ist es nämlich nunmehr die Nation, die entscheidet, wer diese „autorité publique“ trägt: „Le Prince tient son autorité de la nation“44. Erst wenn diese einem Monarchen übertragen worden ist, fungiert er als der Souverän. Syllogistisch in den Sprachgebrauch des Hohenzollern eingesetzt hieße dies, er verstehe sich als erster Diener der Nation. Tatsächlich lässt sich der staatstheoretische Jargon jener Jahre soweit kompatibilisieren, dass sich ein solcher Schluss ziehen lässt. Denn die bereits erörterte Historie der friderizianischen Begrifflichkeit, mit der die Beziehung zwischen Staat und Herrscher erfasst werden sollte, setzte sich nämlich fort. Bereits 1757, ein Jahr vor dem Erscheinen des Vattelschen Ius Publicum Europaeum, beschrieb der Monarch in seiner „Apologie de ma conduite politique“ den Monarchen nicht mehr als Diener des Staates, sondern erläuterte in gekonnter Beiläufigkeit: „[…] le peuple, dont il n’est que le chef ou le premier ministre“45. Doch die Entwicklung nahm einen geradezu spektakulären Verlauf, was nicht zuletzt nicht nur die Verselbständigung des Staats hervorbrachte, sondern zugleich Zeugnis der Eigenmacht öffentlicher Meinung ist. Ausgerechnet an die Kurfürstenwitwe Maria Antonia von Sachsen, also sogar an eine Standesgenossin gerichtet, schrieb Friedrich 1766, der Monarch sei „premier[s] magistrat[s] de la nation“46. Die friderizianische Terminologe fügt sich in den beschriebenen Syllogismus des vorherrschenden Staatsrechts! Wie stark das Konzept des Gottesgnadentums tatsächlich bereits korrodiert war, lässt sich aus diesen Zitaten freilich nicht ermessen: War es womöglich gerade eine aus diesem Bewusstsein gespeiste Souveränität, die den Hohenzollern sich derart großzügig auch vergleichsweise neuen Konzepten wie der Nation öffnen ließ? Wenn die französische Geschichtsschreibung lange Zeit postuliert hat, „C’est l’état, qui fait la nation“, so mag dies zumindest für Frankreich zutreffen. In Analogie zu diesem bon mot ließe sich jedoch weitaus allgemeingültiger formulieren, dass es der Absolutismus sei, der den modernen Staat schuf. Es ist die Lösung von jeder immanenten Bezugsgröße, die das Abstraktum Staat erfordert. Dieser ist aber gleichsam gefunden worden, um sich vom Herrscher sodann auch in praxi immer weiter zu abstrahieren. Das legitimierende Modell schafft seine eigene Wirklichkeit. Die Nation als Quelle der Souveränität anzusehen, von der sich die Herrschergewalt ableitet, bildet daher eine spezifische Fiktion in historischem Gewand wie die Herrschaftsvertragslehre der Frühen Neuzeit allgemein. Unhistorisch wäre es ebenfalls, 44

DE VATTEL (wie Anm. 19), I, 2 § 45. Œuvres XXVII, S. 3030. 46 Œuvres XXIV, S. 120. 45

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auf die so lange Tradition heute ungenau so benannter Volkssouveränität zu verweisen, wie sie das Mittelalter bereits mit einem Manegold von Lautenbach bescherte. Der Gedanke einer von den Beherrschten ausgehenden Herrschaftsgewalt ist so alt, dass er sich fast als zeitlos darstellt. Staat und Souveränität aber sind Kinder jener sich bereits instituierenden Herrschaft. Die Nation tritt später vielmehr an die Stelle des Monarchen und letztlich Gottes, um sie abzulösen. Damit erweist sie sich gleichermaßen als Produkt und Katalysator von Säkularisierung. Staat gewinnt „its own momentum“, wie sich angelsächsisch formulieren ließe. Historisches Kind und konstruierter Mandatar absoluter Monarchie zugleich, bleibt er Gewinner im Kampf der geschichtlichen Größen: Er ist zugleich Arena und Gegenstand neuzeitlicher Machtkämpfe. Auch die Nation kommt nicht ohne ihn aus. Volkssouveränität ist historisch und tatsächlich verstanden nicht Quelle von Staatsgewalt, sondern sie findet sie vor. Vielmehr löst sie den Herrscher allmählich ab als erfolgreichen Bewerber um diese Gewalt. Es ist ein weit verbreiteter Fehler, den modernen Rechtsstaat, der auf dem Prinzip gründet, jedem staatlichen Handeln widersprechen und dieses durch den Betroffenen justiziell kontrollieren lassen zu können, mit dem Prinzip der gesetzlichen Grundlage staatlichen Handelns gleichzusetzen. Dieses Prinzip ist nämlich deutlich älter als der Rechtsstaat und begründet vielmehr die davon zu unterscheidende Vorstufe des Gesetzesstaats47. Das Prinzip des Gesetzesstaats setzt aber mit dem frühneuzeitlichen Fürstenstaat ein. Insofern ist Souveränität anders als mittelalterliche Regalien zentral Gesetzgebungskompetenz48. Nicht nur Bodin, auch Hobbes konzeptionalisiert den Fürstenstaat als Gesetzesstaat. Damit wird aber nicht nur eine entsprechende Herrschaftskompetenz beim Monarchen monopolisiert, sondern überhaupt erst erschaffen. Gesetze erwuchsen noch im Spätmittelalter kasuistisch, waren eigentlich Gesetzmäßigkeiten, die sich aus langer Spruchtätigkeit entwickelt hatten. Ausgehend von der Bodinschen Souveränitätstheorie und rationalen Konzeption des Fürstenstaates, wie sie sich namentlich bei Veit Ludwig von 47

Die Forschungen zum Fürstenstaat als Gesetzesstaat sind einerseits Legion. Andererseits fehlt bis heute eine monographische Abhandlung des Gesetzesstaats als historischem Phänomen. Die hiesigen Aussagen stützen sich maßgeblich auf Reinhart KOSELLECK, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973, S. 17; Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 32002, S. 141 und passim; Markus PÖCKER Das Parlamentsgesetz im sachlich-inhaltlichen Steuerungsund Legitimationsverbund, in: Der Staat 41 (2002), S. 616–635, S. 617 f. und Hagen SCHULZE, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004, S. 28. Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass Foucault den Gesetzesstaat lediglich als Herrschaftstaktik ansieht: Michel FOUCAULT, Analytik der Macht, Frankfurt 2005, S. 161; vgl. auch ebd, S. 223. Das mag vertretbar sein, solange die Eigendynamik wahrgenommen wird, die diese Herrschaftstaktik entfaltet. 48 QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 46 f.

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Seckendorff findet, entsteht mit dem Absolutismus überhaupt erst die Möglichkeit planmäßiger und aktiver, nicht mehr spontaner und reaktiver Zukunftsgestaltung durch Politik. Das Entstehen des modernen Gesetzesstaates lässt sich anschaulich parallelisieren mit der in unseren Tagen zu beobachtenden Ergänzung klassischer Buchhaltung durch das Institut des controlling: In der Wirtschaft wird somit in die Zukunft gerichtete intentionale und programmatische Steuerung möglich, die eine an der Vergangenheit orientierte reagierende Regelung ansonsten gleichsam autopoietischer und emergenter Verläufe ablöst. Die von Bodin als „première marque de souveraineté“ bezeichnete Kompetenz des „donner loy à tous en général, et à chacun en particulier“49 verdeutlicht zugleich, warum jedoch eine wenn auch relativ zu verstehende Gesetzesförmigkeit politischen Handelns gleichsam selbsttätig Staat entstehen lässt: Zum einen begründet sie ein von vornherein abstraktes und generelles Handeln, zum anderen bindet sie den Herrscher selbst, verpflichtet ihn bei widersprüchlichem Handeln zur Exemtion. Damit entsteht jedoch eine Eigendynamik, die sich zwangsläufig von der Person löst, welche über die „potestas condendi leges“ verfügt: Staat entsteht. Die Gesetzgebungskompetenz korreliert mit einem weiteren Abstraktionsschub, nämlich der Umgestaltung von Herrschaftsfinanzierung: Der Fürstenstaat ist nicht nur Gesetzesstaat, sondern auch Steuerstaat. Die ausschließliche Finanzierung über Gefälle, Abgaben, Akzisen und eigene Wirtschaftstätigkeit reicht nicht aus, um das, was Souveränität ausmacht, auf eine hinreichende ökonomische Grundlage zu stellen. Vielmehr muss auch der Gewinn des gesamten Wirtschaftens, das sich innerhalb eines Herrschaftsgebiets vollzieht, anteilig dem Inhaber der Herrschaftskompetenz zufallen. Ansonsten wäre er eben nicht souverän, sondern bliebe vom eigenen Unternehmerglück abhängig. Dass er sich vom „Glück“ der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung nicht abkoppeln kann, ist indes evident und war bereits Friedrich dem Großen bewusst50. Die Entwicklung zum Steuerstaat ist zwar mit derjenigen hin zum Gesetzesstaat verknüpft, aber gleichwohl eigenständig. Gesetzesdurchführung ist neben dem Unterhalt stehender Heere die entscheidende Ursache für den dramatisch sich steigernden Finanzbedarf frühneuzeitlicher Herrschaft51. Der Steuerfinanzierung ist mit der Gesetzesförmigkeit 49

BODIN (wie Anm. 2), I, 10 und 121. Theodor SCHIEDER, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt am Main 1983, S. 309. 51 Die Entwicklung vom Domänen- zum Steuerstaat ist bereits 1966 erstmals als Theorie einer Gesetzmäßigkeit von H. H. HINRICHS, General Theory of tax structure during economic development, Cambridge 1966, formuliert worden. Daraus hat sich eine die Frühneuzeitforschung wie auch angrenzende Disziplinen dominierende These eines „taxmilitary-complex“ gebildet, vgl. auch Wolfgang REINHARD 1999 (wie Anm. 47), S. 334 f. Darüber ist die Bedeutung interner Gesetzeserzwingung als Wirkursache des Steuerstaats jedoch außer Acht geraten. 50

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von Herrschaft als tertium comparationis die Lösung vom Singulären zugunsten des Generellen und mithin vom Konkreten zum Abstrakten, vor allem aber vom Persönlichen zum Anonymen gemeinsam. Die angestrebte vollständige Unabhängigkeit gegenüber jeglicher immanenten Größe führt zu einer Abstraktion von Herrschaftsorganisation, die sich mit der ausschließlichen Bindung und Identifikation an eine natürliche sterbliche Person, selbst an eine einzelne Dynastie nicht vereinbaren lässt: Staat entsteht. Die Entstehung des Steuerstaats ist aber Symptom zunehmender Rechenhaftigkeit politischen und administrativen Handelns. Diese entfaltet jedoch einerseits Eigendynamik und somit andererseits Selbstbindung von Politik. Bemerkenswerterweise hat es Bodin in seinen die Souveränität begründenden Schriften noch leidenschaftlich abgelehnt, Herrschaftsfinanzierung auf Steuerstaatlichkeit umzustellen52: Er war als Vertreter des dritten Standes interessengeleitet, durchschaute aber möglicherweise noch nicht einmal selbst, welche Ausmaße und Folgen der von ihm mitpropagierte Abstraktionsschub von Herrschaftsorganisation zeitigen sollte. Auch wenn während der gesamten nachantiken Vormoderne allen Vertragstheorien zum Trotz das Volk niemals als tatsächlicher Machthaber und reale Herrschaftsquelle auszumachen ist, so bleibt die Frage, ob nicht mit voranschreitender Zeit ein zunehmender Legitimationsbedarf von Herrschaft zu beobachten sei. Welche Veränderungen hierfür sprächen, wird im Folgenden zu erörtern sein. Grundsätzlich fällt auf, dass die politische Theorie im Allgemeinen wie das Souveränitätskonzept des 16. Jahrhunderts im Besonderen Formen „absorptiver Repräsentation“ favorisieren53. Tatsächlich wird das Volk bei Bèze und Duplessis-Mornay zum Souverän erklärt, um jedoch sogleich als handlungsunfähige Größe wieder gleichsam entmündigt zu werden: In der Sache gelangt freilich auch das 16. Jahrhundert über Manegold von Lautenbach nicht hinaus. Im Gegenteil. Hinter mittelalterliche Tendenzen wie etwa den Konziliarismus des 15. Jahrhunderts fällt die politische Theorie und zumal die politische Praxis des späten 16. Jahrhunderts sogar zurück. Alle diese Entwicklungen zeigen jedoch an, dass das auf die Merowingerzeit zurückgehende Legitimationsprinzip des Gottesgnadentums seit dem späteren Mittelalter offensichtlich zunehmend defizitär ist, um den Legitimationsbedarf zu decken54. Am Ende des Beobachtungszeitraumes ist es hingegen das Konzept der Souveränität, das sich in seiner ganzen Säkularität verankert als geeignetes Mittel erweist, um im Jahr der restaurativen Neuordnung, nämlich 1813, die 52

QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 61. QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 44. 54 Zum Ursprung des Legitimationsprinzips „dei gratia“ klassisch: Fritz KERN, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, Darmstadt 21954; J. A. DABBS, Dei gratia in Royal titles, Den Haag 1971. 53

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überkommene dynastische Herrschaft in die Moderne hinüberzuretten55. Was könnte den erhöhten Legitimationsbedarf erklären und wie kam es ausgerechnet zum Siegeszug des Souveränitätsbegriffs? Die Frage ließe sich auf den ersten Blick in jener abschließenden und zugleich völlig offenen Allgemeinheit beantworten, wie dies traditionell eine Disziplin wie die Philosophie bietet. Es ist die Wende zum autonomen Subjekt, jenes Bewusstwerden von Individualität und Aufbrechen einer Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt, die seit dem ausgehenden Mittelalter die westliche Mentalitätsgeschichte prägt. Beinahe ließe sich das frühere Mittelalter mit der frühen Kindheit in der Entwicklungspsychologie des Menschen vergleichen56. Der Mensch erlebt bis mindestens zu seinem fünften Lebensmonat die Welt nicht als ein in Subjekt und Objekt geteiltes Geschehen57. Allein der Vergleich erweist sich insofern als disparat, als aller Selbststilisierung des modernen Menschen entgegen auch das Mittelalter keine Welt von Kindern war. Dass freilich der mittelalterliche Mensch in seinen Bewusstseinsdimensionen noch vielfältig eingeschränkt war, erweist nicht zuletzt die Kunstgeschichte: Die mittelalterliche Malerei kennt keine Zentralperspektive, die dreidimensionale Wirkung erlaubt. Es ist nicht ernsthaft in Frage zu ziehen, dass in jener relativen und allmählichen Bewusstwerdung und Emanzipation des Individuums als Subjekt der letzte Grund für den gesteigerten Legitimationsbedarf von Herrschaft gründet. Gerade weil diese Erklärung jedoch äußerst allgemein und abstrakt ist, trägt sie zum historischen Verstehen von Staatsentstehung als Befriedigung dieses gesteigerten Legitimationsbedürfnisses wenig bei. Historisch konkreter greifbar wird diese Entwicklung vornehmlich im Vorgang der Säkularisation, als deren Produkt der Staat spätestens durch Böckenförde formuliert worden ist58. Am Beginn dieser Entwicklung politischer Ideengeschichte steht die Ablösung der auf Papst Gelasius zurückgehenden „Zwei-Schwerter-Theorie“, die als Dualismus von spiritualia und temporalia den politischen Kosmos fast des gesamten Mittelalters geordnet hatte. Bodin postuliert hingegen: „car celuy est absolument souverain, qui ne recognoist 55

Freiherr VOM STEIN, Denkschrift für den Zaren Alexander, in: Briefe und amtliche Schriften, Bd. 4, hrsg. von Walter Hubatsch, Stuttgart 1963, S. 245 f. Vgl. QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 121, der weitere Quellen der Renaissance des Souveränitätsbegriffs bietet. 56 Dass dieser Vergleich nicht abwegig oder gar unzulässig ist, erhellt nicht zuletzt daraus, dass der Vater der Subjekt-Objektspaltung, Karl Jaspers, nicht nur Philosoph, sondern zugleich Psychiater war. Karl JASPERS, Einführung in die Philosophie, München 1953, S. 24 f. Tatsächlich ist das beschriebene erkenntnistheoretische Phänomen ubiquitär und daher in sehr unterschiedlichen Disziplinen anwendbar. 57 Margareth MAHLER, Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt am Main 1996. 58 Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: DERS., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 1991, S. 93.

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rien plus grand que soy apres Dieu“59. Wenn die Formulierung nicht anderweitig durch Leopold von Ranke bereits besetzt worden wäre, ließe sich zusammenfassen, dass der Monarch nun unmittelbar zu Gott sei, recht so, wie es auch die nicht von ungefähr zu dieser Zeit neu auftretende protestantische Rechtfertigungslehre jedem Individuum zubilligt: sola gratia. Damit ist aber grundsätzlich bereits dasjenige in die Welt gesetzt, was bis heute als Staat begriffen wird: Eine immanent absolute Souveränität, die niemandem und nichts verantwortlich ist. Und die einzige Institution, der zuvor diese Macht konkurriert und respondiert hatte, war die Kirche. Als „der staatlichste Zug der Staatsgewalt“ ist von Herbert Krüger die Einseitigkeit des Staates identifiziert worden60. Bodin weist daraufhin, der Steuermann könne im Notfall das Schiff nicht am Havarieren hindern, wenn er zuvor erst die Passagiere befragen müsse61. Damit wendet er sich jedoch von körperschaftlichen älteren Metaphern ab, indem die Bürger zu reinen Passagieren qualifiziert werden. Staat wird als Subordinationszusammenhang erklärt: Anders als später die Demokratie, die eine Legitimationsform beschreibt, bleibt der eigentliche Staat das Unterordnen seiner Bevölkerung. Dieses uns Heutigen autoritär anmutende Denken ist deswegen jedoch keinesfalls unmodern. Im Gegenteil: Es ist Ausweis von Säkularisierung und unterscheidet das Souveränitätskonzept von der mittelalterlichen Zwei-Schwerter-Lehre, die einer Gesellschaft intermediärer Gewalten das Wort geredet hatte. Es ist jedoch weniger dieses zunehmend säkulare Denken, das unmittelbar die Entstehung von Staat begünstigt. Konkret vollzieht sich etwa die Geburt der Bodinschen Souveränitätslehre wie auch der Hobbesianischen Vertragstheorie aus der Erfahrung der Religionskriege. Dass diese ihrerseits als früheste Formen von Säkularisierung zu begreifen sind, ist zwar offensichtlich, entledigt aber nicht der Rekonstruktion konkreter historische Umstände: Wie handgreiflich die Erfindung der modernen Souveränität vorzustellen ist, zeigt sich darin, dass Bodin, nachdem er seinen deutlich zurückhaltenderen „Methodus ad facilem historiarum cognitionem“ 1566 verfasst hatte, selbst beinahe Opfer der sprichwörtlich gewordenen „Bartholomäusnacht“ vom 24. August 1572 geworden wäre62. Es ist, wie wohl auch bei Hobbes und weiland bereits beim gefolterten Machiavelli, eine physische Bedrohung, die eigene Gefahr an Leib und Leben, die zu jener Persönlichkeitserschütterung führt, welche dann dazu veranlasst, gleichsam planmäßig Staat zu konzipieren und zu postulieren. Jenen sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts formierenden politiques wurde einsichtig, dass sich die überkommene mittelalterliche, also lehnsrechtliche und einem Dualismus von Weltlichem und Geistli59

BODIN (wie Anm. 2), I 8, 124. Herbert KRÜGER, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1966, S. 880. 61 BODIN (wie Anm. 2), I 8, 142. 62 Eingehend und eindringlich geschildert bei: QUARITSCH 1986 (wie Anm. 1), S. 48 f. 60

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chem verpflichtete politische Ordnung, den sich immer vehementer und anarchischer gerierenden Partikularinteressen nicht mehr wirksam friedensstiftend entgegenzustellen vermochte. Es bedurfte einer qualitativ neuartigen Herrschaftsform: Staat entsteht. In seiner Radikalität ist das Konzept des modernen Staates tatsächlich beinahe nur als Schockreaktion zu erklären. Diese kann sich aber nur über auch individuell und konkret erlebte Schocks vollziehen: Träger von Mentalität sind Individuen. Anders ist die Abkehr von tradierter Selbstverständlichkeit im menschlichen Leben nicht erklärbar. Mehr noch: Es folgt einem Prinzip der Biologie, dass lebende Systeme Krisen mit Zentralisation beantworten63. Der neuzeitliche Zentralisationsvorgang par exellence ist indes der Staat64. Bereits in seinem neu 1566 erschienen Methodus, also noch bevor er die Souveränität in seinen Six livres de la république definierte, hat Bodin Kriegserklärung und Friedensschluss als Kompetenz der „majestas imperii“ formuliert65: Damit geht er auch auf Kompetenzen ein, die geographisch das Herrschaftsgebiet verlassende Bereiche anbetreffen. Diese Kompetenzen dem später von ihm so genannten Souverän zuzubilligen verfolgt eine gezielte Absicht: Die Vertragstreue soll gesteigert, die Berechenbarkeit von Politik gegenüber anderen Souveränen erhöht werden. Das Programm einer auf Berechenbarkeit der Lebensverhältnisse auszurichtenden Politik soll flächendeckend sein. Die „Verstaatlichung der Welt“ (Wolfgang Reinhard), wie sie in der Frühen Neuzeit zunächst in Europa einsetzt, ist gleichermaßen Folge wie Ursache dieser Entwicklung: „Treu und Glauben sind Fundamente und Pfeiler der Gerechtigkeit, auf sie sind alle Staaten, Bündnisse und menschlichen Gemeinschaften gegründet“66. Bodin positioniert sich damit schon sehr früh in einem Systemkonflikt, der für die absolutistische Fürstenherrschaft durchgängig ist und der maßgeblich für ihr Ende im 18. Jahrhundert ursächlich werden soll: Dem Antagonismus dynastisch motivierten Kalküls und tatsächlich staatlichem Interesse. Noch Ludwig XIV. soll diesen Interessengegensatz, der seine Herrschaft beinahe zu sprengen droht, beharrlich ignorieren, indem er über die leges fundamentales legitimiert, das Interesse der Dynastie mit dem des Staates gleichsetzt67. 63 „Die Zentralisation ist als der wesentliche Kompensationsvorgang eines Organismus im Schock aufzufassen“, PSCHYREMBEL. Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, Berlin/New York 1998, S. 1427. 64 KUNISCH (wie Anm. 30), S. XV. 65 BODIN (wie Anm. 16), 168 B; 120 B. 66 BODIN (wie Anm. 2), V 6, 802. 67 Angedeutet, wenn auch nicht expliziert wird dieser Konflikt u. a. bei Klaus MALETTKE, Ludwigs XIV. Außenpolitik zwischen Staatsräson, ökonomischen Zwängen und Sozialkonflikten, in: Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume europäischer Außenpolitik im Zeitalter Ludwigs XIV., hrsg. von Heinz Duchhardt, Berlin 1991, S. 43–72, v. a. S. 48. Der Text bietet jedoch zugleich ein Beispiel dafür, wie sehr auch die moderne Forschung

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Es sind vor allem die republikanisch verfassten Staaten wie die Niederlande, die in die Wunde dieser Inkonsequenz ihren Finger legen. Damit wird Souveränität jedoch auch zu einem „außenpolitischen“ Argument. Letztlich lässt sich dieses Argument, Verhalten zu begründen, indes als der Staat an sich benennen: Denn Staat ist diejenige Kategorie, die zwischen den Herrschern, Völkern, Nationen oder wie auch immer zu definierenden protointernationalen Größen Berechenbarkeit stiftet – wenn auch nicht unbedingt Frieden. Es liegt jedoch nicht allein in der Eigenart der frühneuzeitlichen Welt begründet, sondern auch in der Entstehungseigenart von Souveränität und Staat, dass sich Inneres und Äußeres nicht seriös voneinander trennen lassen. Denn es ist ja just das Aufkommen einer arbiträren, allem Immanenten übergeordneten Herrschaftsgewalt, Souveränität genannt, die sodann als Staat verselbständigt und von Gewaltträgern abstrahiert, erst jene Berechenbarkeit und Klarheit schafft, die es gestattet, von einer auswärtigen Sphäre der Politik zu sprechen, also eine echte Außenpolitik vom Inneren zu unterscheiden. Die Emanzipation des Staates vom Herrscher schafft erst echte Außenpolitik und reale Staatenwelt. Es ist just dieser Vorgang, der eine Abkehr von den aus dem Mittelalter überkommenen Händeln und Fehden der Dynasten sowie dem reinen, in der frühen Neuzeit sogenannten jeu des rois hinweg zu Außenpolitik im modernen Sinne begründet. Zugleich ist diese Entwicklung selbstverständlich auch Symptom und Merkmalsausprägung des hier beschriebenen Ablösungsvorgangs68. Souveränität in innere und äußere zu zernieren leugnet indes ihre bis heute kennzeichnende Eigenart. Außenpolitik ist per definitionem ohne Staat nicht denkbar. Wäre sie eine eigenständige Größe, handelte es sich um Weltinnenpolitik. Diese setzte aber den Weltstaat voraus. Wer hingegen im Äußeren nicht souverän ist, ist es zugleich auch im Inneren nicht mehr. Derartige Verwirrung griff freilich bereits im 19. Jahrhundert um sich - damals freilich noch unter umgekehrtem Vorzeichen. Hermann Rehm unterstellte bereits Moser und anderen Denkern des 18. Jahrhunderts, versucht ist, dem zeitgenössischen kontaminierenden Denken zu folgen und den immanenten Systemkonflikt zu ignorieren. 68 In den meisten modernen Staaten des westlichen Kulturkreises hat dem die Rechtswissenschaft bis jetzt Rechnung getragen, indem sie kaum ausschließlich völkerrechtliche Lehrstühle denominiert, sondern Staats- und Völkerrecht zusammendenkt. Auch die andere alte Traditionswissenschaft, die diesen Themenkreis von jeher schneidet, nämlich die Geschichte, kennt allen seit den 1970er Jahren erbittert geführten Debatten zum Trotz keine echte institutionelle Trennung dieser Sphären. Tatsächlich entstanden jene Debatten stets auch um die Frage, ob es einen Primat des Inneren oder Äußeren gäbe. Gemeinsam war beiden Fraktionen, dass eine Trennung inakzeptabel erschien: Das eine wurde vom jeweils anderen als abgeleitet vorgestellt. Lediglich eine junge Disziplin wie die Politikwissenschaft hat mit einem Teilfach wie den „Internationalen Beziehungen (IB)“ bislang eine relative Abtrennung vorgenommen. Dies erscheint fast als zwangsläufig angesichts einer vergleichsweise geringen Bedeutung, die dem Staat als leitender Größe in diesem Teilfach zukommt.

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sie hätten Souveränität anders als Bodin nur noch als nach außen geltend konzipiert, jedoch nicht mehr als umfänglich. Tatsächlich hatte Moser aber eher die Macht der Stände kritisiert als gerechtfertigt, stellte sich also in die seit Bodin um sich greifende Entwicklungslinie einer Verstaatlichung und Monotonie des politischen Systems69. Dabei konnte das Souveränitätsargument bald von innen nach außen, bald umgekehrt wirken. In diesem Zusammenhang gilt es, noch einmal auf die Entstehung der Unabhängigkeit Preußens einzugehen, die die Hohenzollern von Kurfürsten zu „Königen in Preußen“ werden ließen: Hatte Friedrich Wilhelm I., der legendäre „Große Kurfürst“, zunächst in den Verträgen von Labiau und Wehlau seine Unabhängigkeit gegenüber Polen und Schweden konstituiert und hielt noch am 24. Mai 1655 der in Berlin ansässige schwedische Gesandte Wolfsberg gegenüber seinem König Karl X. Gustav fest, das Anliegen des Kurfürsten bestehe darin „wegen Preußen […] ganz frei und keinem mehr unterwürfig zu sein“70, so ist spätestens für das Jahr 1657 ein bemerkenswerter Wandel nachweisbar: Friedrich Wilhelm I. nutzt das Argument der Souveränität anlässlich eines Landtags, um die Stände in die Schranken zu weisen71. Diese Beobachtungen bedürfen indes, was die Landesherrn des Reiches anbetrifft, einer gewissen Einschränkung. Tatsächlich warf das politische System des Reichs, von Pufendorf bekanntlich als monstro simile bezeichnet, die Frage auf, ob es eine Souveränität im Bodinschen Sinne überhaupt geben konnte: Diese Frage kann hier indes nur gestellt, nicht jedoch erschöpfend behandelt werden, ist sie doch letztlich mit der Frage identisch, ob es im Reich Absolutismus überhaupt geben konnte. Die Forschung hat diese Frage indes über Generationen hinweg bejaht72: Der Ort absolutistischer Herrschaft ist auf der territorialen Ebene zu suchen. Aber noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts behauptet der Jurist Johann Georg Fessmaier, auf den bayerischen König blickend: „Seine Souveränität ist von innen unbeschränkt, von außen etwas beschränkt durch des teutschen Reiches Lehensverband und höchste Gerichte“73. Nikolaus Thaddeus Gönner sieht ein Jahr darauf in den deutschen Territorialherrschern „Halbsouverains“74. Konsequent weitergedacht bedeutete dies 69

Johann Jacob MOSER, Von der Landeshoheit der Teutschen Reichsstände überhaupt, Neues Teutsches Staatsrecht Bd. 14, Frankfurt am Main 1773, v. a. S. 4. 70 Urkunden- und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, hrsg. von Bernhard Erdmannsdörffer, Bd. 8, Berlin 1884, S. 198 f. 71 Landtagsabschied vom 13. Oktober 1657, in: Ständische Verhandlungen, hrsg. von Kurt Breysig, Bd. 3, Berlin 1894. 72 Weiterer Diskussion ist an dieser Stelle ein non licet entgegenzustemmen, da hier nicht der Ort einer jüngeren Wissenschaftsgeschichte der Frühneuzeitforschung sein kann. 73 Georg FESSMAIER, Grundlinien zum Staatsrechte von Baiern, Landshut 1803, S. 10. 74 Nikolaus Thaddeus GÖNNER, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, S. 100.

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jedoch nichts anderes, als dass es im Reich klassische Souveränität gar nicht geben konnte. Entsprach dies de jure der Wirklichkeit, so entschied de facto die Macht des einzelnen Herrschers diese Frage gegebenenfalls abweichend, wie namentlich im Fall des Königs in Preußen. Auch die bayerischen Reformen eines Grafen Montgelas sind nicht ohne die Machtfülle einer staatlichen Souveränität im Bodinschen Sinne erklärbar. Die Finessen der beiden zitierten Staatsrechtslehrer zeigen indes, dass bis zu seinem endgültigen Untergang 1806 tatsächlich auch die Frage der inneren Souveränität innerhalb des Reichs niemals mit der Eindeutigkeit beantwortbar war wie etwa in Frankreich oder Spanien. Die Verstaatlichung von Herrschaft – Übersetzung oder Überformung? Was vielfach als Übersetzung mittelalterlicher Herrschaft in die politische Sprache der Neuzeit begann, führte vergleichsweise schnell zu Überformung und Neuformung. Bemerkenswert ist, dass sich zumindest in Gestalt von Bodins Souveränitätslehre indes ein Ansatz frühmoderner Staatlichkeit findet, der oberflächlich bemüht ist, noch die Form einer Übersetzung zu wahren. Tatsächlich hat Bodin aber durchaus beabsichtigt etwas Neuartiges in die Welt gesetzt. Was am Ende der Entwicklung steht, ist in jedem Fall eine Transformation. Es ist jedoch zugleich mehr: Tatsächlich wird einem beliebten sujet des später auftretenden Genre des science-fiction-Romans ähnlich eine neue Form von Leben jenseits des sterblichen individuellen menschlichen Daseins geboren. Die nüchterne historische Gesamtschau erschließt dem leidenschaftlichen Wort Nietzsches somit einen völlig neuen Sinn: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer“75.

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Friedrich NIETZSCHE, Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 313.

ANDERE BEITRÄGE

Wertewandel und Geschichtsbewusstsein – Überlegungen zur historischen Untersuchung einer Wechselbeziehung Von

Kerstin Armborst-Weihs & Judith Becker Spezifische Wertbindungen und ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein gehören seit Jahrhunderten zur Selbstdefinition Europas. In den letzten Jahren sind beide Phänomene verstärkt in den Blick der Forschung geraten. Wichtig ist jedoch auch – und dies wurde bisher noch wenig betrachtet –, dass sie in enger Beziehung zueinander stehen. Der Frage, wie ihre Wechselwirkung historisch untersucht werden kann, widmet sich dieser Beitrag1. Im Prozess der Wertaushandlung sind auf historisches Denken gründende Argumentationen und die Selbstverortung der beteiligten Personen in der Zeit von konstitutiver Bedeutung. Das gleichermaßen kognitive, normative und rezeptive Verhältnis der Menschen zur Geschichte lässt diese nicht nur als Erkenntnisobjekt erscheinen, sondern auch als Werte und Normen konstituierend und Traditionen prägend2. Andererseits ist nicht nur jede Form von Geschichtsschreibung, sondern historisches Denken in all seinen Ausprägungen der jeweiligen Zeit und den Interessen, Maßstäben und Kriterien der betreffenden Urheber verhaftet. Unabhängig von der spezifischen Ausdrucksform von Geschichtsbewusstsein stellen Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen konstitutive Faktoren seines Entstehungsprozesses 1

Der Aufsatz ist aus intensiven Diskussionen im interdisziplinären Forschungsbereich „Wertewandel und Geschichtsbewusstsein“ am Institut für Europäische Geschichte in Mainz hervorgegangen. 2 Vgl. Wolfgang KÜTTLER, Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zur Problemstellung einer Entwicklungsgeschichte der theoretischen und methodologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft, in: Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte. Zum 80. Geburtstag von Ernst Engelberg, bearb. von Wolfgang Küttler und Karl-Heinz Noack, Berlin 1991, S. 14–32, hier: S. 17 f. Eine ausführliche Darstellung von Begriffsdefinitionen zu Geschichtsbewusstsein und Werten/Wertewandel findet sich in Abschnitt I. Daher werden sie hier zurückgestellt.

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dar. Geschichtsbewusstsein entwickelt sich in Abhängigkeit von bestimmten Orientierungsrahmen und Kontexten, in die das Subjekt, der jeweilige Urheber, eingebunden ist3. Somit spielen Wertehorizonte wie persönliche Werthaltungen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung, Formierung und Wandlung von Geschichtsbewusstsein. Mit der Frage nach der engen Verwobenheit von Wandlungsprozessen im historischen Denken von Individuen und Gruppen einerseits und Veränderungen ihrer Werthaltungen andererseits wird hier ein Gegenstand näher in den Blick genommen, auf dessen Relevanz bereits auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen worden ist. Insbesondere in der Geschichtsdidaktik sind in den vergangenen Jahrzehnten Ansätze zur Erforschung der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein im gesamtgesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Kontext ausgebildet worden, die nach der lebensweltlichen Verwurzelung sowie nach den Funktionen des historischen Denkens und des geschichtswissenschaftlichen Erkennens fragen4. Auch aus politikwissenschaftlicher Sicht wurde die Beziehung von Geschichtsbewusstsein und Wertesystemen thematisiert und mittels Befragung ausgewählter Personengruppen untersucht5. Ebenso spielen in der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung Aspekte des bewussten Umgangs mit der Vergangenheit eine bedeutende Rolle – wenn auch häufig implizit über den Fokus auf Prozessen der Bindung an oder Lösung von Traditionen6. Während sich diese Ansätze und die ihnen folgenden Untersuchungen insbesondere auf zeithistorische oder gegenwartsbezogene Kontexte beziehen, konzentrieren sich zahlreiche historiographiegeschichtliche Arbeiten auf Aspekte dieser Fragestellung mit Bezug auf zurückliegende Epochen. Dabei ist der Untersuchungsgegenstand häufig so gewählt, dass die Entwicklung historischer Praxis im Kontext lebensweltlicher Bezüge sowie disziplinärer, 3 Vgl. die von Jan Assmann mit Bezug auf die Konstruktion von Erinnerung getroffene Feststellung, die aber ebenso für das Geschichtsbewusstsein zutrifft (Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl. München 2005, S. 36). Assmann beruft sich hier auf Maurice HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985, und verweist auf wichtige Berührungspunkte in dessen Überlegungen mit der von Erving Goffman entwickelten Theorie der Rahmenanalyse (vgl. Erving GOFFMAN, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt 1977). 4 Vgl. Jörn RÜSEN, Einleitung, in: Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, hrsg. von Jörn Rüsen, Köln/Wien/Weimar 2001, S. 1–13, hier: S. 1 f. 5 Siehe etwa Felix Philip LUTZ, Geschichtsbewusstsein und individuelle Wertsysteme, in: Werte und Wandel. Ergebnisse und Methoden einer Forschungstradition, hrsg. von Helmut Klages [u. a.], Frankfurt/New York 1992, S. 269–287. 6 Vgl. etwa Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften, hrsg. von Georg Oesterdiekhoff und Norbert Jegelka, Opladen 2001.

Armborst-Weihs & Becker, Wertewandel

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aber auch außerwissenschaftlicher Beziehungsnetze untersucht wird, ohne jedoch die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen historischem Denken und Wandlungsprozessen gesellschaftlicher oder gruppenspezifischer Wertesysteme explizit zu machen. Will man jedoch die komplexen Vorgänge der Wertaushandlung und Wertsetzung auf der einen, der Bildung und Entwicklung von Geschichtsbewusstsein auf der anderen Seite eingehend untersuchen, rückt die Wechselbeziehung zwischen beiden Prozessen deutlich in den Vordergrund – unabhängig davon, ob die Aufmerksamkeit einer Person, einer spezifischen Gruppe oder gesamtgesellschaftlich relevanten Verläufen gilt. Denn durch Geschichtsvorstellungen, -bilder und -konzeptionen werden nicht nur vergangene Ereigniszusammenhänge rekonstruiert, sondern zugleich immer auch gegenwärtige und zukünftige Handlungsfelder strukturiert7. Um die hier dargelegten Verflechtungen im Hinblick auf das neuzeitliche Europa sichtbar zu machen und in ihren Begründungszusammenhängen zu beleuchten, sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus formulierte Fragen bedeutsam: So gilt es zu untersuchen, wie die sich verändernden Wertvorstellungen das Geschichtsbewusstsein prägten und auf welche Weise historische Deutungen ihrerseits durch die Vermittlung neuer Werthaltungen traditionelle Denkweisen in Frage stellen konnten. Andererseits ist danach zu fragen, in welcher Weise historisches Denken im Prozess der Wertbildung und Wertsetzung sowie bei der Verfestigung von Wertesystemen konstituierend wirkte und die Argumentationen im Wertaushandlungsprozess bestimmte. Mit diesen beiden Perspektiven und den Möglichkeiten ihrer Untersuchung im historischen Kontext setzt sich der vorliegende Beitrag auseinander. Dabei soll es insbesondere darum gehen, Anknüpfungspunkte aufzuzeigen, die es möglich machen, an bereits erprobte Ansätze aus unterschiedlichen Forschungsfeldern anzuschließen, und weiterführende Zugänge und Herangehensweisen zu erörtern, die geeignet sind, sich den Wechselwirkungen und komplexen Verflechtungen von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein so zu nähern, dass die für Transformationen verantwortlichen Faktoren bzw. die Beharrungskräfte im Entwicklungsprozess von Wertehorizonten und Geschichtsdenken freigelegt und in ihrem Zusammenwirken analysiert werden können. Dazu ist es zunächst erforderlich, näher auf die Begrifflichkeiten „Geschichtsbewusstsein“, „Wert“ und „Wertewandel“ einzugehen und einige grundlegende definitorische Betrachtungen zu unternehmen.

