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German Pages 408 Year 1984
Dieter Wyduckel
· lus Publicum
Schriften zum öffentlichen Band 471
Recht
lus Publicum Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft
Von
Dr. Dieter Wyduckel
DÜNCKER
&
HU MB LOT
/
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wyduckel, Dieter: lus publicum: Grundlagen u. E n t w i c k l u n g d. Öffentl. Rechts u. d. dt. Staatsrechtswissenschaft / v o n Dieter Wyduckel. — Berlin: Duncker u n d H u m b l o t , 1984. (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 471) I S B N 3-428-05591-8 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05591-8
Vorwort Die Frage nach den Grundlagen des öffentlichen Rechts ist gegenwärtig noch immer weitgehend ungeklärt. Es sind i m wesentlichen drei Faktoren, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben: einmal eine staatsrechtswissenschaftliche Betrachtungsweise, die Genese und Geltungsgrundlagen des öffentlichen Rechts voneinander isoliert und damit bestehende Verbindungen und Zusammenhänge abschneidet bzw. ausblendet; des weiteren eine übertrieben dichotomisierende Fachperspektive, die öffentliches Recht i m Sinne einer schematischen Zweiteilung vor allem von seiner Entgegensetzung zum Privatrecht her zu begreifen sucht; schließlich ein positivistisch verengtes Rechts- und Staats Verständnis, i n dem das öffentliche Recht auf seine rechtstechnisch-normativen Aspekte reduziert und damit vereinseitigt wird. Die hier vorgelegte Untersuchung w i l l demgegenüber i m Rückgriff auf die Geltungsgrundlagen des öffentlichen Rechts zugleich seine Entwicklungsbedingungen darstellen. Eine solche Darstellung kann sich nicht auf die sogenannte Neuzeit, d. h. den nach herkömmlicher A u f fassung m i t dem 16. Jahrhundert beginnenden Zeitabschnitt beschränken. Sie w i r d vielmehr unter Zugrundelegung einer mittel- und langfristigen Zeitperspektive herkömmliche Zeitgrenzen überschreiten und — abgesehen von den antiken Vorentwicklungen — die i m Hinblick auf die Genese des öffentlichen Rechts oft vernachlässigte, w e i l als feudalistisch-vorstaatlich geltende hoch- und spätmittelalterliche Frühphase seiner Entwicklung i n die staatsrechtswissenschaftliche Betrachtung einbeziehen. Denn genau hier haben sich die Grundlagen des frühmodernen, staatlich-organisierten Rechtssystems ausgebildet. öffentliches Recht erscheint vor diesem Hintergrund nicht etwa bloß als Gegensatz eines immer schon vorausgesetzten Privatrechts, sondern w i r d bereits vom Ansatz her als autonome A n t w o r t auf sich anbahnende politische und soziale Veränderungen begriffen, wie sie m i t der Herausbildung des frühmodernen Staates allenthalben hervortreten. I n staatsrechtstheoretischer Hinsicht geschieht dies durchweg aus einer nachpositivistischen Fachperspektive, die öffentliches Recht nicht als rechtlich verselbständigt vorstellt, sondern aus seinem politischen und gesellschaftlichen Kontext heraus zu erschließen sucht. Bei der Verfolgung der öffentlichrechtlichen Problemstellungen konnte ich mich auf langjährige Vorstudien i m Gegenstandsbereich der
6
Vorwort
Verfassungs- und Hechtsgeschichte, der politischen Philosophie sowie der Rechts- und Staatstheorie stützen. Reiche Anregungen verdanke ich den einschlägigen Forschungen meines verehrten Lehrers, Herrn Prof. Dr. Hans Ulrich Scupin, die mich m i t i h m i m Rahmen der JohannesAlthusius-Gesellschaft verbinden. I n der hier vorgelegten Konzeption haben mich ferner viele Gespräche und Arbeitskontakte m i t Herrn Prof. Dr. Ulrich Scheuner, dem langjährigen Vorsitzenden der AlthusiusGesellschaft, bestärkt; er hat mich ermutigt, den einmal eingeschlagenen Weg zu den eigentlichen, d. h. frühmodernen Quellen des öffentlichen Rechts und der Staatsrechtswissenschaft zurückzuverfolgen. Die vorliegende Abhandlung enthält den ersten Teil einer umfassender angelegten Untersuchung, welche die Einheit des heutigen öffentlichen Rechts i m Zusammenhang von Genese und System darzustellen sucht. Sie ist vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Münster i m Wintersemester 1981/82 als Habilitationsschrift angenommen worden. Ein projektierter zweiter Teil, für den die Materialien nahezu geschlossen vorliegen, mußte verschiedener anderer Verpflichtungen wegen zunächst zurückgestellt werden. Besonderer Dank gilt meinen Lehrern des öffentlichen Rechts, Herrn Prof. Dr. Hans Ulrich Scupin und seinem Amtsnachfolger Herrn Prof. Dr. Norbert Achterberg. Beiden Herren verdanke ich als ihr langjähriger Assistent am Institut für öffentliches Recht und Politik nicht nur mannigfache Unterstützung und Förderung, sondern auch die großzügige Gewährung jenes Freiraums, der zur Erstellung einer solchen Arbeit unabdingbar ist. Dank schulde ich ferner den kollegialen Diskussionen m i t Herrn Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz, die über lange Zeit den Entstehungsgang dieser Arbeit begleitet haben. I n der Endphase der Niederschrift der Untersuchung erwies sich die Diskussion einiger zentraler Thesen als außerordentlich wertvoll, zu der mich Herr Prof. Dr. Dieter Simon, Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/M., i m Rahmen der von i h m veranstalteten „Werkstattgespräche" eingeladen hat. Danken möchte ich schließlich dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann, Senator E. h., Ministerialrat a. D., der die Drucklegung auch dieses Buches i n großzügiger Weise gefördert hat. Münster, i m J u l i 1984
Dieter
Wyduckel
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Z u r Neuorientierung der staatsrechtlichen Reflexion auf die Entstehung des öffentlichen Rechts
Erster
15
Abschnitt
Die Wurzeln des öffentlichen Rechts im hohen und späten Mittelalter Erstes K a p i t e l Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune § 1 Begriff u n d Bereich des öffentlichen
§ 2
27
1. Die öffentlichkeit mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse
27
2. Der gesellschaftliche Bezugsrahmen des öffentlichen
36
Das Verhältnis von l u s p u b l i c u m u n d lus commune
43
1. Die Erneuerung des römischen Rechts als l u s commune
43
2. Z u r Frage der H e r k u n f t des l u s p u b l i c u m aus dem römischen Recht der Spätklassik ..
47
3. Die Grundlegung des l u s publicum i m l u s commune
53
Zweites K a p i t e l Anfänge eines staatlichen Rechts im ausgehenden Mittelalter § 3
§ 4
Römisches Recht u n d staatliches Recht
65
1. Die Institutionalisierung staatlicher Herrschaft
65
2. Die Relevanz des römischen Rechts f ü r die Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen
71
Strukturelle Ansätze staatlicher Ordnung
77
1. Die Ausdifferenzierung nationaler u n d territorialer Herrschaftssysteme
77
2. Die Konstituierung des frühmodernen Staates aus der Rechtserzeugungsfunktion
81
8 § 5
nsverzeichnis Anfänge einer staatsrechtlichen Betrachtungsweise
85
1. Die Herausbildung einer gemeinwesenbezogenen Fachperspektive i n der Legistik 2. Die Grundlagen des Reichsstaatsrechts i n der lichen Publizistik
rechtlichen
spätmittelalter-
85 87
Drittes K a p i t e l Der Anteil des kanonischen Rechts an der Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen § 6
§ 7
§ 8
Das kanonische Recht als Wegbereiter des staatlichen Rechtssystems
91
1. Der institutionelle Vorsprung der Ecclesia vor der Respublica . .
91
2. Das kirchliche Recht als l u s positivum
92
Die Binnenstruktur des kirchlichen Verbandes als V o r b i l d staatlicher Organisation
96
1. Die Plenitudo potestatis des Papstes als Rechtsetzungsmacht . . .
96
2. Der kirchliche Personenverband u n d seine transpersonale S t r u k tur
98
3. W a h l der Amtsträger u n d Repräsentation der Gesamtheit
102
Der kanonistische Begriff des lus p u b l i c u m
107
Zweiter
Abschnitt
Geltungsgrundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Erstes K a p i t e l Der Gegenstandsbereich des lus publicum unter dem Aspekt von Staatsräson, Souveränität und Vertragslehre § 9
Die Säkularisierung der mittelalterlichen Respublica Christiana
111
1. Die Staatsräson des frühmodernen Staates
111
2. Die Souveränität staatlicher Herrschaftsgewalt
119
3. Die vertragliche Begründung staatlicher Herrschaft
124
§ 10 Die Emanzipation des l u s publicum v o m l u s commune
131
1. Die Historisierung des lus commune i n der humanistischen Jurisprudenz 131 2. Das l u s publicum als l u s civitatis
134
nsverzeichnis Zweites K a p i t e l Die Grundlegung des deutschen Reichsstaatsrechts im 17. Jahrhundert § 11 Die Verselbständigung des l u s publicum I m p e r i i Romano-Germanici 141 1. Der Gegenstandsbereich des deutschen Reichsstaatsrechts
141
2. Die Quellen des deutschen Reichsstaatsrechts
147
§ 1 2 Reichsstaatsrecht u n d Reichsverfassung
153
1. Kaiserliches u n d reichsständisches Staatsrecht
153
2. Die leges fundamentales als Grundgesetze des Reiches
161
§ 1 3 Reichsstaatsrecht u n d Territorialstaatsrecht
168
Drittes K a p i t e l Das System des lus publicum im Zeitalter des Vernunftrechts § 14 öffentliches Recht i m naturrechtlichen Rationalismus 1. Ansätze einer Rationalisierung des öffentlichen Rechts
178 178
2. Die Grundlegung des l u s publicum i m l u s publicum universale 185 § 1 5 Der Positivismus i m Teutschen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts . . 194 1. Der historische Positivismus Johann Jakob Mosers
194
2. Der systematische Positivismus Johann Stephan Pütters
202
Dritter
Abschnitt
Die verfassungsrechtliche Grundlegung des Öffentlichen Rechts im modernen Staat des 19. und 20. Jahrhunderts Erstes K a p i t e l Die Neubegründung des öffentlichen Rechts i m deutschen Frühkonstitutionalismus § 1 6 Bürgerliche Öffentlichkeit u n d konstitutioneller Staat
211
1. Die rechtliche Institutionalisierung bürgerlicher Öffentlichkeit . . 211 2. Das konstitutionelle Staatsverständnis
220
10
nsverzeichnis
§ 17 öffentliches Recht als Verfassungsrecht des konstitutionellen Staates 231 1. Staatsrecht als Staatsverfassungsrecht
. . 231
2. Staatsverfassungsrecht u n d Staatsverwaltungsrecht
242
3. Die Abgrenzung des öffentlichen Rechts v o m Privatrecht
252
Zweites K a p i t e l Das öffentliche Redit unter der Herrschaft des staatsrechtlichen Positivismus § 1 8 Die Relevanz des staatsrechtlichen Positivismus für die Entwicklung des öffentlichen Rechts als Fachdisziplin 257 1. Die fachwissenschaftliche Verselbständigung öffentlichrechtlicher Jurisprudenz i m staatsrechtlichen System Gerbers u n d Labands 257 2. Die Begründung der Staatsrechtswissenschaft als Normwissenschaft durch Georg Jellinek u n d Hans Kelsen 263 3. Die Ausdifferenzierung einer fachjuristisch verselbständigten V e r waltungsrechtswissenschaft i m Werk Otto Mayers 267 § 1 9 Die Formalisierung des öffentlichrechtlichen hangs
Regelungszusammen-
1. Die Staatsordnung als Rechtsordnung
274 274
2. Die öffentliche Rechtsordnung u n d ihre systematische Erfassung 282 Drittes K a p i t e l öffentliches Recht und Staatsrechtswissenschaft i m Zeichen des staatsrechtlichen Positivismus und seiner Überwindung § 20 Die K r i t i k des staatsrechtlichen Positivismus i n der Rechts- u n d Staatswissenschaft des 19. Jahrhunderts 289 1. Die staats- u n d gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagen der Positivismus-Kritik , 289 2. Die Auseinandersetzung Gierkes m i t der positivistischen Staatsrechtskonzeption Labands 293 § 21 Die Krise des staatsrechtlichen Positivismus
299
1. Der Durchbruch der Krise auf der Tagung der Staatsrechtslehrer i n Münster 1926 299 2. Staatsrecht u n d Staatsrechtslehre i m Zeichen der Krise
300
§ 22 Ansätze einer Ü b e r w i n d u n g des staatsrechtlichen Positivismus i n der Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Zeit 302 1. Die Grundlegung einer transpositivistischen Rechtskonzeption i n der Rechts- u n d Staatsphilosophie Gustav Radbruchs u n d Erich Kaufmanns 302
nsverzeichnis 2. Die W i r k l i c h k e i t der staatlichen Verfassung als Integrationsprozeß i m geisteswissenschaftlichen Denkansatz Rudolf Smends . . 305 3. Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang der staatlichen Rechtsordnung i n der sozialwissenschaftlichen Staatslehre H e r m a n n Hellers 307 4. Dezisionismus u n d konkretes Ordnungsdenken i m staatsrechtswissenschaftlichen Werk Carl Schmitts 309 § 23 Der staatsrechtswissenschaftliche Methodenstreit
316
Ausblick: Entwicklungstendenzen des öffentlichen Rechts i m nachpositivistischen Rechtsrealismus 322 Schrifttumsverzeichnis
333
Personen-
397
und Sachregister
Abkürzungsverzeichnis a. Add. AESC A. F. AöR App. ARSP art. Art. Bd. BDLG Beih. BIDR Bl. C. cap. chap. cl. Cod. CPH D. DA ders. Dig. disc. disp. Dist. DÖV DVB1. ed. Epist. dedic. FN gen. Gl. H. HDSW Hg. hg. HRG HZ
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ante Additio Annales. Economies, Sociétés, Civilisations A l t e Folge Archiv des öffentlichen Rechts Appendix Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie articulus Artikel Band Blätter f ü r deutsche Landesgeschichte Beiheft Bulettino dell'Istituto d i D i r i t t o Romano Blatt Causa capitulum chapitre classis Codex Czasopismo Prawno-Historyczne Dominus Deutsches A r c h i v für Erforschung des Mittelalters derselbe Digesten discursus disputatio Distinctio Die öffentliche V e r w a l t u n g Deutsches Verwaltungsblatt editio, edidit Epistola dedicatoria Fußnote generalis Glossa, Glosse Heft Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Herausgeber herausgegeben Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historische Zeitschrift
Abkürzungsverzeichnis Inst. IPO JA JHI JöR JRS JuS JZ Kl. 1. lat. lib. liv. MGH NF NJW noviss. NPL N. S. ÖZöR
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p. part. PL pr. praef. prooem. PrOVGE pubi. PVS qu. r Rdnr. RE Resp. RHDFE RIFD rubr. Sb. SDHI sect. Ser. Sp. spec. t. tit. TRG uitg.
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13
Institutionen Instrumentum Pacis Osnabrugense Juristische Arbeitsblätter Journal of the History of Ideas Jahrbuch des öffentlichen Rechts The Journal of Roman Studies Juristische Schulung Juristenzeitung Klasse lex, ley latinus, latina liber livre Monumenta Germaniae Historica Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift novissimus, novissima Neue Politische L i t e r a t u r Neue Serie, Nouvelle Série österreichische Zeitschrift f ü r öffentliches Recht u n d V ö l kerrecht post partida Patrologia latina principium praefatio prooemium Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts publié Politische Vierteljahresschrift quaestio recto Randnummer Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Respondens (Respondente) Revue historique de droit français et étranger Rivista internazionale d i filosofia del d i r i t t o rubrica Sitzungsbericht(e) Studia et documenta historiae et iuris Sectio Series Spalte specialis tomus, tomo, tome titulus, t i t r e Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis uitgeven
14
Abkürzungsverzeichnis
un. ν vb. VerwArch vol. VSWG WDStRL
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WA WdF Z. ZaöRVR
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ZfP ZgStW ZHF Ziff. ZöR ZRG — GA — KA — RA ZRP
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unicus, unica verso verbum Verwaltungsarchiv volume(n) Vierteljahresschrift f ü r Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Luther-Ausgabe Wege der Forschung Zeile Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht u n d V ö l kerrecht Zeitschrift f ü r P o l i t i k Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift f ü r historische Forschung Ziffer Zeitschrift f ü r öffentliches Recht Zeitschrift der Savignystiftung f ü r Rechtsgeschichte Germanistische A b t e i l u n g Kanonistische A b t e i l u n g Romanistische A b t e i l u n g Zeitschrift f ü r Rechtspolitik
Einleitung
Zur Neuorientierung der staatsrechtlichen Reflexion auf die Entstehung des öffentlichen Rechts Blickt man aus der Sicht heutiger Rechtswissenschaft auf die Genese des öffentlichen Rechts, so stellt sich die Frage, ob Ursprung und Entwicklung des ius publicum bereits so hinreichend bedacht sind, wie üblicherweise angenommen wird. Während das Privatrecht entwicklungsgeschichtlich relativ gut erforscht ist 1 , fehlen für den Bereich des Öffentlichen Rechts noch immer vergleichbare Untersuchungen. Die wenigen neueren monographischen Darstellungen 2 sind entweder thematisch oder zeitlich eng umgrenzt und vermögen daher dem Bedürfnis nach einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung des ius publicum nur zum Teil abzuhelfen. Die einzige zeitlich übergreifende Monographie, die von Hermann Rehm vorgelegte „Geschichte der Staatsrechtswissenschaft", datiert noch aus dem 19. Jahrhundert 3 und ist heute, was Ansatz und Fragestellung angeht, als weitgehend überholt anzusehen. Rehm ging i n seiner Untersuchung, die das öffentliche Recht i m wesentlichen als Staatsrecht be1 V o r allem dank der von Franz Wieacker vorgelegten: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967. Siehe ferner das von Helmut Coing herausgegebene, i m Erscheinen begriffene: Handbuch der Quellen u n d L i t e r a t u r der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, München 1973 ff. 2 Vgl. etwa Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus. E i n Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft i m 17. Jahrhundert, A a l e n 1968; Neumaier, lus publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt, B e r l i n 1974; Pick, M a i n zer Reichsstaatsrecht. I n h a l t u n d Methode. E i n Beitrag zum l u s publicum an der Universität Mainz i m 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1977. Siehe ferner f ü r die neueren Entwicklungen von Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus i n der deutschen Staatsrechtswissenschaft, F r a n k f u r t a. M. 1974, sowie die tief schürf ende dogmengeschichtliche Untersuchung v o n Bullinger, öffentliches Recht u n d Privatrecht, Stuttgart 1968, deren Gegenstand freilich auf eine Analyse von Sinn u n d Funktionen der Unterscheidung beider Rechtsgebiete beschränkt ist. 3 Vgl. nunmehr den unveränderten reprografischen Nachdruck der A u s gabe Freiburg i. Br. u n d Leipzig 1896, Darmstadt 1967.
16
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
handelte, davon aus, daß Staatsrechtswissenschaft nicht „jede Wissenschaft vom Staatsrecht" sei, sondern nur die „ m i t dem Staatsrecht sich beschäftigende Rechtswissenschaft" 4 . Wenngleich er den Zusammenhang m i t Politik und Staatsphilosophie nicht leugnete, so beharrte er doch auf der Selbständigkeit der Staatsrechtswissenschaft, die auch durch die Berücksichtigung etwa bestehender Beziehungen zu benachbarten Disziplinen keineswegs aufgehoben werde. Er setzte sich infolgedessen zum Ziel, der „Selbständigkeit, deren sich die Staatsrechtswissenschaft i n Deutschland heute i n dogmatischer Beziehung erfreut, auch i n ihrer historischen Behandlung Ausdruck zu geben", u m auf diese Weise zu einer „Erkenntnis etwa vorhandener selbständiger Entwicklungsursachen" zu gelangen 5 . Wenn die Darstellung Rehms aus dem Blickwinkel heutiger Rechtswissenschaft i m Zugriff auf den Gegenstand des ius publicum wie i n ihren methodologischen Voraussetzungen als nicht mehr zureichend erscheint, so nicht nur deshalb, weil Rehm einem nicht unproblematischen Trennungsdenken anhing, sondern vor allem, w e i l er die Staatsrechtswissenschaft, die es i n einer historischen Untersuchung i n ihren Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen dazulegen gilt, positivistisch voraussetzte und damit aus sich selbst heraus zu erklären unternahm. So konnte er eine von i h m schon immer als konstituiert betrachtete Wissenschaft vom Staatsrecht bedenkenlos bis i n die griechische Antike zurückverlängern, wo er ihre Anfänge i m „Kreise der Sophistik" ausmachte und Protagoras zu ihrem „Vater" erklärte®. Indem er nachzuweisen suchte, daß die Staatsrechtswissenschaft von „hellenischem Geiste geboren wurde" 7 , verlagerte Rehm den Schwerpunkt seiner Darstellung so tief i n die griechisch-antike Geschichte, daß staatsrechtliche Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit zum bloßen Annex eines weit zurückliegenden, als klassisch empfundenen Zustandes gerieten. So wenig zu leugnen ist, daß die Anfänge aller abendländischen Wissenschaft von Recht und Staat i n die griechische Welt zurückweisen, so wenig vermag dieser dem neuhumanistischen Bildungsideal des 19. Jahrhunderts verpflichtete Forschungsansatz heute noch zu überzeugen. Eine auf die Entwicklungsgeschichte aktueller öffentlichrechtlicher Jurisprudenz gerichtete Perspektive kann deshalb nicht mehr ausschließlich von i n dieser Weise als „klassisch" vorausgesetzten Zuständen ausgehen. Sie hat vielmehr jenen Zeitraum i n den Blick zu fassen, i n dem das antike Erbe für den modernen Staat und sein Recht 4 δ β 7
Rehm, Staatsrechtswissenschaft, S. 1. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 3.
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts unmittelbare Relevanz gewinnt. I m allgemeinen w i r d dieser Zeitraum auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert datiert, w e i l i m Gefolge von Humanismus, Renaissance und Reformation ein neues Zeitalter begonnen habe 8 . Diese Auffassung findet, was Recht und Verfassung angeht, ihre Stütze i n der vor allem von dem Sozial- und Verfassungshistoriker Otto Brunner (1898—1982) entwickelten Anschauung 9 , daß das Mittelalter eine von der Neuzeit deutlich abgehobene Epoche der Rechts- und Verfassungsgeschichte bilde, die mittels der auf den modernen Staat bezogenen Begrifflichkeit nicht oder doch nicht angemessen erfaßt werden könne. Die mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen seien durch die ganz anders gearteten, gleichsam vormodernen Kategorien von Haus und Familie, Schutz und Schirm, Rat und Hilfe bestimmt und durch eine Vielzahl persönlicher und dinglicher Abhängigkeitsverhältnisse charakterisiert, die quellenmäßig als Haus- und Grundherrschaft, Herrlichkeit, Gerechtigkeit oder Oberkeit i n Erscheinung treten und sich verfassungsgeschichtlich als Herrschaft über Land und Leute darstellen 10 . Die von Brunner vorgetragene K r i t i k richtete sich m i t Grund gegen einen seinerzeit weit verbreiteten, i n der deutschen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts entwickelten methodologischen Ansatz, der bei der Erfassung der älteren Verfassungszustände den modernen Staats- und Rechtsbegriff ohne weiteres auf gänzlich anders geartete Verhältnisse glaubte anwenden zu können. I n der Tat war namentlich von den älteren Germanisten die moderne Rechtsbegrifflichkeit oft allzu selbstverständlich auch auf die Vor- und Frühzeit der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte übertragen worden. So erblickte beispielsweise Georg Waitz (1813—1886) bereits i n der germanischen Frühzeit die Elemente eines ausgebildeten konstitutionellen Staatswesens. Daß ein einheitlicher Staatsverband und ein einheitlich gedachtes Volk überhaupt bestehe, wurde von i h m hierbei ebenso vorausgesetzt wie die Existenz einer rechtlichen und staat8 Z u r Problematik der herkömmlichen Periodisierung siehe Walder, Z u r Geschichte u n d Problematik des Epochenbegriffs „Neuzeit" u n d zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte, i n : Festgabe Hans von Greyerz, Bern 1967, S. 21—47. Ferner Koselleck, »Neuzeit4. Z u r Semantik moderner Bewegungsbegriffe, i n : ders. (Hg.), Studien zum Beginn der m o dernen Welt, Stuttgart 1977, S. 264—299. 9 Siehe sein grundlegendes W e r k : L a n d u n d Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs i m Mittelalter (zuerst 1939), 5. Aufl., Wien 1965, Neudr. Darmstadt 1973, bes. S. 111 ff. 10 Otto Brunner, S. 240 ff. (254 ff., 263 ff., 269 ff.). Vgl. auch Kroeschell, Haus u n d Herrschaft i m frühen deutschen Recht. E i n methodischer Versuch, Göttingen 1968, S. 11 ff., S. 48 f.
2 Wyduckel
18
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
liehen Ordnung 1 1 . A u f der Grundlage eines derartigen Denkens konnte Heinrich Brunner (1840—1915) die Rechts- und Verfassungszustände der germanisch-fränkischen Zeit unter dem Aspekt einer „Geschichte des öffentlichen Rechts" einerseits, einer „Geschichte des Privatrechts" andererseits darstellen und hierbei den Versuch unternehmen, ein vom privaten Recht unterschiedenes „Staatsrecht" des fränkischen Reiches herauszuarbeiten 12 . Demgegenüber ist heute weitgehend anerkannt, daß die moderne Begrifflichkeit von Recht und Staat nicht mehr unbesehen auf völlig anders strukturierte Zustände der Vergangenheit zurückprojiziert werden darf. Insbesondere seit deutlich geworden ist, i n welchem Maße namentlich die verfassungsgeschichtliche Forschung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zeitgebundenen Fragestellungen und Leitbildern 1 3 verpflichtet war, hat sich der Blick auf eine den jeweils wechselnden historischen Strukturen angepaßte Begriffssprache geschärft, die die unterschiedlichen geschichtlichen Gebilde nicht nur irgendwie benennt, sondern zugleich i n ihrem inneren Bau zu erfassen und adäquat zu beschreiben sucht. Es fragt sich indessen, ob der methologische Ansatz Otto Brunners allein bereits ausreicht, u m komplexe rechts- und verfassungshistorische Zusammenhänge w i r k l i c h angemessen zu erfassen. Diese Frage ist keineswegs neu, sondern erstmals an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Methodenproblem aufgeworfen und i m Rahmen der Debatte um den ,deutschen Staat des Mittelalters 4 1 4 eingehend erörtert worden. So wies Georg von Below (1858—1927), bedeutendster Verfechter der These einer mittelalterlichen Staatlichkeit darauf hin, daß es kein anderes M i t t e l gebe, die Rechts- und Verfassungszustände der Vergangenheit zu erhellen, als sie „an dem Begriff zu messen, den das Recht der 11 Vgl. seine: Deutsche Verfassungsgeschichte. Photomechanischer Nachdr. der 1.—3. Aufl., 1878—1896 (zuerst 1844—1878), Graz 1953—1955, 8 Bde., hier Bd. 1 : Die Verfassung des deutschen Volkes i n ältester Zeit, Nachdr. der 3. Aufl., B e r l i n 1880, Graz 1953, S. 52, 149 ff., 326 f., 332 f., 452 f. 12 Vgl. Heinrich Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte (zuerst 1901), 7. A u f l . bes. von Ernst Heymann, München 1925, S. 5 ff., 56 ff., 186 ff. Siehe auch ders., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, neu bearb. von Cl. Frhr. von Schwerin, unveränd. Nachdr. der 1928 erschienenen 2. Aufl., Berl i n 1958, S. 1 ff. 13 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung i m 19. Jahrhundert, B e r l i n 1961, bes. S. 74 ff. 14 Vgl. Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Leipzig 1914. Dazu Rudolf Hübner, i n : Z R G G A 35 (1914), S. 484—506; Alfons Dopsch, Der deutsche Staat des Mittelalters (1915), i n : ders., Verfassungs- u n d W i r t schaftsgeschichte des Mittelalters, Wien 1928, S. 101—134; Eduard Rosenthal, i n : H Z 115 (1916), S. 372—394. Ferner Friedrich Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918, Neudr. Aalen 1963.
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des öffentlichen Rechts
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Gegenwart aufstellt" 1 5 . Dies bedeute nicht, daß „moderne Vorstellungen i n die Vergangenheit hineingetragen, moderne Ausdrücke auf Institutionen der alten Zeit angewandt werden, die auf sie tatsächlich nicht passen". Vielmehr seien die modernen Begriffe m i t den Aussagen der Quellen zu vergleichen, d. h. die „Probe auf ihre Anwendbarkeit" zu machen 16 . Der österreichische Sozial- und Verfassungshistoriker Alfons Dopsch (1868—1953) pflichtete dieser Auffassung bei, indem er unterstrich, daß man die Unterscheidungen, welche die jeweiligen Quellen selbst machen, zwar nicht vernachlässigen dürfe, doch sei nichtsdestoweniger die „Behandlung verfassungsgeschichtlicher Probleme sicherlich ohne Kenntnis und Anwendung juristischer Begriffe und Methodik unmöglich" 1 7 . Nicht zuletzt räumt auch der große wissenschaftliche Gegner von Belows, Otto von Gierke (1841—1921), durchaus ein, daß „ohne die Leuchte der modernen juristischen Begriffe" das die „älteren Zustände verhüllende ,Halbdunker . . . niemals erhellt worden sein (würde)" 1 8 . Wie er erläuternd bemerkt, stellen die gegenwärtigen Begriffe selbst „ n u r das Produkt einer fortschreitenden Differentiierung der ehemals ungesonderten Elemente einfacherer Vorstellungen" dar, so daß es nicht unzulässig sein könne, wenn „ w i r die Gebilde der Vergangenheit m i t Hilfe der heutigen Begriffe analysieren und ordnen" 1 9 . Auch heute ist i n der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung durchaus anerkannt, daß ein rein quellenmäßiges Vorgehen für sich allein betrachtet „völlig ertraglos" wäre, sofern es darauf abzielte, die Sprache der Quellen womöglich unübersetzt und uninterpretiert einfach zu übernehmen 20 . Darüber hinaus wird, insbesondere aus dem 16 Vgl. Georg von Below , Der deutsche Staat des Mittelalters, 2. Aufl., L e i p zig 1925, S. 108 f. 16 Siehe ebd., S. 109. 17 Alfons Dopsch, Der deutsche Staat des Mittelalters, S. 103. 18 Vgl. Otto von Gierke , Z R G G A 28 (1907), S. 612—625 (614), anläßlich der Auseinandersetzung m i t Paul Sander, Feudalstaat u n d Bürgerliche V e r fassung, B e r l i n 1906, der i h m begriffliche Unklarheiten vorgeworfen hatte. Z u r Genossenschaftslehre Gierkes siehe unten Abschnitt I, Kap. 2, § 4, Nr. 2, S. 82. 10 Otto von Gierke , Z R G G A 28 (1907), S. 619. 20 So Hermann Krause, Der Historiker u n d sein Verhältnis zur Geschichte von Verfassung u n d Recht, i n : H Z 209 (1969), S. 17—26 (23) i n Entgegnung auf Otto Brunner, Der Historiker u n d die Geschichte von Verfassung u n d Recht, ebd., ' S. 1—16. Vgl. ferner Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, i n : Gegenstand u n d Begriffe der V e r fassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung f ü r Verfassungsgeschichte i n Hofgeismar am 30./31. März 1981, B e r l i n 1983 (Beihefte zu „Der Staat", H. 6), S. 7—21 (13), unter Hinweis darauf, daß eine „quellensprachlich gebundene Darstellung der Verfassungsgeschichte . . . stumm (wird), w e n n die vergangenen Begriffe nicht übersetzt oder umschrieben werden". Eine T e x t wiedergabe alter Quellen „ i m Verhältnis von 1 : 1 " könne nicht der Zweck von (Verfassungs)geschichtsschreibung sein.
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Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
Blickwinkel der Staatstheorie, nicht ohne Grund auf die einem derartigen methodologischen Verfahren innewohnende „Gefahr einer historisierenden Auflösung" hingewiesen, die letztlich dazu führen müßte, auf einen die vielgestaltigen konkreten Formen politischer Einheit umfassenden Begriff des Gemeinwesens überhaupt zu verzichten 21 . Schließlich hat auch Brunner selbst, Überspitzungen seiner eigenen Auffassung vorbeugend, ohne weiteres zugestanden, daß „nichts falscher (wäre) als zu glauben, daß historische Arbeit die modernen Begriffe entbehren könnte". Es sei ihm, wie er sogleich hinzusetzte, lediglich darum zu tun, daß die verwendeten Begriffe ihrerseits i n „ihrer historischen Bedingtheit erkannt werden" 2 2 . Hat man nach allem davon auszugehen, daß das Erfordernis einer quellengemäßen Begriffssprache ebenso unabweisbar ist wie die Notwendigkeit der Reflexion auf den kategorialen Apparat gegenwärtiger Rechts- und Staatstheorie, so w i r d es für die rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung wesentlich darauf ankommen, den jeweils zu untersuchenden Begriff i n seiner gegenwärtigen Funktion i n Beziehung zu seiner Geschichte zu setzen 23 . Dies kann, dem methodologischen A n satz der modernen Begriffsgeschichte 24 folgend, jedenfalls nicht so geschehen, daß eine bestimmte absolute Bezeichnung zunächst deduziert wird, um diese alsdann i n ihrer einmal vorausgesetzten Bedeutung i m historischen Aufriß zu verfolgen 25 . Vielmehr w i r d man zunächst i m 21 Vgl. Scheuner, Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen i n der neueren Staatslehre (1962), i n : ders., Staatstheorie u n d Staatsrecht, hg. von J. L i s t i u n d W. Rüfner, B e r l i n 1978, S. 45—79 (71), Siehe auch ders., Z w e i Darstellungen der Allgemeinen Staatslehre, i n : Der Staat 13 (1974), S. 527—535 (534), m i t ausdrücklicher Warnung vor einer „Verengung der E r scheinung politischer Gemeinwesen auf die Neuzeit". 22 Otto Brunner, L a n d u n d Herrschaft, S. 163. 23 Siehe hierzu auch Coing , Aufgaben des Rechtshistorikers, Wiesbaden 1976 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der JohannWolf gang-Goethe-Universität F r a n k f u r t a. M., Bd. 13, Nr. 5), S. 161, der bei aller Vorsicht gegenüber der Verwendung moderner Rechtsbegriffe den V o r schlag macht, diese „ i m Sinne einer vergleichenden Betrachtung heranzuziehen". 24 Vgl. zur begriffsgeschichtlichen Methode das V o r w o r t von Joachim Ritter zu dem von i h m herausgegebenen Historischen Wörterbuch der P h i l o sophie, Bd. 1, Basel 1971, S. V — X I , u n d den von Helmut G. Meier verfaßten A r t i k e l ,Begriffsgeschichte', ebd., Sp. 788—808. Siehe ferner die von Reinhart Koselleck konzipierte Einleitung zu dem unter dem T i t e l ,Geschichtliche Grundbegriffe' zusammen m i t Otto Brunner u n d Werner Conze edierten Historischen L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, S t u t t gart 1972, S. X I I I — X X V I I , sowie den von dems. herausgegebenen Sammelband: Historische Semantik u n d Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979. 25 Vgl. Helmut G. Meier, A r t . Begriffsgeschichte, Sp. 807. Siehe auch Joachim Ritter, Vorwort, S. I X , m i t Hinweis darauf, daß i n den A r t i k e l n des Wörterbuchs bewußt vermieden werde, die „Darstellung m i t einer ,Definition 4 einzuleiten oder abzuschließen".
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des ffentlichen Rechts hermeneutischen Vorgriff lediglich einen Rahmen abzustecken suchen, innerhalb dessen Grenzen die zu analysierenden Begriffe von ihren geschichtlichen Wirkungszusammenhängen her zu behandeln und schrittweise zu entfalten sind. So kann einerseits die Gefahr eines alles relativierenden Historismus vermieden und andererseits die systematische Seite der Begrifflichkeit i n den historischen Horizont einbezogen werden 26 . Den Ausgangspunkt einer derartigen Analyse bildet regelmäßig ein bestimmter Wortgebrauch. Die Wortgeschichte dient somit gleichsam als Einstieg i n die Problematik, weil jede begriffsgeschichtliche Untersuchung durch das Wort hindurchgeht 27 . Begriffsgeschichte darf sich freilich nicht i n bloß etymologischen Verfahren erschöpfen. Sie überschreitet vielmehr die engen Grenzen einer reinen Worterklärung insofern, als sie zugleich auf die m i t dem jeweiligen Begriff gemeinten Problemstellungen und Sachverhalte 28 abzielt. A u f diese Weise geraten die den jeweiligen Begriffen und Problemen zugrunde liegenden rechtlichen, politischen und sozialen Zusammenhänge i n den Blick, die es i m sprachlichen Nachvollzug zu rekonstruieren gilt 2 9 . Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage nach der mittelalterlichen Staatlichkeit i n einem neuen Licht. Es handelt sich hierbei keineswegs, wie mitunter behauptet worden ist, u m ein bloßes „Scheinproblem" 3 0 . Eine u m die Klärung dieser Frage bemühte rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung hätte sich nur dann — und zwar vergeblich — mit einem bloßen Scheinproblem befaßt, wenn weder der Begriff des Staates noch die Sache selbst i m Mittelalter nachzuweisen wären. Dies ist indessen, wie noch näher zu belegen sein wird, durchaus nicht der Fall 3 1 . Vielmehr läßt die mittelalterliche Welt i n Theorie und Praxis eine Reihe von Ansätzen und Vorentwicklungen staatlicher 26 Siehe hierzu Helmut G. Meier, A r t . Begriffsgeschichte, Sp. 799, der u n terstreicht, daß v o m Standpunkt der begriffsgeschichtlichen Methode die „Position historistischer Einengung von Begriffsbestimmungen" abzuweisen ist. 27 Vgl. Koselleck, Einleitung, S. X X I . 28 Z u m Ineinandergreifen v o n Begriffsgeschichte, Problem- u n d Sachgeschichte siehe Helmut G. Meier, A r t . Begriffsgeschichte, Sp. 789, 804 f. 29 Siehe hierzu Koselleck, Begriffsgeschichte u n d Sozialgeschichte (1972), i n : ders. (Hg.), Historische Semantik u n d Begriffsgeschichte, S. 19—36. Vgl. ferner Luhmann, Gesellschaftsstruktur u n d Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, F r a n k f u r t a. M . 1980, S. 9 ff., der auf mögliche Korrelationen zwischen sozialstrukturellen u n d begriffs- oder ideengeschichtlichen Zusammenhängen hinweist. 80 So Quaritsch, Staat u n d Souveränität, F r a n k f u r t (M.) 1970, S. 27 f. 31 Eingehend hierzu: Hans K. Schulze, Mediävistik u n d Begriffsgeschichte, i n : Koselleck (Hg.), Historische Semantik u n d Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 242—261 (252), der m i t G r u n d davor w a r n t , dem Mittelalter „jede Vorstellung v o m Staat abzusprechen".
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Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
Herrschaftsgewalt erkennen, die zwar i m einzelnen ein höchst unterschiedliches Gepräge aufweisen mögen, einer einheitlichen Betrachtungsweise jedoch sehr w o h l zugänglich sind. Sie erschließen sich freilich erst dann i n ihrer ganzen Tragweite, wenn man die vorliegenden Quellen i n entsprechender Weise befragt, d.h. nicht, wie etwa Otto Brunner, auf die Andersartigkeit mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse abhebt, sondern umgekehrt den genetischen Zusammenhang zwischen mittelalterlicher und moderner Staatlichkeit herauszuarbeiten sucht 32 . Eine Entwicklungsgeschichte des öffentlichen Rechts kann auf der Grundlage des zuvor dargelegten Problemverständnisses nicht erst m i t der tradierten Epochenwende i m Zeichen von Humanismus, Renaissance und Reformation, also m i t dem, was man herkömmlicherweise als N e u zeit' bezeichnet, einsetzen 33 . Sie w i r d andererseits — unbeschadet der Bedeutung antiker Vorentwicklungen — aber auch nicht mehr unmittelbar bis i n das griechische und römische A l t e r t u m zurückgreifen, sondern zentral jenen Zeitabschnitt des hohen und späten Mittelalters anvisieren, in dem die Respublica Christiana sich römisches Recht und griechische Philosophie vor dem Hintergrund tiefgreifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Wandlungen zu eigen macht 34 . Der damit gewählte Zeitpunkt ist durch das Zusammentreffen verschiedener Momente charakterisiert, die es nahelegen, eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung des ius publicum nicht wesentlich früher oder später, sondern gerade hier zu beginnen. Anzuknüpfen ist hierbei an das Aufkommen und Vordringen einer i n dieser Weise bisher so nicht gebräuchlichen Terminologie, die dem Wort- und Begriffsfeld des öffentlichen wie des öffentlichen Rechts zugeordnet ist und sich keineswegs bloß auf die Jurisprudenz beschränkt 35 . Darüber hinaus lassen sich grundlegende 32 Daß ein solcher Zusammenhang tatsächlich besteht, w i r d i m übrigen auch von Otto Brunner nicht geleugnet (Land u n d Herrschaft, S. 114). Gleichw o h l vermag er dieser Einsicht nicht i n angemessener Weise Rechnung zu tragen, w e i l er allzu einseitig von der Prämisse ausgeht, daß „ i m M i t t e l a l t e r m i t Vorstellungen von Staat u n d Verfassung zu rechnen ist, die m i t dem, was w i r m i t diesen Worten bezeichnen, nicht übereinstimmen" (ebd., S. 111). 33 Dazu Sprandel, Perspektiven der Verfassungsgeschichtsschreibung aus der Sicht des Mittelalters, i n : Gegenstand u n d Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 20), S. 105—123 (111), der davor w a r n t , die Epochen „zu scharf voneinander ab(zu)setzen". Die mittelalterliche u n d die moderne Verfassung verbinde vielmehr ein „kontinuierlicher Prozeß des Wandels". Vgl. auch ders., Verfassung u n d Gesellschaft i m Mittelalter, 2. Aufl., Paderborn 1978, S. 23 f. Ferner Kroeschell, Verfassungsgeschichte u n d Rechtsgeschichte des Mittelalters, ebd., S. 47—77 (48) m i t der Forderung an die v e r fassungsgeschichtliche Forschung die „(möglicherweise) unsachgemäße Beschränkung auf die ,Neuzeit'" zu überwinden. 34 Hierzu nach w i e vor grundlegend: Haskins, The Renaissance of the 12th Century, Cambridge, Mass. 1927, Neudr. New Y o r k 1960. Siehe ferner Gandillac / Jeauneau (Hg.), Entretiens sur la Renaissance d u 12 e siècle, Paris 1968.
Einleitung: Z u r Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts Veränderungen i n der mittelalterlichen Herrschafts- u n d Sozialstruktur 3 ® ausmachen, d i e d e m A u f k o m m e n dieser B e g r i f f l i c h k e i t k o r r e s p o n dieren u n d m i t der Ausdifferenzierung frühmoderner rechtlicher politischer
Institutionen37
einhergehen.
Schließlich
bilden
sich
und erste
Ansätze einer i n den aufblühenden Universitäten u n d Hohen Schulen der Zeit institutionalisierten Jurisprudenz
heraus, w e l c h e d i e n e u e n
P r o b l e m e fachspezisch e r f a ß t 3 8 u n d m i t H i l f e des wissenschaftssprachl i c h e n Rüstzeugs d e r Epoche a u f d e n B e g r i f f b r i n g t . D a m i t zeichnet sich e i n v e r ä n d e r t e r z e i t l i c h e r H o r i z o n t ab, i n d e m die herkömmliche Periodisierungsgrenze zwischen M i t t e l a l t e r u n d N e u z e i t ü b e r s c h r i t t e n u n d d i e E n t w i c k l u n g des m o d e r n e n Staates u n d seines ö f f e n t l i c h e n Rechts i n e i n e n n e u e n B e z u g s r a h m e n g e s t e l l t w i r d . E i n e d e r a r t e r w e i t e r t e historische P e r s p e k t i v e erscheint i n ganz besonderer W e i s e geeignet, d e n B l i c k a u f z e i t l i c h u n d sachlich ü b e r g r e i f e n d e Z u s a m m e n h ä n g e f r e i z u l e g e n , d i e sonst g e r n ü b e r s e h e n w e r d e n . Sie i s t i m ü b r i g e n d e r geschichtswissenschaftlichen F o r s c h u n g u n t e r d e m A s p e k t einer auf m i t t e l - u n d langfristige Zeiträume eingestellten „longue d u r é e " 3 9 seit g e r a u m e r Z e i t d u r c h a u s v e r t r a u t . V o n h i e r aus w i r d das A u g e n m e r k über lange Zeiträume h i n w e g auf dominante Strukturen, 35 Siehe hierzu Hölscher, Öffentlichkeit, i n : Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, hg. von O. Brunner (u. a.), Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 413—467 (414 ff.). 38 Das hat namentlich der Münchener Sozialhistoriker Karl Bosl, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft i m Mittelalter, Stuttgart 1972, 2 Bde., nachgewiesen. 37 Den institutionellen Aspekt der Staatlichkeit hat vor allem Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates i m hohen Mittelalter, i n : H Z 159 (1939), S. 457—487, auch i n : H e l l m u t K ä m p f (Hg.), Herrschaft u n d Staat i m Mittelalter, Darmstadt 1956 (WdF, 2), Neudr. ebd. 1974, S. 284—331, herausgearbeitet. Siehe jetzt den von Gunter Gudian gegebenen europäischen Überblick: Die grundlegenden Institutionen der L ä n der, i n : Coing (Hg.), Handbuch der Quellen u n d L i t e r a t u r der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (1100—1500), M ü n chen 1973, S. 401—466, sowie Joseph R. Strayer, Die mittelalterlichen G r u n d lagen des modernen Staates, K ö l n 1975 (zuerst amerikanisch 1970). 38
Siehe hierzu Coing , Die juristische F a k u l t ä t u n d i h r Lehrprogramm, i n : ders. (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 39—128. 39 Diese, an Zeitabläufen von langer Dauer orientierte Forschungsperspektive stützt sich namentlich auf den französischen Sozialhistoriker Fernand Braudel, Histoire et Sciences sociales. L a longue durée, i n : AESC 13 (1958), S. 725—753 (jetzt auch i n deutscher Übers, unter dem T i t e l ,Geschichte u n d Sozialwissenschaften. Die „longue durée"' i n dem von Hans-Ulrich Wehler herausgegebenen Sammelband: Geschichte u n d Soziologie, K ö l n 1972, S. 189— 215). Z u m geschichtswissenschaftlichen H i n t e r g r u n d siehe Erbe, Z u r neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe u m die ,Annales', Darmstadt 1979, S. 91 ff. (94 ff.). Z u r rechtshistorischen Relevanz des s t r u k turalistischen Erklärungsmodells vgl. Johannes-Michael Scholz, Historische Rechtshistorie. Reflexionen anhand französischer Historik, i n : ders. (Hg.), Vorstudien zur Rechtshistorik, F r a n k f u r t a. M . 1977, S. 1—175 (75 ff., 97 ff.).
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Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
d.h. Ordnungsgefüge und institutionelle Zusammenhänge von einiger Dauer und Beständigkeit gelenkt 40 , wie sie sich vom Standpunkt einer dem kurzen Zeitablauf oder der individualhistorischen Momentaufnahme verpflichteten Sichtweise nicht ohne weiteres erschließen. öffentliches Recht erscheint i n dieser mittel- und langfristigen Perspektive nicht als unbewegliche Statik, sondern als eine wesentlich i n Entwicklung befindliche „dauernde wirklichkeitsnahe Bewegung" 4 1 . Das der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegende erkenntnisleitende Interesse ist demzufolge kein bloß antiquarisches, sondern ein durchaus gegenwartsbezogenes 42 insofern, als jene Probleme zur Sprache gebracht werden sollen, die nicht nur i n der gewählten langfristigen Perspektive, sondern auch heute noch thematisch sind. Eine i n dieser Weise angelegte Entwicklungsgeschichte versteht sich nicht etwa bloß als Einleitung oder A u f t a k t der Gegenwart, sondern w i l l durch den Rückgriff auf die Genese des ius publicum das heutige öffentliche Recht aus seinen historischen Entstehungsbedingungen verständlich machen und damit zugleich zu einer aktuellen Standortbestimmung beitragen. Es kann nach allem weder darum gehen, eine detaillierte Wortgeschichte der verschiedenartigen, historisch wechselnden Bedeutungen von ,ius publicum* zu geben, noch darauf ankommen, gleichsam erschöpfend einzelne öffentlichrechtliche Problemstellungen und Institute registrieren zu wollen, die irgendwann einmal unter zeitgebundenem Aspekt behandelt und erörtert worden sind. Vielmehr ist beabsichtigt, die Entwicklung des öffentlichen Rechts anhand einschlägiger, repräsentativer Sprachverwendungen und Benennungsvorgänge 43 darzustellen, 40 Z u m komplexen geschichtlichen Strukturbegriff vgl. Koselleck, Darstellung, Ereignis u n d S t r u k t u r (1973), i n : ders., Vergangene Z u k u n f t , S. 144—157. Siehe auch ders., Geschichte, Geschichten u n d formale Zeitstrukturen (1973), ebd., S. 130—143. 41 So Walter Leisner, I m p e r i u m i n fieri. Z u r Evolutionsgebundenheit des öffentlichen Rechts, i n : Der Staat 8 (1969), S. 273—302 (302). Siehe auch ders., Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts? Z u m Problem des evolutionistischen Denkens i m Recht, ebd. 7 (1968), S. 137—163. Vgl. ferner Grawert, Ideengeschichtlicher Rückblick auf Evolutionskonzepte der Rechtsentwicklung, ebd. 22 (1983), S. 63—82 (63), unter Hinweis darauf, daß sich die „Gesamtstruktur der staatlichen Rechtsordnung i m Verfassungswandel (bewegt)". 42 Z u r Frage des Gegenwartsbezugs rechtsgeschichtlicher Forschung siehe Dieter Grimm, Rechtswissenschaft u n d Geschichte, i n : ders. (Hg.), Rechtswissenschaft u n d Nachbarwissenschaften, Bd. 2, München 1976, S. 9—34. D a nach setzt Gegenwartsrelevanz „Kenntnis der aktuellen Probleme von Recht u n d Gesellschaft u n d Bereitschaft zu prüfen [voraus], ob sie von der Rechtsgeschichte erhellt oder gar einer Lösung nähergeführt werden können" (ebd., S. 10). 43 M i t der Folge, daß nicht alle Bezeichnungen f ü r den vorgegebenen Sachverhalt notiert werden. Dazu aus der Sicht der begriffsgeschichtlichen M e thode Helmut G. Meier, A r t . Begriffsgeschichte, Sp. 797. Siehe auch Koselleck, Einleitung, S. X X I f.
Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts d. h. nach Möglichkeit diejenigen rechtsbegrifflichen und rechtsstrukturellen Zusammenhänge zu rekonstruieren, die über den gesamten infrage stehenden Zeitraum hinweg durchgängig normative Relevanz besitzen. I n Anbetracht der Tatsache, daß der Kernbereich des Öffentlichen Rechts, der konventionellen Fächereinteilung folgend, nach wie vor durch das Staatsrecht gebildet wird, ist hierbei durchweg die Perspektive einer staatsrechtswissenschaftlichen Reflexion auf die Voraussetzungen und Implikationen des ius publicum zugrunde gelegt. Dies geschieht, geleitet durch die Einsicht, daß Recht und Gesellschaft einander nicht isoliert gegenüberstehen, aus dem Blickwinkel einer i n ihrem Selbstverständnis nachpositivistischen, wissenschaftstheoretisch aufgeklärten Rechtskonzeption 44 , die sich der Interdependenzen rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen durchaus bewußt ist. Die staatsrechtswissenschaftliche Analyse setzt infolgedessen methodologisch wie rechts- und staatstheoretisch bereits jenseits eines Recht und Staat aus sich selbst heraus erklärenden staatsrechtlichen Positivismus 45 an, indem sie, anders als dieser, die Entwicklung des öffentlichen Rechts aus dem Gesamtzusammenhang seiner historisch-politischen und sozialen Wirklichkeit zu begreifen und darzustellen sucht. Die nachfolgende Untersuchung geht auf dieser Grundlage zunächst den Wurzeln des ius publicum i m hohen und späten Mittelalter nach (Erster Abschnitt). Sie beleuchtet sodann Geltungsgrundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts i m Zeitalter des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (Zweiter Abschnitt). Die weitere Untersuchung gilt den Voraussetzungen und Folgen des staatsrechtlichen Positivismus i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie seiner Überwindung 44 Z u r Programmatik eines die Einseitigkeiten des Rechts- u n d Gesetzespositivismus hinter sich lassenden, auf eine möglichst konkrete W i r k l i c h keitserfassung bedachten nachpositivistischen Rechtsrealismus siehe jetzt Krawietz, H e l m u t Schelsky — ein Weg zur Soziologie des Rechts, i n : K a u l bach / Krawietz (Hg.), Recht u n d Gesellschaft. Festschrift f ü r H e l m u t Schelsky zum 65. Geburtstag, B e r l i n 1978, S. X I I I — L X X V I I I ( L X V I I I f f . ) , sowie ders., Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis. Eine U n tersuchung zum Verhältnis von dogmatischer Rechtswissenschaft u n d rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, Wien 1978, S. 146 ff. Vgl. ferner Friedrich Müller, Juristische Methodik u n d Politisches System, B e r l i n 1976, S. 11 ff. 45 Der das Recht aus seinen politischen u n d gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszulösen sucht. Dazu E.-W. Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts u n d der Staatsrechtswissenschaft, i n : Recht u n d Staat i m sozialen Wandel. Festschrift f ü r Hans U l r i c h Scupin zum 80. Geburtstag, hg. von Norbert Achterberg, Werner Krawietz, Dieter Wyduckel, B e r l i n 1983, S. 317— 331 (329), der m i t G r u n d davon ausgeht, daß der „Versuch des staatsrechtlichen Positivismus, u m einer ,neutralen 4 Interpretation w i l l e n die staatsrechtlichen Grundbegriffe aus ihrer politischen Bezogenheit zu isolieren u n d auf sich selbst, d. h. ihre formale Begrifflichkeit zu stellen, . . . gescheitert (ist) u n d . . . scheitern (mußte)".
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Einleitung: Zur Reflexion auf die Entstehung des Öffentlichen Rechts
durch die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit (Dritter Abschnitt), u m m i t einem Ausblick auf die zeitgenössischen Fragestellungen und Probleme allen öffentlichen Rechts unter den Bedingungen eines nachpositivistischen Rechtsrealismus zu schließen.
Erster
Abschnitt
Die Wurzeln des öffentlichen Rechts im hohen und späten Mittelalter Erstes Kapitel
Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune § 1 Begriff u n d Bereich des öffentlichen 1. Die Öffentlichkeit mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse
Der Epoche des Mittelalters ist — einer noch immer vertretenen A u f fassung zufolge 1 — der Begriff des öffentlichen fremd. Das Mittelalter kenne ebensowenig den Begriff der öffentlichen Gewalt wie den des öffentlichen Amtes oder Dienstes, noch vermöge es zwischen öffentlichem und Privatrecht zu unterscheiden. Der Interpret mittelalterlicher Rechtszustände solle daher auf den Gebrauch des Begriffs „öffentlich" überhaupt verzichten, w e i l andernfalls die heute m i t diesem Ausdruck verbundenen Vorstellungen „unversehens auf jene Periode übertragen werden könnten, obwohl sie i n i h r schlechthin keine Entsprechung finden" 2 . Fragt man vor diesem Hintergrund nach Ursprung und Entwicklung des öffentlichen Rechts i m Mittelalter, so w i r d man zunächst zu untersuchen haben, ob dieser Epoche Begriff und Bereich des öffentlichen tatsächlich so unbekannt geblieben sind, wie es nach der eingangs angeführten Auffassung scheint. Denn gewiß würde ein Zeitalter, dem die Kategorie des öffentlichen fehlt, nur schwerlich ein öffentliches Recht hervorgebracht haben. Auszugehen ist bei der Analyse von dem wortgeschichtlichen Befund, den die einschlägigen Quellen überliefern. I n der lateinischen Terminologie ist hier vor allem an die m i t „publicus" zusammenhängenden 1
Vgl. Martens, S. 24 ff. (31). 2 Ebd., S. 31.
ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, Bad H o m b u r g v. d. H. 1969,
28
I . . Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Wortverwendungen 3
zu denken, die bekanntlich auf
„populus"
ver-
w e i s e n 4 u n d i n d e r B e z e i c h n u n g des G e m e i n w e s e n s als „ r e s p u b l i c a " i h r e n folgenreichsten A u s d r u c k gefunden haben5. D i e
Übersetzungen
i n s Deutsche lassen i n d e r Ü b e r t r a g u n g v o n „ p u b l i c u s " als „offanlih"®, „ l i u t b a r l i h " 7 oder „ g e m e y n " 8 d i e Eigenschaft, f ü r e i n e M e h r h e i t
von
P e r s o n e n zugänglich, d. h. n i c h t g e h e i m z u sein, e r k e n n e n u n d i n d e r Wiedergabe v o n „res publica" m i t „kunicriche" (Königreich) 9 u n d „thaz h é r t o u m " (die H e r r s c h a f t ) 1 0 d i e Z u g e h ö r i g k e i t z u d e r a u f H e r r s c h e r u n d H e r r s c h a f t s v e r b a n d bezogenen S p h ä r e h e r v o r t r e t e n . 3 Vgl. die Nachweise bei Du Cange, Glossarium mediae et infimae l a t i n i tatis, t. V I , Graz 1954, S. 555 ff. u n d bei Niermeyer, Mediae latinitatis l e x i con minus, Leiden 1976, S. 869 f. Z u r Verwendung von „publicus" i n den Volksrechten siehe Köbler, Wörterverzeichnis zu den Leges Burgundiorum, Saxonum, T h u r i n g o r u m u n d Frisionum, Gießen 1978, S. 44, 101; ders., W ö r terverzeichnis zu den Leges Francorum, ebd. 1979, S. 38, S. 84, S. 100; ders., Wörterverzeichnis zu den Leges A l a m a n n o r u m u n d Baiwariorum, ebd. 1979, S. 43, S. 107. 4 Wie die altlateinischen Formen poplicus, populicus, poblicus belegen. Vgl. Müllejans, Publicus u n d Privatus i m Römischen Recht u n d i m älteren Kanonischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Unterscheidung lus publicum u n d lus privatum, München 1961, S. 5. 5 Dazu Crosara, Respublica e respublicae. Cenni terminologici dall'età romana all' X I secolo, i n : A t t i del congresso internazionale d i d i r i t t o romano e d i storia del diritto, Verona 1948, a cura d i G. Moschetti, voi. 4, Milano 1953, S. 227—261; Suerbaum, V o m antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung u n d Bedeutung v o n res publica, regnum, Imp e r i u m u n d status von Cicero bis Jordanis, 3. erw. Aufl., Münster 1977. β So die kurz nach 802 entstandene Übersetzung der 529 erstellten Benediktinerregel. Vgl. Köbler, Lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, Göttingen 1971, S. 163. Siehe auch ders., Lateinisch-germanistisches Lexikon, ebd. 1975, S. 345. Z u r ursprünglichen Bedeutung von öffentlich nach w i e vor nützlich: Hildebert Kirchner, Beiträge zur Geschichte der Entstehung der Begriffe „öffentlich" u n d „öffentliches Recht", Diss. Göttingen 1949, S. 6 ff. 7 D. i. lautbar. Vgl. Köbler, Lateinisch-germanistisches Lexikon, S. 345. Siehe auch Steinmeyer / Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 2, B e r l i n 1882, Neudr. Dublin/Zürich 1969, S. 97, Z. 27—30. 8 Vgl. die Nachweise bei Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis, Francofurti a. M. 1857, S. 470. 9 Siehe die Glossae Herradinae (zum i n der zweiten Hälfte des 12. J a h r hunderts entstandenen „Hortus deliciarum" der Äbtissin Herrad von Landsberg) i n : Steinmeyer I Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 3, B e r l i n 1895, Neudr. D u b l i n / Z ü r i c h 1969, S. 405—420, S. 408, Z.30; S.411, Z.63; S. 412, Z. 1; S. 415, Z. 23; S. 419, Z. 36). Vgl. auch Köbler, Lateinisch-germanistisches Lexikon, S. 367. 10 Vgl. die Prudentius-Glossen, i n : Steinmeyer ! Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 2, B e r l i n 1882, Neudr. Dublin/Zürich 1969, S. 382—596, S. 517, Z. 27 f. Hierzu Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft, S. 113 f., der m i t Recht darauf hinweist, daß hier an die Stelle des konkreten »Königreich' ein „ A b s t r a k t u m " getreten ist, jedoch zu Unrecht auf der A u f fassung beharrt, daß das Wesen dieser „staatlichen Herrschaft" lediglich die „persönliche Herrschaft des Königs" sei (S. 114). Z u r schwierigen Frage einer zeitlichen Einordnung der Glossen überhaupt vgl. ebd. S. 11, F N 30, wonach die überwiegende Menge des Glossenmaterials der zweiten Hälfte des 9. u n d dem 10. Jahrhundert angehört.
§ 1 Begriff und Bereich des Öffentlichen
29
Ein rein etymologisches Vorgehen allein erweist sich jedoch als nicht zureichend, u m den sachlichen Gehalt des Öffentlichen i m Mittelalter zu erschließen. Dazu ist es vielmehr erforderlich, die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge i n die Untersuchung einzubeziehen und die Frage zu stellen, ob das Mittelalter öffentliche Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen überhaupt kennt. Geht man davon aus, daß i m Begriff des Öffentlichen die Zugehörigheit zu dem „Lebens-, Sinn- und Wertbereich des Volkes als Gemeinwesen" zum Ausdruck kommt, daß ferner hiermit nicht nur ein Raum allgemeiner Kenntnisnahme und Zugänglichkeit, sondern der Bereich des „organisierten Volks, des Volks als Gemeinde, als Staat" bezeichnet w i r d 1 1 m i t der Folge, daß ein institutionelles Moment 1 2 hinzutritt, dann ist die Frage nach öffentlichen zunächst und vor allem die nach staatlichen Strukturen. Diese werden dem Mittelalter, d. h. der überkommenen Chronologie entsprechend 13 der Zeit zwischen 500 und 1500, i m allgemeinen noch immer abgesprochen 14. Man deutet — zumeist i n engem Anschluß an Otto Brunner — die mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse als feudalistisch-vorstaatlich 15 und reduziert sie damit mehr oder weniger auf den Bereich persönlich-privater, der staatlichen Eigenschaft entbehrender Beziehungen. Die Staatlichkeit des Mittelalters stellt sich demnach allenfalls als eine Zusammenfassung privater Herrschaftsmacht dar. Die Ursprünge dieser Anschauung von Herrschaft und Verfassung i m Mittelalter gehen letztlich auf Karl Ludwig von Haller (1768—1854) zurück, der i n seiner Patrimonialstaatslehre 16 die Existenz öffentlicher 11 Vgl. Rudolf Smend, Z u m Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit, i n : Forschungen u n d Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift f ü r Walter Jellinek, hg. von O. Bachof (u. a.), München 1955, S. 11—20 (12), auch i n : ders., Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2., erw. Aufl., B e r l i n 1968, S. 462—474 (463). Siehe ferner Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, B e r l i n 1971, S. 21 ff., 98 f. 12 Dazu näher unten S. 31. 13 Vgl. Heimpel , Über die Epochen der mittelalterlichen Geschichte (1947), i n : ders., Der Mensch i n seiner Gegenwart, 2., erw. Aufl., Göttingen 1957, S. 42—66. 14 Dazu Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), i n : ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, B e r l i n 1958, S. 375—385 (375), der den „Beginn des Zeitalters der Staatlichheit" i n die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts legt. Ferner Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. V I I , der den Staat als ein „ausgesprochen modernes Gebilde" deutet, das „ v o n der ,Neuzeit' hervorgebracht wurde u n d daher w o h l auch m i t dieser Epoche vergehen" werde. 15 So z. B. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 35, der vorschlägt, zur Umschreibung der mittelalterlichen Herrschaftsverbände auf das W o r t ,Staat' ganz zu verzichten, „ u m sich nicht die Einsicht i n g r u n d sätzlich anders geartete Verbandsstrukturen zu versperren". 16 Restauration der Staats-Wissenschaft, 2. Aufl., W i n t e r t h u r 1820—1834, 6 Bde., bes. Bd. 3, S. 156 ff. (157), w o er aus Geschichte u n d V e r n u n f t die A l l -
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I. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Gewalt überhaupt leugnete, w e i l er davon ausging, daß die Rechte von Herrscher und Untertanen ausschließlich i m (Privat-)eigentum begründet und demgemäß ihrer Quelle und ihrem Wesen nach die gleichen seien 17 . Bereits i n der u m die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausgetragenen Debatte um den ,deutschen Staat des Mittelalters' 1 8 ist hiergegen m i t Recht eingewandt worden, daß das Mittelalter einer den Bereich des nur Privaten überschreitenden Ordnung durchaus fähig gewesen sei, weil es „Gemeinschaftszwecke" kannte und die „Gemeinschaftsund Abhängigkeitsverhältnisse . . . sich schlechterdings nicht bloß auf private Beziehungen reduzieren (lassen)" 19 . Der damit i n der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung eingeschlagene Weg wurde namentlich von Otto Hintze (1861—1940) weiterverfolgt, der sich dem Verhältnis von Feudalismus und Staatlichkeit zuwandte und nachwies, daß beide keineswegs einen sich ausschließenden Gegensatz bilden, weil der moderne Staat aus der hierarchisch-feudalen Verfassung des Mittelalters hervorgegangen sei m i t der Folge, daß die „Frühzeit des modernen Staates" und die „Spätzeit des Feudalismus" zusammenfallen 20 . Bald darauf vertiefte Heinrich Mitteis (1889—1952) diese Erkenntnis, indem er die vielfältigen Beziehungen von Lehnrecht und Staatsgewalt 21 aufdeckte und die positiven, w e i l staatsaufbauenden Kräfte des Lehnswesens herausarbeitete. Er sagte sich damit von einer „einseitig privatrechtlichen Auffassung des Lehnrechts" los i n der Absicht, diesem seine gemeinheit der Patrimonialstaaten i n allen Zeiten u n d Ländern nachzuweisen sucht, indem er darlegt, „daß die meisten Fürstenthümer ursprünglich auf dem Haus- u n d Grundherrlichen Verband, oder dem sogenannten Patriarchat beruhen, alle anderen aber sich i n der Folge n u r durch dieses V e r hältniß befestigen konnten". 17 Vgl. ebd. Bd. 2, S. 417 ff. Der Unterschied besteht daher nicht i n verschiedenen Befugnissen, sondern n u r „ i n verschiedenen Mitteln, gleiches Befugniß auszuüben, d. h. i n ungleichen Glücksgütern" (S. 417). 18 Vgl. Georg von Below , Der deutsche Staat des Mittelalters (zuerst 1914), 2. Aufl., Leipzig 1925. Dazu Rudolf Hübner, i n : Z R G G A 35 (1914), S. 484—506; Alfons Dopsch, Der deutsche Staat des Mittelalters (1915), i n : ders., Verfassungs- u n d Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, W i e n 1928, S. 101—134; Eduard Rosenthal, i n : H Z 115 (1916), S. 372—394. Ferner Friedrich Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918, Neudr. Aalen 1963. Siehe hierzu zusammenfassend Quaritsch, Staat u n d Souveränität, S. 26 ff., der die Frage dahingehend präzisiert, ob u n d i n welchem Maße den m i t t e l a l t e r lichen Verbandsstrukturen die „Eigenschaft des Staatlichen (im neuzeitlich,modernen') Sinne zuzubilligen sei", jedoch zu Unrecht meint, daß es sich dabei u m ein „Scheinproblem" handele (S. 27 f.). 19 Vgl. von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, S. 292. 20 Vgl. Otto Hintze, Wesen u n d Wandlung des modernen Staats (1931), i n : ders., Staat u n d Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von G. Oestreich m i t einer Einl. von F. Härtung, Göttingen 1962, S. 470—496 (475). 21 Siehe das gleichnamige 1933 erstmals erschienene Werk, Neudr. D a r m stadt 1974.
§ 1 Begriff und Bereich des Öffentlichen
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„wahre Natur als Teil der öffentlichen Hechtsordnung wiederzugeben" 22 . Konsequenterweise stellte er infolgedessen auf das Institut der Amtsleihe ab, das nicht nur ein „Anhängsel" der Leihe von Grund und Boden, sondern das Primäre und ein „von Anfang an völlig eigenberechtigter Typ" sei 23 . Die Übertragung öffentlicher Machtbefugnisse i n lehnrechtlichen Formen dürfe deshalb nicht einfach als eine Privatisierung dieser Machtbefugnisse angesehen werden. Denn das A m t bleibe Amt, auch wenn es verliehen werde 24 . Das Lehnrecht erschien i h m nach allem nicht unbedingt als der „Feind", sondern auch als der „Helfer des Staatsgedankens" 25 . Vor diesem Problemhintergrund formulierte er die herkömmlichen verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen um. Nicht darauf komme es an, wie ein Rechtssatz laute und welchem System er angehöre. Es sei vielmehr zu fragen, wie diese oder jene Norm „funktionierte" 2 6 . Von da aus zog er die Schlußfolgerung, daß man „nicht auf die Substanz, sondern auf die Funktion der Rechtssätze" abzuheben habe. I n diesem Sinne begriff Mitteis das Lehnrecht durchaus als „funktionell öffentliches Recht", von dem er m i t Grund annahm, daß es jedenfalls zeitweise das „einzige Normensystem (war), das dem Träger der höchsten Gewalt die Durchsetzung seiner Machtansprüche gewährleistete" 27 . Er gelangte so zu der neuen Einsicht, daß u m die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert der auf dem Lehnswesen beruhende Herrschaftsverband m i t seinen persönlichen Bindungen i n ein gemeinwesenbezogenes „System sachlicher Ordnungen" sich umzubilden begonnen habe 28 . Theodor Mayer (1883—1972) schließlich gelang es, den Nachweis zu führen, daß bereits i m hohen Mittelalter vielfältige Ansätze einer Institutionalisierung, d. h. Auf-Dauer-Stellung von Herrschaft festzustellen sind, die einen „gewaltigen Fortschritt" i m Prozeß moderner Staatwerdung bedeuten, weil sie den Übergang vom relativ locker organisierten Personenverband zum „institutionellen Flächenstaat" der Moderne markieren 2 9 .
22
Ebd., S. 5. Ebd*, S. 9. 24 Mitteis, Lehnrecht u n d Staatsgewalt, S. 9 f. 25 Vgl. ebd., S. 5. 28 Ebd., S. 8. 27 Siehe ebd. 28 Vgl. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer v e r gleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters (zuerst 1940), 10. Aufl., K ö l n 1980, S. 424. 29 Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates i m hohen Mittelalter (1939), i n : H. K ä m p f (Hg.), Herrschaft u n d Staat i m M i t t e l alter, Darmstadt 1956 (WdF, 2), Neudr. ebd. 1974, S. 284—331 (294, 315). 23
32
. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
I n der internationalen verfassungsgeschichtlichen Forschung hat sich auf dieser Grundlage allmählich die Einsicht durchzusetzen begonnen, daß die Wurzeln moderner Staatlichkeit bis ins hohe und späte M i t t e l alter zurückreichen 30 . I n der Tat weist die mittelalterliche Welt eine Vielzahl von Erscheinungsformen herrschaftlicher Gewalt auf, welche sich als Präformationen staatlicher Organisation begreifen lassen. Das gilt einmal für die Universalmacht des Kaisertums wie des Papsttums selbst, die mittels der von ihnen ausgebildeten politischen und rechtlichen Institutionen gleichermaßen den Prozeß frühmoderner Staatsbildung geprägt haben. Dieser außerordentlich komplexe Vorgang vollzieht sich zunächst i m Rahmen des i n der Zwei-Schwerter-Lehre 3 1 zum Ausdruck gekommenen Machtgleichgewichts zwischen Kaiser und Papst, die Reich und Kirche einvernehmlich regieren. I n dem Maße freilich, i n dem die Einheit der respublica Christiana i m Gefolge des Investiturstreits und der sich daran anschließenden Auseinandersetzungen zusehends i n Gefahr gerät, weil Kaisertum und Papsttum u m die alleinige Vorherrschaft konkurrieren 3 2 , läßt sich der Prozeß der Ausdifferenzierung frühmoderner politischer und rechtlicher Institutionen verstärkt auch für jede der beiden Universalmächte gesondert beobachten. Nicht anders als das Kaisertum, das namentlich i m Laufe der Stauferzeit erste Anfänge eines modernen, staatlich organisierten Rechtssystems hervorbringt 3 3 , vermag auch das Papsttum, angeleitet durch die großen Juri30 Vgl. Werner Näf, Frühformen des „modernen Staates" i m Spätmittelalter (1951), i n : H . H . Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, K ö l n 1967, S. 101—114; Gerhard Oestreich, Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, B e r l i n 1969, S. 5 f.; Stray er, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates (zuerst amerikanisch 1970), K ö l n 1975, S. 53 ff.; Fédou, L ' E t a t au mögen âge, Paris 1971; Charles Tilly, Reflections on the History of European State — Making, i n : ders. (Hg.), The Formation of National States i n Western Europe, Princeton, N. J. 1975, S. 3—83 (25 ff.). Siehe auch van Dülmen, Formierung der europäischen Gesellschaft i n der Frühen Neuzeit, i n : R. Koselleck (Hg.), Strukturprobleme der Frühen Neuzeit, Göttingen 1981 (Geschichte u n d Gesellschaft, Jg. 7, H. 1), S. 5—41 (30), der von einem spezifisch sozialgeschichtlichen Verständnis der Fragestellung her zu der vermittelnden Auffassung kommt, daß die Ursprünge des f r ü h modernen Staates zurück ins Mittelalter weisen, die eigentliche U m w a n d l u n g des feudalen Herrschaftsverbandes i n das frühneuzeitliche Staatensystem sich indessen erst m i t dem Ubergang zum 16. Jahrhundert vollziehe. Ferner — den Forschungsstand resümierend — Skalweit, Der Beginn der Neuzeit, Darmstadt 1982, S. 152 ff. 31 Dazu Hartmut Hoff mann, Die beiden Schwerter i m Hochmittelalter, i n : D A 20 (1964), S. 78—114. Siehe ferner Borst, Der mittelalterliche Streit u m das weltliche u n d das geistliche Schwert, i n : W. P. Fuchs (Hg.), Staat u n d Kirche i m Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart 1966, S. 34—52. 32 Vgl. hierzu Kölmel, Regimen Christianum. Weg u n d Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses u n d des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert), B e r l i n 1970, S. 69 ff., 263 ff. Z u m i m Hoch- u n d Spätmittelalter sich zuspitzenden Gegensatz zwischen I m p e r i u m u n d Sacerdotium siehe auch Holzhauer, Imperium, i n : H R G Bd. 2, B e r l i n 1978, Sp. 330—333 (331).
§ 1 Begriff u n d Bereich des Öffentlichen stenpäpste des 13. J a h r h u n d e r t s , seinerseits s t r a f f e
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Organisationsstruk-
t u r e n auszubilden, d i e d e n e n des K a i s e r t u m s z u r Seite t r e t e n u n d f ü r d e n m o d e r n e n S t a a t n i c h t w e n i g e r b e d e u t s a m g e w o r d e n s i n d als j e n e 3 4 . Z u m a n d e r e n i s t a n d i e v o r a l l e m i m W e s t e n sich a u s b i l d e n d e n n a t i o n a l e n H e r r s c h a f t s v e r b ä n d e monarchischer P r ä g u n g z u d e n k e n , i n d e n e n ausgehend v o m K ö n i g t u m u n d seinen B e a m t e n 3 5 einerseits, d e n S t ä n d e n 3 6 andererseits, erste A n s ä t z e d a u e r h a f t e r , a u f i h r e A u t o n o m i e g e g e n ü b e r d e n U n i v e r s a l m ä c h t e n 3 7 bedachter p o l i t i s c h e r I n s t i t u t i o n e n h e r v o r t r e t e n . A u c h i m R e i c h h a b e n sich, zunächst a n d e r d u r c h das K ö n i g t u m r e p r ä s e n t i e r t e n Reichsspitze 3 8 , später a u f g r u n d des z u n e h m e n d e n V e r l u s t e s a n R e g a l i e n auch a u f t e r r i t o r i a l e r E b e n e 3 9 , v e r g l e i c h b a r e H e r r s c h a f t s s t r u k t u r e n ausgebildet, d i e e r k e n n e n lassen, daß d e r i m W e s t e n v e r l a u f e n d e Prozeß d e r S t a a t w e r d u n g k e i n s i n g u l ä r e r V o r g a n g ist. G l e i c h w o h l d ü r f e n d i e Unterschiede i n d e r verfassungsgeschicht33 Das hat zuerst Ernst Kantorowicz i n seinem bahnbrechenden Werk über Kaiser Friedrich den Zweiten (Berlin 1927—1931) herausgearbeitet. Dazu näher unten Kap. 2, § 3, Nr. 2, S. 72, u n d § 4, Nr. 2, S. 81 f. 34 Z u m A n t e i l von Papsttum u n d Kirche an der Ausbildung moderner staatlicher Organisationsstrukturen siehe näher unten Kap. 3, § 6 f. 35 Siehe f ü r Frankreich: Percy E. Schramm, Der K ö n i g von Frankreich. Das Wesen der Monarchie v o m 9. bis zum 16. Jahrhundert, 2. verb. Aufl., Darmstadt 1960; Lot / Fawtier, Histoire des institutions françaises au moyenâge, t. 2: Institutions royales, Paris 1958, S.48ff., 108 f f.; Teunis, The Early State i n France, i n : Claessen / Skalnik (Hg.), The Early State, The Hague 1978, S. 235—255. F ü r England: Richardson / Sayles, The Governance of Mediaeval England from the Conquest to Magna Carta, Edinburgh 1963, Neudr. ebd. 1964, S. 168 f.; Chrimes, English Constitutional History (zuerst 1948), 4. ed., London 1967, Neudr. Oxford 1978, S. 65 ff. 36 Z u r ständischen Bewegung als einer europäischen Begleiterscheinung i m Zuge der U m w a n d l u n g der öffentlichen u n d gesellschaftlichen K r ä f t e v o m mittelalterlichen Feudalsystem zum frühmodernen Staat vgl. Gerhard Oestreich/Inge Auerbach, Die Ständische Verfassung i n der westlichen u n d i n der marxistisch-sowjetischen Geschichtsschreibung, i n : Anciens pays et assemblées d'états 67 (1976) = Miscellanea 33, S. 5—54, bes. S. 13, auch i n : Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. von B r i g i t t a Oestreich, B e r l i n 1980, S. 161—200 (166 f.). 37 Z u r Verselbständigung des frühmodernen Staates gegenüber den U n i versalmächten siehe unten Abschnitt I , Kap. 1, § 9. 38 Z u Formen u n d Strukturen königlicher Herrschaft i m Reich siehe Ernst Schubert, K ö n i g u n d Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen V e r fassungsgeschichte, Göttingen 1979, S. 66 ff. Vgl. ferner Angermeier, König u n d Staat i m deutschen Mittelalter, i n : B D L G 117 (1981), S. 167—182 (179), der aber i n seiner K r i t i k an der Staatlichkeit des Mittelalters zu w e i t geht, w e n n er aus der NichtVereinigung von Landrecht u n d Lehnrecht i n der königlichen Gewalt eine Vorstellung öffentlicher Ordnung folgert, die m a n „nicht einmal als Vorstadium des modernen Staates bezeichnen könne". 39 Vgl. Heimpel, Reich u n d Staat i m deutschen Mittelalter, i n : AöR 66 (1936), S. 257—283 (281), der jedoch zu Unrecht zu der Schlußfolgerung gelangt, daß seit dem 13. Jahrhundert das „Reich staatlich entleert" werde. Z u m Verhältnis von Reich u n d Territorialstaat siehe näher unten A b schnitt I I , Kap. 2, § 13.
3 Wyduckel
3 4 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
liehen Entwicklung, die zwischen den westlichen Nationalstaaten und dem Reich bestehen, nicht übersehen werden. Diese liegen nicht zuletzt i n einer andersartigen Ausgestaltung des Lehnrechts. So haben sich i n Deutschland und Italien i m Gegensatz zu Frankreich und England weniger die zentripetalen als vielmehr die zentrifugalen Kräfte des Lehnrechts durchsetzen können 40 . Es gelang deshalb dem deutschen Königtum nur unzureichend, die dem Lehnrecht durchaus innewohnenden staatsaufbauenden Tendenzen auf Dauer für das Reich zu mobilisieren. Das Überwiegen des Vasallenrechts gegenüber dem Recht des Lehnsherrn ebenso wie der Umstand, daß es i m Reich an bedeutendem Allodialbesitz nie gefehlt hat 4 1 , haben wesentlich dazu beigetragen, daß i n Deutschland die herrschaftsbildenden Kräfte des Lehnswesens schließlich nicht zur vollen Entfaltung gelangt sind. Es wäre aber unzutreffend, dem Lehnswesen deshalb seine Bedeutung als einem konstitutiven Verfassungselement des Reiches gänzlich abzusprechen 42. Denn auch hier haben die hoheitlichen und staatsbildenden Züge des Lehnswesens ihren Niederschlag gefunden, wenngleich sie letztlich nicht so sehr dem Reich als Ganzem, sondern mehr den Territorien und kleineren Herrschaften zugute gekommen sind 48 . Darüber hinaus fällt den Stadtkommunen i m Prozeß der Staatwerdung eine bedeutsame Rolle zu. Gerade hier haben sich beispielhaft jene Institutionen 4 4 ausgeformt, die — wie etwa Magistrat und Bürgerkonzil — zwar nicht dem typischen B i l d monarchisch-absoluter Staatlichkeit entsprechen, jedoch für den republikanisch-demokratischen Staat der Moderne modellhaften Charakter besitzen. 40 Siehe hierzu Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, S. 425. Vgl. ferner ders., Lehnrecht u n d Staatsgewalt, S. 449, m i t dem zutreffenden Hinweis darauf, daß „nicht das Lehnrecht i n seiner institutionellen Eigenart zentrifugal g e w i r k t hat, sondern n u r i n seiner spezifischen Ausprägung, die es als Reichslehnrecht durch die E i n w i r k u n g politischer Faktoren erfahren hat". 41 Dazu Goez, Allod, i n : H R G Bd. 1, B e r l i n 1971, Sp. 120 f. (121), der es als eine „ f ü r die deutsche Geschichte fundamentale Tatsache" bezeichnet, daß der K ö n i g als oberster Lehnsherr niemals Herr des gesamten Reichsareals gewesen ist. 42 Vgl. hierzu Diestelkamp, Lehnrecht u n d spätmittelalterliche Territorien, i n : Patze (Hg.), Der deutsche Territorialstaat i m 14. Jahrhundert, Bd. 1, Sigmaringen 1970, S. 65—96 (77), der m i t G r u n d betont, daß man dem „Lehnswesen am Ubergang zur Neuzeit keineswegs pauschal die Lebenskraft absprechen u n d das Lehnrecht nicht bloß als eine Rechtsform unter den verschiedenen Leiheverhältnissen bezeichnen kann". 43 Die, w i e Mitteis, Lehnrecht u n d Staatsgewalt, S. 461, zutreffend unterstreicht, „so zu Zentren staatlicher Willensbildung w u r d e n " . 44 Vgl. L a Ville, vol. 1: Institutions administratives et judiciaires, B r u x e l les 1954, S. 264 ff.; C. Haase (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 2: Recht u n d Verfassung, 2. Aufl., Darmstadt 1976. Ferner Hagen Keller, Der Übergang zur Kommune. Z u r E n t w i c k l u n g der italienischen Stadtverfassung i m 11. Jahrhundert, i n : Diestelkamp (Hg.), Beiträge zum hochmittelalterlichen
§ 1 Begriff u n d Bereich des Öffentlichen
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D i e h i e r i n B e t r a c h t gezogenen h o c h - u n d s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e n A n sätze e i n e r s t a a t l i c h e n H e r r s c h a f t s o r d n u n g erschließen sich f r e i l i c h erst d a n n i n i h r e m g a n z e n A u s m a ß , w e n n m a n anders als d i e t r a d i e r t e rechts- u n d verfassungsgeschichtliche F o r s c h u n g n i c h t m e h r n u r nach d e r Substanz des f r ü h m o d e r n e n Staates, e t w a i m S i n n e e i n e r i m m e r schon vorausgesetzten E i n h e i t v o n S t a a t s e l e m e n t e n ( S t a a t s v o l k , Staatsgebiet, S t a a t s g e w a l t ) 4 5 , s o n d e r n auch n a c h seiner F u n k t i o n 4 6 i m h i s t o rischen Prozeß f r a g t . E r b l i c k t m a n diese i m V o r g a n g d e r A u s d i f f e r e n zierung und
Auf-Dauer-Stellung
solcher p o l i t i s c h e r
und
rechtlicher
I n s t i t u t i o n e n , d i e i m s t a n d e sind, gesamtgesellschaftlich b i n d e n d e E n t scheidungen h e r z u s t e l l e n 4 7 , so r ü c k e n d i e scheinbar h e t e r o g e n e n m i t t e l alterlichen Herrschafts- u n d Verbandsbildungen i n Reich u n d Kirche, Städtewesen, K ö l n 1982, S. 55—72 (55), der am Beispiel ober- u n d m i t t e l italienischer Städte darlegt, daß der hierarchisch-herrschaftlichen Ordnung der mittelalterlichen W e l t i n den K o m m u n e n ein „neues Prinzip menschlichen Zusammenwirkens i n der politisch-sozialen Gemeinschaft entgegengesetzt (wurde), das neue, i m K o n t e x t der feudalen U m w e l t überraschende Formen der politischen Organisation hervorbrachte". 45 Entsprechend der überkommenen Drei-Elemente-Lehre (vgl. Jellinek, A l l gemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudr., Bad H o m b u r g v. d. H. 1960, S. 394 ff.), die heute i n zunehmendem Maße als unzureichend betrachtet w i r d . Dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 146, der es m i t Recht als unzulässig erachtet, „Gebiet, V o l k u n d Gewalt als ,Elemente 4 des Staates zusammenzufassen", w e i l damit inkommensurable Größen „nicht n u r w i d e r ihre N a t u r voneinander isoliert, sondern zudem i n eine L i n i e gestellt werden". Vgl. zur K r i t i k der Drei-Elemente-Lehre Achterberg, Die gegenwärtigen Probleme der Staatslehre, i n : D Ö V 31 (1978), S. 668—678 (673), jetzt auch i n : ders., Theorie u n d Dogmatik. Ausgewählte Abhandlungen 1960—1980, B e r l i n 1980, S. 110—134 (121). 48 Z u Ansätzen einer funktionalen Betrachtungsweise des Staates siehe bereits Heinrich Mitteis, Lehnrecht u n d Staatsgewalt, S. 8; ders., Der Staat des hohen Mittelalters, S. 5 f. (dazu oben S. 30 f). Vgl. jetzt Achterberg, Die gegenwärtigen Probleme der Staatslehre, DÖV 1978, S. 673 (Theorie u n d Dogmatik, S. 121), der f ü r die Staatslehre eine „ f u n k t i o n a l orientierte Staatsdefinition" fordert, die „nicht allein auf den Staat als Substanz u n d auf seine Elemente als vorgegebene Einheit, sondern auf seine Funktionen abhebt". Z u m Funktionalismus als wissenschaftlicher Methode siehe Luhmann, F u n k t i o n u n d Kausalität (1962), i n : ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, 4. Aufl., Opladen 1974, S. 9—30; ders., F u n k tionale Methode u n d Systemtheorie (1964), ebd., S. 31—53. 47 Z u r Charakterisierung des Staates als des f u n k t i o n a l auf die Herstellung bindender Entscheidungen spezialisierten politischen Systems vgl. Luhmann, Soziologie des politischen Systems (1968), ebd., S. 154—177 (158 ff.). Z u m k o m plexen Phänomen der Ausdifferenzierung siehe ders., V o r w o r t zu: A u s differenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, F r a n k f u r t a. M. 1981, S. 7. Danach hat Ausdifferenzierung, w i e L u h m a n n i m Hinblick auf das Rechtssystem ausführt, einen historischen Bezug. Sie bezeichnet nämlich einen „geschichtlichen Prozeß, der von der Evolution des Gesellschaftssystems abhängt". Aus gesellschaftstheoretischer Sicht stellt sich dieser Prozeß nicht n u r als ein Vorgang der Einrichtung besonderer Institutionen u n d Organisationen, sondern zugleich als ein Vorgang der Ausb i l d u n g eines „rechtlich orientierten Kommunikationszusammenhanges" dar. Vgl. ders., Ausdifferenzierung des Rechtssystems, ebd., S. 35—52 (37). 3*
3 6 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Territorium und Stadt ins Mosaik einer einheitlichen Betrachtung, weil es sich ungeachtet der Unterschiedlichkeiten i m Ablauf u m vergleichbare, auf die institutionelle Permanenz politischer Herrschaft gerichtete Vorgänge handelt. Es fragt sich nunmehr, i n welchen gesellschaftlichen Bezugsrahmen die mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse eingebettet sind. 2. Der gesellschaftliche Bezugsrahmen des Öffentlichen
Es wäre zu eng, das Öffentliche mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse ausschließlich vom Staatlichen her sehen zu wollen. Es fragt sich vielmehr, i m Hinblick worauf, d. h. auf welchen gesellschaftlichen Bezugsrahmen mittelalterlicher Staatlichkeit das Prädikat des Öffentlichen zukommt. Daß diese Frage nicht i m Sinne eines Trennungsdenkens von „Staat" als öffentlicher und „Gesellschaft" als privater Sphäre beantwortet werden kann, wie es der monarchisch-konstitutionellen Staatslehre des 19. Jahrhunderts 48 mitunter eigen war, ist heute dank Otto Brunner gesichertes Ergebnis sozial- und verfassungsgeschichtlicher Forschung, weil die — ohnehin höchst problematische — „Auseinanderlegung i n autonome Kultursphären" ihrerseits das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses darstellt, der „erst i n den neueren Jahrhunderten durchgedrungen ist" 4 9 . Diese i n ihrem K e r n durchaus zutreffende Erkenntnis darf freilich nicht dazu führen, dem Mittelalter die Existenz von Öffentlichkeit als einer sozialstrukturellen Kategorie überhaupt abzusprechen 50 . Vielmehr lassen sich i m Hinblick auf die mittelalterlichen Sozialstrukturen 51 durchaus Ansätze allmählicher Ausdifferenzierung eines Bereichs des öffentlichen beobachten, die entwicklungsgeschichtlich als Vorstufen bürgerlicher Öffentlichkeit der Neuzeit betrachtet werden können. Solche Ansätze sind zunächst und vor allem i n den aufstrebenden Städten zu beobachten, die infolge des seit dem 13. Jahrhundert sich 48
Dazu näher unten Abschnitt I I I , Kap. 3, § 20, Nr. 1. L a n d u n d Herrschaft, S. 117. 50 So aber Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (zuerst 1962), 9. Aufl., D a r m stadt 1978, S. 19, der die mittelalterlichen Ansätze des öffentlichen u n t e r schätzt, w e i l er Öffentlichkeit zu eng als die „Sphäre der zum P u b l i k u m versammelten Privatleute" begreift (S. 42). Ebenso Hölscher, Öffentlichkeit u n d Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 11 ff. (11). Danach soll Öffentlichkeit als soziales Ordnungsprinzip erst zur Zeit der A u f k l ä r u n g „entdeckt" worden sein. 51 Siehe hierzu Oexle, Die funktionale Dreiteilung der ,Gesellschaft' bei Adalbero v o n Laon. Deutungsschemata der sozialen W i r k l i c h k e i t i m frühen Mittelalter, i n : Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1—54, der aber zu Unrecht annimmt, der Begriff der Gesellschaft als einem sozialen Ganzen sei dem mittelalterlichen Menschen fremd gewesen (S. 3 ff.). Dazu näher unten Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, Nr. 1, S. 113. 49
§ 1 Begriff und Bereich des Öffentlichen
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ausweitenden Handels- und Finanzkapitalismus zu Mittelpunkten eines permanenten Verkehrs- und Kommunikationszusammenhanges werden, der sich i n den Bahnen des Warenhandels entfaltet 52 . I n den städtischen Gemeinwesen zeichnen sich beispielhaft die Elemente einer neuen, frühbürgerlichen Lebens- und Gesellschaftsordnung 53 ab, die — von den Handel und Gewerbe treibenden Bürgern getragen — i n das adligfeudale Herrschaftssystem nicht ohne weiteres zu integrieren war. Die Stadtbürger entwickeln der steigenden Bedeutung der städtischen Zentren entsprechend ein neues Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, das nach politischer Verwirklichung drängt und sich i n der Bürgergemeinde (universitas civium) ein Forum schafft, welches öffentlich genannt werden kann, w e i l hier jene Dinge zur Sprache kommen, die von allen gehört und gewußt werden sollen (ab omnibus sciri debent et audiri) 54 . Eine derart verstandene Publizität stellt übrigens kein Novum dar. Denn sie wurzelt i n den römischen Komitien ebenso wie namentlich i n der germanischen Volks- und Gerichtsversammlung, die i n dem angegebenen Sinne als durchaus öffentlich 55 bezeichnet werden kann. Öffentlichkeit entfaltet sich aber keineswegs nur i m Umkreis der Städte. Der Aufschwung städtischer Lebensformen ist nur ein Teil einer weitaus umgreifenderen, seit der Wende zum 11. Jahrhundert deutlich faßbar werdenden Entwicklung, i n deren Verlauf die archaische Feudalgesellschaft i n die sogen. Aufbruchszeit 56 eintritt und sich tiefgreifend 52 Vgl. de Roover, The Organisation of Trade, i n : The Cambridge Economic History of Europe, vgl. 3, ed. by M. M. Postan (u. a.), Cambridge 1963, Neudr. ebd. 1965, S. 42—118 (66 ff.). Z u den Grundlagen wirtschaftlichen Wachstums i m frühen Mittelalter siehe Lopez, Of Towns and Trade, i n : Robert S. H o y t (Hg.), Life and Thought i n the Early Middle Ages, Minneapolis 1967, S. 30—50. Z u m wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang: Postan /Rieh (Hg.), Trade and Industry i n the M i d d l e Ages, Cambridge 1952 (The Cambridge Economic History of Europe, vol. 2). Z u m A n t e i l der Kirche am mittelalterlichen K o m munikationszusammenhang siehe unten S. 41 f. 53 Dazu Haverkamp, Die „frühbürgerliche" Welt i m hohen u n d späteren Mittelalter, i n : H Z 221 (1975), S. 571—602. Vgl. ferner Maschke l Sydow (Hg.), Städtische Mittelschichten, Stuttgart 1972, S. 1—31. 54 Das hat Marsilius von Padua zu Beginn des 14. Jahrhunderts eindrücklich dargelegt. Vgl. seinen Defensor Pacis, ed. H. Kusch, Darmstadt 1958, I, cap. 12, § 7, S. 126, w o überdies ausgeführt w i r d , daß die Menschen „ad c i v i lem communicacionem" zusammenkommen. Vgl. hierzu Quillet, L'organisat i o n de la société humaine selon le Defensor Pacis de Marsile de Padoue, i n : Wilpert (Hg.), Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen M e n schen, B e r l i n 1964, S. 185—203, die i n Marsilius den Theoretiker der „civitas humana perfecta" sieht, „particulariste et repliée sur elle même jalouse de son individualité et tout entière tournée vers l'accomplissement de son bien commun" (S. 186). 55 Vgl. etwa L e x Salica 14, 4; 39, 2 u n d 46, 6 i m H i n b l i c k auf das öffentlich, d. h. das i m öffentlichen T h i n g (in mallo publico) Verhandelte. Siehe auch die Leges A l a m a n n o r u m 41, 2 m i t Inbezugnahme dessen, was i n „publico concilio" geschieht. 58 Z u Voraussetzungen u n d Charakter der neuen Bewegung siehe Bosl, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft i m Mittelalter, T e i l 1, Stuttgart
3 8 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
w a n d e l t . A u c h a u ß e r h a l b d e r S t ä d t e w i r d dieser W a n d e l i m A u f s t i e g n e u e r sozialer Schichten sichtbar, die, w i e M i n i s t e r i a l e 5 7 u n d R o d u n g s b a u e r n 5 8 , aus d e r U n f r e i h e i t d e r l e i b e i g e n e n f a m i l i a h e r a u s t r e t e n u n d e i n M a ß a n F r e i h e i t u n d F r e i z ü g i g k e i t erlangen, das z w a r n i c h t a n d i e a d l i g e V o l l f r e i h e i t h e r a n r e i c h t , aber als e i n e A r t „ f u n k t i o n e l l e r F r e i h e i t " 5 9 zwischen dieser u n d d e n verschiedenen S c h a t t i e r u n g e n d e r U n f r e i h e i t anzusetzen ist. D i e R o d u n g s b a u e r n k ö n n e n sich i n d e m Maße, i n d e m sie sich v o m opus s e r v i l e befreien, aus d e n B i n d u n g e n des F r o n h o f v e r b a n d e s lösen ( R o d u n g m a c h t f r e i ! ) 6 9 u n d — w e n n auch n i c h t z u r v o l l e n p e r s ö n l i c h e n F r e i h e i t — so doch z u e i n z e l n e n F r e i h e i t e n gelangen. D i e u r s p r ü n g l i c h u n f r e i e n M i n i s t e r i a l e n v e r m ö g e n , i n d e m sie z u A u f g a b e n d e r R e i c h s v e r w a l t u n g herangezogen w e r d e n , als T r ä g e r ö f f e n t l i c h e r F u n k t i o n e n ( r e i p u b l i c a e m i n i s t r i , m i n i s t r i v e l exactores p u b l i c i ) a u f z u t r e t e n 6 1 u n d d a m i t eine gesellschaftlich gehobene S t e l l u n g z u 1972, S. 161 ff., der die „Epoche des Aufbruchs" auf die Zeit zwischen 1050 u n d 1300/1350 datiert. 57 Dazu Bosl, Die Reichsministerialität als Element der mittelalterlichen deutschen Staatsverfassung i m Zeitalter der Salier u n d Stauf er (1943), i n : ders., Frühformen der Gesellschaft i m mittelalterlichen Europa, München 1964, S. 327—356 (333), der herausarbeitet, w i e das deutsche K ö n i g t u m m i t den Ministerialen eine „Oberschicht der nichtschollegebundenen, unfreien Volksgruppe zu Aufgaben der Herrschaft herangezogen u n d gesellschaftlich gehoben (hat)". Ferner Maschke / Sydow (Hg.), Stadt u n d Ministerialität, Stuttgart 1973, w o die Zusammenhänge zwischen Ministerialität u n d Bürgert u m deutlich gemacht werden. 58 Hierzu Theodor Mayer, Die Entstehung des „modernen Staates" i m M i t telalter u n d die freien Bauern, i n : Z R G G A 57 (1937), S. 210—288 m i t H i n weis auf die Tatsache, daß die Kolonisten ein besseres Recht erhielten als die Altsiedler, da bei ihnen „ a n die Stelle persönlicher Abhängigkeit rein dingliche Verpflichtungen traten" (S. 231). Vgl. auch Karl Siegfried Bader, Staat u n d Bauerntum i m deutschen Mittelalter, i n : Theodor Mayer (Hg.), A d e l u n d Bauerntum i m deutschen Staat des Mittelalters, Leipzig 1943, S. 109—129 (124) m i t Hinweis auf die Parallele von städtischer u n d bäuerlicher Freiheit. Ferner Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung v o m frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1967, S. 39 ff. 59 So Karl Bosl, Freiheit u n d Unfreiheit. Z u r E n t w i c k l u n g der Unterschichten i n Deutschland u n d Frankreich (1957), i n : ders., Frühformen der Gesellschaft, S. 180—203 (185), der diese F o r m der Freiheit auch als „ f u n k t i o n e l l ,freie' Unfreiheit" bezeichnet (ebd., S. 183). 60 Z u r bislang ungelösten Frage der H e r k u n f t dieses Satzes kritisch: Hans K. Schulze, Rodungsfreiheit u n d Königsfreiheit, i n : H Z 219 (1974), S. 529— 550 (545 f.), der aber zu Unrecht auf den Begriff der Rodungsfreiheit ganz verzichten w i l l . A u f die Entsprechung zum Satz „Stadtluft macht frei" hat Mitteis hingewiesen, der Rodungsfreiheit u n d Stadtfreiheit dem ü b e r w ö l benden Begriff der Siedlungsfreiheit zuordnen w i l l (Uber den Rechtsgrund des Satzes „ S t a d t l u f t macht frei" [1952], i n : C. Haase [Hg.], Die Stadt des Mittelalters, Bd. 2, S. 182—202 [201]). 61 Das geht aus zahlreichen U r k u n d e n deutscher Kaiser u n d Könige, vor allem I t a l i e n betreffend, hervor. Vgl. die U r k u n d e Ottos d. Gr. f ü r das Bist u m Marsica v o m 19. Februar 964 (Die U r k u n d e n der deutschen Könige u n d Kaiser, Bd. 1, Nr. 100, S. 183), w o die Ministerialen als ,ministri vel exactores publici' erwähnt werden. Vgl. ferner die U r k u n d e n desselben f ü r die Klöster
§ 1 Begriff u n d Bereich des Öffentlichen
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erreichen, d i e sich n i c h t i h r e r H e r k u n f t , s o n d e r n sozialer L e i s t u n g v e r dankt. A m A n f a n g d e r d a m i t e i n g e l e i t e t e n E n t w i c k l u n g steht d i e F r e i s e t z u n g v o n A r b e i t u n d A r b e i t s k r a f t des w i r t s c h a f t e n d e n M e n s c h e n als e i n eigener k u l t u r e l l e r W e r t , w i e i h n b e r e i t s i m 10. J a h r h u n d e r t Rather von Verona z u m A u s d r u c k b r i n g t , w e n n e r sagt, daß d e r M e n s c h f ü r d i e A r b e i t g e b o r e n sei ( h o m i n e m a d l a b o r e m nasci) 8 2 . A r b e i t , D i e n s t u n d Leistung werden i n der Folge z u m A n t r i e b einer exemplarisch durch Stadtbürger, Ministeriale u n d „freie" Bauern verkörperten neuen politischen F ü h r u n g s s c h i c h t 8 3 , d i e sich z w i s c h e n d e m h o h e n A d e l u n d d e r G e i s t l i c h k e i t a u f d e r einen, d e r K l a s s e d e r a l l g e m e i n e n L e i b e i g e n s c h a f t a u f d e r a n d e r e n Seite z u f o r m i e r e n v e r m a g u n d d i e — w e n n auch s t ä n d i s c h - k o r p o r a t i v e i n g e b u n d e n — die engen G r e n z e n d e r archaischen Feudalgesellschaft a l l m ä h l i c h d u r c h b r e c h e n k a n n . D e r A u f s t i e g d e r neuen, auch T e i l e des N i e d e r a d e l s 8 4 i n t e g r i e r e n d e n M i t t e l s c h i c h t v o l l z i e h t sich v o r d e m H i n t e r g r u n d e i n e r I n t e n s i v i e r u n g v o n H a n d e l u n d P r o d u k t i o n 8 5 , die i m V e r e i n m i t z u n e h m e n d e r A r b e i t s t e i l u n g 8 8 b e i wachsender B e v ö l k e r u n g s z a h l 6 7 eine b i s l a n g n i c h t g e k a n n t e S. Pietro i n Cielo d'oro zu Pavia v o m 9. A p r i l 962 (ebd. Nr. 241, S. 340) u n d S. Zaccaria zu Venedig v o m 26. August 963 (ebd. Nr. 258, S. 368) sowie die Urkunde f ü r die Kirche von Cambrai v o m 30. A p r i l 948 (ebd. Nr. 100, S. 183), i n denen die Ministerialen als ,rei publicae ministri* erscheinen. Ebenso die Bestätigungen der U r k u n d e n f ü r die Klöster S. Pietro durch Heinrich II. v o m 4. J u n i 1004 (ebd. Bd. 3, Nr. 73, S. 93), S. Sisto zu Piacenza durch dens. von 1008 (ebd. Nr. 183, S. 217), S. Pietro durch Konrad II. v o m 2. A p r i l 1027 (ebd. Bd. 4, Nr. 75, S. 97). Hierzu Bosl, Die Reichsministerialität, S. 327 ff. (331). 82 Praeloquiorum l i b r i sex, i n : ders., Opera omnia, accurante J.-P. Migne, Parisiis 1881 (PL, 136), Sp. 145—352, lib. I, t i t . X I , cap. 26, Sp. 172. Dazu August Adam, A r b e i t u n d Besitz nach Ratherius von Verona, Freiburg i. Br. 1927, S. 69 ff., der betont, daß f ü r Rather die A r b e i t nicht n u r i m W i l l e n Gottes begründet ist, sondern auch eine „soziale Verbindlichkeit" darstellt (S. 72). 63 Dazu Bosl, Macht u n d A r b e i t als bestimmende K r ä f t e i n der m i t t e l alterlichen Gesellschaft, i n : Festschrift L u d w i g Petry, Bd. 1, Wiesbaden 1968 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 5), S. 46—64 (55 ff.). 64 Vgl. hierzu Fleckenstein, Die Entstehung des niederen Adels u n d das Rittertum, i n : ders., Herrschaft u n d Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte i m 13. Jahrhundert, Göttingen 1977, S. 17—39 (26). 65 Hierzu Bernard, Handel u n d Geldwesen i m M i t t e l a l t e r 900—1500, i n : E u ropäische Wirtschaftsgeschichte, hg. v o n C. M. Cipolla, deutsche Ausgabe hg. von K . Borchard, Bd. 1: Mittelalter, Stuttgart 1978, S. 177—217 (199); Lopez, The Commercial Revolution of the Middle Ages, Englewood Cliffs, N. J. 1971, Neudr. Cambridge 1976, S. 56 ff., 123 f. 68 Vgl. Thrupp, Das mittelalterliche Gewerbe, 1000—1500, i n : Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 141—176, die zutreffend betont, daß A d a m Smiths berühmte Erörterung der Arbeitsteilung i m Eingangskapitel seines ,Wealth of Nations' nichts aussage, „was den weltlichen Gewerbetreibenden i n mittelalterlichen Städten neu oder erstaunlich geschienen hätte" (S. 160). 87 Vgl. J. C. Russell, Die Bevölkerung Europas 500—1500, ebd., S. 13—43 (23).
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Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
gesellschaftliche Dynamik heraufführt. Infolge von Landesausbau und Rodung brechen Leibeigene i n die Städte oder i n neue Siedelgebiete auf 68 , entziehen sich dadurch ihren alten Leibherren und setzen mit ihrer Arbeitskraft häufig auch ihre Person frei. Aber auch die Herren entlassen i n zunehmendem Maße die Mitglieder der alten familiae i n die verschiedenen Formen der Bürger-, Ministerialien- oder Kolonistenfreiheit 6 9 , weil sie die Erfahrung machen, daß gesteigerte Produktion, erhöhter Geldumlauf und wachsender Handelsverkehr letztlich auch ihnen zugute kommen 70 . Eine derart i n Bewegung geratene Gesellschaft erleichtert nicht nur die Kommunikation, sondern erweitert auch die Horizonte der Menschen. Tätigkeiten, die bislang i n den Rahmen des „Ganzen Hauses" (οίκος)71 eingebunden waren, treten über die Schwelle des Haushalts hinaus ans Licht eines breiteren Publikums. Warenverkehr und Fernhandel tragen ihrerseits dazu bei, m i t der Erschließung neuer Märkte ein weitgespanntes Netz wechselseitiger Beziehungen auszubilden, welches zu festen Kontakten 7 2 führt und damit einen auf Dauer gestellten Nachrichten- und Kommunikationszusammenhang überhaupt erst möglich macht. Die umlaufenden vielfältigen Nachrichten, Meinungen und Gerüchte bleiben keineswegs auf den wirtschaftlich-kaufmännischen Bereich beschränkt, sondern tragen zugleich einem darüber hinaus gehenden Informationsbedürfnis Rechnung. So erfassen sie weitere Kreise, wenn Gegenstände von allgemeinerem Interesse weitergetragen werden, die als „gemeine rede" 7 3 oder „rede i n lantmannßweise" 74 kursieren 68 Hierzu Bosl, Über soziale M o b i l i t ä t i n der mittelalterlichen „Gesellschaft". Dienst, Freiheit, Freizügigkeit als Motive sozialen Aufstiegs (1960), i n : ders., Frühformen der Gesellschaft, S. 156—179; ders., Die horizontale M o b i l i t ä t der europäischen Gesellschaft i m Mittelalter u n d ihre K o m m u n i kationsmittel, i n : Zwischen Donau u n d Alpen. Festschrift f ü r Norbert Lieb, München 1972 (Zeitschrift f ü r bayerische Landesgeschichte, Bd. 35, Η . 1), S. 40—53. 89 Z u den unterschiedlichen Aspekten von Freiheit bzw. Unfreiheit siehe Bosl, Die Unfreiheit i m Ubergang von der archaischen Epoche zur Aufbruchsperiode der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1973 (Bayer. Akad. der Wiss., Philos. — hist. Kl., Sb., Jg. 1973, H. 1), S. 16 ff. 70 Vgl. hierzu Duby, Die Landwirtschaft des Mittelalters 900—1500, i n : E u ropäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 111—139, der auf den diesbezüglichen Wandel i n der Mentalität der Grundherren aufmerksam macht, die „beginnen, den Profit zu schätzen" (S. 133). 71 Dazu Otto Brunner, Das „ganze Haus" u n d die alteuropäische „Ökonom i k " (1958), i n : ders., Neue Wege der Verfassungs- u n d Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103—127. 72 Vgl. Lopez, D u marché temporaire à la colonie permanente. L a politique commerciale au moyen âge, i n : AESC 4 (1949), S. 389—405 m i t Hinweisen auch auf außereuropäische Entwicklungsfaktoren. Ferner Bernard, Handel u n d Geldwesen i m Mittelalter, S. 186 ff. (198).
§ 1 Begriff u n d Bereich des Öffentlichen
41
u n d d a m i t als „ l a n d k ü n d i g , w i s s e n t l i c h u n d o f f e n b a r " 7 5 gelten. D i e a u f diese Weise t r a n s p o r t i e r t e n I n f o r m a t i o n e n u n d M e i n u n g e n s t e l l e n i n s o w e i t e i n e n d u r c h a u s p o l i t i s c h e n F a k t o r d a r , als i h n e n auch d i e H e r r schenden i h r e A u f m e r k s a m k e i t n i c h t versagen. Diese versuchen i h r e r seits, a u f d i e f ü r sie als das „ g e m e i n e g e s c h r e y " 7 6 oder
„baurenge-
s c h r a y " 7 7 sich d a r b i e t e n d e n A u f f a s s u n g e n d e r U n t e r t a n e n E i n f l u ß
zu
n e h m e n , i n d e m sie a u f d e n „ o f f e n e n b r i e f " 7 8 als M i t t e l a l l g e m e i n e r I n f o r m a t i o n r e k u r r i e r e n oder sich d e r „ p r o c l a m a t i o p u b l i c a " 7 9 bedienen, d i e ö f f e n t l i c h k u n d g e m a c h t ( p u b l i c e f a c t a ) 8 0 w i r d . A u c h u n d gerade d e r K i r c h e k o m m t i m f o r t s c h r e i t e n d e n Prozeß d e r A u s d i f f e r e n z i e r u n g 73
von
Hierauf r e k u r r i e r t Kaiser Friedrich I I I . i m Schreiben an K u r f ü r s t A l brecht I I I . Achilles von Brandenburg v o m 19. Februar 1485 hinsichtlich v o n Gerüchten, die von einer Erhebung seines Sohnes M a x i m i l i a n zum römischen K ö n i g wissen w o l l e n (Felix Priebatsch, Politische Correspondenz des K u r fürsten Albrecht Achilles, Bd. 3, Leipzig 1898, Nr. 1047, S. 355 f., 355). Vgl. auch die Wendung „allerley gemeine rede", die Pfalzgraf Friedrich 1469 i m H i n blick auf an i h n gelangte Nachrichten i n Sachen des später hingerichteten Nürnberger Ratsherrn Nicolaus M u f f e l gebraucht (Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 11, Nürnberg, Bd. 5, Leipzig 1874, S. 770). 74 Darauf bezieht sich der Würzburger Bischof Gottfried Schenk von L i m purg am 5. September 1446 i m Rahmen seiner Auseinandersetzungen m i t Markgraf Albrecht Achilles von Ansbach, später K u r f ü r s t von Brandenburg. Vgl. Amrhein, