Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 44 2009 9783484605756


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German Pages 230 [236] Year 2009

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INHALTSVERZEICHNIS
EDITORIAL
ARBEITSBERICHTE AUS DER EDITORENWERKSTATT
»WENN ICH STAT DER HAARE FEDERN HÄTTE«
»VORREDE ZUR VORREDE«
»EIN BUCH MACHT BÜCHER«
AUFKLÄRUNG ÜBER RELIGION
JEAN PAULS IDYLLENTIERE ODER HERMENEUTIK DER WELT-ALS-IDYLLE
EINE »TITEL-SONDERBARKEIT«
FICHTE DEM BUCHSTABEN NACH AUSLEGEN
DER BÜRGER UND DER »ZUSAMMENSTOSS DER KULTUREN«
EMPIRISCHE PSYCHOLOGIE UND ÄSTHETISCHER ÜBERSCHUSS IN TIECKS FRÜHEN STRAUSSFEDERN-ERZÄHLUNGEN (DER PSYCHOLOG U.A.)
JEAN PAULS SCHRIFTSTELLER
Backmatter
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Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 44 2009
 9783484605756

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JAHRBUCH DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT 2009

JAHRBUCH DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT IM AUFTRAG DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT, SITZ BAYREUTH HERAUSGEGEBEN VON ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN, HELMUT PFOTENHAUER, MONIKA SCHMITZ-EMANS, RALF SIMON 44. JAHRGANG

n MAX NIEMEYER VERLAG T!BINGEN

Das Jahrbuch erscheint als Jahresgabe an die Mitglieder der Jean-Paul-Gesellschaft fr 2009. berweisung des Jahresbeitrags – fr Ordentliche und Korporative Mitglieder 25 Euro, fr Studenten 15 Euro – jeweils zum Jahresanfang auf das Konto der Gesellschaft. Kontaktadresse: Jean-Paul-Gesellschaft, c/o Jean-Paul-Museum, Richard-Wagner-Str. 48, 95444 Bayreuth, E-mail: [email protected] Informationen zu Jean Paul (hist.-krit. Ausgabe, Bibliographie) und zur Jean-PaulGesellschaft (Jahrbuch, Richtlinien zur Manuskripterstellung, Satzung, Beitrittsformulare) kçnnen auch von der Website der Gesellschaft bezogen werden: http://www.jean-paul-gesellschaft.de Redaktion dieses Bandes: Christian A. Bachmann

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-60574-9

ISSN 0075-3580

@ Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulIssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr VervielfIltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestIndigem Papier. Satz: Christian A. Bachmann, Bochum Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

INHALTSVERZEICHNIS

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ARBEITSBERICHTE DER AUS DER EDITORENWERKSTATT

Aus den laufenden Projekten der Satiren und Ironien, des Leben des Quintus Fixlein und des Leben Fibels . . . . . . . . . . . CHRISTIAN SCHWADERER: »Wenn ich stat der Haare federn hätte« – Materialien aus Jean Pauls unveröffentlichter Satirenund Ironiensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SABINE STRAUB: »Vorrede zur Vorrede« – Aus Jean Pauls unveröffentlichten Materialien zur Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ALEXANDER KLUGER: »Ein Buch macht Bücher« – Aus den unveröffentlichten Vorarbeiten zum Leben Fibels . . . . .

5

8

18 33

HANS-GEORG POTT

Aufklärung über Religion. Vortrag vor der Jean-Paul-Gesellschaft im März 2008 . . . . . . . . .

45

RALF SIMON

Jean Pauls Idyllentiere oder Hermeneutik der Welt-als-Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

FRANZISKA FREI GERLACH

Eine »Titel-Sonderbarkeit« Die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text . . . . . . . . . . . . .

81

TILL DEMBECK

Fichte dem Buchstaben nach auslegen Jean Pauls Konjektural-Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

VI KARL S. GUTHKE

Der Bürger und der »Zusammenstoß der Kulturen« Exotik im bürgerlichen Trauerspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

CARSTEN ZELLE

Empirische Psychologie und ästhetischer Überschuss in Tiecks frühen Straußfedern-Erzählungen (Der Psycholog u.a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

MONIKA SCHMITZ-EMANS

Jean Pauls Schriftsteller Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen Hesperus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben des Quintus Fixlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 205

Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

ANMERKUNG ZUR ZITIERWEISE

Die Werke Jean Pauls werden i.d.R. nach der historisch-kritischen Ausgabe Eduard Berends (Sigle: SW, Beispiel: SW II/4,69) oder der bei Hanser erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Norbert Miller (keine Sigle, Beispiel: I/6,1037) zitiert. Dabei bezeichnet die römische Ziffer die Abteilung, nach dem Schrägstrich folgt die arabische Band- und, nach dem Komma, die Seitenzahl.

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

EDITORIAL

Wie in früheren Jahrbüchern berichten auch in dieser Ausgabe zunächst die Mitarbeiter der Würzburger Jean-Paul-Ausgabe aus der Editorenwerkstatt. Ihr Beitrag stellt zum einen neu in Angriff genommene Projekte der Historisch-Kritischen Ausgabe vor; zum anderen werden zur Fertigstellung bereits begonnener Projekte dienende Materialien präsentiert. Christian Schwaderer kommentiert ausgewählte Materialien aus Jean Pauls unveröffentlichter Satiren- und Ironiensammlung; Sabine Straub präsentiert unveröffentlichte Materialien aus der Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein; über unveröffentlichte Vorarbeiten zum Leben Fibels berichtet Alexander Kluger. Hans-Georg Pott hielt auf der Jahresversammlung der Jean-Paul-Gesellschaft im März 2008 einen Festvortrag zum Thema »Aufklärung über Religion«, in dem er die Auseinandersetzung Jean Pauls mit Glauben und Religiosität im Kontext seiner poetischen Anthropologie beleuchtet. Die Einbildungskraft als das zentrale ästhetische Vermögen überwindet die Sphäre der Immanenz; das Gefühl erschließt aus der an Jacobi orientierten Perspektive Jean Pauls die Realität des Transzendenten wie auch des Imaginären. Prägend für das Werk Jean Pauls ist dabei vor allem die Frage nach der sprachlichen Darstellbarkeit des durch das Gefühl erschlossenen Unendlichen. Ralf Simon führt in seiner Abhandlung über »Jean Pauls Idyllentiere« zunächst den Nachweis, dass sich die Jean Paulsche Konstruktion des Idyllikers auf die Tierpsychologie des 18. Jahrhunderts zurückführen lässt. Das »Vollglück in der Beschränkung« ist eine Paraphrase der epistemologisch zentralen Passagen in Reimarus’ Buch über die Kunsttriebe der Tiere (1762). Die Tierpsychologie wird an die Theorie des fundus animae angekoppelt, so dass Jean Pauls Idylliker als eine epistemologische Konstruktion erscheinen, in der die Theorie der unteren Seelenvermögen, die Tierpsychologie und die aisthetische Ästhetik Baumgartens und Herders zusammengeführt werden. Diese These hat nicht nur Konsequenzen für den anthropologischen Entwurf von Jean Pauls Charaktertypologie. Auch für die Interpretation der Idyllen, so

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Dangel-Pelloquin et al.

das Ergebnis einer kleinen Lektüre des Wutz, wird mit den Idyllentieren anders umgehen müssen, als mit idyllischen Subjekten. Der Beitrag von Franziska Frei-Gerlach über »Die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text« entstammt dem größeren Forschungsfeld einer Habilitationsschrift, deren Grundthese hier angedeutet wird. Frei-Gerlach spricht von einem Geschwisterdispositiv um 1800. Die Betonung der horizontalen Familienachse gegenüber der vertikalen Achse der Generationenabfolge führt um 1800 zu einer neuen Idee sozialer Kohäsion, zu neuen Kommunikationsdispositiven und auch zu Veränderungen im kollektiven Symbolsystem. Diese umfassende These wird in dem vorliegenden Aufsatz in eine Mikroanalyse zurück gewendet: Frei-Gerlach widmet sich erneut dem Titel des ersten Jean Paulschen Romans, um plausibel zu machen, dass der Geheimbund der Illuminaten das titelgebende Stichwort lieferte. Till Dembeck legt mit seiner Abhandlung unter dem Titel »Fichte dem Buchstaben nach auslegen. Jean Pauls Konjektural-Philosophie« eine intensive Neulektüre der Clavis Fichtiana vor, die er zu einer Bestimmung des Verhältnisses von Jean Paul zu Fichte ausweitet. Die originelle und überraschende These lautet, dass sich die erkenntnistheoretischen Entwürfe der beiden Autoren schlussendlich nur in der Exegese der Buchstäblichkeit unterscheiden. Die Differenz von Geist und Buchstabe ist bei Fichte zum Philosophem geworden. Es ist die Materialität des Buchstabens, die strittig ist. Deren Widerstand gegen den Geist schreibt Jean Paul auf luzide Weise dem philosophischen Diskurs Fichtes ein, indem er Szenarien der materialen Doppelgängerschaft entwirft, also dem einen Buchstaben verschiedene Deutungen zukommen lässt. Diese Beiträge aus der Jean-Paul-Forschung werden ergänzt durch zwei Abhandlungen über Gegenstände aus dem literargeschichtlichen Umfeld Jean Pauls. In Karl S. Guthkes Abhandlung zum Thema »Der Bürger und der ›Zusammenstoß der Kulturen‹« äußert sich einer der seit Jahrzehnten international führenden Experten zum bürgerlichen Trauerspiel, in Anknüpfung an Jean Paul, zu einem bisher kaum beachteten, kulturhistorisch aber brisanten Aspekt dieses Genres, dem des Exotischen als essentiellem Bestandteil des Anderen, des Fremden in der Literatur um 1800. Carsten Zelle interpretiert Tiecks Erzählungen aus der von ihm selbst herausgegebenen Sammlung Straußfedern vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erfahrungspsychologie. In Abgrenzung gegen Lesarten dieser Texte, welche diese als Literarisierungen der empirischen Psychologie um 1800 und entsprechend als Beiträge zur Spätaufklärung deuten, versteht Zelle sie als literatursatirische Kontrafakturen, die erfahrungsseelenkundliches Material

Editorial

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zwar aufgreifen, dabei aber dezidiert metaliterarischen Charakter besitzen. Aus einer Fallgeschichte wird so eine satirische Zufallserzählung (Der Psycholog), aus spätaufklärerischer Schwärmerkritik eine stark intertextuell geprägte Narrensatire. Mit den Porträts Jean Paulscher Dichter- und Schriftstellerfiguren im Fixlein sowie im Hesperus setzt Monika Schmitz-Emans abschließend das im vorigen Jahrbuch begonnene Jean Paulsche Dichterlexikon fort. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Helmut Pfotenhauer, Monika Schmitz-Emans, Ralf Simon Basel, Bochum, Würzburg, im September 2008

ARBEITSBERICHTE AUS DER EDITORENWERKSTATT Aus den laufenden Projekten der Satiren und Ironien, des Leben des Quintus Fixlein und des Leben Fibels

Die folgenden Auszüge geben einen Einblick in die laufenden Editionen der Satiren und Ironien, des Leben des Quintus Fixlein und des Leben Fibels. Präsentiert werden handschriftliche Vorarbeiten beziehungsweise im Falle der Satiren und Ironien die handschriftliche Textgrundlage. Da es sich um Ergebnisse aus der Editionswerkstatt handelt, sei an dieser Stelle der vorläufige Charakter dieser Auszüge betont: Bei den Vorarbeiten handelt es sich meist noch um Rohtranskriptionen, die hin und wieder Lücken an schwer lesbaren Stellen aufweisen können. Auch ihr Erscheinungsbild stellt noch keine Vorschau auf die endgültige Präsentation der fertigen Editionen dar – die Auszüge wurden vielmehr ausgewählt, um einen Eindruck des inhaltlichen Charakters dieser zum Teil stark divergierenden handschriftlichen Texte zu vermitteln. Die Wiedergabe der Transkriptionen richtet sich nach folgenden Kriterien: –



– –

– – –

Abbrüche, Verschleifungen und Auslassungen innerhalb und am Ende von Worten werden kursiv ergänzt: »Träu d Jugd« → »Träume der Jugend« Durch Punkt abgekürzte Wörter werden nicht ergänzt. Ausnahme: ist durch die Abkürzung der Wortsinn nicht mehr oder nur schwer nachvollziehbar, wird das Wort kursiv ergänzt. Hierbei wird der ergänzte Wortteil in eckige Klammern gesetzt: »Sat.« → »Sat.[ire]« Lateinische Schrift wird durch Schrifttypenwechsel gekennzeichnet: »voyage pittoresque« Unterstreichungen, die der Hervorhebung von Textbereichen dienen, werden als solche wiedergegeben: »Wärme und Näss. 2 Mittel der Gährung« Unterstreichungen, die den Beginn einer neuen Sinneinheit markieren, werden als solche wiedergegeben: »Schinkenschwarte« Durchstreichungen, die Korrekturen dokumentieren, werden wiedergegeben. Einfügungen über oder unter der Zeile mit eindeutiger Verortung werden hoch- bzw. tiefgestellt wiedergegeben: »Körper Stativ der Seele«

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Christian Schwaderer / Sabine Straub / Alexander Kluger



– – –









– –

Einfügungen über oder unter der Zeile ohne eindeutige Verortung, d.h. interlineare Alternativtexte, werden mit öffnenden und schließenden Weichenzeichen markiert: ≺≻ Die Weichenzeichen umschließen dabei den Textbereich in der Zeile, über oder unter dem der interlineare Text plaziert ist sowie den hoch- oder tiefgestellten interlinearen Text: ≺Bücher Lumpen≻ Beginnt der interlineare Alternativtext hierbei vor dem entsprechenden Text in der Zeile, wird er diesem vorausgestellt: ≺Orlogschiffe Troja ― Nero≻ Wird über einem hochgestellten Textteil erneut Text hochgestellt, so wird auch letzterer durch Weichenzeichen gekennzeichnet: ≺stommas die 4 Hundszähne ≺waren ächt≻ ≻ des * Horizontale Unterteilungslinien, die sich über die gesamte Textseite erstrecken, werden als solche wiedergegeben. Leerräume in der Zeile werden nach Möglichkeit wiedergegeben. Der Zeilenfall der handschriftlichen Originaltexte wird innerhalb von Sinneinheiten aufgelöst. Dabei werden Worttrennungen aufgelöst, sofern es sich nicht um Komposita aus mehreren Nomen handelt. Die bei wörtlicher Rede am Beginn jeder Textzeile erneut gesetzten Anführungszeichen fallen weg. Sofortkorrekturen in Form von »Buchstabe tilgt Buchstabe« werden in einem lemmatisierten Fußnotenapparat dokumentiert: »Vorstädte] aus: Vosstädte« Nachträgliche Einfügungen Jean Pauls, z.B. am Rand, werden ebenfalls im lemmatisierten Fußnotenapparat dokumentiert: »Plan ein] nachträglich am rechten Rand« Emendationen werden nur bei eindeutigen sinnentstellenden Schreibfehlern Jean Pauls vorgenommen und im lemmatisierten Apparat dokumentiert: »Greise] emendiert aus: Gerise« Scheinbare Verschreibungen Jean Pauls, bei denen es sich auch um intendierte Wortspiele handeln könnte, werden nicht emendiert; sie werden mit einem sic! im lemmatisierten Apparat kenntlich gemacht: »in der Jugend und im Altar] Altar sic!« Unklare Lesungen werden als solche im Apparat mit »unsichere Lesung« dokumentiert. Nicht entzifferbare Textstellen werden mit Asterisken * gekennzeichnet. Bei bekannter Buchstabenzahl werden die unleserlichen Buchstaben mit der entsprechenden Anzahl von Asterisken ersetzt. Bei unbekannter Buchstabenzahl wird *...* eingesetzt.

Arbeitsberichte aus der Editorenwerkstatt





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Paginierungen Jean Pauls werden in eckigen Klammern an der entsprechenden Stelle der Original-Handschriftenseite wiedergegeben (z.B. [129r]). Nachträgliche Paginierungen Berends werden mit einem B versehen (z.B. [B129r]). Sind sowohl Paginierungen Jean Pauls und Berends vorhanden, werden beide wiedergegeben. Nicht transkribiert werden: – Verwendungs- bzw. Bearbeitungsstreichungen: horizontale Streichungen ganzer Textzeilen und vertikale Streichungen größerer Textsegmente oder ganzer Textseiten – Federproben, Additionen, »d« – Nachträglich von Eduard Berend mit Bleistift eingefügte Textzuordnungen

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Christian Schwaderer / Sabine Straub / Alexander Kluger

CHRISTIAN SCHWADERER

»WENN ICH STAT DER HAARE FEDERN HÄTTE« Materialien aus Jean Pauls unveröffentlichter Satiren- und Ironiensammlung1

Das Entstehungsjahr der Satiren. Dreizehnter Band. 1788.2 ist ein arbeitsreiches für den jungen Jean Paul. Der 25-jährige unterrichtet seit Januar 1787 den jüngeren Bruder Oerthels, Christian Adam, als Hauslehrer in Töpen. Nebenbei liest, exzerpiert und schreibt er unentwegt. Allein fünf neue Exzerpthefte beginnt er in diesem Jahr, das ohnehin mit Plänen und Projekten überfrachtet scheint. Mehrere Aufsätze sind in Arbeit und zur Veröffentlichung vorgesehen. Jean Paul schreibt an Herder mit der Bitte, den Abdruck des Phantasiestücks Was der Tod ist3 und der Satire Beantwortung der Preisaufgabe4 in Wielands »Teutschem Merkur« zu vermitteln. Herders Frau Karoline schickt sie nach Ablehnung durch Wieland an Boie zum Abdruck fürs »Deutsche Museum«, erreicht jedoch nur die Veröffentlichung des Phantasiestücks in dessen Zeitschrift. Nichtsdestotrotz arbeitet Jean Paul bereits am nächsten Aufsatz Beweis, daß Ehebrüche nicht möglich sind5 und bringt endlich den Aufsatz Die mörderische Menschenfreundlichkeit6 im Hofer Intelligenzblatt unter. Mögen seine Erfolge in jenem Jahr noch so bescheiden gewesen sein, seinem unbedingten Willen zum Erfolg tat dies keinen Abbruch. Für Hermanns Stammbuch beschreibt er am 20. März 1788 einen Tag vor seinem 25. Geburtstag seine Situation: Wirds (sagt der H. Verfasser) mein guter Herman, wol der Mühe werth sein, zwischen Erinnerung und Vergessenheit, zwischen Vergnügen und Schmerz einen Unterschied zu machen und mir die erste und dir das zweite zu wünschen, in einem Traum- und Theaterleben wie diesem mein’ ich, in dieser dunkeln Ekke des Uni-

––––––– 1

2 3 4 5 6

Die Sammlung der Satiren und Ironien (Fasz.XIIa und XIIb) aus Jean Pauls Nachlass umfasst 21 Bände, von denen die Bände 14 bis 21 von Birgit Sick historisch-kritisch ediert werden (zur Auswahl und Edition des Konvoluts vgl. Birgit Sick, Jean Pauls Nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte, in: JJPG 41 (2006), S.51–70. Die vorliegenden Texte entstammen sämtlich dem 13. Band der Sammlung (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Jean Paul, Fasz.XIIb, Satiren und Ironien), der ergänzend im Rahmen der Würzburger Online-Publikation veröffentlicht wird. Titelblatt. Was der Tod ist, in: SW I/18,95. Beantwortung der Preisaufgabe, in: SW II/2,148. Beweis, daß Ehebrüche nicht möglich sind, in: SW II/3,56. Die mörderische Menschenfreundlichkeit, in: SW I/18,91.

Arbeitsberichte aus der Editorenwerkstatt

9

versums, in einer Welt, die der kleinste Zähler einer bessern ist, in einer hypochondrischen, in einer verwitternden, zerstöhrten und zerstöhrenden, in einer wo man im 24 Jahr noch nicht in Weimar sizt, in einer wo du dich weg nach Erlangen verlierst, in einer wo dein Kopf vol Avtochthonen Ideen und Systemen auf einem unsystematischen kranken Körper wächst, in einer wo glaub’ ich die Stadtpf[arrer] nicht besser sind als die Landpf[arrer], in einer wo alles im Wechsel zerfährt, meine Lustigkeit auf dem Nebenblatte, Oerthel und zur Hälfte einmal Dein Freund.7

In Weimar sieht er seinen Platz, spornt sich an »ein Elias-wagen, der einen Proph. gen Himmel führe« zu sein, auch wenn er selbstironisch beklagt, bei ihm reiche es nur zu einem »Karren« ([222]/214). So gestimmt bearbeitet Richter die Auswahl aus des Teufels Papieren in diesem Jahr ein letztes Mal, bevor sie 1789 in einer mehr schlechten als rechten Ausgabe erscheint. Die ersehnte Fahrkarte nach Weimar sind die satirischen Texte nicht. Schon zehn Jahre zuvor spöttelte Johann Heinrich Merck über »das pikante Produkt, das man Satyren nennt, die aber niemand heutzutage mehr mag.«8 Trotz des Misserfolgs bleibt Jean Paul der Satire weiterhin treu und sein Selbstvertrauen als Autor weiß er eben durch sein Schreiben zu bestärken. Eintrag [90.]/86. zeugt von der Kritik, mit der sich Richter verstärkt im Freundeskreis auseinandersetzen musste (etwa durch Vogel im Jahr zuvor: »Schreiben Sie lieber eine juristische Deduktion oder einen philosophisch-pädagogischen Roman.«).9 Doch durch »eine lang. Übung« – die Jahre am Tisch der Mutter eine Satire um die andere zu Papier bringend – lässt sich Jean Paul nicht beirren und verweist in Eintrag [156]/150 darauf, welche zahlreichen Voraussetzungen das Schreiben eines Buches zunächst bedarf. Die Kritiker, die ihm später vorwerfen werden, ein Hans Dampf in allen Gassen zu sein, sitzen einem Mißverständnis auf, behauptet er doch von sich nicht, umfassend gelehrt zu sein, was unter seinen Lebensumständen gar nicht im Bereich des Möglichen ist, sondern hebt vielmehr die Bedeutung des philosophischwitzigen Spiels mit der Gelehrsamkeit hervor. Jetzt ist nicht die Zeit sich durch Zweifel am Verständnis der Leser beirren zu lassen, ohnehin sei es wahrscheinlicher, dass der Autor der Einzige ist, der sein Werk nicht versteht, wie er im darauffolgenden Auswahltext ironisch bekundet. Jean Paul hat seine Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft, nur die menschlichen Schranken lassen ihn nicht »mit so vielen 1000 Federn auf einmal schreiben«. ––––––– 7 8

9

In: SW III/1,250f. Johann Heinrich Merck, Über den Mangel des Epischen Geistes in unserm lieben Vaterland, in: Der Teutsche Merkur. 1. Vierteljahr 1778, S.48–57. Zitiert nach Uwe Schweikert, Jean Paul – Chronik. Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Uwe Schweikert, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Gabriele Schweikert. München/Wien 1975, S.22.

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Christian Schwaderer / Sabine Straub / Alexander Kluger

Aber erst zwei Jahre später wird er die Satire scheinbar zu Gunsten des Romans hintanstellen – zunächst wuchs Satireband XIII von 1788 mit über 100 Manuskriptseiten zu einer der umfangreichsten satirischen Sammlungen aus dem Nachlass. Rund ein Drittel der Einträge beruhen auf Exzerpten. Neben persönlichen Notizen, die meist seine Auseinandersetzung mit dem Schreiben dokumentieren, verspottet Jean Paul gesellschaftliche Missstände, wie etwa die Vernünftelei des Zeitgeistes und daraus resultierende Schwäche ([17]/16 und [24.]/23.), mokiert sich über Prüderie oder stellt die vermeintliche Tugend der Damenwelt in Frage ([53.]/51.). Mindestens bis in den Juli hinein hat Jean Paul an der Satirensammlung geschrieben, da er auf der letzten Seite des Bandes »hörte Edikt vom 9 Iuli« notiert. Hier bezieht er sich auf das von dem preußischen Justizminister Johann Chrristian Wöllner erlassene Religionsedikt vom 9. Juli 1788. Das Konvolut wird ihm bei seinem ersten Roman Die Unsichtbare Loge durch diverse Einträge, die dort Verwendung finden und noch bis in die späten 90er Jahre von Nutzen sein. Fünf Jahre später liest und registriert er einige Einträge wieder, wie er selbst auf der letzten Seite vermerkt. Später streicht er die Einschränkung »bis N. 76 März« vor der Jahresangabe »1793«, was darauf schließen lässt, dass er auch das Übrige im Laufe des Jahres in gleicher Weise rezipiert hat. Bei diesem Arbeitsschritt markierte er vermutlich in einer ersten Auswahl für ihn besonders bemerkenswerte Einträge mit Strichen am Seitenrand, um diese im Februar 1795 gezielt zu lesen. Im Siebenkäs, der im folgenden Jahr erscheint, finden sich dann die Früchte dieser konzentrierten Lektüre wieder. Letztmalig vermerkt er die Konsultation des Satirenbands XIII im Dezember 1798 während seiner Arbeit am Titan, der angereichert mit einem Eintrag aus dem Band ein Jahr später erscheint. Doch noch im Freiheits-Büchlein von 1805 findet sich ein Eintrag wieder. Der Band hat ihn folglich über weite Teile seines schriftstellerischen Lebens begleitet, was Jean Pauls stete Wertschätzung der Satiren abermals belegt. [17]/16 könte

Ich glaube gar nicht, daß Es den Scharfsin irg. eines Philos. unmögl. entehren wenn er sich an einer bestimten Auflösung der10 Frage versuchte, warum wir alle vernünftig sind. Das Phanomen ist auffallend, aber pnoch wenig gewis noch nicht f erklärt. Wenige sind iezt rasend; Trunkenheit, Ritternarheit, Tolkühnheit, Aufruhr und das alte deutsche Wes. sind Laster, die wir nur aus der deutschen Geschichte kennen, ia aus der alt. am meisten. Ich hatte einmal ––––––– 10

der] aus: des

Arbeitsberichte aus der Editorenwerkstatt

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vor, die Sache medizinisch anzufassen (manche werd. denken beim Puls) u. in der That ist et. daran, daß11 wie die Aerzte Raserei durch Entkräftung heilen, auch uns.[ere] durch die geschiktesten Aerzte kan gehob. word. sein; pder ein solch.f Lux., puns. solchef Verzärtelung,12 bei der wir uns in uns.[erem] rauhen Klima wie ausländ. Gewächse befinden, punsere solchef Entmannungen und Entseelungen durch die Wollust scheinen gar13 wol eine Kraftlosigkeit am Ende gebären zu könen, daß der Mensch einer der vernünftigsten psein mus f. Dah. auch puns. deut.[sche]f Schulen den14 Zwek die Kind. vernünftig zu machen niemals dad.[urch] verfehlen daß sie sie kränkl. mach. u. durch die schlechteste Luft, Sizen und Les. in Priest. des röm. Gottes pallor15 verwandeln. [Siehe] § 23 [24.]. [24.]/23. Siehe §. 16 [17]

Ich wünschte, die ostind. Kompag. hätte mich wie den Bontekoe zu seiner Lobrede auf den Thee,16 zu einer Lobrede auf den Luxus mit wenig od. viel bestochen: es wäre wed. mein noch ihr Schaden.17 So mus ich iezt aus bloss. Liebe zur Wahrheit, die in keinem Menschen recht stark werden wil, meine vortheilh.18 Meinung vorbringen. Das was ich iezt ohne Nuz. für mich u. aus kalt. Wahrheitsliebe sage ist das, daß wir gotlob nunmehr19 viel zu wenig Kräfte haben, um zu rasen. Einen phys. Rasend. stellet der Arzt durch fortgesezte Entkräftungen her u. er wird nicht eher so vernünftig wie ein vorneh. ––––––– 11 12 13 14 15

16

17 18 19

daß] aus: das Verzärtelung,] aus: Verzärter gar] aus: so den] emendiert aus: des pallor] Vgl. SW I/12,308 (Levana oder Erziehlehre): »Kinder- und Schulstuben sind nur Sakristeien zu jenen Tempeln, die die Römer dem Pavor und Pallor (dem bleichen Schrecken) gebauet.« Bontekoe zu seiner Lobrede auf den Thee,] Bontekoe, der Leibarzt des Kurfürsten von Brandenburg, veröffentlichte 1667 eine Lobrede auf den Tee, die voll von Übertreibungen ist. Er machte den Tee um 1657 zuerst in Deutschland bekannt. Jean Paul bezieht sich hier auf eine Stelle aus dem, von einem anonymen Autor verfassten Artikel »Englands Theekessel« in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«, 3. Vierteljahr 1784, S.59. Dort heißt es: »Daß der bekannte Holländische Arzt Bontekoe den Gebrauch des Thees so hoch erhob, daß er zu Erhaltung der Gesundheit täglich jedem guten Christen 40 bis 50 Tassen zu trinken empfahl, begreift man leicht, wenn mann weis, daß ihm die ostindische Compagnie reichlich genug für seine Thee-Accommendation bezahlte.« Vgl. auch Jean Paul, Exzerpte [IVa-02-1788-0695], S.40: Bontekoe rieth ied. 40, 50 Tass. Thee täglich zu trinken. Deutscher Merkur 1784. Schaden.] emendiert aus: Schade. vortheilh.] aus: V nunmehr] aus: k

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Christian Schwaderer / Sabine Straub / Alexander Kluger

Frauenzimmer als bis er eben so schwach ist. Man freue sich immer üb. uns. Zustand, der nun so vernünftig ist, daß Ritter- republikan.- Brutusnarheit. in keines Seele komm.: allein man vergesse nie,20 daß das nicht uns. Verdienst ist und daß wir die Wolthaten dieser Vernünftigkeit niemandem zu dank. haben als dem Staat, der uns durch Ausmergelungen des Lux. für Narheit. verdorb. und blos für Vernunft gebildet hat. Oft wenn ich den Folgen davon und dem Ursprung nachgehe: so lob’ ich im nächsten Kaffeehause die Regierung mit einer neu. Wärme und sie ist natürl.vernünftig genug, ich meine die Wärme. [53.]/51. Ich wil hier kein Meisterstük des Wizes liefern, auch habe ich keine Zeit, eines im dialekt. Scharfsin zu geben, um et.[wa] durch beide für die Unschuld der Damen den besten Advokaten abzugeben: sond. ich pwil die verschiedenen Meinungen über d. Zeit f nur erzählen,21 wenn dies. od. iene glaubten daß wenn sie sie verlieren, worin es der Unschuld und einem Fächer eben nicht bess. als der Unschuld geht. V Wir wollen uns herstellen und sehen, wie lange viel die Eva die volkommenste Frau die Ilias ihres Geschlechts, der Cherubim unt. den weibl. Engeln Zeit nahm, so et. herl. zu bleiben. Nur 6 Stunden trieb’ sies, sagen die, die die22 äusserste Gränze berühren; 20 Iahre geben die an, die an die a. Gränze anspringen.23 Auf die24 vielen die mitt. innen stehen, kan ich pkeinen Augenblik der Beschreibung gönnen die Mühe meiner [Beschreibung] nicht wendenf. 43/14.25 Wenn wir nun bei den Töcht. der Eva erwägen, daß sie das götl. Ebenbild nimmer26 tragen, sondern das parisische; wenn wir folglich es offenbaren daß ihr Quasistand der Unschuld kaum so lang. wie Eva ihrer währen könne wenn wir ab. doch die lieb. die Sich Andere äusserste Gränze wählen u. lieb. in der Gutherzigkeit als im Argwohn27 die Schrank. übersteigen u. 20 Iahre sezen wollen: so thun wir nicht Unrecht. ––––––– 20 21 22 23 24 25

26 27

nie,] emendiert aus: mie, erzählen,] emendiert aus: erzähler, die, die die] emendiert aus: die die anspringen] aus: springen Auf die] aus: Den 43/14.] Jean Paul, Exzerpte [IIa-14-1788-0479], S.43: Galläus: nach einig. blieb Adam 12, a. 6 Stund. in seiner Unschuld, a. 8 Tag, a. 40 Tag, a. 20 Iahre; einige arab. Doktoren: am Freitag um 6 as er, um 9 ausgeiagt; Iuden: Got gab ihm zur Tröstung den Engel Raziel damit er nicht vor Kummer stürbe. p.87. Quelle: Bibliothèque universelle et histoire de l’année 1689. T.13, p.87. nimmer] aus: immer Argwohn] aus: Arge

Arbeitsberichte aus der Editorenwerkstatt

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[75.]/71. Rede eines Diebes an Diebe auf der Galgenleiter: „Ich weis gewis, daß unt. den. die mich henk. sehen, auch Leute von Werth sind, die einmal auch gehenkt werden: mit dies. red’28 ich; denn für29 die a. hab’ ich nicht den geringst. Respekt. Ich erinnere mich noch des Morgens, da ich als ein Zimmergesel war u. mit einig. von euch noch nicht gehenkt. Männern in Prozess.[ionen] ganz. Handwerker mit herauszog u. mein Möglichstes that, dies. Galg. in der Welt od. auf der Welt zu sehen: warum thaten wir das, meine Freunde? An Gründ. dazu fehlte es nicht uns: denn aus den viel. worüb. unt. welchen die Gelehrten bald den30 bald ienen zankend auslesen weswegen der Thurm zu Babel gebauet wurde, zusammen genommen baueten wir den Galg., der mich nicht lang mehr von sich red. lassen wird 16/ 331 (Geseze gesungen) Ob es gleich ein Wund. ist daß ich von Perizonius32 weis, daß er gesagt, der Thurm33 sei gebauet word., damit die Leute sich nicht von einand. versprängen sond. beisammenblieben: so wend’ ich es doch an auf den Galgen: denn wir erbaueten ihn, damit wir da hängend zusammen kämen wie a. Leute die nicht weniger Christen sind neben einand. sich eingrab. lass.: denn lebend führt uns der Grundsaz, den ehrl. Leute nicht haben, daß wir uns nach ied. That zerstreuen. Von der Hardt34 ist der 2 te Aut., der aus einer 2ten Ursache den Babylonischen Thurm35 aufbauet, eine Festung der Hamiten gegen die Semiten. Ich bin hier auss. Stande36 Thrän. (die ohnehin bald verstopft werden sollen) zu vergiess., daß das hochpeinl. Gericht ein Hamit ist, der gegen uns diese Festung aufthürmt: allein wir sezen uns doch in Besiz dies. Fest. und ich stehe die Wahrheit zu sag. auf der Sturmleiter. Gegen die Sündfluth37 war er auch: u. es p die Anwendung passet recht gut auch auf den Galg. wiewol gar nicht wahr sein kan. Die lezt. Ausleg. sagen, sie38 that. es, sich einen Namen zu ––––––– 28 29 30 31

32 33 34 35 36 37 38

red’] aus: rede für] aus: vor den] aus: b 16/ 3] Jean Paul, Exzerpte [IVa-03-1788-0270], S.16: Der Thurm zu Babel zur Rett. bei einer 2 Sündfluth – Perizonius, zum Zeich. damit sie nicht zerstreuet werden – von der Hardt: war eine Festung der Hamiten gegen die Semiten Welthist. Quelle: Allgemeine Welthistorie, die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten angefertigt, in einem vollständigen pragmatischen Auszuge. 10 Teile, enthaltend alte Historie von Fr. E. Boysen, Halle 1767–72. Perizonius] Eigentl. Voorbroek, Jakob (1651–1715), holländ. Gelehrter. Thurm] emendiert aus: Thurn Von der Hardt] Hardt, Herman von der (1660–1746), rationalistischer Theologe. Thurm] emendiert aus: Thurn Stande] aus: Stadt Sündfluth] emendiert aus: Sündfluh sie] aus: es

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machen. Es ist mir u. dem Galg. einerlei (denn wir werd. beide vor Alter nicht lange mehr stehen) ob es a. Leute wiss., daß wer einen Namen haben wil (u. das ist bei Leut., die einen brauch., da wir in uns. Geselschaft. einand. nie beim Geschlechtsnamen39 rufen) der bekömt ihn wie ich an meinem Plaze; ia wenn die Pers. nicht zu haben ist: so ist hier (ohne ein a. Feuerwerk als von faul. Holz) ihr Nam. schwebend. Ist es Liebe zur Gelehrsamkeit od. zum Wiz od. zur Tugend, wenn ich mich iezt für froh ausgebe, daß nun stat des Wachsses, das den Siren. die Ohren versperret (verrent) nun ein Strik an mich kömt, der vor alle Sinne gegen Versuchungen Schildwache40 stehen wil, so daß es eine wahre Unmögl. ist, zu et. verleitet zu werden was die Verdamnis verdient – sobald man schon in ihr ist. [77.]/73. Es giebt M elende Moralist. aller Art, die aus all. Gegenständ. und Produkt. der schönen Künste gern wandelnde Kleid. u. ein Bilderkabinet in einen Kleiderschrank verwand. möcht., nur damit niemand nichts Naktes41 sähe. Dieses treiben sie gerade bei wicht. Produkten der schönen Künste bei den Weib. am ärgsten. Sie sagen, diese müsten wie das Gemälde das Nakte vermittelst der Kleidung sehen lass. 22/ 2:42 ab.43 Kleid. liess. Weib. und Gemälde besser als man dächte. Allein es wird schon ied. wakkere Les. selbst sich gewund. haben, wie iene Moralist. [sie] für Gemäld. halt. können,44 da sie unt. die schön. Statuen gehören wie die mediz. Venus. Was für schlechte Wirkung Anzug an einer Statue und Frau thut, wiss. die, die sich darüb. ärgerten, daß gewisse Stat. mit Kleid. bedekt und verdorben wurden. Ob die Moralist. et. a. als eine solche Bedekkung der Weib. im Sinne haben, ist ied. selbst bekant und es wäre nur zu wünschen, daß die schönen Statu. nicht mit dem alg. Strome schwämm., u. indem einige schon anfang. nichts unverhüllet zu lass. als die obere Hälfte.

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43 44

Geschlechtsnamen] aus: Ze Schildwache] aus: st Naktes] aus: Nah 22/ 2:] Jean Paul, Exzerpte [IVa-02-1788-0373], S.22: Die Gelenke mus man alzeit durch den Wurf der Falt., das Nakte durch die Kleidung sehen lass.; mit dies. viel. Falt. verhüll. oft schlechte Maler die ihnen unzeichenbaren Stellen des Nakten. ab.] aus: u. denn können,] emendiert aus: könne,

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[90.]/86. Ein Aut. der seine Vernunft und Ruhe liebhat, kan sich der Anekdote des Krebillon45 nicht zu oft erinnern, der beides nicht liebte, sond. so sehr von fremd. Urtheilen abhieng, daß er als seine Freunde auf Abrede üb. seine Einfälle nimmer lachten,46 sofort dachte, er hätte keine mehr. Ein Aut. komt eben so oft zwisch. diese Klippe; und zwischen noch schärfere: denn oft verabreden sich nicht einzelne Freunde, sond. das ganze Publ., üb. seine Thrän. zu lachen u. üb. seinen Spas zu weinen. Hier mus er zeig., wie viel das Urtheil des Menschen u. wieviel das seiner eig. Vernunft üb. ihn Gewalt verübe. Ich mus leid. gestehen, es ist bei mir wenig. Frucht der Natur als eine lang. Übung, daß fremd. Tadel die gute Meinung von meinem Werthe nicht zu verderben vermag, und a. Aut. sind haben hierin der Natur mehr zu danken. [156]/150 Einer der viele Kentnisse47 eines Aut. ansint u. grob wird wenn der sie nicht auslegt, da er sie doch nicht hat: mus nicht wiss. was er wil. Denn es mus ihm nicht einfall., daß ein um Kopf wol nicht auf ied. Lande Bod. wo er liegt Kentnisse einsauge, daß ganze Biblioth., Geld, Freunde um solchen Kopf stehen müssen. Der Besiz Erwerb all. dies. Dinge48 ab. ist ia eben das Ziel iedes Buches; wie kan er die Ursache dess. sein? Wie kan ein Aut. Kent. hab. soll., da er eben desweg. so unendlich viel – ganze Kästen Schleif. vol Büch. u. es ist gar nicht durchzulesen oder von Menschen od. zu ziehen von Vieh – deswegen schreibt, um Kentniss. zu bekommen. Wir49 sind Philos., keine Sophisten, Freunde der Weisheit, keine Weisen. [183.]/176. Ein ied. Autor solte nur wenn er fürchtet nicht verstanden zu werden, diese Furcht recht analysiren. Er solte nur bedenken, daß es weg. vielerlei Ursach. gar nicht angeht, daß 1000 a. Aut. ihn les., die zwar auch fürchten nicht verstanden zu werden und deswegen sicher so viel Verstand haben ihn zu verstehen – er solte die Professoren zusammenzählen, die die Alt. und Neu. mit dem gröst. Verstande erklären les. und sie gerade stat sie nicht zu verstehen denen erklären die es nicht können. Er solte bedenken, daß Got allemal neben ––––––– 45 46 47 48 49

Krebillon] Crébillon, Prosper Jolyot de, der ältere (1674–1762), franz. Trauerspieldichter. lachten,] emendiert aus: lachte, Kentnisse] aus: Kentnis Dinge] aus: K Wir] aus: *

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ihm noch Leute (auss weil Genies immer auf einmal erscheinen) geschaff. hat, die ihren gross. Verstand, ihre Geschäfte ihre Reisen nach England ihre Ämt. und überh. ihre Angewöhnung an die grösten Geist. iederzeit in den Stand sezt, sie zu fassen. Und wenn iemand ist von denen sie nicht verstanden werden, etwan aus Dumheit od. Phantasie perge: so sinds50 blos – sie selbst. [222]/214 Wenn Plato vor vielen 100 Iahr. die Seele mit einem Wagen verglich: so hab’ ich noch immer Zeit genug, zu dem Vergleich noch einig. anzuflikk. u. ich mus so gut für meinen Ruhm durch Verewigung sorgen als er für51 seinen. Man kan sagen, geg. den Körp. habe sie das Deichselrecht. Das Grab wird von mir als die Wagenremise angesehen. Es wird wenige geben, die52 sich Miethkutsch. nennen lass. wollen: ab. gedrukt passirts. Der Geograph Büsching53 fährt als ein geograph. Wagen herum und wir a. Wägen sezen uns auf ihn (wenn er u. die Metaph. es zulässet) und wiss. wie uns. Reise geograph. anzusehen sei. Ich bessere mich oft und sage: „sei54 kein Karren, der Drek trägt, sond. ein Elias-wagen, der einen Proph. gen Himmel führe u. komme doch einmal so weit, daß du deinem Nächst. davon mit Feuer reden kanst.“ Ich werde ab. schwerl. et. and. werden als ein Karren. [241.]/233. Es giebt iezt Lese- und Schreibgeselschaften. Ausserordentlich selten55 macht iezt Ein Man allein ein Buch. Und wenn ers thut: so schreibt er über alle Henker auf einmal und mit Einer Feder, Olla Potrida, Skizen, Magazine, Aufsäze. Und nur solche Werke braucht die Nachwelt an ihre ungebornen Hände, die iezt wie Franzen aussehen müssen, zu bekomen, um halb über den Kopf der Autoren zu erstaunen die sie schreiben könen, und halb über den Kopf des56 Lesers, die sie lesen könen.57 – Was für ein ausserordentl. Glük wärs für den Meskatalog und für mich, wenn ich stat der Haare Federn hätte u. iede Feder sässe ––––––– 50 51 52 53 54 55 56 57

sinds] aus: st er für] aus: er. die] emendiert aus: daß Büsching ] Büsching, Anton Friedrich (1724–93), Begründer der neueren Geographie. „sei] emendiert aus: sei selten] aus: Selten des] aus: der könen.] Hier endete zunächst der Eintrag. Jean Paul schrieb bereits die Nr.234 des nächsten, um diese gleich darauf zu streichen und dem Bisherigen noch einen Satz hinzuzufügen.

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mit der Spize in der Haut und der Kiel wäre geschnitten und ich könte mit so vielen 1000 Federn auf einmal schreiben und von dies. und ienem!

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»VORREDE ZUR VORREDE« Aus Jean Pauls unveröffentlichten Materialien zur Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein

Bereits die Publikationsgeschichte der Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein weißt dieser eine besondere Stellung im Textgefüge des Quintus Fixlein und im Gesamtwerk Jean Pauls zu. Als einzige »Vorrede« in dem an vorreden-artigen Texten des Dichters so reichen Œuvre ist sie als selbständige Publikation erschienen,58 als einziger Text der Fixlein-Schriften wurde sie von Jean Paul noch für seine Ausgabe Sämmtlicher Werke durchgesehen.59 Indem sie zugleich eigenständiges Werk und Teil des Quintus Fixlein ist, des weiteren zwischen erster und zweiter Auflage desselben veröffentlicht wurde und beide in Beziehung setzt,60 besitzt sie geradezu idealtypisch jene Eigenschaften, die Jean Pauls Texte als Konstituenten eines infiniten Beziehungsgeflechts ausweisen. 61 Ebenso interessant hinsichtlich textgenetischer Aspekte ist der Entstehungsverlauf der Geschichte meiner Vorrede. Die neue Edition des Leben des Quintus Fixlein, die an der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition der Universität Bayreuth entsteht,62 wird nicht nur die Veränderungen zwischen dem Erstdruck der Geschichte und ihrem Druck in der Reimerschen Gesamtausgabe dokumentieren, sondern auch erstmals alle Vorarbeiten aus dem handschriftlichen Nachlass des Dichters kritisch ediert der Öffentlichkeit zugänglich machen.

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Vgl. Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein von Jean Paul, Verfasser der Mumien und der Hundsposttage. Bayreuth 1797 bey Johann Lübecks Erben. Vgl. Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein. In: Jean Paul’s sämmtliche Werke. 1. Lieferung. Vierter Band. Berlin bei G. Reimer. 1826, S.1–38. Die Erstauflage des Leben des Quintus Fixlein erschien 1796 bei Johann Lübecks Erben in Bayreuth, die zweite Auflage 1801 ebendort. Zu den Hypertext-Strukturen des Jean Paulschen Schaffens vgl. auch Annina Klappert: Die Perspektiven von Link und Lücke. Sichtweisen auf Jean Pauls Texte und Hypertexte. Bielefeld 2006. Sie wird als Band 2 der neuen historisch-kritischen Ausgabe von Werken Jean Pauls erscheinen, die an der Universität Würzburg, dem Hauptsitz der Arbeitsstelle der Jean-Paul-Edition, entsteht.

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Jean Pauls handschriftliche Materialien zur Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein,63 deren Transkriptionen im folgenden präsentiert werden,64 lassen sich, entsprechend ihrer Funktion im textgenetischen Geschehen, in drei Gruppen gliedern. Es sind dies 1. Bausteine aus dem Umfeld der Geschichte meiner Vorrede, 2. Aufzeichnungen und Einfälle, 3. ein fragmentarischer Entwurf des Textanfangs.65 1. Bausteine In einem Heft, das zugleich auch zusammenhängende Vorarbeiten zum Titan aufweist, finden sich auf sieben, vom Autor fortlaufend paginierten und jeweils mit »Vorrede« überschriebenen Seiten Einträge, die zum Großteil der Geschichte meiner Vorrede, in Einzelfällen auch dem Siebenkäs, Jubelsenior, Titan und den Clavis Fichtiana zugeordnet werden können. Bereits das größtenteils einheitliche Erscheinungsbild der meist einzeiligen Notate verweist auf einen eher handwerklichen, einem bestimmten Schema folgenden Charakter ihrer Entstehung: sie sind die Ergebnisse des Auf- und Erfindens geistreicher Vergleiche durch die Illustration anthropologischer Sachverhalte mittels bildhafter Elemente aus dem Exzerpte-Universum. Diese Vergleiche konstituieren vor allem die Grundzüge einer Anthropologie des Literaturbetriebes, indem sie Autor, Leser und Rezensent sowie deren Beziehungen zueinander charakterisieren. Neben expliziten Vergleichen, die dem Muster »so ... wie« folgen (z.B. »Weiber wie Wien, Vorstädte modern, Stadt alt.«)66 erfolgt die Substitution einer Sache durch eine Idee oft durch ein Neben- oder Übereinander der beiden Bestandteile des Vergleichs (z.B. »Mit ausgehendem Licht des Lebens wird Sache Freude zugeschlagen« und »Neue ≺Bücher Lumpen≻ faulen eher als alte«67), durch die Verwendung von Klam––––––– 63

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Die handschriftlichen Materialien entstammen den Faszikeln XVII, Konvolut 18 und XXV, Konvolut 7 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Jean Paul). Nicht enthalten sind die Materialien zu der in die Geschichte meiner Vorrede eingefügten Erzählung »Die Mondsfinsternis«. Die Bausteine, Einfälle sowie ein fragmentarischer Entwurf (Fasz.XVII, Konv.18) werden in Kürze auf der Internetseite der Jean-Paul-Edition, dem Jean-Paul-Portal (www.jean-paul-portal.de), zusammen mit dem ihnen vorausgehenden Entwurf aus Jean Pauls Brief an Renata Wirth vom 3. Januar 1791 und der Fassung des Erstdruckes (1797) präsentiert werden. Die Bezeichnungen der Textsorten wurden übernommen aus: Der handschriftliche Nachlaß Jean Pauls und die Jean Paul Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. Teil 1 (Fasz.I–XV). Bearbeitet von Ralf Goebel unter Mitarbeit von Ralf Breslau. Wiesbaden, 2002. SBB NL, Fasz.XVII, K.18, S.3. Ebd., S.6 und S.3.

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mern (z.B. »(Moralisch) Gehen ein blosses Fallen.«68) oder durch genitivische Metaphernbildungen (»Zitronensalz des Wizes«69). Neben diesen Vergleichen finden sich außerdem zahlreiche, oft verkürzte Übernahmen aus den Exzerpten, denen ein Verweis auf Band- und Seitenzahl des entsprechenden Exzerptheftes angefügt wurde (z.B. »Zertheilte Zähen deutlichere Begriffe 69/12«70), sowie Handlungskeime ohne Vergleichsstrukturen (z.B. »Ich kan anfangs od. überhaupt die Frau nicht einholen«71) und nicht zuletzt vereinzelte Reihungen von Stichworten, die auf einen assoziativen Brainstorming-Prozeß schließen lassen, wie er in den nachfolgend erläuterten »Einfällen« die Regel ist (z.B. »Nachtschraube – Kammerwagen – Sarg – «72). Die Reihenfolge der Bausteine läßt eine direkte Abkunft aus den Exzerpten vermuten, da sie oft deren Abfolge in den jeweiligen Exzerptbänden beibehält. Bei ihrer Weiterverarbeitung im Erstdruck wird diese Reihenfolge der Bausteine aufgelöst, bisweilen finden sich sogar Elemente ein und desselben Notats an unterschiedlichen Orten des Drucktextes wieder. Auf der von Jean Paul mit der Ziffer 7 paginierten letzten Seite der Bausteine ändert sich das Erscheinungsbild der Notate: Neben einer Reihung von Exzerpten zum Begriff »leer« finden sich hier unter der Überschrift »Dornenkrone des Kindes« Aufzeichnungen zum Schicksal der Frau in der Ehe,73 die als Textentwurf beginnen, um dann wieder in die untereinander gestaffelten Bausteinformen überzugehen. 2. Einfälle Viele Elemente aus den Bausteinen finden sich in den Einfällen eines Arbeitsheftes wieder, das von Berend auf das Jahre 1796 datiert wurde und u.a. Aufzeichnungen zu Siebenkäs und Titan aufweist. Auf drei Seiten, zwei davon Vorder- und Rückseite eines Blattes – bietet sich hier jedoch ein Erscheinungsbild, das auf eine ganz andere Arbeitsweise schließen läßt: wie auf ––––––– 68 69 70

71 72 73

Ebd., S.4. Ebd., S.3. Ebd. – Dabei bezeichnet die Zahl vor dem Schrägstrich die Paginierung der Seite, auf welcher sich das entsprechende Exzerpt findet bzw. die Nummer des Exzerpts, die Zahl hinter dem Schrägstrich den Exzerptband. Die Beobachtung, daß Elemente der verwendeten Exzerpte oft nicht in die Vorarbeiten übergehen, dann jedoch im Drucktext wieder auftauchen, läßt die Vermutung zu, daß Jean Paul die Exzerptnotate in den Vorarbeiten mit Fundortnachweisen versah, um die Bezugsstelle in den Exzerptheften bei der weiteren Verwendung der Bausteine nochmals heranzuziehen. Ebd., S.1. Ebd., S.2. Vgl. dazu Geschichte meiner Vorrede (1797), S.32–71.

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einer Kette aneinandergereiht, durch Gedankenstriche getrennt, folgen hier einzelne Gedankensplitter, Stichworte aus den Bausteinen und Wortspiele aufeinander. Umrahmt und zum Teil überschrieben werden sie von zahllosen graphischen Spielereien mit dem Buchstaben »d«, von Zahlen, Brüchen und Additionen. Zusammen mit vielen Verwendungsstreichungen und eingefügten horizontalen Trennlinien erscheinen die Seiten zum Teil als kaum durchdringliche Palimpseste und lassen so auf einen schöpferischen Prozeß schließen, der auch in den nicht inhaltstragenden, formalen Schriftelementen seinen Ausdruck findet. Elemente aus den Bausteinen finden sich hier oft außerhalb deren Vergleichsstrukturen wieder und bilden zusammen mit Handlungsfragmenten und vorformulierten Wendungen ein Nacheinander, in dem sich bereits der ungefähre Handlungsverlauf der Geschichte meiner Vorrede abzeichnet. 3. Entwurf Unter dem Titel »Vorrede zur zweiten Auflage.« präsentiert sich auf beiden Seiten eines separaten Blattes der fragmentarische Entwurf des Beginns der Geschichte meiner Vorrede. Da das Blatt vollständig beschrieben ist, könnte eine heute verschollene Fortsetzung des Entwurfes existiert haben. Als Fließtext niedergeschrieben ist dieser Entwurf vor allem hinsichtlich seiner Sofortkorrekturen und interlinearer Alternativformulierungen interessant, die Auskunft über eine stilistische Unentschiedenheit und Vielfältigkeit geben, die der Erstdruck nicht mehr bietet. Im Hinblick auf die spätesten der verwendeten Exzerpte (1796) und das im Erstdruck von Jean Paul unter die Geschichte gesetzte Datum ihrer Fertigstellung – den 22. August 1796 – dürften alle Materialien mit hoher Wahrscheinlichkeit 1796 entstanden sein. Vor dem Hintergrund der oben erläuterten Charakteristika läßt sich für die Textgenese eine chronologische Reihenfolge von den Bausteinen über die Einfälle hin zum Entwurf vermuten. Desweiteren sollte jedoch auch eine simultane Arbeitsweise Jean Pauls, z.B. mit den Exzerpten, den Bausteinen und den Einfällen bei der Niederschrift des Entwurfes, in Betracht gezogen werden.

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1. Bausteine aus dem Umfeld der Geschichte meiner Vorrede [SBB NL, Fasz. XVII, K.18, S.1–7 (B129r–132r)] [B129r] [1]

Vorrede. Etwas über die verfehlte Rezension. Schreib auf feines Papier Am Nachsommertag gemacht. — Ostheim Traum, ich lies taufen. Reise von Hof nach Bayreuth.:v Ich denke unterwegs über die 2te Auflage: od. ich mache die Reise, um mir Veränderungen auszusinnen — od. dies. Vorrede. Ein Frauenzimm. fuhr voraus. Ein Zerstreuter sein in Gedanken. Vorrede zur Vorrede. Knoten ins Schnupftuch. Emigrant. Deus sani74 Morg. frisch, Mitt. schwül, Abends müde. Zwei Arten, die Versuchung fliehen, sie besiegen, sich wie Ulyss. an den ofnen Ohren Mastb. binden, od. wie seine Begleit. die Ohren verstopfen. Ich u. die Mumme unter Weges sauer. Damenkämme, wie in Thüringen Preusselbeeren 130/12 Ich wolte gerade von St. Lüne nach Maienth. gehen als ich den Brief bekam v. Bayreuth. Bauernhemd Konzeptpapier. 8/4 Körper Stativ der Seele das nicht zittern darf 17/10 Zopf ≺hat den Robespierre≻ Sterzwurm 23/10 ––––––– 74

sani] unsichere Lesung

mit

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Ich kan anfangs od. überhaupt die Frau nicht einholen75 Beziehung auf das Glükseeligkeitssyst. in Fixlein. Macht76 Trauerspiel auf der Gasse 20/23 ich Vorrede. Lav. nach einer Sünde am frömsten: er sucht die Sünde zu begehen. [2] Vorrede ≺gebildete ≺weibliche≻ Köpfe Eisen und Korn≻, Haarnadeln und Puder zivilisiert. 10/04 Könige Abschrift des Gesezes machen. 50/3; wenigst. solt er eine von der Kant, Geogr. machen. Rührung wie Manna vom Beichte Sonabend bis zum Sont. stinkend. Nachtschraube– Kammerwagen – Sarg – Der Rahmen unterbricht bei uns die Hauptmasse. 22/3 Demüthig gekrümmte Seele s. krumm: Die fremden Leute alle aus Lilienbad, Scheerau, Flachsenfingen, Haarhaar. Zwiebak im Finst. ess., 100/15 so unsere Lehrer in der Finsternis Zop Falscher Zopf nur am Ende ächte Haare: equus caudä77 extremo setosa 45/26 Indigoterie des Himmels, Sternenlicht blau Krug Nummer meines Hauses. Meine Werke anfangs gleich Bären so gros nur wie Razen, dan grösser wie befeuchtete Erbsen. 3. Poststazionen; drei ≺Buch 3 Theile verschied.≻ Gesinnungen, Busse. Auf Verlang. besond. abgedrukt (auf meines). Kanonenschus nicht um einem Ankommenden zu salut. sond. einem Deserteur ––––––– 75 76 77

einholen] aus: einhoben Macht] aus: Tacht caudä] aus: eaudä

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Etwas Verfinst.78 fiel vor Fenster; vor ihr: ich Drache der dem apokal. Weibe nachsezt. Bindloch Säule zur Zerschmetterten. Siehe nach Briefen. Manche Tugenden kommen nur als Original, nur wilde auf Fürstentafel wie Tauben und Schweine 5/12 Der Mensch ist 2mal idealisch, in der Jugend und im Altar79, in der Mitte bürgerlich, so Spielkarte 12/12

[B130r] [3] Wilde Himbeeren wie Bäurinnen roth, kultiv. weis Meine Sympath. mit Lesern gleicht der Skytale 13/12 Zitronensalz des Wizes Unt. Schnipf meint man sonst Scherz, jezt unter Scherz Schnipf. Die krit. Untersuchung der Büch. wie die mediz. der Gesundbrunnen. Dame und ≺Nezmelone mit einem Schleier Vogelnez gegen Kirschbaum≻ bezogen. Autorköpfe und Kürbisse in einen Karpfenteich einsenken. Der Aut. kan nur das Menschliche brauchen, nicht das Künstliche, so die Säume und Nähte der Lumpen weggeworfen. 19/12 Wie bei der Nacht von Corregio, vom ≺Glanz 7/11

≻ des Fürsten die anderen.

Licht

Wärme und Näss. 2 Mittel der Gährung, so bei Liebe Geld der Ersaz der Schönheit, das elekt. Kissen mit Goldpapier. 27/11 Nachsommer, alles ist 2te Auflage. Ich gehe eine Zeitlang mit einem Rezensenten. Ich wil der 2ten Auflage wegen heirathen. Ich dedizier ihr die Vorrede, erklär ihr die zerschmetterte Braut. Er rezens. die Orte — Paulline. ––––––– 78 79

Verfinst.] aus: verfinst. in der Jugend und im Altar] Altar sic!

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Trank Ziegenmilch um Genies zu zeugen, mit Patriotsstok Schinkenschwarte. Ich werde wenig ändern: Herr lässt sich auf Laune Karakt. Plan ein80 Er hatte mich noch nicht rezensiert. Neue ≺Bücher Lumpen≻ faulen eher als alte 109/10 [4] Vorrede Auf Pfeil Name des Schüzen 124/10 Zertheilte Zähen deutlichere Begriffe 69/12 Dissonanzen erregen leichter Leidensch. 5/05, so Uneinigkeit Seele aus Punkten, aus Ausrufungszeichen Dichter unter dem einen Seelenflüg. Magen, anderen Leber. Männer suchen bei Weibern den Ton der Gläs. sie zu zerschreien Rezens. Eule verfolgt bei Nacht (anonym) genekt am Tage. (Moralisch) Gehen ein blosses Fallen. Flachs und Leinsamen müssen aufgeopf. werden. Greise81 und Kinder Ich verstelte mich gegen den Rezens. und belobte den JeanPaul82. — für den Quintus Fixlein "Ihro HochEhrwürden" Weiber wie Wien, Vorstädte83 modern, Stadt alt. Kaufleute fass. Hände und hand. stum, so Liebende 6/2 Der iss. nichts, der den Schmaus giebt, so Autor 8/2 Erste Völker wie erste Exemp. Makulatur. Der eine macht den Gestus, der a. Gesang, der eine Hand., der a. lehrt Tugend. 45/5 ––––––– 80 81 82 83

Plan ein] nachträglich am rechten Rand Greise] emendiert aus: Gerise JeanPaul] sic! Vorstädte] aus: Vosstädte

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Alte Aut. nicht vergess., Publik. alt. Krankheitsversezung Litteratur. 20/14 Lesegesels. wo Juden 41/15 Chymie troz der Ungesundheit, so Laster. Plut. gross. Man, so Leser. 25/10 Gefühl für Sat.[ire] eher zu schwächen als zu stärken 39/10 Roman [B131r] [5] Vorrede. Grosse und Hale verbergen Relig. um sie nicht zu beschimpfen Pak IV84 Kurzes Leben für die Sünde 4/18 Sich vor dem Spieg. der Krit. anpuzen. Namenlos. Rezensent 13/18 39/16 Gelehrten ist Zorn nüzlich 16/18 Wer Satire versteht, Todesanzeichen hört, den bedeutet es nicht. Fisch Stater, sein tragischer Kopf ist wie der Hechtskopf vol Passionswerkzeug auf ihm Aus verschluktem Laich des Bös. brüt. man Kröten aus Werk grösser d. Puzen, Nas. d. Scheuzen Vögel, die reden (Kanzlei) singen schlecht Armee hielt Affen für Feinde, wir umgekehrt 43/2 Müssen Pferdestaub vorzeigen 35/2, so Kritik Brei glat aufsezen; Borst. mit Warzen dauern am längsten Kapaun zum Führen und Ausbrüt. Rezens.; Hahn Petri ––––––– 84

Pak IV] unsichere Lesung.

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Dichter Magen zwischen den Flügeln wie Kapaun. 20/11 Konsekrazion macht weibliche Stat.[uen] zu Göttinnen Ich wünschte daß ein Rad anbrente Wir zanken uns. Eine Reihe Mosersch. Gedanken, die85 ich für die Vorrede ausgebe:, da ich immer gestört werde, mach ichs wie Moser. Als wenn ich zeichnete in Bernek — "ich schriebe mein Leben für neue Zettelkästen nieder nach. Unterthan. Wegschnecke statt Wagensalbe Florentiner nähern sich Pandekten mit Wachslicht und Gallaanzug. 13/8 Im Tempel der Minerva Altar des Vergessens. 28/8 [6] Vorrede Den Areopag. Lachen verboten 31/8. Mit ausgehendem Licht des Lebens wird Sache Freude zugeschlagen 59/8 Kalvinisten Hexen Leser schlafen d. Teufels Hülfe auf der Tortur Wundarzt stekt mit ungereinigten Instrumenten an Skytale. Er begrif nicht wie die Dörfer nicht kleine Städte wären Er solte Gott danken für den Hunger, der so schwer dazustellen wäre Thiere sortiert, Fische Mit Das Bild im Gemälde bezeugt es. Danke Gott für den Krieg Dachs Bauch schwarz Spermologie, ein kreuzen. Schade daß die Hemden so lang halten ––––––– 85

die] aus: bie

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Ich hätte meinen eignen Karakter nicht genug souteniert. Alle Bauern zu Akteurs — ≺Orlogschiffe Troja — Nero≻ Die Les. können die Helden nicht leiden, an deren Stelle sie sich nicht sezen dürfen. Schlegel: Form ohne Inhalt; Rezens. der L.[itteratur] Z.[eitung] wil auch Inhalt, liebt das Kom.[ische] nicht. Die Meerwürmer leuchten nur in der Bewegung Spielt wegen der Urne des Kindes gut. 6/12 Feile bei Dukaten. Hundszähne, falsche Weste, Wiesen, schöner Tag Ich wurde unwillig, er war eine leere Seele; u. dan spott. ich nur über ihn. Kantianer leere Töpfe. 53/5 [B132r] [7] Vorrede Nichts Fohis. Prinzip der Metapher. 52/5 ist es so entschied auch Wort — Gewänder Mittel den leeren Raum abzuwenden 22/2 — Gerade Schlagader leer, krume vol 8/2 — Luft leerer Raum ein Leiter des Lichts 33/10 — man macht im Thier alles leer eh man es mit Aeth. fült 41/19 Wort Aether Dornenkrone des Kindes. Ich dachte: so werden sie alle hingeopfert pp. die Träume der Jugend verklingen almählich, unter Pflichten und Schmerzen legt die Welt ihr Morgenroth ab, u. im Alter haben sie vergess., was sie gewünscht: blos in einer melod. Stunde, ≺wo Musik der Frühling Wärme≻ oder Dichtkunst den Winterschlaf der Herz. mitten in ihrem Winter unterbricht, wachen alle auf u. die Erinnerung der alten Zeit beklemt und sie sagen: ach das Alles hab ich nicht gehoft? (verloren) Es ist nun ists vorbei und ich habe auch damals glaub ich geirt. — Götterbild ausgraben — Nelken Der Junius der Mädgen mit einer Sense abgebildet. — ≺Mädgen Früchte Stab ≻ die man pflücken mus ohne sie zu zerquetschen — ihre aus dem Leid Wasser stehende Blüte —

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Regenbogen in Süd und Nord Das riechende Blumenblat zu geruchlos.86 Kelchblat in der Ehe 10/3. Ich sah zur Sonne, die unter der schon so viel Trug zerschmolzen war — Auf eig.Verlangen gedrukt Hochzeitgedicht auf alle Bräute — Dornenkrone des Kindes. Ein Refrain sei darin: dan weine Was zur Blumenerde taugt 2. Einfälle und Aufzeichnungen zur Geschichte meiner Vorrede

[SBB NL, Fasz.XXVa, K.07, S.B19, S.B38 und S.B39] [B19] Du wirst nicht erfahren was du werth — Ich Mumme — nach einer Sünde am frömmsten Indigoterie — 3 Stazionen — auf Verlangen — Säule — ≺Zitronensalz des Wizes Blüte Bräutigam entgegen≻ — Rezens. Eule — mit ausgehendem Licht die Sternenwelt zugeschlagen 59/8 — Skytale — Nelkenstab — Gesangbuch Meer Heering, Strom Rhein Wäsche, Lichthalter Zeitung Schwemme — Genie Man einpassirend oder gestorben Seit ihr denn allle dazu geschaffen — der Staat macht ihm selbst nicht besser — schönes Herz Seele unter den Jahren ermattet, verwelkte Knospe Halb aufgeblüht es wird mich keiner les. — **blikt Engelsburg Burgverlies Man Spinne Herzblätter Zauberschlösser Eltern, Männer, Frauen dan schlösse sie r*h*rd; Rauschgold Vernachläss. ich beschäftige Epithalamium — Br*...* Lu*...* Hermessäule Gedächtnis — verwundetes Herz Ihre besten Jahre verkürzt, wenn Homb. er kan in I* nichts bess. finden als ich * ihn [B38] ––––––– 86

geruchlos.] aus: geruchoos

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Stolberg Iliade Welt Eröfnung auf dem Pferd Norman Sprung. modell Webstuhl Weberschif ich suche et. vor ihr ihr Vorfahre den Weg noch einmal Schlagbaum, gebildete weibliche Köpfe — Licht, Sprache das ist die Bildung, die sich verträgt — *...* zu machen. ausschneuzt d e Ef. m87 bill. mus, dem es ein Ernst ist Grab *...* obsid; Wiese und Rabenstein, botanis. Kunstrath, Korrespond. einer Soziat. Deichgraf Fraischdörfer — ≺stommas des * die 4 Hundszähne ≺waren ächt≻≻ beim Essen heraus, falsche Weste — stangeln Rhabor 2mal begrab. Kräutermüze — *...* Hund und Wolf, Frosch u. Kröte Fifre Patriotenstok — mus mit dem Henker essen — Apopf. Apho. Anton. Anom, bandfrei Klaviere— Flechtwerk Bast steht es dir nicht frei *...* Ich gab mir Recht, wer wehrt dir denn — kein Zus ammen hang als mit dem Gras des Galg. Pandekten, neue Lumpen über Mänchberg tol, entweder die Häuser oben oder unten, ein Haus so nicht zu bewohnen sond. zum Ansehen, holer Baum Biene, Hol boren der Flöte, Kammerherren schliessen, menschliche Körper, keine Dörfer bauen wie eine Stadt abbrennen — wie man Dörfer lit — Klee=Unkraut Fuchsschwanzfeld— schöner Tag, zu schildern **d auch für den Maler — Heems Gefässe, Basgeigen Werke grösser, Pferdestaub Fix. Karakter Ziegenmilch, Schlegel, Weste, Wiese — Mädg. Spieg., so sehr verschönern die Dichter, erhaben häslich gefallen nicht, ab. gemalt Laich — Matgold Kazengold [B39] Um mich auszuforschen — Hahn, Kapaun, kritis. Philos., griechische Form, überladen, Schlegel Epigram, priapej. Gedicht, das Idealische taugt nicht, empfindsam, Kunstwerk ohne Einwirkung, — der heutige Tag gefalle ihm, insest. er darzustellen, ab. ein schlecht. auch — — Schnipf, Scherz, Areopag — schlechte Kunst — Former Prinzip der Moral zum Inhalt, plast. Form, Linie Punkt Figur — z.B. diese Behauptung) — gräziszend griechenzend — Epop. od. Rezens. der Litteraturzeitung, Griechen keinen Humor, sed vacans carte blanche, ausgeblas. Ei in jedem Jahrt. mit dem Humor zu — ästh., praktischer Humor verschieden wie Darstellung und Gegenstand Empfindung — Rektifizieren dies. krummen Linie, sphär. Trigonometrie, wirkt auf alle Menschen Untersuchung der Schönheit mit dem Geschmak dargegen ––––––– 87

d e Ef. m] unsichere Lesung; Ergänzung noch nicht erfolgt.

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Zorn Gelehrte nüzen, Former, Indigoterie — Unterleib Inrekt aus b ***allmal abschreiben Gleichnis voraus — als es war, so viel als sprach ich mit ihm Meine Freude vor dem Bernek— wiziger Einfal Pfeile recht gut tönen. Versuchung fliehen — Mumme — sie ist das Christus Kind in Corr. Weib modern — Konsekraz. — Skytale — Tempel der Vesta — Rosenholz— 2 Köpfe 1 Herz 12/13 Vat. schlief und armes Weib konte nicht and. und war früh ein Opfer als Opfer***er. — so seh ich dich denn auch hingehen wie so viele — Wü*...*rinnen — wirst nicht erfahren was du werth warst

3. Fragmentarischer Entwurf zur Geschichte meiner Vorrede

[SBB NL, Fasz.XVII, K.18, S.1f. (B128r–128v)] [B128r] [1] Vorrede zur zweiten Auflage: Stolberg berichtet uns, daß ein Schweizer sei halbe Stunden lang von der Stube auf die Ofenbank und wieder herunter sprang — "so mach’ ich mich lebhafter" sagte gestand der Luftspringer. Aber ein Norman wie ich braucht schon halbe Tagreisen, wenn er nur so lebhafter werden wil, daß er den Plan eines Kapitels entwirft. Erasmus fassete sein Lob sein der Narheit auf dem Sattel ab, und der englische Dichter Savage seine Trauerspiel Tragödie Overbury auf den Londner Strassen Gassen — wiewohl seine Leben selber eine war, da er sich von seiner natürlichen Mutter, der Gräfin von Macclesfield jährlich 200 Pf. auszahlen lies, damit er kein Pasquil auf sie machte, sondern nur eines auf sie wäre —; ich für meine Person machte beinahe die grosse Tour bis ich mit den Plan oder das Knochengebäude meiner der Mumien fertig hatte brachte wieder kam, und ja solt' ich mich ≺einmal vollends≻ an ein episches Werk wie die Odüssee ist ≺wagen entschliessen≻, so würde könte sich der Verfasser gewis ≺nicht kürzer so lange≻ auf seiner voyage pittoresque aufhalten als der Held. [2] "Um aber freilich nur eine Vorrede zur zweiten Auflage zu entwerfen, (schlos ich) kan ich nie mehr nöthig haben als eine Fusreise von Hof nach Bayreuth,

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einen Kazensprung von drei Poststazionen." — Aber es ich suche etwas darin, wenn ich das Erstaunen der Nachwelt erregen kan, indem ich sie und ihre Vorfahren, die Mit gleichsam auf ≺meine die≻ bayreuthische ≺Landstrasse Reise≻ mitnehme, auf ≺der ich bd88 Welt≻ dahin laufe mitten im Webstuhl der Vorrede eingespert und ≺das mein≻ Weberschifgen des Verstandes fleissig werfend. Gleich der Anfang verspr ≺am der≻ Schlagbaum, unter dem eine Dame ein einem Vis-à-vis den Chausseezol abtrug, versprach wenig für eine die Vorrede zur zur zweiten Auflage: ich wolte durchaus vor ihr zu vorlaufen, um ihr ins Gesicht zu sehen, und blieb ≺aber zwar≻ beständig hinter dem Vis-à-Vis zurück und es dachte unter im Rennen wenig an die * das Modellieren der Vorrede. Mit ≺neuen unbekanten≻ Frauenzimmern ists ganz anders als mit neuen Büchern. ≺Ich seze Ich nehm nie So oft ich ein≻ Buch, das ich noch nicht kenne, in die Hände nehme, so sez ich gleich Rezensenten allemal ohn voraus, es sei [...]

––––––– 88

bd] Auflösung unklar.

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»EIN BUCH MACHT BÜCHER« Aus den unveröffentlichten Vorarbeiten zum Leben Fibels

Jetzt, da wir freilich das fertige Abc vor uns liegen haben [...], denken wir es uns schon so fertig gelegen auch in Fibels Gehirn, daß er es aus diesem nur bei dem Kopfe herauszuziehen brauchte; aber könnte man nur in eines Autors GehirnUterus nachsehen, welche Menge zurückgebliebener Glieder, ja ganze Halbzwillinge des Buchs würde man darin aufgespeichert finden! (SW I/13,405)

Es ist fast nicht nötig, diese Stelle aus dem Leben Fibels zu kommentieren. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie häufig Jean Paul zu Zeiten, als eine critique génétique noch lange nicht in Sicht war, den Eigenwert von Vorarbeiten und alternativen Varianten betont. Das Gedruckte erscheint in einer solchen Konzeption, wie sie Jean Paul hier entwirft, nur wie die Spitze des Eisbergs – erst ein Blick auf die »zurückgebliebene[n] Glieder« und die »Halbgeschwister« eines ›fertigen‹ Textes rundet dessen Bild zu einem Ganzen, erst im Kontext dessen, was hätte sein können, erschließt sich das, was schließlich Drucktext geworden ist. Im Folgenden sollen einige dieser »Glieder« und »Halbgeschwister« zu Tage gefördert und kurz kommentiert werden. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Kernbereich der Vorarbeiten zum Leben Fibels, den Konvoluten 6–16 des 14. Faszikels.89 Trotz seiner Kürze illustriert Auszug 1 prägnant die Schreibsituation, in der sich Jean Pauls um 1811 befand und wie sie Ludwig Fertig in seiner äußerst gründlich recherchierten Studie über »Jean Paul und seine Verleger«90 beschreibt: Aus finanziellen Gründen, aber auch, um seinen Verlegern hin und wieder entgegenzukommen, musste Jean Paul immer wieder kurze Essays und Rezensionen für Almanache und Periodica liefern, die zwar sehr gut bezahlt wurden, ihn aber auch von seiner eigentlich schriftstellerischen Arbeit abhielten. Charakteristischerweise werden daher solche Aufsätze in dem

––––––– 89

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Jean Paul, Fasz.XIV, Bd.6–16. Die im Folgenden dargebotenen Transkriptionen basieren auf den Vorarbeiten von Monika Vince und Christian Ammon, denen ich an dieser Stelle herzlichen Dank sage. Ludwig Fertig, »Ein Kaufladen voll Manuskripte«. Jean Paul und seine Verleger. Frankfurt a.M. 1989.

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hier vorgestellten Auszug unter dem Begriff »Störungen« subsumiert: »a) Museum b) Dobeneck c) Taschenbuch d) Rezensieren«. Daneben weist aber auch die Tatsache, dass eine »Wahl« zwischen den aktuellen literarischen Projekten »1) Blumine 2) Vita 3) Fibel 4) ars.« besteht, auf die Heterogenität des Spätwerks hin: Statt auf ein einzelnes Ziel ausgerichtet zu sein, kreisen die Vorarbeiten zum Leben Fibels um eine Fülle von Arbeiten und Motiven, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich allein im ersten dieser Hefte91 Konzeptionen und Ausführungen zu mindestens zehn voneinander unabhängigen Texten finden. Die Auszüge 2– 4 stehen im Zusammenhang zum Kapitel 13 des Leben Fibels, das in der Druckfassung den Namen »Papierdrachen« trägt, jene Metapher des unabschließbaren Werkes, auf deren Bedeutung schon des Öfteren hingewiesen wurde92 und die wie kaum ein anderes Motiv das Spätwerk Jean Pauls durchzieht. Als »Fliegender Drache« taucht sie in Ausschnitt 2 auf und wird hier schon als Kapitelüberschrift verwendet. Der Inhalt ist hingegen noch relativ unbestimmt – einige der hier notierten Elemente finden sich in den Anfangskapiteln des Leben Fibels wieder – aber von den Reflexionen über die Bedingungen des Schreibens, die das Kapitel 13 zu einem, wenn nicht sogar dem zentralen Kapitel der Druckfassung des Leben Fibels machen, ist hier noch nicht viel vorhanden. Erste Konzeptionen zu diesem Inhalt finden sich in Auszug 3. Unter den Überschriften »14 Kapitel« und »Kapitel der Holzschnitte« sind hier schon einige Elemente des späteren 13. Kapitels in Grundzügen vorhanden: Der Traum vom Fibelhahn, das Sinnieren über die schwarzen und roten Farben, die Fibelreime, die Holzschnitte. Und das Motiv des ABC-Buchs als Grundlage allen Wissens ist bereits in dem Satz »Ein Kind, das die Buchstaben kennt, kommt weit, denn aus Buchstab. d entsteht platterdings jedes Wort« ausgedrückt. Außerdem findet sich schon hier ein Gedanke, der für das gesamte Spätwerk wichtig wird: »Es gehört unter die besten Anzeichen eines Buchs, wenn man nicht wünscht, damit es fertig zu werden«. Diese Vorstellung von einem nie endenden Werk erscheint schon zweimal im wahrscheinlich ältesten Heft der Fibel-Vorarbeiten, dem 6. Konvolut des 14. Faszikels (1806), in dem Notat »Werk gebiert ein Werkchen«,93 und wird fortgesetzt durch eine Notiz aus dem hier abgedruckten dritten Auszug der Vorarbeiten zum Papierdrachen-Kapitel (Fasz.XIV, K.14, S.128ff.): »In einem Buch steckt ein ganzes Leben; ein Buch macht Bücher«. Solche Notate ––––––– 91 92 93

SBB NL, Fasz.XIV, K.6. Vgl. u.a. Helmut Pfotenhauer, Bücher-Biographie, in: JJPG 41 (2006), S.7. SBB NL, Fasz.XIV, K.6, S.20f. (B52r–B53v).

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eröffnen hier gleichermaßen eine zweite Reflexionsebene, auf der im Beschreiben des ABC-Buches gleichzeitig über die Heterogenität der Vorarbeiten selbst nachgedacht wird, in denen aus einem Projekt immer wieder neue Projekte hervorgehen. Das mit »Fibliana« überschriebene 14. Konvolut des 14. Faszikels (Auszug 4) lässt sich zeitlich bislang noch nicht genau einordnen, der hier präsentierte Ausschnitt ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit später entstanden als die entsprechenden Vorarbeiten der Auszüge 2 und 3. Einzelne Motive werden hier genauer ausgearbeitet, wobei besonders Exzerpte, die als Anspielungen taugen, in die Auflistung mit aufgenommen werden, z.B. »Sinesen 80,000 Sprachzeichen« oder »Virgil machte Vormittags Vers., feilte Nachmittags«. Möglich wäre auch, dass diese Aufzeichnungen eine parallel zu anderen Bearbeitungen geführte Liste von Gedanken und Exzerptbausteinen darstellen. Stellenweise finden sich auch einige frühere Einfälle weiter ausgearbeitet, z.B. ist hier aus »Ein Kind, das die Buchstaben kennt, kommt weit, denn aus Buchstab. d entsteht platterdings jedes Wort« die Notiz »Sie mögen vorbringen was sie wollen, sie thun es doch d. 24 Zeichen; wer et. les. kann, kann alles lesen und mehr kann Gott nicht« geworden. Dass selbst Gott nicht mehr könne, und damit Fibels Schöpfung der Schöpferkraft Gottes nahe, wenn nicht sogar gleich komme, ist ein Motiv, das die Vorarbeiten zum Leben Fibels von Anfang bis Ende begleitet und schließlich auch Eingang in den Druck gefunden hat. Besonders prägnant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zum Vornamen Fibels. In der Druckfassung wird sein voller Name Gotthelf von der Mutter und vom Erzähler meist mit Helf abgekürzt, fast so, »als wäre er von Gott verlassen worden«, wie Helmut Pfotenhauer bemerkt.94 Der Auszug 5 zeigt deutlich, dass in den frühesten Entwürfen erwogen wurde, Gotthelf stattdessen mit Gott abzukürzen: »Sie nannte ihn (Fibel) Gott den Vater.« Aus diesem Grund kann das Wort »Gott« in den Vorarbeiten an vielen Stellen auch in Bezug auf Fibel gelesen werden, z.B. wenn es heißt »Mutter: Kommst du denn, o, mein Gott?«95 oder »Schreib was du willst und kaufe deine Federn; mein Sohn! unser Herr Gott wird ja doch sorgen. und ich gehe ruh. zu Bett«.96

––––––– 94 95 96

Pfotenhauer [Anm.90], S. 8. SBB NL, Fasz.XIV, K.6, S.35 (B60v) [Auszug 5]. SBB NL, Fasz.XIV, K.9, S.17 (B9v) [Auszug 3].

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1. Persönliche Notizen und Arbeitsnotizen [SBB NL, Fasz.XIV, K.13, S.16 (B8v)] ||97 Wahl: 1) Blumine 2) Leben Vita 3) Fibel 4) ars. – Störungen a) Museum b) Dobeneck c) Taschenbuch d) Rezensieren – Inventarien Passagierzelt Produktkarte Adreßkalender immatrikulierte Matrikel – Der Kavalier muß langs. eine alte Fürstin führen; dem kräftigen Bedienten nachschleichen. Die dummen Uberschriften in Bonmots Sammlungen. Antwort: zuerst Dobeneck und Fibel. 2. Bausteine zu Leben Fibels [SBB NL, Fasz. XIV, K.7, S. 20 (B11r)] [11r] Fliegender Drache Er wollte nicht von seiner Mutter weg. Er wurde zwar länger, ab. bleicher; wegen Nachtstudium Noth Siegwarts Sein Zusehen in der Druckerei. Er ließ ihn nichts leren lernen als Schreiben und Les. Hold habe fast eifersücht. Mutterliebe – und dann Ruhmliebe aus Schwäche – seine Kälte gegen das Vater – Sakrament wenn ich groß bin, will ich den Vat. sehen, der Euch was thut – (Er liebt später in der Ehe die Mutt. mehr als die Frau, so wie jene halb eifersuchtig über Verlobung wird.) – Er schreibt das Abc buch für seine Kind., die er nicht bekommt; auch die Alte sehnt sich im Sterben nach d Soldat.) U98 Wie Fib. alles fremde Glück egoist. ausrechnete, um desto mehr sich zu freu. u. zu geben, zum B. 2 Kreuze99r f. 1 Viertelstunde, 8 = 1 Stunde, 8 Stunden = 8 gl. wenigstens Er holt mit der Mutter Gras; trägt ihr den Korb blos bis ans Dorf; singt ihr Lieder vor; – Die Mutter hab’ ihm einen Traum gesagt von seiner Größe – Wie er sogleich darauf mit dem Gelde umgegangen geho100lfen; gegeben –

––––––– 97 98 99 100

||] nachtr. am linken Rand U] nachtr. am linken Rand Kreuze] aus S o] aus u

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3. Aufzeichnungen (überw. Einfälle) zu Leben Fibels [SBB NL, Fasz.XIV, K.9, S.13–15 (B7v–8v)]

14 Kapitel. Äschkulap – Petrus – er krähete ihm vor – Vögel – Erde voll ≺Kind. der keine≻ *** sagen mit einand. das Abc auf – Bilder – ha ha – Petrus – (Wenn einem ** Töpf. od. a. Gesellen et. wider Willen entfällt: sogleich er: der Bettel!) –101 „Ja – wie soll’s ein Kind merken? – Steht A darüber und Affe darunt., so ≺wird ist≻ nichts vergessen – Bildnisse! * nur! Schöne gute Bildnisse – Ein Kind, das die Buchstaben kennt, kommt weit, denn aus Buchstab. d entsteht platterdings jedes Wort – Und Fib. Erhöhung, dieses Alter anzusehen! Were’s Ab. diese Erhebung gehe in ≺sein Unterleben Gottes Wirken≻ über G u. er wolle nur für die Ausgebreiteten wirken rouge et noir Rath der Schweiz wild p. Wie kommt er auf Reimex)? – Stellen 2 Sachen dasselbe od. umgekehrt? – ** x) Wegen Gesangbuch; wie kann man anders Sachen als d. Worte reimen? – 14 Kapit. Reimen – Geschöpfe ungesucht Schminke des Angesichts Rubrikator Rothauflegen – Freude darüber in uns. Kindheit – Bleistift – Krebs Die Freude aus den schwarzen die wie Krebs. roth. gesott. herauszufisch., Truthahn kein Roth 1 750 rosenf. Dint. in Paris – Unterstreichen, Korrigieren mit roth. Dinte., rothes Siegel. – Koris mit roth. d. [8r] – goldene Buchstaben ihm weniger eintragend als das * fortgehende Ü102bertragende von Zeile zu Zeile; ab. er war ein höh. Buchstabenmensch Ein Mensch der mit mehr als einer Dinte schreibt, ist kann unmöglich e t* nüzlich sein muß ein stillfroher sein NB103 (2 Vorreden bei Vita bei jedem, eigentlich! beim Anfang und 1 beim Ende) ––––––– 101

102

(Wenn einem …der Bettel!) –] zweizeiliger Eintrag durch nachtr. am linken Rand gesetzte bogenförmige Linie markiert Ü] aus ü

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Es gehört unter die besten Anzeichen eines Buchs, wenn man nicht wünscht, damit es fertig zu werden Es war schien ihm ordentlich schon ordentlich gedruckt, geschrieben angesehen – ab. die Folgen? NB104 Der Schulmeist. hatte den Schlüssel zum Kästchen – (Was hilft alle Anlage u. Kraft der Ehe ≺Liebe b≻ ohne die Kraft, wohin sie zu wenden, wo ohne das Urtheil, das entscheidet wider od. für wofür od. wogegen, aber gerade das Urtheil wird in der Ehe schwer. Also fehlts weniger im Lieben als Wägen. Desto mehr schäzte er was er hatte Nicht v der105 er Blick des ausgelaufnen Dichters, sond. der Blick des Aut., der von rothen Buchstaben aufsteigt, und von dem Abc–kind zu Berge, von dem es hinab er sieht in das Dorf der Geliebten – nicht einmal, sond. auf ihr einzelnes Haus; und er konnte sic106hs nicht einmal beleucht. denken vom Mond od. der Sonne – Mitt. ≺im aus≻ Maitagen trug er Verbesserungen nach Hause, es seien die Lettern oder eine Figur – Mutt., jezt geht’s ans Schwere – Seefeder Kapitel der Holzschnitte es geht ans ≺Schwere* Hochtrabende über≻ Reime – ich muß wie das Gesangbuch sein – jetzt muß man sich auf die Beine machen – Sein Stolz gegen die Mutter: jetzt tritt erst das Schwerste auf u. geht das nicht, so ist alles verloren. – „Schreib was du willst und kaufe deine Federn; mein Sohn! unser Herr Gott wird ja doch sorgen. und ich gehe ruh. zu Bett“ – – Kein Mensch im Dorf kann reimen, ab. ich. * Her, scheer; Hans Gans; p. – Reim dich oder ich friss dich – NB107 (Ich fand eine spottende Biogr., daher übernahm ich diese) Ich verstehe von deinen gelehrten Sachen nichts; u. wenn du sitzst und schreibst, so erst nur ich. (Jemand wünscht das alte, jetzt abgeschaffte Abc. – gleich gült. in welch. abgenutzten Gestalt – worin der berkannte Reim über den Affen, B der Affe gar poßierlich ist ≺p. p. dem≻ vorkam, zu erhalten; und verspricht dem Geber ein douceur. Das Ubrige in der Zeitungs Exp. ––––––– 103 104 105 106 107

NB] nachtr. am linken Rand NB] nachtr. am linken Rand der] aus v ic] aus u NB] nachtr. am linken Rand

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Da kommen gute Fed. gelegen, zu Passe – da kann man ohne gute Fed. nicht weit springen – Die dritte Noth, wenn er nicht weiß, was er machen, d.h. wählen soll, Sauspieß, Wahlverwandtsch., ritterlich als* possiren ein tafelfähiges Schwein lag ihm u. seinen Ohren so nahe, ja Gaumen – 4. Bausteine zu Leben Fibels [SBB NL, Fasz.XIV, K.14, S.128–131 (B65r–B66v)]

[65r] Sessionen 8 9 Abc Kapitel 9 Warum er die grossen Anfangsbuchstaben unter die kleinen herab stelte Ganz wie anfang Guttenberg Dinte statt Druckschwärze 8/2108 Chrysograph; äusserer Deckel Anfangs mit lauter gross., dann kleinen, dann gemischten Buchstaben 39/1 Sinesen 80,000 Sprachzeichen 244/33 361/18 wir keine Probe seiner Handschrift; ** Rousseau Juge de in bri109ttischem Museum Schreibfed. und gute Dinte rar rar 18/35 Büffon reinlich und gut gekleidet; so er bei seiner Flutschhose. Er fing nicht wie das * irische Alphabet mit B an, dann W, dann A. 148/34 NB110 Der Ton, um ihn von Pelzens seinem zu unterscheiden, sei blos Malerei seines Schreib– Glücks. b111 Virgil machte Vormittags Vers., feilte Nachmittags 67/23 13/23 damit in Widerspruch Taub* diktierte in 1 Minute 180000 Offenbarungen; so bei der Empfäng. eines Buchs 8/23 ––––––– 108

109 110 111

8/2] Bei solchen Angaben handelt es sich um Verweise auf Exzerptstellen, wobei die erste Zahl die Seite und die zweite den Band angibt. i] aus r NB] nachtr. am linken Rand b] nachtr. am linken Rand

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Abc buch Kapitel ***biograph

43 Buchstab. in Gold, jed. 1 **112 à 100 Pfund 68/17 Gegen das A Ende erscheinen lauter ≺grimmige raubende≻ Raubthiere – als Anspielung auf Leben, vorn nur milde u. die nur Großen – Ob ab. diese bloß homerische Eingebung od. nur Zufall: entscheide ich so wenig als bei a. Gedicht. (Pelz lege gerade zu, die Absicht unter und schildere damit das Alter. ) Wie kam ab. – dies fragt jed. komisch doch immer – ein so unbedeutender Jüngl. nur zu einer solchen Wahl u*...*Abc gelangen, von Mensch, Thier u. ≺Zeug Werk ≻)? Denn Manches ist zum Staunen. Ich frage ab. zurück: gesetzt, er hätte ohne mehr Nachdenken ≺ mit einer H.≻ ein Genie gezeugt? – Er freuet sich so sehr, sie d. seine Arbeit zu entzücken NB. Vorh. gehe eine Ansicht, wie seine Sache zu Geld zu mach. d. Kästchen. Das meiste üb. Bild. komme in III Biograph. [66r] Abc– Kapitel * Erfindung der Bilder – S113chwarz und roth – Reime – Hahn – Holzschneiden –

Sie mögen vorbringen was sie wollen, sie thun es doch d. 24 Zeichen; wer et. les. kann, kann alles lesen und mehr kann Gott nicht Bertuchs Bilderbuch; wenn Pelz recht lobt, so führe Bertuchs Bilderbuch an – gleichs. der erste Bertuch, nur weit hint. ihm in114 Schönheit und Geldpreis. ip115 Wie oft Buchstaben zu versetzen – Hans von Sorgenloch – In einem Buch steckt ein ganzes Leben; ein Buch macht B116ücher Seine Arbeitsamkeit in der Nacht – ein ganz andrer Mensch – Zudecken des Dintenfasses – Schneiden der Federn voraus – Dintenmachen – Abwischen der Federn – Federmesser – Schwanenkiele – grüne Dinte – Anfangsbuchstaben mit Gemalden – Souverains ––––––– 112 113 114 115 116

**] aus Pfund S] aus s in] aus im ip] nachtr. am linken Rand B] aus m

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Mit Fernrohr Schneegipfel; u. wied. Abendsonne auf Berg im Wald. Traum „er sei blind u. nach der ≺Operaz. m≻ erwach’ er Im Dorfe hieß er der Student. ip117 Selbst e Lesen Anstalt118 Büffon Nachmittags Adjektive; so er am Morgen S*...* Holzschnitte, und Nachmitt. Holzschnitt Reime Zucker Auf der letzten Seite ermatt’ er wied. et., dah. die schlechten Reime Vom Holzschneiden gern ins Holzhacken. b119 Er war sein eigner Chadow u. Nicolai. b120 Buchstabierstriche. 8 Abc– Kapitel Dieses sei eben so wichtig – die Mutt. begreift den Eifer nicht – Aehnlichkeit mit Briefschreiben, wied. Ich; was ist alt, wenn es d. den nächsten Brief Neues wird – Er arbeite die Nacht und gehe am Tage aus: häßliche Zeit, wo man den Körper opfern darf, ** wo man der Seele desto mächtiger sie doch nur im goldenen Einband eines Körp. hinreichen darf – ||121 NB Eben dieses Kapitel gebe den künftigen Gewicht Über eine junge Welt zu herrschen – die Ausbildungs Epochen verkürzen, so daß ein Kind von 6 J122. sogleich 1 von 12 Jah. wäre Was ist kein Dorf t gegen mein Buch? – Ich allein bleibe als Niederschlag zuletzt **h. sitzen. ** * Hier liegt ein D**f Dorf – und draußen hinaus 100 Dörfer – welche solch alle nicht ** nicht begreifen wie das Abc zu *...* solt.

––––––– 117 118 119 120 121 122

ip] nachtr. am linken Rand Anstalt] aus Anstalten b] nachtr. am linken Rand b] nachtr. am linken Rand ||] nachtr. am linken Rand J] aus K

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5. Bausteine zu Leben Fibels [SBB NL, Fasz.XIV, K.6, S.34–35 (B59r–B59v).] [59r] 1 Ehe des Glaubens und Unglaubens; sie dachte imm. daran, ihn zu bekehren F. war ihr Schnupftuch, wenn sie froh od. traurig war; sie drückte ihn an sich u. er brauchte selber eines. Sie nannte ihn (Fibel) Gott den Vater. (od. viell. den Sohn bei Vat. Tod.). Er hieß im Dorfe H. der Vogler. Die Ohnmachten seiner Mutt. galten im Dorfe für Sterbens=Fälle; folglich mehrere, folglich Drillinge. Kontraste zwischen Frau und Mann. V. kniete vor einem Vogel u. die Mutter kniete – u. Fibel *...* beiden. – Oft kam es ihm wild an – was soll ich thun? – der Vat. sagte: was willst du werden,123 zumal124 jetzt als Handwerksjunge? – V. stand früh auf, so gern er sonst schlief – nahm den Sohn mit in die Morgen=Natur || Die Entgegensetzung der Eltern ≺liegt im Abcbuch Winkelmaß, Thier p≻ Vater ko Wenn V125 böse war, macht er die Nachtigall 1. Mutter: Kommst du denn, o, mein Gott? – Er: da ist er ja, sieh dich, du dummes Thier! Sie wünschte126 oft, er wäre tiefer – u. doch verbarg sie sich nicht, daß er eben aus Tiefe üb d auf der Fläche suche. Die Sentimentale der frühesten Zeit – die Voreilende Voreilend die Herzens= od. Gefühls=Zerfluß – Der Zu Zusammenstoß Fibels mit seiner Frau = Vater konnte alle Vögel nachahmen, von Nachtigall zur Eule. Staar – Fallen=Fasanenmeister – Mäuse und Ratten nicht zu rechnen Wenn eines Vornehmen Bedient. kam ging127 er neben ihm Klingelherr oder Heiligenmeist. ––––––– 123 124 125 126 127

,] aus ? zumal] z aus V] aus d wünschte] te aus e ging] aus *ing

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Schnitt in Rinden aus Kopuliert Ja=Nein – Er fragte Staarenschwanz128, Eule, Gans, ≺Flederwisch ≺Gansfittich129≻, ob das eine gelehrte Feder sei Keine belle étage130 auf dem Dorfe, aus 3131 Stockwerken neben, nicht übereinand.132; u. ich kann jede Minute hinein gehen. Pfarrer hielt eine Betstunde Er fragte seinen Vater, warum er133 selb. kein Pfarr. König p. würde Es that ihm V. weh, wenn er einen Vogel verkaufen mußte Der Vater bekomme einen romant. Namen nach dem Lächerlichen „Wenn er nur wächst: so wird er schon werden“

––––––– 128 129 130 131 132 133

Staarenschwanz] aus Staar Gansfittich] s aus * bel étage] aus belle étage 3] aus 2 übereinand.] am linken Rand | als Bearbeitungsvermerk er] e aus k

HANS-GEORG POTT

AUFKLÄRUNG ÜBER RELIGION Vortrag vor der Jean-Paul-Gesellschaft im März 2008

I. Die Sonne Gestatten Sie mir einen kleinen Umweg zu meinem Thema, bei dem natürlich unser Lokalpoet und Weltliterat im Mittelpunkt steht, ein Umweg keineswegs in der Sache, der uns vielmehr unmittelbar zum Thema führen wird. Vielleicht erinnern sich einige an den humorvollen Roman Felix Krull und noch genauer daran, wie der unter dem falschen Namen Marquis de Venosta und mit Adelsdiplom auftretende Felix im Zug von Paris nach Lissabon jenen merkwürdigen älteren Herren mit dem aus Menschensicht im Tierreich nicht besonders hochgeschätzen Vogelnamen Kuckuck trifft, einen Professor der Paläontologie und Direktor des Naturhistorischen Museums in Lissabon, der eingeführt wird mit »Sternenaugen«.1 Thomas Mann wird nicht müde, immer wieder das Motiv der Sternenaugen aufzurufen, so dass der Leser nicht umhin kommt, in humoristischer Verkleidung ein mit göttlichen Sphären in Verbindung stehendes Menschenwesen zu vermuten, zumal nach dessen längeren Ausführungen über den Boten-Gott Hermes dem glücklichen Helden in einer Replik ein »zum Kuckuck – pardon«2 herausrutscht. Als Paläontologe kennt er jedenfalls den göttlichen Bauplan. Nun, Kuckuck lädt den falschen Marquis in das »Museu Sciências Naturaes« in Lissabon ein und Felix besichtigt die sinn- und lehrreich eingerichtete Ausstellung, von den Vorversuchen des Lebens im Meer bis zum Schimpansen. Auf die Frage wo der Mensch sei, antwortet der Professor: »Im Souterrain [...]. Haben Sie hier alles beherzigt, Marquis, so wollen wir herabsteigen.« »Hinauf, wollen Sie sagen«,3 wendet der Gast ein. Herab oder hinauf: das ist die Frage. Beim Neandertaler angekommen, verharrt er besonders vor jenem Sonderling, der die Wände einer Felsenhöhle mit Bildern bedeckt (»Seine Gesellen betrieben wohl draußen die Jagd in Wirklichkeit, er aber malte sie mit bunten ––––––– 1 2 3

Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a.M. 1965, S.202. Ebd., S.211. Ebd., S.238.

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Säften [...]«) und dem anderen, der »was ihm vorschwebt, so gut er kann in einen Stein [ritzt].«4 Wir sind beim Kulturmenschen, beim Künstler angekommen. Und nun folgt der Textabschnitt, um dessentwillen ich den ganzen Vorspruch gemacht habe. Wir haben nämlich den Anfang der Kultur vor uns, der, Sie ahnen es, mit der Religion zu tun hat. Vom Anfang sagt Kuckuck am Beginn ihrer gemeinsamen Zugreise: »Sie sollten den Anfang davon nicht auf die leichte Achsel nehmen, nur weil er eben bloß ein Anfang ist.«5 Neben einer schönen Meereslandschaft mit Fischern, die ihrem »unblutigen, doch auch überlegenen Handwerk« nachgehen, erheben sich Steinsäulen, unüberdacht, es war wie ein Säulensaal, nur mit dem Himmel als Decke, und in der Ebene draußen ging eben die Sonne auf, rot flammend hob sie sich über den Weltrand. Im dachlosen Saal aber stand ein Mann von kräftigem Gliederbau und brachte, die Arme erhoben, der aufgehenden Sonne einen Blumenstrauß dar. Hatte man je so etwas gesehen? [...] Die rohen Pfeiler waren kein Grund zum Hochmut. Der Fuchsund der Dachsbau und das vorzüglich geflochtene Vogelnetz zeugten sogar von mehr Witz und Kunst. Allein sie waren nichts weiter als zweckmäßig – Schlupf und Brut, darüber ging ihr Sinn nicht hinaus. Mit dem Pfeilerbezirk war es etwas anderes; Schlupf und Brut hatten mit ihm nichts zu tun, sie waren unter seinem Sinn, der, abgelöst von gewitzter Bedürftigkeit, sich aufschwang zu noblem Bedürfnis, – und da hätte wahrhaftig nur sonst in aller Natur jemand kommen sollen und auf den Gedanken verfallen, der wiederkehrenden Sonne einen Blumenstrauß dienstlich zu präsentieren!6

Der Anfang der Kultur, wie er hier dargeboten wird, ein Priester in einem heiligen Steinhain, der Sonne weniger ein Opfer als vielmehr einen Blumengruß darbringend, ist mit abgründiger Ironie dargestellt. Denn im Keller des naturhistorischen Museums verbirgt sich noch ein ganz anderer Anfang der Kultur, beginnt doch ›Religion‹ nach unserem Verständnis, wie in Stein geritzte Zeugnisse zuhauf beweisen, mit blutigen Opferkulten und dem in Stein gehauenen Gesetzestafeln. Die humoristisch-ironische Schrift von Thomas Mann aber lässt sich so als Aufklärung über Religion begreifen. II. Das Herz des inneren Menschen Damit bin ich bei Jean Paul, der den Ursprung des Menschseins, der mit dem der Kultur und Religion eins ist, in einem ebenso »noblen Bedürfnis« erkennt, einem des Herzens nämlich: ––––––– 4 5 6

Ebd., S.239f. Ebd., S.204. Ebd., S.240.

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Der reinste Unterschied des Menschen vom Tiere ist weder Besonnenheit noch Sittlichkeit [...], sondern Religion, welche weder Meinung noch bloße Stimmung ist, sondern das Herz des innern Menschen und daher jede erst grundierend. (I/5,580)

Man könnte das gesamte Werk Jean Pauls in meinen Augen als eine einzige große Variation zum Thema ›cœur et raison‹ betrachten, also zum Pascalschen Thema: ›Le cœur a ses raisons‹. »Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine [...].«7 »Wir erkennen die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz; in der Weise des letzteren kennen wir die ersten Prinzipien [...].«8 Das bedeutet nicht – in der Metapher des Herzens –, dass die Gefühlswelt auch ein Wort mitzureden hat, wenn der Verstand spricht, oder dass es nur um einen harmonischen Ausgleich geht; sondern die Betonung liegt auf »ses raisons«. Das besagt: neben der Logik des Intellekts, des kognitiven Vermögens, wie es heute heißt, gibt es eine Logik der Gefühle. Neuerdings spricht man von emotionaler Intelligenz. Die Herzensvernunft erschließt eine eigenständige ›harte‹ Realität, die, das hat der große, leider etwas vergessene Philosoph Max Scheler deutlich gemacht, die Wertsphären sogar vorrangig konstituiert9 und die für Pascal die »ersten Prinzipien« erschließt – als da sind: Raum, Zeit, Bewegung, Zahlen und der Glaube als »Gefühl des Herzens«. Der Verstand beweist nur im Nachhinein, dass es bestimme Zahlenverhältnisse, Bewegungsgesetze usw. gibt. Dies zu erkennen, scheint mir vernünftig und durchaus aufgeklärten Geistes. Eine über sich selbst aufgeklärte Vernunft wäre eine solche, die den Widerstand gegen sich in sich selbst bearbeitet – als Widerstand der Vernunft gegen die Vernunft – und die dem Gefühl des Menschen im Menschen einen eigenen Realitätswert einräumt. Mit Blick auf Jean Paul ist sogar zu sagen, dass für ihn dem Verstand, sozusagen der angewandten reinen Vernunft, nur ein sehr eingeschränkter Realitätswert zukommt und dass eine volle Realitätserfassung erst einem liebenden Gemüt und Dichter zugesprochen werden kann, wie folgende Passage aus der Vorschule der Ästhetik beweist: Hat er oder ich z.B. zu sagen: ›der Mensch denkt neuerer Zeit nicht dumm, sondern ganz aufgeklärt, liebt aber schlecht‹: so muß er [also der Dichter, Anm. d. Verf.] zuerst den Menschen ins sinnliche Leben übersetzen – also in einen Europäer – noch enger in einen Neunzehnjahrhunderter – und diesen wieder auf ein Land,

––––––– 7 8 9

Blaise Pascal, Über die Religion (Pensées), Darmstadt 1987, Nr.283, S.143. Ebd., Nr.282. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1. Aufl. 1913, 5. Aufl. (= Ges. Werke Bd.2) Bern und München 1966. Schelers heute fast vergessenes Verdienst ist es, den Zusammenhang des emotionalen Lebens, vor allem von Liebe und Hass, mit der Wertsphäre aufgewiesen zu haben.

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Hans-Georg Pott auf eine Stadt einschränken. – In Paris oder Berlin muß er wieder eine Straße suchen und den Menschen dareinpflanzen. Den zweiten Satz muß er oder ich ebenso organisch beleben, am schnellsten durch eine Allegorie, bis er etwa so glücklich ist, daß er von einem Friedrichstädter sprechen kann, der in einer Taucherglocke bei Licht schreibt und ohne einen Stuben- und Glockenkameraden im kalten Meer und nur durch eine verlängerte Luftröhre seiner Luftröhre mit der Welt im Schiffe verbunden ist. ›Und so erleuchtet‹ schließe der Komiker, ›der Friedrichstädter sich allein und sein Papier und verachtet Ungeheuer und Fische um sich her ganz‹. Das aber ist der obige Satz. (I/5,140)

Das ist ein Beispiel, das hinreichend meine Liebe zu Jean Paul zu erklären vermag. Die Allegorie illustriert ja nicht nur einen abstrakten Satz, sondern sie begründet ihn auch. Hier erweist sich schlagend die Erkenntnisfunktion von Dichtung. Denn die Tatsache, dass der aufgeklärte Mensch schlecht liebt (sagen wir, wenn es ein Mann ist, eine Frau), erklärt sich daraus, dass das Licht der Aufklärung in völliger Isolierung vom lebendigen Leben leuchtet, und es in dieser Lage leicht ist, Ungeheuer (ich übersetze: Frauen) zu verachten. Nur die Liebe oder der Hass lassen den Verstandesmenschen aus seiner Taucherglocke ins Leben heraustreten und ein Leben miterleben und Realität gewinnen. Das »Herz des inneren Menschen« ist zugleich das Herz der Dichtung Jean Pauls – und ihr Generalthema ist die Liebe. III. Der Zeitgeist der Aufklärung – das doppelte Licht Ich möchte nun einen historischen Blick ins Zeitalter der Aufklärung werfen, dessen großer humoristischer Dialektiker Jean Paul ist. Seine Levana oder Erziehlehre von 1806 enthält eine explizite Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist. Diese Diagnose fällt vernichtend aus. Entstanden ist eine Massenkultur des Zorn- und Gierfeuers, in der die Gewalt »die Menschen wie Dunsttropfen ungeheuerer Dampfmaschinen eines Geistes zusammenfügt« (I/5,570), dem der »heilige [Geist] des Überirdischen« fehlt: Die Ruinen seines Tempels senken sich immer tiefer in die jetzige Erde. Beten, glaubt man, zieht die Irrlichter des Wahns an sich. Der Sinn und Glaube für das Außerweltliche, der sonst unter den schmutzigsten Zeiten seine Wurzeln forttrieb, gewinnt in reiner Luft keine Früchte. Wenn sonst Religion im Kriege war, so ist jetzo nicht einmal in der Religion mehr Krieg – – aus der Welt wurde uns ein Weltgebäude, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg. Endlich hält noch der Geist der Ewigkeit uns unsere Schamlosigkeit vor, womit wir die leidenschaftliche Brunst des Zorn-, des Liebe- und des Gierfeuers, deren sich alle Religionen und die alten Völker und die großen Menschen enthielten oder schämten, als ein Ehrenfeuerwerk in unserem Dunkel spielen lassen; und sagt, daß

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wir, nur in Haß und Hunger noch lebendig, wie andere zerfallende Leichen eben nur die Zähne unverweslich behalten, die Werkzeuge beides, der Rache und des Genusses. Leidenschaftlichkeit gehört eben recht zum Siechtum der Zeit; nirgends wohnt so viel Aufbrausung, Nachlaß, Weichheit gegen sich und unerbittliche Selbstsucht gegen andere als auf dem Krankenbette. – Auf diesem liegt aber dieses Jahrhundert. (I/5,570f.)

Das sind deutliche Worte – einerseits; andererseits sind sie aber von einer gewissen Ambivalenz: einerseits war Religion im Kriege, andererseits enthielten oder schämten die Religionen sich des Zorn-, Liebes- und Gierfeuers. Das aber kennzeichnet die Ambivalenz aller drei großen monotheistischen Schriftreligionen. Aber Jean Paul wäre nicht Jean Paul, wenn er die Sprache des strengen Geistes in sich (und uns) nicht abmilderte zu einer geistigen Trauer, die einen »höhern Berg oder Gipfel« anzeigt. Der kühne und überfliegende Gedanke der Talmudisten, daß auch Gott bete, – ähnlich dem griechischen, daß Jupiter unter dem Schicksale stehe – erhält durch die hohen, oft besiegten Geisterwünsche, die der Unendliche doch selber in uns gelegt, einen Verstand. / Eine Religion nach der andern lischt aus, aber der religiöse Sinn, der sie alle erschuf, kann der Menschheit nie getötet werden; folglich wird er sein künftiges Leben nur in mehr geläuterten Formen beweisen und führen. (I/5,571f.)

Darum geht es nunmehr, den religiösen Sinn zu läutern und ihm einen Verstand zu geben. Wenn Tyräus [Tyraeus de apparitione dei. c.17., Anm. d. Verf.] sagt, Gott sei den Menschen anfangs in ihrer Gestalt erschienen, dann als Stimme, später nur im Traume und durch Erleuchtung: so nimmt dies eine schöne Deutung für unsere und die späten Zeiten an, wenn man unter Traum Poesie und unter Erleuchtung die Philosophie versteht. Solange das Wort Gott in einer Sprache noch dauert und tönt: so richtet es das Menschenauge nach oben auf. Es ist mit dem Überirdischen wie mit der Sonne, welche in einer Verfinsterung, sobald auch nur der kleinste Rand von ihr noch unbedeckt leuchten kann, stets den Tag forterhält und sich selber geründet in der dunkeln Kammer abmalt. (I/5,572)

Dem göttlichen Lichtschein korrespondiert das Licht in uns, das »kecke Selberbewußtsein – das Sein dieser Zeit [...]« (ebd.). Wir haben eine doppelte Lichtmetaphorik zu beachten, die das aufgeklärt-religiöse Weltbild Jean Pauls im doppelten Licht beleuchtet: Gott ist die Sonne, das Sonnenlicht, wie es in fast altägyptischer Weise der acht Jahre unterirdisch erzogene Gustav in der Unsichtbaren Loge erblickt, nämlich »wie eine vom göttlichen Throne niedergesunkene Krone Gottes« – wir erinnern uns an die zitierte Passage aus dem Felix Krull: »Gustav rief: ›Gott steht dort‹ und stürzte mit geblendetem Auge und Geiste und mit dem größten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjähriger Busen fasste, auf die Blumen hin [...].« (I/1,63) Zugleich ist das

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Licht das Selbstbewusstsein selbst oder das Bewusstsein des Bewusstseins, das »Sein dieser Zeit«, ihr Segen und Fluch zugleich, wenn es wiederum nur einseitig, ohne Realitätssinn, in sich selber kreist, wie die Gestalt Schoppes im Titan und Jean Pauls explizite und latente Fichte-Kritik illustrieren. IV. Der Zeitgeist der Aufklärung (Fortsetzung) Die Quellen des religiösen Sinns sind im Zeitalter der Aufklärung und Säkularisierung keineswegs versiegt. Im Gegenteil (und die Romantik bezeugt das ebenso): die politischen und kulturellen Zustände im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die napoleonischen Kriege und der – wie Jean Paul schreibt – »unzähligen Irrlehrer und Irrprediger«, die Vielfalt der öffentlichen Meinungen durch die sich ausbreitende Publizistik, lassen »Herz und Gehirn« eintrocknen und einwelken. Nehmet das dürreste Herz und Gehirn, das in irgendeiner Hauptstadt einwelkt, und gebt ihm nur Gewißheit, daß der Geist, der auftritt, uns aus der Ewigkeit den Schlüssel zu und aus so wichtigen Pforten der Lebenkerker, des Todes, des Himmels herunterbringe: so muß der ausgetrocknete Mensch wohl, solange er noch Angst und Wunsch hat, eine Wahrheit suchen, die ihn doch auffindet. (I/5,573)

Angst und Wunsch bilden also die lebendigen Quellen des religiösen Sinns. Das heißt aber nicht, dass er Antagonist des Aufklärungsprozesses wäre. Vielmehr sind beide, der religiöse Sinn und der ›Sinn‹ der Aufklärung, gleich gerichtet, beide sind Lichtbringer. Die jetzigen Lichtprozesse verstatten wenigstens alles andere eher als Stillstand; nur dieser aber erzeugt und verewigt Gift, so wie auf stille Luft Gewitter und Stürme einbrechen. Freilich, auf welche Weise aus diesen trüben Gärungen eine hellere Zeit, als wir kennen, sich bereite, können wir wenig bestimmen. Denn jede veränderte Zeit, also unsere, ist nur ein neues Geisterklima für kommende Geisteraussaat; wir wissen aber nicht, welchen ausländischen Samen der Himmel in dasselbe herunterwirft. (Ebd.)

Die Zukunft ist radikal offen und unvorhersehbar. Das verdient festgehalten zu werden. Wir werden auf den weltgeschichtlichen Zusammenhang zurückkommen. Auch erleidet der Zeitbeobachter seiner Zeit eine perspektivische Verzerrung. Daher erscheint jedem seine Zeit moralisch schlechter, so wie die intellektuelle besser, als sie ist; denn in der Wissenschaft ist das Neue ein Fortschritt, in der Moral ist das Neue, als ein Widerspruch mit unsern innern Idealen und mit den historischen Idolen, stets der Rückschritt. (Ebd.)

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Ich muss betonen: das gilt für den Menschen als Zeitbeobachter und Beobachter der Geschichte; denn der Mensch in der Zeit ist kein einheitliches Wesen, sondern in Kopf und Herz gespalten, die nicht im Gleichtakt mit der Zeit gehen. Die Moral betrifft das Herz. (Hier ist wieder an Max Scheler zu erinnern, der diesen Zusammenhang in seiner materialen Wertethik systematisch ausgearbeitet hat.) »Von jeher aber ging bei Völkern der Kopf dem Herzen oft um Jahrhunderte voraus«; darin liegt ein wesentlicher Schlüssel für die Erkenntnis auch der unsrigen Zeit. Ich möchte das die Anachronie von Herz und Verstand nennen oder die von Gefühl und Intellekt. Im Gleichzeitigen sind sie ungleichzeitig.10 Der Gefühlsbereich des Menschen und sein kognitives Vermögen entwickeln sich nicht synchron. Es bedarf daher einiger Ausführungen zur Anthropologie der Aufklärung, um hernach die Konsequenzen für die Religion zu betrachten. V. Anthropologie der Aufklärung Die ersten Kritiker der Aufklärung waren und sind Aufklärer. Das ist der erste Gesichtspunkt meiner These vom Widerstand der Vernunft gegen die Vernunft. Das Programm und die Maximen der Aufklärung werden in der kleinen Schrift Kants, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 ausgesprochen. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmüdigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.11

Gemäß dieser Maxime beurteilt ist Jean Paul Aufklärer und aufgeklärt; denn Mut sich seines Verstandes zu bedienen, hat er bewiesen, wenn er sich zum Beispiel nicht scheut, das, was gedacht werden kann, auch zu denken und zu veröffentlichen, zum Beispiel in der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei und im Zusammenhang mit anderen Experimentalnihilismen wie zum Beispiel in der Idee einer Teufelsadvokatur der ––––––– 10

11

Ernst Bloch hat in Erbschaft dieser Zeit diese Anachronie als Ursache für den Faschismus erkannt. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd.6: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Darmstadt 1966, A481, S.53.

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Selina.12 Der Atheismus ist möglich, also wird er auch aufgeschrieben. Die Grenzen der Tragfähigkeit der Kantischen Maxime liegen in der These von der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wie die Anthropologie des 18. Jahrhunderts, auch in ihren popularphilosophischen Ausprägungen, erkannt hat, ist die Unmündigkeit des Menschen keineswegs selbst verschuldet und als Mutlosigkeit zu verantworten, sondern sie resultiert daraus, dass es an eigenem Verstand mangelt – und zwar ganz allgemein, also von den anthropologischen Voraussetzungen des Menschseins her. Zwei Monate vor Kants Aufsatz veröffentlicht Moses Mendelssohn in derselben Berlinischen Monatsschrift seinen Beitrag: Über die Frage: was heißt aufklären?13 Darin wird schon der Bildungsbegriff vorweggenommen, den Schiller und Humboldt dann als harmonische Entfaltung des ganzen Menschen, also von Herz und Verstand gleichermaßen, in vielen Facetten entwickeln werden, wie es auch dem Denken Jean Pauls entspricht. Ausbildung, Bildung, Kultur sind auch seine Leitworte, wenn es um die Weltstaatsutopie geht, wie er sie in seinen Dämmerungen für Deutschland entwickelt (vgl. I/5,927f.). Von Natur und Gesellschaft aus gesehen – der Bildungsbegriff ist davon gerade abgesetzt zu denken – ist der Mensch nicht mit einem eigenen Verstand und reiner praktischer Vernunft gesegnet, sondern er wird von Nachahmungssucht, Eitelkeit, Langeweile usw. regiert und getrieben, von Impulsen also, wie sie bereits Tiecks früher Roman William Lovell (1795/96) beschreibt, der leider im Schatten des Werthers steht, aber eigentlich viel moderner ist. Die Menschen (ich stelle beiseite, dass diese Menschen bei Jean Paul in erster Linie Frauen sind) lesen zu selten die Moralphilosophen, was ihnen aber auch nichts nützen würde. Insgesamt mangelt es ihnen durchaus an reiner praktischer Vernunft. Um es kurz zu sagen: »Aber du, Mensch, hängst so oft als stinkende Pest- und Nebelwolke in die reine Natur herein!« (I/1,88) Auch aus der Sicht der heutigen Evolutionsbiologie ist die Unmündigkeit der Menschen eine notwendige Anpassung an die jeweiligen Machtverhältnisse, also nichts, was selbstverschuldet zu nennen wäre. Der Grund für eine Identifikation mit der Macht, so Bernhard Verbeek, ––––––– 12

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Die Gültigkeit des Konzepts ›sapere aude‹ bereits für den jungen Richter läßt sich aus seinen nachgelassenen Schulreden, den Denkübungen, Fragmenten und Arbeitstagebüchern aus der Zeit von 1779–81 erweisen. Nur ein Beispielsatz aus seinem Exzerptenarchiv: »wir solten nur ieden sein eignes machen lassen, und ihn nicht uns(ers) anpeinigen; wir solten ieden seine eigne Art zu sehen lassen, weil er andere Augen hat, und ihm nicht eine Brill’ aufsezzen, durch die er wie wir sieht.« Vgl. Dorothea Böck, Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen. Überlegungen zur Genesis von Jean Pauls Kunstmodell, in: Greizer Studien, Bd.1, hrsg. von Harald Olbrich u.a. Berlin 1989, S.149–189, hier: S.160. Vgl. Anne Pollok, Facetten des Menschen. Zu Moses Mendelssohns Anthropologie. Diss. Halle 2007.

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dürfte ganz einfach in der erdhistorischen Erfahrung des Lebens liegen, die zeigt, daß es vorteilhaft ist, in die Fußstapfen des Erfolgreichen zu treten und im Zweifel auf der Seite des Mächtigen zu stehen. Außerdem dürfte die lange Lebenserfahrung der Gene gelehrt haben, daß es sich nicht auszahlt, diesen Mächtigen und somit die eigene Gruppe während einer schwierigen Situation allzu schnell zu verlassen. [...] Neuere Befunde legen nahe, daß sozial akzeptiertes Verhalten durch eine Endorphinausschüttung belohnt wird. Endorphine sind eine Art körpereigenes Morphiums. Was sich subjektiv als sozial akzeptiert festigt, das dürfte großenteils prägungsartig in der Phase der reifenden Persönlichkeit festgelegt werden.14

Das ist von einem aufgeklärten Menschen heute zur Kenntnis zu nehmen. Der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, muss sich abarbeiten an dieser Einsicht, wie wir normalerweise in uns selbst funktionieren. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«15 ist somit eine Verunsicherungsparole. Jean Pauls Teilnahme, ja innigste Zugehörigkeit zum Prozess der Aufklärung steht außer Frage und wurde von der Forschung auch im einzelnen nachgewiesen. Sein Gesamtentwurf, wenn man so sagen darf, ist eine Anthropologie, d.h. Menschenkunde, in poetischer Absicht. Auch Religion ist Religion des Menschen. Das besagt, dass sie im Menschen, wie Jean Paul ihn versteht, ihren Anfangs- und Endpunkt hat. Aber was ist der Mensch? Ein mehr als abendfüllendes Thema. Ich frage daher nur: Wie sieht Jean Paul den Menschen, sofern er religiösen Sinn hat? Der Mensch ist ein gleichsam Pascalsches Wesen aus Herz und Verstand (raison), d.h. Geist. Die Jean-PaulForschung nennt, was den religiösen Sinn und das religiöse Gefühl angeht, biographisch korrekt, nicht Pascal, sondern Friedrich Heinrich Jacobi als Jean Pauls maßgeblichen Dialogpartner. Jacobi war zweifellos ein wichtiger Gesprächspartner als Briefsteller, verehrt aber hat der Dichter Pascal, Fénelon und Herder. »Wollt ihr durch Musen die Religion, wie Sokrates die Philosophie, von ihrem Himmel auf die Erde bringen und pflanzen; so eifert jenem Muster nach, nämlich Herdern!« (I/5,1028f.) Und darum geht es Jean Paul: durch Musen, also durch die Kunst (die Kunst der Bilder könnte man sagen, wenn man darunter vor allem die Sprachbilder versteht, die Metaphern und Allegorien), d.h., durch Vernunft gepaart mit Einbildungskraft, die Religion zu vermitteln – und nicht durch Wunder und Offenbarung. Hatte doch schon Herder geschrieben: »die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß, durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte«.16 So sehr es bei Jean Paul auch eine ––––––– 14 15 16

Bernhard Verbeek, Die Anthropologie der Umweltzerstörung, Darmstadt 1990, S.158f. Kant [Anm.11], S.53. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan Bd.14: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hildesheim 1967, S.213.

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Hinwendung nach innen gibt, zum Geist und zur himmlischen Welt in uns als einer immanenten Spiritualität (vom Gefühlskult zu schweigen), so sehr muss beachtet werden, dass er einen immanenten Solipsismus kritisiert und Realitätssinn einfordert. Das zeigt sich vor allem an seiner philosophischen und poetischen Fichte-Kritik (poetisch in den Gestalten Leibgeber und Schoppe): Eine autonome, nur sich aus sich selbst begründende, repetetiv rein selbstbegründete Vernunft ist ihm nur der »Traum einer Vernunft«, die nie erwacht. Ihr muss die Einbildungskraft zugesellt werden als das eigentliche ästhetische Vermögen, um die Sphäre der Immanenz aufzubrechen und zum Realen zu gelangen. Das Reale wird erkannt (erkannt!) unmittelbar im Gefühl und vermittelt im (Sprach-)Bild. Der Zugang zum Realen – und hier ist Jean Paul ein modifizierter Fichteaner – ist zugleich ein Zugang zum Transzendenten und Imaginären. Er macht keinen salto mortale in den Glauben, wie Jacobi, sondern insistiert auf einer freilich paradoxen Vernunfterkenntnis.17 Hier bleibt er Aufklärer und formuliert Einsichten, die ich zum wertvollsten Bestand unserer Kultur zähle. Sie betreffen das Gefühl und die Phantasie bzw. Einbildungskraft als ein Vermögen der Bilder. In diesen haben wir das Göttliche allerdings nur im Imaginären. Aber es gibt eine Erkenntnis der Bilder, zu denen auch immer die Sprachbilder zu zählen sind. Es gibt also eine Vernunfterkenntnis des Göttlichen, nicht aber vollzogen von einer solchen autonomen und reinen Vernunft, sondern von einer unreinen. Eine unreine Vernunft ließe sich vielleicht als eine Trinität von Verstand, Gefühl und Einbildungskraft fassen. Zu letzterer nur einige Sätze aus der Vorschule der Ästhetik: sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte; [...]. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen [...]. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. (I/3,48)

Man beachte den paradoxen Doppelsinn des Genitivs »das Absolute und Unendliche der Vernunft«. Er besagt, gedeutet als subjectivus: Das Absolute und Unendliche gehört der Vernunft ursprünglich zu und als solches wird es den sterblichen Menschen von der Phantasie nähergebracht. Als objectivus gelesen, sagt er: das Absolute und Unendliche wird durch die Einbildungskraft der Vernunft nähergebracht und führt sie anschaulicher vor den sterbli––––––– 17

Vgl. Hans Feger, Ästhetische Vernunft. Stuttgart 2007. – A und O der Vernunft ist die Paradoxie, wie Niklas Luhmann gelehrt hat.

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chen Menschen. Jean Pauls Schreiben besteht in der Entfaltung dieser Paradoxie. VI. Ich-Gott; Gott-Ich Jean Paul hat sich an der Fichteschen Ich-Philosophie abgearbeitet, und auch als Poet ist er ein aufgeklärter Fichteaner. Schauen wir genauer hin. Ich ist – Gott ausgenommen, dieses Ur-Ich und Ur-Du zugleich – das Höchste so wie Unbegreiflichste, was die Sprache ausspricht und wir anschauen. [...] Gleichwohl ist ein zweites Ich, in anderer Rücksicht, uns noch unfaßlicher als ein erstes. (I/5,564)

Mensch und Gott sind wesentlich eines Geistes; der Mensch ist ein Ebenbild Gottes, aber auch sein wesentlicher Mangel, insofern der Mensch nur Ich, aber nicht Du zugleich ist; einzig die Liebe (zum Du) kompensiert diesen Mangel. Liebe gibt es in der Welt, weil es diesen Mangel gibt, weil wir nicht Ich und Du zugleich sind; in der Liebe sind wir aber Gott am nächsten oder am ähnlichsten. Das Problem ist nur: »Das Ich und das Du können aber recht unterschiedlich ausfallen. Jedes Ich ist Persönlichkeit, folglich geistige Individualität [...]« (ebd.). Nicht etwa, dass der Mensch keinen Körper hätte. Der Mensch ist sowohl ein sinnlich-geistiges wie ein körperliches (organisches) und auch soziales Wesen: »körperliche [Individualität, Anm. d. Verf.] ist eine so weite, daß zu ihr Himmelsstrich und Boden und Stadt ja ebensowohl gehören würden als Leib« (ebd.). Die »geistige Individualität« aber ist »ein innerer Sinn aller Sinne« und zugleich der Grund der Bande zum »zweiten Ich«. Ich zitiere einen etwas längeren Abschnitt, weil er auf die unvergleichlich Jean Paulsche Art einen philosophischen Riesenwälzer in wenigen Sätzen ersetzt: Sie [die geistige Individualität, Anm. d. Verf.] ist das am andern, worauf unser Vertrauen, Befreunden oder Anfeinden ruht, und entweder eine ewige Untauglichkeit zu Dicht- und Denkkunst, oder die Macht dazu. – Wie dieselbe unfaßliche organische Einheit, der sich die zerstreute Materie unterwirft, anders in der Pflanze, anders im Tiere und anders in allen Abarten regiert und läutert und sich zu organischer Persönlichkeit vervielfacht, so die höhere geistige Einheit. Die scholastische Frage, ob der Gottmensch nicht auch als Weib, Tier, Kürbis hätte erscheinen können, wird symbolisch von der Mannigfaltigkeit der Individualitäten bejaht, worin sich das Göttliche ausdrückt. – Sie ist das was alle ästhetische, sittliche und intellektuelle Kräfte zu einer Seele bindet und, gleich der Lichtmaterie, unsichtbar die vielfarbige Sichtbarkeit gibt und bestimmt, und wodurch erst jedes philosophische Pol-Wort, ›praktische Vernunft, reines Ich‹, aufhört, bloß im Scheitelpunkte am

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Hans-Georg Pott Himmel als ein Polarstern zu stehen, der keinen Norden und folglich keine Weltgegend angäbe. (Ebd.)

Das ähnelt der Kritik an der Aufklärung in der zitierten Allegorie vom Friedrichstädter in der Taucherglocke. Also: In der Einheit des Mannigfaltigen des Menschen drückt sich das Göttliche ein und aus. Das aber ist eine Einheit – und diesen Gedanken hatte auch Schiller im Bildungskonzept seiner Ästhetischen Briefe formuliert –, die keine der mannigfaltigen Eigenschaften und Kräfte im Menschen unterdrückt, sondern sie alle steigert und in Harmonie bringt.18 Sollte man übrigens den Preis- und Ideal-Menschen in Worte übersetzen: so könnte man etwan sagen, er sei das harmonische Maximum aller individuellen Anlagen zusammengenommen, welches daher ungeachtet aller Ähnlichkeit des Wohllautes doch bei Einzelwesen zu Einzelwesen sich wie Tonart zu Tonart verhält. (I/5,566f.)

Damit habe ich die menschliche Seite des Göttlichen und die göttliche Seite des Menschen gekennzeichnet. Was ist aber nun Gott und was Religion? VII. Gott-Religion Religion ist der Glaube an Gott (vgl. I/5,577). Und was ist der Glaube an Gott? Einmal der Sinn für das Transzendente (Überirdische, Heilige, Unsichtbare, Unfassliche). Ohne den Glauben an Gott wäre das Jenseits (das zweite All) nur eine »wiederholende Vergrößerung« (I/5,578) des irdischen Diesseits. Der Glaube besteht also nur in einem Gefühl, in Sinn und Geschmack für das Unendliche, wie Schleiermacher sagt, für das, was als Unaussprechliches in jeder Seele wohnt. Wie lässt es sich bedeuten durch Worte? Und was bedeutet das Wort ›Gott‹? Zwar ist in der Seele Sein und Wort nicht zu trennen, aber was ist (es), wenn es kommuniziert wird? Das Aussprechen trennt die Einheit von Wort und Sache, Sinn und Sein, aber so, dass die Einheit im Widerglanz erscheint; denn »am zweiten Ich bricht sich meines zurück, und ich finde nur jenen widerglänzend wieder, der mich und den Tautropfen erleuchtet« (I/5,579). Das dichtet ähnlichen Sinns auch Goethe in den bekannten Versen: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird’s Ereignis« (Faust II, 5,2). Das Unzulängliche ereignet sich in der Sprache, im Aussprechens des Wortes Gott(es) als Gleichnis, als Widerschein oder Abglanz dessen, was in der Seele wortlos eins ist. ––––––– 18

Vgl. Hans-Georg Pott, Die Schöne Freiheit. München 1980.

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So sind es denn nicht die Worte irgendeiner bestehenden Religionsgemeinschaft, die Jean Paul herbeizitiert und noch nicht einmal Bibelworte. Seine Rede über Religion, die er »einem fremden Mann« (vgl. I/5,1259, Anmerkung zu I/5,578f.) in den Mund legt, ergeht folgendermaßen (gekürzt): Religion ist anfangs Gottlehre, daher der hohe Name Gottgelehrter – recht ist sie Gottseligkeit. Ohne Gott ist das Ich einsam durch die Ewigkeiten hindurch; hat es aber seinen Gott, so ist es wärmer, inniger, fester vereinigt als durch Freundschaft und Liebe. Ich bin dann nicht mehr mit meinem Ich allein. Sein Urfreund, der Unendliche, den es erkannt, der eingeborne Blutfreund des Innersten, verläßt es so wenig als das Ich sich selber; und mitten im unreinen oder leeren Gewühl der Kleinigkeiten und der Sünden, auf Marktplatz und Schlachtfeld steh' ich mit zugeschloßner Brust, worin der Allhöchste und Allheiligste mit mir spricht und vor mir als nahe Sonne ruht, hinter welcher die Außenwelt im Dunkel liegt. Ich bin in seine Kirche, in das Weltgebäude, gegangen und bleibe darin selig-andächtig fromm, werde auch der Tempel dunkel oder kalt oder von Gräbern untergraben. Was ich tue oder leide, ist kein Opfer für Ihn, so wenig, als ich mir selber eines bringen kann; ich liebe Ihn bloß, Ich mag entweder leiden oder nicht. [...] Wenn mein Urfreund etwas von mir verlangt, so glänzt mir Himmel und Erde, und ich bin selig wie er; wenn er verweigert, so ist Sturm auf dem Meer, aber es ist mit Regenbogen überdeckt, und ich kenne wohl die gute Sonne darüber, welche keine Wetter-, nur lauter Sonnenseiten hat. (I/5,578f.)

Diese Sätze haben meinen Anfang mit Thomas Mann und dem Felix Krull motiviert. Schon die Dominanz der Metapher »Sonne« und des sie begleitenden Wortfeldes der Anbetung und Verehrung lässt den Zusammenhang erkennen: Seligkeit, Wärme, Glanz. Das speist sich aus der Poetik der Mystik und erinnert zugleich an Uranfänge kultischer Naturverehrung – aber ohne Furcht vor einem bösen, strafenden, dämonischen Gott oder einem Militärgott wie dem Herrn der Heerscharen. Es ist weder vom Opfer die Rede noch vom Sittengesetz. Und die Kirche ist das Weltgebäude selbst und jedes »Leben ist ja ein beweglicher Tempel des Unendlichen« (I/5,579). Das hätte Jean Pauls Briefpartner Jacobi gar nicht gefallen; denn hier nähert er sich dem von Jacobi so bekämpften Spinozismus, dem Gedanken: »deus sive natura«, und Spinoza wird denn auch genannt: Wer etwas Höheres im Wesen, nicht bloß im Grade sucht, als das Leben geben oder nehmen kann, der hat Religion; glaub’ er dabei immerhin nur ans Unendliche, nicht an den Unendlichen, nur an Ewigkeit ohne Ewigen, gleichsam, als Widerspiel anderer Maler, die Sonne zu keinem Menschenantlitz ausmalend, sondern dieses zu jener abrundend. Denn wer alles Leben für heilig und wundersam hält, es wohne bis ins Tier und in die Blume hinab; wer, wie Spinoza, durch sein edles Gemüt weniger auf der Stufe und Höhe als auf Flügeln schwebt und bleibt, von wo aus das All rings umher – das stehende und das geschichtlich bewegliche – sich in ein ungeheueres Licht und Leben und Wesen verwandelt und ihn umfließt, so daß

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Hans-Georg Pott er sich selber in das große Licht aufgelöset fühlt und nun nichts sein will als ein Strahl im unermeßlichen Glanze: der hat und gibt folglich Religion, da das Höchste stets den Höchsten, wenn auch formlos, spiegelt und zeigt hinter dem Auge. (I/5,586)

Daraus folgt das, was ich das Jean Paulsche Toleranzedikt nennen möchte, mit dessen schlichten Worten jeglicher Streit der Religionen sich erledigt: Jede fremde Religionübung sei ihm so heilig wie die eigne, und jedes äußere Gerüste dazu [also die Gestalt der Kirchen, kultische Formen etc., Anm. d. Verf.]. Das protestantische Kind halte das katholische Heiligenbild am Wege für so ehrwürdig wie einen alten Eichenhain seiner Voreltern; es nehme die verschiedenen Religionen so liebend wie die verschiedenen Sprachen auf, worin doch nur ein Menschen-Gemüt sich ausdrückt. (I/5,585)

So hatte übrigens Schiller in seiner Johanna von Orleans das Heiligenbild der Maria gegenüber einer heidnischen Druideneiche platziert. Johanna ist mit beiden im Bunde, was allerdings keine besonders friedlichen Folgen hat, wie man weiß. Auch das verstehe ich unter Aufklärung über Religion. Sie eignet sich nach Jean Paul nicht für jegliche Spielart der Identitätspolitik, also der Abgrenzung gegenüber anderen; wohl für die Differenzpolitik einer Vielfalt der Erscheinungsformen des Religiösen. Hiermit befindet Jean Paul sich in sachlicher Nähe zu Schleiermachers Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799.19 VIII. Religion und Weltgeschichte Nun könnte man einwenden, dass eine Religion der Innerlichkeit zwar eine schöne Sache sei, die Weltgeschichte aber ein Weltgericht, bei dem die einzelne geistige Individualität leicht unter die Räder kommt. Ich habe schon dargelegt, wie wenig Jean Paul einseitig als ein Dichter und Denker der Innerlichkeit zu verstehen ist. Auch sind in seinem Geschichtsbild und in der Politik Religion und Gott gegenwärtig. Aber wie? Die Dämmerungen für ––––––– 19

Ob Jean Paul diese Schrift gekannt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit behaupten. Jean Paul exzerpiert aus verschiedenen Schriften Schleiermachers (Grundlinien einer Kritik der Sittenlehre, Plato, Weihnachtsfeier). In der Liste der Libri Legendi finden sich die Einträge »Zweite Auflage von Schleiermacher über Religion« und »Schleiermachers Reden«. Vgl. Jean Paul, Jean Pauls Sämtliche Werke, hrsg. von Götz Müller unter Mitarbeit von Janina Knab. II.Abtl., Bd.6: Dichtungen, Merkblätter, Studienhefte, Schriften zur Biographie, Libri legendi. Weimar 1996. Für den Hinweis danke ich Sabine Straub von der Arbeitsstelle Jean-PaulEdition in Bayreuth.

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Deutschland von 1809 geben hierüber zusammenhängend Auskunft. Der Blick in die Vergangenheit ist einer – wie nachmals Walter Benjamins durch den Angelus Novus von Paul Klee vermittelter – der Katastrophe, die »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft«. Jean Paul schreibt: Allerdings blickt die Vergangenheit uns so grausend an wie ein aufgedeckter Meeresboden, welcher voll liegt von Gerippen, Untieren, Kanonen, modernden Kostbarkeiten und verwitternden Götterstatuen. [...] Hoffe nur kein Herz auf Nachhülfe oder Rettung auf seiner Bahn zu irgendeinem reinen Ziel! (I/5,921)

Wo bleibt da Gott? Jean Pauls Theodizee besteht darin, dass er jegliche Theodizee als ein für den Menschen erkennbaren Plan Gottes verwirft. »Himmel, wollt ihr denn ein erklärliches All für Eure Kleinköpfe? Je erhabener die Welt, desto unergründlicher [...] Keine Welt wäre erbärmlicher, als die ich begriffe.« (W 33, 292) Es wäre vermessen, wollte ich Jean Pauls Geschichtsbild hier in wenigen Worten darlegen. Es dürfte auch schwer fallen, ein einheitliches Bild aus seinen Schriften zu extrahieren. Er ist darin ganz Aufklärer, als er die empirische Kontingenz des Weltgeschehens konstatiert: Glück und Unglück wechseln ebenso wie Sittlichkeit und Unsittlichkeit. Der Zufall regiert, daher sind Weissagungen nicht möglich. Es ist ein »Weltgang nach frei-geistigen Gesetzen« (I/5,925); zwar ist der einzelne Mensch frei, – »zur schwärzesten und zur lichtesten Tat« –, hingegen »ist die Masse doch nur eine beseelte schwere Körperschaft«, die allen Stößen eines Mechanismus gehorcht, eines Mechanismus, der in seinen Gesetzen allerdings nicht klar erkannt werden kann. So setzt Jean Paul hinter die Großereignisse und Großfiguren der Weltgeschichte nichts als ein Fragezeichen. Wer will sagen, wann ein Volk blüht oder welkt? Er setzt fünfzehn Fragezeichen hinter die Römer, die Dichter der Provence, Karl den Großen, Heinrich IV., Ludwig XIV., die Revolution, Napoleon, die Hanse, die Ritter u.a. (vgl. I/5,926). Wir können die Weltgeschichte nicht in ihrem Gesamtverlauf beurteilen. Gott lässt sich nicht in die Karten schauen. Daher kann es keine politische Theologie und keine politische Kirche geben: Die Religion ist keine Kirchenparade des Staats, sondern sie ist das Herz selber und soll also, angehörig der Unsterblichkeit, höchstens gegen das Irdische siegen, nicht für dasselbe; der Himmel kann nicht der Lakai der Erde werden [...]. (I/5,1027)

Eine klarere Absage an jegliche religiös-theologische Rechtfertigung menschlichen (politischen) Handelns kann es nicht geben. Kein Mensch, keine Menschengruppe kann sich in ihrem Handeln auf Gott berufen. Aber jeder kann demütig Gott anbeten. »Dem Menschen geziemts, bei dem demütigsten Herzen

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Hans-Georg Pott

gleichwohl ein gläubig-offnes Auge für das Außerweltliche zu bewahren [...]« (I/5,935). Er soll den kontingenten Ereignissen nachsinnen, ihren Geist, oder modern gesprochen: ihren Sinn zu erkunden versuchen. Damit bekundet er aber ein Verständnis von Religion, das – folgt man Émile Durkheim – das Urverständnis von Religion überhaupt ist und wie es im Begriff des ›Manna‹ oder ›Mana‹ erfasst wird. Es war ja Durkheims Gedanke in Les formes élémentaires de la vie religieuse, dass Religion nicht auf einem Trug beruhen könne, dessen Illusionsbildung man längst durchschaut hätte, sondern dass Religion eine eigenständige und für voraufklärerische Zeiten einzige Realität erschließe. Erst mit der Aufklärung, allerdings schon in der ›Aufklärung‹ der griechischen Antike, entsteht die Möglichkeit, die Welt in Gestalt verschiedener Weltbilder zu erfassen. Mit Marcel Mauss findet Durkheim diese Realität bei den Urvölkern im totemistischen Glauben als eine erfahrene und erfahrbare Realität in einer unpersönlichen Energie oder Kraft, zu deren Bezeichnung die damalige Ethnologie sich auf den Begriff ›Mana‹ geeinigt hatte. Durkheim schreibt: Die religiösen Kräfte sind wirklich, wie »unvollkommen auch die Symbole sind, mit deren Hilfe sie gedacht« werden.20 Die religiösen Symbole sind ein »materieller Ausdruck« eines Totemgottes und einer spezifischen Gesellschaft, eines Klans. »Wenn es also sowohl das Symbol des Totem wie der Gesellschaft ist, bilden dann nicht Gott und die Gesellschaft eins?«21 So fragt Durkheim. Der Gott des Klans ist also der Klan selbst – und zwar, insofern er eine höhere Macht verkörpert als die bloße Summe der Kräfte jedes einzelnen Klanmitglieds. Die ausführliche genetische Herleitung bei Durkheim muss ich hier auslassen. Gott ist, in dieser Sicht, also gleichsam die Gesellschaft der Gesellschaft, eben nicht als bloße Summe seiner Teile. Christlich wird diese höhere Macht als ›Heiliger Geist‹ oder als die ›Liebe‹ symbolisiert; aufgeklärt-philosophisch könnte man an den Geistbegriff Hegels denken. Was aber, wenn das Band des Sozialen zerreißt und die Gesellschaft in atomisierte Individuen zerfällt, wie es im Zeitalter der Aufklärung für viele der Fall war? Dann verfällt auch der Glaube an Gott und die Religion.22 Jean Paul erkennt deutlich, dass dieses ›Mana‹ als Energie des Sozialen im Zeitalter der Aufklärung und Säkularisierung im Schwinden begriffen ist, ––––––– 20

21 22

Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1981, S.282. Ebd., S.284. Die bedeutende Arbeit von Andrea Ring, Jenseits von Kuhschnappel. Individualität und Religion in Jean Pauls Siebenkäs. Eine systemtheoretische Analyse. Würzburg 2005, ist mir erst nach Abschluss der hier vorgelegten Überlegungen bekannt geworden, wozu sie einen wichtigen Beitrag liefert. Ich werde darauf an anderem Ort zurückkommen müssen.

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was ja auch mit einem Prozess der Individualisierung einhergeht. Wenn auch nicht die »elegante Welt«, der Adel, die Gelehrten und Priester an Gott glauben (vgl. I/5,1026), so doch das Volk und die Frauen »als die wahren Stillen im Lande« (I/5,1032). Aber sie alle verlieren und sinken. In Über die jetzige Sonnenwende der Religion heißt es: »Misslich ist allerdings die Zeit und hellkalt für die Religion« (I/5,1033). Daher bleibt für die Religion nur die reine Liebe eines jeden einzelnen Herzens. Das ›Mana‹ hat sich gewendet, geradezu umgekehrt, eine Re-volution hat stattgefunden: es wirkt nun a-sozial: achte vorzüglich auf das, was, ohne deine Schuld und Würdigkeit wiederkommend, wie ein Geist erscheint und geht, was plötzlich in der Nacht herunterfällt als ein Manna, das entweder ernährt, oder sanft ausheilt. Ist dir aber eine solche Sicherheit darüber in deinem Allerheiligsten gegeben worden, so vertraue und schweige [...]. (I/5,936)

Damit ist das Grundverständnis von Glauben in Zeiten der Aufklärung und der Säkularisierung gegeben: Vertrauen und Schweigen – eine Haltung, die dann aber doch wieder hinterrücks as-soziativ (gemeinschaftsbildend) wirkt, denn Vertrauen ist die Grundkategorie des Sozialen – »vertraue und schweige«.

RALF SIMON

JEAN PAULS IDYLLENTIERE ODER HERMENEUTIK DER WELT-ALS-IDYLLE

Der Held von Jean Pauls letztem Roman Der Komet heißt Nikolaus. Er hat infolge einer Hautkrankheit eine Art von Heiligenschein, eine an der Stirn bei starker Erregung phosphoreszierend leuchtende Hautpartie. Gerne erzählt er, noch ein Kind, seinen Kameraden die Geschichten vom heiligen Nikolaus, wobei, im hermeneutischen Furor der mit erzählerischer Lizenz abgewandelten Heiligenlegenden begriffen, mitunter sein Heiligenschein zu leuchten beginnt. Dieser seltsame Nikolaus, zu dem der Erzähler resignierend bemerkt, er könne den Unterschied zwischen Sein und Schein, Heiligkeit und Komik, nicht ziehen,1 kniet in der ersten Szene des Romans, in der er als kleiner Knabe auftritt, neben einem großen Pudel, dem er die ungeheuern Ohren, solange solcher frißt, wie zwei Schleppen über der warmen Schwarz-Suppen-Schüssel in die Höhe hält, damit sie sich nicht eintauchen und beschmutzen oder verbrennen. Feurig und ernst sieht er mit seinen schwarzen Augen und mit der großen welschen Nase darein, und die langen blonden Haare fallen ihm über die Backen, und das sonst zartweiße Gesicht ist bis an die Schläfe rotangelaufen. Er war nämlich mit seiner Seele in den Pudel hineingefahren und stellte sich vor, wie es ihm selber täte, wenn seine Ohren in die Suppe hingen. (I/6,585)

Neben dem Pudel kniet er, nicht ihm gegenüber. Er blickt in dieselbe Richtung wie der Hund, quasi selbst als Hund mit großer Nase und langen blonden Haaren anstelle ungeheurer Hundeohren. Und der Blick seiner schwarzen Augen geht, wie der Text, präzis wie immer bei Jean Paul, sagt: »darein«, nämlich entweder in die Augen des Pudels, dessen Augen der Suppe zugewandt sind oder, wahrscheinlicher, in die Schwarz-Suppen-Schüssel. Also blicken zweimal zwei Augen – die des Hundes und die des heiligen Nikolaus – in die schwarze Suppe, die selbst, solange sie nicht vertilgt ist, als ein schwarzes Auge zurückblickt. Weil alles schwarz ist und der Schatten des Hundes und seines Doubles über die Schüssel fällt, blickt freilich in dieser Szene der Reziprozität des Blickens niemand so zurück, daß er etwas sehen ––––––– 1

Vgl. I/6,594, 595, 597.

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Ralf Simon

könnte. Schwarzes Blicken und schwarzes Angeblicktwerden bleiben gegeneinander blind. Diese Blindheit ist die Bedingung für das, was bei Jean Paul eine Idylle ist. Weil Nikolaus sich nicht sieht, kann seine Seele in den Pudel hineinfahren, so daß dieser als Stellvertreter des Kindes die wohl Nikolaus zugedachte Suppe schleckt. Ausgeschaltete Selbstreferenz ermöglicht Fremdreferenz, aber diese ist so stark, daß der Hund, indem er die Suppe aufnimmt, auch den Nikolaus satt macht. Nichts ist seliger denn Geben. Das Schulmeisterlein Wutz wird in einer anderen Szene, in der die schwarze Suppe durch das Schwarz der Nacht ersetzt ist, die Fensterläden schließen (I/1,424.), weil es Angst hat, sich selbst, wie es in der Stube sitzt, durch die nach innen spiegelnden Fenster nach außen geworfen zu sehen. Wutz möchte nicht auf sich zurückgeworfen sein, wenn er in die Welt hinausgeworfen wäre.2 So werden die Fensterläden geschlossen, damit die Monade tatsächlich so fensterlos ist, wie von ihr behauptet wird. Das im Gehäuse sich einnistende Idyllentier kann wieder so tun, als gäbe es keine Konstellation, in der es sich mit sich selbst so auseinander zu setzen hätte, daß der Gedanke der Selbstreflexion unausweichlich würde. Die permanente Sorge um sich selbst, die das einzige Tun des Idyllentiers ist, bleibt unterhalb der Schwelle der Selbsterkenntnis; sie ist reine Praxis. Handelt es sich um die Praxis des Tiers? Wutz jedenfalls wird als Tier vorgestellt. Schon in der Kindheit war er ein wenig kindisch. Denn es gibt zweierlei Kinderspiele, kindische und ernsthafte – die ernsthaften sind Nachahmungen der Erwachsenen, das Kaufmann-, Soldaten-, Handwerker-Spielen – die kindischen sind Nachäffungen der Tiere. Wutz war beim Spielen nie etwas anders als ein Hase, eine Turteltaube oder das Junge derselben, ein Bär, ein Pferd oder gar der Wagen daran. Glaubt mir! ein Seraph findet auch in unsern Kollegien und Hörsälen keine Geschäfte, sondern nur Spiele und, wenn ers hoch treibt, jene zweierlei Spiele. (I/1,422f.)

Wenig später wird Wutz als Schwalbe beschrieben, welche sich für ihr Junges eine Kot-Rotunda, also ein Nest baut (I/1,424). Bezeichnenderweise wird die Schwalbe nicht als freier Vogel, sondern als Baumeisterin einer Höhle vorstellig. Der Erzähler begreift Wutz schließlich als Schaltier, dessen zwei Muschelschalen aneinander gelötet seien und ihn einfassen (I/1,435). Seine Existenz als Alumnus in der Erziehanstalt wird in die Metapher des Verpuppens (I/1,428) ––––––– 2

Zur Analyse dieser Szene vgl. Kurt Wölfel, »Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt«. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie, in: K.W., Jean PaulStudien. Frankfurt a.M. 1989, S.262f.

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gebracht und die Beendigung seiner Schulzeit so beschrieben: »aus der zersprengten schwarzen Alumnus-Puppe brach ein bunter Schmetterling von Kantor ins Freie hinaus« (I/1,435). Zur Welt verhält er sich mitunter tierisch, wenn er in Vorbereitung auf seinen seligsten Tag, den der Hochzeit, bestrebt ist, »Minute für Minute aufzuessen« (I/1,449) oder er sich an dem Gedanken, ein Hausvater zu sein, satt käuen möchte (I/1,441). Sogar als Schnake oder als Heuschrecke wird er vorstellig, wenn der Text ihn so beschreibt: ein schnakisches, lächelndes, trippelndes, händereibendes Ding (I/1,443). Sein Haar ist wie ein Eichhörnchenschwanz empor gebunden (I/1,448), und schließlich ist daran zu erinnern, daß der Name Wutz im oberfränkischen Dialekt »Schwein« bedeutet. Die Liste der Tiervergleiche für die Jean Paulschen Idylliker ist lang. In der Vorrede zum Quintus Fixlein wird die idyllische Glücksmöglichkeit so beschrieben: Man sieht, ich dringe darauf, daß der Mensch ein Schneidervogel werde, der nicht zwischen den schlagenden Ästen des brausenden, von Stürmen hin- und hergebognen unermeßlichen Lebensbaumes, sondern auf eines seiner Blätter sich ein Nest aufnähet und sich darin warm macht. (I/4,12)

Der Vater des anfangs in den Pudel gefahrenen heiligen Nikolaus, Henoch Elias Marggraf, wird als Affe, Fledermaus, fleißige Biene (I/6,575), Schmetterling fressender Frosch (I/6,576) und als Bombardierkäfer (I/6,577) bezeichnet. Nikolaus selbst, der nach dem Pudel auch gerne, sich verwandelnd, in Puppen, Schauspieler, Schriftsteller und Heilige einfährt, wünscht sich schließlich, eine eingesperrte Wachtel mit guter Aussicht zu sein: so hätt’ er sich gern in einen Wachtelkönig verwandelt, um in einem solchen Bauer, der gerade recht zweckmäßig aufgehangen war, das häusliche Glück der Einschränkung mit der freiesten Aussicht in die Apotheke und in die Welt zu verknüpfen. (I/6,602)

Diese Textstelle verknüpft die tierische Mimikry mit einem kaum kaschierten Zitat aus Jean Pauls ästhetischer Hauptschrift Vorschule der Ästhetik. Was hier das häusliche Glück der Einschränkung genannt wird, dient dort im § 73 der Definition der Idylle: »Diese ist nämlich epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung« (I/5,258). Die Termini Beschränkung und Einschränkung verweisen auf die Texte, die im 18. Jahrhundert von den Tieren handeln. Meine These lautet, daß Jean Paul sein idyllisches Personal in einem sehr präzisen Sinne als Tiere denkt. Um auf diese These hin zu führen, ist ein Exkurs in die Epistemologie der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts notwendig. Leibniz hatte in

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Ralf Simon

seinen Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen (1684)3 das Feld der Erkenntnisse und Urteile einer die Terminologie des Descartes korrigierenden Systematisierung unterzogen. Eine Erkenntnis ist entweder klar (clara) oder dunkel (obscura); eine klare Erkenntnis ist entweder verworren (confusa) oder deutlich (distincta); eine klare und deutliche Erkenntnis ist entweder adäquat oder inadäquat, und diese letzten Möglichkeiten werden jeweils entweder intuitiv oder symbolisch dargestellt. intuitiv verworren confusa Erkenntnis cogito

inadäquat symbolisch

klar clara

dunkel obscura

deutlich distincta

intuitiv adäquat symbolisch

Aus dieser über binäre Disjunktionen generierten Terminologiematrix entspringt die Möglichkeit einer klaren und verworrenen Erkenntnis: cognitio clara et confusa. Während diejenige Philosophie, die sich mit den oberen Erkenntniskräften beschäftigt, klare und deutliche Erkenntnisse braucht, wird zugleich auch ein anderes Feld der Philosophie, nämlich das der klaren und verworrenen Erkenntnis entdeckt. In der Theoriegeschichte der deutschen, Leibniz rezipierenden und verarbeitenden Schulphilosophie wird, vermittelt über Zwischenstationen, aus der Möglichkeit einer cognitio clara et confusa schließlich das Projekt einer philosophischen Theorie der Sinnlichkeit entwickelt.4 Erkenntnisleitend ist dabei die Unterstellung, daß die unteren Vermögen, also die fünf Sinne, das Gedächtnis und die reproduktive Einbildungskraft zwar dem Verstand analog funktionieren, jedoch nicht zur Deutlichkeit der Verstandesbegriffe finden. Der Begriff des analogon rationis meint die Gesamtheit dieser unteren Vermögen, die nun, als Gegenstand einer gnoseologia inferior,5 nicht einfach ––––––– 3 4

5

G.W. Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt a.M. 1965, bes. S.33–37. Vgl. dazu bes.: Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990. Die Begriffe gnoseologia inferior und analogon rationis führen in die inneren Definitionsvorkehrungen einer Philosophie, die sich mit den Mitteln des Rationalismus den unteren Erkenntnisvermögen und den ihnen korrespondierenden Gegenständen annimmt. In der Sectio II der Aesthetica (Aesthetica naturalis) mustert Baumgarten diejenigen unteren Vermögen (§ 30: facultates cognoscitivae inferiores) durch, die zur Natur eines erfolgreichen Ästhetikers (§§ 28, 29) gehören und also zum Gegenstand der wissenschaftlichen Behandlung durch die Ästhetik werden sollen. Er zählt dabei auf: Die Fähigkeit, scharf zu empfinden (§ 30),

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mehr durch die oberen Vermögen unterdrückt werden, sondern ein eigenes und ihre Legitimität bekundendes Theoriefeld markieren. Als Alexander Gottlieb Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhunderts die philosophische Disziplin der Ästhetik erfand, leitete er zunächst den Begriff der neuen Disziplin aus dem griechischen Begriff aisthesis her, weil er in der Tat vorderhand eine Theorie der Sinnlichkeit entwickeln wollte. Daß aus diesem Unterfangen schließlich doch nur eine Theorie derjenigen Sinnlichkeit geworden ist, die in der vergeistigten Form der Kunst vorstellig wird, hat komplexe Gründe, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden müssen.6 Die Ästhetik ist aber nicht die einzige Wissenschaft, die im 18. Jahrhundert an dem Projekt arbeitet, eine valide Theorie der unteren Vermögen zu entwickeln. Ein anderes Feld ist die Tierpsychologie oder besser: die Ethologie oder Verhaltenslehre der Tiere, deren klassisches Gründungswerk die 1760 erschienenen Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe von Hermann Samuel Reimarus ist.7 Es ist evident, daß die Tiere in dem, was man Instinkt nennt, über eine Art von analogon rationis verfügen, weil sie neben ihrer sinnlichen Ausstattung auch Gedächtnis und sogar in einem gewissen Grade, nämlich in der Kunstfertigkeit ihrer Triebe, eine Einbildungskraft haben. Reimarus entwickelt dieses Theorem bezeichnenderweise aus dem Vergleich des kleinen Kindes mit dem Tier: Das Kind thut also eben dasselbe, als ob es sich erinnerte; ob es sich gleich in der That nicht erinnert, und hernach nimmer zu erinnern weis, wie es zu der Gewohnheit gekommen ist. Demnach hat die verworrene Vorstellung des Vergangenen bey den Thieren nur eine Analogie mit unserer Erinnerung und der Erinnerungskraft,

–––––––

6

7

Phantasie (§ 31), Fähigkeit der Erdichtung (§ 31), Scharfsinn (§ 32), Gedächtnis (§ 33), dichterische Anlage (§ 34), Veranlagung zum guten Geschmack (§ 35), Fähigkeit, Zukünftiges vorauszusehen (§ 37), Fähigkeit, Vorstellungen auszudrücken (§ 37). – Der Begriff des analo-gon rationis wird im § 640 der Baumgartenschen Metaphysica als Zusammenfassung der unteren Vermögen definiert: Vermögen, die Übereinstimmung der Dinge zu erkennen; Vermögen, die Verschiedenheit der Dinge zu erkennen; sinnliches Gedächtnis; Vermögen zu dichten; Berurteilungsvermögen; Erwartung ähnlicher Fälle; sinnliches Bezeichnungsvermögen. Dieses Set von Vermögen impliziert eine sinnliche Erkenntnis, die man zur Grenzwertbestimmung von Tier und Mensch so benutzen kann, daß zugleich eine Konvergenz und eine spezifische Differenz möglich ist. – Vgl. die Stellen bei Alexander Gottlieb Baumgarten in: Aesthetica. 2 Teile. Frankfurt/Oder 1750 und 1758 (Nachdruck: Hildesheim 1961) und Metaphysica, Halle 1739 (Nachdruck der Ausgabe Halle 7. Auflage 1779: Hildesheim 1963). Vgl. zu diesem Problem die Ausführungen in: Ralf Simon, Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S.230–233. Im Folgenden zitiert nach dem von Jürgen von Kempski besorgten Nachdruck der zweiten Auflage von 1762 (Hamburg), Göttingen 1982.

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Ralf Simon die wir Gedächtniß nennen. Will man aber alle confuse Erinnerung der vorigen Vorstellungen, ein Gedächtniß heißen, und die Erinnerung davon absondern: so will ich über solchen Gebrauch des Wortes mit niemanden streiten [...].8

Die epistemologischen Stichworte sind in diesem Textabschnitt präzis gesetzt: die cognitio clara et confusa wird hier confuse und verworrene Vorstellung genannt, der Terminus Analogie ist die Übersetzung des analogon rationis und die Unterscheidung, den Tieren ein Gedächtnis zuzusprechen und den Menschen Erinnerung, hebt auf die andere, im 18. Jh. gängige Unterscheidung ab, Einbildungskraft in reproduktive und produktive zu differenzieren. Tiere und kleine Kinder kennen also eine cognitio clara et confusa. Sie haben ein dunkles Gedächtnis und eingeschränkte Kunstfertigkeiten, die freilich mit einer spezifisch darauf abgestimmten Einbildungskraft für diejenige Sphäre, für die die Kunstfertigkeiten zuständig sind, zu einer hoch entwickelten Praxis führen. Reimarus nimmt hier Theoriebestände auf, die schon Leibniz im § 26 der Monadologie und im § 5 seiner Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade formuliert hat. Das Gedächtnis liefert den Seelen eine Art von Schlussfolgerung, die zwar die Vernunft nachahmt, aber von ihr unterschieden werden muss. So sehen wir, dass die Tiere, wenn sie irgend etwas perzipieren, das sie beeindruckt und wovon sie früher schon eine ähnliche Perzeption gehabt haben, kraft ihres Gedächtnisses dasjenige erwarten, was früher mit dieser Perzeption verbunden war [...].9

Es sind also zwei prominente und gleichwohl doch zumindest disziplinär recht weit voneinander entfernte Bereiche, in denen im 18. Jahrhundert die cognitio clara et confusa, wie sie von Leibniz als epistemologische Möglichkeit definiert worden ist, einer Theoretisierung unterzogen wird: die Ästhetik und die Ethologie. Es war Johann Gottfried Herder, der für Jean Paul wohl wichtigste Theoretiker, der diese beiden Gebiete, den ästhetischen Diskurs und die Tiere, wieder auf diejenige Wurzel bezogen hat, aus der sie entsprungen sind. »Wir sind gleichsam Tierartige Geister«10 – so beginnt ein für Herders Theorieaufbau zentraler Passus aus seinem Vierten Kritischen Wäldchen. Er entwickelt hier unter Aufnahme der Leibnizschen Psychologie eine Theorie der Genese der Erkenntniskräfte. Sein Argument ist, daß die inneren Ideen und Urteile ––––––– 8 9

10

Reimarus, Kunsttriebe Bd.1, S.30, § 18. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt von A. Buchenau und herausgegeben von E. Cassirer, Hamburg 1966, 2 Bde. Darin: Die Monadologie; das Zitat stammt aus dem § 26. Herder, SW 2,273. Herderzitate erfolgen nach der Ausgabe: Werke, hrsg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Ulrich Gaier u.a., Frankfurt a.M. 1985ff., 10 Bde. (Sigle: SW).

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nichts anderes sind, als habitualisierte Gewohnheiten, welche aus dem Mischungsverhältnis der sensitiven Synapsen resultieren. Schon diese Mischungsverhältnisse, also die Überblendung des einen Sinns des sensitiven Apparates mit einem anderen Sinn, nennt Herder Urteile. Freilich verdunkelt sich diese Form der Entstehung,11 so daß dasjenige, was eigentlich ein Konstruktivismus des sensitiven Apparates ist, für den Menschen als unmittelbare Empfindung und als naturwüchsiges Gefühl erscheint. Im dunklen Grund der Seele (fundus animae) sorgt ein Konstruktivismus der sensitiven Urteile dafür, daß z.B. eine haptische Sinneswahrnehmung eine visuelle interpretiert und integriert. Was wir später Urteile nennen, sind nur die zur Deutlichkeit (begriffliche cognitio clara et distincta) gewordenen Gewohnheiten (habitualisierte cognitio clara et confusa), deren eigene Genese im Dunkel verbleibt: »Die Summe aller dieser Empfindungen wird die Basis aller objektiven Gewißheit«.12 Würde man dieses Dunkel lichten können, so würde man auf eine unendlich feine Struktur13 von Urteilshandlungen des sinnlichen Apparates stoßen. Die Ideen bleiben aber systematisch im sensitiven Apparat verborgen: »[...] weil sie aber alle der Form ihrer Entwicklung nach dunkel sind: so bleiben sie, als Empfindungen, auf dem Grunde unsrer Seele liegen, und falten sich so nahe an unser Ich, daß wir sie für angeborne Gefühle halten«.14 Diese Textstelle hat eine poetologisch brisante Implikation. Denn Herder geht hier weit über alles hinaus, was die Aufklärungspoetik über den Begriff der Mimesis zu sagen hat. Er geht in den Grund des mimetischen Vermögens, in die Mimikry. Wenn der komische Nikolaus sich so nahe an den Pudel schmiegt, daß er dessen Perspektive einnimmt, dann faltet sich15 die Verwandlungserfahrung so nahe an seine Seele, daß er diese Mimikry – also den point de vue eines Pudels auf die Welt – für ein angeborenes Gefühl halten kann. Das Identischwerdenwollen mit dem Tier ist eine reale Mimikryerfahrung, die der Idylliker konstitutiv in seine Existenz einschreibt. In der Urszene der Verwandlung in ein Tier wird dem Idylliker also mehr zugeschrieben, ––––––– 11 12 13

14 15

Herder, SW 2,274. Herder, SW 2,275. Die Leibnizsche Infinitesimalität der petits perceptions wird schon bei Leibniz selbst, sensualistischer aber bei Herder, in die Psychologie übersetzt. Ontogenetisch bleibt damit der Seele ein frühkindlich gewesener Tierzustand als fundus animae erhalten. Herder, SW 2,276. Auch hier sind Terminologien von Leibniz im Spiel. Die Perspektive des Nikolaus ist ein point de vue der Monade auf die Welt, und hier im Besonderen: eine Perspektive, in der die eine Monade an den Ort einer anderen zu kommen versucht. Nikolaus faltet sich nahe an den Pudel heran, so wie in dem Herderzitat sich die Ideen an die Seele so heranfalten, daß sie sie für ihre eigenen ansieht. – Zum Terminus der Falte vgl.: Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, übers. von Ulrich Johannes Schneider. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2000.

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als nur eine kindliche Spielform. Das Tiersein faltet sich an die Seele, so daß der Idylliker diesen Charakter, die Welt aus der Perspektive seiner getätigten Tierverwandlungen zu sehen, als sein eigenes Wesen, die Basis seiner Seele erfährt. Nach Herder bleibt diese Basis dunkel: der fundus animae ist konstitutiv nicht in einer durchgängigen cognitio clara et distincta darstellbar. Auf der Grundlage der hier geschilderten anthropologischen Theoriebildung zeigt sich der Jean Paulsche Idylliker als eine mögliche Form der Menschwerdung. Ist man in der Kindheit so kindisch wie ein Wutz (ein Schwein), dann formiert sich ein anthropogener Verhaltenskreis nach dem Modell der tierischen Kunsttriebe. Was der im Sinne Herders genealogisch blickende Psychologe als einen Konstruktivismus der körperbildenden Seelentätigkeit16 zu entziffern vermag, das erscheint dem Idylliker als naturwüchsiges Weltverhältnis. Eine Hermeneutik der Welt-als-Idylle wird epistemologisch so platziert, daß die Lage oder der point de vue, aus dem heraus die Welt angeschaut wird, sie zu dem macht, als was sie angeschaut wird, weil sich die Aktivität des Anschauens im Angeschauten vergißt: »es [das Urteil] wird als Empfindung aufbewahret«.17 Der Idylliker hat eine Kunstfertigkeit, die aus der präzisen Analogie zu den Kunsttrieben der Tiere gebildet ist. Die Kunst, stets fröhlich zu sein (ars semper gaudendi), reduziert das Idyllentier auf seinen Nahbereich, den er sich mit derjenigen Virtuosität einzurichten versteht, wie die Tiere mit ihren spezialisierten Trieben ihre sphaera sensationis bestellen. Dieser Terminus der sphaera sensationis findet sich in Baumgartens Metaphysica im § 53718 und meint genau denjenigen Empfindungskreis,19 für den die hohe Virtuosität der spezialisierten und dem Menschen überlegenen Triebe und Sinnesorgane der Tiere zuständig ist. Das Jean Paulsche Idyllentier richtet sich in seiner ––––––– 16

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Vgl. Herders sehr verborgene Anspielung auf die anima Stahlii im Vierten Kritischen Wäldchen: »Als Mensch, nach ihrer Masse von innern Kräften, im Kreise ihres Daseins, hat sie sich eine Anzahl Organe gebildet, um das, was um sie ist, zu empfinden, und gleichsam zum Genusse ihrer selbst, in sich zu ziehen. Schon die Anzahl dieser Organe, und der große Reichtum ihrer Zuströmungen, zeigen gleichsam die große Masse des Sinnlichen in der Menschlichen Seele« (Herder, SW 2,273). Das Theorem der anima Stahlii, benannt nach dem Arzt Georg Ernst Stahl, tritt an, um das commercium-Problem, also die Frage nach der Vermittlung von Körper und Seele zu lösen. Indem die Seele als körperbildende Kraft verstanden wird, schwindet die Dichotomie von Körper und Seele, indem der Körper in seiner vollständigen Erscheinung und Materialität zum Ausdruck der Seele wird und ihr nicht mehr gegenüber steht. Herder, SW 2,274. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 1739 (Nachdruck der Ausgabe Halle 7. Aufl. 1779: Hildesheim 1963). Der Terminus Empfindungskreis taucht dann in Reimarus Buch über die Kunsttriebe der Tiere auf, offensichtlich als Übersetzung des Begriffes der sphaera sensationis.

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sphaera sensationis so ein, wie ein Tier in seiner naturgegebenen beschränkten Umwelt. In Herders Sprachursprungsschrift taucht der Begriff20 und der Sachverhalt genau an der Stelle auf, an der die Differenz von Mensch und Tier zur Formulierung des zentralen Sprachursprungtheorems führt. Tiere haben Instinkt und Kunstfertigkeit, aber sie sind auf den jeweiligen »Bezirk der Vorstellungen«21 festgelegt, während der freistehende Mensch sich »eine Sphäre der Bespiegelung suchen«22 kann. Die Beschränkung also auf eine sinnliche Sphäre kommt den Tieren zu, das reflektierende und besonnene Verhalten zu vielen Sphären dem Menschen. Wenn Jean Paul nun in seiner Vorschule der Ästhetik die Idylle als die epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung definiert (I/5,258), dann ist mit dem Wort Beschränkung exakt ein Terminus aus der Theorie der gnoseologia inferior aufgenommen. Jean Paul definiert nämlich, so läßt sich nun vor dem Hintergrund der entwickelten Terminologie reformulieren: ein Idylliker ist ein Mensch, der sich wie ein Tier auf eine beschränkte Sphäre (Herder), auf einen Empfindungskreis (Reimarus) oder auf eine sphaera sensationis (Baumgarten) reduziert, dort aber mit der ars semper gaudendi eine hohe Kunstfertigkeit entwickelt, die aus der starken Analogie zu den Kunsttrieben der Tiere zu verstehen ist. Weil der Idylliker ein solcher Mensch ist, in dessen Anthropogenese sich die Tierverwandlungen so nahe an seine Seele gefaltet haben, daß sie als ihre Substanz in den fundus animae eingegangen sind, ist er als Mensch ein Tier, und zwar in dem präzisen Sinne, den Herders erster Satz aus der Sprachursprungsschrift formuliert: »Schon als Tier, hat der Mensch Sprache.«23 Nämlich: Als Tier richtet sich der Idylliker seine menschlichen Semiosen als Kunsttriebe des Glücklichseins ein. Jean Pauls Idylliker sind Idyllentiere. * Daß Nikolaus mit seiner Seele in den Pudel hineinfährt, ist nicht nur theologisch eine intrikate Formulierung – denn man denkt an andere hereinfahrende Akteure, den Teufel oder den heiligen Geist, und man denkt bei dem Pudel ––––––– 20

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In der Sprachursprungsschrift wird Reimarus in der gekürzten Textauswahl zitiert, die in den Briefen, die neueste Literatur betreffend erschien, vgl. Herder, SW 1,712. Aus diesem Kontext entwickelt Herder den Begriff »die Sphäre der Tiere« (ebd.). Als aufmerksamer Leser Baumgartens wird er wissen, daß Reimarus den Begriff aus Baumgartens Metaphysica in sein Tier-Buch übernahm. Herder, SW 1,717. Ebd. Herder, SW 1,697.

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an denjenigen, von dessen Kern – ein Knalleffekt namens Mephisto – in Goethes Faust gesprochen wird. Diesseits solcher theologischer Konnotationen aber ist der Satz von der ins Tier hineinfahrenden Seele präzis gesprochene Ethologie wie auch ästhetische Theorie. Denn Jean Paul beschreibt mit der Existenzform des Idyllikers eine epistemologische Möglichkeit, welche aus der Überschneidung von Tierpsychologie und Kindpsychologie resultiert. Aber vor allem ist der Idylliker eine ästhetische Option, die erst sekundär durch den Rekurs auf die Tierpsychologie eine massive ontologische Gestalt annimmt. Zu den vielleicht überraschendsten Winkelzügen in diesem Überschneidungsbereich von Epistemologie, Poetik und Dichtung gehört, daß diese ganze beschriebene Konstellation des Idyllentiers eine hermeneutische Schlußfolgerung aus einer theologischen Problematik ist. Wie kommt Jean Paul von seiner Theologie der Verzweiflung zu derjenigen Rettung, die den Idylliker als Tier im Vollglück seiner Beschränkung platziert? * Jean Paul hat viele Szenen des Todes geschrieben, aber die ergreifendste und wohl auch bekannteste ist die Traumvision aus dem Siebenkäs mit dem Titel Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. Der Text geht von dem Aberglauben aus, daß sich die Toten um Mitternacht aufrichten und den Gottesdienst nachäffen (I/2,271). Es entwickelt sich ein Traumgeschehen, in welchem das nach der kopernikanischen Wende dezentrierte Weltall zum offenen Raum eines Gottesdienstes wird, in welchem die Toten ihren Priester Christus anrufen und ihn nach der Existenz Gottes befragen. Seine Antwort lautet: Er antwortete: »Es ist keiner.« Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!« (I/2,273)

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Es spricht sich nicht nur unter den Toten die schiere Verzweiflung angesichts eines sinnentleerten und zentrumslosen Weltalls, das als Maschine reiner Quantität vorstellig wird, aus. Selbst Christus gesteht seinen horror vacui, aber er macht dabei eine philosophisch nachdenkenswerte gedankliche Wendung: Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz! ...‹ Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. [...] Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.« (I/2,274)

Wenig später erwacht der Träumer aus seinem metaphysischen Vernichtungstraum und bekennt: »Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.« (I/2,275) Es ist ein interessanter Gedanke, den sich Christus und der fiktive Träumer im Roman teilen. Christus beneidet diejenigen, die noch leben und also noch nicht wissen, daß ihre Ansicht von einem mit Sinn erfüllten und durch einen gütigen Gott verwalten Kosmos falsch ist. Er wünscht sich sogar zurück in jenen Zustand, in dem er der metaphysisch notwendigen Täuschung unterliegt, durch die Perspektive des Lebenden an eine Ordnung glauben zu können und sogar zu müssen. Sein Wunsch nach Getäuschtwerden geht soweit, daß er noch seinen herben Tod für erträglicher hält, als den Zustand von Wahrheit, in dem er sich als Gestorbener befindet. Er beneidet die Sterblichen und ihre Illusionen und fordert sie auf, eben diese Illusionen aktiv zu betreiben: »Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete ihn an: sonst hast du ihn auf ewig verloren.« (I/2,275) Man muß sich klarmachen, daß der hier sprechende Christus diese Aufforderung in vollem Bewußtsein ihrer Falschheit erläßt, weil die Wahrheit schlichtweg unerträglich ist. Dieselbe Gedankenfigur kehrt wieder, als der Träumer aus seinem Albtraum erwacht. Er freut sich, Gott wieder anbeten zu können und die Tränen seiner Freude sind das Gebet. Ich möchte diese Gedankenfigur noch ein wenig herausarbeiten und in ihrer Radikalität markieren. In dieser Konstellation des radikalen Nihilismus ist Gott nichts anderes, als das kontrafaktisch gehaltene Gebet. Das Sein Gottes ist die Performanz des Gebetes, Gott wird dadurch erzeugt, daß er durch das Gebet in eine Existenz gerufen wird, von der diejenigen, die die Wahrheit kennen, wissen, daß es sie nicht gibt. Der Text gibt geradezu eine metaphysi-

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sche Produktionsanleitung. Gottes Anwesenheit ist an die Ununterbrochenheit seiner Herstellung gebunden. Das Gebet ist seine Daseinsweise.24 Christus und der Träumer wissen, daß nur in dem Wachzustand, den man Leben nennt, Sinn dadurch vorhanden ist, daß man ihn erzeugt. Derjenige Zustand, der nach den perspektivischen Anordnungen dieses Textexperiments der Wahrheit entspricht – also der Tod – kennt keinen Sinn und keinen Trost. Jean Paul entwickelt hier eine Theorie der unendlichen Literatur. Seine Überlebensanweisung ist so elementar wie simpel: Wir sind es selbst, die in der Perspektive, in der wir stecken, nämlich der Perspektive des Lebens, unseren Sinn durch die Permanenz der Sinnherstellung garantieren müssen. Jenseits dieser Perspektive könnte uns ein toter Christus eröffnen, daß es keinen Gott gibt. Man kann diese Konstellation als eine, wenn nicht gar die Grundkonstellation des Jean Paulschen Schreibens bezeichnen. Würde Jean Paul aufhören, Literatur zu erzeugen, so würde in dem radikalen Sinne, den dieser Traum definiert, überhaupt aller Sinn aufhören. Jean Paul liest, exzerpiert und schreibt, um ohne Unterbrechung dasjenige Sinnkontinuum herzustellen, das in diesem Text Gebet genannt wird: eine perspektivische Täuschung über die Wahrheit. Seine Aufforderung lautet also, der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen, sondern gegen sie einen kontrafaktischen Sinn zu erzeugen. Wenn die Dinge temporär nur dadurch erträglich sind, daß man in Ersetzung der Wahrheit und wider besseres Wissen betet oder schreibt, dann ist, solange man noch lebt, Beten oder Schreiben die einzige Option. Daß ein Autor der Stadtpfarrer des Universums25 ist – diese Formulierung bringt die beschriebene Konstellation zum Ausdruck. Texte schreiben und lesen, Erzählungen anfertigen, Sinn entwerfen: diese Tätigkeiten sind dem Leben nicht quasi sekundär aufgesetzt, sie erzeugen es erst in derjenigen Dimension, der man Humanität zusprechen kann. In der Literatur zu leben, ist nichts anderes als eine fortlaufende Theologie nach dem Ende der Theologie. ––––––– 24

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Ich benutze hier Formulierungen, die sich in dem Aufsatz finden: Thomas Wirtz, »›Ich komme bald‹, sagt die Apokalypsis und ich«. Vorläufiges über den Zusammenhang von Weltende und Autorschaft bei Jean Paul, in: JJPG 32/33 (1997/98), S.47–84, hier: S.68. »Mein Gevatter arbeitet unterdessen auch für die Welt. Seine Studierstube ist die Sakristei, und der Preßbengel ist die Kanzel, die er braucht, um die ganze Welt anzupredigen: denn ein Autor ist der Stadtpfarrer des Universums. Ein Mensch, der ein Buch macht, hängt sich schwerlich; daher sollten alle reiche Lords-Söhne für die Presse arbeiten: denn man hat doch, wenn man zu früh im Bette erwacht, einen Plan, ein Ziel und also eine Ursache vor sich, warum man daraus steigen soll. Am besten fähret dabei ein Autor, der mehr sammelt als erfindet – weil das letztere mit einem ängstlichen Feuer das Herz kalzinieret –; ich lobe den Antiquar, Heraldiker, Notenmacher, Sammler [...].« (Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, 1/4,165f.)

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Friedrich Nietzsche, von dem manche glauben, er habe den Nihilismus erfunden, wird ein knappes Jahrhundert später dafür die Formel benutzen, daß das Leben nur ästhetisch gerechtfertigt sei. Kontrafaktische Sinnproduktion ist es, welche dem Nullpunkt der Materie dadurch entkommt, daß sie Sinn aus Sinn entwickelt. In diesem Jean Paulschen Traum vom toten Christus ist nicht davon die Rede, daß der erwachende Träumer in seinem Glück auch in der Wahrheit wäre. Es ist davon die Rede, daß sein Glück dasjenige Gebet ist, welches verhindert, daß Gott, der hier der Garant des Sinns und der Ordnung ist, verloren geht – wobei der Traum weiß, daß Gott gar nicht vorhanden ist. Ihn trotzdem nicht zu verlieren, diese herkulische Aufgabe zu bewältigen tritt Jean Pauls Dichtung an. * Drei Wege, glücklicher zu werden, ihnen entsprechend drei Charakterentwürfe und drei Schulen des Romans26 kennt Jean Paul, um eine ästhetische Welt zu entwerfen, die ihr Sinngeschehen aus der Seelen-Mythologie27 entwickelt, welche sich aus diesen Charakter-Konstellationen ergeben. Das Idyllentier ist eine dieser drei Möglichkeiten, und seine Kunst besteht darin, »gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten« (I/4,10) – wie es zum zweiten Weg, glücklicher zu werden, an der entsprechenden Stelle in der Vorrede zu Quintus Fixlein heißt. Auf die theologischkosmologische Vernichtungsvision reagiert hier also eine Verkleinerung, die in der auf den Nahbereich bezogenen Reduktion eine Kunstfertigkeit entwickelt, welche eine anthropologische Lage ausbildet, die kategorial erst gar nicht in der Lage ist, überhaupt die Vernichtungsgedanken denken zu können. Das Vollglück ist damit eine Beschränkung, welche die kontrafaktische Sinnproduktion, die der zum Tod erwachte Christus sich vergebens wünscht, anthropologisch irreversibel einbaut. Wer sich in die Furche des Gartens einnistet, als ein Wutz (Hausschwein) im Dorfflecken Auental lebt, sich als Schwalbe in die Kot-Rotunda oder als Wachtel in den Vogelbauer wünscht, wer als Schaltier zwischen den Schalen verschwinden möchte, dem fehlt der Blick auf den nachkopernikanischen Kosmos. Wutze, Fixleins und kindische Nikolause haben gleichsam nur eine Extension, welche die Welt aus der Perspektive der Grashalme wahrnimmt. Sie funktionieren als Monaden, deren Perzeption clara et confusa ist und bleibt. ––––––– 26 27

Vgl. den § 72 in der Vorschule der Ästhetik: I/5,253–257. Vgl. diesen Begriff in der Vorschule der Ästhetik: I/5,221.

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Diese Aussage freilich impliziert eine sehr weitreichende Konsequenz. Denn wie sieht die Welt eines Menschen aus, der als Tier in der sinnlichen Sphäre seiner Beschränktheit agiert und als seinen Kunsttrieb die ars semper gaudendi zu der Virtuosität steigert, die sonst den Instinkten der Tiere vorbehalten ist? Die Mimesis einer solchen Weltkonstruktion erfordert nichts weniger, als die komplette Reformulierung der Kultur als Natur. Wenn Jean Paul unter solchen Prämissen eine Idylle schreibt, dann besteht seine Aufgabe darin, eine Hermeneutik der Welt-als-Idylle durchgängig zu formulieren, also im Sinne der Poetik des 18. Jahrhunderts eine mögliche Welt komplett zu konstruieren. Im Schulmeisterlein Wutz führt Jean Paul eine solche Konstruktion der Welt zum ersten Mal durch. Wutz wird dabei als eine komplexe monadische Einheit vorgestellt, deren ganze Tätigkeit darin besteht, Komplexität zu vernichten und diesen Vernichtungsprozeß als solchen zu vergessen. Sein Verhältnis zur Welt ist narzißtisch. Wenn er verliebt ist, so nicht in die zukünftige Ehefrau, sondern in sein Glück, verliebt zu sein (I/1,433). Wenn er sich freut, so nicht über Anlässe, sondern so, daß er vor lauter Lust die Zeit des Glücks selbst aufessen möchte (I/1,449): Selbstinkorporation und Selbstwahrnehmung als Lust des oralen Saugens28 treten in unmittelbarer körperlicher Selbstreferenz an die Stelle humaner Fremdreferenz. Systematisch werden externe Größen ausgeschlossen. Weil sich Wutz nur auf sich selbst bezieht, wird sogar die Funktion Mutter in Selbstbezüglichkeit umgeschrieben: seine literarische Produktion ist eine literarische Geburtsarbeit (I/1,427), wobei er Föten, also seine Schreiberzeugnisse, aufs Bücherbrett bettet (I/1,426). Überhaupt schreibt er sämtliche Bücher, von denen er durch den Messekatalog Kenntnis bekommt, nicht nur aus Gründen der Armut – er hat das Geld nicht, sie sich kaufen zu können – gleich selbst. Das Selberschreiben schützt ihn vorm Lesen, denn nichts würde seinen Narzißmus mehr gefährden, als wenn er einen anderen Geist tatsächlich wahrnehmen würde. Zur Übernahme der Mutter-Semantik in die Selbstreferenz gehört auch die entsprechende theologische Übernahme der Mutter Gottes in die Selbsterzeugung: Nicht nur, daß das Schulmeisterlein (er: dritte Person Singular, männlich) ein Wutz (ein Schwein; es: dritte Person Singular, Neutrum) ist, er ist auch noch, durch seinen zweiten Namen, eine Maria (dritte Person Singular, weiblich). Er, sie, es: die grammatikalischen Genusformen verbinden sich ––––––– 28

Zu den Phantasmen des Sichselbstvertilgens vgl. den Aufsatz: Carl Pietzcker, »Mutter, sagt’ er zu seiner Frau, ... ich freß’ mich aber noch vor Liebe, Mutter!« Oder: Jean Paul bereitet uns mit seinem ›Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz‹ ein bekömmliches Mahl, in: C.P., Trauma, Wunsch und Abkehr. Würzburg 1985, S.65–94.

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durch interne Verkettung. Die Lilie (I/1,422, 460) und seine Stube als Loretto-Häuschen (I/1,425)29 realisieren auch noch die Verbindung zur Mutter Gottes, so daß die Welt des Geistes (die Bücher), die Welt der eigenen Zeugung (die Mutter), die Welt der theologischen Zeugung (Maria), das eigene Verliebtsein als Verliebtsein in sich selbst komplett in ein Theater des Imaginierens überführt werden, aber so, daß darüber der Akt des Imaginierens im Imaginat, nämlich im Bild der Idylle verschwindet. Wutz hat die herkulische Arbeit, in den erbärmlichsten Situationen glücklich zu sein (I/1,429), durch das Paradox eines sich vollkommen bewußtlosen Narzißmus realisiert. Die Geschlossenheit seiner Welt als konsequente Uminterpretation kultureller Dispositive in die Erfahrungen des Nahbereichs der sinnlichen Sphäre wird im Text genau dort sinnfällig, wo die Nagelprobe auf die gesamte kontrafaktische Sinnerzeugung des Jean Paulschen Schreibens ansteht: in der Szene des Todes. Der gesamte Text ist vom Tod her geschrieben. Schon der erste Satz spricht das Wissen des Erzählers aus, daß sein Idyllenheld gestorben ist.30 Gattungsgeschichtlich ist das Erzählen einer Idylle vom Tode her eine contradictio in adiecto. Aber es zeigt sich, daß das ganze Leben von Wutz immer schon die Semiotisierung des Todes gewesen ist. Gelebt hat er nämlich, im eigentlichen Sinne des Wortes, gar nicht, da er seine Zeit damit zugebracht hat, sein Leben aufzuschreiben. Erzählt werden seine Lebensstationen von der Kindheit bis zur Heirat und dann sein Tod. Dazwischen liegt sein Leben, welches er damit zubringt, sein bisheriges Leben zu rekapitulieren. Die Mitte des Lebens, die Mannesjahre sind also als Leben ausgespart beziehungsweise als Text vorhanden: denn wir lesen den Text, den Wutz geschrieben hat, während er über dem Schreiben versäumte, zu leben. Nach den theologischen Prämissen Jean Pauls ist freilich das Leben sowieso keine Möglichkeit und die Permanenz des Schreibens die einzige Form, nicht in die Situation des zum Tode erwachenden Christus zu kommen. Insofern lebt Wutz gerade dadurch, daß er nicht lebt, sondern schreibt. Die Todesszene setzt genau dies ins Bild. Auf der Bettdecke des sterbenden Idyllentiers liegt sein Kinderspielzeug, die Insignien seiner sphaera sensationis: ––––––– 29

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Der katholischen Legendenbildung nach wurde das Geburtshaus Maria von Nazaret nach Loreto versetzt, wo es zum Wallfahrtsort geworden ist. »Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wutz! Der stille laue Himmel eines Nachsommers ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum: deine Epochen waren die Schwankungen und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blätter auf stehende Blumen flattern – und schon außer dem Grabe schliefest du sanft!« (I/1,422)

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Ralf Simon Auf dem Deckbette lag eine grüntaftne Kinderhaube, wovon das eine Band abgerissen war, eine mit abgegriffnen Goldflitterchen überpichte Kinderpeitsche, ein Fingerring von Zinn, eine Schachtel mit Zwerg-Büchelchen in 128-Format, eine Wanduhr, ein beschmutztes Schreibbuch und ein Finkenkloben fingerlang. Es waren die Rudera und Spätlinge seiner verspielten Kindheit. (I/1,455)

Diese Gegenstände sind die Allegorien seiner sieben Lebensphasen, wie sie in Comenius’ Orbis sensualium pictus (1658) als die Sieben Alter des Menschen dargestellt werden.31 Dem Kind entspricht die Kinderhaube; dem Knaben das beschmutzte Schreibbuch (die Lese- und Schreiblernkladde); dem Jüngling die überpichte Kinderpeitsche; dem Jungmann der Fingerring von Zinn; dem Mann die Schachtel mit Zwergbüchelchen (also die literarische Produktion); dem Altmann die Finkenkloben; dem Greis die Wanduhr.32 Es ist sein ganzes Leben, welches in der Form von Spielzeug auf seinem Bettzeug Platz hat. Die Chronologie dieses Lebens stellt sich im Nebeneinander einer auf das warme Bettgehäuse reduzierten Kinderstube dar. Betrachtet man den gesamten Erzählprozeß dieser Idylle, so fällt auf, daß nicht nur der Wegfall der Mannesjahre dieser Text ist. Vielmehr ist der Text nichts anderes als eine Erdichtung der Welt aus der Perspektive des Kinderspielzeugs heraus. Von der Todesszene her läßt sich die radikale Frage stellen, ob Wutz jemals aus seinem Bett oder aus der sphaera sensationis seines Spielzeugs herausgekommen ist. Da nach der Fiktion, die der Erzähler aufbaut, der Text, den wir lesen, aus den Notaten von Wutz gezogen ist, sind alle historischen Nachrichten zunächst nur von Wutz geschriebene Texte. Wenn er die Kritik der reinen Vernunft gleich selbst schreibt, warum soll er es mit seinem Leben anders halten? Daß am Ende sein Leben skriptural, in der dinghaften Form des Allegorischen, vor ihm liegt, verwischt überhaupt die Differenz von Text und Leben. Allegorisieren die Dinge das gelebte Leben oder erzeugt das Spielzeug die Erfindung des Lebens als Text? Wutz, der in vollkommener Bewußtlosigkeit ein Narzißt ist, dessen Lust sich an der Inkorporierung der Liebe, der Mutter, der Theologie, des Geistes und des eigenen Lebens satt käut, kennt die Unterscheidung zwischen Erfindung (poiesis) und Mimesis nicht mehr. Wie sollte er auch, wenn es zur Epistemologie des Idyllentiers gehört, daß Nachahmung als bewußte Option deshalb nicht möglich ist, weil die Mimikry viel radikaler ist? ––––––– 31

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Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus, Nürnberg 1658 (Nachdruck Dortmund 4. Aufl. 1991), S.76–77: Septem Aetates Hominis. Die genaue Analyse dieser Szene findet sich in einer in der Jean-Paul-Forschung weitgehend vergessenen Promotionsschrift: Ulrich Fleischhut, Die Allegorie bei Jean Paul, Promotionsbelegexemplar Bonn 1977, S.152–156.

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Dieses Verschwinden aller Epistemologie in der reinen Präsenz der Mimikry ist wortwörtlich das, was für das 18. Jahrhundert Idylle heißt: ein Bildchen, eidyllion.33 Weder Erfindung noch Nachahmung, sondern Identischwerden und Verwandlung buchstabieren diejenige Hermeneutik, die der Mensch-als-Tier so kunstfertig durchführt, daß an der Naivität eines Wutz die Unterscheidungen der Bewußtseinstheorie zerbrechen. Für Wutz kann es keine Differenz von Text und Leben geben, und für ihn wäre die Frage, ob die Dinge auf seinem Bett Allegorien oder nur Spielzeug sind, vollkommen unverständlich. Sein Text ist sein Leben, und die Idylle ist diejenige Erzählung, die – mit der Ausnahme einer panisch vermiedenen Öffnung – tatsächlich einen im Tod erwachenden Christus systematisch ausschließt. Der Tod von Wutz ist die Szene, in der Leben und Text ununterscheidbar werden und in das eine kleine Bild münden. Textwelt, Lebenswelt und idyllische Narration werden in Jean Pauls epistemologischem Experiment derart enggeführt, daß die Theologie der Verzweiflung im Tier die Antwort findet. Daß das Vollglück in der Beschränkung Reaktion auf eine Theologie nach der Theologie sei, ist eine so dämonische Antwort, wie Jean Pauls Idyllik verzweifelt ist. Betrachtet man den Prozeß der Idylle durch das Werk hindurch, so kann man freilich eine überraschende, die Dämonie steigernde Beobachtung machen. Die beiden anderen Weisen, wenn nicht glücklich, so doch glücklicher zu werden, vernichtet Jean Paul in seinem Werkprozeß. Der so genannte hohe Mensch verschwindet mit den Flegeljahren ebenso wie der zum Humoristen potenzierte Satiriker. Übrig bleibt der Idylliker, der in den grossen Spätwerken, Leben Fibels und Der Komet, den Auftrag bekommt, die kollabierenden Charakterentwürfe in sich aufzunehmen. Technoid gesprochen, findet der re-entry sowohl des Humoristen als auch des hohen Menschen in den Idylliker statt, aber so, daß diese beiden Optionen auf den point de vue des Idyllikers reduziert werden. So wird der gleichermaßen komische wie heilige Nikolaus mit einigen Zügen der Empfindsamkeit und des Humors ausgestattet, ohne die Beschränktheit und die Glückseligkeit des Idyllikers zu verlieren. Eine solche Anlage läuft auf eine Subjektskonstruktion hinaus, die der Romantext als Narr zu denunzieren nicht umhin kann. Die Beschreibung dieser hochkomplexen Gemengelage wäre eine Aufgabe für sich. An dieser Stelle kann nur angedeutet werden, daß selbst dort, wo ein Idiot als heiliger ––––––– 33

Die Übersetzung von eidyllion mit »kleines Bild, Bildchen« war im 18. Jahrhundert gängig. Philologisch korrekt wäre mit »kleines selbständiges Gedicht« zu übersetzen. Vgl. dazu zusammenfassend: Artikel »Idylle« (von Günter Häntzschel) in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2000, Bd.II, S.123.

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Nikolaus präsentiert wird, Jean Paul immer noch daran festhält, daß dies besser sei, als wenn man als toter Christus erwacht. Man wird wohl diese Konstellation sowohl inkarnationstheoretisch wie auch als Ausdruck höchster Blasphemie zu interpretieren haben. Das Idyllentier macht die Theologie zum Schauplatz einer so tiefgehenden Dekonstruktion, daß der herbe Tod des Religionsstifters durch das Glück der Idiotie zu überwinden ist.

FRANZISKA FREI GERLACH

EINE »TITEL-SONDERBARKEIT« Die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text

Die vom Titel her gegebene Erwartung eines Geheimbundromans löst Jean Pauls Unsichtbare Loge von 1793 nicht ein: dies hat schon die zeitgenössische Kritik moniert: Vergebens sucht man im ganzen Werke etwas, wodurch der Titel des Buchs erklärt würde. Nur ganz am Ende des zweiten Teils ist die Rede von einer geheimen Verbindung, zu welcher Ottomar gehört haben soll; allein es sind nur ein paar Worte davon hingeworfen.1

Diese Kritik ist stichhaltig, stammt sie doch von Adolph Freiherr von Knigge, einem profunden Geheimbundkenner und ehemalig führenden Mitglied der Illuminaten, dem zuzutrauen ist, auch subtil ausgelegte Indizien aufzuspüren. Auch die Jean Paul-Forschung ist sich darin einig, dass sich zwischen Titelstimulus und Romantext eine große Diskrepanz auftut. Weshalb hat sich Jean Paul dann für diesen Titel entschieden? Sein Brief zur »Titelfabrikatur« seines ersten großen Romans vom 12. Juli 1792 an Christian Otto gibt darüber einigen Aufschluss, doch zugleich wiederum neue Rätsel auf (vgl. SW III/1,359). Die Antworten, die in der Forschung auf die Frage der Titelwahl gegeben wurden, sind darum entsprechend disparat: Sie reichen von einer beliebigen Schrulle über eine gezielte Marketingstrategie weiter zu einem kalkulierten intertextuellen Spiel bis hin zum latenten Zentrum des Romans, der von der Geheimbundthematik her als Revolutionsdichtung gelesen werden könne.2 Alle diese Antworten isolieren den Titel und die ––––––– 1

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Rezension von Adolph Freiherr von Knigge über Die unsichtbare Loge in der Neuen allgemeinen Bibliothek 11 (1794), S.216–318; zit. nach: Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkung Jean Pauls in Deutschland, hrsg. von Peter Sprengel. München 1980, S.3–4, hier: S.4. Nachdem die Frage der Titelwahl lange Jahre als schräger Einfall abgetan worden war, befasst sich die jüngere Forschung wieder damit. Helge Jordheim liest die Loge im intertextuellen Vergleich mit Wielands Agathon als eine Gattungsverhandlung zwischen Bildungs- und Staatsroman und sieht den Titel als Versuch, mit der dadurch ausgelösten Aporie umzugehen. Vgl. Helge Jordheim, Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik. Tübingen 2007. Christian Sinn fragt nach dem Verhältnis der Loge zu den real existierenden zeitgenössischen Geheimgesellschaften und setzt

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damit verbundene Logenthematik jedoch aus dem Romankontext oder verabsolutieren umgekehrt die darin angelegte gesellschaftskritische Dimension. Im Folgenden möchte ich dagegen die These diskutieren, dass die Geheimbundthematik Teil eines umfassenden Geschwisterdispositivs der Loge ist. Damit integriert sie sich in einen systematischen Zusammenhang und gewinnt an Kontur: der Geheimbund als institutionelle Geschwisterschaft bekräftigt seine Stellung im Romankontext durch Querbezüge zu anderen Figurationen von Geschwisterschaft und erscheint damit nicht als isoliert »hingeworfen«, sondern als Teil eines Dispositivs, mit dem horizontalen Strukturen zur Geltung verholfen wird. Dass Jean Pauls Unsichtbare Loge ein umfassendes Geschwisterdispositiv erstellt, in dem verschiedene Ebenen interagieren und in ihrer wechselseitigen Bezugnahme eine Ermächtigung der Horizontalen leisten, ist die Rahmenthese, in die die Spurensuche nach der unsichtbaren Loge im Text gestellt werden soll. Inwiefern sich dabei die noch genauer zu spezifizierenden Ebenen eigentlicher, weiterer und figürlicher Geschwisterschaft zum Ge-

––––––– am Beispiel von Gustavs Erziehung das Textexperiment der Loge mit den Epistemologien zu den Menschenexperimenten der Geheimgesellschaften in Beziehung. Vgl. Christian Sinn, »Acht Jahre unter der Erde«. Jean Pauls »Die unsichtbare Loge« (1793) zwischen Aufklärung und Arkanum, in: JJPG 42 (2007), S.67–84. Dabei hatte Michael Voges in seiner umfassenden Monographie über die Geheimbundliteratur von 1987 schon gezeigt, dass sich in den neunziger Jahren ein Literarisierungsprozess des Geheimbundmaterials längst vollzogen hatte und Jean Paul in der Loge sein parodistisches Spiel mit der Textgattung des Geheimbundromans treibt. Eine sozialpolitische Lektüre, wie sie in den siebziger Jahren die Jean Paul-Forschung dominierte, ist laut Voges aber zulässig, sofern die innerliterarischen Vermittlungsprozesse transparent gehalten werden. Vgl. Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987, spezifisch zur Loge S.538ff. Eduard Berend hatte in seiner Einleitung zur Loge von 1927 in erster Linie Marketingüberlegungen für ausschlaggebend für die Titelwahl gehalten (SW I/2,X). Das ist nach wie vor ein überzeugendes Argument, bedenkt man die prekäre ökonomische Lage eines bisher erfolglosen Autors, der mit diesem Roman den Durchbruch schaffen möchte und darum auf die damalige Bestseller-Strategie des Geheimbundromans setzt. Wulf Köpke knüpft an Berend an und führt die Geheimbundstrategie der Loge auf den 1787–89 anonym erschienenen Geheimbundroman Dya-Na-Sore von Wilhelm Friedrich von Meyern zurück. Laut Köpke dient das Geheimbundmaterial jedoch allein dem Spiel mit der trivialen Leseerwartung. Vgl. Wulf Köpke, Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls. München 1977, S.346ff. Anders sieht das Wolfgang Harich, dessen marxistisch-soziologischer Forschungsansatz die Logenthematik 1974 zum »ideellen Angelpunkt der gesamten Handlung« (S.163) macht und der die Loge, den Hesperus und den Titan als »Revolutionsdichtung« liest und dabei die Dya-Na-Sore als stilbildenden Intertext integriert (S.166ff.). Vgl. Wolfgang Harich, Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane. Reinbek b.H. 1974.

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schwisterdispositiv verfugen, kann dabei nur ansatzweise dargestellt werden.3 Detailliert untersucht aber werden soll, welche Spuren im Text der institutionellen Geschwisterschaft zuzuordnen sind, wie diese auf andere Geschwisterfigurationen Bezug nehmen und welche Kontexte dabei ins Spiel kommen. Ziel ist, den Rätselcharakter der »Titel-Sonderbarkeit« wenn nicht zu lösen, so doch zu erhellen. Angeleitet wird diese Spurensuche durch Jean Pauls Brief zur »Titelfabrikatur« (SW II/1,359f.). Denn dieser Knigge selbstredend nicht bekannte, in der Jean Paul-Forschung aber oft zitierte Brief enthält eine Handhabe, wie das aufgegebene Titel-Rätsel zu lösen ist. Vorab gilt es aber nun, die Rahmenthese des Geschwisterdispositivs zu erläutern. Da es sich um eine neue Forschungsthese über die Zeit um 1800 und nicht nur zu Jean Pauls Loge handelt, möchte ich sie in der gebotenen Kürze in allgemeiner Form darstellen. Dabei sollen die Scharnierstellen sichtbar werden, die Jean Paul in der kulturellen Enzyklopädie um 1800 für die Verknüpfung der institutionellen Geschwisterschaft mit anderen Geschwisterfigurationen zur Verfügung stehen. Das Geschwisterdispositiv um 1800 Michel Foucault umschreibt den von ihm in Der Wille zum Wissen (1976) eingeführten Begriff des Dispositivs in einem Gespräch von 1977 als ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. [...] Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.4

Das Dispositiv ist also ein offen gehaltener Begriff für eine Formation von Aussagen, Kräften und Wissensstrukturen, die eine strategische Funktion hat. Der Begriff des Dispositivs ist bei Foucault mit demjenigen der Macht verknüpft: das Dispositiv ist immer »in ein Spiel der Macht eingeschrieben«, strukturiert also seinerseits Machtverhältnisse mit.5 Foucault stellt die »Ein––––––– 3

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Das ist Gegenstand meiner Habilitationsschrift Das Geschwisterdispositiv bei Jean Paul und um 1800, in der Jean Pauls mehrschichtige Geschwisterfigurationen im Kontext eines für die Zeit um 1800 diagnostizierten Geschwisterdispositivs dargestellt werden. Michel Foucault, Dispositive der Macht, übers. von Monika Metzger u.a. Köln 1978, S.119f., S.123. Foucault, Dispositive [Anm.4], S.123. Vgl. auch Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1983, S.35, S.87, S.105. In seinem kürzlich erschienen Essay betont Giorgio Agamben die Wich-

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heit des Dispositivs« der Macht vertikal dar: »Die Macht [...] vollzieht sich auf allen Ebenen in gleicher Weise. Von oben bis unten, [...] vom Staat bis zur Familie, vom Fürsten bis zum Vater«.6 Doch seine Begriffsfassung, die Macht weder intentional noch repressiv, sondern nominalistisch7 denkt, erlaubt es, den Begriff des Dispositivs auch horizontal zu konzipieren. In diesem Sinne verstehe ich den noch näher zu erläuternden Komplex der Geschwisterschaft als ein horizontal strukturiertes Dispositiv, das um 1800 ein alternatives und produktives Dispositiv der Macht ist. Der Begriff der Horizontalen hat sich in der historischen Familienforschung etabliert, die eine seit dem 11. Jahrhundert fassbare Tendenz der Horizontalisierung von Verwandtschaft diagnostiziert. Die grundlegende Matrix der familiären Struktur bilden zwei sich kreuzende Achsen: die Vertikale und die Horizontale. Auf der Vertikalen ist die Generationenabfolge von Eltern und Kind, auf der Horizontalen die Beziehung zwischen den Geschwistern und – je nach zugrundeliegendem System – auch diejenige zwischen Geschwisterkindern, zwischen den Ehegatten und ihren Schwiegerverwandten situiert.8 Dabei organisieren mehrheitlich Regeln und Praxen der Weitergabe die Vertikale und Praxen von Teilhabe und Tausch die Horizontale. Der Vertikalen inhärent sind eine hierarchische Struktur und Differenzpositionen bezüglich der Güter und Kompetenzen, die Horizontale dagegen ist durch egalitäre Strukturen und durch gleichwertige oder zumindest ähnliche Positionen charakterisiert. 9 Untersuchungen, die nach der symbolischen Ordnung und der Logik kultureller Phantasmen fragen, kommen mehrheitlich zum Schluss, dass im kulturellen Gedächtnis Europas die Vertikale dominiere, deren Direktiven – um es mit Lacan zu sagen – »[i]m Namen des Vaters« erfolgen:10 In einer ––––––– 6 7 8

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tigkeit des Begriffs für Foucaults Denken, vgl. Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv? Übers. von Andreas Hiepko. Zürich/Berlin 2008 (ital. 2006). Foucault, Wissen [Anm.5], S.105. Vgl. ebd., S.114. Vgl. zur Darstellung der Verwandtschaftsgrade in vertikaler und horizontaler Strukturierung Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, übers. von Eva Horn. Frankfurt a.M. 1986 (engl. 1983), S.151ff. Das Argument bezieht sich auf die Verwandtenfamilie. De facto sind soziale Beziehungen nie nur vertikal oder nur horizontal strukturiert. Analytisch macht es aber Sinn, die Achsen zu isolieren, um die strukturrelevanten Kriterien zu benennen. Vgl. Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: J.L.: Schriften I, ausgew. u. hrsg. von Norbert Haas, übers. von Rodolphe Gasché. Olten/Freiburg i.Br. 1973, S.71–170, hier: S.119. In diesem Sinne diagnostizieren die Dominanz der Vertikalen in der abendländischen Diskursgeschichte beispielsweise für das Geschlechterverhältnis Luce Irigaray und für das Familienmodell Albrecht Koschorke. Vgl. Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, übers. von Xenia Rajewsky u.a.

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vertikal dominierten Kultur und Wahrnehmungstradition fungieren die Ausformungen der Horizontale analytisch vielfach nur als blinder Fleck. Dabei steht im kulturellen Gedächtnis Europas neben dem patriarchalen ein alternatives Familiendispositiv bereit, dessen Tragweite bei weitem noch nicht erfasst worden ist: Wie die historische Familienforschung aufgezeigt hat, bildet in Europa seit dem 11. Jahrhundert die »Einheit der Geschwistergruppe« und nicht wie in unserem heutigen Begriffsverständnis die Beziehung zwischen Eltern und Kindern die definitorische Achse des Familienleitbildes.11 Michael Mitterauer beschreibt in seiner Geschichte der Familie den Trend der mittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung in Europa als eine Bedeutungszunahme genossenschaftlicher Sozialformen und damit horizontaler Beziehungen: Diese spezifisch europäische Gesellschaftsentwicklung steht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Prinzip der ›geistlichen Verwandtschaft‹.12 Der damals eingeleitete Prozess der Horizontalisierung von Verwandtschaft erreicht im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt. Dies zeigt sich in der Ausweitung der Geschwisterterminologie auf soziale Gemeinschaften, die nicht auf Blutsverwandtschaft basieren. Die zunehmende Bedeutung von christlichen und laizistischen Bruder- und teilweise auch Schwesternschaften ––––––– 11

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Frankfurt a.M. 1980. Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt a.M. 2000. Goody, Ehe [Anm.8], S.151f. Grundsätzlich bestanden zwei unterschiedliche Systeme zur Berechnung von Verwandtschaftsgraden: Die römische Methode, die die Zahl der Generationenschritte zwischen ego und alter berechnet und also vertikal strukturiert ist, sowie das germanische System, das »auf der Einheit der Geschwistergruppe« und damit der Horizontalen basiert. Dieses germanisch oder fraternal genannte System setzte sich offiziell im 11. Jahrhundert durch, allerdings wurde in adligen Kreisen vorerst an der römischen Zählweise festgehalten. Vgl. dazu auch David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen. 1700–1870. Cambridge 1998, S.8f., und D.W.S., Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik, übers. von Maria E. Müller, in: L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 1 (2002), S.7–28. Vgl. Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, S.198, S.355ff. Geistliche Verwandtschaft ist ein spezifisch christlich-europäisches Phänomen, das im Frühmittelalter greifbar wird, und meint eine über die Taufe gestiftete spirituelle Verwandtschaft, die beispielsweise bei den Ehehindernissen der Bluts- und Heiratsverwandtschaft gleichgestellt war (vgl. ebd., S.186ff.). Die zunehmende Horizontalisierung der geistlichen Verwandtschaft in Mittelalter und Neuzeit zeigt sich dann in den Begriffsbestimmungen um 1800, wo im Prinzip alle getauften Christen als Geschwister verstanden werden. In Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch heißt es an der entsprechenden Stelle sogar, dass damit das »Verhältnis aller Menschen gegen einander« bezeichnet werden kann. Vgl. Art. Bruder bei Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793–1801: Fotomechanischer Nachdruck. Hildesheim/Zürich/New York 1990, Bd.1, Sp.1215f.

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im 18. Jahrhundert und die dort gepflegten Ideologien bestimmen die spezifisch europäische Entwicklung von Herrschaft und Mitbestimmung entscheidend mit. Die Parole der fraternité in der Französischen Revolution ist mit ein Ausdruck davon.13 Die Struktur der Familie bildet ein Symbolsystem grundlegender Art, lautet eine der Grundthesen der strukturalen Anthropologie. Wenn auch »elementare Strukturen der Verwandtschaft«14 angesichts der kulturellen Kontingenz familiärer Ordnungen nicht aufgefunden werden können, so lässt sich doch sagen, dass Familienstrukturen als elementar semantisches Paradigma fungieren, mit dem Beziehungen aller Art beschrieben werden. Um 1800 stellt die Geschwisterbeziehung eine besonders intelligible Struktur dar, um soziale Beziehungen zu beschreiben. Das hat verschiedene Gründe. Die Dynamik der Geschwisterbeziehung entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen einer Orientierung an Ähnlichkeit, Nähe, Gleichheit einerseits und der Orientierung an Eigenständigkeit, Abgrenzung, Differenz andererseits: Autonomie und Beziehungsfähigkeit bilden für den bürgerlichen Subjektentwurf das Ziel. Dass an dieser Herausbildung der Persönlichkeit geschwisterliche Strukturen mitwirken, ist ein Wissen, das in Textzeugnissen um 1800 in hohem Masse virulent ist, theoretisch aber erst im ausgehenden 20. Jahrhundert eingeholt wird. Die psychoanalytisch geprägte Geschwisterforschung beschreibt als zentrale Strukturmerkmale: Identitätsversicherung, emotionale Nähe, soziale Kompetenz und intersubjektive Kontinuität. Mit einem Geschwister müssen wir uns auseinandersetzen, wir haben keine Wahl: Die Geschwisterbeziehung ist existentiell gegeben, nicht kündbar, gewöhnlich die ––––––– 13

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Im Verlauf der französischen Revolution erweitert der Begriff der fraternité die Binärformel von liberté und égalité zum Terzett. Anders als die beiden schon bestehenden Termini meint fraternité kein Grundrecht, sondern eine moralisch-ethische Haltung in interpersonalen Beziehungen. Diese neue Akzentuierung des ursprünglich christologisch-klerikalen Begriffs hat sich erst im Vorfeld der Revolution entwickelt, wie die historische Enzyklopädie zeigt. Dass der neue Begriff so rasch reüssierte, hängt mit dem zeittypisch engen Zusammenhang zwischen politischem Denken und familialer Struktur, aber auch mit der gesellschaftspolitischen Macht der als Bruderschaften konzipierten geheimen Gesellschaften zusammen. Zwar sind die konkreten Verbindungen zwischen den Geheimgesellschaften und der Französischen Revolution nach wie vor ein nicht befriedigend geklärtes Thema, doch unbestritten sind die ideologischen Zusammenhänge, die sich unter anderem in der illuminatischen Verschwörungsthese konkretisierten. Ausf. zu letzterem vgl. weiter unten, zu Begriff und Geschichte der fraternité vgl. Marcel David, Fraternité et Révolution française. 1789–1799. Paris 1987, S.7ff., Gérald Antoine, Liberté, égalité, fraternité ou les fluctuations d’une dévise. Paris 1981, S.133ff., Michel Borgetto, La devise »Liberté, Égalité, Fraternité«. Vendôme 1997, S.11f. Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1993 (frz.: 1949 und 1967), S.658.

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längste Beziehung in unserem Leben und in der Verwandtenfamilie bedeutet sie meist auch ein gemeinsames Aufwachsen. Darüber hinaus steht die Geschwisterbeziehung für ein gewisses Maß an – je nach familiärer Ordnung – sozialer und/oder biologischer Egalität.15 Für die symbolische Ordnung um 1800 liefert die zeitgenössische Semantik signifikante Indizien dafür, dass Geschwister als eine egalitäre, horizontal strukturierte und emotional hochgradig positiv besetzte soziale Beziehung von hoher Relevanz konzipiert sind, die im kulturellen Gedächtnis tradierte und in der lebensweltlichen Praxis zweifellos bestehende Rivalitäten narkotisiert oder allenfalls peripher einbegreift.16 Geschwister beschäftigen die kollektive Phantasie um 1800 in außergewöhnlichem Maße und bilden auch in der sozialen Praxis ein wichtiges Orientierungsangebot. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Geschwisterbegriff über seine leibliche und institutionelle Verwendungsweise eine Schaltstelle zwischen Familie und Gesellschaft besetzt und wie der Begriff Geschlecht biologisch und kulturell zugleich funktioniert.17 Der für das 18. Jahrhundert typische enge Zusammenhang zwischen politischem Denken und Familienstruktur macht die geschwisterliche Horizontale in humanitär-egalitären Entwürfen zur Umschaltstelle zwischen individuellen und gesellschaftlichen Konzepten. Diese homonyme Verwendung von Geschwisterbezeichnungen wird vom enzyklopädischen Wissen des 18. Jahrhunderts unter dem Paradigma der Leib-Seele-Dichotomie reflektiert18 und im ausgehenden Jahrhundert um die metaphorische Begriffsverwendung erweitert. Die historische Semantik, wie ––––––– 15

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Vgl. stellvertretend für die im deutschsprachigen Raum Mitte der 1990er Jahre aufkommende psychoanalytische Geschwisterforschung: Geschwisterliches. Jenseits der Rivalität, hrsg. von Katharina Ley. Tübingen 1995, Geschwisterlichkeit. Horizontale Beziehungen in Psychotherapie und Gesellschaft, hrsg. von Hans Sohni. Göttingen 1999. Vgl. Art. Bruder, Schwester, Geschwister bei Adelung [Anm.12] und Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854–1960. Die Geschlechterforschung differenziert die biologischen und soziokulturellen Begründungszusammenhänge von Geschlecht begrifflich mit sex und gender, vgl. einführend dazu: Gender-Studien. Eine Einführung, hrsg. von Christina von Braun und Inge Stephan. Stuttgart, Weimar 2000. Auch die Frage der Verbindung zwischen Biologie und Kultur von Verwandtschaft ist ein viel diskutiertes Problem der Forschung, dabei hat sich gezeigt, dass sie nicht auf grundsätzlicher Ebene, dafür im je spezifischen Einzelfall zu klären ist; erhellend dazu Bernhard Jussen, Künstliche und natürliche Verwandtschaft? Biologismen in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft, in: Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Yuri L. Bessmertny und Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2001, S.39–58. Vgl. Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon. 64 Bde. und 4 Supplement-Bde. (Halle/Leipzig 1732–1754), Nachdruck Graz 1961–1962, hier Bd.9 (1735), Sp.1765.

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sie Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart präsentiert, unterscheidet eine ›eigentliche‹, ›weitere‹ und ›figürliche‹ Begriffsbedeutung: Von der eigentlichen Bedeutung, der leiblichen Verwandtschaft, differenziert werden Bezeichnungspraxen, die geistliche Verwandtschaft meinen, sowie solche, die den Begriff im übertragenen Sinn verwenden und dabei Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit fokussieren.19 Die nach Adelung ›weitere‹ Bedeutung des Geschwisterbegriffs findet ihre lebensweltliche Konkretisierung im 18. Jahrhundert in einer Vielzahl geistlicher und laizistischer Schwestern- und vor allem Bruderschaften und verdichtet sich darüber hinaus in der republikanischen Ideologie zum Leitbegriff der fraternité. Die ursprünglich klerikalchristologische Füllung des Geschwisterschafts- und namentlich des Bruderschaftsbegriffs wirkt in den laizistischen Sozietäten weiter, führt aber auch zur Ausbildung neuer religiöser Gesellschaften, wie beispielsweise der Brüdergemeinde der Herrenhuter. Dieser Komplex weiterer Geschwisterschaft umfasst den Bereich, den ich mit der ebenfalls schon zeitgenössischen Bezeichnung der institutionellen Geschwisterschaft umschreibe.20 Im kulturellen Imaginären generieren die Valenzen des Geschwisterbegriffs in ihrer leiblich-konkreten, geistlich-institutionellen und semiotischimaginären Ausprägung ein hohes Transferpotential: Gerade im ausgehenden 18. Jahrhundert bietet sich die Geschwisterschaft damit zunehmend als intelligible Struktur an, in der individuelle und kollektive Orientierungen eine gegenseitige Validierung von solchem Ausmaß leisten, dass von einem Geschwisterdispositiv auszugehen ist. Gegenüber den gewählten, kündbaren und mit partiell Fremden eingegangenen Beziehungsformen der Freundschaft und der Liebe hat Geschwisterschaft – in ihrer genuinen Form als ›eigentliche‹ Geschwisterschaft – den Vorteil von Kontinuität, Stabilität und Vertrautheit: Dies macht die Geschwisterschaft für die bürgerliche Utopie der individuell glücklichen und sozial egalitären Beziehung so attraktiv. Da Geschwisterschaft in ihren ›weiteren‹ Varianten auch gewählte Beziehungen einbegreift, erhöht sich die Transfermöglichkeit dieser positiven Konnotationen sowohl auf soziale Kollektive als auch auf individuell gewählte Liebes-21 und Freundschaftsbeziehungen. ––––––– 19 20

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Vgl. Adelung [Anm.12], Art. Bruder, Bd.1, Sp.1215f., sowie Art. Schwester, Bd.3, Sp.1747f. Die Differenzbestimmung naturelle versus institutionelle findet sich unter dem Stichwort der fraternité im jesuitischen Dictionnaire de Trévoux von 1771, vgl. dazu David [Anm.13], S.18ff. Geschwisterliches bestimmt die empfindsame Liebeskonzeption und die zeitgenössische Liebes- und Ehepraxis in vielfacher Weise mit. Vgl. dazu Franziska Frei Gerlach, Geschwis-

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Freundschaft, die für das 18. Jahrhundert in der Forschung als prägende soziale Beziehung gilt,22 steht in einer engen semantischen Verbindung zum Bedeutungsfeld der Geschwisterschaft und weist dazu eine Reihe von Überschneidungen auf. Gerade identifikatorisch konzipierte sowie politisch motivierte Freundschaften privilegieren, wie Derrida in seiner Politik der Freundschaft (1994) herausgearbeitet hat, »den Namen des Bruders oder den Namen Bruder«.23 Für das Erproben der Valenzen des um 1800 virulenten Geschwisterdispositivs bietet sich Literatur mit ihren Möglichkeiten metonymischer und metaphorischer Verknüpfungen sowie fiktionaler Modellbildung bevorzugt an. Von diesen Möglichkeiten macht Jean Paul ausgiebig Gebrauch. In der Loge geschieht dies besonders kunstreich, da im Zentrum ein Einzelkind steht, das über performatives Herstellen von quasi-eigentlichen, weiteren und figürlichen Geschwisterschaften ins Zentrum einer Geschwisterkonstellation gerät. Teil dieser mehrschichtigen Geschwistergenese ist die institutionelle Ebene, und diese soll uns nun in der Frage des Titel-Rätsels weiter bringen. Titel-Rätsel An Karl Philipp Moritz, der die Drucklegung befördern sollte, hatte Jean Paul das Manuskript der Loge im Juni 1792 wahrscheinlich noch titellos geschickt.24 An die »bestelte Arbeit [...], die Titelfabrikatur« machte sich Jean Paul mit seinem Brief vom 12. Juni an Christian Otto.25 Darin stellt er den –––––––

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terliebe. Inzestdiskurse bei Goethe und Jean Paul, in: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge, hrsg. von Jutta Eming, Claudia Jarzebowski und Claudia Ulbrich. Königstein 2003, S.214–246, spezifisch zum kulturhistorischen Kontext und den verschiedenen Diskurselementen: S.228ff. Vgl. die verbreitete Forschungsthese vom ›Jahrhundert der Freundschaft‹, nach einer Formulierung von Friedrich H. Tenbruck, Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964) H.3, S.431–456, hier: S.436. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. von Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2002, S.372. Dies lässt sich besonders deutlich an Montaignes stilbildendem Essay Über die Freundschaft (1580) zeigen. Vgl. dazu und zu literarischen Verhandlungen um Freundschaft und Geschwisterschaft im Umfeld Jean Pauls: Franziska Frei Gerlach, »Eins werden und bleiben«. Die Verhandlungen um Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft in Jacobis »Woldemar«, in: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung: »Gefühle« H.1 (2008), S.19–33. Vgl. zur Chronologie der Titelfindung SW I/2,VIIIff. Zur Rolle des Freundes Christian Otto vgl. den informativen Aufsatz von Monika Meier, Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls, in: JJPG 41 (2006), S.97–111.

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Titel als eine »Sonderbarkeit« dar, die »geheim[e] Naturforscher« schon zu enträtseln wüssten (SW III/1,359f.). Doch wie wir gesehen haben, stellt das Titel-Rätsel für Adolph Freiherr von Knigge kein lösbares Rätsel dar. Oder entsprechen Geheimbundspezialisten wie Knigge nicht dem Stellenprofil des geheimen Naturforschers? Was hat sich Jean Paul bei seiner »Titelfabrikatur« denn gedacht? Darüber gibt der hier – bis auf den Eingangssatz – ganz zitierte Brief einigen Aufschluss: Ich bin des Wählens mehr als des Schaffens müde und seze daher dir als Wahlman eine Menge zur Untersuchung her: die, die mir am liebsten sind, bekreuze ich : (NB. Gleichwol sol unter jedem Titel das Wort Biographie stehen, damit der Leser nicht ganz betrogen werde sondern nur halb.) + Marggrafenpulver. Biograph[ie] von Jean Paul – Hohe Oper etc. – Aeolsharfe – + die Urnen – + die Mumien – Mikrokosmus – Orion – Sirius – Abendstern – Sternbilder – (und was noch am Himmel ist) – + Galgenpater – Der beste bleibt ten folgender: »die unsichtbare Loge oder die grüne Nachtleiche ohne den 9 Nusknaker«. Bei diesem Titel denk’ ich im Grunde gar nichts, wiewol mir bis ich die Vorrede seze noch gut einfallen kan was ich dabei denke – aber ich ruhe nicht eher darin als bis andre mehr dabei denken. Ich werde in der Vorrede sagen: »ich schämte mich halb, daß ich genöthigt wäre, durch eine Titel-Sonderbarkeit, die durchaus nicht zu umgehen war, denen Autoren ähnlich zu sehen, die blos der Käufer und des Käufers (Verlegers) wegen, bunte Titel über ihre Werke klebten. Da mir aber daran gelegen wäre, die wenigen Naturforscher, die diesen Titel recht gut verständen, auf mich aufmerksam zu machen so möchten die Rezens[enten] so wie ich mir diese kleine Maçonschürze verstatten.« Eben diese wenigen geheimen Naturforscher werden ohne mich einsehen, was ich in der Biographie selber haben wil, welches die rechten Namen sind und auf welchen unerwarteten Schlag in diesem Säkul – aber die Schwefel-Eidexe wird doch dem rothen Löwen entschlüpfen – durch dieses Buch vorbereitet werden sol. Dem grössern Theile der Leser sag’ ich, daß sie durch die höhern Beziehungen, die sich in dem Roman verstecken, nichts verlieren und daß es für sie eben soviel ist als wenn er wirklich gar keine hätte. Ich ziehe zum Beweise Homers Odyssee an, die Aeneis, Virgils Eklogen, Dantes Hölle etc. die alle durch den mystischen, allegorischen, politischen Kern beim ungelehrten Leser nichts verlieren, den der gelehrte riecht und frisset. (SW III/1,359f.)

Gedacht hat sich Jean Paul seiner eigenen Aussage gemäß bei der Titelwahl »im Grunde gar nichts«, als dass andere sich dabei mehr denken und einen Zusammenhang zwischen der als Marketingstrategie vorgebundenen Maurerschürze mit der Lebensbeschreibung herstellen und die »höhern Beziehungen« aufdecken sollen.26 Diese Rezeptionsvorgabe einzulösen erweist sich ––––––– 26

Der Untertitel der Loge lautet in der gedruckten Ausgabe dann nicht wie im Brief an Christian Otto vorgeschlagen »Biographie«, sondern »Eine Lebensbeschreibung«.

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jedoch als nicht einfach, da die Texthinweise auf eine unsichtbare Loge spärlich und oft parodistisch sind. Welche Qualifikation also brauchen geheime Naturforscher, um in dieser Sache voran zu kommen? Höhere Beziehungen Mit den als idealen Lesern angesprochenen Naturforschern könnten dem zeitgenössischen Sprachgebrauch nach grundsätzlich Menschenforscher gemeint sein,27 die sich in diesem Falle dem »geheimen«, das heißt inneren Menschen zuwenden, also eine Kombination von Erfahrungsseelenkundlern und Anthropologen darstellen würden. Da die Lebensbeschreibung der Loge in erster Linie eine innere Geschichte erzählt und die Friktionen mit der Außenwelt jeweils vor allem im Hinblick auf die dadurch ausgelösten inneren Entwicklungen interessieren, ist damit ein adäquater Modell-Leser28 gefunden. Diesem zeigen sich die »höhern Beziehungen« in der Loge sogar als ––––––– 27

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Naturforschung meint im zeitgenössischen Sprachgebrauch zwar in erster Linie die Erforschung »der naturgesetze, physica« respektive »die wahre verfassung des weltbaues im groszen«; vgl. Grimm [Anm.16], Art. Naturforschung. Doch schon Friedrich Wilhelm Jacobi hatte im Untertitel seines 1779 erschienenen Woldemar oder Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte den Begriff der ›Naturgeschichte‹, die per se das Ziel der Erforschung der Naturgesetze ist, anthropologisch und psychologisch gewendet. Es liegt der Schluss nahe, auch der Jacobi-Leser Jean Paul verwende den Begriff des Naturforschers für jene, deren Forschungsobjekt die »Menschheit, wie sie ist« darstellt. Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hrsg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg 1998ff., hier: Bd.6.1, Romane I: Eduard Allwil, hrsg. von Carmen Götz und Walter Jaeschke. Hamburg 2006, S.89. Und in der Tat fasst auch Jean Paul in seinem Aufsatz Etwas über den Menschen von 1781 (dem ersten, den er für publikationswürdig hielt) die Naturforschung anthropologisch und diagnostiziert hier im Anschluss an Alexander Popes Essay on Man (vgl. II/4,119) eine gewaltige Forschungsaufgabe: »In allen Wissenschaften giebt’s Gelerte; allein die Menschenkentnis hat keine« (II/1,174). Auf diese anthropologische Leerstelle zielt auch das aus den Teufels Papieren abgeleitete Motto der Loge – »Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur« – so dass für die Zeit der Arbeit an der Loge von einem vergleichbaren Anthropologie-Verständnis ausgegangen werden kann. Damit hätten allerdings auch die in Etwas über den Menschen formulierten Konsequenzen für den Berufsstand der Naturforscher Gültigkeit: »Im Grund’ ist also ein Naturforscher nicht der, welcher die Wirkungen der Natur zu erklären weis, sondern der, welcher weis, was alle von diesen Wirkungen geglaubt, d.h. für Lügen gesagt haben« (II/1,182). Dieser Naturforscher also ist ein Kultur-, kein Naturwissenschaftler. Vgl. zu Jean Pauls Position der epistemologischen Unzugänglichkeit des Menschen Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2007, S.176–179. Zum Begriff des Modell-Lesers, der – als eine vom Text festgelegte Strategie – das Potential eines Textes umfassend aktualisieren kann, vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. von Heinz-Georg Held. München/Wien 1987 (ital. 1979), S.61ff.

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höchste, nämlich als solche, die zum Himmel weisen: Die Transzendenz des Endlichen durchzieht den Text als eine durchgängige Verweiskette. Das Extrablatt über hohe Menschen fasst das Bewusstsein um die zweite Welt in der hiesigen anschaulich als eine »steilrechte Ausdehnung«, die bestimmte Menschen von anderen unterscheidet, die ihre Lebensbahn »waagrecht«, »schief« oder im schlimmsten Fall »liegend« absolvieren und ordnet eine Figurengruppe zu: »und in meiner Geschichte gehören Ottomar, Gustav, der Genius, der Doktor darunter, weiter niemand.« Diese hohen Menschen der Loge verfügen neben den in »größern oder geringern Grade« vorhandenen Vorzügen der Ehrlichkeit, des Mitgefühls, der Ehre, Tugend und des Genialen noch über etwas, »was die Erde so selten hat«: die Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften Köder unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken. (I/1,221f.)

Es ist der Sinn für das Grenzenlose – wie es dann in der Magie der Einbildungskraft heißt –, der den hohen Menschen auszeichnet. Doch die auf den Platonischen Idealismus gegründete Denkfigur ist nicht ohne den zugehörigen Dualismus zu haben. Die Entgrenzungsbewegung der Seele stößt allenthalben an die Begrenzungen der Körperwelt: Das »Gewicht des Körpers« bindet die auffliegende Seele an »den ekelhaften Köder unsers Fußbodens« (I/1,221). Zur hohen Seele gehört aber nicht nur die vertikale, sondern auch die horizontale Bewegung: Die hohe Seele strebt stets einen Seelenbund mit ihresgleichen an. Diese doppelte Orientierung, vertikal und horizontal, wird mit Gustavs Höhlenerziehung initiiert. Die für die Entwicklung der Hauptfigur zum Bildungsziel des »hohen Menschen« zentrale und für die Anlage der Textbewegung zur Vertikalen grundlegende Höhlenerziehung29 wird vom Text her mit herrnhutischem Gedankengut motiviert: Gustavs Grossmutter, die Obristmeisterin von Knör, hatte die »herrnhutische« Laune durchgesetzt, »dass das erste Kind ihrer Tochter Ernestine für den Himmel sollte groß ––––––– 29

Die Forschung betont bei Gustavs Höhlenerziehung durchgängig das – zweifellos wichtige, aber nicht alleinige – Moment der Vertikalen und rückt folgerichtig die »Auferstehung« (I/1,62) ins Zentrum ihres Interesses. Schon von Berend als »Brennpunkt« des Romans identifiziert (SW I/2,XXXVI), hat diese Textszene entsprechende Aufmerksamkeit erhalten. Stellvertretend sei hier Beatrice Mall-Grob, Fiktion des Anfangs. Literarische Kindheitsmodelle bei Jean Paul und Adalbert Stifter. Stuttgart/Weimar 1999, genannt, die S.89ff. zeigt, wie die modellierende Seelenstrukturierung eines hohen Menschen als Genese des Sehnens nach dem Unendlichen angelegt ist, die ihre Effektivität erst nach der »Auferstehung« als verinnerlichte entfalten wird.

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gezogen werden, nämlich: acht Jahre unter der Erde« (I/1,34; vgl. auch 53). Für die Höhlenerziehung Gustavs engagiert sie Genius, den »beste[n] Herrnhuter«, und das Ergebnis der Erziehanstrengung wollen nach der »Auferstehung« aus der Höhle auf die Erde als erste die »herrnhutischen Brüder« und »Schwestern« begutachten (I/1,52, 62, 66). Damit ist die vom Text her benannte Ideologie, die die separatistische Höhlenerziehung motiviert, die institutionelle Geschwisterschaft Herrnhuts.30 Vom historischen Sachverhalt her ist es verblüffend, dass die Zinzendorfer Brüderunität für die Isolationsideologie der unterirdischen Erziehung einstehen muss. Beruhen doch deren Erziehungsgrundsätze in starkem Maße auf geselligem Austausch unter Gleichaltrigen, wofür die Struktur der Chöre geschaffen wurde, in der sich die Kinder geschlechterdifferent und altersgemäß entwickeln und auf ihre weltumspannende Geschwisterschaft vorbereiten sollten.31 Dass Jean Paul von dieser horizontalen Sozialstruktur einen Begriff hatte, zeigen die Gruppenangaben »Faszikel« und »Kompagnie« für die Herrnhuter deutlich an (I/1,66). Inwiefern das Herrnhutertum die Höhlenphase mitstrukturiert, erschließt sich darum nicht unmittelbar. Zumal die Isolierung eines Kindes von seiner Umwelt fraglos eine pädagogische Strategie ist, die sich auf Rousseaus Emile zurückführen lässt.32 Unter diesem of––––––– 30

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Die Herrnhuter übten durch ihre spezifische Lebensführung eine große Faszination auf die intellektuelle Elite aus und sind nicht zufällig ein oft genanntes Stichwort in Jean Pauls Texten. Die aus dem Erbe der mittelalterlichen Gebetsverbrüderungen hervorgegangenen Herrnhuter verstanden sich als ›geistliche Geschwister‹ im engeren Sinne und führten in ihrem Selbstverständnis und in ihren Statuten das Konzept der horizontal konzipierten Brüderlichkeit prominent fort. Sie gingen dabei viel weiter als die maurerischen Bruderschaften: So finden sich in der herrnhutischen Verfassung von 1727 radikaldemokratische Prinzipien und Verfahren. Die im Zentrum stehende Bruderliebe wurde über organisatorische Maßnahmen befördert: es bestanden so genannte ›Banden‹, die die individuelle Entwicklung und das Sozialleben maßgeblich prägten. Vgl. dazu Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine: 1700–2000. Göttingen 2000, S.19ff., sowie Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. von Hans Dieter Betz u.a. 4., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 1998, Bd.1, Sp.1435ff. Die Kindererziehung fand in Herrnhut in nach Alter und Geschlecht geordneten ›Chören‹ statt. Da die Eltern oft auf Missionsreisen waren, wurden die Kinder in Heimen untergebracht, so dass die ›Chöre‹ zur prägenden sozialen Einheit wurden. Im Zentrum der herrnhutischen Ideologie, wie sie der Gründer der Kolonie, Graf Ludwig von Zinzendorf, prägte, stehen Erfahrung und Empfindung von Gottes- und Bruderliebe. Letztere sollte sowohl beim Einzelnen als auch in der globalen Gemeinschaft gefördert werden. Entsprechend bestanden die Hauptaufgaben der Brüdergemeine in der Erziehung der Kinder und Jugendlichen sowie der Missionstätigkeit. Ausf. zur herrnhutischen Pädagogik vgl. Ruth Ranft, Das Pädagogische im Leben und Werk des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Weinheim/Berlin 1958. Emile bildet – wie in der Forschung schon wiederholt nachgewiesen worden ist – einen wichtigen Intertext für Jean Pauls Loge, und so liegt es nahe, die Isolationspädagogik als Bearbeitung von Rousseau zu lesen. Vgl. dazu schon Berend, SW I/2,XXXVII.

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fensichtlichen Verweisungszusammenhang gilt es darum, den der Isolationspädagogik und der Ausrichtung auf die Vertikale widersprechenden Subtext aufzudecken. Einen ersten Hinweis auf diese quer liegende Erziehungsstrategie liefert der Name des Erziehortes, der die »Dreibrüder-Kartause« genannt wird. Drei »steinerne Mönche« halten darin die klerikale Genealogie institutioneller Geschwisterschaft präsent (I/1,54). Darüber hinaus überlagert sich die Szenographie von Höhlenexistenz und Höhlenaustritt mit Diskurspartikeln sowohl eines pietistischen Erweckungserlebnisses, wie es als Gründungserlebnis die Geschwisterunität der Herrnhuter konsolidierte,33 als auch mit dem Geheimbundmaterial; signifikante Parallelen bestehen insbesondere zu den bei den Freimaurern praktizierten rituellen Inszenierungen von Tod und Wiedergeburt.34 Konkret fassbar aber wird die institutionelle Geschwisterschaft in der Erzähllogik erstmals mit den auftretenden Herrnhuterinnen und Herrnhuter. Deren Schilderung als »auf zwei Füße gestellt[e] Schafe« (I/1,66) indiziert zwar eine satirische Lesart,35 doch lässt sich das Herrnhuterthema nicht auf diesen Rahmen reduzieren: dafür ist die Höhlenerziehung ein zu zentrales Element. Auch ist die Geniusfigur frei von Satiresignalen und wird deutlich von den »Schafe[n]« abgesetzt:36 Diese unterschiedliche Qualifikation wird vielmehr lesbar als eine Differenzerfahrung von Ideologie und Realität, die nicht nur textimmanent als zwei Qualitäten von Herrnhutertum in der Loge unterschieden werden kann, sondern sich auch aus dem kulturellen Wissen über institutionelle Geschwisterschaften der Zeit speist.37 ––––––– 33

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Ein kollektives Erweckungserlebnis bei einer Abendmahl-Feier am 13. August 1727 begründete nachhaltig die Einheit der Gemeine unter der geistigen Führung von Zinzendorf. Vgl. RGG I [Anm.30], Sp.1439. Vgl. dazu Voges [Anm.2], S.538ff., spezifisch zu Initiationsritualen S.85ff., Heinz Schlaffer, Jean Pauls Mysterien, in: JJPG 32/33 (1998), S.33–45, Christian Sinn, Überzeugen und Rühren: Topik und Kritik der Leidenschaften in Jean Pauls »Die Unsichtbare Loge«, in: Leidenschaften literarisch, hrsg. von Reingard M. Nischik. Konstanz 1998, S.141–162, hier: S.149ff., sowie Ch.S., Aufklärung und Arkanum [Anm.2]. Auch die Geniusfigur lässt sich ihrem Namen nach im Kontext des Geheimbundmaterials situieren, gehört sie doch zum typischen Figurenarsenal, vgl. Voges [Anm.2], S.394. Pikant daran ist, dass die Formulierung im herrnhutischen Diskurs selbst beheimatet ist. So Zinzendorf, über die Kinder in den ihnen zugewiesenen Gruppen: »sie gehen mit den andern Schafen«; zitiert nach Ranft [Anm.31], S.27. »Allein der Genius [...] lag nicht an jenen das Herz einschraubenden Krämpfen des Herrnhutismus krank, er nahm bloß das Sanfte und Einfache von ihm« (I/1,53). Zeitzeugnisse von Logenmitgliedern bekunden vielfach die Enttäuschung über die Diskrepanz zwischen der egalitär-humanitären Ideologie und der hierarchisch-sanktionsreichen Realität der Geheimgesellschaften, deren Arkanwissen sich zudem mit zunehmendem Grad

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Die geschwisterliche Ideologie, die in Gustavs Seele ›gepflanzt‹ wird,38 ist in den Erziehreden des Genius fassbar als Entwurf horizontaler Beziehungsstrukturen. So stellt er Gustav auf der als Himmel beschriebenen Erde interpersonale Beziehungen folgendermaßen in Aussicht: »im Himmel ist alles voll Seliger, und da sind alle die guten Leute, von denen ich dir so oft erzählet habe, und deine Eltern« (I/1,58). Neben den auf der Vertikalen situierten Eltern werden Gustav alle anderen als »die guten Leute« vorgestellt, die der Genius »sämtliche Gustave [...] nennte« und damit der Horizontalen zuordnet.39 Die Ausdehnung des Eigennamens auf alle andern guten Menschen erweist diese als kollektive Doppelgänger. Gustavs Beziehungsfähigkeit wird in seiner Bildung so modelliert, dass er nach einem alter ego, nach dem Gleichen im Anderen suchen wird. Und dafür steht nicht nur das Prinzip geistlicher Geschwisterschaft, sondern auch eine Geschwisterkonfiguration aus dem kulturellen Imaginären Pate: Geschwister bilden jenen kulturell verbürgten Rahmen, auf den für die Gestaltung des Doppelgängermotivs seit Plautus Menaechmi (um 200 v.Chr.) immer wieder – und wiederholt auch von Jean Paul – zurückgegriffen worden ist.40 Damit legt die Höhlenerziehung in Gustavs Seele nicht nur die Keimzelle für das Sehnen nach Transzendenz, sondern auch für die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit ihresgeleichen. Für den in der Loge angestrebten Seelenbund höherer Menschen steht also die Geschwisterschaft Modell: Jene »Verlegenheit«, die Gustav von anderen unterscheidet, nehmen »höhere Menschen [...] für das Ordenkreuz ihres Ordenbruder« (I/1,65f.).41 Doch auch die horizontale Seelenbewegung wird, wie schon weiter oben für die vertikale gezeigt, durch den Körper begrenzt. Wie sich die drei hohen Menschen der Loge, die nach dem Verschwinden des Genius als handelnder Figur diesen ––––––– 38

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an Einweihung als rein funktionales, doch inhaltlich leeres Organisationsprinzip erwies. Vgl. ausf. dazu Voges [Anm.2], S.63ff. Die botanische Metaphorik der Erziehung ist ein durchgehendes Stilmerkmal, vgl. z.B. I/1,54. Genau nennt der Genius die guten Leute »sämtliche Gustave und Selige [...], von denen wir bald sehen sollen, warum sie mit Schwabacher gedruckt sind!« (I/1,55). Die typographische Differenz unterbricht die Analogie des Genius, der die Erde in Gustavs Seele als Himmel konstruiert, da mit den »Selige[n]« Protagonisten ins Spiel kommen, deren Zuordnung zum Himmel von anderer – echter und nicht nur vorgestellter – metaphysischer Qualität ist. Als »gute Menschen«, die Gustav auf der für den Himmel gehaltenen Erde erwarten kann, verbleiben damit die so genannten »Gustave«. Motiv und Wort des »Doppeltgänger[s]« verdanken Jean Paul bekanntlich ihren entscheidenden Durchbruch in der deutschen Literatur, vgl. I/2,66f. In der Vorschule beruft auch Jean Paul sich auf Plautus, vgl. I/5,113. Die Formulierung hält nochmals die klerikale Genealogie präsent.

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Typus im Text allein noch vertreten, in einer »engen Umarmung« zu einem »Bund der Liebe« zusammenfinden, in der »keine Entfernung [...] klein genug zu sein vermochte«, spricht Ottomar die Desillusionierung aus: – wir selber sind nicht beisammen – Fleisch- und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt? (I/1,321)

Die direkte Seelenkommunikation ist nicht möglich, sie ist nur im Raum des Denkens anzusiedeln. Die Drei-Männer-Umarmung konkretisiert das »Ordenkreuz« der »Ordenbr[ü]der« als Zusammenkommen von vertikaler mit horizontaler Seelenbewegung und überführt mit dem strukturell angrenzenden Bildfeld des Gitters die platonische Metapher vom Leib als Kerker der Seele in ein spannungsgeladenes und mehrschichtiges Bild: Zum einen verweisen die »Bein-Gitter« auf den von der Seele verlassenen Körper in seiner dauerhaftesten Ausprägung, derjenigen des Skelettes, und verdeutlichen damit die Persistenz des Leiblichen über den Tod hinaus. Zum anderen ist das Gitter mit seiner ambivalenten Struktur von Abgrenzung und Durchblick dem Gefängnis als Bildfeld zugehörig und steht damit sowohl für die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der anderen als auch für den Durchblick auf das erwünschte Andere. Die platonische Herkunft dieses prekären Verhältnisses von ins Transzendente aufstrebender und im Immanenten verbindungswilliger Seele macht das Extrablatt mit einer expliziten Bezugnahme auf Platons »Republik« und dem dort entworfenen Bild »vom tugendhaften Manne« deutlich, mit dem die Ideenlehre in einen gesellschaftspolitischen Rahmen eingeordnet wird (I/1,222).42 Damit ist ein erster Baustein für das Programm der Bruderschaft der unsichtbaren Loge gewonnen: eine Art Jenseitsgemeinschaft im Diesseits, die zugleich eschatologisch und sozialpolitisch konzipiert ist.

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Platon entwickelt in seiner Politeia (in der römischen Übersetzung De re publica und von daher die Jean Paulsche Eindeutschung der Republik) sowohl sein wirkungsmächtiges Höhlengleichnis, das Kernstück seiner Ideenlehre, das philosophiehistorisch stilbildend für die Formulierung des Leib-Seele-Problems geworden ist, als auch den Entwurf eines idealen Staates, in dem das Ziel der Gerechtigkeit über die gemeinsame und gleichberechtigte Bildung aller Jungen und Mädchen erreicht werden soll: Die neugeborenen Kinder werden nicht von ihren leiblichen Eltern, sondern von Erziehern als eine große Geschwistergemeinschaft erzogen, und die Zugehörigkeit zu einem Stand (Handwerker- und Bauernstand, Wächter oder Philosoph respektive Regent) erfolgt über persönliche Bildung und Leistung, nicht Geburt. Ausgenommen davon sind allerdings unrechtmäßige Geburten, sie haben in Platons Idealstaat kein Recht auf Leben.

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Geheime Gesellschaften Die konkrete Umsetzung dieses paradoxen Konzepts müsste allerdings so abstrus ausfallen, dass dies nur parodistisch erzählt werden kann. Im Anschluss an die erhabene Formulierung eines Seelenbundes, dessen Vervollkommnung am Widerstand des jeweiligen Leibes scheitert, verfolgt darum eine ganze Reihe parodistischer Argumente konkret die Frage, wie der störende Leib beiseite geschafft werden kann. Eine Form der Entkörperung, so heißt es da, sei beispielsweise bei den Hofleuten anzutreffen, die im Gegensatz zum anthropologischen Idealbild des ganzen Menschen sämtlich »nicht ganz« seien: darum sehe diese »fragmentarische Division wie ein Phalanx von Krüppeln aus«. Angeschlossen werden theologiehistorische Überlegungen zu der Frage, mit welchen Materieteilen wir auferstehen, und schließlich folgt als Kernstück der Argumentation das Entkörperungsprogramm von »geheimen mystischen Gesellschaften«: Heutiges Tages muß jede Seele von – Stand desorganisiert und entkörpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als zwei ganz verschiedne Operationen. Die kürzeste und schlechteste meines Erachtens ist die, daß sich der Mensch – aufhenkt und daß so die Seele den Körper von sich wie eine Warze abbindet. Ich würde keinen Großen deshalb tadeln, wenn ich nicht wüßte, daß er die weit bessere und sanftere Operation vor sich habe, wodurch er seinen Leib gleichsam als die Form, worein die geistige Statue gegossen ist, bloß gliedweise ablösen kann. Ich will hier nicht in den Fehler der Kürze, sondern lieber in den entgegengesetzten fallen. (I/1,323f.)

Es folgt eine detaillierte Beschreibung, wie die Seele sich gemäß »Philosophen, die auch eine Seele haben«, Körperteile »nach und nach zerfressen und abbeißen« muss, bis es zur »völligen Ertötung nicht mehr weit« ist und die Seele im Meere des Seins endlich schwimmen gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel, als man zum Verkorken einer Flasche bedarf, noch um sich zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenigstens trägt man in geheimen Gesellschaften von Ton die menschliche Entkörperung vor. (I/1,324f.)

Die dreifache Nennung geheimer Gesellschaften43 und die zusätzliche derivative Formulierung der »zerbrochne[n] Gesellschaft« (I/1,325) lassen angesichts der sonst dünn gesäten Hinweise auf die titelgebende Arkangesellschaft der Loge aufhorchen. Zwar handelt es sich fraglos um eine Satire, die die Überhöhung der Seele von einer materialistischen Position aus ad absur––––––– 43

Zwischen den beiden zitierten Stellen findet sich noch die Formulierung: »Der philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer desorganisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen beiseite« (I/1,325).

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dum führt und die zugehörige philosophische Position der Körpervergessenheit als eine Selbstkasteiung konkretisiert, die jedes Folterprogramm in den Schatten zu stellen vermag. Dennoch umkreist diese Argumentation genau jene Leerstelle, die die unsichtbare Loge überschreiben soll.44 Jean Paul tut dies wohl mit einer Referenz auf den Geheimbund der Illuminaten, zu dessen Leitideen die Frage einer Vorstellung von Seelenwanderung gehörte.45 Die für das Geheimbundwesen typische esoterisch-politische Doppelfunktion46 ermöglicht es Jean Paul, das transzendentale Kernstück des Romans – die Höhlenerziehung und Bildung zum hohen Menschen – mit dem noch näher zu bestimmenden gesellschaftpolitischen Thema zu verbinden. Die ––––––– 44

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Dafür spricht auch, dass Ottomar, der im Zentrum der Arkangesellschaft der Loge steht, kurz zuvor im Erzähltext eine vergleichbare Entkörperung von Hofleuten »in Gedanken« vornimmt (I/1,318). Maximilian Bergengruen, Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, macht die Passage I/1,324f. stark und interpretiert sie gemäß der Strategie der frühen Satiren als Hinweis auf eine Parodie des gesamten, in dieser Lesart nur empfindsam scheinenden Romans. Sinn, Aufklärung und Arkanum [Anm.2], S.69, weist darauf hin, dass die Befreiung vom Leiblichen ein zentrales Thema in Christoph Meiners Mysterienschrift Über die Mysterien der Alten besonders über die Eleusinischen Geheimnisse (1776) ist, auf die sich der Gründer des Illuminatenordens, Adam Weishaupt, stützte. Dessen Schriften über Sinn und Zweck der Illuminaten waren nach dem Verbot des Ordens in den achtziger Jahren in rascher Folge erschienen und damit öffentlich geworden. Genauer zu Meiners Rolle (zusammen mit Johann Georg Heinrich Feder) als »philosophische Autoritäten« (S.32f., S.36) der Illuminaten und zu Weishaupts eigener philosophischer Position eines »sensualistischen Idealisten« (besonders S.55ff.) vgl. Martin Mulsow, »Steige also, wenn Du kannst, höher und höher zu uns herauf.« Adam Weishaupt als Philosoph, in: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, hrsg. von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Riedel. Würzburg 2002, S.27–66. – Dass Jean Paul in der Loge insbesondere auf den Bund der Illuminaten Bezug nimmt, ist in der Forschung schon oft geäussert worden, wobei die Einschätzungen, wie er das tut, sich diametral entgegen stehen: Harich [Anm.2] geht von Jean Pauls literarischer Verstärkung der politischoppositionellen Bedeutung des Logenwesens gemäss seiner These der »RevolutionsDichtung« aus (bes. S.174ff.), Voges [Anm.2] dagegen macht plausibel, dass das Geheimbundmaterial der Loge seinen Realitätsgehalt aus der ästhetischen Funktionalisierung innerhalb der Romanstruktur bezieht, daran knüpft Jordheim [Anm.2] an. Sinn, Aufklärung und Arkanum [Anm.2], untersucht dagegen ohne Rückbezug auf die schon bestehende Forschungslage die Frage, inwiefern Jean Paul konkrete Logen allegorisiere. Neben der politisch-gesellschaftlichen Dimension spielt die intellektuell-esoterische im Geheimbundwesen eine wichtige Rolle. Diese ist um Begriff und Sache des Geheimnisses zentriert und verspricht den Eingeweihten die stufenweise Partizipation an überwältigendem Geheimwissen. Das Arkanum, die Kehrseite der Aufklärung, zog gerade die aufgeklärte intellektuelle Elite in ihren Bann. Die neueste Forschung hält diese esoterische Dimension für den eigentlichen Kern des Geheimbundwesens. So am Beispiel der Freimaurer, der erfolgreichsten und von den Neugründungen zum Vorbild genommenen Gesellschaft, Monika Neugebaur-Wölk, Zur Konzipierung der bürgerlichen Gesellschaft. Freimaurerei und Esoterik, in: Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, hrsg. von Joachim Berger und Klaus-Jürgen Grün. München/Wien 2002, S.80–89, ausf. zur freimaurerischen Ideologie vgl. auch Voges [Anm.2], S.23ff.

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Illuminaten dürften sich dazu aus verschiedenen Gründen angeboten haben. Inhaltlich verbinden die Erziehung zur Tugend und zu vorbildlichen Menschen – diesem Ziel trug der erste Name »Perfektibilisten« des neu gegründeten Bundes Rechnung47 – sowie die versuchte Unterwanderung bestehender politischer Strukturen über tugendhafte Herrscher das Programm der Illuminaten mit der Loge. Von seiner Struktur her war der Geheimbund der Illuminaten der unsichtbarste aller Geheimbünde, da er organisatorisch die bestehenden Freimaurerlogen unterwanderte und im Unterschied zu letzteren – jedenfalls bis zu seinem Verbot – keine Öffentlichkeitsarbeit machte, sondern tatsächlich unsichtbar blieb48 und damit der Loge ihr titelgebendes Stichwort lieferte.49 Und dann ist nicht zuletzt auch die geographische Nähe zu nennen: Bayern und damit der hauptsächliche Aufenthaltsort des jungen Jean Paul war das Stammland des 1776 in Ingoldstadt gegründeten Bundes. Zur Schreibzeit der Loge existierte der Geheimbund der Illuminaten offiziell zwar nicht mehr, doch um so mehr wurde über ihn gesprochen: Die durch Cagliostros so genannten ›Geständnisse‹ von 1790 ausgelöste Verschwörungstheorie, gemäß der die Illuminaten maßgeblich die französische Revolution zu verantworten hätten, wurde international rege diskutiert und löste in Bayern eine regelrechte Geheimbundhysterie aus.50 In diesem Klima diskursiver ––––––– 47 48 49

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Vgl. dazu Müller-Seidel/Riedel [Anm.45], S.25. Vgl. dazu ebd., S.28, S.44. Weiterer Stichwortgeber ist der Begriff der ›unsichtbaren Kirche‹, der im Protestantismus die ideelle christliche Glaubensgemeinschaft von den leiblich greifbaren Repräsentanten und Gemeindemitgliedern unterscheidet, und im Kontext freimaurerisch geprägter zeitgenössischer Diskussionen um eine imaginäre Einheit des Menschengeschlechts (z.B. in Lessings Freimaurergesprächen Ernst und Falk) eine große Rolle spielte. In der Loge fällt der Begriff der »unsichtbaren Kirche« (I/1,227) im Rahmen eines der bei Jean Paul so häufigen Gleichnisse. Um 1790 intensivierte sich in Deutschland die öffentliche Debatte über einen Zusammenhang zwischen der französischen Revolution und den geheimen Gesellschaften. Anlass dafür war Cagliostros Behauptung, die Freimaurer und insbesondere die Illuminaten hätten die französische Revolution geplant und würden sich nun mit vergleichbaren Absichten anderen europäischen Staaten zuwenden. In der Folge verbreitete die Wiener Zeitschrift 1793 erfolgreich die These, die Illuminaten seien die Urheber der französischen Revolution, diese sei damit eigentlich eine bayrisch-deutsche. – Die Verbindung zwischen Illuminaten und der Französischen Revolution wurde von den Verschwörungstheoretikern in der Paris-Reise von 1787 der Illuminaten Johann Joachim Christoph Bode und Wilhelm von dem Busche festgemacht. Zwar war der Orden der Illuminaten schon 1784/85 offiziell verboten worden, Mitglieder des Ordens waren öffentlich verfolgt und zahlreiche Zensurmaßnahmen umgesetzt worden. Doch um 1790 erneuerte und verschärfte der bayrische Kurfürst das Illuminatenverbot: Priester und Beamte hatten in der Folge zu schwören, dass sie den Illuminaten weder angehört hatten noch je angehören würden. Vgl. dazu Rogalla Johannes von Bieberstein, Die These von der freimaurerisch-illuminatischen Verschwörung, in: Geheime Gesellschaft.

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Verhandlungen und imaginärer Übersteigerungen ist Jean Paul nur einer unter anderen Autoren, die das Geheimbundmaterial literarisch verarbeiten:51 mit dem Unterschied aber, dass Jean Paul dies parodistisch tut: So nimmt Jean Paul in der Loge auf die illuminatische Verschwörungstheorie Bezug, in dem er Cagliostro an einem Souper bei der Residentin teilnehmen lässt, bei dem neben dem Fürsten auch Gustav und Beata anwesend sind (vgl. I/1,268f.). An dieser untypischen Bearbeitung des Geheimbundmaterials liegt es wohl, dass Knigge in seiner Rezension der Loge keine Verbindungen zwischen dem Romantext und der Diskussion um die Illuminaten herzustellen vermag, gäbe es unter den zeitgenössischen Rezipienten doch kaum einen, der dafür geeigneter wäre.52 Aus seiner parodistischen Verschiebung in eine »zerbrochne Gesellschaft« (I/1,325) soll in der Loge also das Programm der titelgebenden Arkangesellschaft erschlossen werden: Ein Bund liebender Seelen und hoher Menschen, die den Leib imaginär zu transzendieren suchen, um zu einer freien Seelenkommunikation zu finden. Organisiert ist dieser Bund in der dafür typischen brüderlichen Struktur, politisch verfolgt er wohl – so ist aus dem Subtext der illuminatischen Verschwörungstheorie zu schließen – republikanische Ziele. Um zu prüfen, ob sich für diese Vermutung weitere Textbelege finden lassen, gilt es nun, die im Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto angelegte zweite Rezeptionsrichtung aufzunehmen, die den geheimen Naturforscher auf eine gesellschaftspolitische Dimension lenkt. Gesellschaftskritik Es ist vor allem die Jean Paul-Forschung der 1970er Jahre, die Jean Pauls Texte sozialkritisch gelesen und in dem nun schon mehrfach zitierten Brief zur »Titelfabrikatur« (SW III/1,359) ihre Legitimation dafür gefunden hat. Wolfgang Harich, der die für diese Forschungsrichtung maßgebliche Arbeit ––––––– 51

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Weimar und die deutsche Freimaurerei, hrsg. von Joachim Berger und Klaus-Jürgen Grün. München/Wien 2002, S.28–39. Vgl. ausf. dazu Voges [Anm.2]. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass es vor allem der Bund der Illuminaten – oder genauer der Diskurs über diesen ist, der literarische Transpositionen angeregt hat. Vgl. Müller-Seidel/Riedel [Anm.45], und bahnbrechend hierfür: Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996. Knigge war einer der führenden Köpfe des Illuminatenordens und rivalisierte mit dem Gründer, Adam Weishaupt, um die ideologische und organisatorische Vormachtstellung. Knigge unterlag in diesem Machtkampf. Vgl. u.a. Theo Stammen, Adolph Freiherr von Knigge und die Illuminatenbewegung, in Müller-Seidel/Riedel [Anm.45], S.67–89.

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vorgelegt hat, liest daraus die politische Absicht heraus, den kleinstaatlichen Despotismus durch eine Revolution zu stürzen.53 Auf der Basis einer Gesamtbeurteilung der sozialkritischen Züge des frühen Jean Pauls – seiner Parteinahme für die Armen, seiner Adelskritik, seiner Begeisterung für die frühe Phase der französischen Revolution und seiner Hochschätzung der intellektuellen und politischen Leistungen Englands – interpretiert Harich Jean Paul als radikalen Demokraten, der in seinem ersten Roman die Loge als ideellen Angelpunkt zum Sturz des kritisierten Feudalsystems setze. Mit dieser These überzieht Harich fraglos die zuvor sorgfältig extrapolierten sozialkritischen und revolutionsbejahenden Äußerungen Jean Pauls, denn im ausgearbeiteten Text der Unsichtbaren Loge sind solch klare politische Intentionen nicht auszumachen. Gänzlich unpolitisch aber ist die Loge denn doch nicht.54 Zu nennen ist hier die Adels- und Hofkritik, die sich als wichtigstes Satirenthema durch sämtliche Jean Paul-Texte hindurch zieht.55 In der Loge fungiert Ottomar, bei dem alle Fäden der Arkangesellschaft zusammen laufen, auch als »Verfasser einer Satire über den Fürsten«, jedenfalls wird diese Verfasserschaft vom Erzähler vermutet und über Motivwiederholungen wahrscheinlich gemacht (I/1,376). Zu diesen Wiederholungen gehört der Motivkomplex der »Räuber«, den Ottomar schon in einem früheren Brief an Fenk aufgegriffen hatte: »sooft ich zusah, so wünscht’ ich, ich würde gehenkt mit meinen Räubern, wär’ aber vorher ihr Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Verfassung nieder!« (I/1,220). Das Stichwort der Räuber bündelt die offenbar gewordenen Aktivitäten der Arkangesellschaft, »die überhaupt weit humoristischer und unschädlicher stiehlt als jede andre« (I/1,377): So haben diese Spießgesellen im Textverlauf schon das anlässlich der Fürstentrauer in Kirchen ausgelegte »Landtrauertuch« (I/1,110), ein unverdientes »GrafenDiplom«, »wichtige Akten« sowie alle Theaterkostüme mit Ausnahme der »bäurische[n]« gestohlen (I/1,377). Damit nimmt die Räuberbande einen ––––––– 53 54

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Vgl. Harich [Anm.2], S.117. Vgl. grundsätzlich zu politischen Inhalten bei Jean Paul Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien. Frankfurt a.M. 1989, S.143ff.: Wölfel attestiert Jean Paul ein hohes politisches Bewusstsein, das sich in theoretischen Erörterungen und Satiren, aber nur marginal innerhalb der erzählten Geschichten manifestiere. Darauf ist in der Forschung schon oft hingewiesen worden, vgl. z.B. Peter Sprengel, Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden an der Gesellschaft. Hamburg 1977, S.15ff. Jean Pauls Adelskritik liegt von ihrem politischen Gehalt her ganz im Rahmen dessen, wie sich die zeitgenössische Literatur hier positioniert. Das liegt unter anderem daran, dass Jean Pauls Kenntnisse der höfischen Welt zur Schreibzeit der Loge noch durchgängig literarisch vermittelte sind. Speziell an Jean Pauls Adelssatire ist hingegen schon hier, mit welcher Anschaulichkeit und Detailversessenheit er sie formuliert.

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ständekritischen Standpunkt ein: Über das Entwenden von zeremoniellen und theatralischen Requisiten sowie von für unzulässig gehaltenen Urkunden übt die Arkangesellschaft Kritik an Adel und Klerus. Diese Aktionen werden vom Erzähler als ›humoristisch‹ und ›unschädlich‹ qualifiziert, offenbar hegt ›Jean Paul‹ große Vorbehalte bezüglich der Wirksamkeit der Konspiration. Erstaunlich ist deshalb, dass die räuberische Arkangesellschaft im Untergrund lebt,56 jedenfalls zeitweilig: »alle sieben Wochen auf fünf Tage« finden konspirative Treffen in Höhlen statt, über deren Inhalt nichts offenbar wird (I/1,213).57 Bleibt das politische Programm im Halbdunkeln, so wird über die wiederholte Nennung der Räuber jedoch deutlich, dass die sozialpolitischen Bausteine der Loge literarisch vermittelt sind: Schillers von Jean Paul hoch geschätzter Sturm- und Drangtext liefert hierfür die intertextuelle Folie.58 Schillers Räuber sind nicht der einzige literarische Intertext für die Konspirationsszenarien der Loge. Zu nennen ist hier zum einen Wilhelm Friedrich von Meyerns Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt, ein in einem weder historisch noch geographisch fassbaren Indien spielender Geheimbundroman, der 1787–89 anonym erschienen war und den Jean Paul nachweislich geschätzt hat. Zum andern spielt das von Jean Paul wiederholt eingesetzte Narrativ vom verborgenen Prinzen eine Rolle.59 Diese Intertexte sind zwar insbesondere für den Hesperus und den Titan wichtig geworden, doch auch schon in der Loge greifbar. Das Narrativ vom verborgenen Prinzen ist im Handlungsverlauf vor allem über die Vorar––––––– 56

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Vgl. I/1,376f. Die Topographie der Höhle ist eines der durchgängigen Attribute der Arkangesellschaft: Gustavs Erziehung zum hohen Menschen findet ebenso in einer Höhle statt wie die Versammlungen dieser »unterirdische[n] Menschenwelt« (I/1,419f.), deren Entdeckung schließlich zum Scheitern ihrer Aktivitäten und zum Abbruch des Erzähltextes führt, da der Erzähler dem dabei gefangen genommenen Gustav zu Hilfe eilen muss. Vgl. auch I/1,194, 318, 409. Der intertextuelle Verweis auf Schillers Räuber und die Verbindung mit den Streichen der Loge ist in die Jean Paul-Forschung von Berend eingebracht worden (SW I/2,460) und schon Harich [Anm.2], S.174ff. verbindet diesen Motivkomplex mit dem illuminatischen Subtext. Vgl. zu diesen und weiteren Intertexten Berend in SW I/2,XXXIVf., Harich [Anm.2], S.166ff., Köpke [Anm.2], S.349ff., Götz Müller, Der verborgene Prinz. Variationen einer Fabel zwischen 1768 und 1820, in: ders., Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze, mit einem Schriftenverzeichnis hrsg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1996 (1982), S.29–44, Ralf Behorst, Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie. Tübingen 2002, S.251ff., Monika Schmitz-Emans, Die Erfindung des Menschen auf dem Papier. Jean Pauls »Unsichtbare Loge«, der Fall Kaspar Hauser und Jacob Wassermanns »Caspar Hauser«-Roman, in: JJPG 40 (2005), S.150–178, hier: S.160ff., Jordheim [Anm.2], S.260ff. Schillers Geisterseher, der Prototyp des Geheimbundromans, fungiert in der Loge dagegen höchstens über verallgemeinerbare Systemmerkmale des Genres als Intertext. Vgl. dazu Voges [Anm.2], S.543.

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beiten zu erschließen,60 die Dya-Na-Sore mit ihrer Verbindung von leiblichen Brüdern und Bundesbrüdern, die in einer durch Sittenverrohung gekennzeichneten Gesellschaft eine an sittlichen Idealen orientierte gesellschaftliche und politische Erneuerung herbeiführen sollen, liefert jedoch eine deutlich fassbare Systemreferenz für das Geschwisterdispositiv der Loge.61 Neben diesen im Literatursystem verbleibenden Transpositionen sozialpolitischer Entwürfe62 gibt es auch einige Reminiszenzen auf nicht primär Literarisches. Auch hier ist es die Figur Ottomars, an der am ehesten ein politischer Diskurs zum Tragen kommt: Die Höfe erzürnten ihn durch ihre Gefühllosigkeit, durch seinen Bruder, durch den Volkdruck, dessen Anblick ihn mit unüberwindlichen Schmerzen erfüllte. [...] Auch war ihm wenig daran gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete; mitten unter großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unsichtbar und verächtlich [...]. (I/1,317f.)

Ottomar, der illegitime Bruder des Fürsten, ist nicht nur ein satirischer Hofkritiker, sondern auch Republikaner. Damit ist er doppelt im Geschwisterdispositiv verankert, und dies beide Male in einem politischen Kontext: Als Halbbruder des Fürsten ist er über eine eigentliche – wenn auch keine rechtmäßige – Geschwisterschaft mit der Herrschaftsstruktur verbunden, die er mit seinen republikanischen Bundesbrüdern stürzen oder reformieren will.63 Anzunehmen ist, dass die Verwirklichung republikanischer Ideen und Ideale auch in der Loge letztlich nicht über eine Revolution, sondern über indirekte Gewaltnahme angestrebt wird, wie sie im Narrativ des verborgenen Prinzen angelegt und im Hesperus und Titan ausgeführt wird. Erzählt wird solches in ––––––– 60

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Im Text verweist das verschwundene Kind Ottomars darauf, vgl. dazu Berend in SW I/2,XXIIIff. Wie noch zu zeigen sein wird, umspielt das zweite Romanprojekt, das in der Loge um die Figur Gustav konzipiert wird, Oefels Großsultan, dieses Narrativ des verborgenen Prinzen. Müller [Anm.59], S.30, weist die Nähe der Fabel vom verborgenen Prinzen zum Programm der Illuminaten nach, da beide eine indirekte Gewaltnahme auf der Basis von Tugenderziehung vorsehen. Orientiert hat sich Jean Paul auch am Sprachduktus der Dya-Na-Sore, deren elegischen Stil er sich in seinem »roten Erfindungsbuch« zum Vorbild nehmen wollte und an den er noch in der Vorschule (§ 86) anknüpft. Vgl. Berend in SW I/2,XXXIVf. Was Jean Paul bei seiner ersten Lektüre nicht wusste: Der Autor des von Schiller in einer Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr.103 vom 29.4.1788 zerrissenen Erfolgsromans stammte aus der mittelbaren Nachbarschaft Jean Pauls, aus Ansbach. Nachzutragen ist hier noch das Genre des Staatsromans, das die politische Handlung der Loge ebenfalls speist, wie sich deutlich an der utopischen Insel, einem Kernelement der Staatsutopie, zeigt. Vgl. dazu Voges [Anm.2], S.539, Jordheim [Anm.2], S.277ff. Diese republikanische Gesinnung gibt er an Gustav weiter, vgl. I/1,318. Grundsätzlich zu Jean Pauls »poetische[m] Republikanismus« vgl. Wölfel [Anm.54], S.171ff.

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der Loge aber nicht, einzig Gustavs sorgfältige Erziehung durch den Herrnhuter Genius ist ausführlich Thema, und schon Gustavs Einbindung in die Arkangesellschaft um Ottomar muss erschlossen werden. Das Geschwisterdispositiv bei Jean Paul Es ist das Geschwisterdispositiv, das die Verbindung zwischen der herrnhuterischen Erziehung und dem Logenwesen leistet, die dafür notwendige Disposition schafft die mehrschichtige Geschwistergenese, die Gustav als Kind durchläuft. Wie das Einzelkind Gustav zu Geschwistern kommt, wird im Anschluss an eine allegorische Geburtssituation erzählt und damit in jenen Kontext gestellt, in dem Geschwister realiter entstehen. Das unterirdische Erziehexperiment wird nach den vereinbarten acht Jahren mit der sorgfältig inszenierten »Auferstehung« (I/1,62) beendet. Der Tag, an dem der Austritt aus der dunklen Höhle und der Eintritt in die Welt statt findet, ist bezeichnenderweise Gustavs »Geburttage« (I/1,59), allerdings sein zehnter. Die Geburtsmetaphorik dieser Szene speist sich aus der im kulturellen Gedächtnis tradierten Verknüpfung von dunkler Höhle und Uterus. Doch der Text belässt es nicht bei diesem Gemeinplatz, sondern führt die Geburtsisotopie weiter aus, indem allegorisch der Geburtskanal, ein Geburtshelfer und der Schnitt, der die Nabelschnur durchtrennt, lesbar werden.64 Da Gustav in diesem Sinne erst zehnjährig zur Welt gekommen ist, sieht seine Umgebung, sehen insbesondere seine Eltern ihn als »einen Neugebornen«. Alles ist ihm unbekannt und damit auch »gefährlich«. Dies bewahrheitet sich just dann, als das Ergebnis des Erziehexperiments von »herrnhutischen Brüdern« und einer »Schwesterschaft« Herrnhuterinnen, aus deren Ideologie die unterirdische Versuchsanordnung im Romantext ja hervorgegangen ist, bestaunt werden soll. Doch Gustav ist weg. Erst nach drei Tagen taucht er wieder auf: Ein Reisewagen setzt ihn wohlbehalten vor der heimischen Schloss-Haustüre ab. Zwei entscheidende Prägungen resultieren ––––––– 64

So verlässt Gustav die Höhle über einen »Nachtgang« und am Höhlenausgang »stösset« der Genius »die Pforte auf, hinter der die Welt steht« (I/1,62). Mit dem Genius als Geburtshelfer wird eine der Bedeutungsschichten aktiviert, die im antiken Begriff des Genius liegen; vgl. zu letzterem Mall-Grob [Anm.29], S.93. Der Schnitt zwischen der Höhlenexistenz und dem Eintritt in die Welt, der in der hier verfolgten Lesart für das Durchtrennen der Nabelschnur steht, wird im Text durch ein zerschnittenes Notenblatt symbolisiert. In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit, die »Auferstehung« aufgrund der systematisch durchgeführten Metaphorik als Allegorie zu lesen, wobei die Geburtsallegorie besonders häufig genannt wird.

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aus dieser geheimnisvollen dreitägigen Abwesenheit. Die eine wird als »Hals-Gehenk« in Form eines ihm zum Verwechseln ähnlichen Porträts manifest, die andere als Erinnerung an ein »Schwesterchen, das mit ihm gespielet«. Eine briefliche Erklärung und der eingefügte Erzählerkommentar vermitteln das Porträt und die erinnerte Schwester Beata so miteinander, dass Beata und Gustav – ohne blutsverwandt zu sein – im »Hals-Gehenk« einen gemeinsamen Halbbruder Guido haben, der Gustav »so ganz, sogar bis auf die Haare« gleicht (I/1,65–68). Mit diesem Textarrangement rückt Gustav explizit ins Zentrum von Geschwisterverhältnissen, und dies auf dreierlei Ebenen: erstens über ein medial vermitteltes physiognomisches alter ego oder als Geschwisterbeziehung des ›äußeren Menschen‹, zweitens über die erinnerungsgestützte Beziehung zu einer Schwester oder als Geschwisterbeziehung des ›inneren Menschen‹ und drittens als Fortwirken der herrnhutischen Erziehung in der unterirdischen »Dreibrüder-Kartause« (I/1,54) oder als institutionelle Geschwisterschaft. Dabei ist aus den Vorarbeiten ersichtlich, dass Jean Paul bei der institutionellen zuerst an eine Verbindung mit einer eigentlichen Geschwisterschaft gedacht hatte: Wie aus dem Schmierbuch hervorgeht, wollte Jean Paul die Geniusfigur mit Guido, dem Halbbruder Gustavs identifizieren, hat diesen Plan dann aber nicht ausgeführt.65 Die Pointe an dieser mehrschichtigen Geschwistergenese ist, dass solches an einem Kind statuiert wird, das als Einzelkind über keine eigentlichen Geschwister verfügt,66 und mehr noch, das in seiner frühen Kindheit von jedem zwischenmenschlichen Kontakt isoliert und allein dem Herrnhuter Genius überantwortet wird: So wird sicher gestellt, dass nur die Einflüsse zum Tragen kommen, die gewünscht sind und die durch ihre Konkurrenzlosigkeit um so stärker wirken können. Geschwisterlichkeit als innere Einstellung sowie intersubjektive Geschwisterbeziehungen müssen von Gustav erarbeitet, performativ hergestellt und in steter Wiederholung versichert werden. Im Umkreis der Loge geschieht diese performative Wiederholung dann in ritualisierter Form in klar geregelten periodischen Abständen. Geschwisterlichkeit und Geschwisterbeziehungen sind in der Loge damit das Resultat von Erziehung ––––––– 65

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Vgl. SW I/2,XXIV. Mag die Altersdifferenz von 16 Jahren zwischen Gustav und Guido (vgl. I/1,36) diesen ursprünglichen Plan als schlecht realisierbar erwiesen haben, so verbleiben im ausgearbeiteten Text doch Hinweise, die diese Genese erinnern: Es sind dies die Alliteration der Namen Genius, Gustav und Guido sowie eine Bildbetrachtung und daraus hervorgehende Traumszene, in der für Gustav sein Genius und Guido in eins fallen (vgl. I/1,176). Jedenfalls über keine eindeutig identifizier- oder auffindbare. Die Figur des Genius ist im ausgearbeiteten Text nicht mehr als möglicher leiblicher Bruder erkennbar, und der Halbbruder Guido wird stets als ›verloren‹ markiert, vgl. I/1,68, 69, 175, 176, 196.

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und Bildung, Geschwister-Erfahrungen sind nicht per se gegeben, sondern stets vermittelt. Der erzählerische Aufwand, mit dem die Bildung und Erfahrung von Geschwisterlichkeit und Geschwisterschaft ermöglicht wird, macht deutlich, von welcher Wichtigkeit das Geschwisterdispositiv für das Erzählarrangement der Loge ist: es bildet – zusammen mit der TranszendenzBewegung – die Grundlage für das Projekt der Verbesserung des Menschen als Individuum und im Zusammenleben als Kollektivgesellschaft. Mit welchen sozialpolitischen Konzepten die kollektive Verbesserung aber konkret erreicht werden soll, bleibt unerzählt. In der Vorrede zur zweiten Auflage von 1821 sieht sich Jean Paul deswegen zu einer Erklärung genötigt: Es ist eigentlich ziemlich spät, daß ich erst nach 28 Jahren sage, was die beiden Titel des Buchs sagen wollen. Der eine unsichtbare Loge soll etwas aussprechen, was sich auf eine verborgne Gesellschaft bezieht, die aber freilich so lange im Verborgnen bleibt, bis ich den dritten oder Schlußband an den Tag oder in die Welt bringe. (I/1,20)

Vier Jahre später, inzwischen schwer krank und fast erblindet, entschuldigt sich Jean Paul »bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge«, dass diese »[u]ngeachtet [s]einer Aussichten und Versprechungen [...] eine geborne Ruine« bleibt (I/1,13).67 Der »Schlußband« also ist nicht realisiert worden, das Werk ist Fragment geblieben und für die auf der Spur der unsichtbaren Loge Lesenden heißt dies, Indizien zusammen zu tragen. Spurensicherung Fassen wir die Spuren also nochmals zusammen: Eine äußere Geschichte wird erzählt von satirisch-harmlosen Diebeszügen, von konspirativen Treffen in unterirdischen Höhlen und von Gustav, der über ein ausgeklügeltes Erziehexperiment in eine all dies bündelnde Geheimgesellschaft eingeführt werden soll. Diese Arkangesellschaft bildet den institutionellen Rahmen, sie ist als Bruderschaft konzipiert, Ottomar ist die zentrale Figur, insgesamt aber bleibt die Loge unsichtbar. Das Programm der Loge verbindet politische mit esoterisch-eschatologischen Inhalten, aufgrund von Gustavs sorgfältiger Tugenderziehung ist anzunehmen, dass auch die individuelle Vervollkommnung zur Tugend dazu gehört. Sozialpolitisch verfolgt die Loge neben einer ––––––– 67

Der Hinweis auf Schillers Don Carlos, der sich in dieser »Entschuldigung« findet, bestärkt hingegen nochmals die politische Isotopie und den illuminatischen Subtext der Loge. Vgl. zu Don Carlos als Bearbeitung des Illuminatentums das Buch von Schings [Anm.51].

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Kritik an den herrschenden Ständen eine gemäßigt republikanische Ideologie, die wahrscheinlich auf eine indirekte Gewaltnahme durch einen tugendhaften Herrscher, und nicht auf eine gewaltsame Revolution gemäß französischem Vorbild zielt. Die Bausteine dieses politischen Programms sind diskursiv und literarisch vermittelt: über den Geheimbunddiskurs, die illuminatische Verschwörungstheorie und den Diskurs über die französische Revolution sowie über die Literarisierung des Geheimbundmaterials und Intertexte wie die Politeia, Die Räuber, Dya-Na-Sore und das Narrativ vom verborgenen Prinzen. Geschwisterlichkeit als innere Einstellung und Geschwisterbeziehungen als soziale Kompetenz bilden dafür das moralische und praktische Fundament. Hinzu kommt die Transzendenzbewegung der Seele, die im Initiationserlebnis der Auferstehung aus der Höhle begründet und vom ausgebildeten hohen Menschen stets gesucht wird. Vierfacher Schriftsinn Welche Kompetenzen benötigen also »geheime Naturforscher« um daraus die versteckten »höheren Beziehungen« ableiten zu können? Jean Paul hat sie in seinem Brief zur »Titelfabrikatur« aufgelistet: sie müssen »den mystischen, allegorischen, politischen Kern« ›riechen und fressen‹ können, den »ungelehrt[e] Leser« übersehen. Gelehrt also hat der Modell-Leser zu sein, und zusammen mit dem nicht unbescheidenen Kontext stilbildender Werke der Weltliteratur, in den Jean Paul seinen Erstlingsroman hier stellt – »Homers Odyssee [...], die Aeneis, Virgils Eklogen, Dantes Hölle etc.« (SW II/1,360) –, vervollständigt sich das Stellenprofil des geheimen Naturforschers: Gefordert ist ein Schriftgelehrter, der die Loge wie das Buch der Bücher im vierfachen Schriftsinn lesen kann. Die Abfolge ›mystisch, allegorisch, politisch und ungelehrt‹ lässt sich mit einer kleinen Umstellung der Reihenfolge unschwer auf die klassische hermeneutische Formel beziehen: »Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas anagogia«.68 Literal erzählt die Loge eine Reihe merkwürdiger Begebenheiten, an denen sich – analog zur Argumentation der Kirchenväter über profane Literatur und ––––––– 68

»Der buchstäbliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was man glauben, der moralische, was man tun, und der anagogische, wohin man streben soll«, so die Übersetzung des seit dem 13. Jahrhundert überlieferten Merkverses im entspr. Artikel in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1992, Bd.8, Sp.1434.

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die Heilige Schrift69 – auch ungelehrte Leser vergnügen können. Der allegorische Schriftsinn der Loge lässt sich zweifach lesen: Zum einen nah an der exegetischen Tradition, in der die Allegorie auf den dogmatischen Lehrgehalt der Texte und die dahinter stehende Institution der Kirche verweist.70 Geheime Naturforscher aktualisieren in der Loge demgemäß die Institution der Arkangesellschaft, deren Grundsätze und Absichten.71 Verstehen wir die Allegorie in ihrem zeitgenössischen hermeneutischen Sinn, wie sie von Schleiermacher angeregt als ›systematisch durchgeführte Anspielung‹ bestimmt worden ist,72 so decken besagte Naturforscher auch die verhandelten Intertexte und Diskurse auf, die diese Institution und ihr Programm speisen. Die beiden verbleibenden Schriftsinne hat Jean Paul in seinem Brief anders genannt: Den moralischen nennt er politisch und weist damit direkt auf die gesellschaftliche Dimension des Handlungsgebotes. Sind die sozialpolitischen Konzepte der unsichtbaren Loge im Text auch wenig ausgeführt, so belegt diese Formulierung nochmals die dahinter stehende Überlegung, besagte Loge politisch aktiv werden zu lassen. Und schließlich verbleibt »des Wortes anagogischer, in den Himmel hinaufführender eschatologischer Sinn«,73 der bei Jean Paul ein mystischer genannt wird.74 Diese Leseanwei––––––– 69

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Während die profane Literatur nur den historischen oder Buchstabensinn hat, beinhaltet die Heilige Schrift daneben auch einen höheren geistigen Sinn, den sensus spiritualis. Mag dem einfachen Gläubigen der geschichtliche Sinn genügen, so geht es der mittelalterlichen Wissenschaft um die Erschließung des geistigen Sinnes. Vgl. Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S.1–23, hier: S.2ff. Das viel zitierte Beispiel von Johannes Cassian aus den Collationes (XIV,8) über die vier Bedeutungen von Jerusalem nennt denn auch für den allegorischen Sinn Jerusalem als Bild für die Kirche Christi. Literal bedeutet Jerusalem die historische Stadt, moralisch die menschliche Seele, anagogisch den Himmel als ewige Gottestadt, vgl. Ritter/Gründer [Anm.68], Sp.1434. Ohly [Anm.69], S.10, definiert das mittelalterliche Allegorieverständnis als Verhältnis von Präfiguration (in Antikem) und Erfüllung (in Christlichem). Das zeitgenössische Verständnis der Geheimgesellschaften lässt sich unschwer an diese Struktur anschliessen, verstehen sich die geheimen Gesellschaften doch als solche, die antikes Mysterienwissen zeitgemäss verstehen und umsetzen wollen. Vgl. zum literaturwissenschaftlichen Lehrsatz der »systematisch durchgeführten Anspielung« Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. 4. Aufl. Göttingen 1997, S.38, der sich seinerseits auf Schleiermachers Hermeneutik beruft. Ohly [Anm.69], S.10f. Dabei ist der mystische Schriftsinn selbst Teil der historischen Genealogie des vierfachen Schriftsinnes: der sensus mysticus bezeichnet den in den Dingen verborgenen geistigen Sinn, sofern er verschlossen ist, der sensus spiritualis, sofern er aufgedeckt wird, vgl. Ohly [Anm.69], S.9. Im Hinblick auf die gesamte Geheimbund-Thematik der Loge mag darin nochmals ein Hinweis auf die Struktur von Rätsel und Aufklärung liegen, dafür spricht sowohl die Stellung in der Reihung ›mystisch, allegorisch, politisch, ungelehrt‹ im Brief zur

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sung positioniert das eschatologische Programm der unsichtbaren Loge nicht auf der Ebene höchster Wahrheiten über die zweite Welt, sondern ordnet präziser das Streben nach Befreiung der Seele vom Irdischen der Ebene mystischer Suchbewegungen und Erfahrungen zu. So weit also die Exegese nach der brieflich formulierten Leseanweisung, die darauf abzielt, die »rechten Namen« (SW II/1,359) zu wissen und damit die »geborne Ruine« (I/1,13) Stück für Stück als Teil eines imaginären Ganzen lesbar zu machen und sich im hermeneutischen Zirkel über die Teile des Ganzen zu versichern.75 Ist es ein Mann wie Jean Paul, als Talent von Wert, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich; alles ist erlaubt und willkommen. [...] Man übt seinen eigenen Witz, indem man die wunderlich aufgegebenen Rätsel zu lösen sucht, und freut sich, in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Scharade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden.

So urteilt Goethe in seinen poetologischen Überlegungen zum besseren Verständnis des West-Östlichen Divans in seiner »Vergleichung« Jean Pauls mit einem »Orientalen«,76 und erweist sich damit zugleich als Idealbesetzung für das Stellenprofil des geheimen Naturforschers: Die vier Grade der Lesehaltung – »Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung« – lassen sich auf die Formel vom vierfachen Schriftsinn beziehen,77 und darüber hinaus bringt Goethe als versierter Kenner und innovativer Bearbeiter von Geheimbundmaterial78 genau die dafür erforderliche enzyklopädische Kompetenz mit. Um die von Jean Paul aufgegebenen Rätsel zu lösen, ist jedoch nicht nur der Witz des Hermeneuten gefordert, sondern auch derjenige des Autors zu –––––––

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›Titelfabrikatur‹ als auch die Apposition bei der Nennung der Arkangesellschaften im Erzähltext als »geheim[e] mystisch[e] Gesellschaften« (I/1,324). Daneben gibt es eine protestantische Version vom sensus mysticus, die auf Luthers Ablehnung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn beruht, vgl. Ritter/Gründe [Anm.68], Sp.1435f. Bei der Differenzierung der einzelnen Schriftsinne für die Loge macht es aber mehr Sinn, den Begriff konkreter zu verstehen und mit der Tradition der Mysterien und mystischer Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Diese Versicherung der fragmentarischen Form als Werk leistet eine poetologische Realisierung des Geschwisterdispositivs. Das habe ich ausgeführt in: Franziska Frei Gerlach, Schriftgeschwister. Die Rückversicherung des Fragments in Jean Pauls »Unsichtbarer Loge«, in: JJPG 39 (2004), S.83–111. Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, 9.–16. Aufl. München 1994–1996, hier: Bd.2, S.183–6. Vgl. dazu Elsbeth Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt. Freiburg i.Br. 1999, S.37ff., bes. auch S.48, die diese Korrespondenz ausführt und die ihre anregende Lektüre von Klotildes Eintritt in den Text des Hesperus im vierfachen Schriftsinn unter dieses Motto stellt. Vgl. zur umfangreichen Forschung über Goethe und die Geheimbünde die Einleitung in MüllerSeidel/Riedel [Anm.45] und zur Bearbeitung des illuminatischen Subtextes im Meister HansJürgen Schings, »Wilhelm Meister« und das Erbe der Illuminaten, in: ebd., S.177–203.

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beachten: Die Loge ist kein heiliger Text, der Glaube, Liebe, Hoffnung79 und damit eine je spezifische Seite einer grundsätzlich gegebenen Wahrheit lesbar macht. Die Loge ist wie jeder Roman von Jean Paul ein dualistischer Text, der seine eigenen Vorgaben satirisch und parodistisch hintertreibt und das eigene Gemachtsein geradezu persistent reflektiert. Damit wirkt er ideologiekritisch selbst bei seinen höchsten Themen – der Transzendenz der Seele, der Tugend und der Geschwisterlichkeit –, die er jeweils durch eine satirische Gegenbewegung relativiert. Solches geschieht nicht nur für Teile der Narration, sondern für die Lebensbeschreibung insgesamt. Muss diese doch innerhalb des Textes mit einem Konkurrenzprojekt rivalisieren, dem Roman des Hofpoeten Oefel, der ebenfalls aus nächster Beobachtung entstehen und Gustav als Helden haben soll: Was indessen Oefel an Gustav am höchsten schätzte, war, daß er in seinen Roman zu pflanzen war. Er hatte in der Kadetten-Arche siebenundsechzig Exemplare studiert, aber er konnte davon keines zum Helden seines Buchs erheben, zum Großsultan, als das achtundsechzigste, Gustav. Und der ist gerade mein Held auch. Das kann aber unerhörte Leselust mit der Zeit geben, und ich wollte, ich läse meine Sachen und ein andrer schriebe sie. Er wünschte meinen Gustav zum künftigen Erben des ottomanischen Throns auszubilden, ihm aber kein Wort davon zu sagen, daß er Großherr würde – weder im Roman noch im Leben; – er wollte alle Wirkungen seines pädagogischen Lenkseils niederschreiben und übertragen aus dem lebendigen Gustav in den abgedruckten. (I/1,208)80

Oefels Romanprojekt trägt den Titel Großsultan und zielt damit darauf ab, ein alternatives politisches Modell an Gustav zu realisieren, das unschwer als Ausführung des Narrativs vom verborgenen Prinzen erkennbar ist. Wird dieses durch eine phantastische Einbeziehung ottomanischer Genealogie auch verfremdet, so verweist es mit seiner zu Grunde liegenden Strukturanalogie doch zurück auf die Lebensbeschreibung durch ›Jean Paul‹. So sehr die beiden Bücher vordergründig von einander differieren und miteinander rivalisieren,81 so sehr haben sie hintergründig miteinander zu tun. Wie es sich auch

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So eine alternative Strukturformel für die drei vom literalen Sinn unterschiedenen geistigen Schriftsinne, die sich an den drei christlichen Kardinaltugenden orientiert, vgl. Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik: eine Einführung, 2. Aufl. Darmstadt 2007, S.12. Vgl. auch I/1,182, 194. Zur Autorschaftsfigur Oefel vgl. auch Monika Schmitz-Emans, Jean Pauls Schriftsteller. Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen, in: JJPG 43 (2008), S.137–169, hier: S.164ff. Vgl. I/1,212, 249f.

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am »Geburttag-Drama« (I/1,326) zeigen lässt,82 entlarven die als Plagiate kenntlich gemachten Texte Oefels in einem selbstreferentiellen Gestus auch die Konzepte des Erzählers als Umgang mit literarischen Versatzstücken. Oder positiv gewendet, als ein Erzählen, das um sein innovatives Spiel mit Intertexten weiß und genau daraus die Lust am Text speist.

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Das von Oefel geschriebene »Geburttagdrama«, das vom Erzähler als Plagiat eingeführt wird, bringt die intertextuell wohlbekannte Szenographie der inzestuösen Situation linientreu zur Aufführung, macht aber durch seine inhaltliche Übereinstimmung mit der Geschichte der Loge zugleich die Liebesgeschichte der Loge als Plagiat kenntlich, vgl. dazu Frei Gerlach, Geschwisterliebe [Anm.21], S.233ff.

TILL DEMBECK

FICHTE DEM BUCHSTABEN NACH AUSLEGEN Jean Pauls Konjektural-Philosophie

»[O]b ich Fichten moralisch postuliere, das wird sich im Clavis zeigen« (I/3,1021). Mit diesem Anspruch gibt der Verfasser des1 Jean Paulschen Clavis Fichtiana, Leibgeber, der Fichteschen Wissenschaftslehre eine radikale Wendung. Es stehe durchaus in seinem Ermessen, ob er Fichte neben dem Leib, den er ihm bereits gegeben habe, auch einen Geist gebe – sei er doch als ›absolutes Ich‹ weltschöpferisch tätig. Eine solche Operation aber hält Leibgeber recht eigentlich für unnötig: Wär’ es nicht schöner gedacht, wenn man, wie die alten Theologen, ein einziges absolutes Ich und göttliches Wesen (und damit nur eine Schöpfung) annähme, dazu aber gleich ein Subjekt vozierte, das Verstand und Kraft genug hätte, diesen höchsten Posten zu versehen? Und dann kann die Vokation nur dem einzigen Wesen gegeben werden, von dessen Existenz man gewiß ist; und das ist niemand als ich selber. (I/3,1044)

Ein solcher Leibgeber-Gott aber – das ist die Pointe des Arguments – hat es nicht nötig, andere Autoren neben sich zuzulassen, weder dem Geist noch dem Buchstaben nach (siehe I/3,1038). Er hat nämlich letztlich alles selbst geschrieben und gedacht, was er liest – mithin auch die Fichtesche Wissenschaftslehre (I/3,1022, 1035, 1038). Ich möchte im Folgenden Jean Pauls Fichte-Satire in den Blick nehmen, die im Angriff auf Fichtes Autorschaft ihre Zuspitzung findet. Ich werde dabei von der Unterscheidung von Geist und Buchstabe ausgehen, die insbesondere für Fichtes Beschreibung schöpferischer Aktivität von zentraler Bedeutung ist. Es soll der Nachweis geführt werden, dass sich Jean Pauls und Fichtes erkenntnistheoretische Entwürfe letztlich nur in der Interpretation der Tatsache unterscheiden, dass wir Buchstaben als identisch wiedererkennen können.2 Jean Paul erscheint diese Tatsache deutlich weniger selbstverständ––––––– 1

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Ich schließe mich dem Jean Paulschen Sprachgebrauch an und behandle das Wort clavis als Maskulinum. Dass diese Tatsache gar nicht so einfach zu erklären ist, erkennt man an der Schwierigkeit, diesen Identifizierungsprozess mit dem Computer zu modellieren: Bis heute dient die Fähig-

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lich als Fichte: Sein transzendentaler Realismus, den er mit Fichte letztlich teilt, weist die Bilder, die uns die Einbildungskraft liefert, als Buchstaben aus und leitet daraus eine erhebliche Verunsicherung jeder Form von Erkenntnis ab. Daraus erwachsen seine Bedenken gegenüber Fichtes philosophischer Präferenz des Geistes vor dem Buchstaben. Meine Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte: Der erste Abschnitt rekonstruiert das Wechselspiel von Hermeneutik und Erkenntnistheorie bei Fichte und Jean Paul; er geht aus von der erkenntnistheoretischen Verwendung der Geist/Buchstabe-Unterscheidung bei beiden Autoren. Der zweite Abschnitt spürt der Figur des Solipsisten nach, den Jean Paul in Leibgeber entwirft, und zeigt, dass sich das Subjektivitätsproblem dieser Figur paradigmatisch an ihrem Verhältnis zur Schrift artikuliert. Hier erweist sich, dass Jean Paul aus demselben transzendentalphilosophischen Bezugsrahmen deutlich radikalere Schlüsse ableitet als Fichte. Der dritte Abschnitt widmet sich der Leibgeberschen Fichte-Interpretation im Detail. In diesem Zusammenhang kann Jean Pauls Umgang mit Fichtes Schriften als eine philosophisch ernstzunehmende ästhetische Strategie ausgewiesen werden – und gleichzeitig als ethisch gerechtfertigte Auslegung Fichtes ›nach dem Buchstaben‹. 1. Verstehen: Geist und Buchstabe der Erkenntnistheorie Der Vorwurf, dass Jean Paul Fichtes Philosophie nicht richtig verstanden habe, ist immer wieder zu hören.3 Erhoben hat ihn nicht zuletzt Fichte selbst,4 der in seiner Ankündigung zu einer Neufassung der Wissenschaftslehre von ––––––– 3

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keit, auch verzerrt dargestellte Buchstaben noch als solche zu erkennen, dazu, Menschen und Maschinen zu unterscheiden, etwa wenn es darum geht, einen Email-Account zu eröffnen. Schriftlich wird er allerdings selten festgehalten. Systematisch hat meines Wissens zum letzten Mal Karl Brose Jean Paul einer Verständnisprobe unterzogen: »Wie ist der wahre Sachverhalt bei Fichte?« – So lautet seine Frage (Karl Brose, Jean Pauls Verhältnis zu Fichte. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte, in: DVjs 49 (1975), S.66–93, hier S.74). Broses Aufsatz kämpft allerdings mit dem Problem, dass ihm in Jean Pauls Clavis eben kein Text vorliegt, dessen Aussagen er schlicht mit denjenigen Fichtes abgleichen könnte. Letztlich nämlich setzt Jean Paul Fichte keinesfalls Argumente, sondern ein ästhetisches Verfahren entgegen. Broses Arbeit ist dennoch insofern sehr wertvoll, als sie auch immer wieder herausstellt, in welchen Punkten Jean Paul und Fichte einander im Grunde sehr nahe sind. – In der literaturwissenschaftlichen Jean-Paul-Forschung hat sich heute weitgehend die Ansicht durchgesetzt, Jean Paul habe Fichte aus programmatischen Gründen missverstehen wollen. Auf Arbeiten, die diese Position vertreten, komme ich weiter unten zu sprechen. Fichtes Schriften zitiere ich im Fließtext unter Angabe der Sigle GA und des jeweiligen Bandes nach der folgenden Ausgabe: J.G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart/Bad Cannstatt 1962ff. Aus welchem Text zitiert wird, geht jeweils eindeutig aus dem Fließtext hervor.

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1801 (Seit sechs Jahren) den Clavis wie folgt kommentiert: »Dieser Schlüssel mag wohl nicht schließen; denn der Verfertiger desselben ist nicht hineingekommen« (GA I/7,158). Es mag allerdings sein, dass der Grad des ›richtigen‹ Verstehens keineswegs ein geeigneter Maßstab ist, um Jean Pauls Texten gerecht zu werden. Fichtes Wissenschaftslehre erhebt den Anspruch, an den ›Geist‹, wenn auch nicht an den ›Buchstaben‹ der Kantischen Philosophie anzuknüpfen: Kant selbst habe empfohlen, so schreibt Fichte 1797 in seinem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, »seine Schriften nach dem Zus am menh ang e, und nach der Ide e im Ganzen, also nach dem G eis te , und der Abs ich t, die einzelne Stellen haben können, zu erklären« (GA I/4,231f.).5 Demgegenüber sei ein Verstehen ›nach dem Buchstaben‹ der Sache mitunter unangemessen, da es etwa einander widersprechende Stellen oder andere interne Spannungen der auszulegenden Texte nicht beheben könne.6 Die Wissenschaftslehre setzt nun ihrerseits auf Rezipienten, die dazu in der Lage sind, wiederum ihren Geist, und zwar möglichst unabhängig von den Buchstaben, in denen sie sich darbietet, zu erfassen: Die Wissenschaftslehre ist von der Art, daß sie durch den blossen Buchstaben gar nicht, sondern daß sie lediglich durch den Geist sich mittheilen läßt; weil ihre Grundideen in jedem der sie studirt, durch die schaffende Einbildungskraft selbst hervorgebracht werden müssen. (GA I/2,415)

Dieses Postulat geht durchaus konsequent aus Fichtes erkenntnistheoretischen Grundeinsichten hervor. Macht doch die Wissenschaftslehre den Versuch, die Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit des Subjekts ausschließlich aus ––––––– 5

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Zu Fichtes Kant-Rezeption siehe Günter Zöller, From Critique to Metacritique: Fichtes Transformation of Kant’s Transcendental Idealism, in: The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling, and Hegel, hrsg. von Sally Sedgwick. Cambridge 2000, S.129– 146. Zur Differenz von Geist und Buchstabe bei Fichte siehe Daniel Breazeale, The Spirit of the Wissenschaftslehre, in: ebd., S.171–198. Ich orientiere mich insgesamt in meiner FichteLektüre an der einführenden Arbeit von Günter Zöller, Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambridge 1998. Zöller stellt vor allem die Fichtesche Entdeckung eines ursprünglich performativen Moments auch der theoretischen Vernunft heraus. Zöllers Argumente lassen Fichte, auch wenn Zöller dieser Denkmöglichkeit selbst nicht nachgeht, als unmittelbaren Vorläufer kybernetischer bzw. systemtheoretischer Konzepte erscheinen – ein Aspekt, den ich im Folgenden zumindest am Rande plausibel zu machen versuche. In jedem Falle ist die Wissenschaftslehre schon in ihrer ersten Fassung eine präzise Studie zum Konzept der Selbstorganisation. »[A]llerdings« sei seine Kritik »nach dem Buchstaben zu verstehen, und bloß aus dem Standpunkte des gemeinen nur zu solchen abstracten Untersuchungen hinlänglich cultivierten Verstandes zu betrachten«, antwortete Kant im August 1799 auf Fichtes wiederholte Behauptung (Immanuel Kant, Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd.XII. 2.Aufl. Berlin/Leipzig 1992, S.370f., hier: S.371).

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der Selbsttätigkeit seiner Vernunft heraus zu erklären und so einen ›praktischen Idealismus‹ (GA I/2,309–311) zu begründen. Wirkliches Verstehen, so ließe sich aus diesem Ansatz ableiten, ist grundsätzlich nur möglich, wenn sich das Subjekt Gedanken zueigen macht, sie selbsttätig entwickelt und nicht etwa bloß ›aufnimmt‹. Diesem Ansatz folgend spitzt Fichtes Bildungsprogramm, das etwa in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794) und den aus diesen Vorlesungen hervorgegangenen Überlegungen Über Geist, u. Buchstaben in der Philosophie bzw. Über den Unterschied des Geistes u. des Buchstabens in der Philosophie (1794)7 entfaltet wird, das aufklärerische Postulat des Selbstdenkens zu: Gefordert wird ein Gebrauch der eigenen Vernunft, der weniger Nachvollzug als vielmehr Mitvollzug ist und schließlich, dem Bildungsziel entsprechend, gänzlich unabhängige Selbsttätigkeit. Natürlich leugnen Fichtes Texte über Geist und Buchstabe die Notwendigkeit buchstäblicher Vermittlung des Geistes nicht (GA II/3,319f.), doch muss man gerade in der tätigen Aneignung der Texte anderer über den passiven ›Konsum‹ der bloßen Buchstaben hinausgehen: »Alle unsre Philosopheme sind Körper, und nichts als Körper, die wir Ihnen hingeben, daß Sie daran aus sich selbst, und durch sich selbst Philosophie in sich entwickeln« (GA II/3,333). Der wahre Student ist kein »Buchstäbler«; dieser nämlich »macht sich nichts deutlich, sondern er lernt auswendig, u. sagt’s nach. Er faßt nichts auf mit der Einbildungskraft, und mit dem Verstande, sondern allein mit dem Gedächtnisse« (GA II/3,339). Will man kein ›Buchstäbler‹ sein, so darf man der Evidenz der bloßen Buchstaben, die uns die anderen geben, also nicht trauen.8 Fichtes Hermeneutik von Geist und Buchstabe ist insofern bemerkenswert, als sie den Geist nicht nur – in Paulinischer Tradition9 – mit dem Leben in Verbindung bringt, sondern ihn abstrakter als Tätigkeit bzw. Operativität definiert. Buchstaben sind demgegenüber dasjenige, was bleibt, ja was gegenüber der geistigen Tätigkeit immer zurückbleibt. Mit einer anderen um 1800 geläufigen Unterscheidung ließe sich formulieren, dass die Buchstaben immer nur einen partiellen Zugang zum Text liefern können, dessen Ganzes ––––––– 7

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Diese Texte, deren Publikation offenbar zunächst geplant war, liegen nur im Nachlass vor. Erschienen ist 1800 die Schrift Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen (in GA I/6; geschrieben 1795). Ich stütze mich auf die älteren Manuskripte von 1794. Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen dieses neuartigen Bildungsprogramms siehe Heinrich Bosse, Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), S.13–37. 2 Kor 3,6.

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tätig zu erschließen dem Geist vorbehalten bleibt: »Hauptregel alles zwekmäßigen Philosophirens« ist, »daß uns das Ganze stets gegenwärtig sey« (GA II/3,339).10 Dabei liegt der entscheidende Punkt darin, dass der Schritt von den buchstäblich gegebenen Teilen zum geistigen Ganzen keinesfalls von den Buchstaben determiniert ist. Das geistige Ganze gilt als irreduzibel, weil es sich nicht eindeutig aus seinen buchstäblich gegebenen Teilen ergibt. Und eben diese Bestimmtheitslücke kann Fichte zufolge nur durch die Selbsttätigkeit des Subjekts, genauer: durch seine produktive Einbildungskraft geschlossen werden, die laut Fichtes Bestimmung in der Schrift Über den Unterschied des Geistes u. des Buchstabens mit dem Geist identisch ist (GA II/3,316). Um genauer zu sehen, wie der Geist auf Buchstaben Bezug nehmen kann, ist Fichtes Konzept der produktiven Einbildungskraft näher zu beleuchten. Letztlich nämlich entwickelt sich dieses Konzept aus einer Betrachtung von Buchstaben heraus, die den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre in ihrer wirkmächtigen ersten Fassung von 1794/95 bildet. Fichte macht eine folgenreiche Voraussetzung, wenn er auf die Evidenz einer bloßen Buchstabengleichung setzt, nämlich auf die Evidenz der Gleichung »A = A«. Aus dieser Gleichung leitet Fichte den ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre ab: »Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn« (GA I/2,261). Aus der Tatsache, dass das Subjekt die Gültigkeit der Gleichung »A = A« anerkennen muss, schließt Fichte auf die unhintergehbare Gegebenheit eines höheren Identitätsgesetzes: Das Ich kann Identität nur feststellen, weil es selbst mit sich identisch ist, weil es sich selbst als Ich ursprünglich und schlechthin setzt. Angesichts der Abwertung des ›bloßen Buchstabens‹ gegenüber dem Geist, der Fichte auch in der Wissenschaftslehre selbst das Wort redet, mag es überraschen, dass er seine Argumentation gerade so beginnen lässt. Die irreduzible Selbsttätigkeit des Subjekts, auf der allein sein Selbst- und Weltzugang beruht, soll aus der Identität von Buchstaben, die dem Subjekt in seiner Geistigkeit doch eigentlich fremd und äußerlich sein dürften, abzuleiten sein? Genauer: die Unfähigkeit des Subjekts, die Gültigkeit der Gleichung »A = A« nicht anzuerkennen, seine Unfähigkeit also, sich von einer in der Gestalt der Buchstaben bloß äußerlich gegebenen Übereinstimmung unabhängig zu machen, soll von seiner Fähigkeit zur Selbstsetzung Zeugnis ablegen?11 ––––––– 10 11

Vgl. Breazeale [Anm.5], S.171f. Dieser Punkt hat insbesondere die Romantiker irritiert, beispielsweise Novalis (hierzu Winfried Menninghaus, Die frühromantische Theorie von Zeichen und Metapher, in: German

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Es ist in der Tat so, dass das Moment von Fremdbestimmung, das man im Zwang zur Anerkennung des »A = A« sehen mag, eine Art »Schlußstein« des Fichteschen »Lehr- und Luftgebäudes« (I/3,1014) bildet, wie Jean Paul schreibt. Fichtes Versuch, zu erklären, wie das autonome Ich, das ›ursprünglich schlechthin sein eignes Sein setzt‹, sich zugleich selbst als bestimmt durch das Nicht-Ich denken kann, führt an einen Punkt, an dem er annehmen muss, dass auf das Ich, »insofern es tätig ist«, ein »(durch das setzende Ich nicht gesezte[r]) Anstoß« geschieht (GA I/2,356). Dieser Anstoß wirkt als Aufforderung, »sich selbst zu begrenzen«, und obwohl er sich nur anlässlich der Tätigkeit des Ich einstellt, bewirkt er, dass das Ich seine »Bestimmbarkeit« (GA I/2,355) voraussetzt. In der Folge stellt Fichte unsere Vorstellungen als Effekt einer oszillierenden Bewegung zwischen (Selbst-)Begrenzung und Grenzüberschreitung dar: Nur in dieser Bewegung, in diesem »Widerstreite mit sich selbst« (GA I/2,359), der Fichte zufolge nichts anderes ist als die Einbildungskraft, ist uns die Welt und unser Verhältnis zu ihr greifbar: »Es wird demnach hier gelehrt, daß alle Realität [...] bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde« (GA I/2,368). Da nun aber diese von der Einbildungskraft hervorgebrachte Realität die Realität des Ich mit einschließt, ist es durchaus von Bedeutung, dass die Einbildungskraft nur durch einen ›Anstoß‹ in Bewegung gesetzt wird, der dem Ich nicht selbst zugeschrieben werden kann. An diesem Punkt macht sich, wie der zweite Teil der Wissenschaftslehre, der sich den »Grundlagen der praktischen Philosophie« widmet, zeigt, in der Tat ein Moment von Fremdbestimmung bemerkbar:12 Die Einbildungskraft ist insofern nicht gänzlich autark, als sie auf das ›Gefühl‹ angewiesen bleibt, also auf das Erleben jenes (internen) Widerstands gegen die Operationen des Ich,13 der den ›Anstoß‹ zur Selbstbegrenzung gibt (GA I/2,421ff.) und daher die notwendige Bedingung unserer Vorstellungen von »Dinge[n] ausser uns« (GA I/2,440) darstellt. Die irreduzible Selbsttätigkeit des Subjekts, die in der produktiven Einbildungskraft zum Tragen kommt, beruht daher letztlich auf –––––––

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Quarterly 62.1 (1989), S.48–58, hier S.52; W.M., Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987, S.81–96) und Clemens Brentano, dessen Philistersatire teils eine (an Jean Paul angelehnte) Fichte-Satire darstellt (siehe Der Philister vor, in und nach der Geschichte, in: Clemens Brentano, Werke, hrsg. von Wolfgang Frühwald. Bd.2. Darmstadt 1963, S.959–1003, hier S.1001f.). Vgl. hierzu Menninghaus, Die frühromantische Grundlegung [Anm.11], S.55f. Letztlich »scheint die Realität des Dinges gefühlt zu werden, da doch nur das Ich gefühlt wird« (GA I/2,429).

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Gegebenheiten, die es selbst nicht kontrollieren kann und die es deshalb als real hinnehmen muss: Die Wissenschaftslehre ist demnach realistisch. Sie zeigt, daß das Bewußtseyn endlicher Naturen sich schlechterdings nicht erklären lasse, wenn man nicht eine unabhängig von denselben vorhandne, ihnen völlig entgegengesetzte Kraft annimmt, von der dieselben ihrem empirischen Daseyn nach selbst abhängig sind. Sie behauptet aber auch nichts weiter, als eine solche entgegengesetzte Kraft, die von dem endlichen Wesen bloß gefühlt, aber nicht erkannt wird. (GA I/2,411, siehe auch GA I/2,355, 386).

Man könnte auch sagen: Die (operative) Schließung des Bewusstseins, die Fichte beschreibt (und die durchaus systemisch gedacht ist),14 ist davon abhängig, dass gleichwohl strukturelle Koppelungen bestehen, auf die das Bewusstsein sich verlassen muss.15 Zwar ist die irreduzible und aus nichts außer ihr selbst ableitbare Selbsttätigkeit des Subjekts16 vonnöten, damit ein ›Anstoß‹ geschehen kann, doch bleibt dieser Anstoß notwendig, soll die Selbstbestimmung des Subjekts in Gang gesetzt werden.17 Insofern nun (Selbst-)Begrenzungen des Subjekts immer notwendig sind, um ›am Material‹ Unterscheidungen zu treffen und Identifizierungen zu vollziehen – dieses A ist gleich jenem A –, ist bei ihrem Vollzug immer die Einbildungskraft beteiligt. Denkt man an die in den Texten über Geist und Buchstaben entwickelte Theorie zurück, die die Überlegungen der Wissenschaftslehre zur Einbildungskraft aufnimmt und die Unterscheidung zwischen bloßem Gefühl und produktiver Einbildungskraft sogar noch verschärft,18 so ergibt sich nun allerdings die Frage, inwiefern die geistige Verarbeitung von Buchstaben, die dem von Fichte entworfenen philosophischen Bildungspro––––––– 14

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Vgl. David Roberts, The Paradox of Form: Literature and Self-Reference, in: Poetics 21 (1992), S.75–91, hier: S.83. Fichte denkt hier in der Tat protosystemtheoretisch: Er spricht vom Mechanismus einer durch eine Schließung erzeugten Öffnung: »Das Ich sezt sich selbst schlechthin, und dadurch ist es in sich selbst vollkommen, und allem äussern Eindrucke verschlossen. Aber es muß auch, wenn es ein Ich seyn soll, sich setzen, als durch sich selbst gesezt; und durch dieses neue, auf ein ursprüngliches Setzen sich beziehende Setzen öfnet es sich [...] der Einwirkung von aussen« (GA I/2,409). Fichte spricht davon, man erhalte »die Vernunft, nicht durch Uebergang, sondern durch einen Sprung.« (GA I/2,427) Vgl. Breazeale [Anm.5], insbes. S.177, S.187, zusammenfassend S.192. Die Einbildungskraft ist auch diesen Texten zufolge »Schöpferin des Bewußtseyns selbst«; dennoch aber kann ihre Handlung »als letzter Grund des Bewußtseyns weder überhaupt, noch in irgend einem besondern Falle Gegenstand des Bewußtseyns, oder Thatsache desselben seyn.« Es folgt, »daß dem Geschäfte des Bildens irgend Etwas vom Ich zu unterscheidendes zum Grunde gelegen haben müße« (GA II/3,310), das Fichte als Gefühl, das »wenigstens zum Theil etwas fremdartiges im Ich seyn soll«, bezeichnet und als »das nicht weiter zu erklärende unbestimmte« von der »schaffende[n] Einbildungskraft« abgrenzt (GA II/3,311).

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zess zugrunde liegt, alleine die Leistung der produktiven Einbildungskraft sein kann. Anders gefragt: Inwiefern ist sie auch Leistung des Gefühls, also derjenigen Instanz im Subjekt, die nicht seiner Kontrolle unterliegt? Insofern sie dies nämlich ist, bleibt das Aneignen des fremden Textes immer durch etwas Fremdartiges im Ich bedingt. Fichte zieht hinsichtlich der Buchstaben (anders als die Romantiker) einen solchen Schluss zwar nicht, aber er sieht doch das Problem: Die ethische Wendung der Wissenschaftslehre, die den Konflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung des Ich in einen Prozess des ›Strebens‹ nach einer »Uebereinstimmung des Objekts mit dem Ich« (GA I/2,396) überführt, reagiert letztlich genau darauf. Auf die Lektüre von Texten bezogen, bedeutet sie die Forderung, nicht beim Buchstaben stehen zu bleiben, sondern sich den Geist des Textes anzueignen. Zeichnet Fichtes Hermeneutik demnach eine emphatische Hervorhebung der Selbsttätigkeit des Subjekts und damit des Geistes gegenüber dem Buchstaben aus, so charakterisiert Jean Pauls Hermeneutik und Erkenntnistheorie, die ich hier zunächst ohne unmittelbaren Bezug zu Fichte und vielmehr ausgehend von Jean Pauls Leipziger Lehrer Platner behandeln möchte, zugleich ein emphatisches Streben zum rein Geistigen und eine überbordende Buchstabenliebe: Wohl niemand hat in Gestalten wie Fixlein und Fibel liebevoller idyllische Buchstabenfetischisten entworfen – und dabei gleichzeitig so emphatische Szenen wortlosen Verstehens gezeichnet – als Jean Paul. Trotz dieser Differenz zu Fichte steht Jean Paul ihm in der erkenntnistheoretischen Grundlegung sehr nahe. Bereits in Ernst Platners Anthropologie für Aertzte und Weltweise (1772) konnte Jean Paul ansatzweise ein Modell systemischer Offenheit bzw. Schließung vorfinden.19 Die Influxus-Theorie des ›philosophischen Arztes‹ ging von einer unmittelbaren Wechselwirkung zwischen Körper und Geist aus, bestand aber darauf, dass eine genaue Beschreibung dieser Wechselwirkung auf immer unmöglich bleiben müsse.20 ––––––– 19

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Siehe die Einschätzung von Wolfgang Proß, Platner und Jean Paul hätten, um sich gegen die Kantische Philosophie durchzusetzen, die Konzepte der modernen Kybernetik noch gefehlt, die bei ihnen allerdings durchaus angelegt seien (W.P., Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen 1975, S.53f.). Der Arbeit von Proß kommt das Verdienst zu, Jean Pauls und Platners Opposition gegen bestimmte Formen der Transzendentalphilosophie auf der Basis sehr breit angelegter Kontextreferate präzise rekonstruiert zu haben. So wurde insbesondere deutlich, dass sich diese Opposition durchaus auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion bewegte. – Zu Platner siehe ausführlicher Till Dembeck, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin/New York 2007, S.305–310. Platner schreibt, es verrate »die größte Unwissenheit [...], [...] wenn man sich Hoffnung machen wollte, dieses Geheimnis«, nämlich das der »Gemeinschaft der Seele mit dem Körper«, »zu entdecken, oder sich gar einzubilden, es schon entdeckt zu haben« (Ernst Platner,

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Sein Projekt beschreibt Platner als eine Annäherung an die damit bezeichnete Grenze: Sowohl die physiologischen als auch die geistigen Mechanismen, die jeweils für sich die Anstöße von der jeweils anderen Seite weiterverarbeiten, sollen in ihrer Wirkungsweise untersucht werden. Entscheidend für Platners Theorie des Bewusstseins ist seine Annahme, dass die Anstöße, die es von Außen erhält, nur dann eine Rolle spielen, wenn ihnen eine von Innen ausgehende Aktivität entspricht. Zusammenfassend schreibt er, dass zur Wahrnehmung – neben der äußerlichen Wirkung des wahrgenommenen Gegenstands auf die Sinneswerkzeuge, der »Inpression [!] dieser Wirkung im Gehirnmark« und einer »Bewegung im Gehirnmark, welche die Aufmerksamkeit der Seelee [!] zur Empfindung der Impression reizt« – noch ein »gewisser Actus der Seele oder eine geistige Vorstellung des Objects«21 vonnöten sei, damit es tatsächlich zu einer Wahrnehmung komme. Denn auch die Mechanismen zur Aufmerksamkeitserregung im ›Gehirnmark‹, die Platner beschreibt, wirken nicht determinierend auf die Seele: Das Bewußtseyn ist kein Leiden der Seele, welches etwan aus dem neuen Eindruke eines Bildes in der Seele entstünde, sondern es ist eine Handlung. Ist die geistige Idee nichts als eine tode Vorstellung, ein Eindruk in der Seele, so kann daraus kein Gedanke, kein Bewußtseyn entstehen.22

Es handelt sich mithin beim psycho-physischen influxus, wie Platner ihn denkt, um die wechselseitige Irritation mechanischer und geistiger Prozesse, die gleichwohl nicht als einander gänzlich determinierend vorgestellt werden können. Ohne den erkennenden, offenbar auf Eigeninitiative zurückzuführenden ›Actus‹ der Seele ist Erkenntnis nicht denkbar. Platners Theorie steht derjenigen Fichtes zumindest in ihrer protokybernetischen Modellbildung durchaus nicht ganz fern, auch wenn ihr die transzendentalphilosophische Grundlegung fehlt.23 Jean Pauls Theorie der Einbildungskraft, die er in seinem Aufsatz Über die natürliche Magie der Einbildungskraft bereits vor dem Erscheinen der Wissenschaftslehre niedergelegt hat,24 baut auf Platners Entwurf auf. Ausgangspunkt für Jean Paul ist Platners Aufweis der Grenze zwischen physischem und psychischem Operationsbereich, einer Grenze, deren Durchlässigkeit ihrerseits eine Grenze des Erklär––––––– 21 22 23

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Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil. Nachdruck der Ausgabe Halle 1772. Hildesheim/Zürich/New York 2000, S.X.). Ebd., S.60f. Ebd., S.84. Es ist vielleicht erwähnenswert, dass Fichte sehr regelmäßig Vorlesungen auf der Grundlage von Platners Philosophischen Aphorismen (1793) gehalten hat (sie finden sich in GA II/4). Der Text ist im Leben des Quintus Fixlein von 1795 erschienen, jedoch bereits zwei Jahre früher geschrieben worden.

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baren darstellt. Jean Paul nun findet zwar ebenfalls keine Erklärung (er muss sie, wie zu sehen sein wird, sogar aus programmatischen Gründen ausschließen), aber doch ein Modell für die Transaktionen, die an dieser Grenze getätigt werden: unseren Umgang mit Buchstaben. Damit aber bewegt er sich auf demselben metaphorischen Feld wie Fichte.25 Zunächst fällt an Jean Pauls frühem Text eine deutlich größere Nähe zur Transzendentalphilosophie auf, als sie Platners anthropologische Theorie aufweist: Jean Paul zeigt gleich zu Beginn seiner Schrift, dass wir Empfindungen und Bilder gleichermaßen mehr »erzeugen« als schlicht »empfangen«, und zwar, wie Jean Paul in Anspielung auf Shaftesbury und unter Erwähnung von Kant formuliert, »nach und mit einer unbegreiflichen plastischen Form in uns« (I/4,195), die wie eine Art Backform alles überhaupt erst in eine Gestalt bringt, mit der wir umgehen können. Die Einbildungskraft macht ein Bild, wo vorher nur diffuse Uneinheitlichkeit war, sie leistet, mit Kant gesprochen eine »figürliche Synthesis«.26 Das Modell dieser Synthesis bilden für Jean Paul die Buchstaben: »Wir denken das ganze Jahr über weniger mit Bildern als mit Zeichen, d.h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern« (I/4,199). Buchstaben oder zumindest Quasi-Buchstaben also sind es, die recht eigentlich den Gegenstand all unserer Welt- und Selbstwahrnehmung bilden: Nur die Reduktion auf eine buchstäbliche Figur, die aus dem diffusen Material der Sinnlichkeit etwas Wiedererkennbares hervortreten lässt, macht dieses Material unserem Zugriff zugänglich, auch wenn sich im Detail etwas verändert haben mag. Ich erkenne das »A« auch dann, wenn es in einer anderen Schriftart begegnet, also unabhängig von seiner (damit als ornamental27 gekennzeichneten) »typographische[n] Pracht« (I/4,203). ––––––– 25

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Zum Folgenden siehe ausführlich Dembeck [Anm.19], S.297–327. Dort findet sich die Forschungsliteratur zum Thema umfassend aufgearbeitet. Herausgehoben sei hier nur der luzide Beitrag von Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus, in: G.M., Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, S.63–76. – In Jean Pauls Theorie des Buchstabens und der Einbildungskraft liegen auffällige Parallelen zu Argumenten Novalis’ vor (siehe ebd., S.70, sowie Till Dembeck, Figur/Ornament: Romantische Poetik im Kontext von Akustik und Schallaufzeichnung, in: Textprofile intermedial, hrsg. von Bernhard Spies und Dagmar von Hoff. München 2008, S.143–161). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1995, S.148 (B151). Die Differenz zwischen (buchstäblicher) Figur und dem ihr notwendig anhängenden Ornament, die im Hintergrund dieses Arguments steht, lässt sich zu einer Grundunterscheidung der Text- bzw. Kommunikationstheorie ausbauen (siehe hierzu Dembeck [Anm.19], S.406– 437). Für Jean Paul lässt sich zeigen, dass diese Unterscheidung implizit als Leitunterscheidung der Einbildungskraft fungiert (ebd., S.313–320).

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Entscheidend ist nun, dass Jean Paul die Einbildungskraft, die diese wiedererkennbaren Figuren synthetisiert, ähnlich wie später Fichte als ein Vermögen ansieht, das unserem willkürlichen Zugriff nicht gänzlich unterworfen ist, aber Evidenzen liefert, von denen wir abhängig sind. Diese Evidenzen sind Effekte der ›natürlichen Magie der Einbildungskraft‹, die den Titel zu Jean Pauls Text abgibt – und Jean Paul wird nicht müde, ihre pure Notwendigkeit für unseren Umgang mit Welt hervorzuheben. Dies geschieht etwa – um ein besonders plastisches Beispiel zu geben – in seiner Erklärung der Holzschnitte (1797). Hier führt Jean Paul vor, was passiert, wenn die Evidenz des Wiederkennens etwa von Gesichtern verloren geht. Ein zusammenhängendes Geschehen kann dann nur noch höchst spekulativ erschlossen werden, indem man etwa, wie es Jean Paul in der Erklärung tut, die Identität der beiden Gesichter in der vorliegenden Abbildung behauptet und für evident erklärt.28 Das bedeutet: Man muss damit leben, dass nur eine bereits buchstäblich geprägte Wirklichkeit dem Denken zugänglich ist, und man wird sich daher auf die ›natürliche Magie der Einbildungskraft‹ verlassen müssen.

Abb.: Das linke Bild zeigt des Protagonisten Krönlein Gesicht, wie es auf der Platte zum zweiten Gebot zu sehen ist, das rechte dasselbe Gesicht nach der Platte zum dritten Gebot (I/4,645, 650).

Auch wenn Jean Pauls Theorie von Beginn an einer transzendentalphilosophischen Grundlegung folgt, die den ›realistischen‹ Argumenten der Fichteschen Wissenschaftslehre durchaus nahe kommt, bleibt sie der Philosophie seines Lehrers Platner zutiefst verpflichtet: Jean Paul interessiert sich auch in den folgenden erkenntnistheoretischen Texten vor allem für die Wechselwirkung zwischen physiologischen und psychologischen Prozessen – man denke etwa an Jean Pauls Texte über das Träumen (I/1,1100–1105, I/4,971–982).29 In Jean Pauls von Platner inspiriertem Interesse an der Schnittstelle zwischen ––––––– 28 29

Siehe Dembeck [Anm.19], S.320–327. Dass Jean Pauls Texte im Anschluss an Platner durchgängig dieses Interesse verfolgen, ist die Grundthese von Proß [Anm.19].

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Körper und Geist und an den Prozessen, die hier stattfinden, liegen nun aber Nähe und Differenz zu Fichtes späterer Lehre begründet. Während Fichte nämlich nur zugesteht, dass die Einbildungskraft nicht gänzlich der Kontrolle des Subjekts unterliegt, daran aber die Forderung nach einer (wenn auch nie zu vollziehenden) Überwindung dieser Abhängigkeit anschließt, geht für Jean Paul der ›Zwang‹, den die Natur dergestalt in uns ausübt und den auch Platner betont, deutlich weiter. So heißt es in seinem Aufsatz zur Einbildungskraft: Unsere Seele schreibt mit vierundzwanzig Zeichen der Zeichen (d.h. mit vierundzwanzig Buchstaben der Wörter) an Seelen; die Natur mit Millionen. Sie zwingt uns, an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen [...]. Kurz, durch Physiognomik und Pathognomik beseelen wir erstlich alle Leiber – später alle unorganisierte Körper. (I/4,203f.)30

Geht man davon aus, dass uns das ›Schreiben‹ der Natur an die Menschen und also die naturgegebenen Quasi-Buchstaben uns durch die Einbildungskraft vermittelt werden, so ist es für Jean Paul darüber hinaus auch eine Leistung der Einbildungskraft, dass die Leiber (und die Natur) uns als beseelt erscheinen – das ›moralische Postulat‹ fremder Ichs (ein Konzept, das Jean Paul später Fichte unterschiebt) scheint nicht notwendig zu sein. Die Buchstaben oder Quasi-Buchstaben, die die Einbildungskraft zur Verfügung stellt, bilden demnach nicht nur insofern die Schnittstelle zwischen Körper und Geist, als sie den Geist aktivieren und dazu anregen, sie sich zueigen zu machen. Vielmehr belebt die Phantasie, die in Jean Pauls Modell für die zeitliche Verknüpfung der von der Einbildungskraft gelieferten Figuren zuständig ist, auch, was sie zugleich erst in Form von Quasi-Buchstaben zugänglich macht: Die Buchstaben sind ihr notwendig Ausdruck fremden Geistes. So arbeitet die Phantasie gewissermaßen an einer Parallelverkettung von ›Geist‹ und ›Buchstaben‹. Nur weil die Einbildungskraft aus dem diffusen sinnlichen Material wiedererkennbare Figuren synthetisiert und weil die Phantasie dafür sorgt, dass wir diese Figuren jenseits aller ornamentalen Veränderungen, die sie erfahren mögen, durch die Zeit hinweg als Ausdruck fremden Geistes verfolgen können, ja weil uns die Natur zu dieser Tätigkeit von Einbildungskraft und Phantasie geradezu zwingt, erscheint demnach Verstehen nicht nur möglich, sondern sogar unerlässlich: Wir können nicht nicht verstehen. Weil uns alles Buchstabe ist, weil aber die Buchstaben immer schon der bloßen Sinnlichkeit entzogen und auf den Geist hin orientiert sind, scheint sich für ––––––– 30

Zu Jean Pauls Umgang mit der Physiognomik siehe Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2007, S.168–228.

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Jean Paul die Alternative zwischen einem Verstehen nach dem Geist und einem Verstehen nach dem Buchstaben zumindest auf Anhieb gar nicht zu stellen. 2. Sich verstehen: Solipsistische Zerrbilder Angesichts der transzendentalphilosophischen, ja protokybernetischen Grundlegung in der Erkenntnistheorie, die Fichte und Jean Paul gemein ist, kann es verwundern, warum Jean Pauls satirische Polemik den karikierten Fichteaner ausgerechnet einen Solipsisten hat werden lassen: Ist doch Fichtes Philosophie explizit gegen jede solipsistische Theorie gerichtet (siehe etwa GA I/2,414) und liegt doch dem Solipsismus-Vorwurf, der auch heute noch regelmäßig etwa gegen die Luhmannsche Systemtheorie erhoben wird,31 meistens gerade das Missverständnis zugrunde, die These, dass das Bewusstsein Realität konstruiere, leugne die Existenz einer Realität außerhalb des Bewusstseins. Dieses Missverständnis wird man Jean Paul zumindest insofern nicht vorwerfen können, als er gleichfalls davon ausgeht, dass das Bewusstsein die Vorstellungen, mit denen es arbeitet, zuallererst selbst erzeugen muss. Und auch die unterschiedliche Zielsetzung der Fichteschen und der Jean Paulschen Hermeneutik – Fichte setzt auf eine möglichst weit auszudehnende Aneignung, Jean Paul auf ein Vertrauen in die anscheinend natürlichen Verständigungsmechanismen – kann noch nicht erklären, warum der Solipsismus in Jean Pauls Texten überhaupt ein Problem ist.32 ––––––– 31

32

Siehe die Ausführungen zur Luhmann-Rezeption in den USA bei Cary Wolfe, Meaning as Event-Machine, or Systems Theory and the Reconstruction of Deconstruction, in: Emergence and Embodiment: New Essays in Systems Theory, hrsg. von Bruce Clarke und Mark Hansen. Durham, erscheint 2008 (bereits zugänglich unter http://whoeverfightsmonsters-nhuthnance. blogspot.com/2008/07/some-kind-of-monster-meeting-of.html, eingesehen am 9.7.2008). Diese häufig diskutierte Frage halte ich nach wie vor nicht für gänzlich geklärt. Wolfgang Harich hat in seiner einschlägigen Arbeit, die Jean Pauls Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus (nicht zuletzt durch die ihr beigegebene Textsammlung) auf eine solide Basis gestellt hat und die daher bei all ihren dogmatisch-marxistischen Zügen lesenswert bleibt, behauptet, Jean Pauls Leistung bestehe darin, den Solipsismus als »die einzig folgerichtige Konsequenz einer jeden subjektivistischen Gnoseologie« ausgewiesen zu haben: »Er hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß man logischerweise unmöglich gleichzeitig die Welt aus dem Ich ableiten und dennoch eine Vielheit empirischer Subjekte statuieren kann« (Wolfgang Harich, Jean Pauls Kritik des philosophischen Egoismus. Belegt durch Texte und Briefstellen Jean Pauls im Anhang, Frankfurt a.M. 1968, S.15). Harich sieht sich allerdings an anderer Stelle dazu gezwungen, gravierende ›Missverständnisse‹ Jean Pauls zu konstatieren (S.89–91). Durchgesetzt hat sich demgegenüber die These, Jean Paul betreibe ein bewusstes Missverstehen des Fichteschen Ansatzes. Götz Müller spricht von einer »satirische[n] Verwechslung von absolutem und empirischem Ich« (Müller [Anm.25], S.65). In einem ähnlichen Sinne äußert sich Waltraut Wiethölter, Witzige Illuminationen. Studien zur Äs-

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Ein Motiv für Jean Pauls ›Missverstehen‹ der Fichteschen Philosophie lässt sich angeben, wenn man der Frage nachgeht, aus welchem Grund der Solipsist bereits vor Jean Pauls Auseinandersetzung mit Fichte als prominentes Schreckensbild fungiert. Schon der fiktive Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren (1789), Hasus, von dem der fiktive Herausgeber des Buchs, der Jude Mendel, in seinem »Aviso« behauptet, durch ihn spreche der Teufel selbst, nennt sich »Egoist und transzendentaler Realist« (II/2,119): Für real könne er in aller Gewissheit nur sich selbst halten, weshalb Hasus in seiner Vorrede einräumt, er könne aus metaphysischen Gründen nur mit einem Leser seiner Texte rechnen, nämlich mit sich selbst (II/2,119f.). Dazu stimmt, dass Hasus in gleicher Weise wie Leibgeber die Autorschaft der Fichteschen Schriften für sich reklamiert, die Autorschaft etlicher fremder Texte beansprucht: Eine Vielzahl von Werken habe er bereits vor seiner Geburt auf einem anderen Planeten verfasst – sie seien von früher Geborenen wie Swift und Sterne lediglich plagiiert worden (II/2,116–122). Hasus ist schon auf dem Weg dazu, sich zu jener Selbstvergöttlichung aufzuschwingen, die Leibgeber als angeblich Fichtesche »Aseitas« (I/3,1033) charakterisiert. Was aber ist in den frühen Satiren der philosophische Hintergrund, vor dem sich das Schreckensbild des Solipsisten abzeichnet? Welche Probleme mit dem Selbst artikulieren sich in diesem Bild? Jean Pauls Satiren widmen sich an unterschiedlichen Stellen Fragen des Selbstverhältnisses. Ein prominente Beispiele sind etwa die Texte, in denen der Teufel seine eigene Existenz widerlegt (II/1,914–993; II/2,560–579).33 Ein weniger bekanntes Beispiel das meinem Interesse näher liegt, sind die satirischen Seitenhiebe auf Selbstzitat und Selbstrezension, die schon in den Grönländischen Prozessen (1783) begegnen (II/1,527–532), aber in der Auswahl aus des Teufels Papieren systematisch ausgebaut werden (II/2,31– –––––––

33

thetik Jean Pauls. Tübingen 1979, S.68–97, insbesondere S.73f. Müller und Wiethölter gestehen Jean Paul zu, Fichte zumindest teilweise philosophisch beigekommen zu sein. Monika Schmitz-Emans hat in ihrer umfassenden Arbeit über Jean Pauls Sprachtheorie das Solipsismus-Problem im Zusammenhang mit der trennenden Kraft der sprachlichen Materialität untersucht – ein Zusammenhang, der auch mich hier interessiert (Monika Schmitz-Emans, Schnupftuchknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986, S.208–216). Nach wie vor lesenswert sind Max Kommerells Überlegungen über »Fichte als das bekämpfte Spiegelbild« Jean Pauls (Max Kommerell, Jean Paul. Frankfurt a.M. 1966, S.343). Kommerell behauptet, man »würde die Erschaffung Schoppes arg missverstehen, wenn man sagte: er stellt eine bestimmte Philosophie, nämlich die Fichtes, in ihrer grausamen Folgerichtigkeit dar und hebt sie damit aus« (S.344). Kommerells Grundintuition folgen auch meine Ausführungen. Siehe hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975, S.217ff., S.249ff.

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342).34 Die satirische Invektive gegen die Selbstrezension, die Jean Paul Hasus oder dem Teufel in den Mund legt, lässt sich zunächst so deuten, als werde hier gegen die notwendige Parteilichkeit jeder Selbstrezension das Ideal einer unparteiischen, von objektiven und transparenten Kriterien geleiteten Beurteilung fremder Werke propagiert. Eine solche Deutung liegt nahe, wenn etwa als angeblicher Vorteil der Selbstrezension angeführt wird, jedes Selbstlob müsse bescheiden ausfallen, und der Verfasser zum Beleg auf die (ausgesprochen unbescheidene!) Vorrede des Textes selbst verweist, in der er keinesfalls gewagt habe, sich mit Sterne und Swift auf eine Stufe zu stellen (II/2,312f.); oder wenn dargelegt wird, nur durch das Mittel der Selbstrezension könne schädlicher Tadel ganz vermieden werden (II/2,313f.); aber auch wenn Hasus schreibt, nur »Blindheit« und die »Entfernung vom guten Geschmack« ließen »einen vortrefflichen Autor in der Schätzung seiner Werke billig« werden (II/2,326). Allerdings läuft zumindest die Aussage, ein Vorteil der Selbstrezension bestehe darin, dass das »Forum delicti«, also der für das ›Delikt‹ der geistigen Schöpfung zuständige Gerichtsort, »blos im Kopf des Selbstrezensenten« (II/2,337) liege, dieser Deutung zuwider. Dieses Argument für die Selbstrezension entpuppt sich gerade nicht als ein bloßes Scheinargument, sondern kann zumindest unter bestimmten Bedingungen durchaus eine gewisse Stichhaltigkeit für sich beanspruchen. Stichhaltig wäre es nämlich dann, wenn man nicht von Vornherein von der Vermittelbarkeit subjektiver Geisteserzeugnisse mit transparenten, objektiven Beurteilungskriterien ausgeht, wie sie Fremdrezensenten gerne für sich reklamieren. Zumindest latent akzentuiert Jean Pauls Satire damit die Frage, ob solche Geisteserzeugnisse überhaupt veräußerlicht werden können. Grundlegender gefragt: Lässt die Einsicht in die unhintergehbare Subjektivität unserer Gedanken, wie sie sich in Jean Pauls Überlegungen abzeichnet, die Vorstellung gelingender Verständigung überhaupt zu? Es hat sich bereits gezeigt, dass das Kommunikationsproblem, das sich bereits in den frühen Satiren Jean Pauls abzeichnet, spätestens in dem Entwurf zu Über die natürliche Magie der Einbildungskraft eine systematischere und zugleich deutlich optimistischere Behandlung erfährt: Die Natur selbst wird hier insofern zum Garanten von Verständigung, als sie die Subjekte dazu zwingt, die Welt in Form von (Quasi-)Buchstaben – also immer schon als Teil eines auf den Geist hin orientierten Verständigungszusammenhangs – ––––––– 34

Siehe hierzu und zum Selbstzitat überhaupt Till Dembeck und Remigius Bunia, Mich zitieren. Zur Problematik des Selbstzitats, in: Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, hrsg. von Joachim Jacob und Mathias Mayer. München, erscheint 2009.

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anzusehen. Von einer Art ›natürlicher Physiognomik‹ ist hier die Rede, die uns insbesondere in den Gesichtern der anderen unwillkürlich lesen lässt – zahlreich sind die Stellen, an denen Jean Paul eine solche Form der Verständigung als Lektüre von Buchstaben fasst, die auf Gesichtern erscheinen.35 Allerdings lässt Jean Paul keinen Zweifel daran, dass derartige Mechanismen in ihrer Validität eben nicht überprüft werden können: Sein transzendentaler Realismus, der ihm mit Fichte gemein ist, lässt ihn zwar auf eine ›natürliche Magie‹ der Einbildungskraft schließen. Letztlich jedoch stehen dem Subjekt keine Mittel zur Verfügung, sich des Wohlwollens dieser Magie zu versichern. Damit aber sind alle vormaligen metaphysischen Gewissheiten dem Zweifel ausgesetzt – die daraus abgeleitete Vorstellung eines übermächtigen, aber seelenlosen Weltmechanismus, dem sich das Subjekt allein ausgesetzt sieht, hat Jean Paul am wirkmächtigsten in seiner Rede des toten Christus (I/2,270–275) gestaltet. Vor dem Hintergrund derart bedrohlicher Konsequenzen des transzendentalen Realismus, die für Jean Paul lange vor dem Erscheinen der Fichteschen Schriften sichtbar werden (und die Fichte explizit mit dem Hinweis ablehnt, sie griffen das ›Sein‹ des Bewusstseins selbst an),36 ist nachvollziehbar, warum der Solipsismus überhaupt als Problem relevant werden konnte. Wie tritt nun der Fichteanische Solipsist in Jean Pauls Texten in Erscheinung? Wie eingangs bereits gesehen, heißt der fiktive Verfasser des Clavis nicht von ungefähr Leibgeber (vgl. I/3,1050). Seine Auslegung der Fichteschen Philosophie besteht darin, dass er vorgibt, als absolutes, schöpferisches Ich der Welt, also des Nicht-Ich, zwar fremde Leiber zu ›setzen‹, ohne ihnen aber auch Seelen beizugeben. Die »Leibgeberei« (I/3,1043, 1046), die er betreibt, bezeichnet er daher gerade als das Gegenteil jeder »Fetischerei« (I/3,1046–49), also der Verehrung lebloser Objekte als wären sie beseelt. Indem nun Leibgeber allen Geist nur sich selbst zuschreibt, setzt er sich selbst als Schöpfergott ein; die entscheidende Stelle ist eingangs zitiert worden. Damit ist er insbesondere der Schöpfer aller Buchstaben. Er ist nicht nur der einzige Leser seiner Schriften, wie es Hasus (oder der Teufel) für sich annimmt, sondern er erschafft auch alle Bücher, die er liest: »Lesen ist Machen« (I/3,1050, s.a. 1032, 1035, 1037f., 1047 sowie, in der KonjekturalBiographie von 1799, I/4,1069). Dabei stellt sich allerdings die Frage, inwiefern damit auch schon für das Verstehen dieser Bücher, das dann ja ein Sich––––––– 35 36

Siehe Dembeck [Anm.19], S.326. Fichte schreibt in der Wissenschaftslehre: »Annehmen, daß sie [die Einbildungskraft] täusche, hieße einen Skeptizismus begründen, der das eigene Seyn bezweifeln lehrte« (GA I/2,369).

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Selbst-Verstehen bedeutet, gesorgt ist. Leibgebers Erfahrungen mit seinen eigenen Schöpfungen sind bemerkenswert: Er benötigt für das (lesende) Schreiben ›fremder‹ Texte weniger Zeit als für das Schreiben ›eigener‹ Texte (I/3,1050f.). Ausgerechnet die eigenen Texte bereiten in der geistigen Anverwandlung, die (immer) auch ihre Schöpfung bedeutet, also mehr Probleme. Leibgeber denkt sogar die Möglichkeit, als all-schöpferisches Ich die selbst geschaffenen Texte gar nicht verstehen zu können – auch wenn dieser Fall auf einen gänzlich ungebildeten Bibliotheksbeheizer projiziert wird, der, wäre er ein solches Ich wie Leibgeber, zwar alle Bücher seiner Bibliothek erschaffen hätte, dennoch aber nicht dazu gebracht werden könnte, eines von ihnen auch zu verstehen (I/3,1051f.). Geistiges Schöpfertum schützt also nicht vor Verstehensproblemen. Gerade an diesem Punkt wird die Spannung zwischen Jean Pauls und Fichtes Umgang mit der Unterscheidung von Geist und Buchstabe bedeutsam. Hierzu ist ein Blick auf Fichtes Konzept des geistigen Eigentums nötig, das sich insbesondere dem Zusammenhang zwischen geistiger Schöpfung und buchstäblicher Darstellung widmet und einen bestimmten Zug der später erschienenen Wissenschaftslehre stärker akzentuiert. Fichte schreibt in seinem Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (1793): Jeder hat seinen eigenen Ideengang, seine besondere Art sich Begriffe zu machen, und sie unter einander zu verbinden [...]. Alles was wir uns denken sollen, müssen wir uns nach der Analogie unsrer übrigen Denkart denken; und bloß durch dieses Verarbeiten fremder Gedanken [...] werden sie die unsrigen [...]. [...] Da nun reine Ideen ohne sinnliche Bilder sich nicht einmal denken, vielweniger Andern darstellen lassen, so muß freilich jeder Schriftsteller seinen Gedanken eine gewisse Form geben, und kann ihnen keine andere geben als die seinige, weil er keine andere hat; aber er kann durch die Bekanntmachung seiner Gedanken gar nicht Willens sein, auch diese FORM gemein zu machen: denn niemand kann seine Gedanken sich zueignen, ohne dadurch dass er ihre Form verändere. Die letztere also bleibt auf immer sein AUSSCHLIESSENDES EIGENTHUM. (GA I/1,412)

Diese Passage aus einer Schrift, dank derer Fichte als Erfinder des modernen Konzepts des geistigen Eigentums gehandelt wird,37 ist nicht nur insofern bemerkenswert, als sie die oben auf der Grundlage der Wissenschaftslehre rekonstruierte Hermeneutik bereits umreißt, sondern vor allem deswegen, ––––––– 37

Fichte »unterscheidet [...] am Buch das Körperliche vom Geistigen [...]; sodann wiederholt er die Operation und teilt das Geistige [...] ein‚ in das Materielle, den Inhalt des Buches, die Gedanken, die es vorträgt; und in die Form dieser Gedanken, die Art wie, die Verbindung in welcher, die Wendungen und Worte, mit denen es sie vorträgt« (Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn/München/Wien/Zürich 1981, S.60. Die Markierung des Endes des Fichte-Zitats fehlt bei Bosse).

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weil Fichte hier implizit davon ausgeht, dass die Form jeder Mitteilung zwar unveräußerlich und singulär sei, sich aber in einem allgemein verfügbaren Code, nämlich in Form von Buchstaben, darstellen lasse: »A = A«. Dass aber die Buchstaben als identische wiederholbar bleiben, könnte, denkt man Fichtes eigene (spätere) Einsicht in die Wirkungsweise der Einbildungskraft konsequent zuende, auch Leistung eines Vermögens sein, über das das Subjekt wenig wissen und das es letztlich gerade nicht kontrollieren kann. Darüber hinaus aber ist Fichte zumindest in dieser Schrift der Ansicht, dass die unveräußerliche individuelle Form, in der das Subjekt seine Gedanken fasst und einzig fassen kann, sich nicht verändert: Sie bleibt sich ›auf immer‹ gleich, d.h., sie bleibt auch immer gleich individuell, obschon sie nur in Form allgemein verfügbarer Buchstaben in Erscheinung treten kann. Man könnte meinen, Fichte gehe hier bereits davon aus, dass das Ziel seines ethischen Entwurfs am Ende der Wissenschaftslehre, das ja in der Übereinstimmung von Objekten und Ich besteht, zumindest für den Bereich des buchstäblichen Ausdrucks bereits erreicht sei. Wie dem auch sei: Diesem Entwurf Fichtes zufolge dürfte geistiges Schöpfertum jede Schwierigkeit, die eigene Schöpfung zu verstehen, für immer ausschließen. Der Solipsist Leibgeber dürfte demnach, wäre er tatsächlich Schöpfer aller Schriften, die er liest, nie Probleme mit dem Verstehen haben können. Dass er diese aber augenscheinlich hat, weist darauf hin, dass den Kontrollmöglichkeiten eines lesenden Schöpfergottes Grenzen gesetzt sind. Es steht offenbar nicht in seiner Macht, beliebige textuelle Formen beliebig zu verarbeiten. Mehr noch: Offenbar fällt es gerade am schwersten, dasjenige zu verstehen, was man selbst sagen möchte – weshalb das Schreiben eigener Texte länger dauert als das (schreibende) Lesen fremder. Leibgeber maßt sich also ein Kontrollvermögen an, das dem Subjekt auch nach Fichtes eigener späterer Einsicht gar nicht gegeben ist. Jean Pauls Versuch, sich die absolute Vereinzelung und Selbstermächtigung eines Subjekts konkret vorzustellen, macht diese Momente des Kontrollverlusts gewissermaßen ›automatisch‹ sichtbar. Dass sich Leibgebers Kontrollverlust gerade im Umgang mit der Schrift artikuliert, verwundert insofern wenig, als in Jean Pauls Erkenntnistheorie ja gerade die Synthese quasi-buchstäblicher Figuren Aufgabe der vom Subjekt nicht kontrollierbaren Einbildungskraft ist. Liest man Jean Paul vor dem Hintergrund der Fichteschen Schrift über das geistige Eigentum, so treibt ihn letztlich eine sehr viel größere erkenntnistheoretische Verunsicherung um, als sie Fichte zu denken bereit ist – und gerade hierin könnte die tiefer liegende

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Spannung zu ihm begründet sein.38 Denn auch wenn die Wissenschaftslehre in ihrem Verlauf zu einem durchaus vergleichbaren Modell der Einbildungskraft kommt, akzentuiert Jean Paul das Moment von Fremdbestimmung, das diesem Modell innewohnt, erheblich stärker. Daraus ergibt sich auf der einen Seite eine radikale Entmachtung des Subjekts aus transzendentalphilosophischen Gründen; auf der anderen Seite versucht Jean Paul, diese Entmachtung gewissermaßen zur notwendigen Bedingung von Verständigung umzudeuten, während bei Fichte das Moment von Fremdbestimmung im Subjekt aus ethischen Gründen überwunden werden soll. 3. Sich begegnen: Partner und Doppelgänger Die wesentliche Differenz zwischen Jean Paul und Fichte in ihrem Umgang mit der Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe ist bereits sichtbar geworden: Beide gehen davon aus, dass im Wirken der Einbildungskraft, also des Geistes, immer ein Moment von Fremdbestimmung enthalten ist. Fichte leitet daraus die Forderung ab, den Kontrollbereich des Ich zu erweitern; zuweilen (etwa in der Schrift über das geistige Eigentum) scheint er bereits davon auszugehen, die Kontrolle des Subjekts über seine Buchstabenproduktion sei vollumfänglich gewährleistet. Für Jean Paul hingegen stellt das Wissen um ein Moment von Fremdbestimmung im Subjekt zugleich den Anlass zu einem radikalen erkenntnistheoretischen Zweifel und einen Hoffnungsschimmer angesichts dieses Zweifels dar: Gerade weil die Einbildungskraft offenbar nicht völlig dem Ich unterworfen ist, kommt sie vielleicht unserem Willen zur Erkenntnis der Welt und zur Verständigung mit anderen entgegen und stellt entsprechende Verbindungen her. Im Entwurf des Leibgeberschen Solipsismus artikuliert sich allerdings die Befürchtung, dass unser Vertrauen in dieses Entgegenkommen sich als gänzlich haltlos erweisen könnte – mit dem Effekt einer metaphysischen Vereinsamung. Es bleibt allerdings noch zu rekonstruieren, wie Leibgebers und Jean Pauls Auseinandersetzung mit Fich––––––– 38

Angesichts dieses radikalen erkenntnistheoretischen Zweifels muss etwa Müllers Behauptung, Jean Paul werfe Fichte »die völlige Mißachtung des Vorgeordneten in der Natur« vor (Müller [Anm.25], S.72), radikalisiert werden, denn dieser Vorwurf ist für Jean Paul immer auch ein Selbstvorwurf: Die Mechanismen der Ahnung, des Humors und des Vertrauens, auf die Jean Paul setzen muss (und deren Unsicherheit Müller durchaus sehr treffend vor Augen führt), können nie zu einer Lösung führen, sondern erzeugen das Problem, dass keine Vorordnung der Natur jemals wirklich greifbar werden kann, immer wieder neu. Entsprechend formuliert Schmitz-Emans: »[O]b die Natur Recht behält, kann niemals entschieden werden.« (Schmitz-Emans [Anm.32], S.201). In der fortgesetzten Bearbeitung dieses Problems halten sich Jean Pauls Texte ästhetisch aufrecht.

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te im einzelnen verfährt, weil hier das gröbste ›Missverständnis‹ zu liegen scheint. Dabei ist sowohl die philosophische Argumentation als auch die literarische Inszenierung dieser Argumentation zu berücksichtigen. Warum also will sich Leibgeber nicht dazu zwingen lassen, die fremden Körper, die er ›setzt‹, auch zu beseelen? Seine Weigerung leitet Leibgeber aus der Fichteschen Theorie ab, die den Schritt des Subjekts zur Anerkennung anderer Subjekte, zu der uns, Jean Paul zufolge, schon die Einbildungskraft zwingt, auf gänzlich andere Weise beschreibt. Hierin scheint in der Tat der Hauptkritikpunkt Jean Pauls an der Fichteschen Philosophie zu liegen:39 Jean Paul scheint zu missfallen, dass Fichte die Existenz anderer Subjekte in seinem System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) aus der Vernunft ableitet und ihr somit keine sinnliche Evidenz zumisst.40 Fichtes Argumentation in der Sittenlehre setzt grundlegend an: Weiterhin konsequent von der Selbsttätigkeit des Subjekts ausgehend, versucht Fichte zu zeigen, dass das Subjekt in seiner Ichheit nicht gedacht werden kann, ohne dass es immer schon die Existenz mindestens eines weiteren Ich annimmt. Der Grund hierfür liegt erstens darin, dass auch die Selbstbestimmung des Subjekts einer Art äußeren ›Anstoßes‹ bedarf: »Meine Selbstbestimmung ist ohne mein Zuthun vorhanden, kann bloß das heißen: sie ist als ein Begriff vorhanden; oder kurz, ich bin darzu aufgefodert« (GA I/5,200). Dieser Anstoß muss nun zweitens einem anderen Ich zugeschrieben werden: »Ich kann diese Auffoderung zur Selbstthätigkeit nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben, das mir einen Begriff, eben von der gefoderten Handlung, mittheilen wollte« (GA/5,201). In Rücksicht auf die Freiheit dieses anderen ist für das Subjekt dann eine Selbstbeschränkung notwendig (GA/5,201).41 Der Nachweis, dass dem Menschen überdies die Möglichkeit gegeben ist, weitere Subjekte außer sich und dem ursprünglichen

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41

So schreibt Jean Paul in der »Vorrede« zum Clavis, sein Werk sei vor allem darin zu schätzen, »daß es den fichtischen Idealismus mit dem apodiktischen Dasein fremder Mit-Ichs, das ihn gerade stützen soll, umzubrechen sucht« (I/3,1013). Hierzu siehe Hansjürgen Verweyen, Recht und Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre. Freiburg/München 1975, S.145–150; H.V., Einleitung, in: Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1995, S.XIX–XXV. Verweyens Buch nimmt eine umfassende Überprüfung und Aktualisierung der Fichteschen Rechtsphilosophie und Ethik vor dem Hintergrund der Wissenschaftslehre vor. Insbesondere dieser letzte Schritt der Argumentation lässt sich trefflich kritisieren. Siehe z.B. Verweyen, Recht und Sittlichkeit [Anm.40], S.149 sowie Verweyen, Einleitung [Anm.40], S.XXVI.

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Du zu denken, und dass diese Möglichkeit sogar seinem Trieb entgegenkommt, ermöglicht schließlich die völlige Entfaltung der Sittenlehre.42 Leibgebers Einwände gegen diese Argumentation betreffen vor allem ihre mangelnde Konkretion: »Das reine Ich kann gegen kein reines handeln« (I/3,1040), heißt es etwa, und Leibgeber versucht zu zeigen, dass Fichte das »Simultaneum« (I/3,1041) der vielen Ichs und mithin ihre Interaktion nicht würde erklären können. Diese Schlagrichtung von Leibgebers Argumentation ist insofern interessant, als sie als Alternative zunächst nur einen ›dogmatischen‹ Realismus (im Sinne Fichtes) zuzulassen scheint: Leibgeber zufolge muss man offenbar, will man nicht zum Solipsisten werden, an die Gegebenheit einer Realität außerhalb des Bewusstseins glauben, an die Gegebenheit einer ›Welt an sich‹, die allen Subjekten gleichermaßen zugänglich ist. Tut man dies nicht, so suggeriert Leibgeber, bleibt nur ein Modell möglich, das Subjektivität als ausweglose Selbstbefangenheit denkt. Diese Alternative kann gewiss nicht im Sinne des Transzendentalphilosophen Jean Paul sein, der einem dogmatischen Realismus ja gerade nicht das Wort redet. Um zu sehen, wie Jean Pauls Texte sich zu der von Leibgebers Argumenten insinuierten Alternative verhalten, muss freilich die Reichweite der Argumentation vergrößert werden, denn zu diesem Zweck sind auch die ästhetischen Verfahren der Jean Paulschen Texte zu berücksichtigen. Es ist zunächst, auch wenn dies trivial klingen mag, nicht ohne Bedeutung, dass der Erzähler Jean Paul in erster Linie selbst eine Gestalt der Texte des Autors Jean Pauls ist. Es lohnt sich daher, diesen Jean Paul ›seinem‹ Leibgeber, der ja auch ›sein‹ Fichte ist, gegenüberzustellen. Leibgeber nämlich ist nicht nur der Doppelgänger von Siebenkäs, der in dem gleichnamigen Roman von dem fiktiven Erzähler Jean Paul als Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren ausgegeben wird, sondern er steht auch diesem Erzähler selbst als eine Art doppelgängerisches Zerrbild nahe. Leibgeber und seinen Erzähler trennt die Differenz zwischen satirischem und empfindsamem Humor, die sich aus der Vorschule der Ästhetik (1804) ableiten lässt.43 Leibgeber tritt von Beginn an, also noch bevor er mit der Fichteschen Philosophie in Berührung kommt, als satirischer Humorist auf, dem nahezu jeder empfindsame Zug abgeht.44 Während der empfindsame ––––––– 42

43 44

Vgl. Fichtes Argumentation in seinem Aufsatz Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (1795): »Der Mensch geht nothwendig darauf aus, alles, so gut er es weiß, v e r n u n f t m ä ß i g zu machen‹ (GA I/3,101). Deswegen ist ihm die Begegnung mit anderen vernunftbefähigten Wesen höchst willkommen und erzeugt ein Mitteilungsbedürfnis. Siehe Dembeck [Anm.19], S.340–352. Vgl. Kommerell [Anm.32], S.344: »Das Gleichheitszeichen ist zwischen dem Ich-Erlebnis des Humoristen und Fichtes Wissenschaftslehre zu setzen.«

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Humorist – etwa Viktor aus dem Hesperus (1795) – über die Realität lachen kann, obwohl sie dem Ideal nicht entspricht, ja weil er gerade in ihrer Unvollkommenheit einen Verweis auf dieses Ideal sieht, ist ein satirischer Humorist wie Leibgeber auf die Haltlosigkeit nicht nur der realen Zustände, sondern auch der für den empfindsamen Humor charakteristischen Operation fixiert. Ihm genügt das lachende Sich-Erheben nicht, weil die Grundlage dieser Erhebung ihrerseits in Zweifel gezogen werden kann, ja muss. Genauso wenig genügt ihm – und das ist hier entscheidend – das empfindsame Vertrauen in jene wechselseitige Verständigung, zu der uns Jean Pauls Theorie der Einbildungskraft gemäß die Natur zwingt. Leibgebers Begegnungen mit anderen erhalten so in der Tat den Charakter jenes Zusammentreffens, von dem sein Freund Giannozzo (in Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch von 1800) träumt: Sogar du, mein lieber Graul [Leibgeber], wurdest unter diese Manen des Wachens geschickt; ich lief dir entgegen, aber du konntest dich durchaus nicht umwenden, du mußtest mir bloß wie eine Gliederpuppe die herumgedrehten Arme rückwärts entgegenrecken und drücktest mich sehr warm an deinen Rücken [...][.] Aber du ließest mich nicht um dich herum, sondern stricktest mich fester an und riefest noch lauter: »Giannozzo, wo lebst du, Lämmchen? Kannst du mir nicht erscheinen? [...]« (I/3,1004f.)

Die Verständigung misslingt hier darum, weil man sich trotz größter Nähe nie zu Gesicht bekommen kann. Das Funktionieren der ›natürlichen‹ Verständigungsmedien wird so von Vornherein unterbunden – mit dem Ergebnis, dass man einander nicht in Erscheinung tritt. Dank dieses Mangels an Vertrauen aber – denn darum handelt es sich letztlich – scheitert das humoristische Verfahren im Falle Leibgebers gründlich. Tut der empfindsame Humorist so, als sei die Narrenwelt, die ihn umgibt, nur zum Zwecke der Unterhaltung und als Verweis auf ein Ideal so inszeniert, so gehört dazu ein (wenn auch ironisch gebrochenes) Vertrauen in die Kraft der Phantasie, die hinter und in der Narrenwelt jenes Ideal sichtbar macht. Leibgeber aber ist, ausgehend von dem Namenstausch mit Siebenkäs und auch über dessen Scheintod hinaus, fortdauernd selbst damit befasst, humoristische Inszenierungen in die Welt zu setzen. Kann die Kraft der Phantasie im Falle des empfindsamen Humoristen den Eindruck erzeugen, die Welt sei als Inszenierung die Offenbarung einer besseren Welt, so inszeniert Leibgeber lieber nur noch selbst Welten – und fällt später umgekehrt als Schoppe im Titan (1800–1803) auf die böswilligen Inszenierungen anderer herein. Nun ist aber auch der fiktive Erzähler Jean Paul mit nichts anderem befasst als mit der humoristischen Inszenierung von Welten. Es handelt sich um eine

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ausgesprochen wirkmächtige Erzählinstanz, die nicht nur als »Deus ex machina« auftritt, etwa im Jubelsenior von 1797 (I/4,458), sondern sich vor allem allzu gerne mit ihren Geschöpfen verbrüdert. So steht etwa am Ende der Erklärung der Holzschnitte die Vision einer menschheitlichen AllVerwandtschaft: die »Stadt Hof« wird zum »himmlische[n] Jerusalem« (I/4,712). Vor allem aber durchläuft der Erzähler Jean Paul, auch wenn er seinen Namen in immer wieder neuen Varianten behält, eine ganze Reihe von Identitäten, die ihn in immer neue Verwandtschaftsverhältnisse mit seinem Personal setzen.45 Noch die Konjektural-Biographie erscheint in Verbindung mit Jean Pauls Briefen (1799), die von einer Reise Jean Pauls nach Kuhschnappel berichten, wo er einiges Personal aus dem Siebenkäs (1796) wiedertrifft. Das kreative Erzähler-Ich mit Namen Jean Paul ist also zumindest insofern seinem Geschöpf Leibgeber ähnlich, als sich beide in den Mittelpunkt einer Welt setzen, die sie zugleich schöpferisch entwerfen. Ein gewichtiger Unterschied besteht allerdings nicht nur darin, dass der Erzähler Jean Paul sein Personal beseelt, sondern auch darin, dass er sich in ein empfindsames Einvernehmen mit ihm setzt. Um zu verstehen, wozu diese Inszenierung dient, lohnt ein Blick auf Jean Pauls Konjektural-Biographie. Hier nämlich wird unmittelbar vorgeführt, wie der Erzähler mittels seiner Phantasie auch in seine eigene Welt und in das eigene Leben hinein zu wirken versucht. Erzählt wird nämlich gerade nicht von demjenigen, was in diesem Leben schon vorgefallen ist, sondern vielmehr von demjenigen, was noch bevorsteht und nur gemutmaßt werden kann. Man dürfte von einem solchen Text Auskunft über die Motive für einen Einsatz der Phantasie erhalten, wie er in all jenen Erzählungen zum Tragen kommt, in denen der Erzähler Jean Paul auch sein eigenes Leben ausmalt. Die Konjektural-Biographie widmet sich in erster Linie der zukünftigen Ehe des Erzählers inklusive ihrer Vorgeschichte. Entworfen werden Szenen, die Jean Paul bemerkenswerterweise seinen eigenen vormaligen literarischen Erfindungen nachleben wird: Er spricht von einem »Hang« des Schicksals, »immer nach dem Szenenplan meiner fremden Geschichten meine eigne auszuschneiden und so, wenn andre mit der Wirklichkeit ihre Dichtkunst wässern, schöner jene mit dieser bei mir abzusüßen« (I/4,1028). Die Phantasie des Erzählers wird so explizit zur lebensgestaltenden Kraft.46 ––––––– 45 46

Siehe hierzu Dembeck [Anm.19], S.388–400. Zur Konjektural-Biographie siehe Ralf Simon, Zwei Studien über Autobiographik II. »Konjektural-Biographie« und »Selberlebensbeschreibung«. Jean Pauls inszenierte Autobiographik, in: JJPG 29 (1994), S.131–139. Simon zeigt, dass Jean Pauls autobiographisches Erzählen »Konstruktion des Erzählten ist und nicht Explikation von Naturwüchsigem«, und zwar eine Konstruktion, die »als Anrufung in das Leben hinein« (S.137) funktioniert: Nur

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Das entscheidende Erlebnis des ›bevorstehenden Lebenslaufs‹ bildet die Begegnung mit der zukünftigen Gattin. Sie führt zu der Entdeckung, dass die Geliebte immer schon anwesend war: Ich will dann [...] sagen, wie sonst meine Seele war und wie lange du schon bei ihr bist; – wenn die Tonkunst mit der Engelszunge sprach, so redete sie leise von dir – wenn der Frühling seinen weiten Blüten-Garten wiederbrachte, so sucht’ ich dich darin [...] – und wenn mich das Leben wie eine hohle Leiche aus Wachs mit hölzernen Augen ansah und nicht atmete, so kam mir deine Gestalt entgegen in Frühlings-Wärme, und sie hob den Schleier zurück, und ich sah die Hoffnung. (I/4,1041f.)

Die Phantasie beglaubigt dergestalt in der Gegenwart des Erzählens die Hoffnung, dass das Leben doch lebendig sei, sie weiß schon von einem Du, das dem Erzähler wahrhaft vertraulich zugewandt sein wird. Indes muss das Vertrauen in diese Zukunft des Vertrauens von der Phantasie zugleich beschworen werden, denn es besteht der Verdacht, dass die Stimme der Geliebten, die dem Erzähler schon früher beim Dichten fremder Glückseligkeit von ihrem Dasein kündete, letztlich doch nur der Effekt eines Selbstbetrugs sein könnte: Kalt schneidet jetzt ein Gedanke durch mich – ich schwebe ja hier neben den Inseln der Dichtkunst, und die ferne Stimme, die mich trösten will, kommt nur aus meiner Brust – – Nein, wer sie hineingeschaffen, der kann sie nicht lügen lassen. – – (I/4,1042)

Auch der bevorstehende Lebenslauf ist aber nur Dichtung, und wenn die Stimme dieser Dichtung, die Stimme der Phantasie, Trost verkündet, so bleibt dennoch die Frage, von wo aus diese Stimme eigentlich spricht: Sie kommt aus dem Innern, jedoch wäre es verhängnisvoll, wenn sie nur dorther käme. Dann nämlich würde das Schreckensbild des Solipsismus zur Gewissheit – so wie es das für Leibgeber schließlich wird. Jean Paul geht also – ähnlich wie Fichte – davon aus, dass die Existenz anderer Subjekte keinesfalls ein selbstverständliches Wissen darstellt. Er erklärt das Wissen um die anderen, wie gesehen, als Zwang der Natur, genauer: der ›natürlichen Magie der Einbildungskraft‹. Wir können wissen – so lautet Jean Pauls transzendentalphilosophische Grundeinsicht –, dass uns die sinnliche Welt nur über die Vermittlung dieses Vermögens zugänglich ist, nämlich in Form von Quasi-Buchstaben. Soweit gehen Fichte und Jean Paul konform. Während nun aber für Fichte die Erfahrung eines internen Wider––––––– über die Evokation von Momenten »ekstatische[r] Zeitlichkeit« (S.138), die die Phantasie zu einem Brückenschlag in die Transzendenz veranlassen, funktioniert hier Sinngebung – wobei diese Sinngebung, wie ich zu zeigen versuche, höchst riskant ist und bleibt.

Fichte dem Buchstaben nach auslegen

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stands gegen die eigenen Operationen bzw. die Reflexion auf diese Erfahrung das Subjekt zur Externalisierung der durch die Einbildungskraft gegebenen Figuren zwingt, über die es – dies erzeugt den internen Widerstand – keine Kontrolle gewinnen kann, und während in einem ähnlichen Reflexionsschritt auf die Existenz mindestens eines weiteren Subjekts geschlossen wird, postuliert Jean Paul, wie gesehen, einen direkteren Weg, um zu diesem Schluss zu kommen. Für ihn stellt die Einbildungskraft die Schnittstelle zwischen Körper und Geist auch insofern dar, als sie die Figuren, die sie bereitstellt, immer schon als beseelt anzusehen zwingt: Die Einbildungskraft bzw. die Phantasie ist selbst jene Stimme, die als Stimme des Du im Ich von der Existenz anderer Subjekte kündet. An dieser Unmittelbarkeit scheint Jean Paul einiges zu liegen. Was nun aber Fichtes Philosophie explizit und unübersehbar werden lässt, ist, dass auch Jean Pauls Theorie der Einbildungskraft eine irreduzible, vom Subjekt ausgehende Aktivität postulieren muss, will sie die Möglichkeit bloßer Wahrnehmung erklären – man denke an Platners ›Actus‹. Die Reflexionsakte, die in der Wissenschaftslehre bzw. in der Sittenlehre zur Erlangung eines Wissens von der Umwelt und von anderen Subjekten führen, bringen aber einige Unsicherheit mit sich, insofern sie als solche keinem Du zugeschrieben werden können. Genau an dieser Stelle wird Fichtes strikte Perspektivierung der Selbsttätigkeit des Subjekts und mehr noch ihre ethische Stärkung für Jean Paul zum Skandalon – allerdings zu einem Skandalon, das ihn schon lange vor Fichtes Auftritt auf der philosophischen Bühne umtreibt. Denn Jean Pauls Dichtung verfolgt das Ziel, eine möglichst gründliche metaphysische Gewissheit über den Zusammenhang der Welt und insbesondere über den Verständigungszusammenhang zwischen den Menschen herzustellen.47 Fichtes Philosophie wird im Rahmen dieses Projekts dank ihres glasklaren Aufweises der Abhängigkeit dieser Zusammenhänge von der irreduziblen Selbsttätigkeit des Ich zur Reflexionsfigur einer Gefahr, gegen die der empfindsame Humorist Jean Paul kämpft, die ihn aber aus seinem eigenen Innersten und aus dem Innersten seines Projekts heraus anspricht: Antrieb der Jean Paulschen Dichtung ist die Absicht, es immer wieder wahrscheinlich werden zu lassen, dass im eigenen Innern noch jemand anders spricht als man selbst. Fichte hingegen denkt ein Modell, in dem diese innere Stimme nur dann erklingt, wenn man sie anspricht. Während nun für Fichte die Erklärung jenes Moments von Fremdbestimmung, ohne welches Bewusstsein nicht möglich

––––––– 47

Siehe zusammenfassend Dembeck [Anm.19], S.401–405.

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ist, im erkenntnistheoretischen wie im ethischen Sinne letztlich uninteressant bleibt, ist sie für Jean Paul zugleich nicht zu leisten und doch unverzichtbar. Jean Pauls Texte versuchen, diese ausweglose Situation ins Positive zu wenden. Es ist ihm darum zu tun, die Tätigkeit von Einbildungskraft und Phantasie fortwährend zu steigern, obwohl sie beide potentiell unzuverlässige Bundgenossen sind. Beide werden gewissermaßen immer wieder von Neuem auf die Probe gestellt. Das »Unerklärliche«, das die Tätigkeit des Geistes immer mitbestimmt, darf nämlich nicht, wie bei den Fichteanern, nur »einmal, nämlich oben am System als Haken, woran sie die Schlußketten festmachen« (I/4,1018), Berücksichtigung finden, wie Jean Paul im Brief an seinen »erstgebornen Sohn Hans Paul« in den Briefen schreibt (I/4,1014). Es muss vielmehr fortwährend bewusst gehalten werden. Jean Paul zielt daher in einer genauen Gegenbewegung zu Fichtes Philosophie darauf ab, die Abhängigkeit des Geistes von der Sinnlichkeit zu bewahren und zu stärken. Hoffnung gibt dabei zum einen das bereits im Zitat aus der Konjektural-Biographie angedeutete Argument, man müsse sich, wenn man schon auf Einbildungskraft und Phantasie ohne völlige Kontrollmöglichkeit angewiesen sei, auf sie auch verlassen können. Aber es ist klar, dass dies letzten Endes doch nur eine Konjektur ist. Auf der einen Seite bleibt dem empfindsam-humoristischen Autor Jean Paul also nur Vertrauen – ein Vertrauen darauf, dass seine Schlüsse auf ein mitempfindendes Du und seine wohlwollende Interpretation der unvollkommenen Welt nicht gänzlich haltlos sein werden, auch wenn ihnen mit den Mitteln der transzendentalen Reflexion, auf die allein man sich verlassen kann, kein Halt gegeben werden kann. Auf der anderen Seite bedient sich Jean Paul einer ästhetischen Strategie: Die Hinwendung zum sinnlichen Material, die der Ästhetischen Vorschule zufolge den Humoristen charakterisiert, wird systematisch dazu genutzt, die Tätigkeit von Einbildungskraft und Phantasie, also von denjenigen Vermögen, die vielleicht einen Zugang zum Du und zu einer besseren Welt ermöglichen, unaufhörlich zu provozieren. Aus diesem Grund stellt sich Jean Pauls Schriftsteller-Ich überall als Mitbruder in das von ihm in all seiner Sinnlichkeit beschriebene Geschehen hinein und betätigt sich, wie es in der Konjektural-Biographie heißt, als witziger ›Ideenkopulator‹, der »den ganzen Tag mit Hochzeittexten und Brautfackeln am Traualtar« steht und unaufhörlich damit befasst ist, »Ideen« zu »kopulieren«, also die einzelnen Partikel unseres Wissens auf neue Art und Weise miteinander in Verbindung zu bringen – bis, wie es heißt, »im ganzen Kopf für Geld kein geschiedenes Ideen-Paar zu erfragen ist« (I/4,1067). Und auch wenn diese ästhetischen Strategien in ihrer Haltlosigkeit am Ende ebenfalls der humoristischen Bestätigung und damit

Fichte dem Buchstaben nach auslegen

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des unbegründbaren Vertrauens bedürfen, arbeiten sie doch dem metaphysischen Bedürfnis zu, das ohne einen immer wieder neuen Entwurf immer wieder neuer buchstäblicher Figuren sofort den Tod der Welt wittern würde. Auch Jean Pauls brachialer Umgang mit dem Wissen, das ihm in der Lektüre begegnet und das in seinen Exzerpierverfahren mitunter grob beschnitten und aus dem Zusammenhang gerissen wird,48 hat in diesem Verfahren seinen Ursprung: Die buchstäbliche Lektüre, die eben nicht im Fichteschen Sinne den Geist, den Zusammenhang betont, sondern die Partikel, Schnipsel und Buchstaben, ergötzt sich fortwährend daran, auch diesen Schnipseln noch einen Zusammenhang abtrotzen, und eben darin das Leistungsvermögen von Einbildungskraft und Phantasie erfahren zu können. Gerade das Lesen nach dem Buchstaben also hält die Schnittstelle zwischen Geist und Buchstabe offen und verhindert strukturelle Verhärtungen – weshalb es, wie oben angedeutet, in der Tat gar nicht dazu kommen darf, dass man das (im Fichteschen wie im Jean Paulschen Sinne) Unerklärbare der ›Verbindung‹ von Buchstabe bzw. Körper und Geist in einer Erklärung auflöst. Missverstehen muss also um des höheren Verstehens wegen in Kauf genommen werden. Dann kann man sich auch aus ästhetischen Gründen, hinter denen wiederum metaphysische Interessen stehen, darauf einlassen, Fichte dem Buchstaben nach, und das heißt: nur unvollständig, zu verstehen oder gar misszuverstehen. Soll Fichte im Gefüge der eigenen transzendentalphilosophisch begründeten Dichtung als Abgrenzungsfigur dienen, die man benötigt, um zu wissen, welchen Konsequenzen man entgehen will, lässt sich diese Figur nur über eine buchstäbliche Lektüre konstruieren. Allerdings wäre es wiederum unproduktiv, verfestigte sich eine solche Lektüre zu einem eindeutigen Schema, das für alternative Lesarten nicht mehr offen wäre. Wohl deshalb muss Jean Paul sein Clavis höchst uneindeutig rahmen: Auch wenn der Herausgeber versucht, seine (und auch Leibgebers ursprüngliche) satirische Absicht festzuschreiben (I/3,1017, 1019f.), wird er doch davor gewarnt, dass es letztlich nicht in seiner Macht steht, seine Position aus eigenen Kräften zu halten. So schreibt Leibgeber seinem Autor im »Handschreiben« (I/3,1020): »Gehab dich wohl, Biograph! Mein fichtischer papierner Drache, den du nun in die anti-fichtische Wetterwolke auffahren lässest, kann dir, weil du darunterstehst mit der Schnur, ein paar Donnerschläge auf den Scheitel zuwenden; stecke sie ein!« (I/3,1023) Als Autor, dessen Schrift Jean Paul kraft seiner editorischen Rahmungsmacht seinem Anliegen dienstbar zu machen versucht, bedeutet Leibgeber seinem Editor, ––––––– 48

Siehe Dembeck [Anm.19], S.360–370.

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Till Dembeck

dass er über die Buchstaben, die er herausgibt, doch nicht gebieten kann. Indem er nämlich den Clavis in ein unkontrollierbares Spannungsfeld ›auffahren‹ lässt, öffnet er ihn für Lektüremöglichkeiten, die das eigene ›antifichtische‹ Selbstverständnis womöglich nicht unbeeinträchtigt lassen. Der Editor Jean Paul lässt sich von seiner philosophierenden Figur eine philologische Lehre erteilen, die aber philosophische Wirkungen zeitigt. Die Mitteilung lautet, dass man nie glauben sollte, mit den Mitteln des Geistes Souveränität erlangen zu können. Im Interesse des Geistes gilt es vielmehr, die Buchstaben zu pflegen, ohne sie beherrschen zu wollen. In ihnen gründen Jean Pauls Ängste und Hoffnungen.

KARL S. GUTHKE

DER BÜRGER UND DER »ZUSAMMENSTOSS DER KULTUREN« Exotik im bürgerlichen Trauerspiel

I Exotik im bürgerlichen Trauerspiel? – das kann doch nur ein Druckfehler sein! Ist denn das außereuropäisch Fremde im bürgerlichen Trauerspiel nicht ebensowenig zu Hause wie in den bürgerlich gesinnten Romanen und Erzählungen Jean Pauls? Und doch: ist es nicht auffällig, daß zu den Werken, die sich das Schulmeisterlein Wutz dank dem satirischen Einfall des Autors für seine PrivatBibliothek so unbekümmert um eigene Erfahrung zusammenschreibt, bevorzugt Berichte über Reisen in ferne Breiten und Längen à la Cook und Forster gehören? (I/1,427) Und daß seine Lieblingslektüre ausgerechnet Robinson Crusoe ist, »der ihm lieber war als Homer« (I/1,431). Die große weite Welt, der sich die Intellektuellen in dieser Zeit auch in den seemöwenfreien deutschen Territorien mit Staunen, mit Kritik und Selbstkritik öffnen, also auch in der kleinbürgerlichen Provinzwelt von Auenthal? Und ist es nicht ebenso erstaunlich, daß im Hesperus, Jean Pauls zeitgenössisch beliebtestem Roman – empfindsam wie nur je ein bürgerliches Trauerspiel –, auf weite Strecken hin, vor allem ausgerechnet im bukolischen Idyll Maienthals, und schon lange vor Friedrich Schlegels Sprache und Weisheit der Indier, eine Idealfigur, ein »erhabner«, »großer«, auch »hoher« Mensch (I/1,535, 683, 548), mysteriös aus dem Hintergrund dirigierend, eine Rolle spielt, nämlich der »Indier«, genauer »Ostindier« (I/1,675, 689) Emanuel Dahore? Er ist der Guru – der »Lehrer« und väterliche »Erzieher«, der Inspirator und das Vorbild des jugendlichen Helden Viktor, der in der duodezhöfischen Residenz, wo er als Arzt wirkt, so bürgerlich ist, daß er betonterweise die »bürgerliche« der »stiftfähigen« Liebe vorzieht (I/1,862). Der Guru jedoch macht ihn den »Alltag«, die »kleinen Verhältnisse des Orts und des bürgerlichen Lebens« vergessen über der Stärke und dem Glanz der »Wahrheiten«, die er förmlich ausstrahlt (I/1,686, 683, 684). Zu erinnern ist dabei: das »Indische« an Dahore ist nicht bloß eine Art Theaterkulisse (wie das Exotische von Dienerfigu-

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Karl S. Guthke

ren selbst noch bei Raabe und Fontane), ist also nicht bloß eine Sache der »orientalischen Kleiderkammer« des Mannes vom »Gangesstrom« (I/1,675, 603), sondern eine Sache auch der »Seele« des »Brahminen«, der ausdrücklich als Nicht-Christ vorgestellt wird und als solcher als Autorität mit seinem »indischen Gefühl für die Ewigkeit« (I/1,681, 687, 865). Es ist, als wolle Jean Paul, vielleicht an Kalidasa-Reminiszenzen anknüpfend, zeigen, wie ernst es ihm ist mit der Feststellung in der Levana: keiner sei mehr »allein« im Zeitalter der Buchkultur, die jetzt auch über die fernsten Weltgegenden unterrichte; »Europa ist ein durcheinander verwachsener Lianen-Wald, woran die andern Weltteile als Wucherpflanzen sich aufschlängeln und ausgesogen sich ansaugen« (I/5,549–550). Die damals in deutschen Landen mit dem Eifer der Zuspätgekommenen erfahrene außereuropäische Welt1 macht sich also selbst in einer Äußerungsform des geistigen Lebens geltend, in der man sie nicht vermuten würde. Das bei Jean Paul in extenso und en détail zu verfolgen, wäre eine Aufgabe für einen Sachkenner. Die Werke des »Chinesen in Rom« sind allerdings nicht der einzige Fall von solchem Krypto-Exotismus im deutschsprachigen Bereich. Ebenso unvermutet wie in dessen bürgerlicher Erzählkunst – und doch vorhanden – ist die Exotik im deutschen bürgerlichen Trauerspiel der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Unvermutet: denn schließlich weiß man spätestens seit Alois Wierlachers Buch Das bürgerliche Drama: Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert,2 daß die Wirklichkeit, die dieses Drama darstellen will, das »Alltägliche« ist,3 nämlich das aus der eigenen Häuslichkeit und Familie Vertraute; mit dem »Außerordentlichen«, mit »sonderbaren Menschen«, so das Journal aller Journale 1786, kann der Zuschauer sich nicht identifizieren, folglich fiele die bildende Erfahrung aus.4 Verfügbar wird diese lediglich aus deutschen oder doch westeuropäischen normalen Mittelstandsverhältnissen: schon »Ausländer« wären unzweckmäßig, weil ihnen ein solcher übertragbarer Bildungswert abgeht, meint der Wiener Theaterkritiker Joseph von Sonnenfels 17685 – wie viel unzweckmäßiger noch außereuropäische Fremde! Und doch herrscht solcher Mangel an Welthaltigkeit oder translokaler Perspektive nicht ausschließlich in jenen deutschen Dra––––––– 1

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Vgl. Karl S. Guthke, Die Erfindung der Welt: Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2005. Alois Wierlacher, Das bürgerliche Drama: Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert. München 1968. Wierlacher [Anm.2], S.88–99. Vgl. auch Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 6.Aufl. Stuttgart 2006, bes. S.55–56. Nach Wierlacher [Anm.2], S.90f. Nach Wierlacher [Anm.2], S.94.

Der Bürger und der »Zusammenstoß der Kulturen«

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men der Zeit, die sich – und das bleibt ausschlaggebend für die Bestimmung der Gattung6 – auf dem Titelblatt eigens (und sicherlich nicht unbedacht) als »bürgerliches Trauerspiel« ausgeben. Daß es sich da um bürgerliche Trauerspiele handelt, ist insofern wesentlich, als die in ihnen auftretenden exotischen Hauptgestalten (im Unterschied zu Nebenfiguren) mit ihrer fremden »Ideologie«, nämlich vor allem mit ihren philosophisch-religiösen Glaubensüberzeugungen und entsprechenden Verhaltens- und Handlungsweisen, in ausschlaggebender Weise thematisch in das Dramengeschehen integriert werden und derart den Gehalt, um nicht zu sagen: die These des Dramas mitbestimmen – im Gegensatz zu Gepflogenheiten im sonstigen »bürgerlichen« Drama, »Schauspiel« oder »Lustspiel«, das die interkulturellen Spannungen allzu gefällig trivialisiert oder ausgleicht (wie etwa Kotzebues Komödie Die Indianer in England) oder ganz an den Rand spielt (wie zum Beispiel Friedrich Ludwig Schröders »bürgerliches Familiengemälde« Der Vetter aus Lissabon).7 Exoten also doch im bürgerlichen Trauerspiel des achtzehnten Jahrhunderts, ganz wider Erwarten. Wie aber ist es möglich, daß eine so strikt auf lokale (deutsche oder in ihren Denkformen und Verhaltensweisen eingemeindete westeuropäische) Verhältnisse eingespielte Gattung ihren Blickwinkel derart auf das Außereuropäische, in jedem Sinne Fremde ausweiten kann? Die Möglichkeit ergibt sich aus der – allerdings in der Theorie der Gattung niemals aktualisierten8 – ––––––– 6

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Unter Berufung auf die Gattung »bürgerliches Trauerspiel« behandelt Wendy Sutherland das Exotische in Zieglers »Schauspiel« Die Mohrinn (1801). Ich halte mich hingegen an die jeweils im Untertitel erscheinende ausdrückliche Gattungsbezeichnung »bürgerliches Trauerspiel« und damit an das zeitgenössische und vom Verfasser bezeugte Verständnis der Gattung – mit der es bekanntlich im Sinne der Goethezeit bereits vor 1800 vorbei ist (Guthke [Anm.2], S.79). Sutherlands Verständnis von Exotik ist im übrigen anders orientiert als das meiner folgenden Darstellung; hier ihre eigene Inhaltsangabe: »By placing Toni, a black female character, in the class context of the European bourgeois family, without actually including her, Ziegler reveals both a fascination with and a fear of a racial Other. Aesthetically, the black female body serves to define the limits of physical female beauty and stands in direct contrast to the idealized white female body. Furthermore, it functions as a ›phobogenic object,‹ or ›stimulus for anxiety‹ (Fanon), positioned as a potential love interest of the white male. Finally, besides expressing these sexual and social anxieties, the presence of the black female body highlights imperialist desires of the German collective unconscious.« (Wendy Sutherland, Black Skin, White Skin and the Aesthetics of the Female Body in Karl Friedrich Wilhelm Ziegler’s Die Mohrinn, in: Colors 1800/1900/2000: Signs of Ethnic Difference, hrsg. von Birgit Tautz, Amsterdam/New York 2004, S.67–82, hier: S.67). Vgl. Karl S. Guthke, Die Ausnahme als Regel: Bürgerliches Drama in der Goethezeit, in: K.S.G., Das Abenteuer der Literatur, Bern/München 1981, S.187–209; auch in: Handbuch des deutschen Dramas, hrsg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1980, S.76–92. Dazu Guthke [Anm.3], Kap.III, Abschnitt 2: »Die Theorie des ›Privat-Trauerspiels‹«, wo nicht einmal die Fehlanzeige zur Sprache zu kommen brauchte.

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Logik der Sache. Denn wenn der Bürger sich im bürgerlichen Trauerspiel des achtzehnten Jahrhunderts, namentlich in moralischer und (»empfindsam«) seelischer Hinsicht als den Menschen schlechthin oder gar par excellence versteht (Lessing: wir sollen »nichts als den Menschen hören«; »wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen« in seinen familiär-häuslich-nachbarlichen Verhältnissen),9 dann kann auch der Schwarzafrikaner etwa nicht mehr, wie es in anderem literarisch-ideologischen Zusammenhang damals auf der Bühne heißen konnte, »der Teufel sicherlich« sein.10 Vielmehr muß er ein »Mensch« sein, der philosophischer, moralischer und religiöser Geistigkeit fähig ist, wie unkonventioneller Art auch immer. Ein spätestens seit Bayle leitender Gedanke der Aufklärung ebnet hier den Weg und bestimmt zugleich die Thematik derjenigen bürgerlichen Trauerspiele, die solche Exoten in ihren zentralen Personenbestand aufnehmen: nämlich die fortschreitend bejahte Frage, ob – so der 49. Literaturbrief – »Rechtschaffenheit ohne Religion« denkbar sei, wobei eigens erinnert wird: die Religion sei als die christliche, im Unterschied namentlich zur jüdischen oder mohammedanischen, zu verstehen.11 Besonders Lessing, der Begründer und Klassiker des deutschen bürgerlichen Trauerspiels, hat sich bekanntlich – von dem 1749 entstandenen Problemstück Die Juden bis zum »dramatischen Gedicht« Nathan der Weise (1779) – wiederholt dieser Frage gestellt, und zwar wäre als Urbild sowohl Nathans wie auch des jüdischen »Reisenden« in dem Jugendwerk nicht unplausibel kein anderer als Spinoza zu sehen, der in der Sicht des achtzehnten Jahrhunderts der exemplarisch tugendhafte Mensch war und, wie man munkelte, den Koran neben der hebräischen und der christlichen Bibel auf dem Schreibtisch stehen hatte.12 Die radikalere Version der Gretchenfrage der Zeit: ob man, wie Adrast in Lessings Freigeist, auch völlig »ohne Religion [...] voller tugendhafter Gesinnungen« sein könne,13 kann im Hinblick auf die Thematik der hier zu erörternden bürgerlichen Trauerspiele außer Betracht bleiben; denn in ihnen gibt sich, wie angedeutet, das Exotische vor allem zu erkennen als das für mittel––––––– 9

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Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 80.Stück, 14.Stück (Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann. 3. Aufl., bes. von Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart u.a.O. 1886–1924, Bd.X, S.125; Bd.IX, S.239). Vgl. Guthke [Anm.3], S.56–58. Sander L. Gilman, ›Das-ist-der-Teufel-si-cher-lich‹: The Image of the Black on the Viennese Stage from Schikaneder to Grillparzer, in: Austriaca: Festschrift für Heinz Politzer. Tübingen 1975, S.78–106. Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.VIII, S.127, S.129. Lessing bejaht, sein Gegner, der Hofprediger Johann Andreas Cramer, verneint die Frage (S.130). Dazu Guthke, Lessing und das Judentum oder Spinoza absconditus, in: K.S.G., Das Abenteuer der Literatur [Anm. 7], bes. S.138–143. Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.III, S.262.

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europäische Breiten Fremde der religiösen Glaubensüberzeugungen und der darauf gründenden Handlungsweisen der ethnisch anderen. Wie also werden diese im Zusammenstoß mit den gewohnten christlichen visiert? II Die Textgrundlage des Themas bilden vier ausnahmslos vom Autor im Titel als »bürgerliches Trauerspiel« ausgewiesene Stücke, von denen die Hälfte erst in neuerer Zeit ins Blickfeld der Literaturwissenschaft gerückt sind. Das erste ist lediglich als anderthalb Seiten langer, aber thematisch schon weitgehend ausgeprägter Entwurf zum ersten Akt überliefert: Lessings Tonsine (um 1755; unbekannt bis 1966).14 Es folgen Karl Theodor Breithaupt, Der Renegat (1759);15 G.P.V. (Gustav Philipp Vogel), Selim (1762; unbekannt bis 2004);16 Ernst Friedrich Hector Fal(c)ke, Braitwell (1769).17 Strukturell und thematisch basieren alle vier Stücke auf dem Gegenüber und Gegeneinander von außereuropäischen Fremden mit ihren exotischen Denk- und Verhaltensmustern (Japanern, Türken, Arabern) einerseits und andrerseits Europäern (die trotz ihrer – die Nähe zum Kolonial-Exotischen beglaubigenden – englischen oder romanischen Namen lediglich aufs Empfindsame stilisierte Deutsche der zweiten Jahrhunderthälfte sind wie schon Sir William und Sara Sampson und ihr Umkreis). Und worum es in diesem »clash of cultures« à la dixhuitième geht, ist regelmäßig die Frage: wer sind die wahren »Barbaren« (eine Vokabel, mit der man auffällig gern um sich wirft)? Anders gesagt: ist ––––––– 14

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Erstveröffentlicht von Hans Butzmann, Lessings bürgerliches Trauerspiel Tonsine: Betrachtungen zu einem bisher vorschollenen Entwurf, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1966, S.109–118. Datierung nach Peter Kapitza, Lessings Tonsine-Entwurf im Kontext europäischer Japonaiserien des 18. Jahrhunderts, in: Doitsu Bungaku LXIII (1979), S.52–61. Edition: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von Wilfried Barner u.a., Bd.III hrsg. von Conrad Wiedemann u.a. Frankfurt a.M. 2003, S.527–528; Apparat: S.1294–1296. Theodor Breithaupt, Der Renegat. Helmstedt 1759. Biographisches in: DLL, Erg. Bd.II (1995), S.375. In: Altdorfische Bibliothek der gesammten schönen Wissenschaften, »herausgegeben von der deutschen Gesellschaft daselbst«, I: 4, S.295–344; »Anmerkungen über dieses Trauerspiel«: S.344–353, signiert »W.« (vielleicht der Herausgeber der Zeitschrift, Georg Andreas Will). Bekannt geworden durch Reinhart Meyer, Bibliographia dramatica, 2.Abt., Bd.XX (2004), S.329. Das Titelblatt nennt als Verfasser »G.P.V.B.R.D«; Auflösung zu »Vogel« (beider Rechte Doctor) nach Meyer und Georg Andreas Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon, 8.Theil, Altdorf 1808, S.356–357, dort auch Biographisches. Die Vorlage war die Geschichte Osmanns in dem Versuch in moralischen Erzählungen (1757) von Johann Gottlob Benjamin Pfeil, dem Verfasser des (nach Miss Sara Sampson) zweiten deutschen bürgerlichen Trauerspiels (1756). Ernst Friedrich Hector Fal(c)ke, Braitwell. Frankfurt a.M./Leipzig 1769.

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der Barbar aus Übersee vielleicht gerade der wahre Mensch im Sinne des europäischen Humanitätszeitalters, das selbstkritisch den »edlen Wilden« erfand, oder auch: ist der exotische Barbar – nicht ohne Vorklang von Goethes Thoas – bekehrbar zu diesem hochgespielten Ideal, und ist umgekehrt vielleicht gerade der europäisch Zivilisierte, soweit er nicht als der unerschütterlich empfindsame Tugendbold eingeführt wird, auch als Inbegriff des »Unmenschen« zu sehen? (Auch das eine beliebte Vokabel.) III In Tonsine wird die Konfrontation der Kulturen plausibel gemacht durch das tragende Motiv der Graf-von-Gleichen-Sage, deren fremdkultureller Angelpunkt hier vom Nahen Osten der Kreuzzugszeit ins Japan des siebzehnten/achtzehnten Jahrhunderts verlegt wird, während der Ort der Handlung statt Thüringen eine europäische Hafenstadt ist, vielleicht Lissabon. Soeben mit seiner »Gefährtin«, der Japanerin Tonsine, und deren »Sklavin« Samma aus Asien angekommen, spricht der Marquis von Basadonna zunächst »in geheim« bei seinem Freund Fonseca vor; kurz darauf erscheint Tonsine, der Fonseca »wegen ihrer Großmut« (»hier wohl in der Bedeutung ›hohe Gesinnung‹, die Tonsine offensichtlich in der [in der zweiten Szene zu berichtenden] Vorgeschichte bewiesen hat«)18 seine Hochachtung bekundet. In Fonsecas Haus nimmt sie vorläufig Aufenthalt, bis Basadonna »wisse woran er sey«. Damit ist die Grundkonstellation geklärt: das Personenverzeichnis führt nämlich auch eine Marquise von Basadonna auf, dazu eine Tochter des Marquis und die Mutter der Marquise, die Fürstin von Bambora, »eine abergläubische grausame Frau«. In dieser Konstellation ist von Anfang an ein Konflikt beschlossen, wenn Tonsine sich zwar freut, »endlich in Europa zu sein«, ihre Sklavin ihr aber »Angst mach[t], daß sie sich in einem fremden Lande in der Gewalt der Christen befinde etc.«, worauf Tonsine »sagt, daß sie nach ihren Lehrsätzen zu sterben wisse« (wobei nicht unbedingt an die damals bekannte und im europäischen Horizont nicht unproblematische philosophische Bereitschaft der Japaner zum Selbstmord zu denken ist). Offenbar ist an eine Intrige des christlichen Establishment gegen die nicht zuletzt durch ihre religiösen Überzeugungen (ihre »Lehrsätze«) Fremde aus dem Fernen Osten gedacht, was im bürgerlichen Trauerspiel nur zur Katastrophe führen kann: zum tragischen Untergang oder Opfer der Japanerin, die zu ––––––– 18

Lessing, Werke und Briefe [Anm. 14], Bd.III, S.1296 (Kommentar); Textzitate: Bd.III, S.527f.

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sterben weiß. Die »Gewalt der Christen« wird dabei vermutlich auf Figur gebracht in der aber- oder strenggläubigen Fürstin, die laut Personenverzeichnis zwar ihre Tochter, »die Marquisin verfolgt«, was aber nur motiviert sein kann durch deren Zustimmung zur unchristlichen mariage à trois, die mit der selbstlosen Haltung der Gräfin von Gleichen gegenüber der Sarazenin vorgegeben ist. Versatzstücke aus dem empfindsamen bürgerlichen Trauerspiel, selbst aus Miss Sara Sampson, sind hier mühelos zu erkennen,19 aber auch Abweichungen, und auf die kommt es im folgenden an. In der Gegenüberstellung von Europa und Asien ist das Klischee des Barbaren (abergläubisch, grausam, bestimmt von Vorurteil und Verfolgungsgeist) hier mit der Fürstin von Bambora expressis verbis auf der europäischen Seite angesiedelt, während die »großmütige« Japanerin mit ihren (vielleicht konfuzianischen) »Lehrsätzen« jenen philosophisch-religiösen Idealvorstellungen von vernunftgemäßer Menschenwürde und Seelengröße entspricht, die die Aufklärung von Bayle bis Engelbert Kaempfer, von Voltaires Orphelin de la Chine bis zu Diderots Encyclopédie gerade bei den Japanern und nicht zuletzt auch bei den nach Vernunftgrundsätzen erzogenen Japanerinnen hervorzuheben nicht müde wurde. Lessing muß das aufs beste vertraut gewesen sein durch seine frühe Kenntnis dieser Autoren und Autoritäten wie auch durch Charles Rollins Histoire moderne des Chinois, des Japonnois, des Indiens, des Persans, des Turcs, des Russiens (1754), die er noch im Erscheinungsjahr und dann ein Jahr später noch einmal als Übersetzung rezensiert hat im Zuge seines ausgeprägten Interesses an jener »großen Öffnung in die weite Welt«, die Europa in diesen Jahren und Jahrzehnten mit der Gewalt einer Offenbarung erfährt.20 (Daß sein großes Vorbild Bayle im Artikel »Japon« des Dictionnaire überdies die vom volkstümlichen Aberglauben gereinigte Religion der Japaner in wesentlicher Übereinstimmung mit dem Gedankensystem Spinozas sah,21 hat Lessing sicher aufhorchen lassen.) Nicht zuletzt dürfte die Japanerin Tonsine schon im Lauf der gleich im ersten Akt referierten Vorgeschichte (Basadonna, aus Japan zurück, »erzählt seine Geschichte«) ihre hohe Gefühls- und Gesinnungskultur durch ihre »Liebe als Ausdruck einer rein menschlichen ––––––– 19 20

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Butzmann [Anm.14], S.113–115. Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.V, S.455–456; Bd.VII, S.28–29. Vgl. Karl S. Guthke, Berührungsangst und -lust: Lessing und die Exoten, in: K.S.G., Der Blick in die Fremde: Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen 2000, S.41–68, sowie zu Lessings durch Bayle u.a. vermittelter Japan-Kenntnis Butzmann [Anm. 14], S.115–117; Kapitza [Anm.14], S.52–54. Vgl. Butzmann [Anm.14], S.116. Vgl. Anm.12.

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Beziehung«22 bekundet haben – allen ebenfalls bereits präludierten, auf der Hand liegenden religiösen und gesellschaftlichen Hindernissen zum Trotz. Genau darum – um unkonventionelle, Germanisten sagen: »absolute« Liebe im feindlich gesinnten Milieu – geht es bekanntlich immer wieder im bürgerlichen Trauerspiel der fünfziger bis achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts. Das Ungewöhnliche, völlig aus dem Rahmen Fallende an Tonsine als einem über Europa hinaus perspektivierten Exemplar der Gattung ist jedoch, daß diese im bürgerlichen Trauerspiel bis zu Kabale und Liebe hin generell so hoch taxierte Liebesgesinnung hier nicht hervorgeht aus der ins Kultische gesteigerten »bürgerlichen« Innerlichkeit (die im Drama, soziologisch gesehen, auch in den höheren Ständen zu Hause sein kann), sondern exotischer Import ist gemäß verbreiteten Vorstellungen von der vorbildlichen Tugend der »anderen« und nicht zuletzt der Japaner, wie Lessing bei Rollins gerade in dieser Zeit gelesen hatte. Gewiß teilt oder erwidert der Marquis, der Europäer, der Tonsine in seine Heimat und Familie einführt, diese um das Fremde unbekümmerte Liebesgesinnung (andernfalls fielen Handlung und Thema – Graf von Gleichen – in sich zusammen). Doch ist so viel schon, nicht zuletzt aus dem Titel, zu erkennen, daß die problematische Zentralgestalt in Tonsine nicht der Marquis, sondern die Japanerin sein sollte, wie ja überhaupt die tugendhafte Frau in der Märtyrer- oder Opferrolle der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels so häufig ihr Gesicht gibt, und bei Lessing vor allem.23 Was also den Zusammenstoß der Kulturen angeht, so instrumentalisiert sich das bürgerliche Trauerspiel hier ziemlich eindeutig zur Feier des exotisch anderen als das Idealeuropäische, Idealaufklärerische oder Idealempfindsame. (Schon gleich im ersten Akt spricht Tonsine nicht nur mit Selbstbewußtsein von ihren ethischen Überzeugungen, ihr werden auch von Fonseca, wie gesagt, »unendliche Caressen« für ihre »Großmut« gemacht.) Die Europäer oder »Christen« hingegen schneiden eher als Gegenbilder ab: die »grausame« und »abergläubische« Schwiegermutter allen voran, aber doch wohl auch der Marquis, der seine »Gefährtin« zunächst einmal bei seinem Freund versteckt, bevor er seiner Familie unter die Augen tritt, und – es geht um ein Trauerspiel – zum Schluß auch das Schlimmste nicht abzuwenden bereit oder fähig ist. Die »Angst« der Sklavin vor den »Christen« in »Europa« erweist sich als berechtigt. Die Kritik an europäischen Denkformen ––––––– 22 23

Kapitza [Anm. 15], S.61. Vgl. Guthke [Anm. 4], S.61–75, und Rührstück oder ›Schreckspiel‹? Die Rezeption des deutschen bürgerlichen Trauerspiels im achtzehnten Jahrhundert, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2008.

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und gesellschaftlichen Usancen kommt damit von außen her, wie das auch in anderen Gattungen der Zeit nicht eben selten ist, spätestens seit Diderots Supplement au voyage de Bougainville. Lessings Al-Hafi hätte Verständnis dafür: »am Ganges nur giebts Menschen«, wahre Menschen,24 oder auch im Schatten des Fujiyama. Al-Hafi gibt mit seiner eskapistischen Exotik das thematische Stichwort »Mensch«, das in den wenigen Zeilen der Tonsine zwar verbatim fehlt, in den anderen, noch vorzustellenden Stücken dieser Art aber mehrfach genannt, umspielt und variiert wird: das aufklärerische und noch klassische Humanitätsideal ist wie im Nathan auch in Tonsine in geographischer Ferne zu Hause, aber ohne die ironische Brechung, in der es an der Nathan-Stelle mit dem Fluchtinstinkt Al-Hafis eingeführt wird. Im Gegenteil: der uneingeschränkte Appell: hic et nunc (in Europa) die überlieferten religiösen und gesellschaftlichen Vorurteile aufzugeben angesichts des Unheils, das sie heraufbeschwören (Verfolgung und Tod der Fremden) und menschlich zu werden, dieser Appell ist auch in der fragmentarischen Form der Tonsine unüberhörbar – im bürgerlichen Trauerspiel, das bei aller Dimensionierung ins Exotische immer noch die für die Gattung grundlegenden konflikthaften häuslich-familiären, mitmenschlichen Beziehungen beibehält. IV Erklingt dieser Appell in Tonsine, soweit der Text überliefert ist, eher zwischen den Zeilen, so läuft die ganze Handlung des nur sieben Jahre späteren »bürgerlichen Trauerspiels« Selim von dem Nürnberger Juristen und späteren Syndicus Gustav Philipp Vogel folgerichtig und unzweideutig auf die These von der moralischen Unantastbarkeit und aufgeklärten Vorbildlichkeit des Exoten, eben Selims, hinaus. Wie in Tonsine wird diesem ein europäischer Bösewicht, hier ein verlogener und verleumderischer Intrigant, gegenübergestellt, aber auch ein empfindsam tugendhaftes europäisches Ehepaar, dessen mehr verliebte als im Sinne der Zeit aufgeklärte Tugend jedoch tief im Schatten der moralischen Selbstlosigkeit Selims bleibt. Selim ist »ein reicher angesehener Türke«, in dessen Haus in Konstantinopel sich die Handlung abspielt. Eine Frau von Chauve ist, unter dem Namen Zemire, seine »Sclavin«, doch unter so angenehmen (lokalkulturellen) Bedingungen, daß sie ihrerseits eine Sklavin zur Verfügung hat. Der Grund für diese Milde ist, daß der nach europäischen Vorstellungen in jeder Weise hochzivilisierte Selim um ihre Hand anhalten würde, wenn nicht noch Ungewißheit herrschte über den ver––––––– 24

Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.III, S.72.

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schollenen Herrn von Chauve, der ebenfalls in die Sklaverei geraten sein soll. Verliebt in Zemire ist auch der im Hause Selims verkehrende Clairville. Doch während Selim Zemire versichert, er lasse nichts unversucht, Herrn von Chauve ausfindig zu machen und aus der Sklaverei loszukaufen, bringt Clairville, um an das Ziel seiner Wünsche zu kommen, ihr die wissentlich falsche Nachricht, ihr Gemahl sei nicht mehr am Leben; zugleich schwärzt er Selim als den heuchlerischen und betrügerischen Ungläubigen an, der sich nur den Anschein der Selbstlosigkeit gebe, um ans Ziel seiner Wünsche zu kommen. Thematische Grundzüge des herkömmlichen bürgerlichen Trauerspiels zeichnen sich mit dieser Ehe- und Nebenbuhlersituation unverkennbar ab, mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß zum familiär-mitmenschlichen Konflikt der kulturell-religiöse hinzukommt. Für Zemire jedoch ist Selim zu Beginn des Stücks der »bewunderungswürdige Muselmann« (S.304), wobei sie sein tugendhaftes Verhalten durchaus mit seiner Religion in Verbindung bringt: Er ist nicht fähig, jemanden zu hintergehen. Sein Herz ist zu edel, unglücklich zu machen. Er ist ein Freund der Tugend, und zeiget durch seinen Wandel, daß er den Trieb, tugendhaft zu seyn, nicht durch Verstellung und Schein entehret, sondern zum Vortheil anderer wirksam machet. Er sieht in seinen Handlungen denen ähnlicher, die mit den gereinigten Grundsätzen der Religion das beste Herz verbinden können, als denen, die durch erdichtete Lehren ihren Verstand verfinstern, und durch keine Gesetze von den unmäßigen Begierden abgehalten werden. (S.299)

»Wenn er ein Christ wäre, und ich keinen Gemahl hätte«, käme ihm der erste Anspruch auf ihr Herz zu, fährt sie fort; sie »verehre Selims Tugend« (S.302f.). Daß sie allen Grund dazu hat, stellt sich denn auch sogleich heraus, als Selim, von kurzer Abwesenheit zurückgekehrt, ihr berichtet, er habe Herrn von Chauve im benachbarten Galata in der Sklaverei entdeckt, habe ihn losgekauft und werde beide ungehindert nach Frankreich zurückkehren lassen. Noch ist der Langgesuchte allerdings nicht da; so findet Clairvilles, wie er selbst sagt, »erdichtete Nachricht« von der Ermordung Chauves durch den »Barbaren« Selim durchaus Glauben bei Zemire, die sich jetzt als »Christin« bezeichnet, die sich dem »Unglaubigen« niemals verbinden würde (S.310, 319). Nur die »Menschenliebe«, beteuert Clairville, hindere ihn, den Mord an dem Mörder Selim zu rächen (S.321) – und drängt zur gemeinsamen Flucht. Zemire ihrerseits beschuldigt Selim der Unredlichkeit – bis sich die Gefühlsverwirrung im Handumdrehen aufklärt, als Selim ihr ihren Gemahl zuführt und sich als der wahre Mensch und Inbegriff der selbstlosen Tugend bewährt, während Clairville (der Selim übrigens auch noch als heimlichen Christen verleumdete) nun als der »Unmensch« entlarvt ist (S.336). Als sol-

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cher findet er denn auch unverzüglich seinen verdienten Tod, und zwar nicht durch seinen Nebenbuhler Selim oder auch nur mit dessen Wissen oder Billigung; Selim »verzeiht« ihm vielmehr seine vorgetäuschte Freundschaft (S.342) und übt damit nicht nur jene Tugend aus, die im bürgerlichen Trauerspiel die prominenteste ist, sondern auch im christlichen Moraldenken die höchste, durch Jesus selbst sanktionierte. So erweist sich der Türke, der Ungläubige, der dezidierte Nicht-Christ und Sklavenhalter (der eigens über einen »Sclaven Aufseher« verfügt, vom Harem ganz zu schweigen) als der wahre Mensch, als Unmensch nur verleumdet von einem der Europäer, und zwar von dem charakterlich am deutlichsten profilierten (während das Ehepaar Chauve ziemlich unindividualisiert, schemenhaft bleibt). Nicht überraschend – nachdem Zemire schon erklärt hat, sie könne sich ihr weiteres Leben durchaus in der Umgebung, ja selbst »in der Gewalt« Selims vorstellen (S.307) – läßt dieser sich denn auch bewegen, den Rest seines Lebens bei dem Ehepaar Chauve in Europa zu verbringen: »Sie sollen unser Freund, unser Vater, unser ganzes Vergnügen seyn!« (S.343) – ein Silberstreif am Schluß des bürgerlichen Trauerspiels, der an den Schluß von Miss Sara Sampson und von Nathan dem Weisen erinnert, nämlich an den Ausblick dort auf eine unkonventionelle, unverwandte Außenseiter einschließende »Familie«.25 Aufschlußreich ist, daß in diesem Zusammenhang mehr als einmal das Wort »Menschenliebe« mit Selim in Verbindung gebracht wird (S.307, 342). Das ist im achtzehnten Jahrhundert das Stich- und Modewort für das aufklärerische Dogma von der Nichtgebundenheit der Moral an ein bestimmtes religiöses Bekenntnis (oder aber an überhaupt ein religiöses Bekenntnis) – im Gegensatz zur spezifisch christlichen »Nächstenliebe«.26 Und dafür, für das besonders von Bayle propagierte aufgeklärte Dogma, das den moralischen Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums zurückweist, ist Selim in der Tat ein gutes Beispiel, ja ein Paradefall. Ausdrücklich als Mohammedaner gezeichnet nach Glaubensüberzeugung und kulturellem Lebenszuschnitt (Harem, Sklaven), ist er der moralisch beispielgebende Mensch gegenüber dem europäischen »Unmenschen« Clairville (S.336), der als Christ nur durch die Mißgunst Clairvilles verdächtigt werden kann. Um so überraschender jedoch ist die Schlußwendung in Selim. Ähnlich wie der Klosterbruder in seiner komischen Naivität den Juden Nathan auf ––––––– 25

26

Dazu Hugh B. Nisbet, Gotthold Ephraim Lessing: Eine Biographie, München 2008, S.276 u. S.805. Vgl. Dagobert de Levie, Die Menschenliebe im Zeitalter der Aufklärung, Bern/Frankfurt a.M. 1975, bes. S.114f.

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Grund seines moralischen Handelns und Denkens für einen Christen hält (»ein beßrer Christ war nie!«),27 hält das Ehepaar Chauve den großmütigen Gönner Selim offenbar für einen Christen, der es selbst nur noch nicht weiß; das Stück endet mit den Worten: von Chauve. Ja, kommen Sie, Selim. Unsre Freundschaft wird durch das Unglück nur vester! Trotz aller Verfolgungen, die man über Sie verhängen könnte, werden Sie allezeit der würdige Gegenstand unsrer Freundschaft verbleiben. Und wie würdig werden Sie erst unsrer Liebe werden, wenn ein höheres Licht Ihre Tugend bestrahlet, und Ihre Einsicht von der wahren Glückseeligkeit vollkommner macht. Zemire. Ja, theuerster Selim, dann werden Sie aus wichtigern Gründen tugendhaft und auch bei dem Schein des Unglücks der Glücklichste seyn!

Die Licht-Metaphorik würde an aufgeklärte Vernunftreligion denken lassen, wenn sich das Paar nicht unwidersprechlich der Christlichkeit zuordnete. So kann, was Selim mit diesen Worten verheißen wird, nur die Konversion zum Christentum sein, um so mehr, als auch – man denkt zurück an Tonsine – die »Verfolgungen« erwähnt werden, »die man über Sie verhängen könnte«. Das kann nur auf den religiösen Eifer der Christen gegenüber den Ungläubigen gemünzt sein: eine Spitze gegen orthodox-unaufgeklärtes Verhalten und Moraldenken in Europa auch hier also (keine »Rechtschaffenheit« ohne christliche »Religion«, wie es bei Lessing polemisch hieß). Und um so pointierter wirkt diese Andeutung, als Selim, der Mohammedaner, seine »Großmuth und Tugend« (S.308) den Christen zugute kommen läßt – deren Tugend er seinerseits erkennt und schätzt! Er, der vermeintliche »Barbar« (S.319), nicht einer der Europäer, ist hier der wahrhaft Aufgeklärte, der wahre Mensch, weit hinaus über das Vorurteil, daß nur eine Religion Grundlage der Moral sein könne. Wie Nathan weiß er, daß »alle Länder [in Nathans Kontext: alle Glaubensgemeinschaften] gute Menschen tragen« (Bd.III, S.61). Die Europäer, das Ehepaar Chauve, könnten von ihm lernen – trotz oder gerade wegen des inkongruenten Bekehrungsangebots oder gar -versuchs in den zitierten Schlußzeilen des Dramas. Nicht von ungefähr vielleicht bleiben diese Zeilen in der Luft hängen: ob Selim darauf eingeht, bleibt offen. Gentleman, der er ist in der Metropole des Ottomanischen Reichs, hat er genug Lebensart, die gutgemeinte Zumutung keiner Antwort zu würdigen. ––––––– 27

Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.III, S.139.

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V Um so aufdringlicher fällt diese Antwort dafür, wieder sieben Jahre später, 1769, aus in dem »bürgerlichen Trauerspiel« Braitwell von dem jungen Juristen Ernst Friedrich Hector Fal(c)ke, der zu der Wetzlarer »Rittertafel« gehörte, die Goethe in Dichtung und Wahrheit beschrieben hat, und es in der Folgezeit zum Bürgermeister von Hannover brachte. Literarisch ist das Stück kein Ruhmesblatt; die Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (die den Titel übrigens zu Brackwell entstellt, worauf die Literaturwissenschaft hereingefallen ist, indem sie daraufhin die Liste der »bürgerlichen Trauerspiele« des achtzehnten Jahrhunderts um ein weiteres Stück bereichert hat)28 ist nicht ganz ungerecht in ihrem scharfen Urteil: Den kurzen Raum von zehn Scenen füllen langweilige Erzählungen, rednerische Deklamation, und fade Moral. Selbstmord, Sklaverey, Wein und Freund, und ein sterbender Greis, diese Ingredienzien zu einem Trauerspiel sind wohl da; die einzige Kleinigkeit fehlt dem Verfasser – das tragische Genie. (Bd.IV, 16.St., 1770, S.721)

Thematisch aber paßt es sich in den exotistischen Diskurs des außereuropäisch dimensionierten bürgerlichen Trauerspiels ein, wie er sich bisher profiliert hat, und zwar mit einer interessanten Variation der Akzentsetzung. Das aufgeklärte Stichwort »Menschlichkeit« fällt schon gleich anfangs (S.7) und wird dann noch mehrfach wiederholt und variiert, und zwar als Kontrapunkt zu dem ebenfalls wiederholt beschworenen Kennwort »Barbaren« (ebd.): »Tirannen gegen Menschen« (S.48). Die Barbaren sind die Seeräuber, die den englischen Kaufmann Braitwell, seinen Sohn und dessen Gemahlin Clary sowie deren Bruder, den mit dem jungen Braitwell befreundeten Truheart, auf einer Insel als Sklaven in Gewahrsam genommen haben und »unschuldig leiden« lassen (S.6). Daß man sich die Seeräuber, die englische Schiffe kapern, als Türken oder Araber vorzustellen hat und damit als Mohammedaner, geht dem Zuschauer erst im letzten Drittel des Stücks auf, als in dem leidvollen Familienidyll der Braitwells und ihres Intimus Truheart ein als »Selim« angeredeter Sklavenaufseher erscheint. In dem anschließenden Gespräch hört man von der Feindschaft dieser »Barbaren« und »Wütrichen«, ja »Unmenschen« gegen »alle Menschen« (soweit sie nicht ihres Glaubens sind), von ihrer »Grausamkeit, die ihres gleichen nicht hat«, aber auch davon, daß Selim den Reiz der »Tugend« der Europäer spürt (S.44–46). Tugend, empfindsame, ––––––– 28

me

Joseph Pinatel, Le Drame bourgeois en Allemagne au XVIII siècle, Lyon 1938, S.72. Wie die Bibliothek findet auch der Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770 nicht den »geringsten Funken von Genie« (2. Aufl., S.86).

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rührungsfreudige Tugend – das ist tatsächlich das zweite Wort der auf die Sklaven-Insel der Seeräuber verschlagenen Engländer. Der junge Braitwell ist – »verführt« von seinem »schändlichen« Landsmann Lichfield, einem »Sklaven des Lasters« (S.7) – vom rechten Weg abgewichen und daraufhin aus England geflohen. Familie und Freund sind ihm nachgereist und verzeihen, ihrerseits in die Sklaverei auf dieser Insel geraten, dem längst reumütigen verlorenen Sohn, Gatten und Freund tränen- und wortreich im Namen der für das bürgerliche Trauerspiel unverzichtbaren »Tugend der Zärtlichkeit, welche das Herz empfindet, und die Vernunft billiget« (S.35). Im Hinblick auf den thematisch tragenden »clash of cultures« von Orientalen und Engländern ist dabei von entscheidender Wichtigkeit, daß die Tugend der Europäer mehrfach mit ihrer »Religion« in einem Atem genannt, ja: mit ihr identifiziert wird.29 Die »grausamen« Seeräuber sind »Barbaren« nicht zuletzt darum, weil sie einer anderen Religion anhängen. Und damit kommt Fal(c)ke nun im letzten Drittel seines Stücks endlich zur Sache, zum interkulturellen Thema, nachdem Braitwell sich bis dahin in seinen Gestalten und mitmenschlichen Problemen als ganz gewöhnliches familiäres, an das eigens berufene »Mitleiden« appellierendes bürgerliches Trauerspiel angelassen hatte, ohne daß der exotische Background sich kaum durch anderes geltend gemacht hätte als das Stichwort »Barbaren« und den Namen Selim. Es stellt sich nämlich heraus: Selim ist von der »Tugend« der Fremden derart beeindruckt, daß er »sie wohl näher kennen lernen« möchte (S.45). Worauf Truheart, gleichsam die These von Goethes Iphigenie präludierend: »Auch unter Barbaren findet die Tugend Bewunderer. Sie rühret die Herzen; wenn sie gleich hart wie Felsen sind« (S.45). Damit ist das »clash of cultures«-Thema auch hier signalisiert, jetzt aber in einer Abwandlung gegenüber den beiden bisher in Augenschein genommenen früheren Stücken. Denn hier hat der Exot im Gegensatz zu Tonsine und Selim im gleichnamigen bürgerlichen Trauerspiel von 1762 eben nicht von Anfang an eine für die Europäer anerkennenswerte Gesinnung (»Tugend«) an den Tag gelegt; der Selim in Braitwell hat sich vielmehr zunächst einmal der »Sitten« oder auch »Tugenden« seiner Kultur gerühmt und deren Gegensatz zu den von den englischen Sklaven verkörperten herausgestrichen: was für die Europäer »Grausamkeit« der »Unmenschen« ist, ist für den Mohammedaner »Tapferkeit und Treue«, »Unerbittlich[keit] gegen den Feind«; von »Mitleiden« oder (ein Stichwort von Anfang bis Ende in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels) »Rührung« keine Spur (S.43, S.44, S.46). Mit seiner Religion und seinen darauf ––––––– 29

S.19; S.39: »erkennen [...], was Tugend, was Religion über die Herzen vermag«.

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beruhenden »Sitten« ist der Exot aus europäischer Sicht damit schlicht ein »Verbrecher« (S.15). Diese Schwarz-Weiß-Konstellation kompliziert sich aber: nicht nur durch den erwähnten englischen Bösewicht Lichfield, sondern überdies auch durch den jungen Braitwell selbst; denn der bleibt selbst nachdem ihm allseitig »vergeben« wurde, schuldbewußt überzeugt, »daß auch Engelland Ungeheuer hervor bringt, welche schrecklicher als sie [die »Barbaren«] selbst sind«, nämlich (verführbare) Menschen, wie er selbst einer ist (S.48). Aber von dieser Relativierung der kulturellen Schwarz-WeißSchematik abgesehen: das Unerhörte geschieht, als Selim und mit ihm zum ersten Mal der (wohl arabische) »Gouverneur« namens Alquer zum großen Schlußtableau auf der Bühne erscheint. Mit der Tür ins Haus fallend, wird Alquer eingeführt durch Truhearts Vorstellung: »Er ist nicht ein Barbar; er ist unser Erretter, unser Befreier« (S.53). Völlig unerwartet läßt er den europäischen Sklaven die Fesseln abnehmen, erlaubt ihnen die Heimreise, ersetzt ihnen ihr verlorenes Vermögen und versichert dem sterbenden Vater des jungen Braitwell, daß er seine Gebeine in die Familiengruft nach England überführen lassen werde. Warum der Gesinnungswandel dieses Thoas avant la lettre? Seine eigenen Worte lassen keinen Zweifel: die christlich begründete Tugend der Engländer, die nicht zuletzt auch »ruhig« sterben lehrt (»solche Empfindungen kennet man hier nicht«, S.55), beeindruckt den Piraten und Mohammedaner so stark, daß er es den Landesfremden gleichtun möchte – schon bevor die wohlmeinend-arrogante christliche Missionierung in Aktion treten könnte, die der sterbende Braitwell seiner Familie ans Herz legt. Alquer: Ich danke dir, Braitwell! dein und deiner Freunde Beispiel lehrte mich die Tugend, deren Ausübung mir unbekannt war. Freundschaft, Zärtlichkeit hielte ich für Empfindungen, welche nur der Gottheit, nicht aber dem Menschen, eigen waren, die man bewundern, aber nicht nachahmen könnte. – Welche Ruhe zeiget sich in deinen Gesichtszügen, welche sanfte Empfindungen! – Doch, Braitwell! beantworte mir gegenwärtig noch diese Frage: Wie kanst du gegenwärtig in dem äussersten Elend, an dem Eingang ins Grab so ruhig seyn? Darauf John Braitwell: Die Religion, das Gefühl ein Christ zu seyn, dieses stärkte mich in meinem Leben und in meinem Leiden, dieß giebt mir auch die Kraft so zu sterben. Truheart, Clary! ihr müsset ihn unsere Religion lehren: das sey eure Erkenntlichkeit für seine Güte gegen uns. (S.53f.)

Tatsächlich jedoch geht Alquer auf dieses Missionierungsansinnen ebensowenig ein wie Selim bei Gustav Philipp Vogel, außer daß er seine Erlaubnis zur Rückkehr nach Europa höflich mit der Floskel begleitet, »Ich würde sie

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[die Fremden] zwar gern bei mir behalten, um von ihnen zu lernen, wie man ein Freund, wie man tugendhaft seyn kan« (ebd.); und nötig hat er eine Bekehrung zum Christentum schon gar nicht, wie Truheart als Raisonneur erinnert: »Alquer! sie verlangen die Tugend noch kennen zu lernen, da sie dieselbe schon [als Mohammedaner] in einem solchen Grade ausgeübet haben?« (S.56). Alquer ist also, würde der Klosterbruder sagen, schon ein »Christ«, wenn auch ein eben erst »Christ« gewordener, ohne daß er seinen eigenen Glauben aufgegeben hätte. Das aber führt zurück zu der bereits im Hinblick auf Selim berührten Leitfrage der Aufklärung: ob denn nicht auch andere Religionen zu moralisch vorbildlichem Handeln die Grundlage abgeben könnten. Denn was ist es genauer – intellektuell, über das bloße nachzuahmende Beispiel des sterbenden Braitwell hinaus –, was Alquer zu seiner unvermuteten großen Geste befähigt? Von seiner »Großmuth« ist in diesem Zusammenhang gleich zweimal die Rede (S.55) – man erinnert sich an die Vokabel aus Tonsine und aus Selim: Chiffre für die Humanität der »anderen«. Doch für den zeitgenössischen Leser wäre das vielsagendere Signal die sich wie gerufen einstellende andere gewichtige Vokabel: »allgemeine Menschenliebe«, bekannt schon aus Selim. »Sie, Alquer!«, sagt der sterbende Braitwell zu dem mohammedanischen Herrn über Leben und Tod, »können [»die allgemeine Menschenliebe«] vorzüglich ausüben. [...] Auf dieses Gesetz der allgemeinen Menschenliebe gründet sich die Freundschaft« (S.57). Natürlich hat Alquer diese über die Barrieren der Religion und Kultur hinweg gerade eben ausgeübt, wie Truheart kurz zuvor bemerkt hat, und dem Zeitgenossen wäre nicht entgangen, daß mit diesem Stichwort, wie gesagt, auf das aufklärerische Dogma verwiesen wird, das moralisches Handeln nicht nur aus dem Glaubensbekenntnis des Christen hervorgehen sieht, sondern aus dem der »Ungläubigen« nicht minder. Oder, um an dem Begriff der »Freundschaft« festzuhalten, der – Hannah Arendt hat denkwürdig darauf aufmerksam gemacht30 – in genau diesem Sinne auch im Nathan eine Rolle spielt: »allgemeine Menschenliebe« ist die Freundschaft, die über die Barrieren der religiösen Überzeugung hinweg bestehen kann als Indiz wahrer Aufklärung in Zeiten des Kultur- und Religionskonflikts.

––––––– 30

Hannah Arendt, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten: Rede über Lessing, München 1960.

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VI Es hat also den Anschein, als folgten die drei Stücke von ca. 1755, 1762 und 1769, die motivisch ausnahmslos am Personen- und Konfliktreservoir des familiär-häuslichen bürgerlichen Trauerspiels der Empfindsamkeit teilhaben, in einer mehr oder weniger sinnvollen thematischen Sequenz aufeinander: über die vertrauten vordergründigen Spannungen innerhalb des engeren Familienkreises hinaus sind sie auf ihre unterschiedliche Weise mit zunehmender Deutlichkeit darauf ausgerichtet, die jeweilige überkommene rechtgläubige religiöse und kulturelle Festlegung zu transzendieren im Bemühen, sich der utopischen »allgemeinen Menschenliebe« anzunähern. Im Zeichen eines solchen grenzüberschreitenden Toleranz- und Sympathieempfindens begegnen sich bei Lessing der seefahrende Europäer und seine japanische »Gefährtin« (nicht aber die jeweilige religiös-kulturelle Gemeinschaft ihrer Herkunft, die vielmehr auf »Verfolgung« programmiert ist); der Mohammedaner Selim des gleichnamigen Stücks von Vogel überbrückt ohne weiteres den religiösen Gegensatz in der Zuversicht auf die mit den Christen im Abendland geteilte, ja: gelebte Humanität; Alquer in Fal(c)kes Braitwell wirkt mit seiner großen Schlußgeste wie ein vorweggenommener Thoas. Jedenfalls an der prinzipiellen Thematik der auf den Tonsine-Entwurf folgenden und dem Nathan vorausgehenden exotischen bürgerlichen Trauerspiel hätte Lessing seine helle Freude haben können. Aber kein Lessing ohne einen Johann Melchior Goeze. Denn es ist im außereuropäisch dimensionierten deutschen bürgerlichen Trauerspiel dieser Zeit im Hinblick auf die Frage nach der religiösen Grundlage der Humanität und Gesittung auch eine andere Konstellation möglich: nämlich die, daß als Träger humaner, vorbildlich moralischer Gesinnung im Konflikt der Religionssysteme nur eine Offenbarungsreligion sanktioniert wird, und zwar die christliche im Unterschied etwa zur mohammedanischen, und daß der Vertreter des Islam förmlich zur Anerkennung dieses Befunds konvertiert. Für das Transzendieren der hergebrachten Religion zur überkonfessionellen »allgemeinen Menschenliebe«, die auf dem Boden verschiedener Religionen gedeihen kann, bleibt dann keine Möglichkeit offen; es handelt sich schlicht und ganz im Gegensatz zu Tonsine, Selim und Braitwell (wo Konversion entweder nicht zur Sprache kommt oder angeboten wird, ohne daß darauf eingegangen würde) um den Übertritt von einer Religion zur anderen unter dem Eindruck der in ihr florierenden höheren ethischen Gesinnung. So liegen die Dinge in dem »bürgerlichen Trauerspiel« Der Renegat (1759) von dem damaligen Helmstedter Kandidaten der Rechte Karl Theodor Breithaupt.

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Handlungsmäßig wirft es in mancher Hinsicht einen Schatten voraus auf Braitwell: ein englischer verlorener Sohn und sein ihm versöhnungsbereit nachgereister Vater geraten in türkischer Sklaverei; ihr mohammedanischer Herr wandelt sich unter dem Eindruck des christlich sterbenden Vaters vom barbarischen Unmenschen zum großmütigen »Menschen«. Also wieder die Einfügung des für das bürgerliche Trauerspiel konstitutiven familiären Konflikts in einen exotischen Rahmen, der die thematische Ausweitung des üblichen bürgerlichen Trauerspiels zum religions- und humanitätsphilosophischen Ideendrama ermöglicht. Doch während der sklavenhaltende orientalische Potentat in Braitwell anfangs der grausame Barbar ist und sonst nichts, bevor er mit seiner plötzlich erworbenen Humanität über jede religiöse Dogmatik hinausgelangt, kompliziert sich die Sache im Renegat. Der ebenfalls sklavenhaltende türkische Machthaber Orchan erscheint hier nämlich zunächst einmal als Ausbund von »edler Menschlichkeit« und »Großmuth« (die Schlüsselwörter auch hier) im Sinne der Empfindsamkeit (S.27, 32) – dies aber nicht gegenüber Ungläubigen, die vielmehr mit Verachtung und Brutalität drangsaliert werden (»Mord ist Religion«, S.175), sondern nur gegenüber seinen Glaubensgenossen, und zwar exemplarisch gegenüber dem jungen Engländer Edward, jetzt Zapor, der zum Islam konvertiert ist (und schon bald seinerseits Andersgläubige ähnlich blutrünstig bedroht). Ihm wird Orchan der Vater, wie er im Buche steht, während der leibliche Vater, Grandlove (!), seinen Sohn, nach dessen Worten, lieblos verstoßen hat. Trotzdem erfährt Orchan eine radikale Wandlung. Sie wird motiviert durch den Eindruck, den ihm die Todesstunde des – versehentlich von Edward/Zapor erstochenen – Grandlove macht: Grandlove »als Christ« (S.100) verzeiht und vergibt Edward/Zapor, seinem Sohn und Mörder und von der christlichen Heilslehre abgefallenen Renegaten. Daraufhin bekennt Orchan sich unverzüglich zum Gott der Christen, der solche edle Gesinnung möglich mache. Anders als in Braitwell (wo der mohammedanische Gouverneur bei aller Hochachtung vor der Religion der Fremden seinem eigenen Glauben keineswegs abschwört), anders auch als in Selim (wo die Titelfigur taktvoll mit keinem Wort auf das Bekehrungsansinnen eingeht), anders schließlich auch als in Tonsine, wo die Japanerin gar nicht daran denkt, ihre »Lehrsätze« aufzugeben, führt also die Umkehr bei Orchan nicht etwa zu der in den beiden anderen Stücken expressis verbis berufenen »allgemeinen Menschenliebe«, wie sie noch Nathan der Weise kennt, führt also nicht zu der Einsicht, daß auch eine andere Religion Quelle exemplarisch humanen Verhaltens sein könne. Vielmehr geschieht im Renegat klipp und klar die Bekehrung zum Christentum als der wahren, der

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einzigen Quelle empfindsamer Menschlichkeit. Der Vorhang fällt über Orchans Worten: Und nun soll mich mit euch ein Glaub’ hinfort verbinden, Komt, lehrt mich diesen GOtt, den GOtt der Christen finden, Der uns im Tode Trost, so mächtig Trost verleiht, Und sich so schreklich rächt, wenn ihn der Mensch entweiht.

Auf ganz drastische Weise geschieht hier also, was Lessing im 34. Stück der Hamburgischen Dramaturgie für einen Bühnen-Türken kategorisch ausgeschlossen hatte im Zusammenhang seines Bestehens auf der Unveränderlichkeit des Charakters: »Ein Türk und Despot muß, auch wenn er verliebt ist, noch Türk und Despot seyn«.31 Hier ist der mohammedanische Türke zwar nicht einmal verliebt, aber »Christ« und »Mensch« wird er auch ohne diesen Anreiz. VII Unter diesen Umständen fällt es schwer, den Renegat nicht als bornierte Glaubenspropaganda abzuqualifizieren. Und dies um so mehr, als in allen fünf Akten dieser (auch schon durch ihre Alexandriner eher in ein Zeitalter oder eine Welt eifernder Orthodoxie zurückweisenden) Tragödie der Gegensatz von Heiden und Christen pointiert wird mit Schlagwörtern wie »Unmensch«, »Barbar«, »Menschlichkeit«, »heilige« und »falsche Lehren«, »wahrer« und »falscher Gott«, wobei beide Seiten, Türken und Europäer, sich die jeweils negativen Begriffe vorwerfen. Damit lassen beide ihrem pflichtschuldigen Haß freien Lauf, der ihnen (bis kurz vor Toresschluß) ausdrücklich verwehrt, was im bürgerlichen Trauerspiel sonst de rigueur ist: das Mitleid (S.27, 63, 87). Von Tonsine, Selim und Braitwell her gesehen, nimmt sich Der Renegat (der in den sechziger Jahren mehrfach, auch in der Bearbeitung von Christian Gottlob Stephanie d.Ä. wiedergedruckt wurde) mit solchem Religionsantagonismus, aber auch mit seinem ungenierten christlichen Proselytenmachen in der Schlußszene eher wie das Dokument einer weniger aufgeklärten Welt aus. (Nicht zufällig handelt es sich um das früheste exotisch dimensionierte deutsche bürgerliche Trauerspiel, das im Druck erschien.) Von der Transzendierung des jeweils eigenen Glaubens, ohne ihn kategorisch zu verwerfen und einen anderen ebenso kategorisch anzunehmen, ist hier keine Rede – keine Rede von »allgemeiner Menschenliebe«, die sich daraus ergäbe. Kein Gedanke also an Saladins und Nathans Toleranz, die ––––––– 31

Lessing, Sämtliche Schriften [Anm.9], Bd.IX, S.325.

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eben nicht verlangt, daß allen Bäumen die gleiche Rinde wachse, wenn sie nur gute Früchte tragen … . Die besprochenen Stücke, so zeigt sich im Rückblick, entstammen nicht einer Zeit der Aufgeklärtheit, sondern einer Zeit fortschreitenden Aufgeklärtwerdens, die sich der »allgemeinen Menschenliebe« erst annähert. Und die ist in diesen Jahren und Jahrzehnten realistisch nicht zu denken ohne die Herausforderung durch eben jene Orthodoxie, die sie ihrerseits transzendiert, hinter sich läßt. Die Exotik in den erörterten Dramen umfaßt also ein erhebliches Spektrum von religionsphilosophischen Reaktionsweisen, die auf ihre Art zeittypisch sind. Diese Stücke sind darum jedoch nicht weniger bürgerliche Trauerspiele als etwa Miss Sara Sampson. Denn sie verzichten nicht auf die gattungstypische zwischenmenschliche Thematik mit ihren Spannungen, Störfaktoren, aber auch empfindsamen Erfüllungen. Doch bereichern sie diese Thematik zugleich durch ihre außereuropäische Dimensionierung, die den häuslich engen Kreis von »Menschen« ausdehnt auf die Fremden, die Exoten: »Menschen« auch sie. Die Familie als der Ort bürgerlicher Menschlichkeit im Sinne der Zeit erweitert sich derart zur Menschheitsfamilie – zur hier zwar noch eher bescheidenen aufgeklärten Utopie, die schließlich gipfelt in Nathan dem Weisen und Iphigenie.

CARSTEN ZELLE

EMPIRISCHE PSYCHOLOGIE UND ÄSTHETISCHER ÜBERSCHUSS IN TIECKS FRÜHEN STRAUSSFEDERN-ERZÄHLUNGEN (DER PSYCHOLOG U.A.)

Einleitung: Gegenstand, Forschung, These Die folgenden Ausführungen gelten Ludwig Tiecks Straußfedern, d.h. seinem Beitrag zu einer Anthologie von Erzählungen, die er 1795 bis 1798 für den Verlag des Berliner Spätaufklärers Friedrich Nicolai herausgab. Diese Erzählungen, die in der Forschung zunächst lediglich als Beispiele von Tiecks früher Auftragsarbeit als ›freier Autor‹ Erwähnung gefunden haben, werden in neueren literatur-, aber auch psychologiegeschichtlichen Studien in den kulturellen Kontext spätaufklärerischer Erfahrungspsychologie, namentlich in die Tradition von Moritz’ Erfahrungsseelenkunde gestellt und dadurch interpretatorisch erschlossen. Gegen solche kontextualistischen Interpretationsansätze wird im folgenden die These vertreten, daß Tiecks StraußfedernErzählungen nicht der diskursiven bzw. architextuellen Ordnung der psychologischen Fallgeschichte angehören, sondern daß sie vielmehr als Beispiele einer satirischen und digressiven écriture fungieren, die das empirischpsychologische Wissen der Spätaufklärung bloß als Stoff für karnevalistische Effekte nutzt. Methodisch wird dadurch der spezifisch ästhetische Mehrwert der diskursiven Darstellungsform ›Literatur‹ gegenüber anderen diskursiven Darstellungsformen anthropologischen Wissens am Ende des 18. Jahrhunderts festgehalten. Bei den Straußfedern handelt es sich um ein exemplarisches Anthologieprojekt des Berliner Verlegers Friedrich Nicolai, der die Herausgabe der Erzählungssammlung der Reihe nach drei Herausgebern anvertraute, die teils eigene, teils fremde Texte drucken bzw. nachdrucken ließen. Man schmückte sich also, wie der Bildspender der Titelvignette (Abb.1) suggeriert und die Vorrede zum ersten Band zweideutig konzediert, mit eigenen und fremden ›Federn‹. Johann Karl August Musäus (1753–1787) betreute den I. Band (1787), Johann Gottwerth Müller (1743–1728) die Bände II (1790) und III (1791), und der noch junge Ludwig Tieck (1773–1835) verantwortete die

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Bände IV–VIII (1795–1798). Insgesamt erschienen in den acht Bänden der Straußfedern zwischen 1787 und 1798 37 Erzählungen und ein Lustspiel. Tieck war (neben dem Lustspiel) für 27 Erzählungen verantwortlich, von denen 16 von ihm, der Rest von seiner Schwester Sophie und seinem späteren Schwager Bernhardi stammten (s. Konkordanz).1 Alle Texte erschienen anonym, und zwar ohne Titelangabe in bloß durchnummerierter Form.2 Doch während z.B. die Herausgeberschaft Müllers, nicht zuletzt durch eine im Band VI nachgeschobene, mitten in den Fluß einer Erzählung einmontierte Vorrede, die eigentlich schon in den IV. Band gehört hätte, gelüftet wurde – und zwar dadurch, daß der neue Herausgeber Tieck einen Rezensenten dafür tadelt, die »satyrische Laune« in Band V dem alten Herausgeber gutgeschrieben zu haben, obwohl »Hr. Müller diese Straußfedern nicht mehr schreibt«3 –, bleibt die Anonymität Tiecks bis weit ins 19. Jahrhundert gewahrt. Erst durch die Aufnahme der frühen Erzählungen in die Ausgabe seiner Schriften (1828–1854) macht Tieck seine Autorschaft öffentlich.4 Hinzugefügt werden jetzt (die heute in der Forschung benutzten) Titel, während die sammlungstypischen Herausgeberkommentare (und eine Reihe auktorialer Leseransprachen u.ä.) gestrichen werden.

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August Ferdinand Bernhardi/Sophie Bernhardi [geb. Tieck], Reliquien. Erzählungen und Dichtungen, hrsg. von Wilhelm Bernhardi. Mit einem Vorwort von Varnhagen von Ense. 3 Bde. Altenburg 1847. Zur Autorschaft vgl. Carl Georg von Maassen, Ludwig Tiecks Straußfederngeschichten. Der Versuch einer Untersuchung, in: Der grundgescheute [!] Antiquarius 1 (1921), 137–151; Annette Antoine, Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung. Der Verleger Friedrich Nicolai, die Straußfedern und ihre Autoren, 2 Bde. Würzburg 2001, Bd.I, bes. S.86–91 und S.187–191. – Nachfolgender Aufsatz geht auf einen Vortrag auf der trilateralen, deutsch-französisch-italienischen Forschungskonferenz »L’immaginazione come camera obscura dei processi narrativi«, Villa Vigoni, 18.–21. Nov. 2007 (Kuratoren: Stefano Poggi, Florenz, Olaf Breidbach, Jena; Louis Van Delft, Paris) zurück. Der Vortragsduktus wurde im wesentlichen beibehalten. Hierzu Musäus’ Präadvis an den Leser., in: Straußfedern. Bd.I. Berlin/Stettin 1787, S.*1r– [*6v], hier: S.[*6v]. Vorrede, in: Straußfedern. Bd.VI. Berlin/Stettin 1797, S.4–9, hier: S.8. Die Vorrede ist in den Beginn der XXIII. Erzählung [= Fermer, der geniale], ebd., S.3–36 (wiederabgedr. u.d.T.: Fermer, der geniale [!]. Erzählung. 1796. [!], in: L.T., Schriften. Bd.15. Berlin 1829, S.181– 204) ›einmontiert‹, und zwar just an der Stelle, wo Fermer nach Rückkunft von der Universität an der Tür seiner zurückgelassenen Geliebten klingelt – der Einschub hat also narrative, spannungssteigernde Funktion. Vgl. Ludwig Tieck, Schriften, Bde.14–15. Berlin 1829, die neben dem Peter Lebrecht die Mehrzahl der Tieckschen Straußfedern-Beiträge bringen. Im folgenden werden die Erzählungen nach der Nummerierung des Straußfedern-Erstdrucks unter Hinzufügung des SchriftenTitels in [] nachgewiesen. Vgl. die Leseausgabe: Ludwig Tieck, Straußfedern, 2 Bde., hrsg. von Carl Georg von Maassen. München 1923 (=Die Bücherei der neuen Serapionsbrüder).

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Abb.1: Straußfedern, [hrsg. von Ludwig Tieck]. Bd.8. Berlin, Stettin 1798.

Tiecks Straußfedern sind in der literaturwissenschaftlichen Forschung »so gut wie kaum berücksichtigt worden«,5 obwohl sie neben Nicolais Nothanker-Roman, seiner Reise- und seiner Residenzstadt-Beschreibung zu den ––––––– 5

Antoine [Anm.1], Bd.I, S.87. Im Unterschied zu den kürzeren Prosaformen von Klassik und Romantik, namentlich den ›Novellen‹ Schillers (u.a. Verbrecher), Goethes (Unterhaltungen) oder Kleists (Erzählungen), die reichlich erforscht sind (z.B. Romantisches Erzählen, hrsg. von Gerhard Neumann. Würzburg 1995), ist das Feld der spätaufklärerischen Erzählliteratur, vor allem jenseits der kernkanonischen Autoren, erst wenig arrondiert: Den Ausgangspunkt bietet nach wie vor Jürgen Jakobs (Die deutsche Erzählung im Zeitalter der Aufklärung, in: Handbuch der deutschen Erzählung, hrsg. von Karl Konrad Pohlheim. Düsseldorf 1981, S.56–71), dessen souveräner Überblick im Kontext gegenwärtiger Forschungen zur literarischen Anthropologie bzw. zum Zusammenhang von Literatur und Wissen im Blick auf Autoren wie Spieß, Meißner u.a. erweitert wird (z.B. Gunhild Berg, Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006 (=Hallische Beiträge zur europäischen Aufklärung 30)).

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rentabelsten Artikeln des Verlags gehörten, wobei sich aber genaue Absatzzahlen zu den Straußfedern nicht erhalten haben. Auch die StraußfedernErzählungen von Tieck sind von seinen Interpreten als »Auftragsproduktionen [...] fast immer mit Nichtachtung gestraft«6 und als »bessere Routine«7 abgetan worden. Neuere und neueste Arbeiten dagegen versuchen Tiecks Straußfedern-Erzählungen – sei es im Zuge der von Foucault aufgeworfenen Thematik von Wahnsinn und Gesellschaft, sei es im Gefolge des germanistischen Programms einer literarischen Anthropologie – auf die empirische Psychologie bzw. Anthropologie der Spätaufklärung zu beziehen und bringen sie dadurch zum Sprechen. Beide Disziplintitel – empirische Psychologie bzw. Anthropologie – scheinen im Blick auf das um 1800 noch nicht ausdifferenzierte Wissenschaftsgefüge8 »fast äquivok«9 gebraucht worden zu sein. Dafür spricht, daß Kant Anthropologie nach dem Kapitel zur empirischen Psychologie in Baumgartens Metaphysik las. Dagegen spricht freilich, daß der Diskursivitätsbegründer der Ganze-Mensch-Anthropologie Platner die Anthropologie als eine Spezial- bzw. Integrationswissenschaft psychosomatischer Wechselwirkungen systematisch u.a. von der Physiologie als bloß einseitiger Körper- und von der Psychologie als bloß einseitiger Seelenwissenschaft unterschied. Wie dem auch sei: Tiecks Straußfedern wurden von Ernst Ribbat als »Fallstudien zum Verhältnis von Verstand und Wahnsinn, Alltag und Traum« interpretiert, in denen der »Ansatz zeitgenössischer Psychologie, die zu einfachen Deutungen des menschlichen Wesens durch Erforschung des Unbewußten zu erweitern, aufgegriffen und am fiktiven Modell bis zu recht radikalen Konsequenzen verfolgt«10 worden sei. In ausdrücklicher Anknüpfung an solche Auslegungspraxis hat jetzt Claudia Stockinger11 Tiecks ––––––– 6

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Ernst Ribbat, Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis der romantischen Poesie, Kronberg/Ts. 1978, S.32. Roger Paulin, Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, S.27. Die »romantische[n] Erzählungen« Tiecks aus der »Novellenanthologie« der Straußfedern streift Gerhard Schulz, Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil: Das Zeitalter der Französischen Revolution (1789–1806). München 1983 (= Geschichte der deutschen Literatur, VII.1), bes. S.381–383. Vgl. Olaf Breidbach, Paul Ziche, Einführung. Naturwissen und Naturwissenschaften – Zur Wissenschaftskultur in Weimar/Jena, in: O.B., P.Z., Naturwissenschaften um 1800: Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S.7–26, hier: S.7: »Die Disziplinstruktur der modernen Wissenschaftslandschaft ist um 1800 noch nicht ausdifferenziert [...].« Paul Ziche, Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften, in: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft, hrsg. von Georg Eckardt, Matthias John, Temilo van Zantwijk und Paul Ziche. Köln/Weimar/Wien 2001, S.73–109, hier: S.85. Ziche unterläuft hier m.E. eine Fehllesung seiner Quelle. Ribbat [Anm.6], S.33 und S.36. Claudia Stockinger, Pathognomisches Erzählen im Kontext der Erfahrungsseelenkunde. Tiecks Beiträge zu Nicolais »Straußfedern«, in: Die Prosa Ludwig Tiecks, hrsg. von Detlef

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Beiträge zu Nicolais Straußfedern in den Kontext des anthropologischen Interesses der deutschen Spätaufklärung gerückt, sie als Reaktionen »auf einen erfahrungsseelenkundlichen Entwurf, der nicht auf Experimente setzt, sondern auf Beobachtungen«, gedeutet und mit Moritz’ »erfahrungsseelenkundliche[m] Programm«, d.h. dessen Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre12 (1782), enggeführt. Doch nicht nur die Literaturwissenschaft hat versucht, diskursanalytischen Anschluß an die empirische Psychologie um 1800 zu gewinnen, um in diesem Kontext Tiecks Straußfedern »als eine Form der praktizierten Spätaufklärung«13 epochal verorten zu können, umgekehrt hat auch die Psychologiegeschichtsschreibung Tiecks Straußfedern als Quelle entdeckt und insbesondere die Erzählung Der Psycholog als frühes, wenn nicht erstes Zeugnis aufgegriffen, daß ein Psychologe als literarische Titelgestalt fungiert habe.14 Gegenüber einer solchen kontextualistischen Auslegungspraxis, die Tiecks Erzählungen als Zeugnisse spätaufklärerischer Erfahrungsseelenkunde auffaßt, möchte ich im folgenden auf eine Art formalistische Lektüre setzen, die das von Tieck aufgegriffene Wissen der empirischen Psychologie und das damit verbundene Genre der psychologischen bzw. psychopathologischen Fallgeschichte als Material für literatursatirische Kontrafakturen versteht. Aus den Fallgeschichten, die die traurigen Folgen ungezügelter Einbildungskraft vorführen, werden Zufallserzählungen, die einer ›exzentrischen‹ Einbildungskraft Form geben. Diese These soll am Beispiel von Tiecks Psycholog entwickelt (I.) und im Blick auf die Schwärmerkritik und ihre literarische Form verallgemeinert werden (II.). –––––––

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Kremer. Bielefeld 2005, S.11–34, die folgenden Zitate: S.17, S.12f. und S.28. RibbatBezugnahmen, S.13, Fn.14, und S.30, Fn.90. Der Aufsatz bietet den Beitrag zu einem Colloquium, das im Febr. 2004 in Münster zu Ehren der Emeritierung Ribbats stattfand. Abgedr. in: Karl Philipp Moritz, Werke, hrsg. von Horst Günther. Bd.III: Erfahrung, Sprache, Denken [1981]. 2.Aufl. Frankfurt a.M. 1993, S.85–99. Zur Terminologie von empirischer Psychologie, Experimentalsseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde u.a. vgl. Carsten Zelle, Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz, in: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hrsg. von. C.Z. Tübingen 2001, S.173–185. Zur Geschichte der empirischen Psychologie vgl. jetzt die große Studie von Fernando Vidal, Les sciences de l’âme. XVIe–XVIIIe siècle. Paris 2006, sowie Vidals dort, S.450, nachgewiesene Vorstudien. Stockinger [Anm.11], S.12. Matthias John, Psychologen um 1800: »denn sie sind jetzt nicht mehr so selten, wie ehedem«, in: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800 [Anm.9], S.111–132, bes. S.115–117 (»Tiecks Erzählung Der Psycholog«).

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I. Tiecks Der Psycholog: Von der Fallgeschichte zur satirischen Zufallserzählung Der kurze Text Der Psycholog schreibt sich in eine Reihe von StraußfedernSatiren ein, die bestimmte Typen bzw. ›Charaktere‹ (im Sinn von Theophrast oder La Bruyère) zum Sujet nehmen und modernisieren, z.B. den Empfindsamen, den Genialen, den Naturfreund, den Rechtsgelehrten und eben auch den Pychologen, den es, wie der Text suggeriert, damals in jeder Stadt gab, »denn sie sind jetzt«, heißt es einleitend als ein reisender Psychologe bei einem Stadtbesuch einen anderen Psychologen kennenlernt, »nicht mehr so selten, wie ehedem.«15 Wer will, kann diesen Satz als historische Quelle lesen und z.B. festhalten, daß seit der Inauguration der psychologia empirica durch Wolff, der Experimentalseelenlehre durch Krüger oder der Erfahrungsseelenkunde durch Moritz die empirische Psychologie eine rasche Karriere gemacht hat, so daß ihre Vertreter an Frequenz offenbar um 1800 stark zugenommen hatten. Tieck selbst war psychologisch interessiert; er hatte z.B. in Halle im Winter 1792/93 Ludwig Heinrich Jakobs (1757–1827) Psychologie-Vorlesung gehört,16 mit Wackenroder zusammen im Mai 1793 aus psychologischer Neugier ein Irren- bzw. Zuchthaus in Bayreuth besucht und darüber in einem Brief festgehalten, daß »man [...] die Menschheit bis dahin verfolgen [muß], wo sie unkenntlich wird, in keinem Gewande muß man den Bruder verschmähen«.17 Dieses autobiographische Detail scheint – sofern man Interesse an autobiographischen Subtexten hat18 – Eingang in die vorliegende Erzählung gefunden zu haben. Zu Beginn heißt es: ––––––– 15

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Ludwig Tieck, XXXI. [= Der Psycholog], in: Straußfedern. Bd.VI. Berlin, Stettin 1797, S.229–236, hier: S.230; wiederabgedr. u.d.T.: Der Psycholog. Erzählung. 1796. [!], in: Ders., Schriften. Bd.15. Berlin 1829, S.245–252, hier: S.247. John [Anm.14] greift diesen Satz als Untertitel auf. Der »zum Gebrauche meiner Zuhörer« (Vorrede zur ersten Auflage, 1791) von Ludwig Heinrich Jakob gedruckte Grundriß der Erfahrungs=Seelenlehre (Nach der zweyten ganz umgearbeiteten Auflage. 2 Bde. Grätz 1795, hier: Bd.I, S.XVII) wäre mit Tiecks Gestaltung seelischer, insbesondere psychopathologischer Vorgänge eingehender zu vergleichen als es hier erst ansatzweise geschieht. Ludwig Tieck an Ferdinand Bernhard und Sophie Tieck, Erlangen 1793 [Ende Juli/Anfang August 1793]. Reise vom 17.–28. Mai 1793, in: Wilhelm Heinrich Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. 2 Bde. Heidelberg 1991, Bd.II, S.253–283, hier: S.265. Z.B. entspricht das »Privattheater«, das in Tiecks XXII. Erzählung [= Ulrich, der empfindsame], in: Straußfedern. Bd. 5. Berlin, Stettin 1796, S.137–220 (wiederabgedr. u.d.T.: Ulrich, der empfindsame [!]. Erzählung. 1796., in: L.T., Schriften. Bd. 15. Berlin 1829, S.121–180), dazu fungiert, »hinter den Coulissen« andere Gespräche zu führen, als »auf dem Theater gehalten« werden (Straußfedern. Bd.5, S.145), einer vergleichbaren Institution im Hause Reichardts in Berlin, was Wolfgang Rath (Ludwig Tieck: das vergessene Genie. Studien zu sei-

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Zwey Freunde reisten mit einander, der eine blos um zu reisen; der andre um Bemerkungen, statistische und philologische, besonders aber psychologische einzusammeln. Er besuchte daher alle Irrenhäuser, Zuchthäuser und dergleichen Orte, die als eben so viele Satiren auf den Menschen aufgestellt sind. Jetzt war ihm das Fach der Stillmelankolischen besonders interessant geworden; er hatte einige so seltsame Exemplare angetroffen, daß er sie mit einem ganz besondern Eifer auftischte.19

Die Haltung der Autorinstanz zur Welt, die die Erzählung eröffnet,20 hat sich gegenüber dem autobiographischen Briefzeugnis signifikant verschoben. Wir als Leser nehmen nicht daran teil, wie der Psychologe beobachtet, sondern wie er beim Beobachten beobachtet wird. Ich möchte nicht soweit gehen zu behaupten, daß sich das psychologische Sujet überhaupt nur einer – um es mit Jakobson21 zu sagen – Verschiebung des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination verdankt, insofern sich das ›Einsammeln psychologischer Bemerkungen‹, mithin die Dimension empirischer Psychologie lediglich der rhetorischen Figur der Annomination, d.h. einer Klanggeste verdankt: Das ›Psychologische‹ käme hier also lediglich wegen des Ähnlichklangs mit dem zuvor genannten ›Philologischen‹ ins erzählerische Spiel. War das autobiographische Zeugnis vom Irrenhausbesuch ganz vom Pathos der Nächstenliebe durchtränkt (»in keinem Gewande –––––––

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nem Erzählwerk. Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, bes. S.159–171, hier: S.164) dahingehend verallgemeinert, daß autobiographisches Material von Tieck bis »zur Geradenoch-Kenntlichkeit [...] zu empfindsamen Klischeeszenarios arrangiert« wird. Schaltet man freilich von der referentiellen auf die kombinatorische Achse, dann öffnet sich die vermeintliche Berliner Insideranspielung für einen textuellen Resonanzraum, der die pikante Szene, die »Ulrich aus dem komischen Fache in das Fach der ersten Liebhaber übergehn« läßt (Straußfedern. Bd.5, S.154), im Kontext der Argumente positioniert, die Rousseaus AntiSchauspiel-Epistel (1758) vorbringt, daß die Schauspielerin hinterszenisch die Begierden erfüllt, die sie bei den Männern vorderszenisch erweckt. Tieck, XXXI. [= Der Psycholog] [Anm.14], S.229; in der Schriften-Fassung von 1829 finden sich u.a. folgende signifikante Varianten: philologische]philosophische; Irrenhäuser]Irrenanstalten. Die Melancholie zählt für Jakobs [Anm.16], Bd.2, S.288ff., zur »Verrücktheit« und zeichnet sich im Unterschied zu »Tollheit und Raserey« nicht durch grundlosen Menschenhaß, sondern durch »grundlose[r] Menschenscheu«, d.h. Schüchternheit und Furchtsamkeit, aus. Das Begriffsangebot folgt Michail M. Bachtin, Das Problem des Autors [um 1925], in: Kunst und Literatur 26 (1978), H.3, S.266–279, bes. S.279. Der Auszug aus Bachtins lange unpubliziertem Frühwerk liegt jetzt in einer Übersetzung vor (M.B., Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, hrsg. von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid, übers. von Hans G. Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. Frankfurt a.M. 2008, (= stw 1878), S.248–268). Roman Jakobson, Linguistik und Poetik [1960], in: R.J., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971, hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M. 1979, S.83–121, hier: S.94.

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muß man den Bruder verschmähen«), hat sich der Ort des ›Irrenhauses‹ in der Erzählung in einen literarischen Topos verwandelt, der statt ggf. psychologischer Einsichten literarische Satiren produziert. Kurz: Bei den Straußfedern handelt es sich weder um psychologische bzw. psychopathologische Fallgeschichten, die z.B. Moritz’ Magazin in der Rubrik »Zur Seelenkrankheitskunde« druckt,22 noch um psychologische Erzählungen, wofür exemplarisch Schillers Verbrecher stehen mag,23 vielmehr sind wir mit Kontrafakturen solcher spätaufklärischen Textsorten, d.h. mit Literatursatiren konfrontiert. Ich verstehe daher im Gegensatz zu Ribbat und Stockinger24 z.B. den Herausgeberkommentar zu »Siegmunds Geschichte«, in der ein Freudenmädchen als dea ex machina fungiert, daß »diese Geschichte für das Magazin der [!] Erfahrungsseelenkunde bestimmt«25 gewesen sei, nicht im wörtlichen, sondern – dem satirischen Genre entsprechend – im figurativen Sinn als Ironie, zumal die Erzählung im Absatz zuvor vom Herausgeber noch als eine »schlecht erfundene sophistische [Herv., C.Z.] Charrade«26 bezeichnet wird und der Text im übrigen auf 1796 datiert ist, das Magazin jedoch schon 1793 beschlossen worden war. Solche Vexierspiele, die den architextuellen Erwartungshorizont irritieren und verunsichern sollen, gehören zur literatursatirischen Konvention. Indiz dafür, die Straußfedern einer anderen architextuellen Ordnung als dem erfahrungsseelenkundlichen Diskurs zuzuordnen, ist u.a., daß weder durch Untertitel (»aus den Kriminalakten gezogen«; »eine wahre Geschich––––––– 22

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Z.B. Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners, aus den Kriminalakten gezogen, in: Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde, hrsg. von Carl Philipp Moritz. Bd.I, 2.St. Berlin 1783, S.10–18. Es handelt sich um einen Mordfall aus Schwärmerei infolge pietistischer Lektüre. Vgl. den Wiederabdruck in: Kriminalgeschichten aus dem 18. Jahrhundert, hrsg. von Holger Dainat mit Montagen von Heinz Beier. Bielefeld 1987, S.64–69 und S.181 (Kommentar). Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte [1786], in: Ders., Sämtliche Werke, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. Bd.V: Erzählungen und theoretische Schriften, hrsg. von Wolfgang Riedel. München 2004, S.13–35 und S. 1156f. Vgl. Ribbat [Anm.6], S.37, und Stockinger [Anm.11], S.30. Tieck, XXI. [= Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben], in: Straußfedern. Bd. V. Berlin, Stettin 1796, S.91–136, hier: S.135; wiederabgedr. u.d.T.: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben. Eine Erzählung. 1796., in: Ders., Schriften. Bd. 15. Berlin 1829, S.87–120, der betreffende Absatz ist im Wiederabdruck gestrichen. Tieck, XXI. [= Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben] [Anm.25], S.135. Die frühe, insgesamt pejorative Verwendungsweise des Worts ›Ironie‹ bezieht sich auf den Kontext sokratisch-sophistischer Auseinandersetzungen; vgl. Wolfgang G. Müller, Ironie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung, hrsg. von Harald Fricke u.a. Bd.II: H–O. Berlin, New York 2000, S.185–189, hier: S.186.

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te«) oder andere Paratexte (z.B. durch Herausgeberkommentar in einer Fußnote: »Die Materialien zu dieser Geschichte sind mir vom Herrn Referendarius Frölich gütigst mitgetheilt«) noch durch die Narration selbst (z.B. durch innerdiegetische Geständnisse, Verhörprotokolle o.ä.) eine Authentizitätsfiktion zum Zweck eines empirischen Pakts geltend gemacht wird, wie dies bei den Mustern Moritz’ oder Schillers der Fall ist.27 Solche Formeln werden in Tiecks Straußfedern zwar gelegentlich aufgegriffen, jedoch in der Absicht, sie durch die Ironie des Zufalls zu subvertieren. Formal ist das daran abzusehen, daß die erfahrungsseelenkundliche Narration in die Position einer Metaerzählung gerückt, d.h. durch eine (wenn auch sehr kurze) Rahmenerzählung bzw. einen kurzen rahmenden Herausgeberkommentar zur Binnenerzählung »›eingeschachtelt‹«28 wird. Wir sind nicht mit der von ›Wahrheitsfreunden‹ methodisch betriebenen Sammlung von Fallgeschichten konfrontiert, sondern vielmehr mit ›Zufallserzählungen‹, die einem Herausgeber wie fallende Laubblätter in die Hände fallen. Im entsprechenden Schlußabsatz heißt es: »Der Psycholog setzte sich nieder, diese Geschichte aufzuzeichnen, verlohr das Blatt auf einer Station und so fiel es in meine Hände.«29 Diese Verschiebung von der Fallgeschichte zur Zufallserzählung führt dazu, daß ihr jede pathetische Werthaltung, die analog zum erwähnten autobiographischen Zeugnis bei Gelegenheit des Bayreuther Irrenhausbesuchs für die Autorinstanz der psychologischen Erzählung kennzeichnend war, fehlt. Signifikant für solches Pathos ist z.B. die Variante der Erstfassung von Schillers Verbrecher, wenn es in der sog. Einleitung extradiegetisch heißt: »Wie manches Mädchen von feiner Erziehung würde seine Unschuld gerettet haben, wenn es früher gelernt hätte, seine gefallene Schwester in den Häusern der Freude minder lieblos zu richten!«30 Mit solchem Pathos versucht die psychologische Erzählung ihre Orte – die Irren-, Zucht- oder Freudenhäuser – davor zu immunisieren, als literarische Topoi gelesen, d.h. auf die Achse poetischer Kombinatorik gedreht und dem Lachen ausgesetzt zu werden.

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Vgl. die Nachweise in Anm.22 und 23. Zum Terminologieangebot vgl. Gérard Genette, Neuer Diskurs der Erzählung [frz. 1983], in: G.G.: Die Erzählung, hrsg. von Jürgen Vogt, übers. von Andreas Knop. München 1994, S.193–298, bes. S.249–256, hier: S.252. Tieck, XXXI. [= Der Psycholog] [Anm.15], S.236. Schiller [Anm.23], Variante des Erstdrucks 1786, S.1157.

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II. Von der Schwärmerkritik zur Narrensatire (a) Schwärmerkritisches Zwar thematisiert das Gros von Tiecks Straußfedern-Erzählungen Schwärmergestalten. Aufgenommen wird damit ein »Kampfbegriff der deutschen Aufklärung«,31 der auch in den psychopathologischen Fallgeschichten des Moritzschen Magazins eine große Rolle spielt. In der »aus den Kriminalakten« gezogenen »Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners«, der am 23. Mai 1753 einem kleinen Mädchen »die Gurgel durchschnitt«, wird als Motiv des Verbrechens angegeben, daß es »leider [...] nur allzuwahr zu seyn [scheint], daß eine fromme Schwärmerei den ersten Grund« zu den »mörderische[n] Gedanken« in der Seele des Täters erzeugt habe. Völkner war zunächst als Schuster ausgebildet worden, doch der Diebstahl seines Handwerkszeugs brachte ihn um seine Kundschaft, er geriet aus der Bahn, d.h. unter die Soldaten und dort unter pietistischen Einfluß, was teils durch Zeugenaussagen, teils durch das Indiz seiner Handbibliothek bezeugt wird. Evidenzheischend, ja geradezu genüßlich aus der schwärmerkritischen Aufklärerperspektive heraus in Fettdruck wird die kurze seelenkrankheitskundliche Erzählung mit der Aufzählung der bei Völkner aufgefundenen Bücher (lauter Ware aus dem Hallischen Waisenhaus) abgeschlossen – »diese waren: Arendts wahres Christenthum, das Paradiesgärtlein, Freylingshausens Gesangbuch, und das hällische goldne Schatzkästlein.«32 Da sich Völkner auf die Frage, »warum er seine abscheuliche That gerade an einem unschuldigen Kinde« vollbracht habe, auf »ein dunkles Gefühl berief«,33 könnte man meinen, daß eine »metaphysische Schwärmerey«34 den Mord hervorgerufen haben wird. Mit einem solchen Begriff jedenfalls belegt Jakob, bei dem Tieck in Halle Psychologie gehört hatte, in seinem Grundriß der Erfahrungs=Seelenlehre im Abschnitt »Von den dauernden Krankheiten der Seelenkräfte« neben der theoretischen und physischen Schwärmerei jene, die sich u.a. »durch fehlerhafte Gefühle, wenn man sich einbildet, das Uebersinnliche zu fühlen« (Herv., C.Z.), offenbare.35 »Schwärmerey« liege vor, wenn bloße Einbildungen für reele Erkenntnisse gehalten und Erfahrungen ––––––– 31

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Winfried Schröder, Schwärmerei, in: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hrsg. von Werner Schneiders. München 1995, S.372–373, hier: S.372. Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners [Anm.22], S.18. Ebd., S.17. Jakob [Anm.16], Bd. 2, S.273, § 767. Ebd.

Empirische Psychologie und ästhetischer Überschuss

171

erdichtet werden, wo keine wirklich sind. Unterschieden wird Schwärmerei bei Jakob von Enthusiasmus, Begeisterung, und Empfindsamkeit, während dagegen die »Empfindeley«, teils aufgrund einer zu starken Sensibilität, d.h. offenbar neuronal, teils aus einer müßigen Beschäftigung mit Einbildungen, d.h. offenbar psychologisch, verursacht, nahe an die Schwärmerei grenzt.36 Stets ist bei allen diesen Formen ein ›Mißverhältnis‹ zwischen Einbildungskraft und Verstand bzw. Vernunft zu beobachten.37 Als sicheres »Präservativ=Mittel« gegen die Schwärmerei, insbesondere gegen die religiöse, die im Rahmen des schwärmerischen Formenkreises »am unheilbarsten« ist, gilt für Jakob daher neben dem Studium der Naturwissenschaft und der Grenzen des menschlichen Wissens der beständige Umgang mit der »wirklichen Welt«.38 Zwar knüpfen Tiecks Straußfedern-Erzählungen an solche spätaufklärerische Schwärmerkritik an. Zu einer Aufwertung der Schwärmergestalt39 kommt es jedoch keineswegs, im Gegenteil: Der Schwärmer wird unter der Bezeichnung des ›Narren‹ zu einer ubiquitären Erscheinung. Zutreffend ist festgestellt worden, daß Tiecks Schwärmer der zweiten Generation angehören.40 Der sprechende Name, der Fermer, den Genialen fixiert, und gegenüber der ›wirklichen Welt‹ verschließt, kennzeichnet schon die Abgeschlossenheit der Existenz jenes Hartmanns,41 der einen Ulrich, den Empfindsamen, zum Sohn bekommt, an dem dessen Frau »einen eignen kleinen Schrank voll empfindsamer Erziehungsschriften« praktisch anwendet und überdies einem philanthropischen Erzieher aus Dessau namens Seidemann ausliefert.42 Es ist längst kein religiöses Schrifttum mehr, das die Anamnese des Typus bestimmt, es ist Schrifttum überhaupt, u.a. gerade auch dasjenige der Spätaufklärung (z.B. Campe, Salzmann, Guthsmut u.a.), das die Tieckschen Schwärmer-Helden in die Umlaufbahnen ihrer Erzählungen katapultiert. Fermer, der Geniale, lebt eine Papierbiographie, insofern er sich sein Leben von der Literatur soufflieren läßt: »– nicht im Clavigo; nein in der Stella ––––––– 36 37 38 39

40 41

42

Ebd., S.271f., §§ 764f., und S.269, § 761. Vgl. ebd., S.276, § 774. Ebd., S.279, §778. Vgl. Manfred Engel, Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethezeit, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart/Weimar 1994 (=Germanistische Symposien. Berichtsbände 15), S.469–498. Vgl. Rath [Anm.18], S.163f. Ein »Sonderling«, mit dem »Niemand in der Stadt Umgang hatte«, der sich »nur mit sich selber beschäftigte«, sich »in der Einsamkeit einzig und allein unterhält« und den viele daher für einen »Goldmacher« halten (Tieck, XXII. [= Ulrich, der empfindsame] [Anm.18], S.138f. Ebd., S.139 und S.142.

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ist meine ganze Lage geschildert, gemalt zum sprechen!«43 Sein Autor jagt ihn durch die Clichés der Literatur, so daß Fermer endlich nach Eifersucht, Duellforderung, Verführung dieser, Schwangerschaft jener, Kindsmorddrohung und Heirat endlich als »Schriftsteller« zur Ruhe kommt und »[...] den Buchhändlern folgende Manuscripte an[bietet]:« Der Text endet mit der Bibliographie der Titel,44 als karikiere der Schluß der Fermer-Erzählung die Titelei pietistischer Erbauungsliteratur, die im Magazin einst die Determinationskräfte der Völknerschen Seele markieren sollte. So macht sich der Autor der Straußfedern über den literarischen Betrieb lustig, in den er sich mit seiner Fermer-Erzählung gerade einzuschreiben anschickt. (b) Digression und Narrensatire Kennzeichnend für den Stil der Erzählungen ist eine satirisch-ironische Distanz der Autorposition, die die psychologische Thematik zum Material literarischer Gestaltung macht. An die Stelle einer einheitlichen Handlungsführung, in deren Verlauf sich die psychischen Determinationskräfte, die eine auf die frühesten Jahre der Kindheit und auf das Kleinscheinende sorgfältig achtgebende Beobachtungsgabe zeitig genug signalisiert hat, tritt eine digressive, assoziativ verknüpfende Narration. In Ulrich, der empfindsame dient eine solche Digression, mit der sich das auktoriale Ich in seiner Erzählung an den Leser wendet, zugleich dazu, das Prinzip psychischer Determination durch frühkindliche Eindrücke auf die Schippe zu nehmen. Zunächst wird der Grundsatz der Erfahrungsseelenkunde plakativ ausgestellt, insofern »man [...] den Leser bittet, ihn [d.i. Ulrich, der Held der gegenwärtigen Geschichte] schon in seiner Kindheit genau zu beobachten.«45 Dann freilich wird dieser Grundsatz dadurch unterlaufen, daß der Vorname, auf den Hartmann seinen Sprößling taufen läßt, unter Verweis auf die wunderbare Namenstheorie aus Tristram Shandy als determinierendes Omen für Ulrichs weiteres ––––––– 43

44

45

Tieck, XXIII. [= Fermer, der geniale] [Anm.3], S.16. Zur Konstruktion solcher »Papiergeschöpfe« (Jakob Michael Reinhold Lenz, Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. Eine Komödie, 1774, I, 1) siehe Christoph Brecht, Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen 1993, S.68– 76, hier: S.75: »Der wirkliche Mensch kommt nicht zur Sprache. Seine Wirklichkeit verschwindet hinter der fingierten und literarisch kodierten Empfindung.« »Löwenhelm der Bärenstarke, Vaterlandssage, in 3 Bänden. / Die Eroberung von Teltow, ein brandenburgisch-vaterländisches Schauspiel, in 6 Aufzügen. / Die Unsichtbaren Sichtbaren, eine Geschichte, die man kürzlich in den Obelisken gefunden, 4 Bände. / Rudolph von Kollersporn, gemeinhin genannt der Abgrundspringer, in 2 Bänden.« Tieck, XXIII. [= Fermer, der geniale] [Anm.3], S.36. Tieck, XXII. [= Ulrich, der empfindsame] [Anm.18], S.139.

Empirische Psychologie und ästhetischer Überschuss

173

Schicksal herausgestellt wird, d.h. erfahrungsseelenkundliche Prinzipien mit dem Aberglauben älterer Prognostik in eins gesetzt werden. Bekanntlich hatte – darauf spielt der Autor an, wenn er dem Leser anvertraut, daß er in keiner Sache so sehr mit dem alten Shandy sympathisiere, »als eben in seiner wunderbaren Theorie über den Namen« – Shandy seinem Sohn mit der mächtigen Kraft des Namens Trismegistus’ eine Kompensation für die bei der Zangengeburt erlittene Nasenverletzung mit auf die Lebensbahn geben wollen, was aber des kurzen Gedächtnisses Susannas wegen mißglückte, weswegen sich Trismegistus zu Tristram verkürzte.46 Mit der Ironie, durch die die Erzählung Psychologie mit Mantik konnotiert, tritt der Autor zugleich, insofern eine Episode erinnert wird, in der eine eingedrückte Nase mit einem großen Namen kompensiert werden soll, in die Stilwelt karnevalistischer Literatur.47 In einer anschließenden Suada, für die sich der Autor entschuldigt, daß er seine »erzmoralische Erzählung« durch »unnütze Anmerkungen« unterbricht, erregt er sich über das »Füllhorn« der »Narrheiten«, die das letzte halbe Jahrhundert zum angeblichen »Besten der Menschheit« ausgeschüttet habe, die nun aber mitsamt der »Aufklärer und Schwärmer« allesamt in die »Polterkammer« der Geschichte geworfen worden seien. »Nirgends zeigt sich mehr Mannichfaltigkeit, nirgends größere Abwechslung, als in den menschlichen Narrheiten.«48 Die Gattungswahl, die in der »erzmoralische[n] Erzählung«, wie es ironisch heißt, tatsächlich getroffen wird, bezieht sich mithin nicht auf die psychologische Fallgeschichte. Vielmehr greift Tieck die Tradition der Narrensatire auf, auf die Wieland seinerzeit mit dem Hinweis auf Sebastian Brants Narrenschiff wieder aufmerksam gemacht hatte.49 In dem Text Ein Tagebuch, dessen architextuelle Ordnung es Tieck erlaubt, die Einheit der Handlung gänzlich zugunsten der Episodenaddition nach Maßgabe des Kalendariums aufzugeben, wird er mit Nachdruck ältere Beispiele der Narrenliteratur in seinen Text einmontieren (Auszüge aus Moscheroschs Adaptation von Quevedos Sueños und Grimmelshausens Simplicissimus). ––––––– 46

47

48 49

Laurence Sterne, Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman [engl. 1760–1767], hrsg. von Erwin Wolff. Stuttgart 1972, bes. Buch IV, Kap.8, 11 und 14. Michail M. Bachtin (Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. von Alexander Kämpfe. Berlin/Wien 1985, S.15) hält im Zusammenhang seiner Ausführungen zum grotesken Leib, jedoch ohne direkte Bezugnahme auf Sterne, den Grundsatz fest: »Die Nase vertritt nämlich stets den Phallus.« Tieck, XXII. [= Ulrich, der empfindsame] [Anm.18], S.143f. Vgl. Der Teutsche Merkur, hrsg. von Christoph Martin Wieland (1776), 1. Vierteljahr, Frontispiz (»Sebastian Brand [!]«), S.71–77 (»Nachricht von Sebastian Brand [!]«) und S.168– 174 (»Ueber Sebastian Brands [!] Narrenschiff«).

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Carsten Zelle

Fazit Friedrich Nicolai hat in einer Art Kündigungsschreiben sehr hellsichtig Tiecks digressive Schreibweise als Resultat einer »excentrischen Laune« zu kennzeichnen gewußt: »es macht Ihnen Vergnügen, sich Sprüngen Ihrer Einbildungskraft ohne Plan und Zusammenhang zu überlassen.«50 In der Tat war von Tieck das assoziative Verknüpfungsprinzip, das in der Erzählung Die gelehrte Gesellschaft zunächst dazu geführt hatte, das mit Pathos verlesene Gedicht Wildbergs Das Meer in die Binnenerzählungen willkürlicher Rezeptionsakte aufzulösen, in der XXXVI. Erzählung Ein Tagebuch zum formkonstituierenden Narrationsprinzip erhoben worden. Die tagebuchmotivierende »Selbstkenntniß« dient der Legitimierung eines diskontinuierlichen Stils, der die Einheit der Handlung zugunsten der Digression aufgibt und den »Bruchstücken« der Gedanken alle Freiheiten läßt. Solche selbstreflexive Weltlosigkeit, mit der das Tagebuch-Ich sich selbst eine Komödie aufführt,51 bezeichnet Nicolai als »excentrische[n] Imagination«, die anstelle von »Wahrheit und Leben [...] blos Träume« findet.52 Mit Tieck und Nicolai stehen zwei Metaphern für Einbildungskraft gegenüber: die camera obscura als Metapher einer reduplizierenden bzw. reproduzierenden Imagination und die laterna magica als Metapher einer generierenden bzw. produktiven Einbildungskraft, d.h. Phantasie. Man muß sich heute nicht für die eine oder die andere Form der Einbildungskraft entscheiden – deutlich ist, daß jede genuin eine andere Form der Narration erschafft: Erzählungen im Kontext spätaufklärerischer Erfahrungsseelenkunde einerseits und andererseits exzentrische Literatursatiren. Das Wissen der empirischen Psychologie wird hierin genommen, um damit ästhetische Effekte zu erzielen.

––––––– 50

51

52

Friedrich Nicolai an Ludwig Tieck, 19. Dez. 1797; abgedr. in: Briefe an Ludwig Tieck, hrsg. von Karl von Holtei. Bd.III. Breslau 1864, S.58–62, hier: S.59. Vgl. Tieck, XXXVI. Ein Tagebuch., in: Straußfedern. Bd. 8. Berlin, Stettin 1798, S.3-100, hier: S.7, vgl. S.10: »Höchst lächerlich ist es, daß ich alles so niederschreibe, als wenn ich für einen Leser schreibe. Mit welchem unbekannten Er redest du unbekanntes Ich?« (wiederabgedr. u.d.T.: Ein Tagebuch. 1798., in: L.T., Schriften. Bd. 15. Berlin 1829, S.291–362). Nicolai an Tieck, 19. Dez. 1797 [Anm.50], S.61.

Empirische Psychologie und ästhetischer Überschuss

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Tieck-Konkordanz: Straußfedern, Bde. 4–8 (1975–1798)/Schriften (1828ff.) Erzählungs- Straußfedern, nummer Bd., Jahr, Seiten

Schriften-Titel

andere Autoren

XI.

Bd.4, 1795, 3–14



Johann Gottwerth Müller [Wiederabdr. nicht nachweisbar].

XII.

Bd.4, 1795, 15–78

Bd. 14, 1–52: Schicksal. Erzählung. 1795.

XIII.

Bd.4, 1795, 79–100

XIV.

Bd. 14, 53–70: Die männliche Mutter. Erzählung. 1795. Bd.4, 1795, 101–136 –

XV.

Bd.4, 1795, 137–156 –

XVI.

Bd.4, 1795, 157–180 –

XVII.

Bd.4, 1795, 181–208 –

XVIII.

Bd.5, 1796, 1–52

XIX.

Bd.5, 1796, 53–70

XX.

Bd.5, 1796, 71–90

XXI.

Bd.5, 1796, 91–136

XXII.

Bd.5, 1796, 137–220 Bd.15, 121–180: Ulrich, der empfindsame. Erzählung. 1796.

XXIII.

Bd.6, 1797, 3–36

XXIV.

Bd.6, 1797, 37–58

XXV.

Bd.6, 1797, 59–80

[Sophie Tieck], Die neue Donna Diana, in: Reliquien. Bd.2, 37–74. [Sophie Tieck], Ein Abenteuer zu Paris, in: Reliquien. Bd.3, 244–269. [Sophie Tieck], Männertreue, in: Reliquien. Bd.2, 75–100. [Sophie Tieck], Das Portrait, in: Reliquien. Bd. 3, 217–243.

Bd.14, 71–108: Die Rechtsgelehrten. Erzählung. 1795. Bd.14, 125–140: Der Fremde. 1796. Bd.8, 243–258: Die Brüder. Eine Erzählung. 1795. Bd.15, 87–120: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben. Eine Erzählung. 1796.

Bd.15, 181–204: Fermer, der geniale. Erzählung. 1796. Bd.15, 205–222: Der Naturfreund. Erzählung. 1796. –

[Sophie Tieck], Die Entführung, in: Reliquien, Bd.2, 101–126.

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Carsten Zelle XXVI.

Bd.6, 1797, 81–112



XXVII. XXVIII.

Bd.6, 1797, 113–138 Bd.15, 223–244: Die gelehrte Gesellschaft. Erzählung. 1796. Bd.6, 1797, 139–160 – [Sophie Tieck], Traum und Wirklichkeit, in: Reliquien. Bd.3, 159–182.

XXIX.

Bd.6, 1797, 161–196 –

[Sophie Tieck], [Der Menschenfeind].

XXX.

Bd.6, 1797, 197–228 –

[Sophie Tieck], Freund und Geliebte, in: Reliquien. Bd.3, 183–216.

XXXI.

Bd.6, 1797, 229–235 Bd.15, 245–252: Der Psycholog. Erzählung.1796.

XXXII.

Bd.7, 1797, 3–70



XXXIII.

Bd.7, 1797, 71–118

Bd.15, 253–290: Der Roman in Briefen. Erzählung. 1797.

XXXIV.

Bd.7, 1797, 119–140 –

Die Theege- Bd.7, 1797, 141–206 sellschaft. Lustspiel in Einem Aufzuge. XXXV. Bd.7, 1797, 207–231

Bd.12, 355–420: Die Theegesellschaft. Lustspiel in einem Aufzuge. 1796.

XXXVI. Bd.8, 1798, 3–100 Ein Tagebuch.

Bd.15, 291–362: Ein Tagebuch. 1798

XXXVII. Bd.8, 101–222 Merkwürdige Lebensgeschichte Sr. Majestät Abraham Tonelli, in drey Abschnitten.

Bd. 9, 243–359: Leben des berühmten Kaisers Abraham Tonelli; eine Autobiographie in drei Abschnitten. 1798.

Bd.14, 141–160: Die Freunde. 1797.

[Sophie Tieck], Eine Reise, in: Reliquien. Bd.1, 227–260.

[Sophie Tieck]: Ein Mährchen, in: Reliquien. Bd.1, 127– 198.

[A.F. Bernhardi]: Der Fremde, in: Reliquien. Bd.1, 261–280.

MONIKA SCHMITZ-EMANS

JEAN PAULS SCHRIFTSTELLER Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen

Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung (1795) Der schon im Wutz und in der Unsichtbaren Loge auftretende Erzähler »Jean Paul« meldet sich im Hesperus zurück.1 Wie dort dient die Begegnung des Erzählers mit seinen Figuren, dem Spiel mit Authentifizierungsfiktionen;2 wie in der Unsichtbaren Loge treten mehrere Figuren des Romans als Schreibende auf, hier insbesondere der Protagonist Viktor. Wiederum ist eine jede durch ihren Schreibduktus und ihre Schreibmotive charakterisiert, und wiederum wird der Roman zum konzertanten Arrangement differenter »Autoren«-Stimmen. Die Schriften der Figuren, die in der Romanhandlung teilweise als Binnentexte integriert sind, decken ein breites Spektrum an Gattungen ab – von der Abhandlung bis zum poetischen Werk, vom privaten Schriftstück bis zum öffentlichen Text. Ein zentrales Thema in Jean Pauls unter dem Namen eines am Himmel zirkulierenden Gestirns stehenden Roman ist die Zeit. Seine Komposition ist charakterisiert durch die Verschränkung verschiedener Handlungsstränge, die aufeinander zulaufen. Die Beziehung des den Zeitverlauf notierenden und berechnenden, alle Vorfälle (notdürftig) ordnenden Erzählers »Jean Paul« zu seiner Geschichte ist ein Modell für die komplexe Beziehung des Menschen zur Temporalität, und diese wird gelegentlich explizit erörtert, etwa wenn von der Wiederholung des Vergangenen im Erinnerungsprozeß als einer reflexiven Verdopplung die Rede ist (I/1,967). Eine Verschlingung verschiedener Zeitebenen erfolgt u.a. dadurch, daß der Held Viktor innerhalb der erzählten Geschichte Jean Pauls ersten Roman, die »Unsichtbare Loge«, liest, ––––––– 1

2

Der Hesperus entstand einer Notiz in Jean Pauls Vaterblatt zufolge zwischen September 1792 und Juni 1794; die Vorarbeiten reichen jedoch weiter zurück, der Plan wohl bis in die Phase der Arbeit an der Unsichtbaren Loge (vgl. I/1,1268). Der als Fürstensohn identifizierte »Jean Paul« verspricht dem Leser seine eigene Autobiographie, um zu verhindern, daß mit der Entdeckung seines Standes sein Schriftstellerdasein endet – so auch Stefan Nienhaus: Der Erzähler als Held. Zum Verhältnis von Erzählersubjektivität und Handlung in Jean Pauls ›Hesperus‹, in: JJPG 24 (1989), S.48–74., S.71.

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Monika Schmitz-Emans

so daß der Erzähler ihn darstellt, wie er seinerseits in die Handlungszeit dieses Romans eintaucht (I/1,1026).3 Der von Stoffmassen bedrängte, in seinem Arbeitsrhythmus fremdbestimmte Biograph »Jean Paul« ist nur die eine Erscheinungsform der Erzählinstanz; die andere ist die des souveränen Verwalters imaginärer Räume, den dem Leser großzügig eröffnet werden. So verspricht er dem Leser das »ganze Paphos und Rittergut« von Maienthal, so wie »Ludwig XI. die Grafschaft Boulogne der heiligen Maria zuwarf« (I/1,1027). KLOTILDE VON LE BAUT4 – Klotilde, gebildet und empfindsam, ist eine gute Beobachterin von Menschen und Situationen, wie etwa ihr Brief an (→) Emanuel Dahore (I/1,689–692) beweist, in dem sie unter anderem von Viktor (→ Viktor Horion) als einem »aus einer britischen und einer französischen Hälfte« zusammengesetzten Charakter spricht (I/1,689). Ihrem verehrten Lehrer teilt sie offen und selbstbewußt mit, was sie bewegt, vor allem ihre Sympathien (für Viktor) und Antipathien (gegen die Hofschranzen) – und so facht gerade ihr Brief an Emanuel Viktors Liebe an, als ersterer ihm Klotildes Brief (als Zeichen äußersten Vertrauens zwischen Freunden) zu lesen gibt. Von einer Reise nach London schreibt sie einen Brief an Viktor (I/1,1177– 1179), der ebenfalls Ausdruck ihrer Geradlinigkeit und Offenheit ist. Nur das Geheimnis um die wahre Identität Viktors, Flamins und Julius’ muß sie verschweigen, aber ihr Herz verbirgt sie nicht. Vom Londoner Treiben, seinem Luxus und seiner Geschäftigkeit trotz ihrer (halb)britischen Herkunft innerlich distanziert, sehnt sie sich ins deutsche Maienthal zurück (I/1,1177). Dort wird Klotilde zur »Dichterin«, wie sie Viktor schreibt (I/1,990–992). Sie weiß um die Bedeutung der Phantasie für das dichterische Gemüt, hinter welcher die konkrete Erfahrung selbst noch zurückstehe; das wahre Maienthal, so schreibt sie an Viktor, könne seiner Phantasie »nicht so viel geben, als Sie in die drei Landschaft-Blätter desselben zu legen wissen« (I/1,991). Eine nach »Jean Pauls« Überzeugung für Frauen besonders charakteristische Sorgfalt wendet Klotilde an die äußere Gestaltung ihres Briefs; dieser ist ––––––– 3

4

Zur Konstruktion und Poetik des »Hesperus« vgl. insges.: Eckhard Schinkel: Jean Paul: Hesperus – Beiträge zur immanenten Poetik des ›konstruktiven Romans‹ in: JJPG 22 (1987), S.95–104 Zur Figur der Klotilde vgl. insges. Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt. Freiburg i.B. 1999, insbes. S.37–79. Wie Dangel-Pelloquin bemerkt, tritt Klotilde als erstes in Form eines Buchstabens in den Roman ein: als von Pfarrer Eymann gesäte Blumen-Initale »K«. »Im Anfang ist hier nicht das Wort, sondern der Buchstabe« (ebd., S.41): ein frühes Indiz für Klotildes Verbundenheit mit der Sphäre der Literalität.

Jean Pauls Schriftsteller

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»gesandten-mäßig besiegelt, geometrisch beschnitten und kalligraphisch geschrieben« und ein Beleg für die These, daß schöne Hände eine »schöne Hand« schreiben (I/1,990). EMANUEL DAHORE – In dem Inder Emanuel Dahore, Lehrer Viktors und Klotildes, einem prototypischen ›großen Menschen‹, verkörpert sich eine Weisheit, die auf der Distanz zur politischen Geschichte und zum irdischen Treiben insgesamt beruht. Als »der sanfteste und größte Mensch [...] der noch aus Ostindien (seinem Vaterlande) gekommen«, ist er durch einige »Sonderbarkeiten seiner Lebensart« ausgewiesen (I/1,546), steht dem romantischen Figurentypus des morgenländischen Heiligen nahe, aber auch dem des gelehrten Sehers. Sein eigentliches »Schreibtagwerk« besteht in der Führung von »astronomischen Tabellen« (I/1,1046). Nach langem, teilweise leidvollem Leben hat ihn sein Weg nach Maienthal geführt, wo er in einer idyllischen Landschaft als Himmelskundler vegetarisch und naturverbunden lebt, sein Denken und Empfinden weitgehend dem Jenseits als dem Geist der Geister zuwendet und seinen Tod ersehnt. Einst hat er sich um eine Stellung als Astronom und Nachtwächter beworben (I/1,546f.) – um zwei Rollen also, die metaphorisch auf das Dichtertum verweisen, insofern sie beide die Hinwendung zu einer ›anderen‹ Welt implizieren: zum Himmel als Pendant der Erde, und zur Nacht als Pendant zur Tageswelt des Verstandes. Als Charakter ist Emanuel der literarische Abglanz eines »berühmten Schriftsteller[s]«, der gerade an dem Tag im Juni 1795 starb, als der Erzähler »Emanuels Traum von der Vernichtung« (I/1,1145ff.) aufschrieb (I/1,1232). Gemeint ist (→) Karl Philipp Moritz, dessen Bruder durch Jean Paul brieflich von der Koindizenz erfuhr (I/1,12.8.1793). Emanuel korrespondiert mehrfach im Roman mit seinen Schülern. Ein aus Klotildes Stammbuch gefallenes und von Viktor gefundenes Blatt spricht von der Endlichkeit des Menschen, dessen Leben nur »dritthalb Minuten« währe, und gilt insofern dem für den Roman insgesamt zentralen Thema Zeit aus einer auch im folgenden für Emanuel charakteristischen Perspektive (I/1, 549). Charakteristisch für ihn ist seine dualistische Auffassung des Menschen und der Welt (mit der er eine zentrale Jean Paulsche Konzeption exemplarisch, aber auch in offenkundiger Zuspitzung vertritt): »weder Weltteile, noch Gräber, noch die zweite Welt können zwei Menschen zertrennen oder verbinden; sondern nur Gedanken scheiden und gatten die Seelen« (I/1,549). Ein solcher Glaube an die Überwindbarkeit räumlich-zeitlicher und materiell bedingter Distanzen durch den »Gedanken« korrespondiert den Bestrebungen (→) »Jean Pauls« (siehe auch Jean Paul), mit einer physisch abwesenden

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Monika Schmitz-Emans

Leserschaft zu kommunizieren. An Viktor, dessen Weg im Roman er erst spät kreuzt, und der zunächst nicht um die Identität seines eigenen früheren Lehrers Dahore mit Klotildes Lehrer Emanuel weiß, schreibt Emanuel einen empfindsamen Brief (I/1,602–606), der den Blick des Lesers ebenfalls vom Irdischen fort ins Grenzenlose wendet; Seelen und Schatten sind es, die in Emanuels Imaginationen miteinander kommunizieren, und seine pantheistisch gefärbten Visionen gelten einer zweiten Welt, einem »Elysium«, einem »Gott«, deren Ort das Ich selbst ist (I/1,605).5 In kosmischen Bildern und Vergleichen lehrt Emanuel die mitleidige Liebe zum Menschen und eine von wahrer Größe zeugende Achtung des Irdischen und Endlichen, welche dessen Verachtung noch hinter sich läßt (ebd.). Tröstend und liebevoll, dabei von stoizistischer Indifferenz gegenüber äußeren Ereignissen, verfaßt Emanuel testamentarisch wirkende Briefe. So mahnt er Viktor bei dessen »Eintritt in ein neues Lebens-Gewühl« zu Tugend, Standhaftigkeit und Duldung und bittet ihn um Beistand für die trauernde Klotilde (I/1,788–790). In einem anderen Brief an Viktor (I/1,885–892) schildert aus der Perspektive dessen, der keinen weiteren Sommertag mehr erleben wird, einen mit dem blinden Jüngling Julius unternommenen Spaziergang, der zum Anlaß imaginierender Ausblicke in die Unendlichkeit eines göttlichen Alls wurde.6 Der Text besteht zu weiten Teilen aus der Wiedergabe von an Julius gerichteten Worten Emanuels, also aus Selbstzitaten – wie denn Emanuels Briefe insgesamt durch ihre Struktur den Zustand der Zeitlosigkeit antizipieren, die sie beschwören: Sie evozieren Momente erfüllter Gegenwart oder beklagen eine ungreifbar gewordene Vergangenheit, erzählen aber keine Geschichten. An Klotilde ist ein Brief adressiert, in dem Emanuel seinen »letzten Schlummer« ankündigt, sie nach Maienthal ruft und davon spricht, wie gerade im Angesicht des Todes die Bindungen zwischen Menschen sich verfestigen (I/1,1116f.). Ein ––––––– 5

6

Emanuels Visionen einer Vereinigung der Menschen mit einer göttlichen Natur sind der Verzweiflung abgewonnen, vor allem der bitteren Erfahrung von Endlichkeit und Sterblichkeit; der Erzähler charakterisiert eine Passage des Briefs an Viktor als einen »Monolog [...] aus einer frühern schwarzen Stunde, die jedes Herz von Empfindung einmal ergreift« (I/1,604). Nienhaus [Anm.2], S.60f., deutet Emanuels Kommunikation mit Julius als ein Modell poetischer Kommunikation des Autors mit dem Leser. Dieser sieht nicht, was der Dichter ›sieht‹, doch durch das Dichterwort bekommt er (auf dem Weg über die Erinnerung an Sinnesreize, die gerade als erinnerte ihre mediale Funktion erfüllen) entsprechende Empfindungen vermittelt. Emanuel ist Nienhaus zufolge ein Dichter, auch wenn er spricht und nicht schreibt. Für die Deutung des Julius als Repräsentant des Lesers ist es wichtig, daß Julius nicht von Geburt an blind war, sondern sich Sichtbares prinzipiell vorstellen kann. Er wäre der Erinnerung an das von Emanuel Beschriebene ja sonst unfähig (vgl. Nienhaus [Anm.2], S.61f.).

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paralleler Brief Emanuels beruft Viktor nach Maiental, das »Edental«, den »Gartensaal der Natur mit grünenden Wänden zwischen lauter Gängen [...], die aus dem Himmel in den Himmel laufen [...]« (I/1,1021); hier will und wird Emanuel in der Nähe seiner Freunde sterben. MARIANNE EHRMANN, GEB. BRENTANO (I/1,1755–96) – Die Schriftstellerin, dem zeitgenössischen Publikum als Autorin moralischer Romane und Erzählungen bekannt, heiratet 1789 den Straßburger Privatgelehrten Ehrmann, nachdem dieser eine positive Rezension über sie verfaßt hat (vgl. I/1,1304). Für Jean Paul Fr. Richter ist dies in seiner »Vierten Vorrede« ein Anlaß zu dem Einfall, der »Redakteur eines Journals« könne ein ähnliches Arrangement ermöglichen: Dieser müsse nur eine Rezensentin mit der Abfassung einer günstigen Rezension zur Neuauflage des Hesperus betrauen, worauf hin er, der Autor, diese »sogleich nach Empfang der Rezension« aufsuchen und »mit den gewöhnlichen Zeremonien [...] heiraten« werde – vorausgesetzt, sie sei »im besten blühenden Alter« (I/1,1098). PFARRERIN EYMANN – Als sie von Viktor, der seinen Dienst als Hofmedikus angetreten hat, eine ganze Weile nichts hört, schickt ihm die Pfarrerin Eymann (die eigentlich seine leibliche Mutter ist), einen Brief, der als Indiz dafür gelesen werden mag, von wem er sein humoristisches Talent geerbt hat. Den Leuten, so die Pfarrerin, die meinten, Viktor sei am Ende gar gestorben, halte sie ihre Überzeugung entgegen, jemand der zu beschäftigt sei, um seinen Freunden zu schreiben, müsse »eben deswegen noch am Leben sein« (I/1,763). Ihre nachdrückliche Einladung zu einem Besuch (I/1, als dessen Anlaß Klotildes naher Geburtstag vorgeschlagen wird) verbindet sich mit selbstironischer Reflexion; lachend oder schmollend, so die Pfarrerin, werde sie bei Viktors Auftauchen vor Freude weinen (I/1,762). Viktor verfaßt einen Antwortbrief und entschließt sich, diesen selbst zu überbringen (I/1,767). PFARRER EYMANN – Pfarrer Eymann (tatsächlich Viktors Vater) ist als Prediger ein Mann des Wortes – von dem seine praktischdenkende Frau sich eine längere Predigt wünscht, damit bis zum Gottesdienstende der Braten gar wird (I/1,769). Anders als »Quintilian, der schlechte Gründe in Reden vorangestel-let haben will, und [...] Cicero, der sie erst hintennach verlangt«, anders auch als viele Prediger, die eingangs und abschließend schlechte Begründungen vortragen, hält Eymann »gute Empfindungen für besser als schlechte Gründe« und windet »um den Bauern nicht Schluß-, sondern Blumenketten« (I/1,769). Sind seine an das Gefühl der Zuhörer appellierenden

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Predigten nur im metaphorischen Sinn blumenreich, so nimmt seine Vorliebe fürs Florale anläßlich einer ihn charakterisierenden Freizeitbeschäftigung konkretere Formen an: Eymann schreibt mit Nutzpflanzen und Blumen Namensinitialen und macht andere Gewächse seines Gartens zu Trägern von Schriftzügen. In seinem Garten hat er viele Beete nicht zu Langvierecken abgestampft, sondern sie zu lateinischen Buchstaben in Doppelfraktur, als Anfangbuchstaben seiner Familie, geschweift und umgebogen. Sein eignes E hatt’ er mit Rettich ausgesäet, Apolloniens A mit Kapuzinersalat, Flamins F mit Kohlrabi, Sebastians S mit Süßholz oder Glycyrrhiza vulgaris. Wer nicht zu säen war, dem blieb allezeit noch ein Platz und almanac royal auf Kürbissen und Stettineräpfeln leer, die ein durchbrochenes Papier mit dem ausgeschnittenen Namen umflocht, der nach Abschälung dieses Einbands grün und rot auf der bleichen Frucht erschien (I/1,528).

Auf Klotilde verweist ein K aus Tulpen; die leuchtend rote Farbe ist als besondere Würdigung gemeint (vgl. I/1,532). Eymanns Garten ist also ein Buch der Natur, wie es Jean Paul selbst auch an anderer Stelle imaginiert, allerdings ein künstliches, ein Text von menschlicher Hand. Daß die auf Kürbissen und Stettineräpfeln erscheinenden Schriftzüge Kopien sind, die sich ihrer Unterlage durch eine Art Lichtkopierverfahren eingeschrieben haben, macht Eymanns Garten zudem zu einem raffinierten medialen Arrangement. DOKTOR FENK (→ Knef) – Den Doktor Fenk kennt der Leser bereits aus der »Unsichtbaren Loge«, wo er zum Freundeskreis des Erzählers gehört. Wie diese Biographen-Figur (→) »Jean Paul«, so trägt auch Fenk zur Herstellung eines »Jean-Paul-Kontinuums« bei.7 Der Name ist ein Palindrom zum Namen »Knef« (Knef ist der »umgekehrte Fenk«; I/1,1225); sein Träger ist Dialogpartner »Jean Pauls« und des Lesers. Wie wir erfahren, hat er, unterwegs »auf seinen Diebs-Heckjagden« die Unsichtbare Loge gelesen (I/1,655), in der er selbst mitspielt. Als Schriftsteller tritt Fenk später auf. In Doktor Katzenbergers Badereise integriert findet sich als satirische Beilage »Dr. Fenks Leichenrede auf den höchstseligen Magen des Fürsten von Scheerau« (I/6,153–159), ein Text, den Fenk während der Handlungszeit der »Unsichtbaren Loge« verfaßt hat (I/6,153).8

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Vgl. dazu Nienhaus [Anm.2], S.57. Vgl. dazu Ursula Naumann: Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und Predigertum für das Werk Jean Pauls. Nürnberg 1976, S.36.

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LORD HORION – Der an Gaspard de Zesara im »Titan« erinnernde kalte Lord Horion, Viktors vermeintlicher Vater und Drahtzieher der politischen Intrige um die verheimlichten Identitäten verschiedener Romanfiguren, ist eine Gegenfigur zu dem vergeistigten und weltabgewandten Emanuel.9 So verfaßt der Lord enigmatisch klingende Kurzbriefe, in denen knappe Ge- und Verbote stehen, kühl und ohne jeden waren Adressatenbezug (I/1, I/1,882). Und er übergibt Klotilde einen Brief, den sie Viktor mitteilt und der die Menschenund Weltverachtung des Lords prägnant zum Ausdruck bringt.10 Für diesen ist das Leben »ein kleines leeres Spiel«, der Mensch ist ein »nichtiges Ding«, für das »nichtige Dinge gut genug sind«, ein Schläfer, der sich mit Träumen bescheiden muß (I/1,1179). Nichts ist in den Augen Horions groß – nicht die Völker, nicht die Zeit, nicht die Unermeßlichkeit, nicht das Genie – alles zerfällt ihm in »Punkte«, alles wird mit der Gewöhnung trivial und schal. Der Dichter ist für ihn nur jemand, der sich in andere hineinversetzt, wie es ein jeder kann (I/1,1180). Begeisterung ist ihm verhaßt; Größe reduziert sich für ihn zu bloßer Prahlerei, weil er zwischen großen Taten und anderen Handlungen als insgesamt rein körperlichen Bewegungen keinen Unterschied sieht. Aller Glaube an Wahrheiten ist Selbsttäuschung, jeder Blick relativiert und verkleinert das Betrachtete; vor dem »sogenannten göttlichen Auge« (an das der Lord nicht zu glauben scheint) ist alles nichtig. Die abschließende Erinnerung des Lords gilt einem in seiner Jugend verfaßtes Trauerspiel, dessen Held Sprachrohr jener zuvor mitgeteilten Überzeugungen war, der sich in Allmachtsphantasien über das Jonglieren mit Menschenhäuptern erging und sich zuletzt selbst erdolchte – in der wahnwitzigen Hoffnung, wenigstens der Tod sei erhaben (ebd.). Horion identifiziert sich offenbar immer noch mit dieser selbstgeschaffenen literarischen Selbstmörderfigur, deren Charakter und Geschichte die des Roquairol im Titan vorwegnimmt.11 VIKTOR (SEBASTIAN) HORION (eigentlich: Eymann) – Viktor (manchmal auch bei seinem zweiten Vornamen Sebastian oder auch bei seinem falschen Fami-

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Vgl. Nienhaus [Anm.2], S.61, der bezogen auf den Kurzbrief bemerkt, daß der Stil des Lords »deutlich zu dem Emanuels in vergleichende Opposition gesetzt wird.« Nienhaus [Anm.2], S.65f., kommentiert die wechselnden Beleuchtungen, in denen der Lord erscheint: als eine Person voller »Geheimnisse« (I/1,520) und voll Trauer (I/1,513f.), aber auch als Drahtzieher der Prinzenentführung und als jemand, der mit »Unwahrheit« Politik macht (I/1,661), als »armer Lord« (I/1,671), als »indeklinabler Mensch« (I/1,670). Dort stirbt Roquairol ja von eigener Hand, indem er die Rolle einer Figur in einem eigenen Stück spielt.

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liennamen Horion genannt12), Held des Romans, angeblicher Sohn des Lords Horion, erweist sich zuletzt als der Sohn des Kaplans Eymann. Als Leser der Unsichtbare Loge (I/1,655) und des Wutz (I/1,1031) gehört er einerseits der Leserschaft Jean Pauls an, ist andererseits aber auch ein alter ego des Erzählers »Jean Paul« (I/1,1218). Obwohl Viktor studierter Mediziner ist, hat Jean Paul mit ihm einen Schriftsteller zum Protagonisten gemacht – und zwar einen, der zwischen sentimentalen, satirischen und humoristischen Schreibarten ebenso wechselt wie zwischen seinen Themen. Die »Sieste seines Herzens« verdankt Viktor den »Wissenschaften – besonders der Dichtkunst und der Philosophie, die beide sich wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit) bewegen und sich nur in der Figur ihres Umlaufs unterscheiden, da Kometen und Dichter bloß die größere Ellipse haben« (I/1,588) – wobei Viktor offenbar in der Lage ist, die Umlaufbahn zu wechseln. Den Wissenschaften ergeben, die »ihr eigener Lohn« sind, kennt er keine Langeweile; in seinen Sabbatwochen ist er »ein jubelndes Ding, das auf den wissenschaftlichen Feldern wie unter seligen Inseln« umhergleitet (ebd.). Die Studierstube wird im zur »Brautkammer des Geistes«, zum »Konzertsaal der schönsten aus allen Zeiten und Plätzen versammelten Stimmen«; der Reichtum an »ästhetischen und philosophischen Lustbarkeiten« läßt Viktor vom Lesen und Schreiben, vom Schreiben ins Lesen geraten, changierend zwischen Nachdenken und Empfindung (ebd.). Wie ein Selbstporträt Jean Pauls klingt die Mitteilung, daß Viktor »nie schrieb, ohne sich über dieselbe Sache voll gelesen zu haben« und »nie las, ohne sich zuvor darüber hungrig gedacht zu haben« (I/1,589). Die Dichtkunst erhebt ihn, aber auch die »anatomischen Tabellen« vermag er als den »perspektivische[n] Aufriß einer göttlichen Bauart« zu betrachten (I/1,589). In Viktor personifiziert sich insofern das Bündnis zwischen Poesie und Wissenschaft. Viktor besitzt, wie er selbst sagt, drei Seelen: eine humoristische, eine empfindsame und eine philosophische (I/1, I/1,590), und seine im Roman vorgestellten Schriften – die einen erheblichen Teil des Romantextes selbst ausmachen – spiegeln diese Auffächerung. Empfindsame Register zieht Viktor vor allem in seinen Briefen. An Emanuel, von dessen Identität mit seinem Lehrer Dahore er zunächst nichts weiß, schreibt er, um den ihm aus Erzählungen anderer bekannten Inder eindringlich um seine Freundschaft zu bitten, und er verwendet in seiner Beschreibung der conditio humana dualistische ––––––– 12

Der Erzähler nennt ihn «bald so, bald so, wie es grade mein prosaisches Silbenmaß begehrt« (I/1,493). – Zeitweilig ist Viktor eine Christus-ähnliche Figur, in jedem Fall aber ein Namensvetter des Märtyrers Sebastian. Vgl. dazu Naumann [Anm.8], S.85.

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Bilder, wie sie auch Emanuel selbst schätzt. In der Freundschaft zu einem großen Menschen sucht er Trost angesichts seines gelegentlich aufbrechenden Weltekels, seiner Enttäuschungen und seines Bewußtseins von der Vergänglichkeit aller Dinge (I/1,581f.). In einem langen Brief an Emanuel (I/1,783–787) entfalten sich Bilder der Trennung und der Sehnsucht; beklagt wird die Isolation der Einzelseele im Körpergehäuse und in einengenden Lebensverhältnissen; ausgemalt werden Szenen der freundschaftlich-liebenden Annäherung, aber auch der Sorge, selbst einsam bleiben zu müssen. Der von vielen Anreden und Anrufungen des Adressaten geprägte Brief – der kaum eine konkrete Mitteilung enthält, sondern stattdessen das Doppelthema Einsamkeit und Sehnsucht in verschiedenen Variationen entfaltet – charakterisiert sich selbst als ein Medium der unverstellten Selbstpreisgabe (I/1,784); das Schriftstück erscheint hier nicht als Surrogat des liebenden Austauschs zwischen gleichgestimmten Seelen, sondern als dessen authentische Form. Einen ähnlichen Ton schlägt Viktor an, wenn er an Klotilde schreibt. Einen zu ihrem Geburtstag verfaßten Brief fügt er als Einlage einem Schreiben an Emanuel bei (»die Freundschaft ist immer das Umschlagtuch der Liebe«, so kommentiert der Erzähler; I/1,981), in dem er sich einmal mehr Rechenschaft über sich selbst und die eigene Haltung angesichts der Gebrechlichkeit der Welt und der Beschränktheit menschlichen Wissens zu geben versucht (I/1,982f.). Der lange Brief an Klotilde selbst enthält die Schilderung eines Traums, in dem er mit der Geliebten und Emanuel panoramatische Blicke über die Weltlandschaft hinweg getan hat;13 das Schreiben endet mit einer Liebeserklärung (I/1,986). Insgesamt bespiegelt sich in den Briefen, die Viktor, Klotilde und Emanuel austauschen, die emphatische Hochschätzung dieses Kommunikationsmediums. Der Brief gerät vor allem als ein Medium der Kommunikation zwischen Abwesenden in den Blick (und er ist darum auch dem literarischen Text analog). Durch Briefe kann man über den Tod hinaus zu seinen Freunden sprechen. Daß ein Briefsteller, der sich solchen Gedanken hingibt, schreibend implizit seinen eigenen Tod antizipiert, ist die melancholische Kehrseite dieser poetischen Mediologie des Briefs. Einmal verfaßt Viktor ein »Trauerblatt« für Klotilde, in dem er seinen künftigen Schmerz antizipiert, von seinem bevorstehenden Tod spricht und gleichsam über die Grabesgrenze hinaus – als imaginierter Toter aus einem imaginierten Totenreich – zu ihr ––––––– 13

Der Erzähler selbst schildert an anderer Stelle einen entsprechenden Traum Viktors (I/1,765f.); er adressiert ihn ausdrücklich an die ›poetischen Leser‹ und plant für die anderen eine Ausgabe der Hundposttage, in der dieser gestrichen wäre (I/1,765).

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spricht (I/1,1186), denn der Brief ist nicht dazu gedacht, zu seinen Lebzeiten von ihr gelesen zu werden.14 Der Erzähler kommentiert Viktors Brief als den Klang jener Stimme, die die Musik in Viktor als ihr Echo wachzurufen pflegte (ebd.) – und nimmt die Gelegenheit zu einem memento mori, adressiert an sich selbst und den Leser, wahr (I/1,1187). Der Humorist Viktor verfaßt einen Brief an seinen vermeintlichen »Adoptiv-Vater« Kaplan Eymann (der in Wirklichkeit sein leiblicher Vater ist), um die Eindrücke zu schildern, die die höfische Welt um den Fürsten Jenner in ihm hinterlassen hat, jene »leere[n] Kreise voll Schwindel im Hof-Zirkel des Thrones« (I/1,739f.), deren Hohlheit dann besonders empfunden wird, wenn man die idyllischen und erhabenen »Nachtstücke von Maienthal und St. Lüne« als Kontrastfolie kennt. Um seine »Gallenblase« auf dem Papier zu erleichtern, verfaßt Viktor »einen verdammt spöttischen Brief« über seine Erlebnisse, begonnen mit der Feststellung, einem Hofe fehle es »zur Tugend schon – an Zeit« (I/1,740). Die folgenden Beobachtungen Viktors (der den Fürsten als dessen medizinischer Betreuer »wie ein Riechfläschchen« überall hinbegleiten mußte) gelten der höfischen Konversationskultur, der rhetorisch überspielten Inhaltslosigkeit von Gesprächen, der Klatsch- und Vergnügungssucht, der Heuchelei – Themen also, mit denen Viktor die satirischen Einfälle der frühen Jean Paulschen Satiren über Hofleute und die sogenannte große Welt fortsetzt. Seine naturwissenschaftliche Ausbildung läßt ihn die Weiber am Hof als »Anhänger des Linnäus« entlarven, welche »die Männer botanisch nach seinem schönen einfachen Sexualsystem« klassifizieren und zwischen tugendhafter und lasterhafter Liebe nur graduelle Unterschiede kennen (I/1,741). Am Hof, wo sich jeder verstelle und alle darum wüßten, könne es deshalb allenfalls Überlistung, keine Lüge geben, so Viktors sarkastischer Befund. Wo alles in die äußere Selbstdarstellung investiert wird, bleibt für die Kultivierung des inneren Menschen nichts übrig; Viktor vergleicht die aufgeputzten Hofschranzen mit jenen toten Hasen im Wald, an denen kein Fleisch und kein Fett mehr ist, »weil alles von dem ungeheuern Haarpelz weggesogen war, der nach dem Tode fortgewachsen« (I/1,742). – Schmerzlich berührt vom scharfen Ton der eigenen Satire, gesteht er jedoch mit plötzlichem Wechsel des Tons, wie wohl er sich in Eymanns Stube und Garten fühle – unter Freunden, wo jeder er selbst sein dürfe. ––––––– 14

Viktor hat sich entschlossen, freiwillig aus dem Leben zu gehen, da ihm ein Gelübde verbietet, die ihm mittlerweile bekannten wahren Familienverhältnisse am Fürstenhof zu offenbaren und damit seinen Freund Flamin vor der Hinrichtung als Verschwörer zu retten; nur unmittelbar vor seinem Tod soll Viktor sprechen dürfen.

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Viktors satirisches Talent meldet sich auch anläßlich einer mit dem Fürsten Jenner gemeinsam unternommenen Reise durch dessen Fürstentum. Jenner ist inkognito unterwegs, um sich von Mißständen im öffentlichen Rechtsund Verwaltungswesen ein klareres Bild zu verschaffen, und tatsächlich beobachten die beiden Reisenden manchen Mißbrauch amtlicher Gewalt und manche Ungerechtigkeit. Als der Fürst »in angenehmen Nächten« Hirsche und Sauen »in schönen Gruppen in den Feldern weiden sieht« (I/1,751), scheint sein standesstypische Neigung zur Jagd ihm zunächst den Blick dafür zu verstellen, was er da wirklich sieht – nämlich die Zerstörung der von Bauern zu ihrem eigenen Lebensunterhalt bestellten Felder durch Tiere, die nur der adligen Jagdlust dienen. Viktor läßt sich in einer Schenke Schreibzeg bringen und setzt eine satirische Bittschrift im Namen der »edlen Jägerschaft« auf, welche dem Fürsten die Augen öffnen soll. Die (gedachte) Jägerschaft spricht hier selbst im Namen des lese- und schreibunkundigen Viehs und ersucht den Fürsten darum, den Bauern den zur Vertreibung der schädlichen Tiere nächtlich veranstalteten Lärm zu verbieten. Dann würden, so das Argument, die Bauern besser schlafen, die Tiere selbst aber satter und weniger mager sein; Hirsche und Sauen könnten nachts ungestört die »Vorlese« auf den Feldern halten und die Bauern tagsüber dann die »Nachlese« – wenn denn zur Nachlese überhaupt noch etwas übrig bleibe, das den Bauern Arbeit mache (I/1,752f.). Viktors Beobachtungen des Mißbrauchs, den die geistliche Obrigkeit mit der Erhebung von Gebühren aus den verschiedensten und sei es noch so geringfügigen Anlässen treibt, lassen ihn in die Rolle eines »Konsitorialsportulboten« schlüpfen, penibel die noch rückständigen Einnahmen des Konsitorialsekretärs kassieren und diese dann vor dem Fürsten unter Erläuterung des (meist abwegigen) Anlasses ihrer Erhebung ausbreiten. Dazu hält Viktor eine Rede, in der er die absurde und nur der Selbstbereicherung dienende Gebührenpolitik der lutherischen Geistlichkeit mit dem katholischen Ablaßwesen vergleicht, beide Praktiken satirisch rechtfertigt (I/1,754) – und schließlich vorschlägt, geistliche und weltliche Obrigkeit möchten sich die Ausbeutung des Volkes untereinander aufteilen – gleich jenen »Staren und Raben«, die »in bunter Reihe einträchtig« auf toten Pferden zu hocken und diese aufzufressen pflegen (I/1,755). Über seinen Korrespondenten Fenk erfährt der Biograph »Jean Paul«, der satirische Hofmedikus Viktor habe beim Fürsten durch solche Reden mehr ausgerichtet »als der Hofprediger durch seine«; mancher Untertan sei zu seinem Geld, mancher Richter zu einem »allerungnädigsten Handschreiben« gekommen (I/1,755).

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Ein »Flüchtiges Extrablättchen, worin der närrische Charakter der Flachsenfinger skizziert wird – oder perspektivischer Aufriß der Stadt Klein-Wien« (I/1,759–761) gilt den Flachsenfingern als den exemplarischen Vertretern einer philiströsen Bürgerwelt. Diese beherzigen Viktor zufolge den Platonischen Rat, sich nur einmal betrunken im Spiegel zu beschauen, um von der dort sichtbar werdenden »zerrissene[n] Gestalt« dauerhaft abgeschreckt zu werden, in dem Sinn, daß sie sich gern in ihren Bier- und Weingläsern bespiegeln (I/1,759f.). Viktors Satire über die Philister gilt vor allem deren Abneigung gegenüber Dichtkunst, Schwärmerei und Empfindsamkeit (I/1,760), ihrer Verachtung der »Poeten«, ihrer Gewohnheit, »in Büchern, wo Versebäche durch die Prose laufe, über die Bäche hinweg« zu springen, gleich jenen Leuten, die »spät in die Kirche gehen, um dem Singen zu entweichen« (ebd.). »Knüttelvers und Leberreim« werden in diesem »KleinWien« höher geschätzt als Goethe und Klopstock (I/1,761). In seiner »Elende[n] Extra-Silbe über die Kirchen-Musik« (I/1,771f.) spottet Viktor über die von Organisten und Kantoren erzeugten Mißtöne, die er satirisch mit dem Argument rechtfertigt, sie seien aus physikalisch-akustischer Perspektive komplexer und insofern anspruchsvoller als alle Wohlklänge. Dissonanzen seien »nach Euler und Sulzer Ton-Verhältnisse, die in großen Zahlen ausgedrückt werden«, und wenn man sie ungern höre, so nur als Folge des »Unvermögens, sie in der Eile in Gleichung zu bringen«. Höhere Wesen hingegen, zu deren Ehre Gottesdienste ja gehalten würden, seien zu komplexen Hörerlebnissen aber sehr wohl befähigt, weshalb mißtönende Musik in Kirchen gerade zu empfehlen sei (I/1,772). Das »Sing-Geblök« der Kirchenbesucher wird mit dem einer Herde Schweine verglichen, »die der Abt de Baigne auf Befehl Ludwigs XI., nach der Tonleiter geordnet, mit Tangenten stach und zum Schreien brachte« (ebd.). Ein Höhepunkt des Romans, der thematisch an Ottomars Rede über den imaginierten eigenen Tod und an die Rede des toten Christus erinnert, ist Viktors am zweiten Ostertag im punschtrinkenden Freundeskreis gehaltene Leichenrede auf sich selbst (I/1,936–941), ein Dokument seiner philosophischen Seele.15 Die Rede beginnt humoristisch mit einer Präsentation der Schlafmütze des Pfarrers als Leichnam des Sebastian Viktor von Horion, mit der parodistischen Imitation konventioneller Leichenreden, mit rhetorischen Etüden über den Dualismus zwischen Seele und dem »Hut-Futteral«, der ––––––– 15

Zu Viktors Leichenrede auf sich selber vgl. Naumann [Anm.8], S.21, sowie ferner Naumanns Hinweise auf weitere Leichenpredigten bei Jean Paul: »wie die großen Predigt-Satiren sind auch die ausgeführten Reden im ›genus consolatorium‹ (von den politischen Predigten abgesehen) Leichenpredigten« (ebd., S.45).

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»Kapsel«, dem »Madensack« des Körpers (I/1,937). Viktor rückt predigend gleichsam auf Distanz zum eigenen Ich, spricht über sich selbst als einen Toten, blickt – in Antizipation der Zeit, da er gestorben sein wird – »durch das Stundenglas des Todes« wie durch ein »Taschenperspektiv« (I/1,938). Der so erzeugte Effekt einer Verkleinerung alles Irdischen erscheint zunächst spaßhaft (ebd.). Doch Perspektivverschiebung und reflexive Selbstentzweiung bewirken bald eine Modifikation der Stimmungslage; Viktors imaginierender Blick wendet sich ins Totenreich, ins »Souterrain der Erde« mit seinen »stille[n] ruhende[n] Menschen«, nach denen sich die noch Lebenden sehnen (ebd.). Schließlich entdeckt Viktor, daß nicht die weiße Mütze, sondern sein Spiegelbild seine eigentliche »Leiche« ist. Ein schleierumwundenes wächsernes Abbild seiner selbst (das im Roman schon mehrfach aufgetaucht ist) ermöglicht ihm im folgenden die Begegnung mit sich selbst als einem ›Toten‹. Die düstere Spiegelszene erinnert an andere Doppelgänger- und Selbstbespiegelungsszenarien bei Jean Paul, bei denen die Dopplung der eigenen Erscheinung zum Anlaß der reflexiven Distanzierung vom eigenen lebendigen Körper wird – und insofern zur Antizipation des Todes. An diese knüpfen sich empfindsame, die einstige Trennung antizipierende Anreden der Freunde, aber auch ein aus der Distanz heraus hellsichtiges Selbstporträt des »gute[n] Bastian«, der »seiner originellen Lage und Laune wegen [...] schon gut genug [hätte] fahren können«, aber »zu weich zur Freude – zu unbesonnen – zu heiß – fast zu phantastisch« war (I/1,939). Viktors Leichenrede auf sich selbst – die mit der Mitteilung endet, sie sei nur Täuschung gewesen – kann in verschiedener Hinsicht als ein verkleinertes Spiegelbild des Romans und als Modell Jean Paulscher Text gelesen werden: Sie beruht auf einem Rollenspiel, bei dem sich der Sprechende selbst verdoppelt; sie gibt sich als Anrede an einen Kreis gleichgestimmter Freunde und simuliert zugleich eine Kommunikation mit und in der Zukunft. Viktor spricht über die zentralen Jean Paul-Themen Leib und Seele, Tod und Unsterblichkeit, und sein Durchlaufen differenter Stimmungsregister ist typisch für den Hesperus insgesamt. Die Form der politischen Rede erprobt Viktor anläßlich einer Ansprache im »Republikanischen Klub« der den Geist Englands repräsentierenden Drillinge und anderer ›britisch‹ gesinnter Geister, zu denen auch die Pfarrerin, seine Mutter, gehört (I/1,1015–1019). Viktor soll mit dieser Rede »seine republikanische Orthodoxie außer Zweifel [...] setzen und sich als »AltBrite« erweisen (I/1,1015). Tatsächlich gelingt es ihm, die »wilden Köpfe« der republikanischen Freunde, »seiner sokratischen Haltung und Mäßigung ungeachtet«, als Freunde zu gewinnen (I/1,1019). Begabt zur Imitation fremder Stile, wählt er den Sentenzen-Stil eines der »Engländer« für seinen Dis-

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kurs über die wechselseitige Bedingtheit von Freiheit und Patriotismus, über den Unterschied zwischen wahrer Freiheit und bloßer Ungebundenheit und über die »Vaterlandliebe«, die in seinen Augen »nichts als eine eingeschränkte Weltbürgerliebe« ist (I/1,1017). Mit den republikanischen Freunden – deren Entgegnungen in Dialogform eingefügt werden – weiß er sich einig in der Überzeugung, daß Freiheit und Aufklärung einander ebenso gegenseitig erzeugen wie Unglaube und Despotie; nur der ebenfalls mitdiskutierende Höfling Mathieu treibt mit dem politischen Diskurs seinen Spott (I/1,1019). Dem von Jean Paul seit seinem Jugendwerk immer wieder aufgegriffenen Thema des commercium mentis et corporis widmet Viktor eine eigene Abhandlung. In den neunten Schalttag integriert ist sein »Aufsatz über das Verhältnis des Ich zu den Organen« (I/1,1099–1105), und der Erzähler leitet die Mitteilung dieses Aufsatzes mit einer Charakteristik des für Viktor typischen, den Systematisch-Rigiden abgeneigten Denkstils ein (I/1,1099). Nicht mikroskopisch-seziererisch, sondern panoramatisch ist der Blick des Helden, der sich vor der Beschäftigung mit einem Thema von der Natur und von Dichtern inspirieren läßt. Viktor zufolge sind Gehirn und Nerven »der wahre Leib unsers Ichs« (I/1,1100). In Anlehnung an zeitgenössische sensualistische Theorien erörtert er den Prozeß der Aufnahme und der Vermittlung von Sinnesreizen sowie die Bindung aller Geistestätigkeit an aufgenommene und verarbeitete Reize. Die »Gütergemeinschaft zwischen Leib und Seele« ist unauflöslich (I/1,1104). Auch moralische Regungen und Kräfte haben eine physiologische Dimension (ebd.). Selbst im Traum sei die Seele über den »Nervenkörper« noch an die leiblich-sinnliche Hülle gebunden (I/1,1105). Viktors »erste und letzte« Fabel (I/1,1174) gilt dem Selbstbetrug dessen, der sich in blindem Bierernst jede Narrheit versagt, sich selbst gegenüber mit Freuden geizt, das Recht auf Freude und aufs Närrischsein verschenkt. Sie handelt von einem »dummen Hamster«, der gleich mehrere Tauben fängt, um deren gefüllte Kröpfe als »Kornmagazine« – also als Quell künftiger Freuden – aufzubewahren. Als er die Taubenkröpfe dann aber nach langem Ansparen aufschlitzt, haben die »Inhaftaten« alle Körner selbst verdaut, und der Hamster als dummer Geizhals hat das Nachsehen (ebd.). »JEAN PAUL« ALS BIOGRAPH – Wie schon in der Unsichtbaren Loge trägt der Biograph der Romanfiguren den Namen »Jean Paul«, und er stellt sich früh im Roman – gleich nach dem Ende des 1. »Hundposttags« – als mit dem Erzähler des Vorgängerromans identisch vor.16 Der Anlaß ist dramatisch und ––––––– 16

Zu »Jean Pauls« Apostrophen an den Leser und seinen auf das Erzählen in der Gegenwart verweisenden Temporaladverbien »jetzo« und »nun« vgl. Nienhaus

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wird als ein Theatercoup beschrieben, bei dem zwölf Kanonen die soeben begonnene Geschichte selbst ›erschießen‹ (I/1,505). Denn mitten im Bericht über den Besuch des Helden Viktor bei der Kaplansfamilie Eymann geht dem Erzähler der Stoff aus; er muß gestehen, nicht weiterzuwissen, weder Figuren noch Schauplatz zu kennen, sie aber auch nicht erträumt oder ausgedacht zu haben (ebd.) – und er nutzt die Krisensituation, um sich vorzustellen.17 Er schreibt im Jahr 1793 (I/1,585), als es noch keinen Überblick über das darzustellende Geschehen gibt, weil es noch nicht abgeschlossen ist. Zudem ist der Erzähler nicht einmal Augenzeuge des Berichteten. Sein Wohnsitz ist die (auf den ersten Vornamen J.P.Fr. Richters, aber auch auf Biblisches hindeutende) Insel »St. Johannis« in den zum Fürstentum Scheerau gehörigen »ostindischen Gewässern«.18 »Jean Paul« trägt, etwas prätentiös, den Titel eines »Berghauptmanns«,19 um den er ersucht hat, weil er hofft, dadurch besser zur Beschäftigung mit dem ihm bislang fremden Bergwesen motiviert zu werden (I/1,507). Von einem Spitzhund mit einer Kürbisflasche am Halsband bekommt der Erzähler das Material zu seiner Geschichte portionenweise auf die Insel St. Johannes geliefert. Adressiert an den »Herrn Berg-Hauptmann Jean Paul«, erhält der Erzähler zunächst einen ersten Brief, als dessen Verfasser ein gewisser Knef (s. dort) zeichnet, der auf eine dem Erzähler selbst noch unverständliche Weise auf dessen hohen sozialen Status anspielt und ihn bittet, er möge sich als »Lebensbeschreiber einer ungenannten Familiengeschichte« zur Verfügung stellen (I/1,508) – das Material werde der Hund ihm im folgenden stückweise zutragen, so wie es »von der Drechselbank der Zeit abfal–––––––

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[Anm.2], S.51, S.52. – »Jean Paul« entfaltet gern seinen Witz. So macht er zu einer humoristischen Bemerkung des Kaplans Eymann eine Anmerkung – es handelt sich um die erste Anmerkung im »Hesperus« –, die witziger ist als das Kommentierte selbst; er zeigt, daß er bessere Scherze machen kann als seine Figuren (dazu Nienhaus [Anm.2], S.53). – Er schiebt Briefe seiner Figuren, aber auch Auszüge aus der Korrespondenz mit Knef in seinen Bericht ein. Einmal ›abbreviert‹ er das, was Knef ihm mitgeteilt hat, weil er »seit einer halben Stunde von einer verdammten Ratten-Bestie ungemein ärgerlich gekatzt und genagt« wird und darum unkonzentriert arbeitet (I/1,508). Vgl. insgesamt Wolfdietrich Rasch: Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen. München 1961, S.20. Der Scheerauische Fürst hatte, wie man sich aus der »Unsichtbaren Loge« erinnert (Kap.18), einen See in seinem Fürstentum zum ›ostindischen Ozean‹ deklariert, um von dem hier stattfindenden Handel kommerziell zu profitieren; die Inseln wurden nach den wirklichen Molukken im wirklichen ostindischen Ozean benannt, sind also einerseits echte Inseln, andererseits das Produkt eines Etikettenschwindels (wie auch die Identität des Erzählers, was sich später herausstellen wird). Vgl. zu diesem Titel: Nienhaus [Anm.2], S.58.

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le« (ebd.). »Jean Paul« sagt zu, weil er ungern etwas »Tolles« abschlägt, weil er darauf spekuliert, wie leicht sich eine »Lebensbeschreibung von geschickten Händen zu einem Roman [...] veredeln« läßt – und unter der »Bedingung, daß darin die Wahrheit meine Gesellschaftdame, aber nicht meine Führerin sei« (I/1,509). Als ihm die zugespielten Informationen unwahrscheinlich vorkommen, bittet er allerdings seinen Korrespondenten Knef um Aufklärung darüber, »woran wir alle wären« – fordere doch die tyrannische Leserschaft gern »das nackte historische Faktum« statt des »Dichtertrugs« und wolle er selbst doch nicht für die Unwahrscheinlichkeit der eigenen Geschichte öffentlich getadelt sein (I/1,551) – ein angesichts jener »Bedingung« inkonsequentes Beharren auf Faktischem, das als Indiz dafür gewertet werden kann, daß »Jean Paul« auch bei seinen Mitteilungen über sich selbst die Wahrheit lieber als Gesellschaftsdame denn als Führerin bei sich sieht. Später wird ihm ein Freund vorhalten, er habe den Helden des Romans – also Viktor – »ein wenig« nach sich selbst »gebosselt«, was der Erzähler auch gar nicht bestreitet: »es tuns aber alle Autores, ihr Ich steht entweder abgezeichnet vor dem Titelblatte oder darhinter mitten im Werke [...]« (I/1,1218). Auch erfahren wir über die Figuren, diese seien lebendigen Charakteren nachempfunden, so daß der Erzähler »Jean Paul« als »Supernumerarkopist der Natur allezeit die Wirklichkeit abgeschrieben« habe; allerdings will er sich gegen Ende seiner Geschichte erst noch davon überzeugen, ob die erdachten Figuren ihren ›wirklichen‹ Vorbildern – gemeint sind die Figuren der erzählten Geschichte – ähnlich sind (vgl. I/1,1232). Mit Ungeduld erwartet der »Biograph« die Lieferungen neuen Materials – schon darum, weil er unter den Lesern bereits »Pränumeranden« hat und das Buch endlich drucken lassen will (I/1,584). Unangenehm ist die Abhängigkeit von fremden Informationen aber vor allem deshalb, weil der Schreibende nicht überschaut, wohin sein Projekt führt. Solcher Mangel an Autorität wird wiederholt beklagt, etwa wenn im Text plötzlich der Name einer Figur fällt, die der Erzähler selbst noch nicht kennt – eine »wahre Plackerei«, für die er den Korrespondenten Knef und dessen unordentliche Informationspolitik verantwortlich macht: »Beim Himmel! die Leute setzen und springen ja in mein Werk wie in eine Passagierstube hinein, und kein Teufel und kein Leser weiß, wer ihre Hund’ und Katzen sind.« (I/1,599) Um seine Klage über das zunehmende Romanpersonal, das ihm ungefragt zugeschickte Volk, diese beschwerliche »Einquartierung« (I/1,608), zu artikulieren, legt »Jean Paul« sie auch an anderer Stelle gern den Lesern in den Mund.20 ––––––– 20

Er unterstreicht durch Metaphern aus der Sphäre der Kunst und der Musik die Mühsal seines Geschäfts. Aus einem »historischen Bildersaal« werde ein »Voka-

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In den Pausen, die sich zwischen den Post-Lieferungen des Spitzes ergeben, wendet sich der Biograph an den Leser, um mit ihm »ein vernünftiges Wort« zu reden (I/1,565) und um sich die Reaktionen des Publikums auf das entstehende Werk auszumalen. Scheint es zunächst, als erfreue er sich an der Vorstellung eines Lesers, der vom Fortgang der spannenden Geschichte so gebannt ist, daß er alles um sich herum vergißt und – »nicht recht bei Sinnen« – mehr in den Hundposttagen als im Alltag lebt, so erweist sich dann doch die Schattenseite identifikatorischen Lesens. Vergesse doch solch ein empathischer Leser über den Personen nur zu leicht den Erzähler selbst: »[...] Geschichte will er, und von mir weiß er gar nichts mehr«, und daran vermöchten selbst die »buntesten Feuerwerke des Witzes« nicht zu ändern (ebd.). Vordergründig eine Variation der auch an anderer Stelle geführten Klage über solche Leser, die über dem Stoff der erzählten Geschichten die Kunst des Erzählens als solche ignorieren, demonstriert die Klage über den von Sinnen geratenen Leser doch zugleich die Möglichkeit, solcher Insubordination erzählend zu begegnen: Der Leser wird einfach selbst zur Figur gemacht. Alle Interventionen des »Biographen« im Roman erweisen sich als Strategie, den Leser zu einem reflexiv-distanzierten Verhältnis gegenüber dem Erzählten zu veranlassen. Zur Sicherheit schließt er mit dem Leser aber ausdrücklich einen »Grenz- und Hausvertrag«: Nach jedem vierten Hundposttag darf er demnach »einen witzigen und gelehrten Schalttag« einfügen, »in dem keine Historie ist«, sondern der Erzähler schreibt, was er will.21 Der Leser freilich erhält im Gegenzug das Recht, die Schalttage zu überschlagen (I/1,566).22 Neben Schalttagen schiebt der Erzähler auch »Extrablätter« und »PseudoExtrablätter« in seinen Bericht ein – die vertragliche Grundlage dafür existiert zwar nur in seinem Kopf (I/1,625), aber er insistiert auf seinem Recht – etwa mit dem »Extrablättchen über obige Bruchstücke« (I/1,625f.); gemeint sind Porträts als bruchstückhafte Repräsentationen von Personen. Auch Fuß–––––––

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belsaal«, jeder »neue Tropf« sei »ein neues herausgezogenes Orgelregister, das ich mit spielen muß und das mir das Niederdrücken der Tasten sauerer macht« (I/1,607f.). »Jean Paul« verspricht zwar nach jedem 4. Hundposttag einen ›witzigen und gelehrten Schalttag‹ einzufügen, doch der achte Schalttag fehlt erklärungslos (wird allerdings gezählt), der zehnte wird bewußt ausgelassen (I/1,1175). Wie Nienhaus ([Anm.2], S.59) zu Recht sagt, wird durch diesen »Vertrag« die »Allmacht der Erzählersubjektivität« unterstrichen. »Die Hauptfrage ist jetzt, ob ein Hund-Vertrag zwischen zwei so großen Mächten – indem der Leser alle Weltteile hat, und ich wieder den Leser – nach dem Schließen noch zu halten ist.« (I/1,611) Die Beziehung Erzähler-Leser erweist sich als Bestandteil der Fiktion; der Leser ist nicht »der Leser«.

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noten gehören zu den nicht immer nur in dienender Funktion erscheinenden Paratexten.23 Der vierte Schalttag fällt mit der Vorrede zum zweiten Heftlein des Hesperus zusammen (I/1,721). Hier präsentiert der Erzähler seine »Extrablättchen und Nebenschößlinge [...] in alphabetischer Ordnung« von A bis I (die Sequenz wird später fortgesetzt). Der Schalttag ist eine der vielen spielerischen Hommagen an das alphabetische Prinzip in Jean Pauls Werk – an eine Ordnung, die den vom Erzähler beklagten Wirrnissen der Romanhandlung hier, auf dem von ihm allein regierten Territorium, entgegengesetzt wird. Es ist nicht eindeutig entscheidbar, ob die alphabetisch gereihten Artikel inhaltlich einen logischen Zusammenhang bilden. Immerhin gilt ein Artikel dem »Dichter« und seinen Beobachtungen der »Leidenschaften«; insofern besitzt er einen integrierenden Bezug zu den übrigen, die an menschliche Empfindungen, Passionen und Täuschungsmanöver erinnern. (So rigide übrigens die alphabetische Anordnung der »Extra-Schößlinge« auch wirken mag – bei der Zuordnung von Lemmata zu den einzelnen Buchstaben regiert offenbar die Willkür: Zum Buchstaben »Z« findet sich offenbar nichts Geeignetes, so daß es durch ein »Tz« ersetzt – und dem »Spitz« gewidmet wird; vgl. I/1,965f.) Sein so nachdrücklich betontes Bedürfnis nach Ordnung motiviert den Erzähler auch dazu, einen inhaltlich besonders gewichtigen und langen »Hundposttag«, der dem Bericht über gleich zwei Monate gilt, »in Wochen [zu] zerlegen« – vorgeblich, um dem Bedürfnis seiner deutschen Leser nach präziser, hierarchisierender, wissenschaftlich geschulter Information entgegenzukommen (I/1,817), ein Bedürfnis, daß ihn (wiederum vorgeblich) schon so weit angesteckt hat, daß er das Blau schöner Augen mithilfe eines »Saussureschen Cyanometers« und die »weiblichen Seufzer« mit der »Stegmannischen Luftreinigungsmaschine« zu messen sucht (I/1,818). Daß die Geschichte der Figuren weitergeht, während »Jean Paul« schon an ihr schreibt, verleiht dem Roman eine doppelte Temporalstruktur; die Geschichten der Figuren und die des Erzählers verlaufen zunächst unabhängig voneinander, wobei erstere sich nach Monaten bemißt, letztere nach (Hund––––––– 23

Zu den Fußnoten vgl. inges.: Walter Rehm: Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser, in: Walter Rehm: Späte Studien. Bern 1964, S.7–96. – Im Bereich der Fußnoten sind die späteren Auflagen des Romans weitläufiger angelegt als die erste (vgl. I/1,655, 666, 760, 873 (1), 874 (1), 896, 919, 928, 990). In der zweiten Auflage heißt es im »Nachtrag zum Nachtrag«: »Ich habe hierzu, während sich die erste Auflage vergriff, einige recht interessante Umstände für die zweite erfahren« (I/1,1216). Dadurch wird die durch den Roman dargestellte Zeit nochmals um eine Dimension komplexer: Der Darstellungsprozeß selbst hat sich verdoppelt.

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post-)Tagen. Wiederholt erinnert »Jean Paul« an die gedoppelte Zeitordnung, die er durch diszipliniertes Arbeiten zu synchronisieren sucht. Da er stets zwei »Hundtage« pro Woche ausarbeitet, registriert er jeweils die Anfänge neuer Monate, um Ordnung ins Gewirr zu bringen (I/1,611). Wenn der zu bearbeitende Stoff ihn nicht los läßt, schreibt er über die Mittagsstunde hinaus und mißdeutet die vorrückenden Schläge der Uhr, den von seiner Schwester aufgetragenen Hecht ignorierend, welcher »wie die Schlange der Ewigkeit an seinem Schwanze frisset« (I/1,794f.). Freilich ist diese Ewigkeitsschlange ja auch, wenn sie über der Arbeit kalt wird, für den Verzehr durch den Erzähler bestimmt. Während er vorher als Abschluß des 20. Kapitels (an dessen Ende wir dies lesen) eben noch »sieben goldne Sprüche« für den Leser zu Papier bringt – darunter den Vergleich der Menschen mit Büchern –, umkreist ihn selbst der Posthund schon mit dem Material fürs 21. Kapitel (I/1,795). Hecht/Schlange und Hund beschreiben Kreise, die hier Vergangenheit (zu berichtende Ereignisse), Gegenwart (Mittagessenszeit des Erzählers) sowie die Zukunft als die Zeitdimension des Lesers (der gerade die sieben goldnen Sprüche liest) ineinander verketten.24 Der Erzähler versucht nichts Geringeres, als die von ihm selbst repräsentierte Gegenwart, die in seiner Geschichte dargestellte Vergangenheit und die dem Leser vorbehaltene Zukunft zu koordinieren und im imaginären Raum seines Romans zumindest punktuell zu synchronisieren; darum sehnt er sich der Zeit entgegen, wenn er sich an die Handlungszeit seiner Geschichte herangeschrieben haben wird; darum tritt er immer wieder in Kommunikation mit dem (gedachten) Leser. Typisch für das Projekt einer Synchronisierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem ist der 35. Hundposttag, wo »Jean Paul«, um sich eine zu den Pfingstfreuden seiner Figuren passende Schreibsituation zu schaffen, eine Flasche Burgunder neben seinem Tintenfaß aufstellt - um gleichzeitig den Leser aufzufordern, gleichfalls »etwas Spirituöses« zu trinken (I/1,1060).25 ––––––– 24

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Angaben von Daten durchziehen den ganzen Roman; sie beziehen sich auf die Geschichte der Figuren und auf die des Biographen. Nienhaus [Anm.2], S.67f., gibt einen Überblick. Die Analogie der Kommentierung von Daten und Schreibtempo mit der Darstellungsweise Lawrence Sternes Tristram Shandy ist evident (dazu auch Nienhaus [Anm.2], S.69). Muß er auf den Posthund allzu lange warten, bevor ein neues Kapitel begonnen werden kann, so verlängert »Jean Paul« die letzten Sätze des alten Kapitels willkürlich, bevor der Hund durch sein Erscheinen den »Nachsatz-Schwanz« endlich abbeißt und als »biographische[r] Handlanger und Spediteur« neue «elysische Felder und Himmelreiche« ablädt (I/1,1025). Ist der Spitz einmal säumig, sodaß sich der Fortgang des Berichts verzögert, dann verfaßt »Jean Paul« als Nachschrift zum gerade Ausgearbeiteten auch einmal eine »eigenhändige Dispensationsbulle«, in

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In der Geschichte des Pseudo-Berghauptmanns, der sich einmal des über seiner Arbeit alt und bärtig gewordenen Chronisten Baronius erinnert (I/1,966) und der seiner gelieferten Materialien Herr zu werden versucht, indem er es einer formalen Ordnung unterwirft und mit dem Tagesrhythmus seiner eigenen Lebenszeit synchronisiert, bespiegelt sich – wie bereits im Tristram Shandy Lawrence Sternes – das literarische Schreiben in seiner Eigenschaft als Auseinandersetzung mit der Zeit – mit eigener (endlicher) Lebenszeit sowie mit von Zeitlichkeit als einer menschlichen Grunderfahrung.26 Auf die zentrale Bedeutung des Themas Zeit verweisen humoristische Einfälle wie der vom geringelten Hecht, der als »Schlange der Ewigkeit« auf dem Mittagsteller des Erzählers liegt, ferner Berichte über die erzählerischen Anstrengungen, die verlaufene Zeit durch seine Geschichte einzuholen und dieser eine Ordnung zu geben, aber auch die Kalenderberechnungen »Jean Pauls«. Als ein Spezialist für Wetter und Kalender vermag er, obwohl man ihn über die Datierung seiner Historie im Unklaren belassen hat, aus den angegebenen »Mond- und Wetterveränderungen« die Handlungszeit (1792 und 1793) zu bestimmen (I/1,858). Er selbst hat die Arbeit am Buch in eben der »Philippi-Jakobi-Nacht 1793« begonnen, als Viktor nach Maienthal reiste (worüber im 32. Hundposttag berichtet wird; vgl. 1007). Da »Jean Paul« die Relation von erzählter Zeit und Erzählzeit kennt, kann er am 24. Hundposttag berechnen, daß ihn die eigene Geschichte in einem halben Jahr einholen wird (I/1,858), und am 33. Hundposttag, im September 1793, ist er beschreibend trotz angefallener Verzögerungen bereits auf vier Monate an die Geschichte herangerückt. – Als nach seinen Berechnungen im 44. Hundposttag das Ende der der Geschichte naht (er glaubt, das letzte Kapitel zu beginnen), erwartet er seinen Boten mit besonderer Ungeduld, angesichts der vorausgesehenenen Konvergenz zweier Zeitordnungen vom aktuellen Durcheinander eher erbaut als bedrückt, aber auch emotional berührt vom Gedanken an den nahenden Abschied von Figuren und Lesern (I/1,1203). Doch erst das 45. Kapitel wird zum »Letzten Kapitel«, eingeleitet durch die Ankündigung unerhörter Ereignisse – und durch das Geständnis, nach langem Ausbleiben des Posthundes habe der Erzähler sich entschlossen, dem Roman selbst willkürlich ein Ende zu setzen, um Leser und Rezensenten mit ihren Klagen an den Posthund zu verweisen (I/1,1218). –––––––

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der er sich für »hinlänglich entschuldigt« erklärt; der Hund sei faul, die Posttage »voluminöser«, er müsse als Folge davon zwei Lieferungen in einem Kapitel bearbeiten, um zurecht zukommen – und so habe es mit dem letzten Kapitel länger gedauert (I/1,1029). Vgl. dazu: Helmut Pfotenhauer: Das Leben schreiben – das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit, in: JJPG 2000/2001, S.46–58.

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»Jean Pauls« Freund Doktor Fenk sucht ihn auf, bewundert die entstandene Erzählung, erweist sich als eingeweiht und nennt den Schauplatz der Ereignisse, das Ländchen »***« (I/1,1219). Er fordert den Biographen auf, selbst das »45ste Schwanz-Kapitel aus der Quelle schöpfen« zu gehen, und dieser reist, den Weg über die Stadt Hof im Voigtland nehmend, zum Ort des Geschehens, begegnet unterwegs Lord Horion und wird kurz vor dem Ziel überrumpelt; man verbindet ihm die Augen, fesselt ihn (I/1,1223) und bringt ihn auf die »Insel der Vereinigung«, wo sich – in Erfüllung gelegentlich angedeuteter Wunschträume – herausstellt, daß er selbst der gesuchte vierte Sohn des Flachsenfingischen Fürsten ist; seine Brüder, Flamin und die drei »Engländer«, allesamt Figuren des Romans, begrüßen ihn (I/1,1225). Man hatte nach dem verlorenen Sohn des Fürsten, genannt »Monsieur«, gesucht, war durch seinen französischen Namen Jean Paul aufmerksam auf den Erzähler geworden, Fenk hatte ihm unter dem Namen Knef die biographischen Materialien zugespielt, und so hatte er in der Geschichte seiner Figuren stets zugleich die seiner Familie und damit seine eigene geschrieben – eine Eröffnung, die »Jean Paul« zu der wichtigen Bemerkung veranlaßt: »Der Biograph [...] sollte überhaupt sein eigener sein« (I/1,1225).27 In der Gegenwart der dargestellten Ereignisse angekommen, die genauen Stunden seiner Schreibzeit angebend, fragt sich der zum »Dauphin« avancierte Berghauptmann, ob sein Buch glücklich oder traurig enden werde (I/1,1228), immer noch auf den Ausgang der Ereignisse wartend und die Wartezeit mit Schreiben vertreibend (I/1,1232), bis er schließlich mit seinem Helden Viktor zusammentrifft und Lord Horion der Geschichte durch seinen Selbstmord ein Ende setzt.28 In doppelter Hinsicht hat sich »Jean Paul« an Zeitlichem abzuarbeiten: Die darzustellende Geschichte nimmt ihren Gang, der erzählerische Bewältigung erfordert (und allzu billig sind Wendungen, in denen es etwa heißt: »der Leser kann sichs leicht vorstellen, wie [...]«, wenn der Leser sich es doch »schwer vorstellen« kann; vgl. I/1,1007), aber der Erzähler ist zudem ja auch in der eigenen Arbeitszeit befangen, die – wiederum von außen – durch die regelmäßigen Lieferungen des Posthundes – strukturiert ist. In der gelegentlichen Klage über das Ausbleiben erwarteter Informationen artikuliert sich der ––––––– 27

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An dieser Stelle verspricht eine zwischen Autor und Erzähler changierende Instanz dem Leser die Mitteilung einer ›eigenen Lebensgeschichte‹ unter dem Titel »Jean Pauls Apostelgeschichte, oder dessen Taten, Begebenheiten und Meinungen«; es müssen zuvor nur noch »einige nötige Kapitel daraus erlebt« werden. Vgl. I/1,1225. Die besondere Form der Reflexion über die Zeit ergibt sich daraus, daß »Jean Paul« und seine Figuren in derselben Welt angesiedelt sind (zu diesem Kunstgriff auch Nienhaus [Anm.2], S.54–57).

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Unmut, nicht einmal Herr des eigenen Erzählprozesses zu sein. Zwei differenten und dabei nicht steuerbaren temporalen Ordnungen unterworfen, verfällt der Erzähler auf originelle Strategien der Gegenwehr: So verfaßt er zu den erst noch zu schreibenden Kapiteln noch vor Erhalt des Materials die Einleitungen (»Anfänge, Eingänge, präexistierende Keime«, ›fertig liegende Köpfe‹), um ihnen nach Erhalt des zu bearbeitenden Materials dann nur noch den »Rumpf« des nächsten Kapitels anfügen zu müssen (I/1,1006). Um die Auswahl zu haben, werden auf dem »molukkischen Fraskati« der St.-Johannis-Insel »ganze Zaspeln von Anfängen im voraus geweifet und gezwirnt« und warten auf den »historischen Rest« als ihre Ergänzung (ebd.). Nicht an der Idee eines organischen Werkganzen orientiert sich ein solches Verfahren, sondern an der einer Kombinatorik des Heterogenen – wobei gerade letztere offenbar dem individuellen Gestaltungswillen einen Spielraum läßt; der Kopf des Erzählers bestimmt über die »Köpfe«, den Rest bringt der Hund. Wenn der Erzähler seiner Erklärung des Prinzips der »fertig liegenden Köpfe« die Bemerkung anfügt, eben diesen Anfang des Kapitels habe er als vorgefertigen Anfang an dieser Stelle eingefügt, so potenziert er damit nicht nur sein autoreflexives Verfahren, sondern sensibilisiert den Leser zugleich für die Bedeutung des kombinatorischen Prinzips, das letztlich eine Ausdrucksform des Widerstands gegen die Macht der Zeit ist.29 Immer wieder reflektiert und räsonniert »Jean Paul« über die Literatur, deren Leserschaft sowie über sich selbst als Schreibenden – begonnen mit dem Bekenntnis, ein Mensch sei allen Widrigkeiten des Lebens zum Trotz deswegen »zuweilen so glücklich«, weil er »zuweilen ein Literatus« sei – mit einem Tintenfaß als »Freudenbecher« und einem »paphischen Hain« im »Bücherfutteral« (I/1,512). JEAN PAUL – Anders als die Vorreden zur zweiten und dritten Auflage ist die zur ersten Auflage mit »Jean Paul« unterzeichnet; sie gliedert sich – so ihr Titel – in »Vorrede, sieben Bitten und Beschluss« (I/1,487). Der Vorredner präsentiert sich selbst in der Rolle eines Pförtners, der den Zugang der Leserschaft zum Gebäude seines Romans reguliert: Zunächst habe er vor allem über die Abweisung ungeeigneter Leser nachgedacht, sich dann aber eines besseren besonnen und wende sich nun einladend an die willkommenen Le––––––– 29

Er habe, so fügt »Jean Paul« noch hinzu, »anfangs« einen anderen Anfang nehmen wollen – einen über die Sorge um die Möglichkeit, das vorliegende Buch zu übersetzen. (Und er bietet dann auch diesen Anfang, in dem die Leser schlechter Übersetzungen mit jenen armen Lappländern verglichen werden, die vom Likör der Reichen nur denjenigen Anteil erhalten, den letztere nach dem Genuß vor der Türe wieder von sich geben; vgl. I/1,1006).

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ser. Leserkritik und Leserlob bieten Anlaß, durch die Modellierung eines mißlingenden und eines gelingenden literarischen Kommunikationsprozesses diesen selbst zu bespiegeln und damit zentrale Auskünfte über Intention und Funktion des literarischen Textes zu verbinden. Fortzuschicken wären die Unempfindsamen, für die »das Herz nichts ist als der dickeste Muskel«, ferner die nüchtern-philiströsen »Geschäftleute«, die die Dichtung nur am Maßstab praktischen Nutzens messen (und entsprechend gering schätzen), schließlich selbst die »lesende Schwesterschaft der Ritterromane« mit ihrem auf naiven Identifikationen beruhenden selektiven leseverhalten (I/1,487). Willkommen hingegen heißt der Pförtner die Trostbedürftigen, denen der Roman dabei helfen will, eine Enttäuschung oder ein schweres Schicksal zu vergessen, die niedergedrückten Geister, die unter der Gegenwart als einer Wunde und unter der Vergangenheit als einer Narbe leiden (ebd.) – sowie die ›höheren Menschen‹, die das irdische Treiben in seiner Vergänglichkeit als bloßen chimärischen Traum ansehen (I/1,488). Jenen »edlen Geistern« allerdings, die bei aller Enttäuschung über das Irdische doch stets dem Unendlichen zugewandt bleiben, nähert sich der Vorredner mit demütigem Respekt – obwohl er gerade einen solchen Lesertypus für seinen Roman ersehnt. – An solche Evokationen eines idealen Lesers (samt abgestufter Varianten) schließen sich pragmatische Bitten an die Leserschaft an, insbesondere die, »allemal ein ganzes Kapitel zu lesen, und kein halbes«. – Im »Beschluß« wendet sich der Vorredner dann an seinen Roman selbst, den er »kleiner stiller Hesperus« nennt, um diesen (mit der Romanhandlung allenfalls indirekt und auf metaphorischer Ebene zusammenhängenden) Titel des Romans durch Bezugnahme auf seine Konnotationen verständlicher zu machen: Der »Aberglaube« setze den »Kalender-Hesperus«, wie es heißt, »auf den Dunst-Thron dieses Jahres« (I/1,1794), doch der Roman soll anders als das angeblich die Weltgeschichte aktuell regierende Gestirn von ›schönerem, wärmerem und gewisserem‹ Einfluß sein – ein Remedium also gegen die Wirren der Zeit (I/1,489). Der Hesperus, auch Phosphorus oder Luzifer genannt, ist morgens im Osten, abends im Westen zu sehen; sein Weg führt ihn also ungesehen von Ost nach West und sichtbar wieder zurück (ebd.). Unter dem Namen eines Gestirns der Übergänge soll der Roman Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verknüpfen, unter dem des Abend- wie des Morgensterns soll er Jungen und Alten ein Leitstern sein (vgl. dazu auch I/1,1221). Für den Autor selbst jedoch ist der Planet, – als eine zweite Welt, welche die Erde eine Weile auf ihrem Weg durchs All begleitete – mit seiner Fertigstellung untergegangen, so daß die Begrüßung des Publikums zugleich zu einem Abschied

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des Autors vom Text wird: eine Ambiguität, welche sich gleichfalls im Bild des Morgen- und Abendsterns bespiegelt.30 JEAN PAUL FR. RICHTER – Die »Vorrede zur zweiten Auflage« des Hesperus, datiert auf den 16. Mai 1797, suggeriert, daß sie noch gar nicht existiere; der sich mit komplettem bürgerlichem Namen nennende Vorredner behauptet, noch habe er außer einer allenfalls »leidlichen Entwurf« zu seiner Vorrede nichts zustandegebracht (I/1,480), und bietet dem Leser dann ersatzweise »Architektonik und Bauholz für die Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus« an (I/1,481). Er betont aus diesem Anlaß seine Vorliebe für die Textsorte des Entwurfs, der bei ihm (wie er erklärt) kein »Gliedermann«, »Kanon« oder »Knochenskelett für künftiges Fleisch« sei, kein starres Gerüst für die folgende Ausarbeitung also, sondern »ein Blatt oder ein Bogen, auf welchem ich mirs bequem mache und mich gehen lasse, indem ich darauf meinen ganzen Kopf ausschüttele, um nachher das Fallobst zu sichten und zu säen« (I/1,480). Hier versammeln sich die noch unsortierten Einfälle; das Heterogenste steht, nur durch Gedankenstriche getrennt, auf dem Papier; manches wird später als nicht-integrierbar oder als unbrauchbar verworfen – bis schließlich aus der auf dem Papier ausgebreiteten »Phönixasche [...] ganze schimmernde Fasanereien [...] aufsteigen« (I/1,480). Die mit dem anschließend ausgebreiteten »Bauholz« bekräftigte Idee, der dem Leser vorgelegte Text sei kein abgeschlossenes Artefakt, sondern das Material zur Konstruktion eines erst noch zu realisierenden zukünftigen Textes, deutet voraus auf eine Textkonzeption, wie sie bei Vertretern der literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts zur Entfaltung kommt: Das Geschriebene stellt sich als eine Art Mobile dar, dessen Überführung in eine endgültige Gestalt ganz unterschiedlich ausfallen könnte; im gegenwärtigen Zustand ist der Text Literatur im Zustand der Potentialität, sein Entstehungsort ein »Ouvroir de la littérature potentielle« (Oulipo). Das »Bauholz« besteht aus Direktiven für die Einrichtung der neuen Romanauflage und für die Abfassung einer entsprechenden Vorrede – wobei der Vorredner angesichts dieser (eigenhändig geschriebenen) Anweisungen gelegentlich gesteht, er verstehe sie nicht mehr, »weil der Entwurf schon im Winter geschrieben wurde« (I/1,481): Wir begegnen einem verzeitlichten (sich auf mindestens zwei Zeitebenen bewegenden) Autor, der sich als Verfasser der Anweisungen an ein zukünftiges alter ego richtet, als sich selbst lesender Autor aber zu––––––– 30

Erwähnt wird im Roman selbst übrigens auch, daß der Abendstern »oft einem Kometen gleichsieht«; vgl. I/1,1028 – eine Bemerkung, die auf den letzten Roman Jean Pauls vorausdeutet.

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gleich bereits seine hermeutische Mühen mit dem eigenen Ich von Einst hat. – Die Hinweise auf (angeblich noch vorzunehmende, tatsächlich bereits vorgenommene) Verbesserungen des Romantextes beziehen sich auf Stilistisches, aber auch auf die Fabel selbst, schließlich auf verschiedene Lesertypen – so daß das »Bauholz« unter anderem auch den Entwurf zu einem guten Leser enthält, damit die ›potenzielle‹ Welt komplett ist (I/1,485). Der Roman möge, so der abschließende Wunsch, mit dem der Vorredner die zentrale Jean Paulsche Idee einer literarischen Kommunikation über raumzeitliche Distanzen variiert, einen »erfreulichen Schein« durch das Gefängnisgitter der verlassenen Seelen« werfen (I/1,486). Auch wird der Roman mit einem Gebäude verglichen, aus dessen erstem Stockwerk man keinen Quader herausbrechen könne, ohne daß im dritten Stock alles wackelte, aber auch mit einem gewebten Strumpf, bei dem eine einzige aufgehende Masche das Gesamtgewebe beschädigt (I/1,484). Mit dem Namen Jean Paul Fr. Richter unterzeichnet (I/1,479) schließlich auch der Verfasser einer auf den 1. Januar 1819 datierten »Vorrede zur dritten Auflage« des Hesperus. Der Bericht über vorgenommene Text-Verbesserungen wird u.a. zum Anlaß der Proklamation einer orthographischen Reform: Der Verfasser des Romans ist »durch den ganzen Abendstern« langsam hindurchgegangen, »mit dem Jätemesser in der Hand«, und hat »alles Genitiv- oder Es-Schmarotzer-Unkraut der Doppelwörter«, wo immer er es fand, »aufmerksam« herausgestochen, begonnen beim Romantitel, der fortan »Hundposttage« heißen soll (I/1,477). Auch hat der Bearbeiter der früheren Auflage eine Reihe von Fremdwörtern durch deutsche Wörter ersetzt; er erkennt die Forderung der zeitgenössischen ›Sprachreiniger‹ an, plädiert aber für Augenmaß und für Toleranz gegenüber den ›gemeinschaftlichen Kunstwörter[n] des gebildeten Europa‹, die sich ohne Verlust an semantischem Reichtum nicht eindeutschen lassen (I/1,475f.). Schließlich wurden auch »Härten, Dunkelheiten, Mißverstand und andere Überlängen und Überkürzen der Einkleidung« für die dritte Auflage getilgt – all dies für den Romanautor ein Anlaß zur Reflexion darüber, wie oft ein »Schreibmensch an sich bessern« muß (I/1,477). Würde ein solcher Autor tausend Jahre alt, so hätte er »so viele Bände von Verbesserungen nachzuschießen, daß das Werk selber ihnen nur als Vorwerk, Anhängsel oder Ergänzblatt beizugeben wäre« (I/1,478). Diese Vorstellung eines durch die Zeiten und Auflagen immer weiter wuchernden Textes, eine Vorwegnahme der Idee des ›work in progress‹, entspricht zwar auf der einen Seite einer ernsthaften Selbstkritik des Vorredners – der im folgenden eigene stilistisiche Schwächen kritisiert, die er dem »jugendlichen Ausströmen des Herzens« zurechnet (ebd.), auf der ande-

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ren Seite ist sie keineswegs alptraumhaft, sondern eine der verschiedenen Spielformen der Jean Paulschen Idee einer möglichst endlosen Kommunikation mit der Leserschaft – bis weit in die Zukunft hinein. Vom Autor des »Hesperus« spricht der gealterte Autor als von einem alter ego, dem er sich auch aus der Distanz heraus noch nahe fühlt. Eine »Vierte Vorrede oder abgedrungene Antikritik gegen eine oder die andere Rezension, die mir etwan nicht gefallen sollte«, stellt Jean Paul Fr. Richter dem Vierten Heftlein seines Romans voran (I/1,1095–1098). Hier werden jene »gute[n] Romanenschreiber«, die »aus Dinten- und Druckerschwärze einen neuen entsetzlichen Tyrannen« schaffen und ihre Leser mit allerlei unglaubwürdigen, aber vordergründig effektvollen Erfindungen bedienen, ironisch mit kleinen Jungen verglichen, die steinerne Löwen wie echte behandeln (I/1,1095) – bevor der Romancier selbst das »kritische Katzengeschlecht« der Rezensenten in den Blick nimmt. Um mit den Rezensenten abrechnen zu können, malt er sich eine »Rezensenten-Katze« (ebd.) aus, um dieser dann diejenigen kritischen Einwände gegen das eigene Verfahren in den Mund zu legen, die er anschließend widerlegt. So klug diese Strategie ist, birgt sie nach seiner Einschätzung allerdings die Gefahr, daß sich die wirklichen Rezensenten die erdachten Einwände zu eigen machen, während sie ein Selbst-Lob des Autors nicht akzeptieren würden (I/1,1097). Die Beziehung zwischen Autorfigurationen, Figuren, gedachten Lesern und Rezensenten kommt in einem Bild der Vierten Vorrede prägnant zum Ausdruck – im Bild des Konzertsaals, in dem sich jeder für einen »Solospieler« hält und doch nur eine Stimme unter anderen ist (I/1,1096f.). KNEF (→ Fenk) – Knef, der mit dem Erzähler korrespondiert, indem er den Hund (→) Spitzius Hofmann als Boten einsetzt, initiiert das gesamte »biographische« Unternehmen und versorgt den Erzähler mit Material zu seiner Geschichte. Die agierenden Personen werden dem Biographen selbst unter falschem Namen vorgestellt, weil Fenk diesem zunächst nicht traut. Er verheißt aber für später die Aufklärung aller Rätsel in dieser Geschichte, an der das Schicksal noch arbeite (I/1,508). Zuletzt sucht er den Erzähler »Jean Paul« unter seinem wirklichen Namen auf und führt ihn mit seinen Brüdern zusammen (vgl. I/1,1225–1228). Auf die Klagen des Erzählers über die zu große Komplexität und mangelnde Ordnung der ihm gelieferten Materialien (I/1,551), erfolgt eine »elende«, weil ausweichende Antwort Knefs in gestelztem Gelehrtenton. Dem Publikum werden hier ironisch Geschmack, Feinheit und wachsende Bildung attestiert (I/1,555); Unwahrscheinlichkeiten in Lebensbeschreibungen werden

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als deren besondere Reize ausgegeben (ebd.). »Jean Paul« hält Knef für einen »Schäker«, der ihn und den Leser »gern mit Hasenschwänzen behängen« wolle (I/1,556). Auch gibt Knef einer Lieferung des Posthundes eine »satirische Note« bei, in der er dem Erzähler rät, dem Leser eine Episode ruhig zum zweitenmal zu erzählen, damit dieser auch alles verstehe: »›Leser kann man nicht genug betrügen, und ein gescheiter Autor wird sie gern an seinem Arm in Mardereisen, Wolfgruben und Prellgarne geleiten.‹« (I/1,662) »Jean Paul« lehnt solche »Pfiffe« zwar ab, traut dem Leser also zu, auch Kompliziertes beim erstenmal zu verstehen – und wiederholt im Modus des Konjunktivs seine Information dann doch (ebd.). KARL PHILIPP MORITZ (1756–1793) – Der im Roman nicht auftretende Karl Philipp Moritz wird durch den ihm als Charakter gleichenden (→) Emanuel Dahore vertreten. An Moritz wird auch explizit erinnert; auf das von ihm herausgegebene »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« wird verwiesen, als im Roman ein Wahnsinniger auftritt, der angeblich den Menschen am Gesicht ansieht, wenn sie bald sterben (vgl. I/1,1128). In Moritz’ Magazin war ein ähnlicher Fall vorgestellt worden – unter dem Titel »Eine fürchterliche Art von Ahndungsvermögen«. GIULIA VON SCHLEUNES – Durch die Hand ihrer Freundin Klotilde schickt die sterbende Giulia ihrer Schwester Joachime einen Brief, den der Erzähler in seinen 22. Hundposttag integriert (I/1,835f.). Die Schwärmerin Giulia, nach »Jean Pauls« Mutmaßung durch »ein Herz voll vergeblicher Liebe unter die Erde gezogen« (I/1,834),31 sehnt sich nach dem Tod, da sie als Schülerin Emanuels dem Jenseits mehr als dem Diesseits zugewandt ist, und sie imaginiert, wie der Engel des Todes sie aus der Welt abruft (I/1,835). Inhaltlich konventionell, ist der Brief im Kontext des Romans eine Art Botschaft aus dem Jenseits – gemäß dem Jean Paulschen Gedanken, daß die Verstorbenen in ihren Briefen spirituell gegenwärtig bleiben – und damit eine spezifische Variante des Grundthemas schreibend reflektierter, zugleich aber kompensierter und überwundener Endlichkeit.

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Giulias Liebe hat dem blinden Julius gegolten, der erst ein Jahr nach ihrem Tod durch einen von Giulia an Klotilde gerichteten Brief davon erfährt (I/1,1080f.). Ähnlich läßt das Mädchen Sophie in Johann Martin Millers Roman Siegwart dem Titelhelden nach ihrem Tod ihr Tagebuch zukommen, um ihm nachträglich ihre verzweifelte Liebe und ihr Leiden mitzuteilen.

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MATHIEU VON SCHLEUNES – Der intelligente, aber intrigante Höfling Matthieu von Schleunes, vom Erzähler manchmal auch »Matz« genannt, treibt mit allem sein frivoles Spiel treibt, was anderen wichtig ist. Er wird als »Musterschreiber« des Kuriositäten-Kabinetts bezeichnet, das der nicht minder unsympathische Kammerherr le Baut zusammengetragen hat; tatsächlich leitet Mathieu eine Besichtigung des Kabinetts (I/1,597).32 Ist das Geschäft des Musterschreibers erbärmlich, so ist das hier zu besichtigende Kabinett (hochtrabend »Cabinet d’histoire naturelle« genannt, vgl. I/1,596) eine Kollektion von »totem Gerümpel« – eine Sammlung heterogenster Dinge, die an jene Sammlung erinnert, die »Jean Paul« als Erzähler der Flegeljahre als Nachlaß Van der Kabels ausgehändigt bekommt. SPITZIUS HOFMANN – Der Hund ist zwar selbst kein Autor, aber als Posthund die »biographische Egerie« des Erzählers, der dem Hund »zur Aufmunterung« und als Belohnung verspricht, sobald er Zeit habe, ihn ausstopfen zu lassen und »neben andere[n] Gelehrte[n] von Rang« in einer öffentlichen Bibliothek auszustellen. Am liebsten möchte er dem Hund einen Platz in Meusels »gelehrtem Deutschland« sichern (I/1,1233). In seiner Eigenschaft als Bote eine von Jean Pauls skurrilsten Engelsfiguren, ist der Spitz Gleichnis für eine säkulare Inspiration des Schreibenden. Wenn es heißt, daß am »Tor des ersten Kapitels« alle Romanleser die »Einpassierenden« (sprich: die Romanfiguren) nach deren Namen, Charakter und »Geschäften« fragen, so übernimmt in den Augen des Erzählers der posttragende Hund die Rolle dessen, der für alle anderen Auskunft gibt (I/1,512).

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Ein Musterschreiber führt bei der Musterung Register; das Grimmsche Wörterbuch (Bd.12, Sp.2769, Art. ›musterschreiber‹), führt für das Wort u.a. einen Beleg an, demzufolge der ›bloße musterschreiber‹ das Gegenstück zum ›generalgewaltigen‹ ist.

Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette (1796) Der aus verschiedenen Teilen komponierte »Fixlein«-Band macht den Leser mit einer ganzen Reihe schreibender Figuren bekannt. Auffällig ist, daß ihre Namen vorzugsweise mit dem selben Buchstaben beginnen: Fixlein, Füchslein, Freudel, Fälbel, Fraischdörfer. Wie Fixlein aus dem Buchstaben S alle anderen Lettern ableitet, so umspielt der Fixlein-Verfasser das F, immerhin die Initiale eines seiner eigenen Vornamen (Friedrich), um eine Kollektion von Autoren zu porträtieren. Unter den anderen beiden Vornamen tritt er selbst als Biograph auf. EGIDIUS ZEBEDÄUS FIXLEIN – Der im Lauf seiner Geschichte vom Quintus zum Pfarrer avancierende Idyllenheld Egidius Zebedäus Fixlein ist als Schulmann und Theologe ein homme de lettres, wenn auch kein Berufsschriftsteller oder gar ein Verfasser fiktionaler Literatur.1 Die Freude an Rede und Schrift begleitet sein Leben. Vor der Bestallung investiert Fixlein seine Schreibtalent unter anderem in die Abfassung von Suppliken um ein Amt als Pfarrer (I/4,85f.). In die Bittschrift um die Pfarre von Hukelum, gerichtet an den Patronatsherrn Aufhammer, investiert er besondere Mühe, um ein Haar allerdings vergeblich, da ihm letzterer grollt (I/4,124f.). Seine Talente als Prediger stellt Fixlein noch als Quintus erfolgreich mit einer Probepredigt am Krankenbett der Patronatsherrin Frau von Aufhammer unter Beweis; diese sichert ihm die Gunst der Kranken und trägt mittelbar zu seiner Beförderung bei (I/4,80). Zunächst zum Konrektor aufgestiegen, obliegt es Fixlein, den Martini-Aktus und eine Predigt vorzubereiten, und er genießt schon die Anstalten dazu (I/4,128). Zur Schulfeier am Martinitag verfaßt er eine gelehrte Einladungsschrift; hier geht es u.a. um Donatschnitzer (Grammatikfehler) der »Magnaten in Pest und Polen«, um die Bedeutung der Schulen für die allgemeine Bildung, um die Wichtigkeit der lateinischen Gelehrtensprache sowie um die Frage, in welcher Sprache griechische und lateinische Grammatiken verfaßt sein sollten (I/4,129). Auch verheißt Fixlein in diesem Text eine weitere Einladungsschrift, deren Gegenstand nicht etwa Martin Luther sein soll, über den es ja nichts Neues mehr zu sagen gibt, sondern dessen Nachfahren, anhand deren Lebensläufe eine speziellere »Reformationshistorie« zu schrei––––––– 1

Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten; in funfzehn Zettelkästen (I/4,63). Der Text wurde wohl schon während der Arbeit am Hesperus geplant und nach dessen Fertigstellung abgefaßt. Er entstand bis auf einzelne poetische Paratexte zwischen dem Juli 1794 und dem Mai 1795 (vgl. I/4,1141).

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ben wäre. Mit dem letzten, 1759 verstorbenen Luther-Nachfahren will Fixlein den Anfang machen (I/4,129f.). Im folgenden kündigt er sechs Schülerreden an, die alle auf Martin Gottlob Luther Bezug nehmen: Gottlieb Spiesglas aus Flachsenfingen erörtert auf Latein die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen jenem Martin Gottlob Luther und seinem berühmten Vorfahren. Friedrich Christian Krabler aus Hukelum behandelt die Beziehung des Luther-Nachfahren zur Reformation. Daniel Lorenz Stenziger kommentiert in lateinischen Versen dessen juristische Tätigkeit, Nikol Tobias Pfizmann in französischen die Schul- und Universitätskarriere des jüngeren Luther, Andreas Eintarm in deutschen seine etwaigen Fehltritte. Justus Strobel schließlich würdigt auf Latein die Rechtschaffenheit des Luther-Nachkommen (vgl. I/4,130f.). – Eine zur gleichen Zeit ausgearbeitete Predigt kann Fixlein bald darauf anläßlich der eigenen Einsetzung ins Amt des Pfarrers halten (I/4,141). – Unter dem Titel »Heilige Reden von Fixlein« findet der Biograph im Wohnzimmer des Pfarrers später eine Manuskriptsammlung, die mit schlechten Materialien geschrieben wurde und nur nach außen hin so wirkt, als sei sie ein gedrucktes Buch (I/4,160).2 Auch über die eigentlichen Amtsgeschäfte hinaus lebt Fixlein in und mit Geschriebenem. In den Ferien verfaßt er »kleine Werkchen von 1/12 Alphabet, die er im Manuskript, vom Buchbinder in goldne Flügeldecken geschnürt und auf dem Rücken mit gedruckten Lettern betitelt«, um sie »in die literarische Stufensammlung seines Bücherbrettes« einzustellen (I/4,81). Neben nicht weiter genannten »unerheblichen Werken« gilt seine Arbeit »einer Sammlung der Druckfehler in deutschen Schriften«: Fixlein vergleicht die Errata, registriert ihre Häufigkeit und leitet zu wichtigen Schlußfolgerungen aus seinen Befunden an (I/4,81).3 Sein Biograph gibt ihm übrigens wichtige Hinweise zur Zahl der bei der Realisierung solcher gelehrter Werke benötig––––––– 2

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Schriftstücke spielen in Fixleins Leben wiederholt eine epochale Rolle, so das Testament der Frau von Aufhammer, die ihm den Weg zum beruflichen Aufstieg bahnt, Herrn von Aufhammers versehentlich falsch adressierter Bestallungsbrief zum Pfarrer, der eigentlich an den Konkurrenten Füchslein gehen sollte, weil er diesem die Pfarre von Hukelum zugesagt hatte (I/4,132f.), sowie des enttäuschten Füchsleins satirischer Brief an den Patronatsherrn, mit dem er es endgültig unmöglich macht, daß man Fixlein die Pfarre wieder abnimmt (I/4,136). Schriften können auch gefährliche Folgen haben. Fixleins Bittschrift um einen neuen Turmgiebel führt dazu, daß ihm der alte Kirchturmknopf in die Hände fällt, in den einst Papiere mit Daten aus der Gemeinde eingefügt wurden, so daß er seinen wahren Geburtstag erfährt, was dem Hypochonder fast zum Verhängnis wird (vgl. I/4,155, 159). In den »Palingenesien« wird Leibgeber als Verfasser eines Druckfehlerverzeichnisses angesprochen (I/4,727).

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ten Drucktypen (vgl. I/4,166). Ein zweites Werk Fixleins gilt textstatistischen Fragen: Fixlein betätigt sich hier als deutscher Kollege der jüdischen Masorethen, welche die Häufigkeit der einzelnen Buchstaben in der Bibel erörtern und nach der Zahl von Versen fragen, in denen alle Konsonanten vorkommen, die erforschen, wieviele Verse aus 42 Wörtern und 160 Konsonanten bestehen, »welches der mittelste Buchstabe in einzelnen Büchern sei« – und anderes mehr (I/4,81). Fixlein selbst erforscht als »Masoreth« der LutherBibel den mittelsten Buchstaben und das mittelste Wort in dieser und untersucht die statistische Häufigkeit der Buchstaben (I/4,82). Ein weiteres schriftstellerisches Projekt entspringt Fixleins »Ruhmsucht«, konkreter: seinem Bedürfnis, rezensiert zu werden. Nachdem er in den »Kirchenbriefgewölben« ein Handschreiben des berühmten Geographen Büsching gefunden hat, der sich einst ohne Erfolg »Spezialberichte vom Dorfe« ausgebeten hatte – so daß bis zur Gegenwart noch keine »Erdbeschreibung« von Hukelum existiert (I/4,156) –, erfaßt Fixlein der Ehrgeiz, diese Beschreibung selbst an Büschings Stelle zu verfassen oder doch Beiträge dazu. Als ein »neues gelehrtes Opus« nimmt er die Beschreibung einer dem Dorf benachbarten Ruine in Angriff. Dieses »Zehntel von einem alten Raubschloß« (ebd.) besucht er einen Herbst lang täglich »wie ein revenant [...], um es auszuklaftern, ichnographisch zu silhouettieren, jeden Fensterstab und jeden restierenden Anwurf desselben genau zu Papier zu bringen«, bevor er sich im Winter an die Ausarbeitung seines »Architektonischen Briefwechsel[s] zweier Freunde über das Hukelumische Raubschloß« macht. Dieser soll, ergänzt durch »einige Zeichnungen der weniger steil- als waagerechten Mauern«, publiziert (und rezensiert!) werden (ebd.). Am »umgefallenen Raub-Louvre« hat, so mutmaßt der Biograph, Fixlein mehr Freude als der Besitzer einst am aufrechtstehenden (ebd.). Glücklicher noch als das Verfassen von Büchern macht ihn deren Entwurf – eine Empfindung, die sein Biograph teilt (I/4,81). Fixleins Entwürfe für Bücher (I/4,82f., 89) bestehen aus Ratschlägen an Gelehrte, »was sie zu schreiben hätten in der Gelehrtengeschichte«, und empfiehlt zur Orientierung bei der Suche nach neuen Ideen Werke über allerlei Themen: Hommels Register »von Juristen [...], die Hurenkinder gewesen«, Bernhards Register »von Gelehrten, deren Fata und Lebenslauf im Mutterleibe erheblich waren«, Bailets Auflistung der Gelehrten, »die etwas hatten schreiben wollen«, Ancillons Liste derer »die gar nichts geschrieben, sowie das Verzeichnis des Lübeck-

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schen Superintendenten Götze von Gelehrten, »die Schuster waren«, »die ersoffen« usw. (I/4,82).4 Fixlein schweben analoge Untersuchungen vor: z.B. von Gelehrten, die ungelehrt waren – von solchen, die ihr eignes Haar getragen – von Zopfpredigern, Zopf-Psalmisten, Zopfanalisten etc. – von Gelehrten, die schwarzlederne Hosen, von anderen, die Stoßdegen getragen – von Gelehrten, die im eilften Jahre starben – im zwanzigsten – einundzwanzigsten etc. im hundertfunfzigsten, wovon er gar kein Beispiel kenne [...] – von Gelehrten, die eine noch abscheulichere Hand als andere Gelehrte schrieben [...] – oder von Gelehrten, die einander in keine Haare gerieten als die am Kinn [...] (I/4,82f.).

Kurz: Fixlein kreiert eine ganze imaginäre Bibliothek aus noch schreibbaren Büchern, die sich insofern selbst zumindest virtuell multipliziert, als es sich bei den Gegenständen der imaginierten Abhandlungen um Gelehrte, also um potenzielle Verfasser von Texten (respektive um Verfasser potenzieller Texte) handelt. Wer über Schriftsteller schreibt, schreibt implizit oder explizit auch über deren Werke – und potenziert dadurch sein eigenes Schriftstellertum.5 Spricht aus dem Zusammentragen der Informationen, die zu solchen BuchEntwürfen stimulieren (und die in die Fußnoten der Biographie eingegangen sind; vgl. I/4,82, 83), schon eine ausgeprägte Sammelfreude, so bekundet sich diese bei Fixlein auch anläßlich von Makulaturpapier. Er besorgt sich Hefte von Makulaturbögen aus dem Kramladen, entziffert sie, hat ein Faible für aus bedruckten Papieren hergestellte Objekte und wünscht sich etwa, es gebe einen deutschen Übersetzer französischer Papierschürzen. Aus der entzifferten Makulatur bezieht Fixlein nicht zuletzt Informationen und Anregungen zu neuen Gegenständen, die er traktieren will (I/4,89). Seine Bewunderung gilt all denjenigen, die aus kompletten Büchern das herausschneiden, was sie gebrauchen können. Diese Einstellung gegenüber dem Buch als materiellem, in Blätter zerfallendem, als Folge solcher Fragmentierung aber gerade zu neuer Produktivität stimulierendes Objekt gleichen dem Interesse des Biographen von Gotthelf Fibel, der die Informationen zu seiner Lebensbeschreibung ja weitgehend aus Altpapieren bezieht. Die Freude an der Lek––––––– 4

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Vgl. dazu Andreas Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003, S.124: Fixleins »enzyklopädisches Schreibprojekt« beruhe auf den »sekundären Aufschreibesystem[en] der Gelehrtenrepublik«, nämlich der »Literaturzeitung« (I/4,71) und dem »Meßkatalog, den er jährlich statt der Bücher desselben kaufte« (I/4,89). Fixleins »selbstgemachte Enzyklopädie« bestehe darin, »Buchprojekte unter großen Namen zu entwerfen, als Bausteine nämlich einer alternativen ›historia litteraria‹ [...]« (Kilcher, 124). Hinsichtlich der Bedeutung, die erfundene Autoren und ihre Werke in Jean Pauls Werken einnehmen, liegt ein Vergleich mit den Autor-Fiktionen von Jorge Luis Borges nahe.

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türe des Meßkatalogs, der als Ersatz für die in diesem verzeichneten, aber unerschwinglichen Bücher herhalten muß, verbindet Fixlein mit Wutz (I/4,89). Es ist – wenngleich auf verschrobene Weise – der Geist der Enzyklopädie, der sich in Fixlein verkörpert. Er ist einem Ideal umfassender Bildung verpflichtet, das sich in ungebremster Lese- und Studierlust manifestiert. Sein enzyklopädischer Horizont ist dabei ein Mikrokosmos, in dem sich – wie im Fall anderer Jean Paulscher Mikrologen – der Makrokosmos spiegelt.6 Fixlein verknüpft das Projekt enzyklopädischen Schreibens mit dem autobiographischen Schreibens. Im Zeichen dieser Synthese erscheint der Mikrokosmos seiner eigenen Lebenswelt als Universum im verkleinerten Maßstab, und die Form des Zettelkastens, in denen seine Autobiographie Gestalt annimmt, als mikrologisches Pendant kosmographischer Darstellungsformen.7 In einem biographischen Zettelkasten, der Basis seiner später vom Erzähler verfaßten Biographie, verzeichnet Fixlein die wichtigen Stationen seines Lebens, wobei gerade Kleines und Unscheinbares berücksichtigt wird (vgl. I/4,83f., 90f., 164f.). Fixleins lebhafte Gestik und Mimik beim Schreiben von Entwürfen zu Büchern (Kopfwackeln, Steißhüpfen, Zopfsaugen etc.; vgl. I/4,89) verdeutlicht, daß er sich buchstäblich mit Leib und Seele auf die Bücher einläßt. Seine Faszination durch Buch-Seelen und Buch-Leiber paßt dazu. Diese schlägt sich nicht zuletzt in seiner Bücher-Sammelwut nieder: Auch sammelte der Quintus vieles: er hatte eine schöne Kalender- und Katechismus- und Sedezbüchersammlung – auch eine Sammlung von Avertissements, die er angefangen, ist nicht so unvollständig, als man sie meistens antrifft. Er schätzet sehr sein alphabetisches Lexikon von deutschen Bücherpränumeranten [...]. (I/4,82)

Der Erzähler nimmt Fixleins Geschichte zum Anlaß einer Würdigung solcher Autoren, die sich mit den Schriften anderer beschäftigen und sich in deren Spuren bewegen, statt völlig Neues schöpfen zu wollen. Ihr Leben sei ruhi––––––– 6

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Vgl. dazu Andreas Kilcher, Mathesis und Poesis, S.123: Fixlein »radikalisiert das Profil des mikrologischen Enzyklopädisten. Zu Fixleins Mikrologisierungsstrategien gehört, [...] nur scheinbar paradox, gerade seine enzyklopädische Bildung.« Vgl. Kilcher, S.124f.: »Fixlein betreibt Autobiographie im Stil – oder auch anstelle – der Enzyklopädie. Mit der Disposition der Kapitel in ›Zettelkästen‹ zitiert Jean Paul ein klassifikatorisch-taxonomisches Ordnungsverfahren, das aus einem paradigmatischen Bruch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Die Logistiken, Inventarisierungsverfahren und Aufschreibesysteme der benennend-klassifizierenden Enzyklopädistik sind ›Naturgeschichte‹, ›Herbarien‹, ›Naturalienkabinette‹ und Zettelkästen. [...] Der Zettelkasten wird zum enzyklopädischen Anordnungsprinzip der Lebensgeschichte.«

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ger, da es nicht den Beunruhigungen durch schwankende Kreativität ausgesetzt sei und dennoch ein Ziel und damit eine Rechtfertigung habe.8 An Tagen, die nicht dem eigenen Schreiben gewidmet sind, betreut Fixlein die ABC-Schützen der nahen Schule, dient dem Reich der Buchstaben also auf ganz fundamentale Weise (I/4,166). Das ABC als das im übertragenen Sinn Elementare aller Schriften liegt ihm ebenso am Herzen wie die Materialien, auf welche und mit welchen Texte geschrieben werden. Er macht seinen Gast und Biographen unter anderem mit einer neuen Schrift bekannt, die er selbst entwickelt hat und deren einzelne Lettern er in Kupferplatten sticht, um sie in den Kanzleien zu verbreitern. Aus einem »umgekehrten lateinischen S« lassen sich nach seinem System »alle Anfangsbuchstaben der Kanzleischrift« entwickeln – aus einer Art Fragezeichen also (I/4,167).9 Die Faszination durch die Gestalt der Buchstaben verbindet ihn natürlich mit Gotthelf Fibel, aber auch mit dem Autor Jean Paul selbst, der nach eigenem Bericht als Kind eine besondere Vorliebe für ABC-Bücher hatte.10 Fixleins Schön-Schrift (ebd.) ist eine weitere Bestätigung dafür, daß ihm die somatische Dimension des Schreibprozesses und das konkrete Erscheinungsbild des Geschriebenen ebenso wichtig sind wie Inhalte, Themen und Ideen. Als Erfinder einer neuen Schriftart sieht sich Fixlein zudem ebenso in den Spuren jenes legendären Erfinders der Schrift als solcher, den Jean Paul mehrmals ausdrücklich würdigt, wie er sich nach eigener Wahrnehmung als Kompilator von Makulatur unter die produktiven Autoren einreiht.

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»Ein Mensch, der ein Buch macht, hängt sich schwerlich; daher sollten alle reiche Lords-Söhne für die Presse arbeiten: denn man hat doch, wenn man zu früh im Bette erwacht, einen Plan, ein Ziel und also eine Ursache vor sich, warum man daraus steigen soll. Am besten fähret dabei ein Autor, der mehr sammelt als erfindet – weil das letztere mit einem ängstlichen Feuer das Herz kalzinieret –; ich lobe den Antiquar, Heraldiker, Notenmacher, Sammler [...]« (I/4,165f.) Zum Motiv der Schrift-Erfindung vgl. auch die Selberlebensbeschreibung wo es über den kleinen Jean Paul heißt: »Da die uferlose Tätigkeit unseres Helden sich mehr auf geistige als auf körperliche Spiele warf [...]: so erfand er auch statt neuer Sprachen neue Buchstaben. Er nahm geradezu die Kalenderzeichen – oder geometrische aus einem alten Buche – oder chemische – oder neueste aus seinem Kopfe und setze daraus ein ganz neues Alphabet zusammen.« (I/6,1059) Vgl. wiederum die Selberlebensbeschreibung: »Noch erinnere ich mich der Winterabendluft, als ich aus der Stadt endlich das mit einem Griffel als Zeilenweiser versehene Abcbuch in die Hand bekam, auf dessen Deckel schon mit wahren goldnen Buchstaben (und nicht ohne Recht) der Inhalt der ersten Seite geschrieben war, der aus wechselnden roten und schwarzen bestand; ein Spieler gewinnt bei Gold und rouge et noir weniger an Entzücken als ich bei dem Buche, dessen Griffel ich [nicht] einmal anschlage.« (I/6,1052)

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Fixleins Umgang mit Makulatur kann als ein Indiz für sein Bewußtsein von der Abhängigkeit eines jeden Autors von Prätexten gelten,11 und so wie Fixlein einerseits durch seine Faszination durch das Handgreifliche an Texten charakterisiert ist, hält es doch andererseits vor allem mit dem Potenziellen, den ausgedachten, den zukünftigen Büchern. Gelehrte Abhandlungen, existente oder imaginäre, nehmen für ihn die Stelle ein, die bei anderen Schriftstellerfiguren poetische Werke besitzen. Insofern trägt der durch Fixlein repräsentierte Autorschaftstypus zur Entgrenzung zwischen Dichtung und Wissenschaft bei. Anläßlich der Fixlein-Biographie erfolgt die wichtige Feststellung, ein Autor sei »der Stadtpfarrer des Universums«, seine Studierstube eine Sakristei, der »Preßbengel« die Kanzel (I/4,165). Das »Büchermachen« – einem Begriff, unter den der gesamte Produktionsprozeß vom Planen noch rein imaginärer Bücher bis hin zur konkreten buchdruckerischen Gestaltung zusammengefaßt wird – erscheint als höchstes Glück, ja als Remedium gegen Lebensmüdigkeit (I/4,166). Jean Pauls der »Fixlein«-Biographie beigefügte poetologische Abhandlung Über die natürliche Magie der Einbildungskraft (I/4,195ff.) korrespondiert der Geschichte Fixleins inhaltlich und ergänzt sie. Wenn es hier u.a. heißt, dem wahren Dichter sei das ganze Leben dramatisch (I/4,198), so läßt sich Fixlein als Kronzeuge dieser die Alltagswelt ›magisch‹ verwandelnden Haltung aufrufen. FRAISCHDÖRFER – Der Kunstrat Fraischdörfer aus Haarhaar, den der Vorredner Jean Paul Fr. Richter (siehe dort) auf seiner Wanderung von Hof nach Baireuth dabei antrifft, wie er unter einem Galgen botanisiert (I/4,19), ist Vertreter eines klassizistischen und aus Jean Pauls Sicht kalten Kunstideals (was schon die etymologische Nähe seines Namens zum Wortstamm um »freis«/»frais« andeutet).12 Er erweist sich als ästhetischer Antipode Jean Pauls, nimmt dessen Werke allerdings mit mißbilligender Neugier zur Kenntnis (→ »Jean Paul«). Fraischdörfers zweifelhafter Ruhm beruht auf ––––––– 11

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Vgl. nochmals die Selberlebensbeschreibung: »Den gegenwärtige[n] Schriftsteller zeigte schon im kleinen eine Schachtel, in welcher er eine Etui-Bibliothek von lauter eignen Sedezwerkchen aufstellte [Sedez=Kleinformat], die er aus den bandbreiten Papierabschnitzeln und den Oktavpredigten seines Vaters zusammennähte und zurechtschnitt. Der Inhalt war theologisch und protestantisch und bestand jedesmal aus einer aus Luthers Bibel abgeschriebenen kleinen Erklärnote unter einem Verse; den Vers selber ließ er im Büchelchen aus.« (I/6,1058) Dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm zufolge (Bd.4, 1878, Nachdruck: München 1984, Sp.119), ist »freis, freise« (bair.: frais), auch vergröbert zu ›freisch‹, ›fraisch‹ (Sp.120), das dt. Äquivalent zu lat. tentatio, discrimen, periculum.

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seiner Tätigkeit als eifriger und tadelsüchtiger Kunstkritiker.13 Jean Paul ist besorgt, Fraischdörfer, der bereits entsprechende »deutliche Winke« fallengelassen hat, wolle ihn rezensieren (I/4,21). Fraischdörfer ist zwar ein homme de lettres, aber einer, dessen eigenständiges Empfindungs- und Denkvermögen so wenig ausgeprägt ist, daß er sich von beschriebenem Papier fremder Provenienz nährt wie ein Parasit, ohne seine Lektüren durch verwandelnde Verarbeitung produktiv zu nutzen. Auch er sammelt Bücher und Exzerpte – aber bei ihm gehen diese nicht in die Zirkulation des Lebens ein, sondern sind dessen Surrogat. Fraischdörfer ist eine Kopie fremder Texte. Fraischdörfer gestand mir, steckte einer seine Studierstube mit den Exzerpten und Büchern in Brand, so wären ihm auf einmal alle seine Kenntnisse und Meinungen geraubt, weil er beide in jenen aufbewahre; daher sei er auf der Straße ordentlich unwissend und dumm, gleichsam nur ein schwacher Schattenriß und Nachstich seines eignen Ichs, ein Figurant und curator absentis desselben. (I/4,21)

HANS VON FÜCHSLEIN – Der Subrektor Hans von Füchslein soll eigentlich die vom Gerichtshalter im Auftrag des Patronatsherrn von Aufhammer ausgestellte Vokation zum Pfarrer von Hukelum erhalten, doch der Gerichtshalter schreibt aus orthographischer Unkenntnis versehentlich »Fixlein« statt »Füchslein« auf den Brief und läßt das »von« weg, weil Aufhammer Füchsleins Adel anzweifelt (I/4,134). So wird Fixlein irrtümlich ernannt, und während er sich überschwenglich bei Aufhammer bedankt, verfaßt der enttäuschte Füchslein einen satirischen Brief an Aufhammer, in den er »einige Verbalinjurien« einflicht – so daß an eine Korrektur des Irrtums bei der Beförderung nicht zu denken ist (I/4,136). Füchslein wirkt als Rezensent, er sitzt »im Wespenneste der neuen allgemeinen deutschen Bibliothek« (I/4,137), und dem glücklicheren Rivalen Fixlein drohen von seiner Seite giftige Rezensionen. Darum zögert Fixlein, seine Werke zu publizieren. Jean Paul beschreibt die Beziehung zwischen Autor und Rezensent mit Insektenmetaphern. Sollte einmal der Pfarrer sich in einen Autor verpuppen: so kann die Schlupfwespe herausfliegen und ihren Stachel in die Puppe drücken und ihre Brut an die Stelle des erstochenen Schmetterlings setzen. Da der Subrektor [...] drohte, seinen Kollegen zu rezensieren: so wundere sich das Publikum nicht, daß es Fixleins errata und

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»Ein Mann muß sich wenig in der literarischen Weltgeschichte umgesehen haben, dem man es erst zu sagen braucht, daß der Kunstrat sowohl in der neuen allgemeinen deutschen bibliothekarischen als in der haarhaarischen, scheerauischen und flachsenfingischen Rezensier-Faktorei mitarbeite als einer der besten Handlungsdiener. Wie man einen Kürbis in einen Karpfenteich als Karpfenfutter einsetzt, so senkt er seinen nahrhaften Kopf in manches ausgehungerte Journalistikum ein als Bouillonkugel.« (I/4,20)

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seine masorethischen exercitationes noch bis diese Stunde nicht in Händen hat. (ebd.)

JOSUAH FREUDEL – Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Dämon, ein selbständiger Text in der Sammlung von »Jus de tablettes« (I/4,206–218), besteht aus einer kurzen Vorbemerkung »Jean Pauls« (siehe dort) sowie der Schrift Freudels selbst – einem »zierlichen Klaglibell, worin ein zerstreueter Gelehrter ohne sein Wissen seine Zerstreuung schildert«.14 Das Dokument, so erklärt der Erzähler, habe sich in der Kirchenagende der Sakristei zu Hukelum gefunden und sei »durch die Güte des Herrn Pfarrers Fixlein« in seine Hände gekommen (I/4,206). Nicht allein der paradox klingende Hinweis, hier habe jemand »ohne sein Wissen« geschrieben, macht den Brühwürfel zu einer humoristischen Etüde über das Thema Autorschaft. (Kann man so zerstreut sein, daß man unwissentlich einen Text produziert? Und wer produziert dann – etwa der im Titel genannte Dämon in Abwandlung des von Jean Paul auch in den Teufelspapieren parodistisch eingesetzten Inspirationstopos?) Freudel hat sich aus Zerstreuung in die Hukelumer Kirche einsperren lassen und verfaßt seine Klagschrift, um sich die Langeweile zu vertreiben, bis jemand ihn befreien kommt (ebd.). Er erinnert sich unter anderem an eine mittlerweile vergangene Zeit, da er Verse schrieb (I/4,207), was er aber zugunsten geistlicher Prosa aufgab, um Pfarrer werden zu können. Aus Freudels Bericht über die fatalen Folgen seiner Zerstreutheit erfährt man unter anderem, daß diese ihn um seine Karriere als Pfarrer gebracht hat, er als zeitweiliger Prediger also immerhin eine Art Kollege Fixleins (und »Jean Pauls«) ist: Da er anläßlich einer Predigt unversehens ins Nachdenken geriet, darüber aber seine Pflicht versäumte und peinlicherweise ganz verstummte, stahl er sich unter Hinterlassung seiner leeren Perücke davon – bot seinem Kanzelpublikum also die Hülse eines Predigers, statt selber einer zu sein. In Freudel trifft der Leser auf den Repräsentanten eines Predigertums, dem es nicht auf der Übermittlung von Botschaften, sondern allein auf seine gehobene soziale Stellung ankommt, das eben darum aber ein nur scheinbares Predigertum ist.15 ––––––– 14

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Die Texte über Fälbel und Freudel entstanden 1790, kurz vor der Niederschrift des Wutz, dem sie eingefügt wurden (vgl. I/4,1228f.). Vgl. dazu Ursula Naumann, Predigende Poesie, S.92: über Jean Pauls Predigerfiguren: Deren »Dasein ist ein beständiger Kampf um die Wahrung des Scheins geistlicher Würde.« – »Nicht zufällig sind die Szenen aus dem ›Freudel‹, die Jean Paul als besonders komisch empfand, und der eher tragik-komische [...] Unfall aus dem ›Hartknopf‹ an den gleichen Ort gebunden: an die Kanzel. Dort ist der Predi-

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Nach dem Bericht über eine Reihe weiterer Mißgeschicke rückt Freudel seinem Bericht »eine hübsche Satire« über den ihm unsympathischen Lohgerber Ranz ein, »die ein Unbekannter im Manuskript herumschickt« und die er »unkastriert« einrückt (I/4,215f.); die Satire über den Vielfraß stammt aber eben von »Jean Paul«, der sich mit der Wiedergabe des Einschubs in Freudels Text demnach selbst zitiert.16 Freudel aber hat nach der Mitteilung der Satire zu seinem Ärger feststellen müssen, daß er über der Beschäftigung mit dem Text den erwarteten Kirchendiener und damit die Möglichkeit seiner Freilassung verpaßt hat (I/4,218). Die Zeit wurde über der Beschäftigung mit Lektüre und Schreiben zwar vertrieben und vergessen – aber so gründlich, daß es nun weitere Wartezeit zu bewältigen gilt. Wenn »Jean Paul« den Text Freudels zu seinen »Aufsätzen und Effekten« schlägt und dies »ohne Diebstahl« tun zu dürfen glaubt, so rechtfertigt er dies damit, daß Freudel der Klageschrift seinerseits einen satirischen Text von »Jean Paul« eingefügt hat; Schriftsteller und Figur bedienen sich also gegenseitig beim jeweils anderen, und ersterer macht, »da commixtio und confusio ein modus adquirendi ist, aus rechtlichen Gründen aufs ganze Anspruch« (I/4,206). Und noch ein weiterer Grund für die Requirierung des Freudelschen Textes für die Aufsatzkollektion »Jean Pauls« wird angeführt; der Text steht auf einem Papier, das der Pfarre von Hukelum gehört, über die ihrerseits Pfarrer Fixlein verfügt, der »Jean Paul« den Zettel ja gegeben hat; die »Gedanken«, die auf einem Papier stehen, so »Jean Pauls« Argument, seien als dessen »acessorium« zu betrachten, gehören also zum Papier (ebd.). FLORIAN FÄLBEL17 – Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg (I/4,226–257), ein Bericht über eine Gruppenreise, ist aus zwei Typen von Textbausteinen komponiert: Der episodische Bericht des Rektors, in der dritten Person gehalten – so daß der Rektor gelegentlich durch Parenthesen daran erinnern muß, er sei »(der Verfasser dieses)« (I/4,229) – wird eingeleitet und immer wieder unterbrochen durch »Jean Paul« selbst. Dieser bekennt einleitend seine Vorliebe für kleine, nur aus wenigen Seiten bestehende Bücher, die ihn dazu motiviert habe, den Text des Rektors zu veröffentlichen. –––––––

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ger nur Repräsentant, nur Amtsperson, und geht der Mensch ganz in seiner Rolle auf. Dort ist deshalb auch der größte Kontrast zwischen wahren und scheinbaren Verhältnissen möglich [...]. Als Sinnbild des Amtes ist die Kanzel darum zugleich Zeichen der Gefangenschaft, in die es das Individuum setzt.« (Ebd., S.93) Vgl. dazu Günter Voigt: Die humoristische Figur bei Jean Paul. 2.Aufl. (= JJPG 4 (1969)), S.47f. Zu Fälbel vgl. Günter Voigt: Die humoristische Figur bei Jean Paul. S.46f.

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Es teilt gut geschriebene Nachrichten von einer Reise mit, die ein Muster sein kann, wie Schulleute mit den Säuglingen und Fechsern ihrer Seele zu reisen haben; auch sind verständige Schulmänner von jeher so gereiset. (I/4,226)

Anfangs habe er den Schulgelehrten-Stil des Rektors »aus dem Deutschen ins – Deutsche« übersetzen wollen, dann aber darauf verzichtet, den Niedergang des »lateinischen und ciceronianischen Stils« durch eine solche Maßnahme zu beschleunigen; halte dieser sich doch notdürftig im deutschen Schrifttum noch, da er aus dem lateinischen »längst entwichen« sei (ebd.). Von einem Mitglied der Fälbelschen Schüler-Reisegruppe hat »Jean Paul« seine Informationen bezogen. Unterbrechen will er den Rektor, um sich über bloßem Abschreiben des Programms nicht zu langweilen und einzelne Aussagen richtigzustellen (I/4,228). Fälbels Bericht entsteht etappenweise während der Reise; im Wirtshaus resorbierte er mit den lymphatischen Milchgefäßen des Papiers allen gelehrten Milchsaft, den eine Reise kocht, und unterweges hielt er seine Schreibtafel den wichtigsten Exkrementen des Zufalls und Bleistifts unter und fing auf, was kam. (I/4,227)

In Begleitung eines Dozenten, seiner Tochter, seiner zwölf Primaner und einiger Hunde bereist Fälbel das Voigtland, allerdings – aus Geldmangel und abklingendem Interesse – nicht den Fichtelberg, das ursprüngliche Reiseziel (I/4,256f.). Zweck des Unterfangens ist nicht eigentlich die Belehrung der Schüler, sondern die anzufertigende Reisebeschreibung des Rektors, der zuvor in einem lateinischen Osterprogramm dargelegt hat, »daß schon die ältesten Völker und Menschen, besonders die Patriarchen und klassischen Autoren, sich auf Reisen gemacht«, um durch solch gelehrte Einlassungen seine »Schulreise im voraus zu rechtfertigen« (I/4,228). Der »enge Flächeninhalt« des Schulprogramms hatte ihm die Ausbreitung weitläufiger typographischer und statistischer Kenntnisse nicht erlaubt, so daß er seinen Reisebericht nun als ›geräumigeres‹ Werk anlegt, welches das zunächst Ausgesparte aufnehmen kann; mitgeteilt werden »mehr die Geschichte als die Entdeckungen der Pilger« (ebd.). Fälbels Interesse gilt vor allem nutzlosem Detailwissen, und er neigt dazu, Banales zum lokalen Kuriosum zu erklären. Zu humoristischen Szenen kommt es vor allem, wenn der patriarchalische, kauzige und geizige Fälbel in Wirtshäusern möglichst sparsam zu wirtschaften sucht. Auf dem Reiseweg läßt er seine Schüler geographische Schriften lesen und Karten studieren, so daß sich Erfahrungen und Lektüren unauflöslich durchdringen. Seine ehrgeizige Ausbildungsmethode besteht darin, »jeden Tag eine andere Wissenschaft kursorisch vorzunehmen«; so betrachtet man die Natur »unter

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Anleitung von Sturms Betrachtungen der Natur« (I/4,234); freilich wird der verlesene Text über die »belebende Kraft der Sinne« durch den aufziehenden Regen unversehens relativiert (ebd.). Die Reise durchs Voigtland verläuft gleichsam zwischen bereits beschriebenem und bedrucktem und noch zu beschreibendem Papier. Auf einen Besuch des Fichtelbergs verzichtet er, weil schon jemand anderer diesen beschrieben hat – der Konrektor Helfrecht aus Hof. Fälbel läßt auch seine Primaner das in der Natur und an den Menschen Beobachtete aufzeichnen und ausarbeiten; so arbeiten sie in Thiersheim an einer »Thiersheimer Flora« und »Fauna«, verfassen ein neues »Idiotikon der Sechsämter« (I/4,251). Fälbel selbst wird pausenlos von seinem Gelehrtenehrgeiz angetrieben; sein besonderes Interesse gilt den »Landesspitzbuben und Landesmördern«; er besichtigt »Gerichtsplätze und Rabensteine«, konsultiert »Kriminalakten und Diebslisten« und glaubt so, einen maßgeblichen Beitrag zur Historiographie seines Landes zu leisten (I/4,254). Ginge es nach ihm, so würden die bedeutsamen Gegenstände historischen Wissens unter den Vertretern des gelehrten Standes nach Rangordnung aufgeteilt: die Rektoren wären zuständig für die Spitzbuben und Gehenkten, die Unterlehrer für die Landplagen (der Konrektor für die Pestilenzen, der Tertius für die Viehseuchen, Kantor, Quartus und Quintus dann für Wassers- und Hungersnöte sowie für Feuersbrünste) (I/4,255). Einer von Fälbels Schülern – »Jean Pauls« Informant – macht sich in Anschluß an die Reise an ein eigenes Werk, eine »Ichnographie des erhabenen Natur-Festungswerks«, von der »Jean Paul« hofft, es werde bald veröffentlicht (I/4,256). »JEAN PAUL«, BIOGRAPH FIXLEINS18 – Der Biograph Fixleins lernt seinen Helden persönlich kennen, als dieser 1794 auf dem Gipfel seines bescheidenen dörflich-familiären Glücks, eine letzte Krise aber noch nicht ausgestanden ist; in die gemeinsam verbrachte Zeit fällt Fixleins Entdeckung seines wahren Alters, derzufolge er glaubt, bald sterben zu müssen, und schwer erkrankt – bis ihn eine ›närrische‹ Kur genesen läßt (I/4,181). Der Biograph selbst initiiert diese Kur, um seinem Helden das Leben zu retten; sie besteht darin, daß er durch seine Mutter und mittels einiger Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit in der Nacht, die über sein Weiterleben entscheidet, künstlich in seine Kindheit zurückversetzt wird (I/4,182). Ein eingebildeter Kranker, genest Fixlein also auch durch seine Imaginationen – nicht zufällig verweist ––––––– 18

Vgl. zu dieser Figur insges. Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001.

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sein Biograph anläßlich der die Welt verwandelnden Phantasie seines Helden auf die dem Fixlein beigefügte Abhandlung Über die natürliche Magie der Einbildungskraft (vgl. I/4,175). Dem Leser stellt er sich als Verfasser der Hundposttage (des Hesperus also) vor und erinnert anläßlich eines Gesprächs mit Thienette daran, daß dort sein Rang bekannt gemacht worden sei – gemeint ist sein Rang als Sohn des Fürsten von Flachsenfingen (I/4,161, vgl. auch 123). Der Hesperus war vor dem Fixlein erschienen; die Anspielungen auf »Jean Pauls« Identität als Fürstensohn setzen die Bekanntschaft des Publikums mit diesem Roman im Fall letzterer Anspielung voraus. An einer anderen Stelle behandelt der Erzähler seine familiäre Vertrautheit mit dem Fürsten noch als ein erst mit dem Erscheinen der Hundposttage »1795 zu Ostern« zu lüftendes Geheimnis (vgl. I/4,123). Die Schreibzeit des Biographen verläuft von dem Moment an, als Fixlein und Jean Paul sich kennenlernen, parallel zur Handlungszeit, so daß der Erzählerbericht das Miterleben und die Überwindung jener Krise durch seine Gliederung in einzelne Abschnitte spiegelt; der Erzähler steht der Fiktion nach nicht über den Ereignissen; er ist in sie verwickelt und innerlich an ihnen beteiligt. Rückblickend wird mit der Selbsteinführung des Biographen auch deutlich, wer es war, der sich zuvor gelegentlich in den Bericht über Fixleins Leben eingeschaltet hat, so etwa mit einer »Freie[n] Note von mir« (I/4,124, 125 u.ä.), als »Dramaturg des Schauspiels« (I/4,129) oder als jemand, der den Gerichtshalter verhörte (I/4,134). Im Mai 1794 begibt sich »Jean Paul« (der seinen Bericht ja zeitnah zu den jeweiligen Ereignissen verfaßt) auf eine Wanderung, die ihn auch zum flachsenfingischen Superintendenten und Konsistorialrat führt; so erfährt er von Fixleins Lebenslauf und liest dessen dort vorliegendes Bittschreiben um den Turmgiebel. Neugierig auf einen so »originelle[n] Menschen, diesen »Kauz«, der »in seinem Entenpfuhl und Milchbad von Leben« plätschert (I/4,159), bricht er in Gesellschaft des Superintendenten und einiger anderer Begleiter nach Hukelum auf und lernt Fixlein am Tag vor dessen Investitur kennen. Als Augenzeuge der folgenden Ereignisse wie als Gesprächspartner der Personen, vor allem Thienettes, verschafft er sich die Informationen zu seiner Lebensbeschreibung, bedient sich der Fixleinschen Zettelkästen mit Lebenserinnerungen – und vergißt über der Arbeit manchmal, daß er sich gerade an dem Ort befindet, über den er schreibt (vgl. I/4,165). Fixlein hat den Vorschlag, sich als den Helden einer Lebensbeschreibung zur Verfügung zu stellen und dem Biographen zu den nötigen »Fleischfarben« in seiner Darstellung zu verhelfen, zwar zunächst mit einer Bescheidenheitsfloskel beant-

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wortet, ist aber erwartungsgemäß entzückt und auskunftsfreudig – vor allem, weil er hofft, so das Interesse der Leserwelt für seine eigene Abhandlung über das Hukelumer Raubschloß zu gewinnen (vgl. I/4,164). Zwischen erzählendem Biographen und biographisch bearbeitetem Helden ergeben sich allerlei Spiegelungsbezüge: Teilweise arbeitet Fixlein synchron zum schreibenden Biographen an seinen Predigten; in seiner Eigenschaft als Autor versteht sich der Biograph ebenfalls als Prediger (vgl. I/4,165). Gemeinsam verwalten und registrieren die beiden die Einnahmen, die der Pfarre durch die geplante Anbringung eines neuen Turmknopfes zufließen (um auf einem dem Knopf eingefügten Namensregister eingetragen zu werden, spenden die Dörfler großzügig; vgl. I/4,167). In ein besonders enges Verhältnis zu Fixleins Familie tritt »Jean Paul« vor allem dadurch, daß man ihn bei der in die Zeit seines Besuchs fallenden Geburt des ersten Sohnes zum Gevatter bittet. In einem antizipatorischen Traum in der Geburtsnacht erlebt der Besucher die Szene bereits, und als er erwacht, tritt Fixlein wirklich mit der Bitte an ihn heran (I/4,158). Zwischen dem Bericht über sein Eintreffen in Hukelum und über den Abschied vom mittlerweile genesenen Fixlein und seiner Frau fällt der Erzählerbericht immer wieder ins Präsens; über den gefühlvollen Abschied selbst berichtet er dann rückblickend, wobei die Blicke der Figuren in der geschilderten Szene selbst in die Zukunft gerichtet sind. So überlagern sich die verschiedenen Zeitdimensionen; so erweist sich die Gegenwart des Erzählers als Schnittpunkt der Fluchtlinien von Erinnerung und Antizipation. Ausdrücklich ermutigt der Biograph, »Gevatter« und Freund Fixlein dazu, seine Abhandlung über das Raubschloß zu vollenden und sie dem Dragonerrittmeister von Aufhammer zuzueignen. Auch soll Fixlein weiter seine Zettelkästen führen, damit der Biograph – wie er es in Aussicht stellt – in seine »biographische Kommode noch nach Jahren einen neuen Kasten einzuschieben« vermag (I/4,187). Fixleins Biograph teilt mit seinem Helden dessen Faible für die Schrift in ihren verschiedenen materiellen Erscheinungsformen. Fixleins neue Schrifttype findet natürlich seinen Beifall (I/4,167). Zudem ist »Jean Paul« durch eine Neigung charakterisiert, Natur- und Schriftreich zu analogisieren, ja zu identifizieren, und er findet seine Freude an solchen Tiernamen, welche die bezeichneten Arten mit der Buchwelt assoziieren. [...] [I]ch preise den Titelbarsch (ein Fisch, namens perca diagramma, wegen seiner Buchstaben auf den Schuppen) und den Buchdrucker (ein Speckkäfer namens scarabaeus typographus, der in die Rinde der Kienbäume Lettern wühlt) – beide brauchen keinen größern oder schönern Schauplatz der Welt als den auf dem Lumpenpapier und keinen andern Legestachel als einen spitzigen Kiel, um damit ihre vierundzwanzig Lettern-Eier zu legen. (I/4,166)

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Anlaß dieses kleinen Exkurses ist die Legitimation der Sammler und Kompilatoren unter den Schriftstellern. »Jean Pauls« Faszination durch die Materialität von Schrift gilt aber auch den Drucktypen, deren Zahl und Gewicht, der Relation von Buchstaben und Interpunktionszeichen sowie der Beziehung zwischen Textgattung und verwendeten Drucktypen. Fixleins Plan, einen ›räsonierenden Katalog‹ der deutschen Druckfehler zu erstellen, kommentiert er mit einem praktischen Rat: ›es wäre gut und gründe sich auf die Regel, nach der man ausgezählet hat, daß z.B. zu einem Zentner Cicero-Fraktur vierhundertfunfzig Punkte, dreihundert Schließquadrätchen etc. nötig sind; aber er sollte doch in politischen Schriften und Dedikationen nachrechnen, ob für einen Zentner Cicero-Fraktur nicht funfzig Ausrufungszeichen viel zu wenig wären, so wie sechstausend Spatia in philosophischen Werken und in Romanen.‹ (I/4,166)

JEAN PAUL FRIEDRICH RICHTER (→ »Jean Paul«) – Das dem »Fixlein« vorangestellte »Billet an meine Freunde anstatt der Vorrede « (I/4,9–13), datiert auf den 29. 6. 1795, wird mit dem Namen Jean Paul Friedrich Richter unterzeichnet – »aus Achtung für die Rechte eines Billets« (I/4,13); Entsprechendes gilt auch für die »Geschichte der Vorrede zur zweiten Auflage« (I/4,14– 41). Das »Billet an meine Freunde« deklariert einleitend die Leser zu den Freunden des Autors (zu seinen »Gast- und Universitätsfreunden«, I/4,9), das Buch zu einem Geschenken an diese Freunde (das ihnen der Buchhändler auf Verlangen »gegen ein elendes Gratial« ausliefern wird), und sich selbst zu einem Widmungsschreiben, das praktischerweise auf eigens dafür freigehaltene Seiten gedruckt sei.19 Die Ankündigung der Fixlein-Geschichte wird zum Anlaß zentraler psychologischer und poetologischer Reflexionen – etwa über die »drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden« (I/4,10), über die »fixe Idee, die jedes Genie und jeden Enthusiasten wenigstens periodisch regiert« (I/4,11), über die »mikroskopischen Belustigungen« dessen, der sich mangels einer Gelegenheit zu himmelsstürmerischen Aufflügen ins Kleine und Kleinste vertieft, um zu entdecken, daß ein »Tropfe Burgunder eigentlich ein rotes Meer, der Schmetterlingsstaub Pfauengefieder, der Schimmel ein blühendes Feld und der Sand ein Juwelenhaufe ist« (I/4,10). – Als Pendant ––––––– 19

Erläutert wird der Aufbau des Bändchens in einen »Mußteil« (der Begriff ist aus dem Erbrecht entlehnt; vgl. I/4,1141; den »Mußteil für Mädchen« bilden die beiden Erzählungen »Der Tod eines Engels« und »Der Mond. Phantasierende Geschichte«), den Bericht über Fixlein sowie »Einige Jus de Tablette für Mannspersonen«.

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des Begrüßungs-»Billets« fügt Jean Paul seinem gesamten Band abschließend noch ein »Postskript« hinzu (I/4,258–259), in dem er sich von seinen Leern verabschiedet und sich für die »so verschiedenen Pferde« entschuldigt, die »an den Wagen meiner Psyche [...] angeschirret sind« (I/4,259). Eine letzte Anrede gilt dem ungenannt bleibenden Freund Christian Otto (I/4,259). Die »Geschichte der Vorrede zur zweiten Auflage« berichtet über eine Fußreise des erzählenden Vorredners von Hof nach Baireuth, einem »Katzensprung über drei Poststationen«; Reisezweck war die »Zeugung einer Vorrede zur zweiten Auflage«, und der Vorredner nimmt seine Leser – genauer: seine »Nachwelt« nebst deren »Vorfahren« – mit auf die »baireuthische Kunststraße« (I/4,16). Solcherart »[...] im Webstuhl der Vorrede eingesperrt und mit dem Weberschiffchen webend« (I/4,16), synchronisiert er einmal mehr verschiedene Ebenen der Zeit: in der Vergangenheit gehalten ist sein Bericht über die Wanderung, die aber angeblich während des Berichts noch als Gegenwart fortdauert (er trägt vor sich her »die offne Schreibtafel [...], um die Vorrede, wie sie mir Satz für Satz einfiel, darin aufzufangen«, I/4,16f.), und die Zukunft des Lesers, welche ebenfalls Gegenstand der Erörterung ist. In den Bericht über die Wanderung eingeflochten sind Bausteine zur »Vorrede zur zweiten Auflage«, wie sie unterwegs notiert werden (vgl. I/4,18, 20). Als er Hof verläßt, sieht der schreibende Wanderer allerdings eine Dame, die vor ihm geht, ohne daß er ihr Gesicht sehen könnte; der Wunsch, sie einzuholen, lenkt ihn von seiner Vorredner-Arbeit immer wieder ab. Er trifft aber statt ihrer zunächst einen unter einem Galgen botanisierenden Herrn (I/4,19), der sich als der Kunstrat und Kritiker (→) Fraischdörfer aus Haarhaar erweist und auf dem Weg nach Bamberg ist. Haarhaar, so informiert »Jean Paul« in einer Fußnote, ist der Schauplatz des demnächst erscheinenden »Titan«, weshalb er Fraischdörfer auch gut kenne, dieser ihn hingegen nicht. Er stellt sich dem unsympathischen Fraischdörfer als »Egidius Zebedäus Fixlein« vor (I/4,21), und dieser nimmt die Gelegenheit wahr, den vermeintlichen Fixlein über die aus seiner Sicht zweifelhafte Korrektheit seiner von »Jean Paul« gelieferten Lebensbeschreibung auszufragen. Die Unterhaltung mit dem Kunstrat erweist die Lebensferne von dessen kaltem Ästhetizismus: so beklagt er, daß Gebäude, die für ihn »architektonische Kunstwerke« sind, von Menschen bewohnt werden (I/4,22). Der angebliche Fixlein nimmt die Kritik des Kunstrats an Jean Paul zum Anlaß, diesen zu rechtfertigen (I/4,23); als ihm Fraischdörfer eröffnet, »Jean Paul« habe über »Fixlein« eine Biographie verfaßt, fällt dieser aus der Rolle, ohne daß sein Gegenüber dies allerdings merkt, und spricht erklärend über ›schrei-

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bende Humoristen‹, ihre Figuren und ihre Leser (I/4,24). Auf der weiteren Wanderung vertritt Fraischdörfer gegenüber seinem Reisegefährten (dessen wahre Identität er zu ahnen beginnt) beharrlich die Position eines akademischen und unkonkreten Kunstverständnisses (»›es gebe weiter keine schöne Form als die griechische, die man durch Verzicht auf die Materie am leichtesten erreiche‹«, und es gebe »vortreffliche poetische Darstellungen ohne Stoff«, I/4,26), schlägt sich also auf die Seite der in der »Vorschule« als »poetische Nihilisten« charakterisierten Schriftsteller und Ästhetiker; er beruft sich u.a. auf Friedrich Schlegel.20 »Jean Paul« gibt Fraischdörfers Thesen wieder und setzt in Parenthese seine eigenen kritischen Kommentare gleich hinzu.21 Auch unterbricht er seinen Bericht um einer Rechtfertigung der »krummen Linie des Humors« willen und wendet sich gegen eine der humoristischen Schreibart inkommensurablen »zergliedernden« Manier mancher Kunstrichter (I/4,27). Sich vorübergehend wieder der Vorrede zuwendend, verfaßt er einen Absatz über Kant und die ihn resonierend umgebenden Hohlköpfe (I/4,30). Als beide Wanderer schließlich mit der Fußgängerin aus Hof zusammentreffen, erweist diese sich als Jean Pauls liebe Bekannte Pauline Oehrmann, die den Schriftsteller mit seinem richtigen Namen begrüßt, woraufhin Fraischdörfer verschwindet.22 Im Begriff, sich zu verheiraten, rührt Pauline als »weiche Braut« (I/4,35) den Dichter, der sie seinerseits durchs Erzählen rühren möchte; sie verkörpert als Pendant zum Kunstrat eine Leserschaft, der er sich eng verbunden fühlt. In ihrer Gegenwart verfaßt er – unter dem Vorwand, an einer Grabschrift zu arbeiten (I/4,36) – einen Text eigens für sie, den er ihr schließlich vorliest. (Sie hat, an männliche »Vernachlässigung« durch ihren mittlerweile verstorbenen Vater gewöhnt, geduldig das Ende der Schreiberei abgewartet.) Unter dem Titel »Die Mondfinsternis« ist dieser unterwegs entstandene Text in die »Geschichte der Vorrede ...« eingefügt; nach der Verlesung trennen sich Dichter und Zuhörerin; die Vorrede endet (I/4,42). Wie »die Mondfinsternis« für Pauline verfaßt wurde, so ist »Der Mond«, eine der Erzählungen aus dem »Mußteil« der »Pflegeschwester Philippine« dedi––––––– 20 21

22

Vgl. dazu die Erläuterung nebst Zitat in I/4,1145. Der Dissens zwischen Fraischdörfer als dem Verfechter einer stoff- und humorlosen »Vollkommenheit« der Form und dem humoristischen Autor eskaliert – bis hin zu stichelnden Ausfällen des Kunstrats gegen Jean Paul selbst und seine günstigen Rezensenten (I/4,27f.); innerlich beschimpft Jean Paul seinen Antipoden als eine »elende frostige Lothssalzsäule«, einen »ausgehöhlten Hohlbohrer« (I/4,28). Der Leser kennt Pauline, woran ihn eine Fußnote erinnert, aus der Vorrede zum »Siebenkäs«, in der von den Treffen Jean Pauls und Paulines berichtet wurde (I/4,31).

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ziert (I/4,50). – Die poetologische Abhandlung »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft« (I/4,195ff.) aus den »Jus de tablette« korrespondiert mit ihren Ausführungen über die verwandelnde und verklärende Macht der Phantasie und über die offene Grenze zwischen Erinnerung und Imagination der Geschichte Fixleins inhaltlich; ausdrücklich wird Fixlein auch mit dem dort Ausgeführten in Verbindung gebracht.23

––––––– 23

Mit dem Amts-Vogt Josuah Freudel und dem Rektor Florian Fälbel werden zudem zwei weitere schreibende Figuren vorgestellt. Ferner enthalten die »Jus de tablette für Mannspersonen« noch den Aufsatz »Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen«, sowie ein »Postskript«.

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES JAHRBUCHS

Christian A. Bachmann, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. Till Dembeck, Johannes Gutenberg-Universität, Deutsches Institut, Jakob Welder Weg 18 (Philosophicum), 55099 Mainz Dr. Franziska Frei Gerlach, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Prof. Dr. Karl S. Guthke, Havard University, Department of Germanic Languages and Literatures, Barker Center 365, 12 Quincy Street, Cambridge, MA 02138-3879, USA Alexander Kluger, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition, Projekt Leben Fibels, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Hans-Georg Pott, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Neuere Deutsche Philologie, Germanistisches Seminar IV, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum Christian Schwaderer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition, Am Hubland, 97074 Würzburg

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Anschriften

Sabine Straub, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition, Projekt Leben des Quintus Fixlein, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth Prof. Dr. Ralf Simon, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Prof. Dr. Carsten Zelle, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Germanistisches Institut, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum

Für ihr Mitwirken an den Korrekturarbeiten bedanken sich die Herausgeberinnen und Herausgeber sowie der Redakteur des Jahrbuchs herzlich bei Philipp Baar, Fabian Grossenbacher und Danielle Schwab.

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n Band 1: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie Edition der Druckfassungen 1795, 1798, 1819 in synoptischer Darstellung; Bd. I,1: ‚Erstes Heftlein‘; Bd. I,2: ‚Zweites Heftlein‘; Bd. I,3: ‚Drittes Heftlein‘ Herausgegeben von Barbara Hunfeld 06/2009. 3 Teilbände. Ca. 1400 Seiten. Leinen. ISBN 978-3-484-10911-7 Jean Pauls (1763–1825) Erfolgsroman Hesperus wird in dieser Edition erstmals in allen drei Druckfassungen präsentiert. Das Editionsmodell macht es dem Leser leicht, den Schreibprozess nachzuvollziehen. Zur Geschichte des Werkes gehören auch die noch unbekannten handschriftlichen Vorarbeiten. Den Textbänden schließt sich daher die Erstveröffentlichung der Hesperus-Manuskripte an. Es folgt ein Stellenkommentar, der im Rückgriff auf bisher unzugängliche Nachlasstexte die Metaphernwelt des Autors aufzuschlüsseln hilft. Die Hesperus-Edition ist das ModellProjekt der neuen historisch-kritischen Werkausgabe. Weitere Bände in Vorbereitung • Kommentarband zu Hesperus (Bd I,4) Ende 2009 (ISBN 978-3-484-10912-4) • (II) Blumen- Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. • (III) Titan. • (IV) Der Komet, oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte. • (V) Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. • (VI) Leben des Quintus Fixlein, aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mustheil und einigen Jus de tablette, von Jean Paul, Verfasser der Mumien und der Hundsposttage. • (VII) Leben Fibels, des Verfassers der bienrodischen Fibel.

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Das renommierte Standardwerk in 2. Auflage

KILLY Literaturlexikon

Das Killy Literaturlexikon präsentiert bio-bibliographische Artikel zu allen wichtigen deutschsprachigen Autoren vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Es informiert anschaulich, zuverlässig und umfassend über Leben und Werk eines jeden Autors und ermöglicht so eine leichte Einordnung in den zeit- und literaturgeschichtlichen Kontext. Der Killy erfasst nicht nur die größten und wichtigsten Autoren einer jeden Epoche, sondern auch Journalisten, Drehbuchautoren, Literaturwissenschaftler und Fachschriftsteller. Die Artikel bieten eine Zusammenschau von Biographie, zeitgeschichtlichem Kontext und Œuvre, wie sie kein anderes Lexikon zur deutschen Literatur bietet.

Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums 2., vollständig überarbeitete Auflage Begründet von Walther Killy Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer Jürgen Egyptien Karina Kellermann Helmuth Kiesel Steffen Martus Reimund B. Sdzuj Redaktion: Christine Henschel (Leitung) Bruno Jahn

Band 1 A–Blu 2008. XXXII, 607 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-018962-9

Band 2 Boa–Den 2008. VI, 598 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-020375-2

Band 3 Dep–Fre 2008. IV, 587 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-020376-9

eBook. ISBN 978-3-11-020935-8

eBook. ISBN 978-3-11-020934-1

eBook. ISBN 978-3-11-020934-1 Erscheinungstermine der nachfolgenden Bände: 2009: Bände 4, 5 und 6 2010: Bände 7, 8 und 9 2011: Bände 10, 11 und 12 2012: Band 13: Register

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