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Vgl. Lucian HÖLSCHER, Die Einheit der Geschichte und die Konstruktivität historischer Wirklichkeit: Die Geschichtswissenschaft zwischen Realität und Fiktion, in: Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, hrsg. von Evelyn Schulz und Wolfgang Sonne, Zürich 1999, S. 19–40, hier: S. 29.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Überlegungen zu Terminologie und Untersuchungsperspektiven

Sowohl in unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Kontexten als auch in den Medien und in der öffentlichen Diskussion erleben die Begriffe „Geschichtsbewusstsein“, „Werte“ und „Wertewandel“ bereits seit geraumer Zeit eine Konjunktur. Hinsichtlich ihrer Definitionen und inhaltlichen Präzisierungen ist dabei eine große Vielfalt festzustellen. In diesem Beitrag soll es weder darum gehen, eine bereits bestehende Definition herauszuheben, noch, eine neue zu entwickeln. Vielmehr werden aus verschiedenen Disziplinen und unterschiedlichen Kontexten stammende Begriffsbestimmungen betrachtet, um Perspektiven und Ansatzpunkte aufzuzeigen, die im Hinblick auf die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Wertewandel und Geschichtsbewusstsein als weiterführend erscheinen. Trotz differierender Schwerpunktsetzungen besteht unter Geschichtsdidaktikern, Geschichtstheoretikern und historiographiegeschichtlich arbeitenden Fachwissenschaftlern mittlerweile ein breiter Konsens, dass Geschichtsbewusstsein weit mehr bedeutet als bloßes historisches Wissen oder reines Interesse an der Geschichte. So beschreibt Karl-Ernst Jeismann Geschichtsbewusstsein als „Wissen um die Geschichtlichkeit [...], das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Horizont des gegenwärtigen Bewusstseins begreift“8. Neben Kenntnissen und Interessen umfasst Geschichtsbewusstsein auch Deutungen, Parteinahmen, Urteile, Identifikationen, Folgerungen und Orientierungen9, sodass von einem durch das Geschichtsbewusstsein hervorgebrachten inneren Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive10 gesprochen werden kann, der bewirkt, dass „die Vergangenheit gleichsam über die Erinnerung so in die Gegenwart“ hineinspricht, dass „Zukunft als Handlungsperspektive sich öffnet“11. Das Zeitbewusstsein, die Unterscheidung der drei Zeitmodi, lässt sich als eine Grundkategorie von Geschichtsbewusstsein verstehen. Für Hans-Jürgen Pandel, der die Strukturen des Geschichtsbewusstseins untersucht hat, stellt das Temporalbewusstsein neben Wirklichkeits- und Historizitätsbewusstsein eine der Basiskategorien dar, die erst in ihrem Ineinandergreifen Ge-

8 Karl-Ernst JEISMANN, Geschichtsbewußtsein – Theorie, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Klaus Bergmann [u. a.], 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 42–44, hier: S. 42. 9 Vgl. Bodo VON BORRIES, Geschichtsbewußtsein – Empirie, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik (wie Anm. 8), S. 45–51, hier: S. 45. 10 Vgl. JEISMANN, Geschichtsbewußtsein (wie Anm. 8), S. 42. 11 Jörn RÜSEN, Strukturen historischer Sinnbildung, in: Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Materialien zur Spurensuche einer Nation, hrsg. von Werner Weidenfeld, Köln 1987, S. 52–64, hier: S. 57.

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schichtlichkeit zum Ausdruck bringen12. Die von ihm darüber hinaus benannten, in der Ausbildung des Geschichtsbewusstseins zusammenwirkenden vier sozialen Kategorien – Identitätsbewusstsein, politisches, ökonomischsoziales und moralisches Bewusstsein –, die noch ergänzt werden könnten13, verweisen insbesondere auf die lebensgeschichtliche Konstituierung von Geschichtsbewusstsein. Damit kommt der enge Zusammenhang von Wertbindung und historischem Denken zum Ausdruck, auch wenn Pandel ihn nicht explizit thematisiert. Ebenfalls rekurrieren kann die Untersuchung der Wechselbeziehung von Wertewandel und Veränderungen im Geschichtsbewusstsein auf einen Ansatz von Jörn Rüsen, der sich auf den Bereich der Sinnbildungsmuster bezieht und vier Typen der Auffassung von Geschichte benennt14, mit deren Hilfe sich nicht nur der Übergang vom Geschichtsbild zum Geschichtsbewusstsein erfassen lässt15. Vielmehr zeigen diese vier Typen der historischen Sinnbildung – der traditionale, der exemplarische, der kritische und der genetische Typus – sich wechselseitig bedingende Differenzierungsprinzipien der historischen Orientierung auf, die zugleich die Verwobenheit der Ausbildung von Geschichtsbewusstsein mit Wertaushandlungsprozessen erkennen lassen16. Doch nicht nur auf der Ebene der Kategorisierungen, der strukturellen Bestimmungen und der Beschreibung der Dimensionen von Geschichtsbewusstsein sind Anknüpfungspunkte für eine Untersuchung der Verflechtung von Wertbindung und historischem Denken auszumachen, sondern auch der Prozess der Ausbildung von Geschichtsbewusstsein und die darin bedeutsamen Faktoren verweisen bereits deutlich auf den hier erörterten Zusammenhang. Für das Wechselverhältnis von Wertewandel und historischem Bewusstsein ist die Feststellung zentral, dass die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins eng mit der Entwicklung des Subjekts selbst zusammenhängt, also sozialisationsabhängig ist, und eine Untersuchung der Ausbildung von Geschichtsbewusstsein demnach eine Beleuchtung der Konstitutionsprozesse von Subjek12 Vgl. Hans-Jürgen PANDEL, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit im Geschichtsbewußtsein. Zusammenfassendes Resümee empirischer Untersuchungen, in: Geschichtsbewusstsein empirisch, hrsg. von Bodo von Borries [u. a.], Pfaffenweiler 1991, S. 1–23, hier: S. 4. 13 Bodo VON BORRIES nennt hier etwa die Kategorien Geschlechtsbewusstsein, kulturelles Bewusstsein und ökologisches Bewusstsein (DERS., Art. „Geschichtsbewusstsein“, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hrsg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 104–108, hier: S. 107). Auch das religiöse Bewusstsein spielt – und spielte insbesondere in der Vergangenheit – eine nicht zu unterschätzende Rolle. 14 Vgl. Jörn RÜSEN, Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, S. 39–56. 15 Vgl. JEISMANN, Geschichtsbewußtsein (wie Anm. 8), S. 43. 16 Unter dem Lebensbezug der historischen Orientierung, auf den Rüsen verweist, ist auch zu verstehen, dass die Präferenz für einen der narrativen Typen mit bestimmten Wertvorstellungen einhergeht. So wird etwa die traditionale Auffassung stärker auf herkömmlichen Werten beharren als insbesondere die kritische Sinnbildung.

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tivität erfordert17. Denn es ist die durch direkte und kommunikative Erfahrung geformte „mentale Struktur“18, die für die in der Geschichtssicht gewählte Perspektive, für die Art und Weise der Darstellung, die Deutung und Wertung von historischen Zusammenhängen verantwortlich ist. Dies gilt sowohl für Auffassungen von Geschichtsbewusstsein, die Rationalität und Reflexivität betonen19, als auch für Formen des historischen Denkens, die nicht auf einem durchdachten moralischen Bewusstsein gründen20. In diesem Kontext ebenso bedeutsam ist der Befund, dass Geschichtsbewusstsein „mit starken Emotionen kombiniert auftritt“21. Auch die Identitätsforschung greift auf das Geschichtsbewusstsein zurück, freilich ohne es terminologisch auszuweisen22. Identität bildet sich im Zusammenhang mit einer bestimmten, individuell konzipierten Orientierung in der Zeit. Dies gilt sowohl für die Weltsicht, das Verständnis der Weltgeschichte, als auch und besonders im Hinblick auf die eigene Lebensgeschichte23. Deshalb formuliert Charles Taylor, „folglich müssen wir unser Leben als Geschichte sehen“24: Das Individuum entwirft seine Identität als zielgerichteten Prozess, der narrativ beschrieben wird. Mit Blick auf den Prozess der Konstituierung des historischen Bewusstseins muss also auf die Bedeutung des narrativen25 Elements verwiesen werden: Geschichtsbewusstsein ist auf Sprache angewiesen – es bildet sich im historischen Erzählen, durch das „identitätsbildende Kontinuitätsvorstellun17

Vgl. RÜSEN, Einleitung (wie Anm. 4), S. 12. PANDEL, Geschichtlichkeit (wie Anm. 12), S. 2. 19 Vgl. JEISMANN, Geschichtsbewußtsein (wie Anm. 8), S. 43. 20 Vgl. PANDEL, Geschichtlichkeit (wie Anm. 12), S. 4. 21 VON BORRIES, Art. „Geschichtsbewusstsein“ (wie Anm. 13), S. 106. 22 Vgl. z. B. Charles TAYLOR, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt 1994, bes. S. 55–58. Die Beziehung zwischen Geschichtsbewusstsein und Identitätsbildung, diesmal auf Kollektive bezogen, spielt auch in den Postcolonial Studies eine große Rolle, vgl. insbesondere Dipesh CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton [u. a.] 2000, der ausführlich das Verhältnis zwischen kollektiver Identität und Geschichtsverständnis thematisiert. Homi K. BHABHA thematisiert die Beziehung zwischen kulturellen Wertbindungen und Verortung der Menschen in Zeit und Raum, vgl. z. B. Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007, S. 1– 28. Zum Zeitverständnis vgl. auch ebd., S. 207–253. 23 Vgl. TAYLOR, Quellen des Selbst (wie Anm. 22), S. 91–104. 24 TAYLOR, Quellen des Selbst (wie Anm. 22), S. 104. 25 Der Terminus „narrativ“ wird hier im Sinn der Definition von Jörn Rüsen verwendet. Danach bezeichnet „narrativ“, „daß das durch die Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins erbrachte Resultat gedeuteter Zeiterfahrung (in der eigentümlichen Synthetisierung subjektiver und objektiver Elemente und der drei Zeitdimensionen) eine bestimmte Form hat, eine Form, die, wenn man sie als Denkform betrachtet, auch seine ‚Logik’ genannt werden kann: die Form einer Geschichte. ‚Geschichte’ meint hier das Sinngebilde eines Zeitzusammenhangs, in dem ein zeitlicher Vorgang der Vergangenheit als Abfolge von Geschehnissen so vergegenwärtigt wird, daß dabei Gegenwart gedeutet und Zukunft als Erwartungsperspektive entworfen wird“. Jörn RÜSEN, Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln [u. a.] 1994, S. 9 f. 18

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gen über den zeitlichen Wandel des Menschen und seiner Welt [...] als Sinnbestimmung in den Orientierungsrahmen der menschlichen Lebenspraxis eingebracht“26 werden. Narrativität ist demnach nicht nur konstitutiv für die Bildung, sondern auch für die Artikulation von Geschichtsbewusstsein, das somit gleichzeitig ein „Produkt“ und einen „Faktor der sozialen und kulturellen Welt“27 darstellt. Als narrative Gebilde lassen sich in diesem Zusammenhang ebenso Elemente der gesprochenen oder anders objektivierten Sprache verstehen wie auch andere Repräsentationsformen von Geschichte, wie etwa Denkmäler oder historische Symbole28. Während die Geschichtsdidaktik in ihren meist gegenwartsbezogenen Analysen von Geschichtsbewusstsein auf einen reichen Quellenbestand und empirische Erhebungen, gewonnen unter anderem aus Interviews und großangelegten Befragungen, zurückgreift, stehen der historischen Untersuchung von Geschichtsbewusstsein schwerpunktmäßig andere Quellen zur Verfügung. Ein bedeutendes Quellenkorpus bilden schriftliche Manifestationen von Geschichtsbewusstsein in Form von Geschichtsdarstellungen, Geschichtsdeutungen und historiographischen Konzeptionen. Daneben stehen Texte, in denen sich historisches Bewusstsein implizit ausdrückt und in denen auf der Grundlage eines bestimmten Vergangenheitsverständnisses Gegenwartsdeutungen und Perspektiven für die Zukunft entworfen werden. Hinzuziehen lassen sich darüber hinaus weitere Ausprägungen von Geschichtskultur wie die bildende Kunst und die Bereiche Ausstellung und Musealisierung. Im Folgenden konzentrieren sich die Betrachtungen auf schriftliche Quellen, obgleich viele der dargelegten Befunde und Methoden – mit gewissen Modifizierungen – auf andere Ausdrucksformen von Geschichtsbewusstsein übertragbar sind. Die Wertforschung in den verschiedenen Disziplinen hat eine Vielzahl von Definitionen hervorgebracht29, die, obwohl sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen30, für unsere Fragestellung nebeneinander betrachtet und auf ihre Bezugspunkte zum historischen Bewusstsein geprüft werden können. Nur ein 26

Jörn RÜSEN, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 52–58, Zitat S. 57 f. 27 Karl-Ernst JEISMANN, Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, hrsg. von Gerhard Schneider, Pfaffenweiler 1988, S. 1–24, hier: S. 11. 28 Vgl. RÜSEN, Historische Orientierung (wie Anm. 25), S. 10. 29 Rüdiger Lautmann konnte bereits Ende der 1960er Jahre 178 Wert- und 82 Normdefinitionen insbesondere aus dem Bereich der Soziologie und der Kulturanthropologie ausmachen (vgl. Rüdiger LAUTMANN, Wert und Norm. Begriffsanalysen für die Soziologie, Köln/Opladen 1969, S. 98). 30 Vgl. etwa die bei Karl-Heinz Hillmann vorgestellten Ausprägungen und Würdigungen des Wertbegriffs in der Philosophie, Ökonomie, Politologie, Psychologie, Kulturanthropologie und Soziologie (Karl-Heinz HILLMANN, Wertwandel. Ursachen, Tendenzen, Folgen, Würzburg 2003, S. 17–62).

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weites Verständnis dieser Begrifflichkeiten eröffnet die Möglichkeit, disziplinübergreifend relevante Perspektiven aufzuzeigen. In der Wertediskussion gilt die Definition des Kulturanthropologen Clyde Kluckhohn als richtungweisend, nach der ein Wert aufgefasst wird als „a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means and ends of action“31. Es gibt in der Forschung die Tendenz, durch sehr weite Definitionen dem Phänomen Wert gerecht zu werden und eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Ansätzen zu schaffen. So verstehen Helmut Klages und Peter Kmieciak Werte als individuelle und kollektive geistige Grundorientierungen, die „in ihrer Gesamtheit das System sinnkonstituierender Orientierungsleitlinien und Ordnungsaspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens verkörpern“32. In eine ähnliche Richtung weist die Definition des Historikers Gangolf Hübinger, der Werte als „Leitvorstellungen“ fasst, „an denen Individuen und Gruppen ihr Handeln verbindlich ausrichten“33. Der Soziologe Karl-Heinz Hillmann fragt nach der Bedeutung der Werte in der Gesellschaft und versteht sie als „grundlegende Ziele und Orientierungsleitlinien für den Menschen und sein gesellschaftliches Zusammenleben“34. Sie resultieren aus „geschichtlichen Prozessen einer aktiven Auseinandersetzung der [...] Menschen mit einer komplizierten, wandlungsfähigen Um- und Mitwelt“35. Stärker auf soziologisch-philosophische Wertkonzeptionen fokussierend untersucht der Sozialphilosoph Hans Joas „die Entstehung der Werte“36. Er betont die Bindewirkung von Werten und bezeichnet Werte als „reflexive Standards zur Bewertung unserer Präferenzen, emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte und nicht Wünsche“37. Dieser Gedanke ist ebenso richtungweisend für unsere Fragestellung zur Zusammenwirkung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein wie Joas’ Ausführungen, dass Wer31

Clyde KLUCKHOHN, Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification, in: Toward a General Theory of Action, hrsg. von Talcott Parsons und Edward A. Shils, Cambridge/Mass. 1951, S. 388–433, hier: S. 395. 32 Helmut KLAGES/Peter KMIECIAK, Einführung, in: Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, hrsg. von Helmut Klages und Peter Kmieciak, Frankfurt/New York 1979, S. 11– 19, hier: S. 14. 33 Gangolf HÜBINGER, Art. „Werte“, in: Lexikon Geschichtswissenschaft (wie Anm. 13), S. 325–327, hier: S. 325. 34 HILLMANN, Wertwandel (wie Anm. 30), S. 17. Vgl. auch DERS., Zur Wertewandelforschung: Einführung, Übersicht und Ausblick, in: Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften, hrsg. von Georg W. Oesterdiekhoff und Norbert Jegelka, Opladen 2001, S. 15–39. 35 HILLMANN, Wertwandel (wie Anm. 30), S. 81 und 62. 36 Vgl. Hans JOAS, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997. 37 Hans JOAS, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg/Basel/Wien 2004, S. 44.

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te entstehen und sich wandeln, wenn Präferenzen kollidieren und Individuen so zur Reflexion über ihre Werte gezwungen sind, und dass Wertaushandlung in kommunikativen Vollzügen erfolgt. All diesen Überlegungen gemeinsam ist die Grundannahme, dass Werte in engem Zusammenhang mit sozialer Praxis stehen: Sie konstituieren sich erst im kommunikativen Handeln38, das heißt, dass sie aus „geschichtlichen Prozessen einer aktiven Auseinandersetzung der [...] Menschen mit einer komplizierten, wandlungsfähigen Um- und Mitwelt“ resultieren und sich mit anderen „Determinanten des menschlichen Verhaltens“ wie etwa den materiellen Lebensverhältnissen, sozialen Normen, Herrschaftsverhältnissen, Wissen, Ideen und Glaubensvorstellungen in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung befinden39. Im Kontext dieser Determinanten und kognitiven Orientierungssysteme spielt das Geschichtsbewusstsein eine bedeutsame Rolle und ist somit gleichfalls als ein wesentlicher Faktor im Prozess der Wertentstehung und des Wertewandels zu verstehen. Gleichzeitig wirken Werte ihrerseits kulturprägend, indem sie sich in Ideen, Symbolen, Argumentationen und Handlungsweisen, in moralischen und ästhetischen Normen manifestieren40. In Abhängigkeit von divergierenden Sozialgefügen, Erfahrungen und Interessen prägen verschiedene Gesellschaften, Gruppen und Individuen unterschiedliche Wertesysteme aus. Diese dürfen nicht als feste Gegebenheiten aufgefasst werden, sondern vielmehr als „komplexe, auf individuellen empirischen Werterfahrungen beruhende und zugleich stets auf neue kommunikativ erzeugte Wertungsvorgänge, die pragmatisch bekräftigt und stabilisiert, aber auch angefochten und zurückgewiesen werden können“41. In diesem komplexen Prozess der Wertaushandlung werden Faktoren wirksam, die zuvor bereits als konstitutive Elemente des Geschichtsbewusstseins beschrieben worden sind: politisches, ökonomisch-soziales und moralisches Bewusstsein, Deutung und Orientierung. Dass Werte – ebenso wie das Geschichtsbewusstsein – eng mit der Identitätsbildung verbunden sind, zeigen gerade philosophisch orientierte Studien wie die von Hans Joas und Charles Taylor42. Im Kontext der wertekonstituierenden Determinanten, kognitiven 38 Vgl. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Die Historiker und ihre Werte, in: Eule oder Nachtigall. Tendenzen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung, hrsg. von Marie Luisa Allemeyer [u. a.], Göttingen 2007, S. 35–48, hier: S. 45. 39 HILLMANN, Wertwandel (wie Anm. 30), S. 81 und 62. 40 Vgl. KLUCKHOHN, Values (wie Anm. 31), S. 394. 41 Barbara STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, in: Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19.–20. Mai 2005, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger und Thomas Weller, Münster 2007, S. 9–20, hier: S. 17. 42 Vgl. JOAS, Entstehung (wie Anm. 36), TAYLOR, Quellen (wie Anm. 22). Von einer anderen Fragestellung kommend legt Volker Gerhardt die Verbindung zwischen Individuum und Geschichtsverständnis dar. Hier bilden die Werte des Individuums eine Grundlage

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Orientierungssysteme und des kommunikativen Handelns spielt das Geschichtsbewusstsein ebenfalls eine bedeutsame Rolle und ist somit als ein wesentlicher Faktor im Prozess der Wertentstehung und des Wertewandels zu verstehen. Neben diesen mehr oder weniger impliziten Überschneidungen zwischen Wertaushandlungsprozessen und der Entwicklung des Geschichtsbewusstseins lassen sich, über die bisherige Forschung hinausgehend, auch konkrete Vorgänge benennen, in denen der enge Zusammenhang beider für die Ausbildung des Subjekts relevanter Komponenten explizit wird: Das historische Bewusstsein stellt nicht nur Argumentationen bereit, die ein Beharren auf bestehenden Werthaltungen geschichtlich begründen können. Historische Erfahrung, ihre Deutung und Artikulation kann auch Anstöße für Transformationsprozesse liefern, die zur Veränderung des Gehalts bestimmter Werte, zur Veränderung der inneren Ordnung von Wertesystemen oder auch zur Ablösung alter durch neue Werte43 führen. Wertewandel wird auf der Grundlage des Geschichtsbewusstseins be wertet; je nach Präferenz des „Typus historischer Sinnbildung“44 werden herkömmliche Werte eher bejaht oder verneint, wird Wertewandel begrüßt oder abgelehnt. Zudem lassen viele Wertekonflikte sehr deutlich eine historische Dynamik erkennen; manche der sich in diesen Konflikten gegenüberstehenden Werte repräsentieren eher die Vergangenheit, andere eher die Zukunft45. Unabhängig davon, ob sich Wertewandel auf kollektiv-gesellschaftlicher oder auf individueller Ebene, von innen heraus oder durch äußere Setzung46 vollzieht, kann Geschichtsbewusstsein auf allen Ebenen einen entscheidenden Faktor im Wertaushandlungsprozess darstellen. Weitere strukturelle Parallelen zwischen Wertewandel und Geschichtsbewusstsein bestehen in ihrer Verankerung in der individuellen Lebensgeschichte, ihrem Bezug zu der eigenen Geschichte wie ihrer Überwindung: Volker GERHARDT, Nur das Individuum überwindet die Geschichte. Zum Topos der Selbstüberwindung bei Ernst Troeltsch, in: „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Troeltsch-Studien. Neue Folge 1, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 2006, S. 93–115. 43 Hillmann weist darauf hin, dass sich im Prozess des Wertewandels nur sehr selten tatsächlich „neue“ Werte herausbilden; vielmehr betont er die Bedeutung des Rückgriffs auf alte Werte und zeigt somit einen weiteren Bezugspunkt zwischen Wertewandel und Geschichtsbewusstsein auf: „Die (vermeintlich) ‚neuen‘ Werte sind großenteils alte, die aufgrund bestimmter Umstände eine Renaissance erfahren haben. Sie entstammen dem großen Reservoir bereits geschichtlich vorgegebener Werte, unter deren Einfluss die jeweils nachwachsenden Generationen sozialisiert und enkulturiert werden – wobei allerdings die mannigfaltigen Umweltbedingungen nicht konstant bleiben“. HILLMANN, Wertwandel (wie Anm. 30), S. 111. 44 RÜSEN, Lebendige Geschichte (wie Anm. 14), S. 39–56. 45 Vgl. Jean-Claude SCHMITT, Welche Geschichte der Werte?, in: Wertekonflikte (wie Anm. 45), S. 21–35, hier: S. 31. 46 Vgl. Andreas RÖDDER, Werte und Wertewandel: Historisch-politische Perspektiven, in: Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, hrsg. von Andreas Rödder und Wolfgang Elz, Göttingen 2008, S. 9–25, hier: S. 13.

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Emotionen und ihrer narrativen Struktur. Diese Parallelen können für die Untersuchung der Wechselbeziehung fruchtbar gemacht werden. Wie aber lassen sich Werte und Wertesysteme in ihrer Wandelbarkeit analytisch fassen? In den vergangenen Jahrzehnten sind insbesondere in den Sozialwissenschaften und im Bereich der Politologie Konzepte entwickelt worden, die Werte als etwas „Messbares“ behandeln und vor allem das Instrument der systematischen Personenbefragung nutzen47. Vergleichende Aussagen über verschiedene Gruppen (Querschnittanalysen) werden dabei mit Aussagen über Veränderungen in der Zeit (Längsschnittanalysen) in Beziehung gesetzt48. Überlegungen zur historischen Wertforschung stellen dagegen die Beschreibung und Analyse konkreter Praktiken in den Vordergrund, in denen sich Werte konkretisieren und kollektive Bewertungen sichtbar werden49, wobei die Bedeutung von Umbruch- und Konfliktsituationen hervorzuheben ist, da diese häufig mit der Verhandlung von Werten einhergehen und Wertewandel somit in historischer Perspektive greifbar machen50. In Längsschnittstudien können so Verläufe von Wertewandel verfolgt werden. Von Interesse für eine historische Wertewandelforschung sind insbesondere der Zusammenhang und die Wechselwirkung von Vorstellungen und Ideen einerseits und sozialer Praxis andererseits sowie die Bedingungen und Ursachen der Wertewandelsprozesse – Aspekte also, die sich mit der historisch-kritischen Methode der qualifizierenden philologisch-hermeneutischen Textinterpretation durchaus fassen lassen51. Wie die vorangegangenen Ausführungen angedeutet haben, ist sowohl zum „Geschichtsbewusstsein“ als auch zum „Wertewandel“ im nationalen und internationalen Kontext in unterschiedlichen Fachgebieten jeweils umfassend geforscht worden. Ihre Wechselbeziehung in historischer Perspektive stellt sich dagegen als ein Forschungsfeld dar, das zwar in verschiedenen Untersuchungsansätzen impliziert ist, jedoch nur selten in den Mittelpunkt gerückt wurde. Zudem nehmen die bisher vorliegenden Zugänge kaum oder gar nicht aufeinander Bezug. Im Folgenden sollen daher einige dieser für unsere Fragestellung relevanten Ansätze aufgezeigt und daran anknüpfend weiterführende Analyseebenen entwickelt werden.

47 Vgl. Helmut THOME, Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: Die kulturellen Werte Europas, hrsg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt, 2. Aufl. Frankfurt 2005, S. 386–443, hier: S. 386. Siehe dazu vor allem die Arbeiten von Ronald Inglehart, Milton Rokeach und Helmut Klages. 48 Vgl. THOME, Wertewandel (wie Anm. 47), S. 387. 49 Vgl. STOLLBERG-RILINGER, Historiker (wie Anm. 38), S. 44 f. 50 Vgl. Katharina Ulrike MERSCH, Eule oder Nachtigall? Überlegungen zum Wert historischer Wertforschung, in: Eule oder Nachtigall (wie Anm. 38), S. 9–34, hier: S. 34. 51 Vgl. Andreas RÖDDER, Werte und Wertewandel in Moderne und Postmoderne, URL: http://www.uni-mainz.de/FB/Geschichte/hist4/Dateien/AndreasRoedderAntrittsvorlesung. pdf (27.10.2010).

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Forschungsüberblick und Ansatzpunkte für die Erforschung des Wechselverhältnisses von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein Über die Frage von Objektivität und Parteilichkeit, über die Standortgebundenheit und die Forderung nach „Wertfreiheit“ ist in Bezug auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte bereits viel geschrieben und diskutiert worden52. Als heute allgemein konsensfähige Ansicht lässt sich festhalten, dass „der Standort des Wissenschaftlers, von Werten, Traditionen, Sprache und Sozialisation geprägt, ein entscheidendes Moment ist, wenn Aussagen über Geschichte getroffen werden“53. Selbst wenn eindeutige Parteinahme und singuläre Werturteile vermieden werden, weisen historiographische Darstellungen eine Prägung durch einen mehr oder weniger deutlich hervortretenden spezifischen Wertehorizont des jeweiligen Autors oder der betreffenden Autorengruppe auf. Aufgrund der engen und konstitutiven Verwobenheit von innerwissenschaftlichen Diskursen und lebensweltlichen Bezügen gilt daher für die Geschichtsforschung die Freilegung soziokultureller Verflechtungen als ein unumgänglicher Bestandteil historiographiegeschichtlicher Strategien54. In den vergangenen Jahren haben sich in der Historiographiegeschichte Themenbereiche etabliert, die für die Frage nach der Verflechtung von Wertbindung und historischem Denken in besonderer Weise von Interesse sind: Zu nennen sind hier beispielsweise Studien, die – meist in Anknüpfung an Forschungsansätze zur Sozialgeschichte der modernen Intellektuellenwelt – 52 Als Überblick siehe Chris LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln/Weimar/Wien 1997, hier insbesondere Kapitel XIV.: Objektivität, Subjektivität und die Rolle von Werten, S. 367–436; Hans-Jürgen GOERTZ, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Hamburg 1995, vor allem Kapitel 10: Objektivität und Parteilichkeit, S. 130–146. Zur Diskussion seit den 1970er Jahren siehe etwa Wolfgang J. MOMMSEN, Gesellschaftliche Bedingtheit und gesellschaftliche Relevanz historischer Aussagen, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, hrsg. von Eberhard Jäckel und Ernst Weymar, Stuttgart 1975, S. 208–224; Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Reinhart Koselleck [u. a.], München 1977; Thomas NIPPERDEY, Kann Geschichte objektiv sein?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), S. 329–342; Peter NOVICK, That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession, Cambridge 1988; Historians and Social Values, hrsg. von Joep Leersen und Ann Rigney, Amsterdam 2000; Thomas L. HASKELL, Objectivity: Perspective as Problem and Solution, in: History and Theory 43 (2004), S. 341–359. 53 GOERTZ, Umgang mit Geschichte (wie Anm. 52), S. 139. 54 Vgl. Rüdiger VOM BRUCH, Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, hrsg. von Wolfgang Küttler [u. a.], Frankfurt/M. 1993, S. 257–270, hier: S. 257. Vom Bruch nennt verschiedene Arbeiten aus dem deutschsprachigen Forschungskontext als Beispiele für Ansätze, die „im Sinne perspektivisch erweiterter Interdependenzen zwischen fachwissenschaftlichen Strategien und lebensweltlichen Bezügen [...] fachwissenschaftliche Argumentationsmuster und Beharrungskräfte in bestimmten prägenden Konstellationen ausleuchten“ (S. 257 f.).

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wissenschaftssoziologische Fragen in den Vordergrund stellen und untersuchen, inwiefern geschichtswissenschaftliche Arbeit durch soziale Faktoren, etwa durch den Einfluss kollektiver Arbeitszusammenhänge, institutioneller Vorgaben und habitueller Verhaltensstrategien, auf die Konstruktion geschichtswissenschaftlicher Konzeptionen, Methoden und Inhalte bestimmt ist55. Lutz Raphael etwa fasst in seiner Arbeit zur Annales-Geschichtsschreibung nach dem Vorbild der neueren konstruktivistischen Wissenschaftsforschung die „Sozialwelt der Fachhistoriker“ und die „Rhetorik der Geschichte“ als komplementäre Forschungsgebiete auf. Seiner Beschreibung der Beziehungsnetze und Sozialfelder, in denen sich die Forschungsarbeit von Annales-Historikern vollzog, liegt unter anderem die Überzeugung zugrunde, dass große Ideen aus lokalen Kontexten, aus situativen Arrangements und handfesten sozialen Motiven entstehen56. In der Studie von Thomas Etzemüller zu Werner Conze und der Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 steht zwar die Bedeutung von wissenschaftsstrategischem Handeln und von Denkstilen für die Genese geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis im Vordergrund, jedoch sieht Etzemüller Denkstile wie Handlungen im gesellschaftlichen Umfeld verwurzelt und plädiert für die Berücksichtigung der Elemente Gesellschaft, Geschichtswissenschaft und Historiker, Disposition, Biographie und Handeln57. Ebenso relevant sind Arbeiten, die die Debatten- und Kontroversgeschichte des Fachs Geschichtswissenschaft nachzeichnen, insbesondere, wenn sie nicht nur die innerfachliche Bedeutung des wissenschaftlichen Streits beleuchten, sondern das gesamte Bedingungsgefüge – etwa auch das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, die außerfachliche Rezeption und den geschichtspolitischen Kontext von Fachkontroversen – in den Blick nehmen58. In diesem Zusammenhang sind gleichfalls Untersuchungen zu erwähnen, die sich mit der „Revision“ von Geschichte beschäftigen und zur Ermittlung ihrer Ursachen und Charakteristika unter anderem die Verflechtungen von sozialer Herkunft des Autors, professioneller bzw. disziplingebundener Umgebung und Textkonstruktion analysieren59. Darüber hinaus 55

Vgl. Jan ECKEL/Thomas ETZEMÜLLER, Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung. Einleitende Bemerkungen, in: Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Jan Eckel und Thomas Etzemüller, Göttingen 2007, S. 7–26, hier: S. 15. 56 Vgl. Lutz RAPHAEL, Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994, S. 21. 57 Vgl. Thomas ETZEMÜLLER, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 7 f. 58 Vgl. ECKEL/ETZEMÜLLER, Vom Schreiben der Geschichte (wie Anm. 55), S. 17 f., sowie die dort angeführten Beispiele. 59 Siehe dazu das Themenheft „Revision in History“, History and Theory 46 (2007), insbesondere den einführenden Beitrag von Gabrielle M. SPIEGEL, Revising the Past / Revisiting the Present: How Change Happens in Historiography, S. 1–19.

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lassen sich Forschungen anführen, die Geschichtsschreibung als integralen Teil der Erinnerungskultur einer Gesellschaft verstehen und entweder nach der Bedeutung der Geschichtsschreibung im Prozess der Ausbildung eines kollektiven sozialen Gedächtnisses fragen oder aber Geschichtsschreibung als ein Produkt von Erinnerung verstehen und untersuchen60. Als Beispiel sei hier die Arbeit von Nicolas Berg genannt, die sich mit dem Einfluss der Erinnerung auf die Forschungen zum Holocaust seit 1945 beschäftigt61. Berg thematisiert insbesondere die Erinnerungskonflikte zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Wissenschaftlern und untersucht, wie sich diese Konflikte auf die Holocaustforschung, auf ihre Diskurse und Kontroversen, auswirkten. Damit wird der engen Verwobenheit von historischer Praxis und lebensweltlichen Faktoren große Aufmerksamkeit gewidmet. Für die Analyse der Wechselbeziehung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein bieten die genannten Ansätze zur Untersuchung der Verflechtung von lebensweltlichen Faktoren und historiographischen Entwicklungen wichtige Anknüpfungspunkte. Ergänzt werden müssen sie jedoch durch eine weitere Analyseebene, die nach dem Zusammenwirken der hier genannten und weitgehend getrennt voneinander behandelten Einflussfaktoren wie dem biographischen Hintergrund, dem sozialen und politischen Kontext, den Abhängigkeiten und Gebundenheiten der Historiker fragt und analysiert, wie sich aus diesen Faktoren hervorgegangene spezifische Werthaltungen im Geschichtsdenken äußern. Der Fokus liegt also nicht auf einer überwiegend ideen-, institutions-, erfahrungs- oder sozialgeschichtlichen Perspektive, sondern vielmehr auf der Verschränkung bislang häufig separat betrachteter historischer Entwicklungsprozesse. Indem die Analyse von historiographischen Texten und des in ihnen ausgedrückten Geschichtsverständnisses mit der Untersuchung der Wertehorizonte der jeweiligen Autoren einhergeht, eröffnet sich eine erweiterte Perspektive auf die soziokulturellen Verflechtungen und individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein. Sie bietet die Möglichkeit, Beharrung, Kontinuität oder Dynamik im Geschichtsdenken einzelner Autoren oder bestimmter Gruppen in Beziehung zur Entwicklung ihres Wertehorizonts zu setzen und so die Wechselwirkungen komplexer lebensweltlicher Transformationsprozesse und Veränderungen im historischen Denken zu untersuchen. Mit einem solchen Ansatz lassen sich in einem erweiterten geographischen Rahmen über transnational oder vergleichend angelegte Zugänge auch Entwicklungen im europäischen Geschichtsbewusstsein näher analysieren, die sich grenzüberschreitend – sei es in chronologischer Parallelität oder zeitlich versetzt – vollzogen. Hier gilt es unter anderem zu prüfen, 60

Vgl. ECKEL/ETZEMÜLLER, Vom Schreiben der Geschichte (wie Anm. 55), S. 17. Nicolas BERG, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.

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inwieweit gleiche oder ähnliche Faktoren Einfluss auf die jeweiligen Wertesysteme in Europa nahmen und dadurch auf das Geschichtsdenken in unterschiedlichen nationalen Kontexten wirkten. Lässt sich bereits mit Blick auf die wissenschaftliche Geschichtsschreibung allgemein eine Prägung durch den Wertehorizont der jeweiligen Autoren feststellen, so trifft dies umso eindeutiger auf Geschichtsdarstellungen und historische Reflexionen zu, die in außerfachlichen Kontexten entstanden sind. Hier ist die Perspektivität der Texte, die Subjektivität ihrer Aussagen meist ebenso klar zu erkennen wie die Standortgebundenheit des Autors. Mithin lassen sich die für die Untersuchung der Wechselwirkung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung als relevant benannten Fragestellungen ebenso auf Autoren und Texte außerhalb der fachlichen Kreise bzw. auf Texte an der Schnittstelle von wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Zuordnung anwenden. So sind auch schriftliche Manifestationen eines bestimmten Geschichtsverständnisses, spezifischer Geschichtsinterpretationen und -konstruktionen außerhalb der im engen Sinn geschichtswissenschaftlichen Werke auf die sie prägenden Einflüsse soziokultureller Faktoren und lebensweltlicher Entwicklungen hin zu befragen, und es ist zu untersuchen, inwieweit diese Texte spezifische Wertsetzungen oder Wertehorizonte vermitteln oder in Frage stellen. Wichtige Bezugspunkte zu dieser Fragestellung bieten Untersuchungen zu Entstehungsprozessen, Intentionen und Funktionen von Erinnerungskultur und Geschichtsdiskursen, die sich beispielsweise auf städtische62 oder auf nationalpolitische Kontexte63 beziehen. Des Weiteren sind in diesem Zu62

Zu nennen ist hier ist vor allem die Arbeit von Susanne RAU, Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln, Hamburg/München 2002. Rau zieht in einem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz zeitgenössische Deutungssysteme heran, um das geschichtliche Denken und den Umgang mit Geschichte in der Frühen Neuzeit in ausgewählten Städten zu untersuchen. 63 Vgl. beispielsweise den Sammelband Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa, hrsg. von Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer (Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 29), Berlin 2002: Hier finden sich Beiträge, die ausgehend von der Historiographie oder von gruppenspezifischen Erinnerungskulturen u. a. danach fragen, wie in von einer ausgeprägten ständischen Partizipation und einer einflussreichen Adelsschicht gekennzeichneten Gesellschaften Vergangenheit konstruiert wurde, welche Funktionen das Geschichtsdenken im Prozess der frühmodernen Staatsbildung erfüllte und welche politischen Praktiken und Ordnungsvorstellungen durch Traditionsbildung legitimiert wurden (vgl. ebd., S. 13). Die Studie von Hans-Jürgen BÖMELBURG, Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700), Wiesbaden 2006, konzentriert sich auf die Geschichtskonstruktion in Polen-Litauen und analysiert neben Medien und Kommunikationswegen auch die gesellschaftliche, konfessionelle und politische Reichweite des Geschichtsdenkens mit dem Ziel, „die frühneuzeitlichen Wechselwirkungen zwischen den Diskussionen um Teilhaberechte an politischer Herrschaft und nationalgeschichtlichen

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sammenhang Arbeiten interessant, die der Frage nach der Identitätskonstruktion in der Geschichtsschreibung religiöser Gruppen nachgehen, wobei der Begriff der „Geschichtsschreibung“ vielfach weit verstanden wird und die Analyse wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Diskurse in ihrem Zusammenwirken betrachtet64. Unter den vor allem in den Sozialwissenschaften entwickelten Hypothesen und Aussagen zum Wertewandel sind zwei Hauptaspekte erkennbar: Zum einen gilt die Aufmerksamkeit der sich im Laufe der Zeit verändernden Relevanz von Werten und ihrer unterschiedlichen Ausbreitung innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen, zum anderen steht der Vorgang der Neukonfiguration einzelner Werte im Mittelpunkt der Theorien und Konzeptionen65. Beide Zugänge können Ansatzpunkte für historische Untersuchungen der Wechselwirkung von Geschichtsbewusstsein und Wertewandel bieten, da historisches Denken, historische Argumentationen und die Selbstverortung der jeweiligen Individuen und Gruppen in der Zeit für beide Entwicklungsperspektiven bedeutsam sind. Dem Mittelalterhistoriker Jean-Claude Schmitt zufolge stellt die Wertegeschichte „eine neue Form von Geschichtsschreibung“66 dar, die vor allem in Bezug auf folgende Fragen ihre Berechtigung in einer Neuordnung der Geschichtswissenschaften finde: Warum ändern sich Werte? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle? Welche Spannungen oder Wertkonflikte ergeben sich, um welche Wertesysteme aufzulösen und neu zu formieren?67 Nun sind diese Fragestellungen auch in der Geschichtswissenschaft nicht völlig neu. Insbesondere die historische Bürgertumsforschung hat Aspekte dieses Fragenkomplexes in der Vergangenheit aufgegriffen; ebenso liegen mit Blick auf die ständische Gesellschaft im frühneuzeitlichen Europa Ansätze zur

Konstruktionen zu präzisieren und Verbreitungswege solcher Konstruktionen in den zeitgenössischen Eliten nachzuzeichnen“ (ebd., S. 24). 64 Vgl. Matthias POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617, Tübingen 2007. Die von Pohlig aufgestellte Hypothese geht davon aus, dass sich die Identität der sich im Prozess der Konfessionalisierung herausbildenden konfessionellen Großgruppen über Selbstund Fremdbeschreibungen konstituierte, die sich außer im genuin theologischen Denken z. B. auch im historiographischen Denken äußerten. Um Geschichtsschreibung auch als identitätsstiftende Selbstbeschreibung lesen zu können, erachtet Pohlig eine umfassende Kontextualisierung als erforderlich. Er plädiert dafür, Historiographiegeschichte weniger als Institutionen- oder Methodengeschichte denn als gesellschaftlich wenigstens ansatzweise kontextualisierte „Problemgeschichte“ zu konzipieren, „die Geschichtsschreibung unter anderem als Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart begreift“ (ebd., S. 3 f., S. 18 f., Zitat S. 19). Vgl. auch die Beiträge in: Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung, hrsg. von Kerstin Armborst-Weihs und Judith Becker, Göttingen 2010. 65 Vgl. THOME, Wertewandel (wie Anm. 47), S. 429 f. 66 SCHMITT, Welche Geschichte der Werte? (wie Anm. 45), S. 21. 67 Vgl. SCHMITT, Welche Geschichte der Werte? (wie Anm. 45), S. 31.

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schichtenspezifischen historischen Werteforschung vor68. Diese Arbeiten können für Untersuchungen zum Wechselverhältnis von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein eine Grundlage darstellen, von der aus nach der Rolle des Geschichtsbewusstseins im jeweiligen Wertaushandlungsprozess und der sich wechselseitig beeinflussenden Modifikationen von Wertesystemen und Geschichtsbewusstsein gefragt werden kann. Ebenso sind Studien aus dem Bereich der Mentalitätsgeschichte, die spezifische Aspekte der Wertegeschichte behandeln, auf ihre Relevanz hin zu prüfen, obgleich „Mentalitäten“ im Vergleich zu Werten als allgemeiner und unpräziser angesehen werden müssen und viele der mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten den Zusammenhang zur Wertegeschichte nicht explizit machen69. Dennoch können Arbeiten zu kollektiven Weltbildern und alltagsweltlich verankerten, das Handeln der Menschen bestimmenden Orientierungsmustern Anstöße für eingehende Untersuchungen der hinter diesen Denk- und Handlungsstrukturen stehenden Wertesystemen und der Rolle des Geschichtsbewusstseins in ihrem Entstehungs- und Wandlungsprozess geben. Ebenso bieten diejenigen Arbeiten Anschlussmöglichkeiten, die die Einflüsse einschneidender Ereignisse und Umbrüche auf das historische Denken einer Epoche untersuchen70. Denn diese Analysen regen dazu an, nach dem Zusammenwirken der den Wertaushandlungsprozess beeinflussenden Dynamiken sowie nach den konkreten Einwirkungen auf Verläufe der Modifikation von Geschichtsbewusstsein zu fragen und diese Entwicklungen zu vergleichen. Auch die Frage nach der Rolle des sich verändernden Geschichtsden68 Hier sollen nur einige Beispiele angeführt werden: Paul MÜNCH, Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, hrsg. von Winfried Schulze, München 1988, S. 53–72, mit weiteren Hinweisen auf verschiedene schichtenspezifische Studien. Der von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann herausgegebene Band „Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts“ (Göttingen 2000) untersucht insbesondere die verschiedenen Formen der individuellen Aneignung von Werten, wobei vor allem die sozialen Praktiken und Räume, in denen sich Werte historisch konkretisieren, im Mittelpunkt stehen. Der Sammelband „Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption“ (hrsg. von Hans-Werner Hahn und Dieter Hein, Köln 2005) analysiert spezifische Beispiele von Wertevermittlung, Werteproduzenten und Werterezipienten, setzt sich aber auch eingehender mit ausgewählten Werten wie Bildung, Arbeit, Ehe und Familie sowie Selbständigkeit und Partizipation auseinander. Die International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“, die bis 2008 am MaxPlanck-Institut für Geschichte in Göttingen arbeitete, widmete sich den von Jean-Claude Schmitt benannten Fragen nach der Produktion, Bedeutung und Transformation von Werten dagegen aus der Sicht der Historischen Kulturwissenschaften. Vgl. das Forschungsprogramm der Research School, URL: http://www.imprs-hist.mpg.de/index.html (27.10.2010). 69 Dazu die Beispiele bei SCHMITT, Welche Geschichte der Werte? (wie Anm. 45), S. 28. 70 Vgl. etwa die Studie von Peter FRITZSCHE, Stranded in the Present: Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge/London 2004, die mit einem sehr weitgespannten Ansatz untersucht, wie die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege das historische Bewusstsein der Westeuropäer und Nordamerikaner im 19. Jahrhundert veränderten.

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kens im Prozess der Wertaushandlung weist somit über nationale Kontexte hinaus. Ihre Betrachtung in europäischer Perspektive eröffnet einen neuen Blick auf sich grenzübergreifend vollziehende Transformationsprozesse. Unter ideengeschichtlichem Aspekt hat stets die Frage nach der Entstehung und Entwicklung einzelner Werte und Werthaltungen im Vordergrund gestanden71. In Verbindung mit der Analyse von Identitätskonzeptionen werden häufig das Geschichtsbewusstsein – wenn auch nicht so benannt – und die narrative Struktur von Identität hervorgehoben72. Insbesondere über die Narrativität ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte für die Untersuchung der Interdependenz von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein. Eine andere Perspektive spricht die Frage nach Vorgängen symbolischer Kommunikation im Mittelalter und der Frühen Neuzeit und den ihnen zugrunde liegenden Wertesystemen an73. Von Relevanz kann dieser Zugang für unsere Fragestellung vor allem insofern sein, als er nach der Wechselwirkung zwischen Wertesystemen und Formen symbolischer Kommunikation fragt und diese anhand verschiedener Kommunikationsformen sowie unter Einbeziehung sowohl streng systematischer Wertordnungen als auch eher lockerer Wertkomplexe und narrativ-evaluativer Beschreibungen positiver oder negativer Verfassungen der Menschen, der sozialen Welt und der Natur untersucht74. Denn zum einen erschließen diese Analysen für die historische Wertforschung neue Untersuchungsgegenstände, und zum anderen rücken „kommunikative Akte der Wertzuschreibung, der Symbolisierung von Werten und der Kristallisation von Konflikten um konkurrierende Werte“75 in den Vordergrund, die auch bei der Betrachtung der wechselseitigen Beeinflussung von Werthaltungen und Geschichtsbewusstsein eine bedeutsame Rolle spielen müssen. Im Anschluss an die historische Bürgertumsforschung sowie die sozialwissenschaftliche Wertewandelforschung ist in der Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit ein Zugang zur Untersuchung von Werten und Wertewandel in Moderne und Postmoderne entwickelt worden, der Wertewandel in historisch-diachroner Perspektive insbesondere mit Blick auf die Entwicklung, die 71

Vgl. z. B. die Beiträge in JOAS/WIEGAND, Die kulturellen Werte (wie Anm. 47); SCHMITT, Welche Geschichte der Werte? (wie Anm. 45). 72 Vgl. etwa TAYLOR, Quellen (wie Anm. 22) oder Paul RICOEUR, Narrative Identität (1987), in: DERS., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hrsg. von Peter Welsen, Hamburg 2005, S. 209–226. 73 Diese Fragestellung wird von dem im Jahr 2000 an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster eingerichteten SFB 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ bearbeitet. Zum Forschungsprogramm des SFB siehe Gerd ALTHOFF/Ludwig SIEP, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 393–412. 74 Vgl. ALTHOFF/SIEP, Symbolische Kommunikation (wie Anm. 73), S. 393–396. 75 STOLLBERG-RILINGER, Historiker (wie Anm. 38), S. 45.

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Erosion oder den Gestaltwandel „bürgerlicher Werte“ im 20. Jahrhundert betrachtet76. Dazu werden Fragen und Ansätze der sozialwissenschaftlichen Forschung methodisch, thematisch und zeitlich erweitert, um die soziologischen Ergebnisse zum Wertewandel im 20. Jahrhundert in Bezug zur Untersuchung von Wertewandelsprozessen im 19. Jahrhundert zu setzen77. Der für diesen Untersuchungsansatz gewählte Zugang basiert auf dem Werteverständnis von Hans Joas, nach dem Werte, Praktiken und Institutionen ein wechselseitiges dynamisches Wirkungsgefüge darstellen78, und zielt darauf, das Verhältnis dieser drei Faktoren zueinander empirisch zu untersuchen und anhand von Fallbeispielen die wirkenden Kausalitäten zu ermitteln79. Die Ausleuchtung eben dieses dreiseitigen Wirkungsgefüges mit seinen Mechanismen, Antriebskräften und retardierend wirkenden Faktoren spielt im Kontext der Analyse des Wechselverhältnisses von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein gleichfalls eine bedeutende Rolle. Bereits diese knappen Betrachtungen zu Ansätzen der Wertewandelforschung lassen zahlreiche Aspekte erkennen, die von Untersuchungen zur Rolle des Geschichtsbewusstseins in Wertaushandlungsprozessen aufgegriffen und weitergeführt werden können. Aufgrund der strukturellen Parallelen in den Vorgängen der Wertbildung und der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein sowie ihrer engen Verwobenheit und gegenseitigen Beeinflussung können bestehende Ansätze der Wertewandelforschung vielfältige Ausgangspunkte für Fokussierungen auf das historische Bewusstsein bieten. Zugänge und Methoden zur Untersuchung der Wechselwirkung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein In diesem Abschnitt sollen Zugänge erkundet werden, die Elemente aus bereits erprobten Ansätzen beider bislang meist getrennt behandelter Blickrichtungen – zur Untersuchung von Wertewandel sowie zur Erforschung des Geschichtsbewusstseins – zusammenbringen und geeignet erscheinen, das hier im Zentrum stehende Wechselverhältnis umfassender zu beleuchten.

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Zu diesem von Andreas Rödder an der Universität Mainz geleiteten Projekt siehe URL: http://www.uni-mainz.de/FB/Geschichte/hist4/244.php (27.10.2010). Vgl. RÖDDER, Werte und Wertewandel in Moderne und Postmoderne (wie Anm. 51). 78 Vgl. Hans JOAS, Gewalt und Menschenwürde. Wie aus Erfahrungen Rechte werden. Konstanzer Kulturwissenschaftliches Kolloquium, Diskussionsbeiträge N.F. 5 (Januar 2009), S. 10, URL: http://www.exc16.de/cms/uploads/media/Kolloquium-Joas-Diskussions beitraege-NF-5.pdf (27.10.2010). 79 Vgl. Jörg NEUHEISER/Christopher NEUMAIER/Andreas RÖDDER, Wertewandel in historisch-diachroner Perspektive. Ein Forschungsprojekt zu Werten im Bereich der Familie und der Arbeitswelt. Vortrag im Kolloquium zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Abteilung Geschichte, Universität Bielfeld, 23. Januar 2009, URL: http://www.uni-mainz. de/FB/Geschichte/hist4/Dateien/wertewandel-projekt-outline.pdf (27.10.2010), S. 6 f. 77

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Obwohl konkrete methodische Herangehensweisen jeweils unter Berücksichtigung der einzelnen Leitfragen, der Quellen und deren zeitlicher wie thematischer Kontextualisierungen für die spezifischen Themenstellungen individuell entwickelt werden müssen, sollen hier einige übergreifend bedeutsame Kriterien benannt werden, die als Analyseparameter in unterschiedlichen thematischen Kontexten Anwendung finden und so zu einer qualifizierten Einordnung und Beurteilung der Ergebnisse beitragen können. Die Untersuchungsschritte im Einzelnen mögen im textinterpretatorischen Zusammenhang selbstverständlich erscheinen; über ihre Kombination und dichte Vernetzung, die Berücksichtigung von wechselseitigen Entwicklungen und die Anknüpfung an Methoden der Wertewandelforschung wie der historiographiegeschichtlichen Untersuchung kommt ihnen im Kontext unserer Fragestellung jedoch eine besondere Relevanz zu. Der im Folgenden skizzierte Zugang geht zunächst von Quellen aus, die in erster Linie als Ausdrucksformen von Geschichtsbewusstsein von besonderer Bedeutung sind – seien es im wissenschaftlichen Kontext entstandene historiographische Texte und Geschichtskonzeptionen oder Chroniken, Geschichtsdeutungen und andere Quellen aus einem außerwissenschaftlichen Zusammenhang. Entsprechend der zentralen Position des Subjekts im Wechselverhältnis zwischen der Entwicklung des historischen Denkens und Wertaushandlungsprozessen stellen Verfasser und Rezipienten der Texte, in denen sich ein spezifisches Geschichtsverständnis ausdrückt und über die Geschichtskonzeptionen vermittelt werden, den zentralen Faktor in den Untersuchungen zur Wechselwirkung von Wertewandel und schriftlich manifestiertem Geschichtsbewusstsein dar. Um bedeutsame Prägungen zu ermitteln, auf deren Grundlage sich die Bildung von Wertehorizonten der Verfasser vollzog, sind sowohl die biographischen Hintergründe der Einzelautoren oder Autorengruppen zu untersuchen als auch die sozialen und intellektuellen Kontexte, die Einbindung in kulturelle, religiöse, ethnische, politische und wissenschaftliche Zusammenhänge. Über die Frage nach den Motivationen für die Beschäftigung mit der Vergangenheit und nach den Zielsetzungen der geschichtlichen Darlegungen und Reflexionen lassen sich Rückschlüsse auf spezifische Werthaltungen ziehen, die das historische Verständnis prägten. Gleichzeitig können diese Komponenten Aufschluss über die Funktion der Geschichtsdeutungen im Prozess der Wertaushandlung geben. Ebenso aussagekräftig ist eine Untersuchung der jeweiligen Ausdrucksund Vermittlungsformen. Hier gilt es, die gewählten Textsorten kritisch zu betrachten und insbesondere die Präsentation der Texte zu analysieren. Eng mit diesem Faktor verbunden ist die Frage des Adressatenbezugs. Hinzu kommen textimmanente Aspekte: Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang eine nähere Beleuchtung der Wahl der Themen und ihre Kontextualisierung. Zu untersuchen sind die jeweiligen Zugänge und Argu-

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mentationen, Fragestellungen und Gewichtungen, aber auch sprachliche Aspekte wie die Verwendung von Schlüsselbegriffen. Anhand dieser Kriterien lassen sich Werthaltungen und Orientierungsstandards herausarbeiten, die in der Gesamtperspektive Auskunft über zugrunde liegende Wertehorizonte, aber auch über das den Werteordnungen immanente Geschichtsbewusstsein geben. Die hier aufgezeigten Ansatzpunkte beziehen sich auf die Urheber der untersuchten Geschichtskonstruktionen und -reflexionen sowie auf die Textentstehung, oder sie betreffen die Texte selbst. Auf dieser Grundlage ermittelte Befunde bedürfen darüber hinaus der Rückbindung an die lebensweltlichen und gesamtgeschichtlichen Entwicklungen, um die konstitutiven Verflechtungen offenzulegen. Zu fragen ist vor allem, in welchen kulturellen Kontexten diese Arbeiten stehen. Dabei interessiert etwa, ob die untersuchten Geschichtskonzeptionen verbreitete Wertmuster aufgreifen und bekräftigen oder ob die historischen Reflexionen neue Wertsetzungen vermitteln beziehungsweise zu ihrer Begründung herangezogen werden. Es stellt sich zudem die Frage, welche Rolle traditionelle Wertehorizonte und neue Wertsetzungen für das Geschichtsdenken spielen: Reagieren Geschichtsreflexionen und -konzeptionen auf neue Wertsetzungen, indem sie ihre Relevanz entweder widerlegen oder legitimieren? Einer solchen Analyse mehrschichtiger kontextgebundener Verflechtungen geht es nicht um eine Rückführung von intellektuellen Produkten auf ihre Produktionskontexte im Sinn einer vollständigen Erklärung80. Vielmehr kann von einer derartigen komplexen Kontextualisierung erwartet werden, dass sie Aufschluss darüber gibt, auf welche innergesellschaftlich bzw. gegebenenfalls auch innerwissenschaftlich verbreiteten oder ansonsten gruppenspezifisch ausgeprägten Wertmuster sich bestimmte Werthaltungen zurückführen lassen, wie sie verarbeitet und vermittelt werden, wie Wertewandel das historische Denken prägte oder auch durch ein spezifisches Geschichtsverständnis beeinflusst wurde. Viele der hier für Ausdrucksformen des Geschichtsbewusstseins aufgezeigten Analyseparameter lassen sich ebenso auf den sozusagen spiegelbildlichen Zugang übertragen, der von Quellen ausgeht, die sich explizit zu bestimmten Werthaltungen äußern, sich mit Phänomenen des Wertewandels auseinandersetzen und so im Wertaushandlungsprozess offensichtlich Stellung beziehen. Hier wäre insbesondere zu analysieren, inwiefern das historische Verständnis Einstellungen und Argumentationen der Autoren leitet und prägt, welche Faktoren dieses Wirkungsgefüge beeinflussen und in welchem breiteren

80 Vgl. POHLIG, Gelehrsamkeit (wie Anm. 64), S. 19, und ausführlich zu diesem Problem John Patrick DIGGINS, The Oyster and the Pearl: The Problem of Contextualism in Intellectual History, in: History and Theory 23 (1984), S. 151–169.

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gruppenspezifischen, gesamtgesellschaftlichen und ereignisgeschichtlichen Kontext sich diese Prozesse vollziehen. Wie die sozialwissenschaftliche Wertewandelforschung muss auch die historisch ausgerichtete Untersuchung der Tatsache Rechnung tragen, dass Wertewandel sich nicht als linear verlaufender Prozess darstellt: Vielmehr vollziehen sich diese Entwicklungen häufig schubartig oder auch widersprüchlich. In Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Methode sind daher auch in der historischen Wertewandelforschung Längsschnitt- und Querschnittanalysen zu kombinieren. Voraussetzung dafür ist ein mehrere Jahrzehnte umfassender Untersuchungszeitraum, der es ermöglicht, identische Fragen für verschiedene Zeitpunkte zu stellen, um auf diese Weise die eigene Dynamik des Prozesses zu erfassen. Indem darüber hinaus im Wertaushandlungsprozess bzw. für das historische Denken entscheidende Momente herausgegriffen und sozusagen als Querschnitt in ihrer gesamten kontextuellen Breite untersucht werden, lässt sich die innere Dynamik genauer erfassen81. Hinsichtlich einer Anbindung an historiographiegeschichtliche Methoden erscheint ein Rückgriff auf Komponenten sinnvoll, die – wie in Abschnitt II gezeigt – in unterschiedlichen Ansätzen und Forschungskontexten bereits Anwendung gefunden haben. Somit ist eine eindeutige Zuordnung zu den von Horst Walter Blanke unterschiedenen zehn Typen der Historiographiegeschichtsschreibung82 nicht möglich; vielmehr greifen Aspekte dieser verschiedenen Typen in differierenden Konstellationen ineinander. Ebenso weisen die hier behandelte Fragestellung und die erörterten Untersuchungsansätze Berührungspunkte zu verschiedenen theoretischen Konzepten auf, die in den historisch arbeitenden Disziplinen in unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung kommen. Daher soll mit einem kurzen Blick auf einige dieser Methoden und Konzepte zu ihrer möglichen Anschlussfähigkeit für die Untersuchung des Wechselverhältnisses von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein Stellung bezogen werden. Aussagen über ihre tatsächliche Relevanz lassen sich jedoch nur jeweils für einen konkreten Untersuchungsgegenstand treffen. Methodische Anregungen kann einerseits die historische Diskursanalyse bereitstellen: Der von Michael Maset aufgezeigte Ansatz einer Diskursanalyse nach Michel Foucault in der Historiographiegeschichte verdient sicherlich eine genauere Betrachtung; allerdings sieht Maset ihn insbesondere als relevant für die „Untersuchung wissenschaftliche[r] Ideen im Zusammenhang 81

Zur sozialwissenschaftlichen Querschnitt- und Längsschnittanalyse vgl. Heiner MEULEMANN, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wiedervereinten Nation, Weinheim/München 1996, S. 36 f. 82 Vgl. Horst Walter BLANKE, Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung. Eine Bilanz und ein Forschungsprogramm, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 1 (wie Anm. 54), S. 191–211.

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mit gesellschaftlichen Praktiken und Machtmechanismen“83 an. Inwiefern dieser Ansatz auch für die Analyse wechselseitiger Beeinflussung von Wertaushandlungsprozessen und Geschichtsverständnis in außerwissenschaftlichen Zusammenhängen trägt, bleibt ebenso zu prüfen wie die Frage, ob nicht Foucaults Konzept auch hinsichtlich der Auffassung des Subjekts für eine historische Wertewandelforschung problematisch ist: Während diese sich für die Werthaltungen des Autors und deren Entstehung interessiert, geht es Foucault stärker darum, von wo aus gesprochen wird, um „die Menge der gesagten Dinge, die Relationen, die Regelmäßigkeiten und Transformationen, die darin beobachtet werden können“84. Obwohl sich verschiedene Elemente der historischen Diskursanalyse mit hier vorgestellten Untersuchungsschritten überschneiden und in ihrer Kombination auf das hier zugrunde gelegte Erkenntnisinteresse weisen, scheinen andere Komponenten die Analyse im Blick auf das Wechselverhältnis von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein eher einzuschränken als neue Perspektiven aufzuzeigen. Ähnliches gilt für den Habitus-Begriff Pierre Bourdieus: Mit seiner Hilfe lassen sich Beziehungen zwischen Handlungen und Strukturen sowie habituelle Prägungen der Akteure untersuchen. Insofern kann das Habituskonzept für das hier thematisierte Wechselverhältnis durchaus anregend sein. Als problematisch für diese Fragestellung erscheint dagegen die strukturdominante Anlage dieser Konzeption: „Wandel wird bei Bourdieu durch Veränderungen auf der objektiv-strukturellen Ebene angestoßen, die von den Akteuren ursprünglich reaktiv verarbeitet werden. Ein Wandel der Gesellschaft durch Veränderungen der Habitusformen aus sich selbst heraus scheint nicht möglich“85. Mit einem derartigen Verständnis von „Habitus“ könnte die Untersuchung von Wertewandelsprozessen somit schnell an ihre Grenzen gelangen. Dennoch erscheint es denkbar, den Habitus-Begriff sowie das Konzept des „Kapitals“ für Teilbereiche der Analyse des Wechselverhältnisses „Wertewandel und Geschichtsbewusstsein“ so weiterzuentwickeln, dass er mit Blick auf den Entstehungsprozess gesellschaftlicher Wertehorizonte weiterführend angewendet werden kann. Im Anschluss an die eingangs dargelegten Betrachtungen zu den zentralen Begrifflichkeiten setzen die hier vorgestellten Überlegungen ein weites Verständnis von Geschichtsbewusstsein voraus, das – ohne zu der umfangreichen Diskussion über das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis näher Stel83

Michael MASET, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt/New York 2002, S. 154. Michel FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 8. Aufl. Frankfurt 2008, S. 178. Vgl. dazu auch Achim LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, Frankfurt [u. a.] 2008, S. 70. 85 Sven REICHARDT, Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, hrsg. von Thomas Mergel und Thomas Welskopp, München 1997, S. 71–93, hier S. 87. 84

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lung zu beziehen86 – nicht von der Unvereinbarkeit87, sondern vielmehr von der engen Verflochtenheit und vielfältigen Durchdringung von Geschichte und Gedächtnis88 ausgeht. Eine weit gefasste Definition ermöglicht es nicht nur, unterschiedliche Themenstellungen und verschiedene Ausdrucksformen von Geschichtsbewusstsein mit den hier diskutierten Ansätzen zu erfassen. Die Betonung der Verflochtenheit von Geschichte und Gedächtnis weist vielmehr bereits auf konstitutive Faktoren im Wechselverhältnis „Wertewandel – Geschichtsbewusstsein“ hin: „Bei genauerer Betrachtung ist [...] auch historische Praxis keineswegs frei von den emotionalen und imaginativen, den assoziativen und interaktionistischen Wirkungsbedingungen des Gedächtnisses. Sei es, daß sie tief in die mehr oder weniger bewußten Motivationen der Historiker eingeschrieben sind, oder daß sie in den institutionellen Rahmenbedingungen und in den intellektuellen Arbeitsbedingungen […] wirksam sind“89. Sowohl hinsichtlich der Vorstellungswelten als auch der Rhetorik von Historikern sind Entlehnungen aus den narrativen Stilen und konzeptionellen Paradigmen des Gedächtnisses offensichtlich; andererseits dienen die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft auch der Generierung und Bestätigung von Tradition und somit häufig der Schaffung und Abstützung von Werthaltungen und Zugehörigkeitsgefühlen gesellschaftlicher Gruppen90. Aufgrund dieser wechselseitigen Durchdringungen von Geschichte und Gedächtnis erscheinen Bezugnahmen auf Modelle zur Beschreibung kultureller Erinnerungsprozesse naheliegend. Die in Konzepten zur Erforschung von „Erinnerungskulturen“ zugrunde gelegten Untersuchungsebenen – Rahmenbedingungen des Erinnerns, Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen, Äußerungsformen und Inszenierungsweise des vergangenheitsbezogenen Sinns – und die in diesem Kontext aufgezeigten „operativen Faktoren“ und „transversalen Linien“ weisen Überschneidungen mit für die Untersuchung der Wechselbeziehung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein relevanten Frage-

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Siehe dazu den Überblick bei Astrid ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart [u. a.] 2005, S. 41–61. Zu einzelnen Positionen: Peter BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt 1991, S. 289–304; Amos FUNKENSTEIN, Collective Memory and Historical Consciousness, in: History and Memory 1 (1989), S. 5–26; Maurice HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985. 87 Maurice Halbwachs versteht Gedächtnis und Geschichte als eine Abfolge: „Die Geschichte beginnt im allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition aufhört und sich das soziale Gedächtnis auflöst“. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis (wie Anm. 86), S. 103. Dazu auch ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 42–45. 88 Siehe dazu vor allem auch Jacques LEGOFF, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt 1992. 89 Lutz NIETHAMMER, Gedächtnis und Geschichte. Erinnernde Historie und die Macht des kollektiven Gedächtnisses, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), S. 32–37, hier: S. 33 f. 90 Vgl. NIETHAMMER, Gedächtnis und Geschichte (wie Anm. 89), S. 34.

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stellungen auf91. Inwieweit diese Zugänge für die Analyse des Wechselverhältnisses im Einzelnen fruchtbar gemacht werden können, gilt es je nach thematischem Kontext zu prüfen. Fazit Der Überblick über die verschiedenen Ansätze hat die große Bandbreite teils differierender, teils auch einander ergänzender Definitionen und Zugänge herausgestellt. Es wurde jedoch auch deutlich, dass einige Konstanten existieren, die sich als Rahmen für thematisch breit gefächerte Einzeluntersuchungen aus unterschiedlichen Disziplinen eignen. Dies gilt in Bezug auf die Werteforschung für die Betonung der Reflexivität und der Kommunikationsgebundenheit von Werten, in Bezug auf das Geschichtsbewusstsein für seine sozio-kulturelle Bindung. Zurzeit werden – soweit sich dies erheben ließ – keine Forschungen betrieben, welche die Analyse der Wechselbeziehung von Wertewandel und Geschichtsbewusstsein in den Mittelpunkt stellt. Wegen der engen Verzahnung der beiden Phänomene verspricht ein solcher Zugang jedoch großen Ertrag. Ansatzpunkt für eine Untersuchung der Wechselbeziehung kann zum Beispiel die für Wertewandel ebenso wie für Geschichtsbewusstsein fundamentale Narrativität sein. Eine kombinierte Analyse der beiden Phänomene wird es ermöglichen, Wertewandel und Geschichtsbewusstsein jeweils in ihrer Komplexität weiter zu erhellen. Durch die explizite Thematisierung von Geschichtsbewusstsein können Wertesysteme von Individuen und Gruppen sowie insbesondere deren Wandlungsprozesse im Zeitkontinuum präziser erfasst werden. Damit wird eine geschichtswissenschaftliche Perspektive unmittelbar bedeutsam für sozialwissenschaftliche Fragen im historischen Kontext. Desgleichen gilt für die Untersuchung des Geschichtsbewusstseins, dass eine ausdrückliche Einbeziehung von Wertehorizonten und Wertewandelsprozessen Veränderungen im Geschichtsbewusstsein zu erklären hilft. Dieser Befund untermauert die schon lange festgestellte Bedeutung sozio-kultureller Gegebenheiten für Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung. Für die historisch arbeitenden Disziplinen sind die Fülle unterschiedlicher Fragestellungen, die Perspektivenvielfalt und die methodische Breite, die oft nur geringe Überschneidungsbereiche bieten, kennzeichnend. In der geschichtswissenschaftlichen Perspektive werden Akzente anders gesetzt als in 91

Vgl. das Konzept des Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen“ bei ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (wie Anm. 86), S. 34 f. Siehe dazu ausführlich Marcus SANDL, Historizität der Erinnerung / Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, hrsg. von Günter Oesterle, Göttingen 2005, S. 89–119.

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der philosophisch-theologischen – und dort wieder anders als in der kunsthistorischen, ethnologischen oder soziologischen. Die Untersuchung der Reziprozität von Geschichtsbewusstsein und Wertewandel jedoch erlaubt es, einen solchen Überschneidungsbereich zu definieren und abzustecken. Der interdisziplinäre Austausch auf diesem Gebiet verspricht großen Gewinn. So können zum Beispiel zeitlich breit angelegte Einzelstudien unter synchroner wie diachroner Perspektive zu neuen Einsichten über konkrete Prozesse der Verflechtung von Veränderungen im historischen Denken und Entwicklungen des Wertehorizonts beitragen. Diese Verwobenheiten sowie die in diesem Kontext wirksamen Dynamiken und konstitutiven Faktoren lassen sich insbesondere dann detailliert analysieren, wenn die Einzelstudien spezifische religiöse, soziale, nationale oder intellektuelle Gruppen fokussieren und diese mit einer breiten geographischen Perspektive in ihrem transnationalen Kontext oder im internationalen Vergleich untersuchen. Der Forschungszugang über die Wechselwirkung zwischen Wertewandel und Geschichtsbewusstsein wird also nicht nur wichtige Beiträge zur Historiographiegeschichte und zur historischen Wertewandelforschung hervorbringen, sondern geht in seiner Tragweite über die im Einzelnen zu erwartenden Forschungsergebnisse weit hinaus. Er erlaubt vielmehr eine breite Interdisziplinarität und gewährleistet auf dieser Basis eine gründlichere und perspektivenreiche Erforschung gesellschaftlicher und geistesgeschichtlicher Transformationsprozesse im neuzeitlichen Europa.

Karl Anton Rohan (1898–1975) Europa als antimoderne Utopie der Konservativen Revolution Von

Nils Müller Wirtschaftliche Gesetze werden Europa zum Zusammenschluß zwingen. Soll dieser aber nicht mechanistisch sein, muß er aus dem Geiste geboren werden1.

Zu Beginn der 1920er Jahre entstand eine Vielzahl neuer Verbände, die im „Vorfeld“2 der regierungsamtlichen Politik Lobbyarbeit für die europäische Verständigung betrieben. Sie veranstalteten Kongresse, organisierten Petitionen, publizierten Bücher und Zeitschriften. Für diese Art öffentlichkeitswirksamer Arbeit waren markante Persönlichkeiten und Ideengeber im internationalen Rampenlicht von besonderer Bedeutung. Die PaneuropaUnion war wohl der auffälligste unter diesen international agierenden Verbänden. Sie besaß in Gestalt des jungen Grafen Coudenhove-Kalergi (1894–1972) eine Leitfigur, die sich auf dem großen Parkett zu bewegen wusste, auch wenn, oder gerade weil sie reichlich Widerspruch zu provozieren wusste3. Denn er war in diesem Feld nicht konkurrenzlos. Auch der Österreicher Karl Anton Rohan (gut drei Jahre jünger als Coudenhove) war eine jener Persönlichkeiten, die in dem europäischen Intellektuellenmilieu der 1920er Jahre an der Schnittstelle zwischen Politik, Kulturleben und Wirtschaft eine zentrale Rolle spielten. Er gründete 1922 in Wien den Kulturbund, der sich bald zu einer prominent besetzten, europaweit agierenden Organisation, dem Verband für kulturelle Zusammenarbeit weiterentwickelte. Mit der Europäischen Revue gab Rohan von 1925 bis 1936 eine Rundschauzeitschrift internationalen Formats heraus. Seine Nähe zu neokonservativen und faschistischen Kreisen, sein Kokettieren mit dem 1

Karl Anton ROHAN, Europa. Streiflichter, Leipzig ²1924, S. 41. Karl HOLL, Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik, in: Historische Zeitschrift 219 (1974), S. 33–94. 3 So verwundert es nicht, dass viele Studien zum Paneuropa-Gedanken biografischen Charakter haben. Vgl. Anita ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien/Köln/Weimar 2004; Vanessa CONZE, Richard CoudenhoveKalergi. Umstrittener Visionär Europas, Gleichen [u. a.] 2004. 2

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Nationalsozialismus und seine undurchsichtige Rolle in den Jahren des Zweiten Weltkriegs haben ihn jedoch in den Nachkriegsjahren im Vergleich zu anderen „Vordenkern“ des vereinten Europa, wie Émile Mayrisch, Aristide Briand oder eben Coudenhove-Kalergi, gründlich diskreditiert4. Die geschichtswissenschaftliche Forschung nahm ihn und sein Werk erst spät zur Kenntnis5. Rohans Persönlichkeit und Europaverständnis passen kaum in die Meistererzählung vom Werden des demokratisch-föderalen Europa von heute (in Gestalt der Europäischen Union). Dennoch lohnt der Blick auf sein romantisch angehauchtes, gleichermaßen „österreichisches“ wie konservativrevolutionäres „Europa“, ein Konzept, repräsentativ für die in konservativen und katholischen Kreisen („Abendland“) gängigen Europabegriffe, die bis zum Beginn des westeuropäischen Integrationsprozesses ab den 1950er Jahren nicht zwangsläufig als ideologisch anrüchig oder antiquiert galten6. Nach der Katastrophe des Weltkrieges: „Europa“ (1923) Karl Anton Rohans Familie war Teil des europäischen Uradels, und er selbst mit führenden Familien der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verwandt: Der Vater Alain war erbliches Mitglied des Wiener Herrenhauses und politisch als Führer der Großgrundbesitzer in Böhmen aktiv. Die Mutter Johanna war die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Fürst Adolf von Auersperg, die Großmutter väterlicherseits eine Waldstein (Wallenstein)7. Als Kind lebte Rohan abwechselnd auf dem Sitz der Familie im nordböhmischen Sichrow, dem Stadtpalais in Prag oder auf dem Familiensitz der Mutter, Schloss Albrechtsberg in Niederösterreich. 1914 starb der Vater, 1916 legte Karl Anton die Matura am deutschen Kleinseiter Gymnasium in Prag ab und 4

Kritische Untersuchungen zu Rohans Verhältnis zum Nationalsozialismus und seinen Aktivitäten in der Kriegszeit entstanden zuerst in der DDR. Vgl. bes. Kurt GOSSWEILER, Die Balkanpolitik Nazideutschlands im Spiegel der Zeitschrift „Europäische Revue“ 1938/39, in: DERS., Aufsätze zum Faschismus, Berlin [Ost] 1986, S. 304–315. 5 Den größten Beitrag dazu leiste Guido Müller in seiner Habilitationsschrift. Vgl. Guido MÜLLER, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das DeutschFranzösische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005. 6 Vgl. Vanessa CONZE, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005. Die Autorin hebt auch durch die zeitliche Begrenzung ihrer Studie die Kontinuität des „Abendland“Topos über die Zäsur von 1945 hinaus hervor. 7 Vgl. Rochus Freiherr von RHEINBABEN, Einleitung, in: Karl Anton Prinz ROHAN, Umbruch der Zeit. 1923–1930. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1930, S. 5–14, sowie die daran angefügten „Biographischen Daten“; Guido MÜLLER, Artikel „Rohan, Karl Anton Prinz“, in: Lexikon des Konservatismus, hrsg. von Caspar von Schrenck-Notzing, Graz/Stuttgart 1996, S. 463–465.

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rückte danach als Einjährig-Freiwilliger in die österreichische Armee ein. Er diente im besetzten Russisch-Polen und erkrankte im Winter 1916/17 an Lungenspitzenkatarrh. Während des Genesungsurlaubs legte er im Frühjahr 1918 das juristische Staatsexamen ab, kehrte dann aber in die Ukraine zur Armee zurück. Dort erlebte er das mit Kriegsende in der zerfallenden Habsburgermonarchie ausbrechende Chaos und musste sich mit seiner Einheit zurück nach Österreich durchschlagen. Den Zusammenbruch der Monarchie schilderte Rohan in seinen Memoiren als einschneidendes und aufrüttelndes Erlebnis für den jungen Adligen, der außerhalb Österreichs weiterhin den Titel eines „Prinzen“ führte: „Durch ihn verlor ich politische Heimat, väterliches Erbe und einen vorgezeichneten Weg durchs Leben“8. Für den alten Hochadel war es nicht üblich, sich in die Niederungen der Politik und der Publizistik zu begeben. Doch anstatt sich als Privatier auf seine Güter zurückzuziehen, versuchte Rohan sich nun als Organisator der europäischen Verständigung und als produktiver Essayist. In seinen eigenen Schriften widmete sich Rohan kulturellen, religiösen und politischen Themen. Die erste Monografie Europa (1923) enthielt bereits die zentralen Themen seiner publizistischen Tätigkeit in den 1920er Jahren. Rohan kleidete sein europapolitisches Programm in eine romantisch geprägte Geschichtsphilosophie: Die dreiteilige Grundstruktur der Weltgeschichte, bestehend aus einer naiven Vorzeit, einer krisenhaften Gegenwart im Zeichen der Moderne und einer möglichen besseren Zukunft steht klar in jener deutschsprachigen Tradition des Europabegriffs, die sich aus Novalis’ Die Christenheit oder Europa (1799) speist9. Für Rohan ruhte die Welt des Mittelalters auf den Säulen „weltlicher und geistlicher Adel, Adel der Geburt und des Geistes“10, wobei der geistliche Adel in der katholischen Kirche, der weltliche in einem alten, herrschenden Adel verkörpert wurde: „Der Edeling [...] war von göttlicher Herkunft. [...] Die Mehrzahl der Träger großer Namen entstammt [heute jedoch] dem Ministerialadel (dem Dienstadel), für den alle Weisheit allerdings mit dem Wort ‚dienen’ beginnt“11. In diese statische Welt brach die vernunftgeleitete Moderne herein, in Form von Besitz, Aufklärung und Bürgertum. Das große Ganze, die organische Einheit wurde zerstört durch „die einseitig gepflegte Vernunft“, die „einen Kampf gegen den [...] Adel, und gegen die Religion“ vom Zaun brach12. Der Adel wurde dadurch korrumpiert, denn „Besitz geht den Adel innerlich nichts an“ und „adelig 8

Karl Anton ROHAN, Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen, Düsseldorf 1954, S. 56. 9 Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 3: Das philosophische Werk II, hrsg. von Richard Samuel, Stuttgart [u. a.] ³1983, S. 507–524. 10 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 5. 11 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 6 f. 12 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 11.

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sein, heißt überindividuell sein“13. Die Moderne als Zeitalter des technischen Fortschritts, des Kapitalismus, des „verzerrte[n] Ideal[s] des Individualismus“14 fasste Rohan als „Maschine“ – eine Metapher aus der romantischen Kulturkritik des 19. Jahrhunderts. Die moderne Gesellschaftsordnung sei instabil, da sie auf falschen Grundlagen beruhe und deswegen unweigerlich ins Unglück führen müsse. Durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs sahen sich die mah-nenden Stimmen aus der Vorkriegszeit im Recht. Rohans Ausführungen waren ganz und gar Mainstream der nach dem Krieg florierenden Kultur-kritik, die auch bei ihm erkennbar durch die fernöstliche Philosophie und die populären Werke von Leo Frobenius und Oswald Spengler inspiriert war15. Eine proletarische Revolution gegen die moderne, bourgeoise Gesellschaft sei hoffnungslos, weil erstens auch das Proletariat sich vom Besitz habe verführen lassen (zur Sozialdemokratie geworden sei), und weil sie zweitens auf den gleichen falschen Grundannahmen stehe wie die moderne Gesellschaft selbst: „Der Kommunismus dürfte wohl auf Jahrhunderte hinaus der letzte Versuch der Vernunft sein, trotz der Erkenntnis ihrer eigenen Relativität das Problem des menschlichen Zusammenlebens durch sie allein zu lösen. [...] Seiner trockenen Verstandeskonstruktion fehlt jeder Hauch des Ewigen, fehlt der Heilige Geist“16. Die Heilung des Kontinents, den die moderne Gesellschaftsordnung in den Weltkrieg geführt hatte, müsse auf andere Art erfolgen: Das Problem [...] heißt: Überwindung der Technik vom Geiste her, Wiederverwurzelung des allzu irdisch gewordenen Lebens im Ewigen, Schaffung eines wahrhaft freien Europa, nicht frei von irdischen oder gar überirdischen Herren, sondern frei von der Materie. [...] Jeder Einzelne muß von innen heraus ihrer Herr werden. Das geht durch Vertiefung. Es ist das religiöse Problem. Gleichzeitig muß aber die menschliche Gesellschaft so organisiert werden, daß sie auch äußerlich wieder Herr über ihre Mittel wird. Es gilt Europa zu befreien, es gilt, den Geist wieder zum Herrn der Welt zu machen, das ist das politische Problem17.

Beide Ebenen waren für Rohan untrennbar miteinander verknüpft. In der Verbindung des Ewigen mit dem Politisch-Diesseitigen war das Erbe eines romantischen Politikverständnisses unverkennbar. Die Hoffnung auf geistige Gesundung sei die Religion, „das wichtigste kulturelle Gut des Menschen [...], die Wurzel aller Kultur“. Eine Wiederbelebung des universalen 13

ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 9 f. ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 12. 15 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 14; Vgl. Michael SPÖTTEL, Die ungeliebte „Zivilisation“. Zivilisationskritik und Ethnologie in Deutschland im 20. Jahrhundert, Frankfurt [u. a.] 1995, S. 86. 16 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 14. 17 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 19 f. 14

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Katholizismus nach dem Trauma des Krieges hielt der tiefgläubige Katholik Rohan für möglich: „Ob die junge Bewegung in eines der bestehenden europäischen Religionssysteme einmünden wird? Auf weite Sicht kommt wohl nur der Katholizismus in Frage. Seine Grundlagen sind ewig [...]“18. Das politische Problem war die Einheit Europas, die Zusammenführung der europäischen Völker unter ein Dach: Es „wird, auf den nationalen Autonomien als Säulen, auf den heutigen Staaten als Kapitälen, eine neue große Kuppel gewölbt werden müssen: Die Vereinigten Staaten von Europa“19. Joseph Roth beschrieb das religiös geprägte Europabild des jungen Prinzen in seinem 1927 erschienenen Roman Flucht ohne Ende mit ironischem Unterton: „Er erwartete ein geeinigtes Europa unter der Herrschaft eines Papstes mit weltlicher Diktaturgewalt oder etwas ähnliches“20. Diese Unschärfe seines Europabegriffs musste Roth ihm aber nicht erst unterstellen, sie hatte bei Rohan eine gewisse Methode. (Katholische) Moralität des Individuums und die kollektive Aufgabe der gesellschaftlichen Reorganisation Europas ließen sich in kein kohärentes Programm zusammenführen. „In part the trick lies in equating personality with a European cultural tradition, a tradition in which one could partake without having any explicit idea of Europe“21. Von seinem idealtypischen Leser erwartete Rohan eben, dass er „um die Dinge wußte“22. Sein Auftreten in der Öffentlichkeit entsprach deshalb in den 1920er Jahren auch der eines Moderators der europäischen intellektuellen Debatte – wobei eine wahrhaft gesamteuropäische Diskussion erst angestoßen werden musste. Das internationale Parkett: Der „Verband für kulturelle Zusammenarbeit“ Rohan begann seine Projekte in der Absicht, eine „Gemeinschaft zu finden, die über jeder Ansicht, über jedem Wollen im tief Geistigen wurzelt“23. Im Frühjahr 1922 gründete der erst 24jährige mit einer kleinen Gruppe von Künstlern und Intellektuellen in Wien den österreichischen Kulturbund. Er wurde dabei von einflussreichen Personen aus Politik, Wirtschaft und Kultur 18

ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 39.; Vgl. Karl Anton ROHAN, Das geistige Problem Europas von heute, Wien o. J. [1922], S. 14. 19 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 37. 20 Joseph ROTH, Die Flucht ohne Ende. Roman, Köln 42001, S. 115. 21 Peter STIRK, Authoritarian Federalists in Central Europe, in: A Constitution for Europe, hrsg. von Andrea Bosco und Preston King, London 1991, S. 199-212, hier: S. 206. 22 Klaus-Peter HOEPKE, Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus. Ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Politik von Gruppen und Verbänden der deutschen Rechten, Düsseldorf 1968, S. 45. 23 ROHAN, Das geistige Problem (wie Anm. 18), o. S.

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unterstützt, dem Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, dem Staatsrechtler Joseph Redlich, dem Großkaufmann Julius Meinl oder dem ab Mai 1922 als Bundeskanzler amtierenden katholischen Geistlichen Ignaz Seipel24. Das Konzept eines solchen Kulturbundes ließ sich problemlos auf die europäische Ebene übertragen: S’il est possible de créer en Autriche une plateforme où des tendances différentes, souvent même hostiles, peuvent se rencontrer, de même il devrait être possible de créer un mouvement qui permettrait de faire se rencontrer dans une atmosphère cordialement humaine les répresentents éminents des différents nations, divisées par la haine, la méfiance et les malentendus de l’époque d’après-guerre25.

Ende 1922 entstand in Paris als Schwesterorganisation die Union Intellectuelle Française, deren Gründungsaufruf zahlreiche prominente Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller unterzeichneten26. Im November 1924 fand dort der Gründungskongress des Verbands für kulturelle Zusammenarbeit (französisch: Fédération Internationale des Unions Intellectuelles) statt, als europaweite Dachorganisation. Rohans Memoiren zufolge zählte der Verband „in seiner besten Zeit [...] vierzehn Gruppen: Österreich, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Polen, Rumänien, Spanien, Ungarn, Tschechoslowakei“27. Dass schon zum Gründungskongress einige Vertreter auch aus Deutschland anwesend waren, war aufgrund des internationalen Wissenschafts- und Kulturboykotts eine politisch immer noch heikle Angelegenheit – aber auch ein Akt der europäischen Verständigung: „C’est ainsi que pour la première fois depuis la guerre la langue allemande put se faire entendre à Paris devant un public d’élite“28. 24

Guido MÜLLER, Jenseits des Nationalismus? „Europa“ als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in: Elitenwandel in der Moderne, Bd. 2: Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, hrsg. von Heinz Reif, Berlin 2001, S. 235–268, hier: S. 256; MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 315–319. 25 L’Œuvre de la Fédération Internationale des Unions Intellectuelles. 1923–1928, hrsg. vom Secrétariat Général de la Fédération Internationale des Unions Intellectuelles, Prag o. J. [1929], S. 7. Die Gründungsmitglieder sind der Schriftsteller Kurt Frieberger, der Bildhauer Victor Frisch, der Anwalt Friedrich Hardtmuth, der Komponist Erich Wolfgang Korngold, der Jesuitenpater Friedrich Kronseder, der sozialistische Schriftsteller Robert Müller und der bekannte Buchhändler, Journalist und Schriftsteller Freidrich Schreyvogl. 26 Unter anderen von Kardinal Dubois, dem Begründer der Treffen von Pontigny, Paul Desjardins, dem Physiker Paul Langevin, Ex-Minister Emile Borel, den Wissenschaftlern Léon Brunschwicg, Marie Curie, Henri Lichtenberger und den Schriftstellern André Germain, Edmond Jaloux, Gustave Kahn, Maurice Martin du Grand, Eugène d’Harcourt, Paul Valéry und dem Präsidenten der französischen Kammer, Paul Painlevé; L’Œuvre (wie Anm. 25), S. 7–9. Vgl. MÜLLER, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 256 f. 27 ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 56. 28 L’Œuvre (wie Anm. 25), S. 10.

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Der Deutsche Kulturbund wurde 1926 gegründet, dank der in Frankfurt und Paris lebenden Kunstmäzenin Lily von Schnitzler, Ehefrau des IG Farben-Vorstandsmitglieds Georg von Schnitzler29. Sie regelte die Finanzen nicht nur für den Deutschen Kulturbund, sondern später auch für Rohans Zeitschrift Europäische Revue30. Über sie wurde Rohan die Ehre zuteil, von Max Beckmann im Zentrum seines Gemäldes Gesellschaft Paris (1925) verewigt zu werden31. Über ihren Salon knüpfte er Kontakt zu Heidelberger Akademikern um Alfred Weber32. In Berlin unterstützen ihn die Nichte des Reichspräsidenten von Hindenburg, Helene von Nostitz-Wallwitz, sowie ihr Ehemann, der deutsche Vorsitzende des Deutsch-Französischen Studienkomitees Alfred von Nostitz-Wallwitz. Akademiker- und Diplomatenkreise im Deutschen Reich zeigten sich interessiert, darunter Vertreter des jungkonservativen Berliner Herrenclubs33. Der Deutsche Kulturbund wurde zur mitgliederstärksten Sektion des Verbands. Die meisten der um das Locarno-Jahr 1925 im Dienst der europäischen Annäherung gegründeten Verbände verfolgten ein konkretes Programm, in dem die politische Verständigung (z. B. Paneuropa-Union) oder die wirtschaftliche Zusammenarbeit, der Abbau von Zollgrenzen und Handelshemmnissen im Vordergrund standen (z. B. das Studienkomitee)34. Der Verband für kulturelle Zusammenarbeit wollte – Rohans Vorgabe entsprechend – zunächst sehr zurückhaltend versuchen, „zwischen den Ländern geistige Beziehungen anzuknüpfen [...] und eine günstige Atmosphäre für gegenseitiges Verständnis schaffen“. Reisende Mitglieder des Verbands sollten im Ausland in das dortige Geistesleben eingebunden werden. Dazu entwarf der Verband einen „intellektuellen Reisepaß“, ein Dokument, das dem Mitglied die Einführung in die entsprechenden Kreise des Gastlandes erleichtern sollte35. Durch die Erweiterung des persönlichen Erfahrungshorizonts wollte man „die Bewußtwerdung europäischer Kulturzusammenhänge, eines neuen Kultureuropa fördern“36. Der Verband war betont dezentral organisiert. Die meisten Akti29

ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 59. Lily (eigentlich: Bertha Dorothea) von Schnitzler fungierte als Schatzmeisterin des deutschen Kulturbundes und als Vorstandsmitglied der Frankfurter Sektion; L’Œuvre (wie Anm. 25), S. 77–79. Vgl. auch MÜLLER, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 259 f. 31 Ina Ulrike PAUL, Konservative Milieus und die Europäische Revue (1925–1944), in: Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), hrsg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner, Bern 2003, S. 509–555. 32 Ludwig CURTIUS, Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950, S. 379. 33 MÜLLER, Elitendiskurse (wie Anm. 25), S. 259 f. 34 Vgl. Reinhart FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977, S. 100–107. 35 FROMMELT, Paneuropa (wie Anm. 34), S. 65 f. 36 Karl Anton ROHAN, Warum so nervös?, in: Europäische Revue 5 (1929), S. 279–280, hier: S. 279. 30

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vitäten – Empfänge, Vortragsabende und Konferenzen – wurden von nationalen oder lokalen Sektionen veranstaltet37. Das „Vorhandensein kräftiger nationaler Organisationen“38 sollte das Fundament der Organisation sein, in der Rohan den bescheidenen Titel des „Generalsekretärs“ trug – ein Modell, das seinem Bild von Europa als (geistiger) Kuppel über den Völkern und Nationen genau entsprach. Für europaweite Aufmerksamkeit sorgten die internationalen Konferenzen des Verbands. Auf Paris folgten Kongresse in Mailand (1925), Wien (1926), Heidelberg und Frankfurt (1927), Prag (1928), Barcelona (1929) und Krakau (1930), die allesamt das Problem der Identifikation einer europäischen Kultur in der Moderne zum Thema hatten. In Heidelberg wurde Die Rolle der Geschichte im Bewußtsein der Völker diskutiert, in Krakau die Grundhaltungen des modernen Geistes. Der letzte reguläre, 1932 in Zürich stattfindende Kongress stand schließlich unter dem bezeichnenden Motto Europäische Kultur in Gefahr. „Die Anfänge der Bewegung berechtigten zu Hoffnungen“, resümierte der Archäologe Ludwig Curtius. Dass sich prominente Vertreter des europäischen Geisteslebens für den Verband gewinnen ließen, war auch ein Verdienst der Gewandtheit Rohans auf gesellschaftlichem Parkett. Curtius ist das Auftreten des Prinzen positiv in Erinnerung geblieben: Er hatte viele Vorzüge des österreichischen Kavaliers, gewinnbringende Liebenswürdigkeit, ohne je sein Aristokratentum aufzugeben, taktvolle Leichtigkeit des menschlichen Verkehrs, die ihn Hindernisse spielend überwinden ließ, Überredungskunst, die an keinen programmatischen Formalismus gebunden war, elastisches Einfühlungsvermögen in die Persönlichkeit des anderen und eine versöhnliche Heiterkeit, in der er jeden Mißerfolg im vornherein in seine Rechnung eingestellt hatte, leicht überwand und keinem nachtrug. Als Rohan besaß er alte Familienverbindung zu der ersten französischen Gesellschaft, als Mitglied des österreichischen Hochadels gleichsam ererbte diplomatische Fähigkeiten, als junger Mensch den Idealismus seines Alters, als Wiener den Hintergrund einer geistigen Tradition, wie sie eben am besten der Name Hofmannsthal bezeichnet39.

Rohans gepflegte Eleganz fand aber nicht bei jedem Gefallen: Für den 1939 emigrierten Industriellen Richard Merton war Rohan „ein sehr intelligenter Mann, bei dem aber später der Geltungstrieb stärker war als die Festigkeit seiner Überzeugung“40. Rohans langjähriger Sekretär Max Clauss hielt ihn 37

Die verschiedenen Veranstaltungen der VkZ-Sektionen sind aufgelistet in: L'Œuvre (wie Anm. 25), S. 10–24. 38 N.N., Kulturbund, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 61–70, hier: S. 68. 39 CURTIUS, Deutsche und antike Welt (wie Anm. 32), S. 379. 40 Richard MERTON, Erinnernswertes aus meinem Leben, das über das Persönliche hinausgeht, Frankfurt 1955, S. 76.

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für einen „vornehmen Dilettanten“41. Joseph Roth schilderte ihn als einen Aufschneider, der von Seipel die Gestik des katholischen Geistlichen abgeschaut habe: Wenn er sprach, legte er die Hände zusammen, so daß sich die Spitzen der Finger berührten, er muß es einmal von einem Abbé gelernt haben, wie man Giebel aus Händen konstruiert. Er sprach mit der eindringlichen, leisen und klangvollen Stimme beruflicher Hypnotiseure und bekleidete nüchterne Erzählungen mit mystischen Schimmern42.

Die „Europäische Revue“ Auf die Frage, worin denn die europäische Kultur genau bestehe, ließ Roth seinen Rohan schlicht antworten: „Lesen Sie doch meine Zeitschrift!“43 Die Gründung der Europäischen Revue im Frühjahr 1925 war Rohans zweites großes Projekt. Der Zeitpunkt war günstig: Im Januar hatte der französische Ministerpräsident Édouard Herriot vor dem Abgeordnetenhaus die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa angeregt44, und die Zeitschrift war erst wenige Monate alt, als der Vertrag von Locarno im Herbst 1925 dem Bemühen um europäische Verständigung Nachdruck verlieh. Den Zeitgenossen erschien die Europäische Revue als „eine sehr beachtenswerte Zeitschrift“45, die „bald Verbreitung und Ansehen“ gewann46. Die Redaktion leitete 1926–1932 der junge Romanist Max Clauss, zugleich Rohans „politisch-litterarische[r] Secretär“47. Die Finanzierung garantierte in den ersten Jahren der Kulturfonds der IG Farben, was Lily von Schnitzler vermittelt hatte48. Aus dem Verkauf der Zeitschrift war nicht viel Kapital zu 41

Zitiert nach Guido MÜLLER, „Mitarbeit in der Kulisse ...“. Der Publizist Max Clauss in den deutsch-französischen Beziehungen von der Weimarer Republik zum ‚neuen Europa’ (1924–1943), in: Lendemains 86/87 (1997), S. 20–48, hier: S. 27. 42 ROTH, Flucht ohne Ende (wie Anm. 20), S. 115. 43 ROTH, Flucht ohne Ende (wie Anm. 20), S. 116. 44 Carl H. PEGG, Die wachsende Bedeutung der europäischen Einigungsbewegung in den zwanziger Jahren, in: Europa-Archiv 24 (1962), S. 865–874, hier: S. 865 f. 45 MERTON, Erinnernswertes (wie Anm. 40), S. 76. 46 CURTIUS, Deutsche und antike Welt (wie Anm. 32), S. 380. 47 So Hugo von Hofmannsthal, zitiert nach Guido MÜLLER, Der Publizist Max Clauss. Die Heidelberger Sozialwissenschaften und der „Europäische Kulturbund“ (1924/5–1933), in: Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958, hrsg. von Reinhard Blomert [u. a.], Marburg 1997, S. 369–409, hier: S. 381. Vgl. MÜLLER, Mitarbeit in der Kulisse (wie Anm. 41), S. 20–25. 48 Gottfried PLUMPE, Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904– 1945, Berlin 1990, S. 140. Vgl. Jens Ulrich HEINE, Verstand & Schicksal. Die Männer der I.G. Farbenindustrie A.G. (1925–1945) in 161 Kurzbiographien, Weinheim [u. a.] 1990, S. 133.

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schlagen, sie blieb auf die Unterstützung durch deutsche, französische, österreichische und tschechoslowakische Regierungsstellen angewiesen, die einige Exemplare für ihre diplomatischen Vertretungen abnahmen49. Die Europäische Revue entsprach dem Typus einer "politisch-kulturellen Rundschauzeitschrift“50. Politische Beiträge fanden sich eingebettet in kulturwissenschaftlich orientierte Essayistik und Proben belletristischer Arbeiten. Hugo von Hofmannsthal gab der Zeitschrift unter dem Titel Europa ein Geleitwort mit auf den Weg: „Kein Zweifel, daß neben vielen hohen Zusammenfassungen auch der Begriff ‚Europa’ fragwürdig geworden ist – und kein Zweifel, daß von seiner Wiederherstellung unser aller geistiges Weiterleben abhängt“51. Die Sprachlosigkeit des Dichters und die Relativierung der Begriffe illustrierten das Leiden an einer im Weltkrieg entfesselten Moderne52 – der thematische Schwerpunkt der Europäischen Revue. Aufmerksam wurde die Entwicklung der Psychologie (mit Beiträgen von C. G. Jung) oder der Architektur (Le Corbusier) beobachtet. Die Zeitschrift verfolgte die internationale Literaturszene und beschäftigte zahlreiche Übersetzer; Redaktionsabkommen wurden mit der Nouvelle Revue Française André Gides, der Rivista del Occidente Ortega y Gassets und dem Criterion T. S. Eliots geschlossen53. Rohan selbst nutzte sie als Forum für die Auseinandersetzung mit Coudenhove-Kalergi. An Paneuropa erkannte er den Makel des Liberalismus, der als integraler Bestandteil des morschen Gesellschaftssystems des 19. Jahrhunderts eine Teilschuld am Weltkrieg trage. Ein faszinierendes Gemisch von richtigen und großen politischen Visionen und einer merkwürdig dürren und blutleeren Theorie, die dem organischlebendigen Zusammenhange des Weltgeschehens keineswegs gerecht wird. Ein fertiges, bis in letzte Details ausgearbeitetes Zukunftsbild, das der Geschichtsentwicklung keinen Spielraum läßt, eignet sich nicht als Grundlage schöpferischer Bewegung54. 49

Guido MÜLLER, Von Hugo von Hoffmannsthals „Traum des Reiches“ zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft – Die „Europäische Revue“ 1925–1936/44, in: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Berlin 2003, S. 155–186, hier: S. 162. 50 Vgl. Hans Manfred BOCK, Das „Junge Europa“, das „Andere Europa“ und das „Europa der weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925–1939, in: Le discours européen dans les revues allemandes (1933–1939) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933–1939), hrsg. von Michel Grunewald, Bern [u. a.] 1999, S. 311–351; PAUL, Konservative Milieus (wie Anm. 31). 51 Hugo von HOFMANNSTHAL, Europa, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 3. 52 Vgl. Katherine ARENS, Hofmannsthal’s Essays. Conservation as Revolution, in: A Companion to the Works of Hugo von Hofmannsthal, hrsg. von Thomas A. Kovach, Rochester 2002, S. 181–202. 53 MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 394. 54 Karl Anton ROHAN, Paneuropa, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 349–353, hier:

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In der Tat hatte Coudenhove-Kalergi die Schritte zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa sehr detailliert vorgegeben55. Selbst der ihm nahestehende Francesco Nitti kritisierte: „Man muß Utopist sein, um Wiederaufbaupläne in der Weise von Architekten zu entwerfen, die Pläne von Gebäuden mit allen möglichen Einzelheiten zeichnen und Entwürfe ausarbeiten, die die fortschreitende Zeit sehr bald als unmöglich erweist“56. Der gleiche Vorwurf einer abstrakten Kopfgeburt traf die neue nationalstaatliche Ordnung im Gebiet des ehemaligen Habsburgerreichs. Vor einem Zusammenschluss des Kontinents, so Rohan in Europa, „müssen die Völker in ihre Form gebracht werden, jedes muß bei sich auskehren, die faule alte Welt liquidieren, und erst wenn jedes real darstellt, was es ist, wird die Form der Gemeinschaft gefunden werden können“57. Die „faule alte Welt“ überlebte in Gestalt der nach westeuropäischem Vorbild gestalteten Nationalstaaten. Max Hildebert Boehm, einer der führenden völkisch-jungrevolutionären „Volkstumsforscher“, verwies darauf, dass „das in Todeskämpfen liegende Abendland“ nur gerettet werden könne, wenn die Völker und ihre Kultur derart gestärkt würden, dass sie zu stabilisierenden Faktoren in den neuen Staaten werden, anstatt ihnen schaden zu wollen58. Dass das Verhältnis von Nationalität („Volkstum“) zu Staat in der Europäischen Revue so breit diskutiert wurde, hing mit Rohans besonderem Interesse an Ostmittel- und Südosteuropa zusammen. Im April 1930 entwarf Rohan mit Minderheitenvertretern aus der Region das Muster eines Minderheitenstatuts, das von allen Staaten der Region implementiert werden sollte. Neben bürgerlichen Freiheiten forderte der – von keiner Regierung unterschriebene – Vertrag auch politisch umstrittene Kollektivrechte. Quoten für den amtlichen Gebrauch von Minderheitssprachen wurden festgelegt, außerdem sollten Provinz- und Gemeindegrenzen so gelegt werden, „daß die Minderheiten soweit als möglich zusammengefasst sind“59. Der Entwurf stand ganz in der föderalistischen Tradition staatsrechtlichen Denkens und war direkt gegen eine Übertragung des westeuropäischen National- und ZentralS. 350. 55 Vgl. das Kapitel „Pan-Europas Entwicklungsstufen“ in Richard N. COUDENHOVEKALERGI, Pan-Europa, Leipzig/Wien 21924, S. 151–154; Anne-Marie SAINT-GILLE, La „Paneurope“. Un débat d’idées dans l’entre-deux-guerres, Paris 2003, S. 67–71; ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Botschafter Europas (wie Anm. 3), S. 72–75. 56 Francesco NITTI, Die Vereinigten Staaten von Europa, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 24–30, hier: S. 30. Vgl. SAINT-GILLE, La „Paneurope“ (wie Anm. 55), S. 149 u. S. 265. 57 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 36 f. 58 Max Hildebert BOEHM, Staat und Minderheit, in: Europäische Revue 6 (1930), S. 724– 734, hier: S. 730. 59 N.N., Entwurf eines Minderheitenstatuts, in: Europäische Revue 6 (1930), S. 455–466, hier: S. 459.

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staats auf die Gebiete des ehemaligen Habsburgerreichs gerichtet. Konservative Revolution Rohans Betonung des „Organischen“ als Gegensatz zur leeren Abstraktion betonte die revolutionäre Dynamisierung der Begriffe und Gesellschaftsordnungen. Den Sammelbegriff für jene Strömung innerhalb der intellektuellen politischen Rechten lieferte Hugo von Hofmannsthal 1927: „Konservative Revolution“60. Rohan bezeichnete damit schon 1923 den italienischen Faschismus, von dessen jugendlichem Elan er sich die Überwindung der Nachkriegsordnung und einen heilenden Impuls für Europa versprach: Im Fascismus hat die europäische Jugend zum erstenmal die ihr gemäße politische Form gefunden. [...] Er hat kein eigentliches Programm, aber, was heute gewiß mehr bedeutet, den Glauben an die Zukunft. Der revolutionäre Impuls des jungen Europa, der im Bolschewismus so entsetzliche Um- und Irrwege ging, ist hier zentral, als konservative Revolution aufgetreten. Durchaus linksradikal orientiert, macht er Front gegen Reaktion der demokratischen, der sozialdemokratischen Welt, als einer Welt des Rationalismus, will aber alle rettbaren Werte wahren61.

Zwei Elemente seines Verständnisses vom Faschismus fanden sich in Rohans Europabegriff wieder: Erstens der demokratiefeindliche Führerkult, der sich in Rohans Konzept des Neuen Adels ausdrückte. Der Adel muß wieder zum Adel werden, er muß, frei von Vorurteilen, wieder Führer stellen, die, weit über alle Programme erhaben, der Zeit vorangehen. Seine reaktionäre Haltung muß er aufgeben und nicht, als letztes Rad am Wagen stumpfsinniger Parteien, um ein bißchen Leben betteln62.

Im „neuen Lebensgefühl“ des Faschismus fand Rohan die „Noblesse in der Hingabe an ein überindividuelles Ideal wieder“, die den wahren Adel von einst charakterisiert habe63. Das zweite Motiv war das der revolutionären Jugend, maßgeblich geprägt vom Erlebnis des Ersten Weltkriegs. Max Clauss (Jahrgang 1901) beschrieb in der Europäischen Revue die Lage jener Generation, die den Krieg kaum aktiv, aber bewusst erlebt hatte. Ihr sei es 60 In dem Vortrag „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“. Geschichte des Konzepts vgl. Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, hrsg. von Armin Mohler und Karlheinz Weissmann, Graz 62005, S. 93–97. Die erste Auflage des Buches von Armin Mohler (1950) war maßgeblich daran beteiligt, den Begriff in die politik- und geschichtswissenschaftliche Debatte einzuführen. Zur Kritik an dem Konzept vgl. Stefan BREUER, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 61 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 22 u. S. 25. 62 ROHAN, Europa (wie Anm. 1), S. 34. 63 Karl Anton ROHAN, Die Aufgabe unserer Generation, Köln 1926, S. 121.

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bestimmt, „den Übergang zu vermitteln zu einer neuen Verwirklichung der abendländischen Welt, deren Antlitz noch niemand kennt“64. Die erste große internationale Tagung des Verbands für kulturelle Zusammenarbeit fand 1925 nicht zufällig in Mailand statt65. Wenn sich auch Mussolini, von Rohan umworben, zurückhaltend verhielt, so entstand doch im faschistischen Italien eine große und prominent besetzte nationale Organisation des Verbands66. Im Unterschied zu anderen europäischen Regierungen ließ die italienische sich immerhin „bei jedem Kongreß [...] programmatisch durch eine ausgezeichnet gewählte Kommission vertreten“67. Auch die Europäische Revue wurde ab 1926 teilweise Organ dieser jung-revolutionären, am italienischen Faschismus orientierten Europa-vorstellungen. Eine Politisierung der zur Debatte stehenden Europabegriffe setzte ein, und Rohans Wunsch zufolge sollte „immer mehr unsere Auffassung vom Europa der Gegenwart und Zukunft [...] eingebaut werden [...]. Hier wird die Jugend Europas zu Worte kommen“68. Deutschland, Mitteleuropa und die „Reichsidee“ Doch was waren die politischen Hoffnungen der Jugend Europas und der Konservativen Revolutionäre? Die Niederlage im Krieg und die außenpolitische Ohnmacht der ersten Nachkriegsjahre hatten, so Rohan 1928, die Notwendigkeit einer deutschen Initiative zur Errichtung einer neuen Ordnung in Europa offengelegt. Wolle der Kontinent seiner drohenden „Selbstzerfleischung“ entgehen, müsse Deutschland von seiner in Locarno wiedererlangten Handlungsfreiheit Gebrauch machen: Die deutsche Politik hat heute am wenigsten von allen zu verbergen. Sie schlage ihre Karten auf. [...] Es wird Zeit, in eigener Sprache zu einem deutschen Europaprogramm zu kommen, das über die eigenen Interessen, über den selbstverständlichen Kampf um die deutsche Freiheit hinaus, der Verantwortung gerecht wird, die der deutsche Mensch zu allen Zeiten für das Abendland empfunden und getragen hat [...]. Die Besiegten sind heute das Gewissen des Erdteils. Wenn wir es ebenso verraten wie die Sieger 1919, dann ist Europa verloren69. 64

Max CLAUSS, Jahrgang 01, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 312–318, hier: S. 318. Karl Anton ROHAN, Die internationale Versammlung der Verbände für kulturelle Zusammenarbeit (Kulturbund) in Mailand am 5. bis 7. November, in: Europäische Revue 1 (1925/26), S. 203–204. MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 349–354. 66 L‘Œuvre (wie Anm. 25), S. 81. Vgl. MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 349 f. 67 CURTIUS, Deutsche und antike Welt (wie Anm. 32), S. 380. 68 Karl Anton ROHAN, Vorwort zum zweiten Jahrgang, in: Europäische Revue 2 (1926/27), S. 3–5, hier: S. 3 f. 69 Karl Anton ROHAN, Abrüstung – Friede – Europa, in: Europäische Revue 4 (1928/29), 65

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Ende der 1920er Jahre standen Rohan und seine Zeitschrift in engem Kontakt mit der deutschen Wirtschaft und Diplomatie, unter dem Einfluss der Deutschen Gruppe im Mitteleuropäischen Wirtschaftstag, des Berliner Auswärtigen Amts und der Deutschen Hochschule für Politik – Vertreter einer revisionistischen Konzeption deutscher Außenpolitik. Rohan suchte Kontakt zur deutschen Diplomatie, um für die Europäische Revue internationale Reputation und direkte finanzielle Unterstützung zu gewinnen. Ein entsprechendes Gesuch Alfred Webers an das Auswärtige Amt wies Stresemann 1928 ab, doch nahm das Amt rund 100 Exemplare der Zeitschrift ab. Auch eine Reise Rohans in die Sowjetunion 1927 förderte das Amt finanziell. 1930 stellte man der Zeitschrift einen „Beirat“ zur Seite, unter der Leitung des ehemaligen Botschafters in Tokio, Wilhelm Solf70. Ein bedeutender think tank für die deutsche Außenpolitik, besonders gegenüber Ost- und Südosteuropa, war die 1920 gegründete Deutsche Hochschule für Politik. Bis 1933/34 schrieben mindestens 45 Dozenten der Hochschule für die Europäische Revue71. Derart eingebunden in das diplomatische und akademische Milieu, machte Rohan es seiner Zeitschrift nun zur Aufgabe, „die europäische Seite Deutschlands und die deutsche Seite Europas darzustellen“72 – die in der „uralt-ewige[n] deutsche[n] Weltidee des ‚Reiches’“ ihren Ausdruck finde73. Die späten 1920er und frühen 1930er Jahre waren eine Blütezeit der sogenannten „Reichsideologie“ in der deutschsprachigen Publizistik74. Ihre prominentesten Autoren, wie Heinrich von Gleichen und Albrecht Erich S. 150–152, hier: S. 152. 70 Karl Anton ROHAN, Werdegang in der Öffentlichkeit. Anlage zu einem Schreiben des Gauleiters Jury an Außenminister von Ribbentrop vom 14.4.1939, in: Akten der Parteikanzlei, T. 2, Bd. 2, Bl. 203 00722; Vgl. Karl Anton ROHAN, Moskau. Ein Skizzenbuch, Leipzig 1927; MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 402 f.; PAUL, Konservative Milieus (wie Anm. 31), S. 528; Vgl. die Nachrufe auf Solf in der Europäischen Revue: Karl Anton ROHAN, Wilhelm Solf †, in: Europäische Revue 12 (1936), S. 159–160; Joachim MORAS, Dem Botschafter, in: Europäische Revue 12 (1936), S. 160–163. 71 Vgl. Antonio MISSIROLI, Die Deutsche Hochschule für Politik, Königswinter 1988, S. 204–208; Wilhelm HAAS, Die Deutsche Hochschule für Politik, in: Europäische Revue 2 (1926/1927), S. 53–57; Detlef LEHNERT, „Politik als Wissenschaft“. Beiträge zur Institutionalisierung einer Fachdisziplin in Forschung und Lehre der Deutschen Hochschule für Politik (1920–1933), in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 443–465. 72 N.N., Dem Reichsminister des Auswärtigen zum 10. Mai 1928, in: Europäische Revue 4 (1928/29), S. 82. 73 Hans K.E.L. KELLER, Völkerreich und Völkerrecht, in: Europäische Revue 10 (1934), S. 425–430, hier: S. 428. 74 Vgl. Klaus BREUNING, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934), München 1969; Herfried MÜNKLER, Reich – Nation – Europa. Modelle politischer Ordnung, Weinheim 1996; Kurt SONTHEIMER, Die Idee des Reiches im politischen Denken der Weimarer Republik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13 (1962), S. 205–221.

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Günther, schrieben in diesen Jahren auch für die Europäische Revue. Rohan selbst verstand das „Reich“ als ein geistiges Gebilde, aufgeladen mit religiöser Moralität: „Der entscheidende Wesenskern des Reiches bleibt in allen Zeiten, daß es Träger höchster Gerechtigkeit und höchsten Richteramts, nicht aber größter direkter Macht ist“75. Auf Rohans Begriff des Reichs hatte die Lehre des Staatswissenschaftlers Othmar Spann einen bedeutenden Einfluss, dessen Vorlesungen im Wien der 1920er Jahre großes Echo fanden76. In seiner „universalistischen“ Schule wurde die Zusammengehörigkeit von ständischer Gesellschaftsordnung und der überstaatlichen Ordnung des „Reichs“ betont: „Immer sind und bleiben die Stände – die Träger des sachlich-inhaltlichen Dezentralismus – und die Länder – die Träger des räumlich-geschichtlichen Föderalismus – Glieder des Reiches“77, schrieb Spanns Schüler Walter Heinrich in Rohans Zeitschrift. Das „Reich“ war in diesen Debatten, wie Rohans „Europa“ 1923, ästhetisierte Politik in Tradition eines romantischen Politikverständnisses in der deutschen Ideengeschichte. „Bei einigen nahm [es] die Farbe der katholischen Kirche und Habsburgs an; andere wurden patriotisch, preußisch, national“. Rohan zählte zu den Erstgenannten. Obwohl er sich gegen ein modernes, säkulares Staatsverständnis wandte, war sein Reichs- wie Europabegriff bei aller Verklärung der Vergangenheit nicht restaurativ, sondern „revolutionär inspiriert, wenn auch im Sinn einer konservativen Revolution“78. Der Titel seiner Memoiren – Heimat Europa – verband in doppeldeutiger Weise das untergegangene Habsburgerreich mit dem Europabegriff. „Europa“ lag nicht (nur) in der Vergangenheit des multiethnischen, katholischen Reichs, sondern verwies auch in die Zukunft. In der Hoffnung auf eine Verwirklichung der „Reichsidee“ verfolgten Rohan und seine Autoren die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich vorsichtig optimistisch. Von ihnen meinte man, das geforderte deutsche Europaprogramm „im Rahmen eines gesamteuropäischen, reichisch-abendländischen Kulturbewußtseins“ erwarten zu dürfen79. Hitler fand als Revisionspolitiker Beifall. Man blieb aber sichtlich bemüht, die Machtansprüche der neuen deutschen Staatsführung in einen gesamteuropäischen Kontext zu stellen: „Das andere Europa hebt sein Haupt“, 75

Karl Anton ROHAN, Österreichs politische Aufgabe in Europa (1928), in: DERS., Umbruch der Zeit (wie Anm. 7), S. 153–156, hier: S. 155. 76 Walter WILTSCHEGG, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung?, München 1985, S. 310. 77 Walter HEINRICH, Zentralismus, Föderalismus und Minderheitenfrage. Deutschrechtliche Betrachtungen europäischer Probleme, in: Europäische Revue 5 (1929), S. 231–244, hier: S. 243 f. 78 Rüdiger SAFRANSKI, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 175. 79 N. N., Die Aufgabe der Europäischen Revue im neuen Deutschland, in: Europäische Revue 9 (1933), Einlageblatt o. S.

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verkündete Rohan 1934: In ihm führen der Nationalsozialismus und der Fascismus, ihm gehören zu die revisionistischen Völker, vor allem die ungarische und bulgarische Nation, aber auch ebenso die vielen Millionen der vom Gewaltfrieden unterdrückten Minderheiten und in allen Völkern Einzelne und Gruppen, die von echter Friedenssehnsucht und Sinn für die wahre Gerechtigkeit getragen die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes erkannt haben und sich zu einem jungen, männlichen Europa in neuer Ordnung bekennen80.

Im Spätsommer 1934 kam die publizistische „Reichsdebatte“ in Deutschland abrupt zum Erliegen. Sie war hauptsächlich von Katholiken geführt worden, deren publizistische Möglichkeiten sich infolge der vorangehenden Gleichschaltung der Presse, des beginnenden Kirchenkampfs der Nationalsozialisten und der politischen Ausschaltung Franz von Papens drastisch verschlechtert hatten81. Der Nationalsozialismus und das „österreichische Problem“ Rohans habsburgisch-katholisch geprägter Föderalismus war mit der nationalsozialistischen Ideologie in mehreren Punkten schwer vereinbar, in seinen ideologischen Grundlagen wie in den politischen Konsequenzen. Konfliktstoff ergab sich aus dem „österreichischen Problem“, der Frage nach einer kulturellen Identität Österreichs und der damit verbundenen Debatte um einen „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Nach dem Zerfall der Monarchie war die Aufgabe, den „Österreicher“ als einen besonderen nationalen Typus zu beschreiben und damit eine österreichische Nation zu definieren, dringlicher denn je82. Da Österreich mit dem „Anschlussverbot“ in den Friedensverträgen von Versailles und Saint-Germain 1919/1920 aus den Fängen „reichsdeutscher“ Großmachtphantasien entwunden schien und Wien als Hauptstadt des nicht mehr existierenden Vielvölkerreichs in Erinnerung blieb, schien das Land in den 1920er Jahren für europäische Verständigungsbemühungen ein guter Boden und Projektionsfläche zugleich. Rohan sah den „österreichischen Menschen“ als den besseren Deutschen, weil er sich als Proto-Europäer dem „nationalen Hader“ der umgebenden Nationen entzog und seine Version der „Reichsidee“ eine spezifisch europäische Dimension 80

Karl Anton ROHAN, Paneuropa und wir, in: Europäische Revue 10 (1934), S. 48–58, hier: S. 50. 81 BREUNING, Vision des Reiches (wie Anm. 74), S. 278 f. 82 Albert REITERER, Vom Scheitern eines politischen Entwurfes. „Der österreichische Mensch“ – ein konservatives Nationalprojekt der Zwischenkriegszeit, in: Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie) 30 (1986), S. 19–36.

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besitze. „Wir glauben, daß sie ewig ist und daß der Österreicher, dank seiner Begabung, seinem Temperament und seinen Aspirationen vor allen anderen Europäern zum Träger der Reichsidee berufen ist“83. Für Hofmannsthal war die „österreichische Idee“ geradezu gleichbedeutend mit der „Idee Europa“: Wer sagt ‚Österreich‘, der sagt ja: tausendjähriges Ringen um Europa, tausendjährige Sendung durch Europa, tausendjähriger Glaube an Europa. Für uns, die auf dem Boden zweier römischer Imperien hausend, Deutsche und Slawen und Lateiner, ein gemeinsames Geschick und Erbe zu tragen auserlesen [...]84. Denn: Österreich [...] ist ja doch selber ein Europa im Kleinen85.

Rohans metaphysisches Reich hatte viele historische Erscheinungsformen, darunter auch eine explizit „moderne Gestalt: [...] Wir ahnen sie schon am Horizont der Zukunft: Manches, was in Genf und Haag geschieht, wird als Baustein dienen können“86. Formen der internationalen Kooperation seit dem Ende des Weltkriegs schloss er prinzipiell nicht als ungeeignet aus. Auch die Realität des neuen Österreich hatte Rohan akzeptiert: „Wir haben in den letzten Jahren in Österreich einen gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß von ungeheurem Ausmaß erlebt [...]. Es gibt heute eine neue österreichische Gesellschaft“87. Wie viele andere katholische Konservative favorisierte Rohan für Österreich ein ständestaatliches Gesellschaftsmodell, in dem „Wirtschafts- und Berufsgruppen, als die entscheidenden Träger moderner Gesellschaftsentwicklung, neben den Vertretern der landschaftlich gegliederten Staatsbürger die Volksvertretung bilden“88. Trotz seines Engagements auf internationaler Bühne wollte Rohan in der jungen Republik Österreich als innenpolitischer Akteur wahrgenommen werden und bemühte sich Ende der 1920er Jahre, „nicht internationalculturlich, sondern heimpolitisch hervorzutreten“89. 1929 gründete Rohan eine neue Zeitschrift, Das Neue Österreich, die aber nur zwei Jahre bestand90. Im selben Jahr entstand mit Unterstützung seiner alten Förderer Seipel und Meinl der Österreichische Klub als Ort für überparteilichen Ideenaustausch. 83 Karl Anton ROHAN, Österreichs politische Aufgabe in Europa (1928), in: DERS., Umbruch der Zeit (wie Anm. 7), S. 153–156, hier: S. 155; Hervorhebung im Original. 84 Zitiert bei Viktor SUCHY, Die „österreichische Idee“ bei Hofmannsthal, Schaukal und Wildgans, in: Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur, hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Wien 1977, S. 21–43; hier: S. 26. 85 Zitiert bei ARENS, Hofmannsthal’s Essays (wie Anm. 52), S. 186. 86 ROHAN, Österreichs politische Aufgabe (wie Anm. 83), S. 155. 87 Karl Anton ROHAN, Eröffnungsrede im „Österreichischen Klub“ (1929), in: DERS., Umbruch der Zeit (wie Anm. 7), S. 156–157, hier: S. 157. 88 Karl Anton ROHAN, Hinein in den Staat, in: DERS., Umbruch der Zeit (wie Anm. 7), S. 161–164, hier: S. 162; Hervorhebung im Original. 89 Karl Anton ROHAN an Paul von Thun-Hohenstein, 8.11.1929; Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach; Nachlass Paul von Thun-Hohenstein, 92.19.189. 90 MÜLLER, Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm. 5), S. 401 f.

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Rohan übertrug schlichtweg seine Konzepte in der Arbeit für die europäische Verständigung auf Österreich. Ende der 1920er Jahre spitzte sich die innenpolitische Lage in Österreich zu. Zusammenstöße zwischen sozialdemokratischen Verbänden und der seit 1927 aktiven Heimwehr-Bewegung schürten die Angst vor einem Bürgerkrieg91. Über die Gruppe um Spann und Heinrich kam Rohan in Kontakt mit der Heimwehr-Bewegung, in der er Anlagen seines konservativrevolutionären Europabildes zu finden glaubte: Ursprünglich vom Besitz her gegen [...] den Terror der Linken entstanden, hat sie sich [...] über allen Partikularismus hinweg zu einer allgemein österreichischen Bewegung entwickelt, die mit starkem Idealismus uns ebenso begeistertem wie ernstem Heimatspatriotismus einen neuen Staatsgedanken organischer Gesellschaftsordnung vertritt. Ähnlich wie seinerzeit beim italienischen Fascismus sind Menschen, Charakter, Mut und Opferfreudigkeit früher da als ein deutliches Programm und eine geistig bestimmte Orientierung92.

Mit der innenpolitischen Umgestaltung Österreichs im Zeichen des „Ständestaats“ verschlechtern sich 1934 die Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland in Bezug auf die „Anschlussfrage“, zudem verschärfte sich die ideologische Auseinandersetzung. Rohan trat 193593 – vielleicht auch schon 193394 – in die in Österreich illegale NSDAP und SA ein, repräsentativ für eine „gewisse katholische Schicht [...], die damals bestrebt war, einen Ausgleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland herbeizuführen“95. Das Lavieren zwischen den Positionen hinterließ bei den Beobachtern ein unklares Bild: Während er in der österreichischen Presse als „Schönwettermacher für den Anschluß“96 galt, betonte er selbst, „dass er für die Unabhängigkeit Österreichs eintritt“, formulierte aber vage, dass „Oesterreich [...] in engstem Einvernehmen mit Deutschland vorgehen und eine ‚auf dem Willen der Mehrheit’ basierende Regierung haben“ solle97. 91

WILTSCHEGG, Die Heimwehr (wie Anm. 76), S. 38–44 und S. 48–50. Karl Anton ROHAN, Österreichs Schicksalsfrage, in: Europäische Revue 5 (1929), S. 133–136, hier: S. 134. 93 MÜLLER, Traum des Reiches (wie Anm. 49), S. 178. 94 CURTIUS, Deutsche und antike Welt (wie Anm. 32), S. 380. 95 Eidesstattliche Erklärung vom 10. Oktober 1945 von Dr. Wilhelm Höttl, SS-Sturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt über SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann; Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DOEW), Sign. 5051, S. 4. 96 Artikel „Philipp Schoeller und Karl Rohan enthaftet“, in: Neues Österreich 3 (1947), 2. Juli 1947; DOEW Sign. 22043/1E, Nachlass Dr. Erich Bielka Karltreu. 97 Bericht der Österreichischen Gesandtschaft London an Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Dr. Guido Schmidt; London, 18.6.1937; Österreichisches Staatsarchiv (OeSta); Archiv der Republik (AdR); Politische Akten des Bundeskanzleramtes. Auswärtige Angelegenheiten, 1918–1938 (Neues Politisches Archiv; NPA), K. 417: Liasse Personalia / Geheim: Rohan, Prinz Karl Anton, p. 15. 92

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„In Österreich“ wollte Rohan „einen anderen Nationalsozialismus durchführen und die Fehler des deutschen, vor allem den Kampf gegen die Kirchen, vermeiden“, schreibt Ludwig Curtius98. In dem Buch Schicksalsstunde Europas (1937) versuchte Rohan, Nationalsozialismus und Katholizismus ideologisch zusammenzuführen, indem er die Machtergreifung Hitlers von einem föderalistisch-katholischen Standpunkt aus interpretierte. Er stützte sich dabei auf den von Nationalsozialisten wie Konservativen Revolutionären benutzten Begriff der „Volksgemeinschaft“: Wie die endliche Erfüllung einer alten Sehnsucht, wie die in höchster und gleichzeitig ekstatischster Weihe vollzogene Entsühnung von jahrhundertealter Schuld der Zwietracht, wie ein brüderliches Sichfinden, das endlich in diesem Volk der stärksten, hartnäckigsten Kasten- und Klassenvorurteile alle Schranken durchbrach, so zog in festlichstem Gewande die Revolution auf einer echten Welle innerer Befreiung in das deutsche Volk ein99.

Der versöhnende Charakter dieser „Revolution“ mache die deutsche Volksgemeinschaft zu einer „neuen europagültigen Lebensform des 20. Jahrhunderts“100 – was bislang allein dem Österreicher vorbehalten war. In ideologischen Kernfragen stimmte Rohan der nationalsozialistischen Ideologie vorderhand zu, erkannte die Rassenlehre an und bekräftigte die notwendige „Dissimilation“101 von Juden und deutscher Volksgemeinschaft. Sein Versuch eines Brückenbaus zwischen Nationalsozialismus und Christentum lag in der Einordnung und Interpretation dieser Elemente. Für Rohan war die „rassegebundene Volkstumsidee“ nur der „Ausgangspunkt für den Kampf Europas um die Erhaltung der Persönlichkeit als dem eigentlichen Daseinssinn seiner Kultur gegen die drohende Vermassung des Kollektivismus“102. In der plakativen Ablehnung von Demokratie und Moderne war man sich einig, und dass eine Weltanschauung „nicht auf den Gedanken der Majorität, sondern auf dem der Persönlichkeit“ aufbauen sollte, konnte Rohan direkt aus Mein Kampf zitieren103. Den Nationalsozialismus präsentierte Rohan wie zuvor „Europa“ und das „Reich“ als Weltanschauung mit moralischem Anspruch, „in seiner grundsätzlichen Unterscheidung zwischen echtem Recht und Unrecht [....]“104. Nur so fand er einen Ansatzpunkt für seine christliche Moralität, die er gegen andere Elemente der Ideologie geltend machen wollte: 98

CURTIUS, Deutsche und antike Welt (wie Anm. 32), S. 380. Karl Anton ROHAN, Schicksalsstunde Europas. Erkenntnisse und Bekenntnisse, Wirklichkeiten und Möglichkeiten, Graz 1937, S. 326. 100 ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 325. 101 ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 343. 102 ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 352 f. 103 ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 354. 104 ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 411. 99

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Dem christlichen Bewußtsein erscheint allerdings jede Verabsolutierung einer Idee als eine Gleichgewichtsstörung der ewigen Werteordnung. [...] Wenn [...] das Blut zum Alleinherrscher, zum Alpha und Omega des Lebens gemacht werden sollte, wenn Rassevolksgemeinschaft, absolut gesetzt, vergottet würde, dann müßte der Christ, wie gegen alle Übertreibung, allen Radikalismus aus seiner gleichgewichtigen Schau, die auf dem Wissen um die ewigen Gesetze des Lebens fußt, seine Vorbehalte machen [...]105.

Sein Adelskonzept versuchte er ebenfalls in die NS-Gedankenwelt zu integrieren: „Unsere Aufgaben kennen wir nicht vor allem durch das Gehirn: wir spüren sie im Instinkt. [...] Wir glauben an diese neue Welt, an [...] ein Europa der in den Nationen gebundenen und von ihnen getragenen Persönlichkeiten; also recht eigentlich an das ewige Europa“. Durch die Verortung der Moderne in Übersee konnte Rohan der nationalsozialistischen Gesellschaftsform, der „Militarisierung alles Lebens“, eine europäische Mission zuschreiben: „Europa hat nach der Auszehrung durch das 19. Jahrhundert nicht mehr genug Reserven, um ohne derart strenge Lebensformen der gegenkolonisatorischen Überfremdung widerstehen zu können. Gerade die Rettung des Erbguts verlangt diesen Radikalismus“106. Den NS-Behörden galten solche Kompromissversuche nicht viel. Der sich selbst als Vermittler verstehende Rohan galt als wankelmütig, als „Hansdampf in allen Gassen und keineswegs absolut zuverlässig“107. 1938 soll seine Inhaftierung und Verbringung in ein Konzentrationslager geplant worden sein, was er selbst als Reaktion auf Schicksalsstunde Europas deutete108. Wahrscheinlicher ist, dass er im Zuge des Vorgehens gegen den Kreis um Othmar Spann nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 ins Visier der nationalsozialistischen Behörden geriet. „Der Kern [der Lehre Spanns] ist die universalistische Weltanschauung, die mehrfach im Gegensatz zum Nationalsozialismus steht. Insbesondere seine Verherrlichung der Theokratie und seine Ablehnung der nationalsozialistischen Rasselehre betonen den scharfen Gegensatz zu unserer Idee“109, urteilte das Gaugericht des Gaues Steiermark Anfang 1939. Damit waren genau jene Punkte genannt, an denen Rohan seinen intellektuellen Spagat anzusetzen gedachte. 105

ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 352. ROHAN, Schicksalsstunde Europas (wie Anm. 99), S. 429. 107 Undatierte Stellungnahme des Gesandten Altenburg im Auswärtigen Amt auf Anfrage der Dienststelle des Beauftragten der NSDAP für auswärtige Fragen im Stabe des Stellvertreters des Führers, Büttner, 21.4.1939; Akten der Parteikanzlei (wie Anm. 70), T. 2, Bd. 2, Bl. 203 00716. 108 ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 302 f. 109 Urteil des Gaugerichts des Gaues Steiermark der NSDAP vom 20.1.1939; Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) (ehem. BDC), PK, Spann, Othmar, 1.10.1878; Vgl. die ausführliche parteiamtliche Broschüre Der Spannkreis. Gefahren und Auswirkungen. Ende Mai 1936; DOEW Sign. 21478. 106

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Abschied vom eigenen Werk Sein Lavieren kostete Rohan ab Mitte der 1930er Jahre seine Reputation als Redner und Publizist im europäischen Ausland. In Ungarn galt er ab 1934 als Prediger des Anschlusses und eines großdeutschen Mitteleuropa. Seine Artikel wurden entweder nicht mehr zur Publikation angenommen110 oder öffentlich von früheren Parteigängern scharf kritisiert111. Vortragsreisen nach Bulgarien (1935112) und England (1937113) wurden zu glatten Misserfolgen. Eine gewissen Naivität im Umgang mit den nationalsozialistischen Behörden und deren technokratischen Eliten erleichterte es diesen, Rohan die Kontrolle über den Verband für Kulturelle Zusammenarbeit und die Europäische Revue zu entwinden. Dabei wiederholte sich das vergebliche Ringen um einen ideologischen Ausgleich auf institutioneller Ebene. 1934 brauchte Rohan neue Finanzquellen und einen neuen Verlag für seine Zeitschrift. Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wurde neuer Hauptfinancier, vermittelte zunächst Gelder des Werberats der deutschen Wirtschaft und stellte später, von Goebbels persönlich bewilligt, sogar Mittel aus dem Ministeriumsetat selbst zur Verfügung – die bis zu drei Viertel des Haushalts der Zeitschrift ausmachten114. Als Ergebnis der „gemeinsamen Bemühungen“ um einen Verlag für die Europäische Revue erschien diese ab Januar 1934 bei der zum Presseimperium um den Münchner Eher Verlag, dem Zentralparteiverlag der NSDAP gehörenden Deutschen Verlagsanstalt (DVA)115. Mit einer Fangklausel im Vertrag erlangten Verlag und Ministerium schließlich die Kontrolle über die Zeitschrift: „Eine Kündigung seitens des Prinzen Rohan [kann] nicht erfolgen [...], wenn der Nachweis in irgendeiner Form erbracht werden kann, dass die Zeitung auch weiterhin finanziell gesichert ist“116. Und das Ministerium zahlte. Den 110

József Balogh an István Bethlen; Budapest, 9.3.1934; Handschriftenarchiv der Széchenyi-Nationalibibliothek Budapest (OSZKK), Fond 7, 187 Bethlen István, /63/. 111 „Stellungnahme des Abg. Graf Georg Apponyi gegen den Artikel des Prinzen Karl Anton Rohan“; Österreichische Gesandtschaft Budapest an das Bundeskanzleramt Wien; Budapest, 24.3.1934; OeSta, AdR, NPA, K. 455: Liasse Personalia / Rohan, Prinz Karl Anton. 112 Österreichische Gesandtschaft Sofia an das Bundeskanzleramt Wien; Sofia, 12.6.1935; OeSta, AdR, NPA, K. 455: Liasse Personalia / Rohan, Prinz Karl Anton. 113 Bericht der Österreichischen Gesandtschaft London (wie Anm. 97). 114 Entscheidungsvorlage für den Reichsminister vom 19.12.1939; BArch, R 55/550, Bl. 71–74; Interner Vermerk vom 9.10.1939; BArch, R 55/550, Bl. 70; Entwurf eines Schreibens des Reichsministeriums an die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, Zweigstelle Berlin vom 20.3.1942; BArch R 55/550, Bl. 81. 115 Karl Anton ROHAN an Hans Hinkel vom 29.1.1934; BArch (ehem. BDC), RSK, Rohan, Karl Anton, 9.1.1898; Vgl. Jan-Pieter BARBIAN, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, Frankfurt 1993, S. 303. 116 Bade an Staatssekretär Hinkel, 29.3.1935; BArch R 55/356, Bl. 40.

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finanziellen Segen hatte die Europäische Revue dem Kalkül Goebbels’ zu verdanken, der sich von der Europäischen Revue eine „unauffällige Propaganda, vorwiegend im Ausland“ erhoffte: Es gibt gegenwärtig in Deutschland und in deutscher Sprache keine außenpolitische Zeitschrift, die nach außen hin über so viel Unabhängigkeit verfügt und die auch so viel innerliche Freiheit besitzt wie die ‚Europäische Revue’. Während allen übrigen Organen ähnlicher Art die Gleichschaltung an die Stirn geschrieben ist, wird bei der ‚Europäischen Revue’ nur der bis in alle Einzelheiten orientierte Leser eine gewisse Anpassung an die politische Gesamtsituation in Deutschland verspüren: Für weniger feine Augen wird die ‚Europäische Revue’ heute dasselbe sein wie vor Jahren. [...] Je unauffälliger die Zeitschrift als Propagandaorgan eingesetzt wird, umso nützlichere Arbeit kann die ‚Europäische Revue’ leisten, sowohl in politischer als auch in allgemein kultureller Beziehung117.

Auch wenn Rohan in seinem Umgang mit den NS-Behörden weiterhin selbstbewusst auftrat: Daran, wer ab 1934 über die Geschicke der Europäischen Revue und des Kulturbundes bestimmte, bestand kein Zweifel. 1936 überraschte die Europäische Revue den Leser mit dem unauffälligen Vermerk im Impressum, dass „Karl Anton Prinz Rohan [...] als Herausgeber auf eigenen Wunsch ausgeschieden“ sei118. 1934 zerfiel der Verband für kulturelle Zusammenarbeit. Der Streit über die Nominierung István Bethlens als Redner auf dem geplanten Kongress in Budapest führte zum Austritt der tschechischen Gruppe119. Dafür, dass dies zur Auflösung des europäischen Dachverbands führen konnte, musste dieser gegenüber den aktiven 1920er Jahren bereits viel an Kraft verloren haben. Die nationalen Sektionen kämpften mit erheblichen finanziellen Problemen120. Aktive Organisationen existierten in der Folge nur noch in Österreich (bis 1938121) und in Ungarn (bis mindestens 1937122). Der Deutsche Kulturbund wurde ähnlich wie die Europäische Revue verdeckt gleichgeschaltet. Lily von Schnitzler schrieb dem Präsidenten der 117

Zitiert nach MÜLLER, Traum des Reiches (wie Anm.49), S. 177 f. Europäische Revue 12 (1936), Heft 7, Juli 1936, o. S. (Impressum). 119 ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 60. Der ehemalige Ministerpräsident Bethlen war als Publizist und Redner auch weiterhin von der Notwendigkeit einer Revision der Pariser Vorortverträge zu Ungarns Gunsten überzeugt, was ihn besonders in der Tschechoslowakei nicht für einen akzeptablen Gesprächspartner gelten ließ. 120 ROHAN, Werdegang in der Öffentlichkeit (wie Anm. 70); Anlage zu einem Schreiben des Gauleiters Jury an Außenminister von Ribbentrop vom 14.4.1939, in: Akten der Parteikanzlei (wie Anm. 70), T. 2, Bd. 2, Bl. 203 00723. 121 Dr. Aurel Wolfram an Ministerialdirigent Dr. Karl Ott, 10.11.1938; BArch R 55 / 698, Bl 72. 122 Hans von HAMMERSTEIN-EQUORD, Begrüßungsworte, in: Fünfzehn Jahre Kulturbund. Festrede, gehalten am 6. November 1937 von Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg, Wien 1937, S. 3–7, hier: S. 4. 118

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Reichskulturkammer Hans Hinkel, man sei „beiderseits übereingekommen, dass die Tätigkeit des Deutschen Kulturbundes nach dem Ausland hin nur dann im Sinn des neuen Deutschland Interesse haben kann, wenn sie von den hiesigen politischen Ereignissen nach Aussen nicht berührt wird, und damit das Vertrauen in unsere Objektivität erhalten bleibt“123. Im Sinn von Goebbels’ Camouflage-Strategie wurden Verband und Zeitschrift nach Außen nicht von Parteisoldaten, sondern von bekannten Namen aus den alten, rechtskonservativen Eliten repräsentiert, die das konservativ-intellektuelle Publikum weiterhin ansprechen sollten. Der Deutschnationale Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven wurde Herausgeber der Europäischen Revue, die Leitung des Deutsch-Europäischen Kulturbundes übernahm der Industrielle Emil Georg von Stauss124. Der Kulturbund wurde noch im selben Jahr als „besondere Kulturabteilung“ dem Deutschen Ausland-Club angegliedert, einer Werbeorganisation der deutschen Wirtschaft. Die Europäische Revue wurde den Mitgliedern als Vereinszeitschrift zugesandt125. Der Zweite Weltkrieg: Neue Rollen und politische Diskreditierung Rohan gelang es trotz vieler Anpassungen weder auf intellektueller noch auf institutioneller Ebene, seine Initiativen und Europavorstellungen der frühen 1920er Jahre in den neuen herrschenden Diskurs einzubinden. Im Gegensatz zu Coudenhove-Kalergi klammerte er sich nicht an sein Werk. Stattdessen erprobte er neue Rollen im neuen Machtsystem. Er fungierte nach 1936 als „Berater für Landwirtschaft und Presse“ bei der IG Farben und versuchte, sich als Agrar- und Südosteuropaexperte einen Namen zu machen. 1937 schrieb er eine agrarwissenschaftliche Abhandlung über Bulgarien, fand aber keinen Verlag für das Manuskript126. 1939 bemühte er sich um einen Posten im deutschen auswärtigen Dienst, wurde aber abgelehnt. Es sei zwar „bei der politischen Einstellung Rohans eine nationale Grundlinie nicht zu verkennen“, urteilte das Auswärtige Amt, doch spreche mangelnde ideologische Zuverlässigkeit gegen sein Gesuch. „Auch lässt ihn seine weiche und unbestimmte Art des Auftretens wenig ge123

Lily von Schnitzler-Malinckrodt an Hans Hinkel, 28.6.1933; BArch, R 56 I / 84, Bl. 109-111, Zitat Bl. 109. 124 Joachim Moras an Hans Hinkel, 4.7.1933; BArch R 56 I / 83, Bl. 101–103. 125 N.N., Deutscher Ausland-Club. Seine Geschichte und seine Aufgaben. Berlin o. J. [1936]; Vgl. HAMMERSTEIN-EQUORD, Begrüßungsworte (wie Anm. 122), S. 4 und S. 10. 126 Gustav Petzold an Karl Anton Rohan, 18.3.1937; DLA Marbach; Bestand LangenMüller-Verlag; Teilbestand Karl Anton Rohan, HS000122095; Karl Anton Rohan an Gustav Petzold, 24.3.1937; Ebd., HS000122086.

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eignet als Vertreter des Dritten Reichs im Auslande erscheinen“127. Eigenschaften, die Rohans Auftreten in den Salons in Paris, Frankfurt oder Wien in den 1920er Jahren ausgezeichnet hatten, gerieten ihm hier zum Nachteil. So blieb seine Tätigkeit unfreiwillig auf Aktivitäten jenseits der amtlichen Politik beschränkt. Da Rohan 1933 die älteste Tochter des ungarischen Staatsmanns Graf Albert Apponyi geheiratet hatte128, verfügte er „über erstklassige Verbindungen in Ungarn“129, beriet damit den Leiter der IGF-Zentralfinanzdirektion Max Ilgner auf den Tagungen des Mittel-europäischen Wirtschaftstags, und fungierte als Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft in Wien130. Daneben betrieb er ab 1936 „politische Agententätigkeit“ für die NSDAP-Landesleitung Niederdonau131 und während des Krieges für Ernst Kaltenbrunner, der bis zur Ermordung Heydrichs als SS- und Polizeiführer in Wien tätig war und ab 1942 das Reichssicherheitshauptamt leitete132. Vermutlich aus diesem Grund wurde Rohan 1945/46 von den amerikanischen Militärbehörden inhaftiert und 1947 aus gesundheitlichen Gründen entlassen133. Danach publizierte er nur noch in überschaubarem Ausmaße und unterhielt gute Beziehungen zu sudetendeutschen Organisationen und Zeitschriften134. Rohan lebte zurückgezogen in Salzburg, wo er 1975 starb. Europa und die Politik Rohan selbst sah sein Wirken „sozusagen am Rand der großen Politik“135, in der unverbindlichen Grauzone zwischen Intellektualität und politischem Engagement. Während sein Konkurrent Coudenhove-Kalergi heute als „Botschafter Europas“ ausdrücklich in eine Traditionslinie des demokratischföderalen Europa gestellt wird136, ist Rohans geistige Biografie für die 127

Stellungnahme des Gesandten Altenburg (wie Anm. 107). Rohan hatte Apponyi 1925 über den Grafen Keyserling in Darmstadt kennen gelernt. Im Februar 1933 verfasst Rohan den Nachruf in der Europäischen Revue. Vgl. Karl Anton ROHAN, Schule der Weisheit in Darmstadt, in: Europäische Revue 2 (1925/26), S. 127; Karl Anton ROHAN, Albert Apponyi †, in: Europäische Revue 9 (1933), S. 177–178. 129 Erklärung Max Ilgners, in: Richard SASULY, IG Farben, Berlin [Ost] 1952, S. 337. 130 Gliederung der Südosteuropa-Gesellschaft; o. D. [1937]; DOEW, Sign. 21488/23 A, S. 1–8. 131 Stellungnahme des Gesandten Altenburg (wie Anm. 107), Bl. 203 00725. 132 Erklärung Max Ilgners (wie Anm. 129), S. 337. 133 ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 314 f.; Artikel „Philipp Schoeller und Karl Rohan enthaftet“ (wie Anm. 96). 134 Vgl. Albert Karl SIMON, Karl Anton Prinz Rohan zum 70. Geburtstag, in: Sudetenland 10 (1968), S. 46–49; DERS., Karl Anton Prinz Rohan, in: Sudetenland 16 (1974), S. 200– 204. 135 ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 59. 136 ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Botschafter Europas (wie Anm. 3), S. 13. 128

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Ahnengalerie der europäischen Einigung ungeeignet. Seine (vielleicht sehr naive) Nähe zum Nationalsozialismus hat ihn politisch diskreditiert, während die klerikale Seite seines Europaverständnisses heute irritieren muss – er bezeichnete sich selbst als „Pilger Europas“137. Für Rohans Europabegriff gilt, was über Hofmannsthal gesagt wurde: „His Europe is not a political nation, but rather a cultural heritage that can turn the masses back into people“138 – Europa als Heilmittel gegen die Wunden der Moderne. Den Weg zu diesem Europa sollte ihm das Ideengut der Konservativen Revolution weisen, die den Parlamentarismus und den weltlichen Nationalstaat als überkommenes Erbe des 19. Jahrhunderts ablehnte, stattdessen auf Revolution und geistige Erneuerung setzte. Doch die Einigung des Kontinents erfolgte ab 1957 über den mühsamen Weg von Verhandlungen, Verträgen und Parlamentsdebatten.

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ROHAN, Heimat Europa (wie Anm. 8), S. 56. ARENS, Hofmannsthal’s Essays (wie Anm. 52), S. 186.

Zwischen Freiheitstopoi und Antikommunismus: Ordnungsentwürfe für Europa im Spiegel der polnischen Zeitung Przymierze Von

Zaur Gasimov Ähnlich wie für Gesamteuropa war das Jahr 1918 auch für Polen von nachhaltiger Bedeutung. Es brachte das Ende des Ersten Weltkriegs und die Rückkehr Polens auf die politische Karte Europas, während die mitteleuropäischen Imperien nicht überlebten. „Der vergangene Krieg brachte eine großartige Frucht und unternahm einen Riesenschritt in Richtung eines Dauerfriedens als Folge der Befreiung kleinerer Völker und der Entstehung der Nationalstaaten“1, kommentierte der polnische Publizist Włodzimierz Wakar diese Entwicklungen. Im November 1918 wurde die polnische Unabhängigkeit, die von den Entente-Mächten und vor allem vom US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson favorisiert wurde, ausgerufen. Ähnlich wie die baltischen Staaten und die Tschechoslowakei sowie die im Mai 1918 unabhängig gewordenen Republiken im Kaukasus war das ‚neue‘ Polen multinational und -konfessionell und befand sich in einem schwierigen Staats- und Nationswerdungsprozess, der einerseits vom Freiheitsgedanken und andererseits von einer tiefen Aversion gegenüber den Teilungsmächten (Preußen, Österreich und Russland) geprägt war. Diese Staaten waren „Völkerkerker2 und erst der Weltkrieg eröffnete die Tore dieses Kerkers“3, schrieb der polnische Politiker Tadeusz Hołówko im Januar 1921. Dabei propagierte der Großteil der polnischen Intellektuellen weder russo- noch germanophobe Ideen. „Man soll nicht die Völker vernichten: weder die Deutschen noch die Russen noch die Völker der Habsburger. Vernichtet werden sollen das System, […] der Geist!“, lautete es im pathosreichen Manifest des polnischen Volks an die Völker der freien Bürger, welches am 16. Dezember 1918 in der Warschauer sozialistischen Zeitschrift Polska abgedruckt wurde4. Wie fast überall in Mittelosteuropa waren die neuen Staatsgrenzen der Länder umstritten und die Gesellschaften zutiefst gespalten. Die polnischen Eliten und Intel1

W., Konstytucja bolszewicka, in: Przymierze 22.8.1920, S. 10. Interessant ist die Tatsache, dass der Antikommunist Hołówko den Begriff verwendet, den die Bolschewiki und vor allem Lenin in Bezug auf das Zarenreich anwandten. 3 Tadeusz HOŁÓWKO, Nowe Życie, in: Przymierze 30.1.1921, S. 1. 4 Dieser Text, der aus den Federn eines der Herausgeber der Zeitung Przymierze, A. B. Dobrowolski stammte, wurde am 22.8.1920 auch in Przymierze abgedruckt. Vgl. Manifest Narodu Polskiego do Narodów Wolnych Obywateli, in: Przymierze 22.8.1920, S. 3–7. 2

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lektuellen bemühten sich, diesen Herausforderungen gerecht zu werden: Polen sollte sich innen- und außenpolitisch stärken und die ethnisch, religiös und kulturell heterogene postkoloniale Gesellschaft zusammenschweißen. Noch aktueller schien diese Aufgabe 1919 zu sein, als der polnischsowjetische Krieg (1919–1921) ausbrach, und vor allem 1920, als die polnische Armee dank des so genannten „Wunders an der Weichsel“ (August 1920) die Bolschewiki vor Warschau zurückschlagen und die kurz zuvor gewonnene Unabhängigkeit verteidigen konnte. Obwohl Polen die Unabhängigkeit erwarb und die bolschewistische Expansion verhindern konnte, so war – wie dies in Przymierze formuliert wurde – „die polnische Seele […] unruhig“5: Wie lange kann Polen unabhängig bleiben? Wie soll man die Souveränität des polnischen Staats und seine Grenzen in Nachkriegseuropa sichern? Wie kann Polen der expandierenden „roten Gefahr“ im Osten Widerstand leisten? Wie sollen die Beziehungen Polens zu seinen Nachbarn aussehen, auf welchen Grundlagen sollten die polnische Europa-, Osteuropaund internationale Politik beruhen? Und schließlich: wie soll das neue Nachkriegseuropa gestaltet und organisiert werden? Antworten auf diese Fragen zu geben, machten sich die Intellektuellen um Włodzimierz Wakar, der im August 1920 in Warschau die Wochenzeitung Przymierze (Allianz)6 gründete und sie gemeinsam mit Aleksandr Bogusławski und Antoni Bolesław Dobrowolski herausgab, zur Aufgabe. Mit Stanisław Siedlecki, der 1922–27 sowie 1935–38 wichtige Ämter im polnischen Parlament bekleidete, erhielt Przymierze einen politisch bedeutenden Redakteur. Przymierze existierte von 1920 bis 1921 und war das Presseorgan des Verbandes für die Annäherung der unabhängig gewordenen Völker (Związek zbliżenia narodów odrodzonych), einer Organisation, die in der Tradition der polnischen politischen Ideengeschichte stand und ideologisch die allgemeine Russlandskepsis mit Antibolschewismus und Freiheitsgedanken verband. Diese Organisation knüpfte Kontakte zu den in Polen lebenden Vertretern der Völker des ehemaligen Zarenreichs sowie zu den Intellektuellen in den neu entstandenen Staaten in Mittelosteuropa, im Baltikum und in Ungarn, d. h. in den Ländern, die in der Projektion der Ordnungsentwürfe7 für Nachkriegseuropa eine Schlüsselrolle spielen sollten. 5

Włodzimierz WAKAR, Z czem idziemy?, in: Przymierze 3.10.1920, S. 1. Die erste Ausgabe war in den polnischen Kiosken am 15.8.1920 zu kaufen. Przymierze erschien auf Polnisch. Ab der 8. Ausgabe (3.11.1920) wurde zu jedem Heft ein französischsprachiges Inhaltsverzeichnis angehängt. Das war mit dem Wunsch der polnischen Intellektuellen verbunden, von der Öffentlichkeit des nächsten Verbündeten Polens in Westeuropa registriert zu werden. 7 Unter Ordnungsentwürfen werden hier bestimmte Organisationsvorstellungen, die in den intellektuellen, öffentlichen, politischen und literarischen Diskursen entstanden und sich durch geoökonomische und -poetische, vor allem aber geopolitische und werteorientierte Elemente auszeichneten, verstanden. Ordnungsentwürfe sind diskursive (Selbst-) 6

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Das Autorenkollektiv von Przymierze Die Besetzung des Redaktionskollegiums und das Autorenkollektiv zeichneten sich durch Interdisziplinarität sowie Internationalität aus. Neben bekannten Publizisten wie Włodzimierz Wakar8 und Aleksandr Bogusławski, der oft unter dem Pseudonym Jan Młot9 schrieb, meldeten sich der prominente polnische Linguist J. Baudoin de Courtenay10, der Physiker und Naturforscher Antoni B. Dobrowolski11 sowie Politiker wie Tadeusz Hołówko12, Roman Wegnerowicz13, Zygmunt Zaremba14, Bronisław Siwik15, Ludwik Chomiński16 und Antoni Langer17 zu Wort. Außer der ukrainischen Intelli-

Organisationsformen, die in der Regel zukunftsorientiert sind, jedoch von historischen sowie gegenwartsbezogenen Begründungen untermauert werden. 8 Włodzimierz Wakar (1885–1933) war ein polnischer Wirtschaftswissenschaftler und ein Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung. 9 Jan Młot war ursprünglich das Pseudonym des polnisch-jüdischen Intellektuellen und Marxisten Szymon Dickstein (1858–1884), des Übersetzers des Marx‘schen Kapital ins Polnische. 10 Jan Ignacy Nieczysław Baudoin de Courtenay (1845–1929) studierte Linguistik in Berlin und Prag. Danach folgten Lehrtätigkeiten an den Universitäten in St. Petersburg, Kasan, Tartu, Krakau und seit 1919 in Warschau. 1922 beteiligte er sich an den Präsidentschaftswahlen, allerdings ohne Erfolg. 11 A. B. Dobrowolski leitete das 1920 dem Intellektuellenkreis um Przymierze entsprungene Komitee für die Annäherung der Unabhängigen Völker (Związek Zbliżenia Narodów Odrodzonych). In einem Interview für die belgische Zeitung L’Indépendance Belge benutzte Dobrowolski den Begriff Naher Osten Europas (bliski wschód Europy) in Bezug auf Finnland, die baltischen und die kaukasischen Staaten sowie Polen und die Tschechoslowakei. Vgl. Bliski wschód Europy, in: Przymierze 12.9.1921, S. 6–7. 12 Tadeusz Hołówko (1889–1931) stammte aus einer nach Sibirien verbannten polnischen Familie: er wurde in Semipalatinsk (heutiges Kasachstan) geboren. Im unabhängigen Polen konnte Hołówko zum Vizeminister für Propaganda aufsteigen. Er gehörte zum engsten Kreis um Marschall Piłsudski, trat für die polnisch-ukrainische Annäherung ein und gestaltete die prometeistische Außenpolitik Polens mit. 1931 wurde er von zwei ukrainischen Nationalisten erschossen. Detaillierter in der Monographie Iwo WERSCHLER, Z dziejów obozu belwederskiego. Tadeusz Hołówko – życie i działalność, Warschau 1984. 13 Roman Wegnerowicz war ein polnischer Diplomat. 14 Zygmunt Zaremba (1895–1967) war ein Aktivist der Polnischen Sozialistischen Partei. In den 1920er Jahren kandidierte er für den Sejm. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte Zaremba nach Frankreich, wo er seine publizistische Aktivität fortsetzte. 15 Bronisław Siwik (1876–1933) war ein Aktivist der sozialistischen Partei im russischen Teil Polens. Wegen seiner politischen Aktivität wurde Siwik in den Osten Russlands verbannt. Im unabhängigen Polen war Siwik im Arbeitsministerium tätig und schrieb oft für sozialistische Zeitungen. 16 Ludwik Chomiński (1890–1958) war ein polnischer Politiker. In den 1920er Jahren war er in der Politik sowie im Kulturleben im polnischen Wilna aktiv. 17 Antoni Langer (1888–1962) war ein polnischer Politiker und Sejm-Abgeordneter (1922– 1935).

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genzija (Mykola Voronyj18 u. a.) publizierten in Przymierze die Vertreter der kaukasischen politischen Emigration, wie der georgische Intellektuelle Sergiusz Kuriliszwili19 (S. Tajfuni), die aserbaidschanischen Exilpolitiker Adil-Khan Ziatkhan20, J. Kurzym21 u. a. Da Wakar, Hołówko und Siedlecki Aktivisten der von den polnischen Eliten mitinitiierten prometeistischen Bewegung – „un movement de réfugiés non russes d’URSS, né de l’échec des républiques indépendantes surgies dans l’empire lors de la révolution de 1917“22 – in Polen in der Zwischenkriegszeit waren, kann man Przymierze als Vorreiterin der 1926 in Paris gegründeten Zeitschrift Le Prométhée und der 1930 in Warschau gegründeten Zeitschrift Wschód-L’Orient23 betrachten, die ebenfalls antikommunistisch ausgerichtet waren und die (kon-) föderalistischen Pläne für Polen und Europa weiter entwickelten. Im Folgenden soll es um eine Analyse des Allianzgedankens, der bereits im Titel der Zeitung Przymierze (Allianz) einen festen Platz hatte, und der Ordnungsentwürfe für Europa gehen. Der geopolitische und der werteorientierte Aspekt der Ordnungsentwürfe für den europäischen Kontinent stehen im Fokus der Darstellung.

18 Mykola Voronyj (1871–1938) war ein ukrainischer Dichter, Literaturübersetzer und Schauspieler. Von 1920 an befand er sich im polnischen Exil, erst 1926 kehrte er in die Sowjetukraine zurück. In Przymierze veröffentlichte Voronyj (polonisiert: Woronyj) mehrere Beiträge zur Geschichte des ukrainischen Theaters, die die sowjetische (Kultur-) Politik in der Ukraine scharf kritisierten. Vgl. Mykoła WORONYJ, Ewolucja teatru ukraińskiego, in: Przymierze 31.10.1920, S. 6–8, Przymierze 7.11.1920, S. 12–14, Przymierze 14.11.1920, S. 12–14. 19 Sergiusz (Sergo) Kuriliszwili (1894–1925) war georgischer Architekt und Dichter. Seit 1918 befand er sich im polnischen Exil. 1920 wurde er zum Vorsitzenden des GeorgischPolnischen Klubs, einer Exilorganisation in Warschau, gewählt. 1921–23 gab er in Warschau mehrere politische Schriften über Georgien und die Sowjetisierung des Kaukasus sowie einen Gedichtband heraus. Detaillierter über die Aktivitäten Kuriliszwilis: Andrzej WOŹNIAK, Sergo Kuriliszwili, S. 43–44, sowie Sergo J. KURILISZWILI, Z rodzinnych wspomnień o Sergo Kuriliszwili, S. 45–46, in: Pro Georgia. Prace i materiały do dziejów stosunków gruzińsko-polskich, Warschau 1991. 20 Adil Khan Ziatkhan war ehemaliger stellvertretender Außenminister in der Regierung der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik (1918–1920), der sich infolge der Sowjetisierung Aserbaidschans am 28. April 1920 ins europäische Exil begab. 21 J. Kurzym war ein Vertreter der polnischen Minderheit in Aserbaidschan und Abgeordneter im aserbaidschanischen Parlament in Baku. Nach der sowjetischen Eroberung des Landes floh er nach Polen. 22 Etienne COPEAUX, Le Movement „Prométhéen“, in: Cahiers d’études sur la Méditerranée orientale et le monde turco-iranien 16 (1993), S. 9. 23 Vgl. Zaur GASIMOV, Der Antikommunismus in Polen im Spiegel der Vierteljahresschrift Wschód 1930–1939, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2011, S. 15–31.

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Allianzgedanke „Unsere Zeitung soll der großen Idee der Verständigung und der politischen Annäherung der sogenannten ‚neuen Völker‘24 dienen”, schrieb der Zeitungsgründer Wakar im gleichnamigen Leitartikel Przymierze im ersten Heft. Die Grenzkonflikte – ein für Polen im Jahr 1920 angesichts der angespannten Beziehungen zu Litauen, Deutschland und der Tschechoslowakei signifikantes Thema – sollten in der gesamten Region gelöst werden. Das bestehende Konfliktpotential sollte umgehend reduziert werden. Wichtiger sei es für Polen, seine kürzlich erworbene Souveränität zu schützen. Dafür sollte Polen seine Ostpolitik überdenken. Hierzu rief P. Ławrowski auf und wies darauf hin, dass „die Entstehung des polnischen Staats […] ein historischer Umbruch“ sei, „der zur Befreiung anderer Völker führen“ werde. Die Freiheit der anderen Völker sei mit der Freiheit Polens, das sich von der „russischdeutschen Knechtung“ befreite, aufs Engste verbunden25. Die polnische Führung soll Ławrowski zufolge konsequent das folgende Programm verfolgen: „Die sämtlichen Völker des Intermariums zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer (bałtycko-czarnomorskie międzymorze) und ihr Potential sollten um diese Idee konsolidiert werden. Man sollte nicht darauf warten, bis das große Russland sich erholt und die gesamte Region erneut erobert“26. Das Fehlen eines solchen Programms führte zu Problemen, die, so die Auffassung P. Ławrowskis, Polen in den 1920 deutlich verschlechterten Beziehungen zur Ukraine und vor allem zu Litauen hatte. Das polnische Verhältnis zu den unmittelbaren Nachbarn im Osten (Weißrussland, die Ukraine und Litauen) sei zu konfliktbeladen, beklagte sich Wakar. Polen sei noch nicht imstande gewesen, eine wahre Allianz um sich zu schaffen und sie ideologisch zu untermauern. „Wer wenn nicht Polen wäre imstande, beim jetzigen Chaos in der Welt ein wahres Programm der Erneuerung und die Idee einer neuen Ordnung (idea nowego ladu) zu lancieren?“, fragte sich Wakar in einem programmatischen Leitartikel Nauka klęski (Die Wissenschaft des Zwists). Seine Antwort lautete: „Das kann nur das Polen Modrzewskis27 und Zamoyskis28, der Bücher des polnischen Volks und der polnischen Pilger-

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Włodzimierz WAKAR, Przymierze, in: Przymierze 15.08.1920, S. 1. P. ŁAWROWSKI, Rewizja programu wschodniego, in: Przymierze 15.08.1920, S. 6. 26 ŁAWROWSKI, Rewizja programu (wie Anm. 25), S. 8. 27 Andrzej Modrzewski war ein polnischer Theologe und Gelehrter aus dem 16. Jahrhundert. Beeinflusst von der Reformation in Deutschland, schrieb er sein Meisterwerk De Republica emendanda. 28 Zamoyski (polnisch Zamoyscy) ist eines der angesehensten Adelshäuser in Polen. Seit dem 15. Jahrhundert findet man unter den Zamoyskis prominente Diplomaten, Wissenschaftler und Schriftsteller. 25

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schaft29 […] Polen ist eine internationale Angelegenheit, es ist ein Bindeglied Europas und ein Knotenpunkt seiner wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen“30. Polen sollte somit zu einem zentralen Kettenglied einer Allianz werden, die sich keineswegs nur auf die Staaten und Völker östlich von Polen zu beschränken hatte. Es sollte eine Allianz aller werden, die gegen die alte VorKriegs-Ordnung sowie gegen den Imperialismus waren. Ein eventuelles neues Aufleben der „aggressiven Natur“ Preußens, Russlands und Österreichs war aus polnischer Sicht eine der größten Gefahren für Europa. Besonders unterstrichen hat Wakar in diesem Kontext die Unterstützung der Freiheitsbestrebungen in Elsass und Lothringen sowie auf dem Balkan und in Italien, aber auch in Schleswig, Rumänien und Schweden. Erforderlich seien eine „gesellschaftliche Demokratisierung Europas“ und die „Umstrukturierung der europäischen Karte nach dem Nationalitätenprinzip“31. Dabei muss man sagen, dass der Schwerpunkt der Zeitung eindeutig auf DeutschlandMittelosteuropa-Russland lag, wenn sich auch einige Beiträge z. B. dem „Freiheitskampf Irlands“32 oder der „Frage Irland“33 widmeten. Der Allianzgedanke wurde vom Denkkollektiv der Zeitung Przymierze als ein Bestandteil der polnischen Ideengeschichte betrachtet und in einem Kontext mit dem Freiheitstopos begriffen. Ein Teil der polnischen Intellektuellenschicht, der sich über die fehlenden Freiheiten während der Teilungszeit beklagte, wies auf die Wichtigkeit einer intensiven Zusammenarbeit mit allen Nationen und Staaten hin, die 1918 entstanden waren, und den Nationalbewegungen, die sich die staatliche Unabhängigkeit als Ziel auf die Fahnen schrieben. Diese Schicksalsgemeinschaft, die Gemeinschaft der von Preußen, Österreich und vor allem von Russland unterdrückten Ethnien, sollte zu einer Allianz unter polnischer Führung werden. Das wurde vom Autorenkollektiv der Zeitung Przymierze befürwortet, das sich in ideologischer Nähe zu Marschall Józef Piłsudski34 und seiner innen- und außenpolitischen Vision35 und 29

Bücher des polnischen Volks und der polnischen Pilgerschaft war eines der Meisterwerke Adam Mickiewiczs. Das Buch wurde 1832, zwei Jahre nach der Zerschlagung des polnischen Aufstands, veröffentlicht und stellte u. a. eine literarische Untermauerung des polnischen Messianismus dar. 30 WAKAR, Nauka klęski, in: Przymierze 22.8.1920, S. 1. 31 WAKAR, Nauka klęski (wie Anm. 30), S. 2. 32 Vgl. J. D., Walka Irlandji o wolność, in: Przymierze 24.12.1920, S. 6–10. 33 Vgl. Sprawa Irlandzka, in: Przymierze 30.1.1921, S. 11–12. 34 Józef Piłsudski (1867–1935) vertrat das so genannte jagiellonische Modell, nach dem Polen mit seiner multinationalen und -konfessionellen Bevölkerung zu einer regionalen Macht in Ostmitteleuropa aufsteigen sollte. Dies sah eine enge Zusammenarbeit mit der Ukraine, Litauen, ferner Lettland und Estland vor. Im Gegensatz zu Roman Dmowski sollte die Integration der nichtpolnischen Minderheiten in den polnischen Staatsverband nicht mit Zwang erfolgen.

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dementsprechend in Opposition zur national-demokratischen Gruppierung (endecy) um den Politiker Roman Dmowski36 befand. Die Ordnungsentwürfe, denen man auf den Seiten der Zeitung begegnet, sind zum Teil Gegenentwürfe und Reaktionen darauf, was die Anhänger Dmowskis propagierten. Es handelte sich aber auch um die Reaktionen auf die revisionistischen Ordnungsentwürfe, die in den russischen Exilperiodika in Paris und im „russischen Oxford“37 – wie man Prag in der Zwischenkriegszeit bezeichnete – oder in der sowjetischen Parteipresse in Moskau und Kiew erschienen. Geopolitischer Ordnungsentwurf für Europa Geographie sorgte seit langem für Unruhe in der polnischen Gedankenwelt. „Die geographische Lage Polens ist noch beispielloser als die Lage Rumäniens oder Lettlands, denn unser Territorium liegt eingezwängt zwischen zwei spezifischen Staatsgebilden, deren Gesamtpotential auf Eroberung und Unterwerfung der fremden Völker beruht“38, schrieb Wakar im Leitartikel Gebot der Stunde. Die Zwischenlage zwischen Deutschland und Russland bzw. der Sowjetunion, mit denen Polen nicht nur die Teilungszeit assoziierte, prägte das (geo-)politische Denken der polnischen Eliten und Intellektuellen. Der polnisch-bolschewistische Krieg trug keinesfalls zur Verbesserung des Russlandbilds bei, und die Probleme mit der integrationsunwilligen deutschen Minderheit in den westpolnischen Gebieten, der ungeklärte Status von Danzig und eine aggressive Wirtschaftspolitik Preußens gegenüber Polen führten zur Verschlechterung des polnischen Deutschlandbilds. Auch die Gruppe um Przymierze begriff die gesamte Geschichte und Gegenwart Europas aus dieser Perspektive. „Die Eroberung Polens ermöglichte Preußen die Hegemonie in Deutschland, ermöglichte die Annexion Schleswigs und andere Expansi35

Über die außenpolitischen Visionen Piłsudskis siehe Kazimierz SOBCZAK, Koncepcja niepodległościowa Józefa Piłsudskiego, in: Wojskowy Przegląd Historyczny 1 (1989), S. 61–79. 36 Roman Dmowski (1864–1939) war der bedeutendste Opponent Piłsudskis, der das piastische Modell für Polen favorisierte. Er verstand die Multinationalität Polens als Last, forderte eine schnelle Polonisierung der nichtpolnischen Minderheiten und zeichnete sich durch stark ausgeprägte Germanophobie und Antisemitismus aus. 37 In Belgrad, Istanbul, Sofia, aber vor allem in Prag konzentrierte sich in den frühen 1920er Jahren die russische Exilanten-Gemeinschaft, die hauptsächlich aus Intellektuellen und Adligen bestand. In Prag wurden mehrere russische wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen gegründet. Es entstand die russische Ideenströmung der Eurasier, die extrem antieuropäisch und antiwestlich ausgerichtet war. In den 1930er Jahren wurden Berlin und vor allem Paris zu den wichtigsten Zentren des so genannten „Auslandsrussland“. Ein Großteil der russischen Intelligenzija Prags verließ die Stadt vor allem wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage. 38 Włodzimierz WAKAR, Nakaz chwili, in: Przymierze 14.11.1920, S. 1.

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onspläne, für Russland eröffnete sie die Wege zur Eroberung in Asien […]. Der internationale Sozialismus, der die Wiederherstellung der Karte Vorkriegseuropas anstrebt, wird […] zu einem Instrumentarium des preußischMoskauer Neozarismus (neocaryzm prusko-moskiewski) werden“39, warnte Włodzimier Wakar Ende August 1920. Für Wakar war der russische Bolschewismus ähnlich wie für viele polnische Intellektuelle eine Fortsetzung der zaristischen Expansionsideologie. Man setzte das Sowjetische mit dem Zaristischen grundsätzlich gleich. Die zwei Teilungsmächte Deutschland und Russland wurden öfters in einem Kontext thematisiert, was nicht zuletzt darin gründete, dass der russische Kommunismus dem Marxismus entsprang und Deutschland 1917 die Reise Lenins nach Russland unterstützt und im Endeffekt ermöglicht hatte. Jegliche Annäherung in den deutsch-russischen Beziehungen wurde in Polen mit wacher Aufmerksamkeit registriert. Am 5. September 1920 zitierte Przymierze z. B. einen Artikelausschnitt aus der italienischen Zeitung Popolo, der darüber informierte, dass die Bolschewiki und Deutschland einen Geheimpakt abgeschlossen hätten, der sich gegen Frankreich und Polen richtete und vorsah, dass ein Großrussland „vom Baltikum bis zur Weichsel und zum Bosporus“ und ein deutsches Imperium (imperium niemecki) mit Posen und Lothringen errichtet werden sollten40. Es sei die Aufgabe Polens, die europäische Öffentlichkeit darüber aufzuklären, welche Gefahren vom Osten kommen könnten, denn „die europäischen Politiken wollen und können die gegenwärtige Situation in Russland nicht verstehen, sie suchen nach einer Krankheit, die das Volk und Teile Russlands erfasste“. Das europäische Rezept dafür sei „die Wiederherstellung des russischen Imperiums und seiner Rolle aus der Vorkriegszeit“41, so Bohdan Kutyłowski. Ihm zufolge waren die slawischen Völker Europas für Russland nur „ein Instrumentarium für die Ausbreitung des Russentums“42. Kutyłowski plädierte dafür, dass das Vorkriegszeitalter auf keinen Fall neu zu beleben sei. Erwünscht seien die Entwicklungen Russlands und des russischen Volks, das sich „um den eigenen moralischen Fortschritt kümmert […], ohne das Hab und Gut der Anderen sich anzueignen“43. Somit waren der Kommunismus und Russland aus der Sicht von Przymierze die größte Bedrohung für Polen und Europa. „Russland verlor viele Territorien, jedoch nicht genug, um bereit zu sein, sich grundlegend zu wandeln […]“44, verkündete Wakar in seinen Thesen zum Frieden. Polen liege immer noch zwischen West und Ost, „zwischen der Demokratie des 39

WAKAR, Ratowanie państwa, in: Przymierze 29.8.1920, S. 2. Kronika. Odbudowa Niemiec i Rosji, in: Przymierze 5.9.1920, S. 16. 41 Bohdan KUTYŁOWSKI, Zagadnienie rosyjskie, in: Przymierze 12.9.1920, S. 1. 42 KUTYŁOWSKI, Zagadnienie rosyjskie (wie Anm. 41), S. 2. 43 KUTYŁOWSKI, Zagadnienie rosyjskie (wie Anm. 41), S. 2 44 Włodzimierz WAKAR, Tezy pokojowe, in: Przymierze 19.9.1920, S. 1. 40

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Westens und der Oligarchie Russlands, zwischen dem Staat des Volks und dem Staat über den Völkern, zwischen der Freiheit und Gewalt, zwischen dem Sozialismus, der aus der Tiefe wächst, und dem Kommunismus, der mit Gewalt aufgezwungen wird“45. Die Gefahr für die Völker Europas liege dabei nicht nur am russischen Kommunismus (Wakar spricht von Bolszewja), sondern auch in einem eventuellen „Neuerwachen der Eroberer“ (regeneracja zaborców) und des Vorkriegssystems. Im russischen Bolschewismus sah Wakar den „aggressiven Imperialismus Russlands“, den er zum „internationalen Gegner“ stilisierte46. Die Neuordnung Europas war auch das Thema des Workshop, das das Redaktionskollegium von Przymierze organisierte. Besonders zu erwähnen ist das Zusammentreffen der mittelosteuropäischen Intellektuellen in Warschau, das von Przymierze im September 1920 initiiert und informationell begleitet wurde. Teilgenommen haben ukrainische, weißrussische und kaukasische Emigranten sowie Politiker und Wissenschaftler aus Lettland (Olensch), Ungarn (Divéky47) und der finnische Botschafter in Warschau Karl Walter B. Gyllenbögel48, der die Überlebensfähigkeit des baltischSchwarzmeer-Blocks nur in enger Kooperation mit „einem starken Polen und einer unabhängigen Ukraine“49 gegeben sah. Die Idee eines freien Raums vom Baltikum bis zur Küste des Schwarzen Meers war die größte Hoffnung der Przymierze-Intellektuellen und dominierte während dieses Treffens in Warschau. Die polnischen Publizisten betonten besonders die Wichtigkeit einer freiheitlichen Selbstorganisation Mittelosteuropas bzw. Osteuropas, dabei ließen einige die gesamteuropäische Perspektive bewusst außer Acht. E. Garlicki schrieb z. B.: „Ich möchte weder eine Föderation noch Vereinigte Staaten Osteuropas, sondern eine Kooperation der osteuropäischen Nationalstaaten, die […] als ein tatsächliches ex oriente [lux – Z. G.] ausstrahlen würden“50. All dies sei wichtig für die „Sicherheit aller Völker des baltisch45

WAKAR, Tezy pokojowe (wie Anm. 44), S. 3. Włodzimierz WAKAR, Z czem idziemy?, in: Przymierze 3.10.1920, S. 4. 47 Adorján Divéky (1880–1965) war ein ungarischer Literaturhistoriker und Linguist, der sich besonders intensiv mit der Geschichte der polnisch-ungarischen literarischen Verflechtungen befasste. Im Dezember 1920 veröffentlichte Przymierze einen längeren Artikel Divékys zu Ungarn. Vgl. DIVÉKY, Węgry, in: Przymierze 5.12.1920, S. 4–6. Im selben Jahr erschien in Krakau eine programmatische Schrift Divékys Die Tragödie Ungarns und die polnische Politik. Vgl. DIVÉKY, Tragedja Węgier a polityka polska, Krakau 1920. Divéky habilitierte sich 1921 und leitete von 1935 bis 1939 das Warschauer Ungarn-Institut. 1939 wurde er Professor an der Universität Debrezin. 48 Interessanterweise waren Ansprachen und Vorträge der lettischen und finnischen Wissenschaftler teils in ihren Muttersprachen, was besonders von den Berichterstattern der Przymierze betont wurde. All dies sollte quasi das Funktionieren einer tatsächlichen Gleichberechtigung der zahlenmäßig kleineren Völker veranschaulichen. 49 Kronika, in: Przymierze 19.9.1920, S. 16. 50 E. GARLICKI, Mury graniczne, in: Przymierze 26.9.1920, S. 4. 46

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mediterranen Intermariums: von Finnland bis Armenien und Jugoslawien…“51 hieß es in Wakars Artikel Gespenst der Reaktion. Der Westen sollte die Bestrebungen dieser Völker unterstützen und somit die ungerechte Vorkriegsordnung verbessern, sonst seien künftige Konflikte vorprogrammiert. Wakar warf dem Westen Imperialismus und fehlende Schöpfungskraft vor. Ihm fehle ein Programm im Hinblick auf die Beziehungen zu Russland und zu den osteuropäischen Nationen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg staatlich organisieren konnten. Sie hätten wenigstens einen Teil der Sympathien verdient, die der Westen dem russischen ancien régime gegenüber empfinde. Die polnische Ostpolitik sollte sich von der westeuropäischen grundlegend unterscheiden. Am 10. Oktober 1920 veröffentlichte Przymierze einen Leserartikel Osten Polens und versah ihn mit einer Fußnote, die verkündete, dass die Ostpolitik Polens auf „der Idee eines Verbunds freier Völker“52 beruhen sollte. Neben Weißrussland und vor allem der Ukraine, die der Publizist Wołoszynowski als das „wichtigste Thema der polnischen Ostpolitik“ bezeichnete53 und deren Anbindung an das demokratische Europa und die Trennung von Moskau fast in jeder Ausgabe von Przymierze thematisiert wurde, setzte man sich intensiv mit Finnland, dem Baltikum54 und dem Kaukasus auseinander. In einem längeren Beitrag Kutyłowskis Suomi war zu lesen, dass eine Allianz mit Finnland gerade angesichts der „Unsicherheit aus dem Osten“ besonders wichtig für Polen sei55. Es war auch Kutyłowski, der sich um die Veränderung des politischen Kurses der tschechischen Eliten bemühte, denen er unter anderem Russophilie (filorosjanizm) vorwarf56, die mit einer tiefen Verankerung des Panslawismus und eines positiven Russlandbilds als Gegenspieler gegen Österreich und Deutschland in der tschechischen Ideengeschichte zu tun hatte. Auch de Courtenay kritisierte die Ordnungsentwürfe der tschechischen Intellektuellen, deren angebliche Unhaltbarkeit sich durch die russophilen Stimmungen in Prag erklären lasse. Die multinationale ethnische Struktur des tschechoslowakischen Staates lasse es zu, ihn, so de Courtenay, als „Czecho-SłowacjaRuteno-Polako-Madziaro-Germanja“ zu bezeichnen. Auch diesem Beispiel ist zu entnehmen, dass sich zahlreiche Wissenschaftler europäischen Rangs wie de Courtenay und nicht nur Publizisten mit geopolitischen Gedanken 51

Włodzimierz WAKAR, Widmo reakcji, in: Przymierze 10.10.1920, S. 1. K. O-CZ, Wschód Polski, in: Przymierze 10.10.1920, S. 6. 53 WOŁOSZYNOWSKI, Uczciwość i roztropność, in: Przymierze 17.10.1920, S. 4. 54 Przymierze publizierte sowohl Beiträge zu den aktuellen Ereignissen in den neuentstandenen Estland, Lettland und Litauen, als auch Überblicksdarstellungen zur Geschichte dieser Länder. Vgl. J. J. Krótki rys dziejów Estonji, in: Przymierze 7.11.1920, S. 7. 55 KUTYŁOWSKI, Suomi, in: Przymierze 3.10.1920, S. 5–7. 56 KUTYŁOWSKI, Kropka nad i, in: Przymierze 17.10.1920, S. 1. 52

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beschäftigten. Die Multiethnizität der europäischen Staaten wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einem komplizierten Tatbestand, aber auch zu einem Instrumentarium, das die Intellektuellen bei der Entwicklung ihrer innen- und außenpolitischen Ordnungsentwürfe benutzten. De Courtenay bezeichnete Mähren und einen Großteil des österreichischen Schlesien als „Schlachtfeld der ‚Geschichte‘ und ‚Ethnographie‘“. Die polnischen Intellektuellen um Przymierze vertraten dagegen die Idee eines „dritten Russland“. Diesem Modell zufolge sollten sowohl die Tschechen als auch die westeuropäischen Nationen weder die Weißen noch die Roten unterstützen. Es sollte ein drittes Russland entstehen, das weder auf den kommunistischen Grundlagen noch auf dem Wunsch beruhte, das alte Russland in seinen ‚alten‘ Grenzen widerherstellen zu wollen. Besorgt und kritisch berichtete Przymierze z. B. über eine negative Reaktion der russischen Emigration auf den Rigaer Friedensvertrag zwischen dem bolschewistischen Russland und Polen, dem zufolge weitere Gebiete des ehemaligen Zarenreichs an Polen fielen57. Dieses dritte Russland sollte noch weiter in seinen Grenzen reduziert werden, indem es die von Nichtrussen bevölkerte Teile verliert, sich demokratisiert, dem Westen gegenüber öffnet und auf die postimperialen Ressentiments verzichtet. Offiziell wurde das „Dritte Russland“ vom russischen Emigrantenverein, dem so genannten Russischen Politischen Komitee (RPK) geleitet, zu dessen führenden Vertretern der russische Sozialist Boris Savinkov58 und der Intellektuelle Dmitrij Filosofov gehörten. Am 19. Dezember 1920 druckte Przymierze die Erklärung des RPK ab, in dem es die Unabhängigkeit Finnlands, Estlands, Lettlands, Weißrusslands, der Ukraine, der Kosakenrepublik, des Nordkaukasus, Aserbaidschans, Georgiens usw. von Russland anerkannte59. Der Linguist Baudouin de Courtenay griff das Thema des Dritten Russland ebenfalls auf. Es sei ein Projekt, für dessen Verwirklichung Polen „bis zum letzten Blutstropfen kämpfen sollte“60.

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Protest emigrantów rosyjskich, in: Przymierze17.10.1920, S. 16. Boris Savinkov (1879–1925) war ein russischer Sozialist und Anhänger des terroristischen Flügels. Er war verwickelt in mehrere Attentate gegen Mitglieder der Romanov-Familie. Da er seine Kindheit in Warschau verbracht hatte und Polnisch sprach, emigrierte er 1920 nach Polen. 1924 wurde er in der UdSSR aufgedeckt, interniert und exekutiert. Neben seiner terroristischen Aktivität war Savinkov publizistisch und literarisch aktiv. Besonders bekannt sind seine Erinnerungen eines Terroristen, die bereits in den 1920/30er Jahren in mehreren europäischen Sprachen erschienen. Vgl. Boris SAVINKOW, Aus den Erinnerungen eines Terroristen, München 1919, Berlin 1931; DERS., Vospominanija. Vospominanija terrorista. Počemu ja priznal sovetskuju vlast’, Moskva 1990. 59 Zdrowe objawy, in: Przymierze 19.12.1920, S. 14. 60 Baudouin DE COURTENAY, O „zasadzie etnograficznej” wogóle i o „Polsce etnograficznej” w szczególności, in: Przymierze 19.12.1920, S. 3. 58

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Werteorientierter Ordnungsentwurf für Europa

„Der Bolschewismus ist nicht nur eine ökonomische und politische Doktrin, er ist eine Art Religion“61, verkündete Bh. K. (vermutlich Bohdan Kutyłowski62). Ihm zufolge werde Polen dagegen auf dem eigenen Territorium ein modernes Regime errichten, das auf den gesellschaftlichen und bürgerrechtlichen Werten und auf einem hohen Niveau des politischen Bewusstseins beruhen würde. Auch der Publizist Antoni Langer plädierte für eine neue, liberalere innenstaatliche Ordnung für Polen, indem er schrieb, dass die Großmächte „ungeachtet ihrer Größe und Existenzdauer aufgrund der Knebelung der Völker und Nationen zustande kamen […]“63. Im neuen Nachkriegseuropa sollte es jedoch darum gehen, auf den Kult des „Staates-Besitzers“ zu verzichten. Schließlich habe dieser „Kult der Stärke als Grundlage der Staatlichkeit seine Anhänger vor allem in Deutschland, Russland und Österreich […], die sich das Motto ‚Stärke ist höher als Recht!‘ auf die Fahnen schrieben“64. Langer erinnerte die Leserschaft an die christlichen Gebote und warnte vor dem moralischen Dualismus, der das Leben in Vorkriegseuropa prägte. Wichtig seien die Gemeinschaften freier Völker. Das alte System der Staatlichkeit gehöre der Vergangenheit an, nun soll es zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit der Völker als Verbände freier Gruppen kommen, in denen „nicht die Diplomaten, sondern freie Bürger (wolni obywatele) das eigene Miteinanderleben regeln werden“65. Włodzimierz Wakar schrieb, dass man nicht dafür gekämpft hatte, um „zu plündern oder sich zu rächen, sondern um den wertvollsten Schatz der Freiheit zu bekommen. Die Millionenopfer verdienten nun eine solche Ordnung, bei der der Friede ewig herrschen würde“66. Unermüdlich wurde darauf hingewiesen, dass „die Karte Vorkriegseuropas und der aktuelle Kartenentwurf Europas vollkommen unterschiedliche Welten“67 sind. Die Idee der Freiheit sollte zu einer neuen Idee werden und das nach dem Krieg entstandene ideologische Vakuum füllen. Die Idee der Befreiung der Völker ist nicht nur eine Theorie, die sich von den Prinzipien der Gerechtigkeit ableiten lässt, „das ist auch ein reales und praktisches politisches Konzept, das den Frieden in der Welt sichern kann“68, schrieb J. Wołoszynowski. Auch in den späteren Artikeln entwickelte Wołoszynowski 61

Bh. K. (Bohdan KUTYŁOWSKI): W imię idei, in: Przymierze 5.9.1920, S. 2. Bohdan Kutyłowski war 1919 polnischer Minister bei der Regierung der Ukrainischen Republik. Nach der Sowjetisierung der Ukraine kehrte er nach Warschau zurück und widmete sich der Publizistik. 63 Antoni LANGER, Ku rozwadze, in: Przymierze 12.9.1920, S. 3. 64 LANGER, Ku rozwadze (wie Anm. 63), S. 4. 65 LANGER, Ku rozwadze (wie Anm. 63), S. 4. 66 Włodzimierz WAKAR, Tezy pokojowe, in: Przymierze 19.9.1920, S. 5. 67 Włodzimierz WAKAR, Widmo reakcji, in: Przymierze 10.10.1920, S. 1. 68 J. WOŁOSZYNOWSKI, Uczciwość i roztropność, in: Przymierze 17.10.1920, S. 4. 62

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diese Ansichten fort. Am 28. November 1920 veröffentlichte er einen Leitartikel Populi voluntas – suprema lex69. Der Volkswille sei „eine unüberwindbare Kraft, das höchste und stärkste Recht“70. Das sollte die gesamte Welt begreifen, so Wołoszynowski. Hier steht der postkoloniale Antiimperialismus des Autors in einem engen Zusammenhang mit dem traditionellen polnischen Freiheitskult. Es handelt sich nicht nur um eine demokratische Freiheitsordnung im Sinn der Rousseauschen Volonté générale in einem bestimmten Staat, sondern auch um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, denn „ein Kampf gegen die Freiheit der Völker, die nach Freiheit streben, ist ein hoffnungsloser Kampf und das Geld, das in diesen Kampf investiert wird, ist verloren“71. Die Befreiung der Völker wurde in einem Kontext mit der individuellen Freiheit gesehen. Der bekannte Aktivist der polnischen Sozialisten Antoni Langer schrieb, dass „Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit unabdingbare Bedingungen für die Entwicklung der Menschheit“72 seien.73 Der polnische Politiker Tadeusz Hołówko, der sich für die polnisch-ukrainische Annäherung stark machte, griff das Motto der literarischen Personen Alexandre Dumas‘ (Les Trois mousqetaires) auf: „Alle für Jeden, Jeder für alle“. Das sollte zu einem Motto der Völker werden, die erst jetzt „ihr unabhängiges Leben gestalten“74. „Hohe Ziele der gesamtmenschlichen Signifikanz“ sollte man sich beim Entwerfen der Nachkriegspolitik setzen. Diese Meinung vertrat Bohdan Kutyłowski im Artikel Kleine Entente, in dem er die aktuelle tschechoslowakische Politik kritisierte und auf das Scheitern der außenpolitischen Initiative Prags, mit Rumänien und Jugoslawien ein gemeinsames Bündnis herzustellen, hinwies. Kutyłowski sprach einerseits von einer freiheitlichen Entwicklung der europäischen Völker im Nachkriegszeitalter, andererseits hob er hervor, dass die Tschechoslowakei ein „unnatürlich ausgedehnter Staat“ sei, in dem die „Tschechen mit sechs Millionen den vier Millionen Deutschen, zwei Millionen Slowaken gegenüber“75 stehen. Der Wilnaer Politiker und Publizist Ludwik Chomiński rief dazu auf, neben „der großen und „kleinen“ Entente eine dritte, eine natürliche Entente“76, deren Initiator Polen wäre, zu gründen. Der Panslawismus würde zum tschechischen Verhängnis: die 69

J. WOŁOSZYNOWSKI, Populi voluntas – suprema lex, in: Przymierze 28.11.1920, S. 1–3. WOŁOSZYNOWSKI, Populi (wie Anm. 69), S. 3. 71 WOŁOSZYNOWSKI, Populi (wie Anm. 69), S. 3. 72 Antoni LANGER, Rozważanie nad sofisterją życia, in: Przymierze 31.10.1920, S. 1. 73 Langer knüpfte dabei an die gesamteuropäische Tradition des Liberalismus an, zitierte aus Réflexions sur la violence Sorels sowie anderen Denkern. 74 Tadeusz HOŁÓWKO, Skutki pokoju w Rydze, in: Przymierze 28.11.1920, S. 5. 75 Bohdan KUTYŁOWSKI, Mała Ententa, in: Przymierze 12.12.1920, S. 2. 76 Ludwik CHOMIŃSKI, Błędy, in: Przymierze 24.12.1920, S. 2. 70

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Russophilie der tschechischen Eliten, vor allem Thomas Masaryks, wurde besonders betont. Gleichzeitig wies der Autor darauf hin, dass die Rechte der ungarischen Minderheit in der Slowakei vernachlässigt werden. Man sollte dort schließlich eine Volksabstimmung durchführen und die Menschen nach ihrem Bleibewunsch abfragen. Mit Sicherheit ließ sich Kutyłowski hier vom geopolitischen Denken sowie von der polnischen raison d’état leiten. Polen, das in einen militärischen Konflikt mit der Tschechoslowakei wegen des Grenzgebiets um Teschen involviert war, solidarisierte sich umso stärker mit dem katholischen Ungarn, dessen Eliten keineswegs die panslawistischen Sympathien Masaryks77 teilten. Polen, ähnlich wie die meisten mittelosteuropäischen Staaten, hatte Grenzprobleme fast mit allen Nachbarländern. Dabei hob de Courtenay fast naiv hervor: „Die beste strategische Grenze ist ein friedliches Zusammenleben mit den Nachbarn!“78 Das Thema Frieden stand in Przymierze in einem engen Zusammenhang mit dem Freiheitsmotiv. Die Freiheit der Individuen und Völker sollte durch einen gesamteuropäischen Frieden gesichert werden. In Przymierze wurden z. B. die Texte vieler Friedensverträge in der Rubrik „Materialien zu den Angelegenheiten der Befreiung der Völker“ abgedruckt, die die neuentstandenen Staaten untereinander oder mit dem sowjetischen Russland abschlossen79. Fazit Przymierze war ein interdisziplinär und international zusammengesetztes Denkforum, das 1920–1921 in Warschau, zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und während des polnisch-russischen Kriegs von polnischen sowie ukrainischen und kaukasischen Intellektuellen herausgegeben wurde. Die oben dargestellten Diskurse, die Przymierze einleitete, sind aus zwei Perspektiven zu begreifen. Zum einen waren sie von der Postkolonialität und der sich daraus ableitenden Emanzipationsbestrebung geprägt. Das postkoloniale Zeitalter und vor allem der Zeitgeist entstanden in der polnischen Öffentlichkeit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu den deutschen (Preußentum, 77

Masaryk veröffentlichte noch 1913 in Jena eine zweibändige wissenschaftliche Abhandlung zur russischen Geistesgeschichte. Vgl. Thomas G. MASARYK, Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. Soziologische Skizzen, 2 Bde., Jena 1913. Deutlich kam dort seine Russlandfaszination zum Vorschein. Dieses Werk wurde in der deutschsprachigen Intellektuellenwelt in den 1910/20er Jahren intensiv rezipiert. Die polnische Intelligenzija dagegen distanzierte sich davon. 78 Baudouin DE COURTENAY, O „zasadzie etnograficznej“, in: Przymierze 19.12.1920, S. 4. 79 Friedensvertrag zwischen Russland und Lettland, in: Przymierze 12.9.1920, S. 9–15; Friedensvertrag zwischen Russland und Litauen, in: Przymierze 19.9.1920, S. 10–15, Friedensvertrag zwischen Finnland und Russland, in: Przymierze 28.11.1920, S. 7–14.

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Anfänge der konservativen Revolution) und vor allem den russischen Diskursen (Bolschewismus, Ideologie der Weißen Emigranten und der Eurasier) stand Przymierze in Opposition: der Freiheitskult sollte als eine Alternative zum preußischen Drill und der staatlichen Hierarchie in Deutschland sowie im bolschewistischen Russland begriffen werden. Przymierze war schließlich eine ‚Allianz der befreiten Völker‘ gegen die politische Lage in Vorkriegseuropa. Zum anderen handelte es sich um die Reaktion auf diese Diskurse. Im Freiheitsgedanken und im Antikommunismus kamen die Elemente der polnischen ideengeschichtlichen Traditionen sowie die Reaktionen auf die ideologischen Herausforderungen in den Jahren 1920-21 zusammen. Die Ordnungsentwürfe wurden zu einem wichtigen Schlachtfeld der polnischen Intellektuellen. Einerseits beruhten die Modelle einer eventuellen Neustrukturierung und -gestaltung Europas (Intermarium, Ostsee-Schwarzes Meer-Bündnis, Jagiellonisches Polen etc.) auf den Grundlagen der polnischen Ideengeschichte, die bereits im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert ausformuliert wurden. Andererseits waren auch diese Ordnungsentwürfe eine polnische Reaktion auf die deutschen und russischen sowie sowjetischen Ordnungsentwürfe, die noch vor bzw. während des Ersten Weltkriegs lanciert wurden. Dabei handelt es sich um das Naumannsche Mitteleuropa, Wirsings und Gesemanns Zwischeneuropa, um die früh-national-sozialistischen und um die bolschewistischen Expansionspläne. Somit entspringen die Ordnungsentwürfe sowohl der nationalen als auch der regionalen ideenhistorischen Basis. Przymierze versuchte die polnischen Ordnungsentwürfe mit den Vorstellungen der ukrainischen und der kaukasischen Emigrés abzustimmen. Bei der Diskussion und beim Austausch waren die Ansichten der baltischen sowie der ungarischen Intellektuellen nicht ohne Bedeutung. Gleichzeitig handelt es sich bei den Ordnungsentwürfen fast immer um Gegenentwürfe bzw. eine Opposition zu den Ordnungsentwürfen der Anderen.

FORSCHUNGSBERICHT

Die europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung Von

Friedrich Jaeger Europa, die Moderne und die Globalisierung bilden die thematischen Bausteine dieses Beitrags, die ich in der Abfolge dreier Argumentationsschritte aufgreifen möchte: Zunächst stehen die aktuellen Tendenzen zur Europäisierung der historischen Kulturwissenschaften im Mittelpunkt; in einem zweiten Schritt geht es um das Verhältnis zwischen europäischer Geschichte und Globalgeschichte; den Abschluss bilden Ausführungen zur Herausforderung der europäischen Konzepte von Neuzeit und Moderne im Zeitalter globaler Pluralität1. Die Europäisierung der Kulturwissenschaften Die gegenwärtigen Kulturwissenschaften sind wesentlich durch Prozesse der Europäisierung geprägt2. Mit ihnen passen sich die Kulturwissenschaften 1

Dem folgenden Beitrag liegt meine Einführung zur Masterclass Die europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung zugrunde, die am 12. April 2010 im Rahmen des Graduiertenkollegs Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung ‚Europa‘ von 1890 bis zur Gegenwart am IEG in Mainz stattgefunden hat. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Veranstaltung danke ich für die anregende Diskussion. – In den drei skizzierten Argumentationsschritten dieses Veranstaltungsberichts greife ich auf frühere Überlegungen zurück und stelle sie in den hier relevanten thematischen Kontext. Vor allem: Friedrich JAEGER, Art. Neuzeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart 2009, Sp. 158–181; DERS., Art. Moderne, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart 2008, Sp. 651–654; DERS./Hans JOAS, Europäisierung der Kulturwissenschaften – Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, in: Europa im Spiegel der Kulturwissenschaften. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, hrsg. von dens., Baden-Baden 2008, S. 7–16. Ich danke Hans Joas und dem Verlag J. B. Metzler für die Erlaubnis, auf die dort angestellten Überlegungen rekurrieren zu können. 2 Exemplarisch: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, hrsg. von Maurizio Bach, Wiesbaden 2000; Ulrich BECK, Europäisierung – Soziologie für das 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 34–35 (2005); Europa im Spiegel der Kulturwissenschaf-

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aktuellen Erfahrungen an, die ihnen im Zeichen eines an alltagspraktischer Relevanz gewinnenden Europa lebensweltlich zuwachsen. Ganz in diesem Sinn hat der Historiker Wolfgang Schmale für die Entwicklung einer „historischen Europäistik“ plädiert: nicht im Sinn eines neu zu institutionalisierenden Fachs, sondern einer europäisch erweiterten Perspektive geschichtswissenschaftlicher Arbeit3. Angesichts eines sich europäisierenden Raums individueller und gesellschaftlicher Erfahrungen können die Kulturwissenschaften ihrer Aufgabe der kulturellen Orientierung nur gerecht werden, indem sie sich selbst zu einer post- und transnational strukturierten Forschungslandschaft europäisieren: Dies gilt gleichermaßen für die Ebene ihrer heuristischen Perspektiven und Fragestellungen, für das Inventar ihrer methodischen Verfahren, für ihren normativ-politischen Bezugsrahmen, und schließlich für die institutionellen Strukturen der Forschungspraxis und die organisatorischen Grundlagen europaweit agierender Forschungsnetzwerke und Förderstrukturen4. 1. Auf der Ebene der kulturwissenschaftlichen Heuristik zeigt sich diese Tendenz der Europäisierung vor allem in der Überwindung eines nationalstaatlich geprägten Themenhorizonts zugunsten transnationaler Forschungskonzepte, mit denen grenzüberschreitende Migrationsbewegungen, Interaktionsprozesse oder auch die internationale Zirkulation von Gütern, Werten und Wissen ins Zentrum des historischen Interesses rücken5. Mit ihnen erfolgt die Abkehr von einer Wissenschaftstradition, die die Geisteswissenschaften seit dem frühen 19. Jahrhundert wesentlich geprägt hat. Deren Aufstieg stand in einem engen Zusammenhang mit der Formierung europäischer Nationalstaaten, so dass die Geisteswissenschaften seit ihren Anfängen mit expliziten Aufgaben nationaler Identitäts- und Legitimitätsbildung betraut waren und insofern als Institutionen nationalpolitischer Pädagogik fungierten. Dies lässt sich am Beispiel der Geschichtswissenschaft und der Wissenschaftstradition des Historismus im Einzelnen zeigen, wie es Susan Rößner in ihrer jüngst erschienenen Arbeit zum Europabild von Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat6. Diese nationale Prägung und Rahmung der ten. (wie Anm. 1); Europawissenschaft, hrsg. von Gunnar Folke Schuppert [u. a.], BadenBaden 2005. 3 Wolfgang SCHMALE, Europäische Geschichte als historische Disziplin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 389–405; DERS., Geschichte Europas, Wien 2000; DERS., Die Komponenten der historischen Europäistik, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, hrsg. von Gerald Stourzh, Wien 2002, S. 119–139. 4 Europa-Studien. Eine Einführung, hrsg. von Timm Beichelt [u. a.], Wiesbaden 2006. 5 Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, hrsg. von Gunilla Budde [u. a.], Göttingen 2006; Jürgen OSTERHAMMEL, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001. 6 Susan RÖßNER, Die Geschichte Europas schreiben. Europäische Historiker und ihr Europabild im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009, S. 39 ff.

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 223 Geisteswissenschaften ging gewöhnlich mit starken Innen-Außen-Abgrenzungen einher, die auch Folgen für die Wahrnehmung Europas in dieser Epoche besaß: Die europäischen Völker und Nationen waren die wesentlichen Akteure und dynamischen Triebkräfte des geschichtlichen Wandels. Und Europa galt dementsprechend vor allem als ein System von Staaten, Nationen und politischen Mächten, die sich zwar voneinander abgrenzten und miteinander um Hegemonie konkurrierten, aber in ihrer Vielfalt und jeweiligen Individualität zugleich die Einheit Europas repräsentierten. Gegenüber dieser Tradition gerät Europa auf dem Boden unterschiedlicher ‚Europamodelle‘ und damit verbundener konzeptioneller Zugriffe auf neue Weise in den Blick7. 2. Unter methodischen Gesichtspunkten stellt sich im Kontext dieser Europäisierung historischer Forschungsperspektiven insbesondere die Frage, wie eine europäische Geschichte jenseits der bloßen Addition einzelner Nationalgeschichten geschrieben werden kann. Wie lässt sich dabei insbesondere die Balance zwischen Einheit und Vielfalt der europäischen Geschichte wahren, um die nationale oder regionale Heterogenität Europas sowie seine inneren Differenzen und Konflikte nicht in der abstrakten Einheit einer einzigen, homogenen Geschichte zum Verschwinden zu bringen? Denn zweifellos existieren neben den übergreifenden Gemeinsamkeiten gesamteuropäischer Entwicklungen große Gefälle zwischen einzelnen Zentren und Randregionen, in denen sie sich in unterschiedlicher Intensität oder mit zeitlicher Verzögerung ausgeprägt haben. Angesichts dieser schwierig aufzulösenden Konstellation von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bzw. von Früh- und Spätentwicklungen stellt sich mit Blick auf die europäische Geschichte nicht allein das Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen8, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt: Europa repräsentiert einen durch außergewöhnliche Vielfalt geprägten Kontinent, was sowohl für die natürliche Seite klimatischer Bedingungen und geographischer Faktoren gilt als auch für den Bereich sozialer Lebensformen und kultureller Identitäten9. Nicht zuletzt diese Vielfalt erklärt die an zahlreichen Forschungsarbeiten mit europageschichtlichem Zugriff ablesbare Konjunktur 7

Mit dem Handbuch der Geschichte Europas, der Enzyklopädie der Neuzeit und anderen Großunternehmen existieren inzwischen anspruchsvolle Versuche, Europa jenseits der Tradition der Nationalhistoriographie zum Kern der historischen Erinnerungsarbeit zu machen. – Zu den operativen Forschungskonzepten auch: Jürgen OSTERHAMMEL, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 157–182. 8 Jörn LEONHARD, Historik der Ungleichzeitigkeit: Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 7/2 (2009), S. 145–168. 9 Wolfgang REINHARD, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004.

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komparatistischer, auf binneneuropäische Vergleiche hin angelegter methodischer Verfahren. In ihnen ist eine der wesentlichsten Begleiterscheinungen der Europäisierung der Kulturwissenschaften zu sehen10. Dies verbindet sich mit einer stark kommunikationsgeschichtlich geprägten Wendung der neueren Europaforschung, die auf interaktive Netzwerke abhebt, in denen sich Europa seit der Frühen Neuzeit als Erfahrungsraum und diskursive Infrastruktur etabliert hat: von der humanistischen Gelehrtenkorrespondenz, über die adlige Kavalierstour und die Entstehung des Postwesens bis hin zur aufklärerischen Salonkultur. 3. Mit der zunehmenden Europäisierung der Kulturwissenschaften wandeln sich aber nicht allein die heuristischen Perspektiven und methodischen Instrumentarien der historischen Forschung, sondern auch deren normativ-politischer Bezugsrahmen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob sich jenseits nationaler Traditionen europaübergreifende und gemeinsamkeitsstiftende Werte11 oder normative Elemente einer gemeineuropäischen politischen Kultur12 ausmachen lassen, in denen sich die kulturelle Einheit Europas in der Vielfalt nationaler und regionaler Identitäten politisch repräsentiert13. Es liegt nahe, dass im Zusammenhang solcher Fragen der Geschichte des Christentums und der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts, der Spezifik der europäischen Bildungstradition seit Humanismus, Renaissance und Aufklärung, der Kontinuität der ständischen Gesellschaft und der Monarchien als Klammern eines europäischen Staatensystems und nicht zuletzt der geschichtlichen Besonderheit der europäischen Menschenrechtstradition14 eine große Bedeu-

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Neben vielen anderen siehe etwa Heinz-Gerhard HAUPT, Die Geschichte Europas als vergleichende Geschichtsschreibung, in: Comparativ 14 (2004), S. 83–89; Geschichte und Vergleich, hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, Frankfurt 1996; Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hrsg. von Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer, Frankfurt 2003; Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, hrsg. von Stefan Hradil und Stefan Immerfall, Wiesbaden 1997; Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriffe, Geschichte, Chancen, hrsg. von Manfred Hildermeier [u. a.], Frankfurt 2000. 11 Hierzu Hans JOAS/Christof MANDRY, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft, in: Europawissenschaft (wie Anm. 2), S. 541–572; Die kulturellen Werte Europas, hrsg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt, Frankfurt 2005. 12 Wolfgang REINHARD, Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 593–616. 13 Jürgen HABERMAS, Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, in: DERS., Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt 2004, S. 68–82; Peter WAGNER, Hat Europa eine kulturelle Identität?, in: Die kulturellen Werte Europas, (wie Anm. 11), S. 494–511. 14 Otfried HÖFFE, Menschenrechte: Europäischer Kulturexport oder universales Ethos, in: Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, hrsg. von Mariano Delgado und Matthias Lutz-Bachmann, München 1995, S. 114–131; Dieter STURMA, Menschen-

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 225 tung zukommt. In ihrer Summe repräsentieren diese Traditionen länderübergreifende Entwicklungsfaktoren, auf denen die neuzeitliche Geschichte Europas maßgeblich beruhte und deren geschichtliche Bedeutung für die Formierung europäischer Lebensformen im Einzelnen ausgelotet werden muss. Aber auch mit Blick auf die Gegenwart stellen sich im Kontext der kulturwissenschaftlichen Europaforschung Fragen nach dem spezifischen Charakter des europäischen Gesellschafts- und Politikmodells15. Offensichtlich ist das Europa, welches sich im Zeichen des europäischen Einigungsprozesses der vergangenen Jahrzehnte herauszubilden beginnt, von allen Großorganisationen der politischen Ordnung deutlich unterscheidbar, die die bisherige Geschichte Europas geprägt haben: Es liegt jenseits von Imperium und Nation, ist weder Bundesstaat noch Staatenbund16, so dass es zu den drängenden Herausforderungen der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Forschung gehört, seine verfassungsrechtliche Besonderheit, aber auch seine politischen Leitvorstellungen und normativen Selbstbilder in Unterscheidung von den tradierten europäischen Staats- und Politikmodellen genauer herauszuarbeiten17. In gewisser Weise anknüpfend an Gollwitzers Pionierstudie Europabild und Europagedanke aus dem Jahr 195118 hat sich in diesem Zusammenhang eine Forschungsperspektive etabliert, die den kulturellen Leitvorstellungen des europäischen Einigungsprozesses gewidmet ist19. Dabei stellen sich naturgemäß auch normativ-politische Fragen nach den Außengrenzen Europas sowie nach der möglichen Reichweite der europäischen Einigung, die sich nicht unabhängig von den jeweils zugrunde liegenden Kriterien der Zugehörigkeit zu Europa beantworten lassen. In den vergangenen Jahren hat vor allem die heftig umstrittene Frage eines möglichen Beitritts der Türkei zur rechte. Über europäische Werte, in: Europäische Gesellschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Wilfried Loth, Wiesbaden 2005, S. 66–80. 15 Hartmut KAELBLE, Eine europäische Gesellschaft?, in: Europawissenschaft (wie Anm. 2), S. 299–330; Ulrich K. PREUß, Europa als politische Gemeinschaft, in: ebd., S. 489–539. 16 Herfried MÜNKLER, Reich, Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung, Weinheim 1996. 17 Anne PETERS, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001; Fritz W. SCHARPF, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: Europawissenschaft (wie Anm. 2), S. 705–741. 18 Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 21964. 19 Jürgen MITTAG, Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008; Theorien europäischer Integration, hrsg. von Wilfried Loth und Wolfgang Wessels, Opladen 2001; Stefan IMMERFALL, Fragestellungen einer Soziologie der europäischen Integration, in: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, hrsg. von Maurizio Bach, Wiesbaden 2000, S. 481–503; Stanislaw ZYBOROWICZ, Die Ideengeschichte der Europäischen Integration, in: Europa-Studien (wie Anm. 4), S. 147–159.

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Europäischen Union gezeigt, wie kontrovers die Vorstellungen von der zukünftigen Ausdehnung und regionalen Erstreckung Europas sind20. Der Fall der Türkei mit dem periodischen Wechsel von Zugehörigkeit und Ausgrenzung aus den europäischen mental maps und Raumkonzepten verweist daher auch (ebenso wie in gewisser Weise auch der Fall Russlands) paradigmatisch darauf, wie sich das kulturelle Selbstbild Europas und die damit verbundene Konstitution von Zugehörigkeit und Identität durch die Abgrenzung oder auch durch die ‚Einverleibung‘ von Anderen geschichtlich gewandelt hat21. Ferner tangiert die Frage, ob und in welcher Form sich innerhalb Europas auf politischer und gesellschaftlicher Ebene die Elemente einer postnationalen Ordnung herausbilden, wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Europäisierung der Kulturwissenschaften22. Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei Untersuchungen zur Formierung einer transnationalen Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Bürgerschaft als institutionellen bzw. kommunikativen Voraussetzungen für die Ausbildung einer europäischen Identität23. Aber auch das angesichts der aktuellen Finanzkrise besonders drängende Problem, wie das europäische Sozialmodell sowie die damit verbundenen Konzepte von Sozialpolitik bewahrt und weiterentwickelt werden können, markiert einen normativen Aspekt europäischer Selbstdeutungen, der derzeit in zahlreichen Untersuchungen aufgegriffen wird24. Und nicht zuletzt stellen 20

Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg, hrsg. von Helmut König und Manfred Sicking, Bielefeld 2005; Die Türkei und Europa. Die Positionen, hrsg. von Claus Leggewie, Frankfurt 2004; zu den Grenzen Europas auch Jürgen KOCKA, Die Grenzen Europas. Ein Essay aus historischer Perspektive, in: Europawissenschaft (wie Anm. 2), S. 275–286. 21 Susan RÖßNER, Die Geschichte Europas (wie Anm. 6), S. 163–213; zu Osteuropa: Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, hrsg. von Helmut König [u. a.], Bielefeld 2008, S. 648–652. 22 Jürgen HABERMAS, Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: DERS., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1999, S. 128–153; Jürgen KOCKA, Die Ambivalenz des Nationalstaats. Zur Zukunft einer europäischen Staatsform, in: Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, hrsg. von Mariano Delgado und Matthias LutzBachmann, München 1995, S. 28–50. 23 Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hartmut Kaelble [u. a.], Frankfurt 2002; Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, hrsg. von Ansgar Klein [u. a.], Opladen 2002; Klaus EDER/Cathleen KANTNER, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit, in: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, hrsg. von Maurizio Bach, Wiesbaden 2000, S. 306-331; Theresa WOBBE, Die Koexistenz nationaler und supranationaler Bürgerschaft. Neue Formen politischer Inkorporation, in: ebd., S. 251–274; Cathleen KANTNER, Kein modernes Babel. Kommunikative Voraussetzungen europäischer Öffentlichkeit, Wiesbaden 2004; European Citizenship between National Legacies and Postnational Projects, hrsg. von Klaus Eder und Bernhard Giesen, New York 2001. 24 Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, hrsg. von Hartmut Kaelble und Günther Schmid, Berlin 2004; Tobias VAHLPAHL, Europäische

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 227 sich aus dem Blickwinkel der internationalen Politik Fragen nach den weltpolitischen Leitbildern Europas sowie nach den ihnen entsprechenden Akteursrollen im Sinn von Global Governance und der Weiterentwicklung des Völkerrechts in Richtung einer politisch verfassten Weltgesellschaft25. Europäische Geschichte und Globalgeschichte Während diese transnationale Erweiterung von Forschungsperspektiven auf den europäischen Raum einerseits als eine fruchtbare Weiterentwicklung des kulturwissenschaftlichen Horizonts gilt, ist sie von anderer Seite deutlicher Kritik ausgesetzt. Ihr wird ein Verfangenbleiben in einer europazentrischen Tradition unterstellt, der gegenüber es gerade darum gehen müsse, Europa in den Kontext globaler Entwicklungen und Verflechtungen zu rücken und damit eine Position „jenseits des Eurozentrismus“ zu etablieren26. Exemplarisch gilt dies etwa für die Kritik der Postcolonial Studies, die in der Europäisierung von Forschungsperspektiven die Gefahr einer fortdauernden Ausgrenzung der nicht-europäischen Welt aus dem Horizont der Kulturwissenschaften angelegt sehen, der mit der Relativierung europäischer Standorte im Sinn eines provincializing Europe zu begegnen sei27. Europa wird gewissermaßen aus dem Zentrum der weltgeschichtlichen Entwicklung herausexpediert und gerät im Kontext einer polyzentrischen Moderne zu einer Provinz neben anderen. Drei Aspekte dieser neueren globalgeschichtlichen Strömungen sind im Kontext des hier verhandelten Themas von besonderer Bedeutung: 1. Bei der Globalgeschichte handelt es sich nicht um einen neuen Versuch zu einer histoire totale, sondern eher um ein dezentriertes Konzept der historischen Deutung, das keine Perspektive privilegiert, sondern sich heuristisch und methodisch gegenüber der kulturellen Vielfalt von Lebensformen öffnet. Eine in diesem Sinn transeuropäisch ausgerichtete Form des historischen Denkens achtet den ‚Eigensinn‘ und die jeweils besonderen Entwicklungsdynamiken von Kulturen und Zivilisationen, die jedoch nicht einfach additiv nebeneinandergestellt, sondern einer historisch-komparativen Interpretation Sozialpolitik. Institutionalisierung, Leitideen und Organisationsprinzipien, Wiesbaden 2007. 25 Jürgen HABERMAS, Die Bewährung Europas, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12 (2006), S. 1453–1456; DERS., Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: DERS., Der gespaltene Westen (wie Anm. 13), S. 113–193. 26 Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hrsg. von Sebastian Conrad und Shalini Randeria, Frankfurt 2002. 27 Dipes CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000; Gurminder BHAMBRA, Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination, Houndmills 2007.

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unterzogen werden, um die jeweilige Besonderheiten unterschiedlicher Modernisierungs- und Entwicklungspfade in den Blick zu bringen28. Von großer Bedeutung erweisen sich dabei vor allem die von Shmuel Eisenstadt und anderen unter dem Leitbegriff der „multiple modernities“ angeschobenen Theorieentwicklungen, mit denen Modernisierungspfade jenseits des europäischen Modells sichtbar gemacht werden sollen29. Diese Ansätze sind bisher vor allem im Rahmen makrosoziologisch angelegter, zivilisationsvergleichender Studien zur Anwendung gelangt. Daher waren die Debatten um die multiple modernities in den vergangenen Jahren auch von besonderer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Instrumentarien des interkulturellen Vergleichs30. Aber auch die neueren Spielarten einer interkulturellen Hermeneutik, für die sich seit einigen Jahren der Begriff des „translational turn“ eingebürgert hat31, repräsentieren im Kontext der neueren Globalgeschichte eine aussichtsreiche Forschungsstrategie. Sie spüren den Problemen der wechselseitigen Verstehbarkeit und Übersetzbarkeit zwischen den Kulturen nach und rücken dabei vor allem den Wandel kultureller Bedeutungsgehalte in interkulturellen Transferbeziehungen in den Blick32. Mit ihnen aktualisiert sich gewissermaßen eine hermeneutische Perspektive, wie sie in der Entstehungsphase der Geisteswissenschaften einmal von der Geschichtsphilosophie Herders etabliert worden ist. 2. Die Globalgeschichte achtet darüber hinaus auf die Vielfalt internationaler Beziehungen und Mächtekonstellationen, die sich im Zeitalter der Globalisierung im Sinn eines verdichteten Beziehungssystems herausgebildet haben und weiterhin ausbilden. Auf dieser Ebene ist besonderes Augenmerk auf 28 Jürgen OSTERHAMMEL, Globalgeschichte, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hrsg. von Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 2007, S. 592–610; hier: S. 595; Sebastian CONRAD/Andreas ECKERT, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, hrsg. von Sebastian Conrad [u. a.], Frankfurt 2007. 29 Shmuel N. EISENSTADT, Vielfalt der Moderne, Eisenstadt 2000; DERS, Comparative Civilizations and Multiple Modernities, 2 Bde., Leiden 2003; Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, hrsg. von Thomas Schwinn, Wiesbaden 2006; Willfried SPOHN, Interdisziplinäre Europastudien: Der Ansatz der multiplen Modernität, in: Europa-Studien (wie Anm. 4), S. 435–451; Björn WITTROCK, Modernity: One, None, or Many? European Origins and Modernity as a Global Condition, in: Daedalus 2000, S. 31–60. 30 Thomas SCHWINN, Kulturvergleich in der globalisierten Moderne, in: Das WeberParadigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hrsg. von Gert Albert [u. a.], Tübingen 2003, S. 301–327. 31 Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 238–283. 32 Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, hrsg. von Joachim Renn [u. a.], Frankfurt 2002; Joachim RENN, Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie, Weilerswist 2006.

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 229 die Geschichte von Asymmetrien in den Beziehungen der Kulturen zueinander zu legen, wie sie sich etwa im Kontext der Kolonialgeschichte und der Geschichte des modernen Imperialismus herausgebildet haben33. 3. Einen besonderen Aspekt bilden in diesem Zusammenhang die Strukturen von Interaktion, die sich in derartigen internationalen und interkulturellen Konstellationen ergeben haben. Gemeint sind damit die Zirkulation von Ideen, Waren und Menschen über nationale Grenzen hinweg, wie sie sich im Zuge von Migrationsbewegungen und Handelsströmen, von Kapitalbewegungen und Verkehr, von Medien und Kommunikation ergeben. Mit einem Wort: Es geht um eine Globalgeschichte im Sinn der entangled histories, der ineinander und miteinander verflochtenen Geschichten, in denen alle Kulturen wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, sich beeinflussen, voneinander lernen oder sich voneinander abgrenzen, ohne dabei ihre jeweilige kulturelle Besonderheit zu verlieren. In diesem Sinn lässt sich von einer Globalisierung im Sinn der Entstehung einer ‚relationalen‘ Welt der Moderne sprechen. Kulturen sind nicht mehr in sich geschlossene, gleichsam monadischessentialistische Formationen, sondern stehen im Austausch miteinander, wodurch sich alle gleichermaßen verändern und hybridisieren34. Wie ließe sich nun angesichts dieser globalhistorischen Strömungen und der mit ihnen verbundenen Kritik eines binneneuropäisch ausgerichteten Forschungsansatzes die europäische Geschichte auf neue Weise in den Blick bringen? Ich möchte diese Frage im Folgenden am Beispiel der neuzeitlichen Geschichte Europas aufgreifen, wie sie etwa im Kontext der bereits erwähnten Enzyklopädie der Neuzeit thematisiert wird35. Diese Konzeption der Neuzeit war bisher weitgehend geprägt durch die These des europäischen Sonderwegs: Infolge der Intensivierung des globalen Kulturkontakts durch die Entdeckungsreisen und die damit verbundene europäische Expansion hatte die Erfahrung kultureller Differenz seit der Frühen Neuzeit exponentiell zugenommen. Seither konnte und musste das europäische Selbstverständnis immer auch im Vergleich mit und in der Unterscheidung von anderen Kulturen gewonnen werden. Geistesgeschichtlich wurden diese Erfahrungen im Zeichen der Aufklärungshistorie mithilfe des neuen Genres der Universalgeschichte verarbeitet, die gewöhnlich mit Elementen einer materialen Geschichtsphilosophie einherging. Diese war normativ und analytisch weithin auf europäische Geschichtsprozesse und Erfahrungskontexte hin zugeschnitten. Die erst in langwierigen Auseinandersetzungen etablierte, dabei stets fragile und bis ins 19. Jahrhundert kaum jemals vollstän33 Jürgen OSTERHAMMEL, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 157–182. 34 Hierzu: Jenseits des Eurozentrismus (wie Anm. 26). 35 Friedrich JAEGER, Art. Neuzeit (wie Anm. 1); DERS.: Vorwort, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, S. VII-XXIV.

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dig durchgesetzte europäische Dominanz gegenüber den außereuropäischen Gesellschaften, wie sie sich in der Geschichte des Kolonialismus und im Aufstieg der europäischen Kolonialreiche manifestiert, war geistesgeschichtlich durch den Aufstieg geschichtsphilosophischer bzw. evolutionistischer Denkformen flankiert, in denen Europa eine normativ privilegierte Stellung einnahm. Im Zuge dieser Entwicklung etablierte sich das modernisierungstheoretische Paradigma des ‚europäischen Wunders‘36 und die damit verbundene Vorstellung von Europa als Vorbild und Vorreiterin weltgeschichtlicher Entwicklungen. Erst im Sog europäischer Fortschrittsprozesse würden sich die anderen Kulturen der Welt durch nachholende Modernisierung und durch die Absolvierung entsprechender Lernprozesse politischer, ökonomischer oder kultureller Art im Stil europäischer Lebensformen allmählich zivilisieren können37. In theoriegeschichtlicher Perspektive wird deutlich, dass sich unter dem Banner dieses Sonderwegdenkens ein Spektrum unterschiedlicher Positionen versammeln konnte. Während auf der einen Seite ein Eurozentrismus vorherrschte, der die Moderne im Stil Hans Freyers zur triumphalen ‚Weltgeschichte Europas‘ verklärte38, war es auf der anderen mit universalgeschichtlich abwägenden Positionen und einem deutlichen Gespür für die Notwendigkeit komparatistischer Forschung vereinbar und ist dies auch bis heute geblieben. Dies hat nicht zuletzt Mitterauers Studie zu den Grundlagen des europäischen Sonderwegs gezeigt39. Auffällig ist dabei auch, dass das von Max Weber oder auch Ernst Troeltsch im Rahmen ihrer kulturvergleichenden religionssoziologischen Schriften etablierte Forschungsparadigma in der historisch-soziologischen Modernisierungsforschung der Gegenwart offensichtlich weiterhin ein hohes heuristisch-methodisches Anregungspotential besitzt40. Wie auch immer sich die Theorien des europäischen Sonderwegs im Einzelnen gestalteten: Grundlegend blieb die Überzeugung, dass sich ausgehend vom Europa der Frühen Neuzeit in Form von Anstaltsstaatlichkeit und Bürokratisierung, von Kolonialismus und militärischer Hegemonie, von Industrialisierung und Kapitalismus, von Verwissenschaftlichung und Rationalisierung, schließlich von medialer Vernetzung und Massenkommunikation dieje36

Eric JONES, Das Wunder Europa. Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens, Tübingen 1991. 37 Jürgen OSTERHAMMEL, „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hrsg. von dems. und Boris Barth, Konstanz 2005, S. 363–425. 38 Hans FREYER, Weltgeschichte Europas, Darmstadt 31969. 39 Michael MITTERAUER, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderweges, München 2003. 40 Das Weber-Paradigma (wie Anm. 30); Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kulturund strukturvergleichende Analysen, hrsg. von Thomas Schwinn, Wiesbaden 2006.

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 231 nigen Elemente herausgebildet hatten, die auch die Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts weltweit prägten; in den Worten Max Webers: Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in seiner Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?41.

Die kulturelle Überzeugungskraft der damit verbundenen These einer zunehmenden ‚Europäisierung der Erde‘42 im Sinn eines einlinigen ExportImport-Modells war gekoppelt an die dominierende Rolle, die Europa im Zeichen des Hochimperialismus und seit dem 20. Jahrhundert dann auch zunehmend die USA als aufsteigende Weltmacht in den globalen Entwicklungen dieser Periode gespielt haben: eine freilich vorübergehende geschichtliche Konstellation, die sich noch in den Modernisierungstheorien der Zeit nach dem 2. Weltkrieg intellektuell spiegelte. Angesichts dieser sich gegenwärtig abschwächenden Sonderrolle Europas und des Westens stehen auch die Konzepte des europäischen Sonderwegs auf dem Prüfstand und werden sukzessive durch Konzeptionen relativiert, die den Erfahrungen kultureller Vielfalt und globaler Interaktion stärker Rechnung tragen. Die gegenwärtige Konjunktur der Globalgeschichte ist in dieser neuen Konstellation begründet43. Denn es entspricht nicht allein den Realitäten eines postkolonialen Zeitalters, sondern auch der Gegenwartserfahrung einer multipolar geprägten Welt, dass die Geschichte der Neuzeit in Perspektiven gerückt wird, die einem sich globalisierenden Erfahrungszusammenhang gerecht zu werden beanspruchen44. Diese ‚neue Neuzeit‘, die sich in der kulturwissenschaftlichen Überwindung europazentrierter Konzeptionen herauszubilden beginnt, zeigt sich vor allem durch drei Elemente geprägt:

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Max WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988, S. 1. 42 Wolfgang REINHARD, Die Europäisierung der Erde und deren Folgen, in: Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht, hrsg. von Jörg A. Schlumberger und Peter Segl, Köln 1994, S. 77–93. 43 Neben den bereits erwähnten Arbeiten siehe hierzu: Globalisierung und Globalgeschichte, hrsg. von Margarethe Grandner [u. a.], Wien 2005. 44 Chistopher A. BAYLY, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780– 1914, Frankfurt 2006.

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1. Mit dem neuen makrohistorischen Leitbegriff der Globalisierung45 verbindet sich der Versuch, die verschiedenen Intensitätsphasen und wechselnden Konjunkturen der globalen Interaktion, wie sie im Kontext von Migrationsbewegungen, ökonomischen Transferbeziehungen, politischen Einflussnahmen oder der Zirkulation kultureller Ideen seit der Frühen Neuzeit greifbar werden, differenzierter zu deuten, als es die teleologisch geprägten Vorstellungen einer Europäisierung der Welt im Sinn der Durchsetzung eines westlich geprägten Modells der Moderne erlaubt haben. An deren Stelle tritt ein Forschungskonzept, das den kontinuierlichen Wandel von Interaktionsbeziehungen, Machtchancen und Einflussmöglichkeiten akzentuiert. Globalisierung wird auf diese Weise als eine epochenübergreifende Geschichte wechselseitiger Verflechtung mit unterschiedlichen Zentren und Graden der Verdichtung, mit wechselnden Akteursrollen und offenem Ausgang denkbar. In ihm lässt sich die Neuzeit zwischen dem frühen 16. und der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Epoche der ‚Protoglobalisierung‘46 verorten, die sich unter Periodisierungsgesichtspunkten sowohl von einer späteren Phase europäischer Hegemonie im Zeichen des Imperialismus, als auch von der stärker multipolaren Struktur der Gegenwart deutlich unterscheiden lässt. 2. Ferner geht die globalgeschichtliche Öffnung des Neuzeit-Konzepts mit der heuristischen Sensibilisierung für die Vielfalt unterschiedlicher Entwicklungsmuster in verschiedenen Teilen der Welt einher, die es erlaubt, Modernisierungspfade jenseits des europäischen Musters in ihrer geschichtlichen Eigenständigkeit zu identifizieren und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten und Unterschiede herauszuarbeiten47. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere die von Eisenstadt in diesem Zusammenhang entwickelte zivilisationsvergleichende Konzeption der Multiple Modernities für diese Pluralisierung modernisierungsgeschichtlicher Forschungsperspektiven einflussreich geworden. Während Max Weber eigentlich nur einer Kultur – nämlich der europäischen – das geschichtliche Potential zutraute, Modernisierungsprozesse langfristig und mit weltumspannender Konsequenz kulturell zu mobilisieren und sich auf diesem Wege in alle Kulturen dieser Welt hinein auszudehnen, stellt sich diese Frage unter dem Eindruck gegenwärtiger Globalisierungserfahrungen grundsätzlich neu. Der ökonomische Erfolg der ostasiatischen Länder etwa hat dazu geführt, das eigene kulturelle Erbe nicht mehr als ein Entwicklungshemmnis zu betrachten, sondern sich neu auf die eigenen Traditionen zu 45

Peter E. FÄßLER, Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Stuttgart 2007; Jürgen OSTERHAMMEL/ Niels P. PETERSSON, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003. 46 FÄßLER, Globalisierung (wie Anm. 45), S. 60–73. 47 Wolfgang KNÖBL, Die Kontingenz der Moderne: Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt 2007.

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 233 besinnen und diese als Ressourcen ökonomischen Erfolgs zu erkennen. Ja, im Zuge des Erfolgs asiatischer Produktionsmethoden werden diese asiatischen Werte nun auch den westlichen Gesellschaften als vorbildlich und nachahmenswert anempfohlen. Damit verbindet sich eine zunehmend kritische Sichtweise auf das theoretische Erbe Max Webers: Gegenwärtig nähert sich die Epoche, in der man den Grad der Modernisierung außereuropäischer Kulturen und Gesellschaften am Standard der europäischen Modernisierung misst, ihrem Ende. Denn allmählich setzt sich die Ansicht durch, dass die verschiedenen Kulturen und Länder jeweils ihre eigene Form von Modernisierung besitzen, das heißt, dass sich die Modernisierung in nichteuropäischen Gesellschaften keineswegs als deren bloße Europäisierung äußert. Daher ist es auf dem Gebiet der vergleichenden Modernisierungstheorie nicht länger möglich, Webers Theorie des Rationalisierungsprozesses und die darin enthaltenen Begriffe und Analysen unmodifiziert zu übernehmen48.

3. Weniger an der Eigenständigkeit zivilisatorischer Entwicklungspfade, als vielmehr an ihrer Kontaktgeschichte im Zeichen der entangled histories zeigen sich andere Strömungen der neueren Globalgeschichte interessiert. Mit der Rekonstruktion von Interaktionsräumen im Kontext der neuzeitlichen Geschichte geht es ihnen darum, essentialistische Vorstellungen von der Existenz räumlich abgeschotteter, autonomer Kulturen aufzubrechen und stattdessen die Dynamiken ihrer wechselseitigen Beeinflussung sichtbar zu machen. Kommunikation als Leitbegriff der historischen Forschung erhält auf diese Weise eine interkulturelle Dimension. Die Einsicht in die relationale Struktur der neuzeitlichen Geschichte lenkt dabei auch die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Übersetzungsleistungen im Verhältnis der verschiedenen Kulturen, die die Plausibilität unilinear strukturierter Modelle internationaler Beziehungen relativieren und – ohne die Existenz von Asymmetrien und Gewaltverhältnissen zu unterschätzen – Elemente von Reziprozität in der interkulturellen Kommunikation unterstreichen. Unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten zeichnet sich ab, dass das Konzept der europäischen Neuzeit derzeit einem Wandel unterliegt, in dem sich die Konturen einer ‚neuen‘ Neuzeit herauszubilden beginnen, die der globalen Vielfalt geschichtlicher Entwicklungen Rechnung zu tragen versucht. Wie dieses Ziel praktisch und methodisch einzulösen ist, gehört dabei sicher zu den interessantesten Fragen der gegenwärtigen Neuzeit- und Europaforschung.

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Es handelt sich hierbei um ein Zitat des japanischen Soziologen Kanai SHINJI, zitiert nach der Einleitung des Herausgebers zum Band: Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, hrsg. von Thomas Schwinn, Wiesbaden 2006, S. 14.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011) Die europäische Moderne im Zeichen globaler Pluralität

Als Moderne soll hier vor allem die Periode seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden, wobei dieser Epochenbegriff wie der Begriff der Neuzeit auf dezidiert europäische Geschehens- und Erfahrungszusammenhänge zielt. Bevor ich abschließend auf die durch aktuelle Prozesse der Globalisierung hervorgerufenen Bedeutungsverschiebungen im Konzept der Moderne eingehe, möchte ich zunächst noch einige epochentheoretische Überlegungen anstellen sowie einige Bemerkungen zur europäischen Semantik der Moderne machen49. Epochenbegriffe sind wichtige Bestandteile historischer Erkenntnisprozesse, weil sie den in der unmittelbaren Erfahrung zunächst ungegliederten Entwicklungen und chaotischen Ereignisfolgen eine temporale Ordnung und Struktur verleihen. Als methodische Instrumente der Forschung geben Epochen historischen Prozessen eine zeitliche Richtungsbestimmung, einen inhaltlichen Zusammenhang und damit kulturellen Sinn. Wie die Beispiele der Neuzeit und Moderne zeigen, leisten Epochenbegriffe diese Strukturierung der historischen Erfahrung auf dreifache Weise: 1. Zum einen nehmen sie eine diachrone Unterscheidung zwischen verschiedenen Stadien des Zeitkontinuums vor. Sie identifizieren eine bestimmte Zeitspanne der Geschichte in ihrer epochalen Besonderheit, indem sie sie von einem Vorher und einem Nachher deutlich abgrenzen. Bereits die spätmittelalterlichen Geschichtsdenker brachten mit ihrer Rede von der diversitas temporum die Einsicht in die Verschiedenheit und Eigenart vergangener Zeiten zum Ausdruck, die es möglich machte, gegenüber theologischen oder kosmologischen Formen der Zeitgliederung auch säkularen Ereignissen eine eigene Historizität zu verleihen50. Ganz in diesem Sinn hängt auch die Plausibilität des Neuzeit-Begriffs davon ab, dass sich Anfang und Ende der Neuzeit bestimmen lassen: Sie muss sich gleichermaßen vom Mittelalter als der ihr vorhergehenden wie von der Moderne als der ihr folgenden Epoche unterscheiden lassen, um als eine eigenständige Epoche gelten zu können. Ein weiteres Merkmal dieser diachronen Strukturierung von Zeit durch Epochen ist darin zu sehen, dass sie über Elemente einer temporalen Binnendifferenzierung verfügen, wie sie etwa in der Unterscheidung von Früh-, Hoch- und 49

Zum Folgenden: Friedrich JAEGER, Art. Neuzeit (wie Anm. 1), Sp. 158 ff.; DERS., Art. Moderne (wie Anm. 1), Sp. 651–654. 50 Klaus SCHREINER, „Diversitas Temporum“. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 381–428; Zur Bedeutung von Epochenbegriffen im historischen Denken auch: Friedrich JAEGER, Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung, in: Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, hrsg. von Jörn Rüsen, Bielefeld 2003, S. 313–354.

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 235 Spätmittelalter oder in der Rede von der Frühen Neuzeit oder der Hochmoderne zum Ausdruck kommen. 2. Jenseits dieser diachronen Dimension ordnen Epochenbegriffe Zeitverläufe aber auch in synchroner Hinsicht, indem sie der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, Strukturen oder Prozessen Rechnung tragen. Sie gewichten unterschiedliche Entwicklungsfaktoren in ihrer jeweiligen Bedeutung, stellen sie in ein inneres Verhältnis zueinander und leiten aus dieser Konfiguration die Signatur einer Epoche ab. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die marxistische Theorie der Abfolge einzelner Produktionsweisen wie Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus, die sich durch ihre jeweils unterschiedlichen synchronen Arrangements von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften auszeichnen. Im Kontext der historischen Neuzeit-Forschung stellt sich dabei etwa die Aufgabe, die Koexistenz unterschiedlicher Triebkräfte oder auch gegenläufiger Dynamiken innerhalb dieser Epoche historisch zu deuten. Dieser Aufgabe dienen Prozess- und Bewegungsbegriffe wie Säkularisierung, Individualisierung oder Verbürgerlichung, die Leitfäden von Forschungsprogrammen repräsentieren. Die Neuzeit wird auf diesem Weg etwa als eine epochenspezifische Konstellation von Staatsbildung und Konfessionalisierung, von Wissens- und Kommunikationsrevolution, von technischem Wandel, Industrialisierung und anderen Leitprozessen des geschichtlichen Wandels greifbar, deren synchroner Zusammenhang eigens interpretiert werden muss. 3. Schließlich strukturieren Epochenbegriffe die historische Erfahrung auch in kultureller Hinsicht, was erneut die Frage nach dem Verhältnis von europäischer und globaler Geschichte aufwirft. Als Elemente der historischen Selbstdeutung und des kulturellen Gedächtnisses geben sie gemeinsamen Traditionen Ausdruck und leisten damit einen wichtigen Beitrag für die Formierung kollektiver Identitäten. Dabei liegt ihnen stets eine ebenso inkludierende wie exkludierende Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem zugrunde. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich bei dem Begriff der Neuzeit ersichtlich um eine Kategorisierung des geschichtlichen Wandels, die auf europäische Erfahrungsbestände zugeschnitten ist und den alternativen Zeitordnungen anderer Kulturen keineswegs entspricht, aus denen sich in der Regel ganz andere Kriterien der geschichtlichen Periodisierung ergeben. Insofern lässt sich der Neuzeit-Begriff auch als ein Element des kulturellen Eurozentrismus verstehen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Moderne51. Im deutschen Sprachraum taucht der Begriff seit dem späten 19. Jahrhundert auf, während das französische modernité bereits seit dem ersten Drittel des 19. Jahr51

Dazu auch Cornelia KLINGER, Art. Modern/Moderne/Modernismus, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 2002, Sp. 121–167.

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hunderts und das englische Pendant modernity sogar bereits im 17. Jahrhundert vereinzelt Verwendung gefunden haben. Noch älter ist freilich die temporale Unterscheidung zwischen modernen und vergangenen Zeiten, wie sie in dem Begriffspaar modernus/antiquus zum Ausdruck kommt, das sich bereits in der Antike sowie im Mittelalter nachweisen lässt. Seit dem Beginn der Neuzeit besitzen die Termini ‚modern‘ bzw. ‚die Moderne‘ einen doppelten Bedeutungsgehalt: In begriffsgeschichtlicher Perspektive bringen sie, ganz im Sinn der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen modo (gerade, jetzt, eben), das Gegenwartsbewusstsein und den Aktualitätshorizont der jeweils lebenden Zeitgenossen zum Ausdruck, so dass sich seit der Frühen Neuzeit von einer generationenspezifischen Abfolge unterschiedlicher ‚Modernen‘ in der Geschichte der Neuzeit sprechen lässt. In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht markiert der Begriff der Moderne dagegen ein allgemeines und disziplinenübergreifendes Forschungs- und Epochenkonzept der europäischen Geistes- und Sozialwissenschaften, das auf die Besonderheit der politischen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts zugeschnitten ist. In diesem Verständnis handelt es sich bei der Moderne also allein noch um diejenige Epoche, die das Ende der Neuzeit herbeiführt, unabhängig davon, ob die dafür entscheidende Epochenzäsur zwischen Neuzeit und Moderne bereits um 1800, um 1850 oder um 1900 angesiedelt wird. Aus der Sicht der historischen Semantik lassen sich wichtige Etappen der neuzeitlichen Begriffsentwicklung ausmachen: Im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance herrschte noch weitgehend die Überzeugung vor, dass die Überwindung desjenigen ‚dunklen Zeitalters‘, das später dann zum ‚Mittelalter‘ avancierte, sowie die damit verbundene Chance einer kulturellen Erneuerung der Gegenwart allein unter Rückbesinnung auf die Antike möglich sei. Moderne war in diesem Denkmodell also allein durch Tradition und die Rückkehr zu ihr zu gewinnen. Demgegenüber zeichnet sich seit dem späten 17. Jahrhundert eine Neuverteilung der Gewichte im Verhältnis von Tradition und Moderne ab, in der letztere an Autorität gewinnt. Entsprechend kündigt sich hier ein neues Zeitbewusstsein an: zum einen in der Genese eines Fortschritts-Begriffs, der mit der Möglichkeit einer unabsehbaren Weiterentwicklung der Gegenwart über bisher erreichte Kulturzustände und Entwicklungsniveaus hinaus rechnet; zum anderen aber auch in der zunehmenden Sensibilisierung für die historische Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in der eine Einsicht in die Anders- und Einzigartigkeit geschichtlicher Epochen und Kulturen greifbar wird, die für die Entstehungsgeschichte des Historismus prägend wurde. Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund wurden Epochen in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts erstmals als zeitlich gegliederte und klar voneinander abgrenzbare Perioden der Geschichte denkbar, denen

Jaeger, Die Europäische Moderne im Zeichen der Globalisierung 237 unverwechselbare Merkmale sowie spezifische Richtungsbestimmungen und Veränderungsdynamiken zugeschrieben werden konnten. Ein prominentes Beispiel dafür sind Leopold von Rankes Vorträge unter dem Titel Über die Epochen der Neueren Geschichte aus dem Jahr 185452. Als Konsequenz dieser Entwicklungen bildete sich die Moderne schließlich als ein Deutungsmuster der Gegenwart und ihres geschichtlichen Wandels heraus, das sich durch ein ausgeprägtes Maß an kultureller Selbstreflexivität und Selbstdistanz auszeichnete. Daher ist die Kritik der Moderne auch von Anfang an zu einem wesentlichen Element ihrer selbst geworden und begleitet sie von der Romantik bis zur Postmoderne. Wie in der neueren Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie, verweist auch in der Geschichtswissenschaft der Begriff der Moderne im Sinn einer makrohistorisch ausgerichteten Forschungskategorie auf eine eigenständige Epoche, die sich von der Neuzeit durch verschiedene Merkmale und Kriterien deutlich unterscheidet. Je nachdem, ob man eher kurzfristige Ereigniszusammenhänge wie die Revolutionen der Jahre 1848/49 oder aber langfristige strukturelle Trends wie die Industrialisierung oder die Ausformung des europäischen Imperialismus akzentuiert, ob man einen europäischen oder aber einen globalgeschichtlichen und kulturvergleichenden Fokus wählt, und auch abhängig davon, ob eher ökonomische, politische oder ästhetische Entwicklungen im Zentrum stehen, wird man jeweils andere Epochenzäsuren und Periodisierungen vornehmen können und müssen. Vieles spricht jedoch dafür, eine Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Moderne seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen, mit gleitenden Übergängen in die zweite Jahrhunderthälfte, um Phänomenen der Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen Rechnung tragen zu können. Eine noch weitgehend offene Frage ist dabei die nach der zukünftigen Entwicklung bzw. nach der geschichtlichen Grenze und dem möglichen Ende der Moderne. Im Hinblick auf diese Frage dürfte sich vor allem der Umstand als wichtig erweisen, dass der Begriff mit europäischen Entwicklungen korreliert ist und insofern als Fortschreibung eines neuzeitlichen Eurozentrismus gelten kann. Daher ist es auch kein Zufall, dass in den aktuellen Diskussionen um Globalisierung und Globalgeschichte oder um die Einheit und Vielfalt der Moderne die interkulturelle Tragfähigkeit eines europäisch geprägten Epochen- und Periodisierungsschemas auf dem Prüfstand steht, in dessen Zentrum die Begriffe der Neuzeit und der Moderne stehen. Vor allem in der Folge dieser Diskussionen ist der Begriff der Moderne, der in den vergangenen drei Jahrzehnten als Leitkategorie der Kultur- und Sozialwissenschaften einer längeren Phase postmoderner Kritik ausgesetzt 52 Leopold von RANKE, Über die Epochen der Neueren Geschichte, in: Aus Werk und Nachlass, Bd. II, hrsg. von Theodor Schieder und Helmut Berding, München 1971.

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war, seit einigen Jahren wieder in die Debatte zurückgekehrt. Als ein motivierender Faktor, neu über den Begriff und die Struktur dieser Moderne nachzudenken, erweisen sich dabei die Erfahrungen der Globalisierung im Sinn einer Verdichtung von Zusammenhängen, Verflechtungen und Kontaktzonen zwischen unterschiedlichen Weltregionen und Kulturen, in deren Folge sich eine an europäisch-westlichen Lebensmodellen und Prinzipien orientierte Konzeption der Moderne zu einer interkulturell aufgefächerten Vielfalt unterschiedlicher Modernen pluralisiert hat. Diese ‚neuen Modernen‘, wie sie im Rahmen unterschiedlicher Forschungstrends und unter wechselnden Leitbegriffen (z. B. der global, multiple, entangled, connected, alternative modernities) herausgearbeitet werden, stellen das Konzept der okzidentalen Moderne, dem Max Weber noch eine „Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit“ zuerkannt hatte, infrage. Es wächst dabei nicht allein das Verständnis für die „heterotemporalities“ der Moderne (Pheng Cheah), also für die Ungleichzeitigkeit von Zeitstrukturen und für die Divergenz von Modernitätsdynamiken im Verhältnis der Kulturen zueinander, sondern auch für die Vielfalt von Modernisierungspfaden, zwischen denen das europäisch-westliche Modell unter Absage an eurozentrische Traditionen und Denkformen neu verortet werden muss. Angesichts dieser Konstellation stellt die Profilierung eines pluralisierten und interkulturell aufgefächerten Begriffs von Moderne eine wichtige intellektuelle Herausforderung der kulturwissenschaftlichen Disziplinen dar.

EUROPA-INSTITUTE UND EUROPA-PROJEKTE

Europa von außen gesehen – Formationen nahöstlicher Ansichten aus Europa auf Europa von

Bekim Agai Das im Titel genannte Forschungsprojekt ist eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für vier Jahre finanzierte Nachwuchsforschergruppe, die an das Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn angegliedert ist und zum 1. April 2010 ihre Arbeit aufnahm. Die Forschergruppe untersucht sich wandelnde und bleibende Elemente in den Formationen der nahöstlichen Perspektiven auf Europa in den Berichten von Reisenden vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Sie setzt deren Elemente in Beziehung zueinander und fragt nach den Funktionen der hierbei vermittelten Bilder sowie deren Bedeutung für die Konzeption des Selbst. Hierbei wird die Expertise der Orientalistik mit europäischer Geschichte und literaturwissenschaftlichen Methoden interdisziplinär kombiniert. Untersuchungshintergrund Europa und der Nahe Osten sind seit dem 19. Jahrhundert auf sehr vielfältige Weise eng miteinander verbunden. Das Bild von Europa, wie es vor allem durch Europareisende in Reiseberichten, Briefen, Zeitungsartikeln etc. geprägt wurde, spielt seit dieser Zeit eine bedeutende Rolle in innergesellschaftlichen Prozessen und Debatten im Nahen Osten, die durch Europareisende und Exilanten angestoßen werden. Identität und Alterität werden in einem transaktionalen Prozess gebildet. Der Blick von außen auf Europa dient zur Identitätsbildung des Nahen Ostens, beeinflusst damit aber auch, wie sich Europa selbst durch Interaktion mit dem Nahen Osten wahrnimmt. Ziel der Nachwuchsforschergruppe ist es, die Formationen von Europa in der Region zu untersuchen, in der heute die

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Nationalstaaten der Türkei, des Iran und der arabischen Mittelmeeranrainer liegen. Hierbei soll insbesondere der Tatsache Rechnung getragen werden, dass seit dem 19. Jahrhundert der Blick „von außen auf Europa“ maßgeblich durch diejenigen geprägt wird, die aus Europa über Europa in die Heimat berichten. Die Öffnung Europas, seine Durchlässigkeit für Menschen aus dem Nahen Osten (und anderen Regionen dieser Welt) ist seit dem 19. Jahrhundert ein Merkmal des modernen Europa selbst. So kamen Diplomaten, Bildungsreisende, Geschäftsreisende, Exilanten und Touristen nach Europa, von denen viele die Zukunft ihrer Länder maßgeblich mitgestalteten. Sie schufen einen Kanon an Bildern und Vorstellungen von Europa, vornehmlich durch das Verfassen von Reiseberichten. Im 20. Jahrhundert gesellten sich Auslandskorrespondenten von Zeitungen, Studierende und Migranten hinzu, die ebenfalls zur Formation eines Bildes von Europa in der Heimat beitrugen. Trotz der immer leichter werdenden Erreichbarkeit Europas konnte sich die große Mehrheit der Bevölkerungen aus ökonomischen und politischen Gründen ihr Europabild nicht selbst in Europa machen. Sie war angewiesen auf Erfahrungen Dritter. Diejenigen, die in Europa waren, spielen damit eine Schlüsselrolle für die Formation eines Bildes von außen auf Europa. Somit wird der Blick auf Europa auch in Europa selbst erzeugt. Wir sehen, wie Binnen- und Außenperspektiven ineinander verschmelzen. „Außen“ und „Innen“ sind in diesem Bereich aus europäischer und nahöstlicher Sicht relativ. Ziel des Projektes ist es, sich wandelnde und bleibende Elemente in den nahöstlichen Perspektiven auf Europa darzulegen, diese Elemente in Beziehung zueinander zu setzen und nach den Funktionen der hierbei vermittelten Bilder zu fragen sowie deren Bedeutung für die Konzeption des Selbst zu analysieren. Aus einer historischen Perspektive und nach Herkunftsregionen geordnet, sollen die jeweils erzeugten Repräsentationen von Europa auf ihre konstituierenden Elemente hin untersucht werden: Was ist „Europa“ für die jeweiligen Reisenden, und wie positionieren sie sich hierzu? Durch eine historisch-kritische Analyse sollen so die verwobenen Beziehungen von Europa, seiner politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gestalt und seinen inneren und äußeren Beobachtern Berücksichtigung finden, um Bausteine für eine nahöstliche Sicht auf Europa zu gewinnen. Theoretische Fokussierung Angesichts eines nicht selten recht unbedarften Umgangs mit Reiseberichten, die in der Orientalistik oftmals leichtfertig als die Sicht des Autors und seines Publikums angenommen werden und vergessen lassen, dass Reiseberichte auch Literatur sind, werden Reiseberichte in der Forschergruppe als literari-

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sche Zeugnisse und Quellen des Kulturkontakts gleichermaßen betrachtet. Sie geben Auskunft über Stand und Wandel der Bilder vom Selbst und der Imaginationen des Anderen. Sie positionieren die Menschen in Zeit und Raum, indem sie dem Selbst einen Platz gegenüber dem Anderen zuweisen. Sie beschreiben dabei das Andere in den Kategorien des Selbst und geben dadurch Auskunft über den Beschreibenden und seine Ideenwelt. Sie sind Ausdruck von Stereotypen, zu deren Verfestigung sie gleichzeitig beitragen, indem sie als Informationsquelle für die nächsten Reisenden Erwartungshaltungen konstituieren und neue Beobachtungen durch bereits bekanntes Wissen vorstrukturieren. Sie sind somit historische Zeugnisse, die bis in die Gegenwart wirken. Der angestrebte synchrone und diachrone Vergleich der Reiseberichte soll Gemeinsamkeiten aufzeigen und Einblick in die Dynamik innerhalb dieses Genres geben sowie einen Beitrag zur Analyse der Bilder vom Selbst und der Imaginationen des Anderen in Kontinuität und Wandel in der Begegnung von Europa und dem Nahen Osten liefern. Eine Epochisierung der hierbei vermittelten Bilder kann die Bedeutung politischer Ereignisse für die Wahrnehmung des Anderen objektivieren, die geläufigen Epochen der politischen Ereignisgeschichte hinterfragen oder bestätigen. Aus dieser Perspektive heraus nähern sich die Einzelprojekte ihren Forschungsgegenständen. Einzelprojekte Die Forschergruppe besteht in ihrem Kern aus dem Projektleiter, einer Postdoktorandin und drei Promotionsstudenten, wobei eine Stelle hiervon für wechselnde Gastwissenschaftler vorgesehen ist. Ferner sind wissenschaftliche Kooperationen mit anderen Instituten innerhalb und außerhalb Deutschlands vorhanden. Für weitere Vernetzungen ist die Gruppe offen. Angesichts von Forschungsstand und bestehenden offenen Forschungsfragen haben die einzelnen Gruppenmitglieder unterschiedliche Ausgangsfragestellungen. Durch eine nach Sprachen und damit Regionen gegliederte Bearbeitung des Themas in den Teilprojekten kann eine Berücksichtigung von Reiseberichten, Literatur und in der Presse erfolgen. Der Projektleiter Bekim Agai untersucht in seinem Projekt „Araber und Osmanen in Europa – Europäer im Nahen Osten: Bilder des Selbst und Imaginationen des Anderen in Reiseberichten des 19. und 20. Jahrhunderts“ die transkulturellen Mechanismen und narrativen Ausprägungen von Fremdheitserfahrungen in Reiseberichten. Hierbei spielen methodische Überlegungen einer vergleichenden Reiseberichtsforschung und deren Nutzbarmachung für die Lektüre von Reiseberichten eine wichtige Rolle. Als Quellenbasis dienen ausgesuchte osmanisch-türkische, arabische und europäische Reisebe-

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richte des 19. und 20. Jahrhunderts. Letztere Gruppe ist wichtig, um der Frage nachzugehen, inwieweit es typisch nahöstliche Betrachtungsweisen gibt oder ob diesen nicht allgemeine Muster zugrunde liegen, die sich auch in den Berichten europäischer Reisender wiederfinden lassen. Das Post-Doc-Projekt von Jasmin Khosravie „Iran blickt auf Europa. Konzepte von Geschlecht, Moral und Zivilisation im Europadiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts“ stellt den Gender-Aspekt in den Vordergrund. Sie richtet den Blick auf die Rezeption von Europa, die zu Formationen von Bildern führte, welche unterschiedliche Funktionen im inneriranischen Diskurs erfüllten. Je nach politischer und religiöser Verortung des Beobachters diente Europa als Inbegriff von Modernität oder Promiskuität, von Freiheit oder Anarchie und von Vernunft oder Doppelmoral. Das Andere hielt somit positiv oder negativ behaftete Alternativkonzepte gesellschaftlichen Zusammenlebens und ethischer Wertevorstellungen bereit, an denen sich das Eigene messen ließ und von denen es sich abgrenzen konnte. Diese sowohl integrativen als auch differenzierenden Dynamiken führten zu einem komplexen Europabild in Iran, bestimmt durch heterogene Nuancen der Verortung des Eigenen. Das zugrunde liegende Quellenmaterial besteht dabei aus unterschiedlichen Textgattungen wie persischsprachigen Reiseberichten, Pressepublikationen im europäischen Exil und in Iran (hier auch Frauenpresse) sowie Memoirenliteratur. Mehdi Sajid widmet sich in seinem Promotionsvorhaben mit dem Titel „Kritisiert in der Heimat, als Zufluchtsort geschätzt“ den „Formationen panislamischer und panarabischer Blicke auf Europa“. Hierbei finden arabische Denker verschiedener Couleur Berücksichtigung, deren Ideen auch durch ihr Exil in europäischen Metropolen oder Reisen dorthin geprägt wurden. Diese Sicht aus Europa auf Europa und ihre Rezeption in der Heimat haben die moderne arabische Identität maßgeblich geformt und unverkennbare Spuren im ambivalenten Verhältnis zwischen der „islamischen Welt“ und „dem Westen“ hinterlassen. Caspar Hillebrand stellt in seinem Dissertationsprojekt mit dem Titel „Europabilder der türkischen Republik zwischen osmanischem Erbe und Neuanfängen“ die Frage von Konstanz und Wandel osmanischer und türkischer Reiseberichte. Welche Elemente und Topoi haben in der langen Entwicklung von den Gesandtschaftsberichten des 17. Jahrhunderts bis in die frühe Republikzeit Bestand, wo sind Brüche festzumachen und worin liegt dies begründet? Dies sind Fragen, die in diesem Kontext diskutiert werden müssen.

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Aktivitäten Neben den Einzelprojekten strebt die Gruppe auch eine nationale und internationale Vernetzung an. Bisher fand im Dezember 2010 ein Workshop mit dem Titel „Travel Writing between Fact and Fiction – Genre, Functions and Boundaries” an der Boğaziçi University Istanbul statt. Für das Jahr 2011 sind u. a. eine Vorlesungsreihe und die Teilnahme an dem jährlichen Treffen der Middle East Studies Association (MESA) in Washington, D. C. mit einem eigenen Panel geplant. Das Projekt ist für weitere Kooperationen und Betrachtungen Europas aus anderen Perspektiven offen und freut sich, auf diesem Weg neue potentielle Partner auf sich aufmerksam zu machen. Kontakt: Dr. Bekim Agai BMBF-Projekt „Europa von außen gesehen“ Brühler Straße 7 53119 Bonn Tel.: 0228/73-60237 Fax: 0228/73-60241 E-Mail: [email protected] www.europava.uni-bonn.de

Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. Ein Tagungsbericht1 Von

Kornelia Kończal Anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Buchenwald hielt der spanische Schriftsteller Jorge Semprún eine viel beachtete Rede. Am 10. April 2005 plädierte der ehemalige Buchenwaldhäftling im Weimarer Nationaltheater für die Erweiterung des europäischen Erfahrungsund Erinnerungshorizonts: Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die Erzählungen aus Kolyma von Warlam Schalarnov gerückt wurden2.

Eben der europäischen Erinnerungskultur war das 9. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg gewidmet, deren Gründung auf Semprúns Plädoyer zurückgeht. „Europäische Gedächtnisarbeiter zieht es nach Thüringen“3 – hieß es in einer Pressemitteilung über die Konferenz, die am 22. und 23. Oktober 2010 in Weimar stattfand. Der Einladung folgten renommierte Historikerinnen und Historiker, die verschiedene Konstellationen europäischer Beziehungs- und Verflechtungsgeschichten untersuchten. Die große Resonanz auf die Tagung bestätigte eindrucksvoll die hohe Virulenz der Reflexion über europäische Erinnerungskulturen.

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Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. 9. Internationales Symposium der Stiftung Ettersberg; veranstaltet in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen; 22.–23. Oktober 2010, Weimar. 2 http://www.thueringen.de/de/tsk/aktuell/veranstaltungen/17543/index.html (25.10.2010). 3 Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung: Europäische Erinnerungsarbeiter zieht es nach Thüringen. Pressemitteilung vom 14.10.2010. Weimar. Online verfügbar unter http://idw-online.de/de/news391744 (25.10.2010).

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In seinem Eröffnungsvortrag distanzierte sich der deutsch-französische Historiker Etienne François, Mitherausgeber der dreibändigen Anthologie „Deutsche Erinnerungsorte“ (2001), von der im Tagungsprogramm angeführten, seiner Meinung nach normativen und eminent politischen Frage, ob wir ein europäisches Gedächtnis bräuchten, und konzentrierte sich darauf, bestimmte Ansatzpunkte des europäischen Erinnerns festzuhalten. Die starke These von François war, dass ein geteiltes europäisches Gedächtnis – verstanden im doppelten Wortsinn als das, was die Menschen miteinander teilen und das, was sie voneinander teilt – in Ansätzen bereits identifizierbar sei. Seine Ausführungen bezogen sich u. a. auf die Erkenntnisse von zwei Ausstellungsprojekten des Deutschen Historischen Museums über die „Mythen der Nationen“ (1998 und 2004)4, an denen der Historiker beteiligt war. Zum einen habe die erste Ausstellung deutlich gemacht, dass es auch im Zeitalter der Nationen im langen 19. Jahrhundert einen europäischen Sub- bzw. Supratext gegeben habe, der sich aus einer Fülle von Verflechtungen und gegenseitigen Bezügen zusammengesetzt und somit eine gemeinsame Matrix gebildet habe; zum anderen sei vielen europäischen Völkern die feste Überzeugung von der eigenen Einzigartigkeit und der starke Bezug auf die Nation gemeinsam. Die zweite Ausstellung habe hingegen auf eine gemeinsame Klammer des 20. Jahrhunderts in Europa aufmerksam gemacht: den Holocaust und unterschiedlich konstruierte Opferdiskurse. Des Weiteren wies Etienne François auf die Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage in sechs europäischen Ländern hin, die zeigten, dass es in Europa bestimmte Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung historischer Persönlichkeiten und somit enge Verknüpfungen zwischen nationalen Geschichten gebe5. Von weiteren Gemeinsamkeiten zeuge das deutsch-franzö-

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Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung. Hrsg. von Monika Flacke, Berlin 1998; DIES., Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, 2 Bde., Berlin 2004. 5 Die Umfrage wurde von mehreren europäischen Stiftungen (u. a. Europartenaires sowie Jean-Jaurès in Frankreich und Friedrich-Ebert-Stiftung in Deutschland) initiiert und in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien durchgeführt. Es wurden sowohl offene („Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben die Möglichkeit, sich eine Stunde lang mit einer historischen Persönlichkeit zu unterhalten, die den Gedanken der europäischen Identität vertritt. Wen würden Sie sich aussuchen?“) als auch geschlossene Fragen gestellt (Listen von 14 historischen Figuren aus der Zeit vor 1800 und aus dem 19. und 20. Jahrhundert, aus denen sich die Probanden die ihrer Meinung nach am meisten europäischen wählen sollten). Die Ergebnisse für die Zeit vor 1800 sahen folgendermaßen aus: Leonardo da Vinci, Columbus und Luther. Und für die Zeit nach 1800 wurden Churchill, Marie Curie und de Gaulle am meisten genannt. Vollständige Ergebnisse wurden auf einer UNESCO-Tagung in Paris (März 2003) erläutert und in einer Publikation dokumentiert: Du bon usage des grands hommes en Europe, hrsg. von Jean-Noël Jeanneney und Philippe Joutard, Paris 2003.

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sische Geschichtsschulbuch6, auf das demnächst ein deutsch-polnisches folgen wird. Schließlich lassen sich François zufolge viele Beispiele des gemeinsamen europäischen Kulturerbes finden, wie Homer, Jerusalem, Rom, die Oper, die Kathedrale oder die Universität. „Wie europäisch ist die nationale Erinnerung?“ – auf diese Frage waren zwei auf François‘ Vortrag folgende Panels fokussiert. Faktographisch kann man den Ausführungen Heidemarie Uhls (Wien) über die Externalisierung der Verantwortung für den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg sowie die Selbststilisierung Österreichs als erstes Opfer der Nazis, Eckhart Conzes (Marburg) Darstellung der (west-)deutschen Vergangenheitsbewältigung und Günther Heydemanns Vortrag (Dresden/Leipzig) über die italienische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit kaum etwas vorwerfen. Zumal es keine leichte Aufgabe war, in einem zwanzigminütigen Vortrag die Vielschichtigkeit nationaler Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit zu schildern. Das Überraschende ist aber, dass die Referenten auf die zentrale Frage danach, wie europäisch die nationale Erinnerung sei, nur in einigen wenigen Sätzen eingingen. Lediglich Eckhart Conze widmete dem europäischen Kontext mehr Aufmerksamkeit: In Anknüpfung an das Diktum von Jürgen Elvert (Köln), eine moderne Geschichtsforschung in Europa müsse den europäischen Einigungsprozess flankierend unterstützen7, plädierte der Marburger Historiker dafür, eine europäische Zeitgeschichtsforschung, die nicht bloß der Politik nachrenne, zu etablieren. Aber ähnlich wie Heidemarie Uhl in Bezug auf Österreich und Günther Heydemann bezüglich des italienischen Falls vertrat auch Conze die These, dass die deutschen Debatten über Diktaturerfahrungen keine internationale Ausstrahlung hätten. Am zweiten Teil dieser Sektion nahmen Robert Traba (Berlin), Gilbert Merlio (Paris), Walther Bernecker (Nürnberg) und Alexander Vatlin (Moskau) teil. Auch in diesem Panel, das aus Referaten über Polen, Frankreich, Spanien und Russland bestand, dominierten Vorträge über geschichtspolitische Debatten in diesen Ländern und verschiedene Phasen politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit. Die Marginalität des Europäischen in allen sieben Vorträgen legt zwei Vermutungen nahe: Entweder waren die Referenten (als Fachhistoriker) so sehr ihren beruflichen, meistens doch national justierten Arbeitsfeldern verpflichtet, dass die europäischen Kontexte nur am Rande erwähnt werden konnten. Oder aber die Wechselwirkungen, reziproken Bezüge und Abhängigkeiten zwischen den nationalen Erinnerungsnarrativen in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Russland und Spanien sind tatsächlich 6

Histoire / Geschichte: Europa und die Welt seit 1945, Deutsch-französisches Geschichtsbuch. Gymnasiale Oberstufe, hrsg. von Peter Geiss und Guillaume Le Quintrec, Stuttgart/Leipzig 2006. 7 Jürgen ELVERT, Vom Nutzen und Nachteil der Nationalhistorie für Europa, in: Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven, 5 (2004), S. 43–60. Online verfügbar unter http://www.hirzel.de/universitas/archiv/elvert.pdf (25.10.2010).

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sehr gering – wenn überhaupt – vorhanden. Vielleicht hätten sich jedoch mehr Wechselwirkungen finden lassen, wenn das Programm der Tagung nicht ausschließlich auf die europäische Nachkriegsgeschichte ausgerichtet gewesen wäre. Erfreulicherweise waren in der anschließenden Diskussion komparative und grenzüberschreitende Momente stärker präsent. So konnte u.a. festgehalten werden, dass viele Anstöße zur Dekonstruktion bisher vorherrschender Erinnerungsnarrative von Seiten der Zivilgesellschaft kamen. Des Weiteren kam vom Publikum eine berechtigte, wenn auch offen gebliebene Frage danach, wie es dazu kommen konnte, dass nationale Erinnerungskulturen im 20. Jahrhundert, das nicht nur aus Grässlichkeiten und Gräueltaten bestand, am stärksten doch von den schrecklichen Ereignissen und schmerzhaften Prozessen geprägt seien. Schließlich wurde die allgemeine Frage erörtert, wie die kollektive Identität auf der Basis negativer Mythen überhaupt gestiftet werden könne. Deutlich mehr Anstöße und Anregungen brachte jedoch der zweite Konferenztag, an dem es zu einer Premiere kam, denn zum ersten Mal wurden die programmatischen Grundzüge des sich im Entstehen befindlichen Hauses der Europäischen Geschichte öffentlich präsentiert und diskutiert. In seinem Eröffnungsstatement fasste Włodzimierz Borodziej (Warschau/Jena), Mitglied des internationalen Sachverständigenausschusses8 und seit 2009 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Museums, das schmale, lediglich 27 Seiten umfassende Papier9 zusammen und lieferte in seinen Kommentaren reichlich Stoff für eine spannende Diskussion. Die künftige Dauerausstellung, die in einem Gebäude in unmittelbarer Nähe des Europäischen Parlaments (EP) zum 1. August 2014 eröffnet werden soll, wird chronologisch angelegt sein. Sie soll allerdings keine Addition nationaler Narrative sein, sondern auf europäische Phänomene fokussiert werden. In der politikgeschichtlich geprägten Exposition werden die beiden 8

Mitglieder des Sachverständigenausschusses des vom ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Hans Gert Pöttering initiierten Hauses der Europäischen Geschichte waren außerdem: Giorgio Cracco (Italien), Professor für Kirchengeschichte, Universität Turin; Michel Dumoulin (Belgien), Professor für Geschichte, Katholische Universität Löwen in Louvain-la-Neuve; Hans Walter Hütter (Deutschland), Professor, Präsident der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, Bonn; Marie-Hélène Joly (Frankreich), Generalkonservatorin, stellvertretende Direktorin der Direktion für Geschichte, Kulturerbe und Archive, Französisches Verteidigungsministerium; Matti Klinge (Finnland), emeritierter Professor für nordische Geschichte, Universität Helsinki; Ronald de Leeuw (Niederlande), Professor, ehemaliger Direktor des Rijksmuseum Amsterdam; António Reis (Portugal), Professor für Geschichte, Neue Universität Lissabon; Mária Schmidt (Ungarn), Direktorin des Museums „Haus des Terrors“ in Budapest. 9 Sachverständigenausschuss – Haus der Europäischen Geschichte, Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, 2010. Online verfügbar unter http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_d e.pdf (25.10.2010).

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Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts herausgestellt. Einen weiteren Leitfaden bilden die Auseinandersetzungen zwischen Demokratie und Diktatur in Europa. Das Konzept der Ausstellung – im Konferenzprogramm als „ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke“ charakterisiert – bezeichnete Borodziej als einen „Balanceakt der Experten“, denn auf einer Fläche von bis zu 4.000 Quadratmetern soll sowohl die Geschichte des Westes und der (vorwiegend) westeuropäischen Integration als auch die Geschichte des so genannten Ostens ausgestellt werden. Der polnische Historiker verwies in seiner Präsentation auf drei Spannungen, mit denen die Autoren der konzeptionellen Grundlagen konfrontiert waren. Erstens die Stellung des „europäischen Wunders“ in der künftigen Ausstellung, das heißt die Thematisierung der Fähigkeit der Europäer, aus der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu lernen, die übrigens in den Augen der Nichteuropäer das Attraktivste an Europa sei. Zweitens die Balance zwischen Stolz und Skepsis der Europäer. Und drittens die Spannung zwischen dem Nationalen und dem Europäischen. Wie Borodziej zutreffend bemerkte, wird sich in dieser Exposition, trotz aller Bemühungen der künftigen Ausstellungsmacher, jedes Land bzw. jede nationale Rechte unterrepräsentiert fühlen können. Der Referent distanzierte sich jedoch von dem Vorwurf eines „paneuropäischen Treitschkismus“, indem er das künftige Museum als eine Brille bezeichnete, die den Blick auf die anderen schärfe oder vielleicht erst ermögliche. In den Kommentaren von Franziska Augstein (München), Zsuzsa Breier (Berlin), Volkhard Knigge (Weimar/Jena), Mária Schmidt (Budapest) und Stefan Troebst (Leipzig) waren grosso modo zwei Stimmen zu vernehmen: Die einen sahen im Haus der Europäischen Geschichte eine bottom-upInitiative, denn das EP als Ideengeber des neuen Museums ist ja die einzige demokratische Vertretung der EU-Bürger. Die anderen dagegen betrachteten das Museum als einen Versuch der EUropäischen Elite, die europäische Identität zu konstituieren. Mit einigen philologischen Anmerkungen kritisierte die Journalistin Franziska Augstein die Zielsetzung des künftigen Museums und bezeichnete die Brüssel-Bindung der Ausstellung als bedenklich. Eine Wanderausstellung würde ihr viel besser gefallen. Auch Volkhard Knigge, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, sprach sich gegen das Vorhaben aus, das Museum mit einer fertigen Dauerausstellung zu eröffnen. Die Einrichtung selbst solle seiner Meinung nach als Impuls zur Herausbildung einer transnationalen Geschichtskultur fungieren. Die erste (Wander)Ausstellung könnte z. B. als Einladung an Kuratoren nationaler Museen konzipiert werden, drei Objekte aus ihren Sammlungen auszuwählen, an denen man die europäische Geschichte erkennen könne. Für eine Wanderausstellung plädierte auch die Direktorin des Budapester Hauses des Terrors Mária Schmidt. Die ungarische Kulturdiplomatin Zsuzsa Breier sprach sich wiederum gegen tiefsitzende Automatismen aus der Zeit des Kalten Kriegs

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aus und appellierte daran, die westeuropäische Entspanntheit bezüglich der eigenen Vergangenheit auf die osteuropäische Geschichte zu erweitern. Der Leipziger Historiker Stefan Troebst stellte in seinem Kommentar die trügerische Dichotomie zwischen Nation und Europa in Frage, indem er auf Regionalisierungsprozesse hinwies, die sich auch in der Gedächtnislandschaft abspielen. Es gebe übrigens eine aparte Spannung in der Tatsache, dass gerade in Belgien, einem Staat, der im Zerfallsprozess begriffen ist, ein europäisches Museum entstehen soll, wie Lutz Niethammer, der Moderator der Diskussion, betonte. Erwartungsgemäß war die anschließende Diskussion sehr lebendig. Das Publikum war u.a. daran interessiert, warum das Haus der Europäischen Geschichte gerade jetzt entstehen soll und in welchem Verhältnis es zu dem bereits existierenden Europamuseum von Krzysztof Pomian und Elie Barnavi steht. Gefragt wurde auch, inwieweit es gelingen wird, die Unabhängigkeit des neuen Museums vom EP zu sichern. Kritisiert wurde die politikgeschichtliche Reduzierung der geplanten Ausstellung sowie die europäische Selbstreferenzialität – als könnte Europa eine Art größere Schweiz werden. Europa sei vielmehr ein Global Player – betonte Etienne François – und müsse deswegen global gedacht werden. Noch unklar ist allerdings, ob es im Wissenschaftlichen Beirat des Museums und im Museumsteam Nichteuropäer geben wird und inwiefern die Perspektive der Minderheiten, z. B. Sinti und Roma, in der Exposition Berücksichtigung findet. Auf der Tagung wurde jedoch nicht nur über den Inhalt der Ausstellung und die Zielsetzung des Museums debattiert. Die Diskutanten überlegten auch, an welchen Kriterien man in Zukunft Erfolge bzw. Misserfolge der neuen Einrichtung wird messen können. Wie Lutz Niethammer abschließend betonte, werde das künftige Museum schon alleine durch seine Existenz einen großen Beitrag zur Entstehung bzw. Belebung der europäischen Öffentlichkeit leisten, denn indem es viel Widerspruch provoziert, werde es einen grenzüberschreitenden Austausch über die Vergangenheit Europas auslösen. Zsuzsa Breier zufolge könne man dann von einem Erfolg sprechen, wenn die Balance zwischen Leidens- und Freudengeschichte gelänge. Hans-Peter Schwarz betonte hingegen, dass jede vernünftige Firma Werbung mache. Warum sollte das die Europäische Union nicht tun? – fragte der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, zur Überraschung vieler Zuhörer. Es bleibt abzuwarten, ob das in Brüssel entstehende Haus der Europäischen Geschichte den erwünschten Aufklärungs-, Branding- bzw. Marketing-Effekt tatsächlich haben wird. Bisher erwies sich allerdings das Konzept der Ausstellung als ziemlich schlecht vermarktet. Die Intensität der Diskussion auf der Weimarer Tagung macht jedoch deutlich, dass das Interesse an diesem Projekt sehr groß ist. Die Initiatoren des Symposiums, an dem neben Geisteswissenschaftlern auch Gedenkstättenpädagogen, NGO-Mitarbeiter und interessierte „Laien“ teilnahmen, trafen damit wirklich einen Nerv. Zugleich erfüllten sie den Auftrag der 2002 ins Leben gerufenen Stiftung, nämlich

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„prospektive Geschichtsforschung zu betreiben, die nicht nur Erinnerungsarbeit leistet, sondern darüber hinaus die nachfolgenden Generationen für die latenten Gefährdungen von Freiheit und Demokratie sensibilisiert“10.

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http://www.stiftung-ettersberg.de/cms/website.php?id=/stiftung/idee_auftrag.htm (25.10.2010).

Autorenverzeichnis

Dr. Bekim AGAI, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, BMBFProjekt „Europa von außen gesehen“, Brühler Str. 7, 53119 Bonn Dr. Kerstin ARMBORST-WEIHS, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz Dr. Judith BECKER, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz Dr. Dr. Guido BRAUN, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Frühe Neuzeit, Konviktstr. 11, 53113 Bonn Dr. Zaur GASIMOV, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz Dr. Ines GRUND, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz PD Dr. Daniel HILDEBRAND, Institut für Europäische Geschichte, Universitätsstr. 19, 55116 Mainz Apl. Prof. Dr. Friedrich JAEGER, Kulturwissenschaftliches Institut, Goethestr. 31, 45128 Essen Kornelia KOŃCZAL M.A., Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Majakowskiring 47, 13156 Berlin Nils MÜLLER M.A., Freie Universität Berlin, Richard-Sorge-Str. 25a, 10249 Berlin Dr. Klaus OSCHEMA, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg Dr. Martin PETERS, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz

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Prof. em. Dr. iur. Heinhard STEIGER LL.M. (Harvard), Oberhof 16, 35440 Linden PD Dr. Hillard VON THIESSEN, Universität zu Köln, Historisches Institut, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln PD Dr. Andreas WÜRGLER, Universität Bern, Historisches Institut, Unitobler, Länggassstrasse 49, 3000 Bern 9, Schweiz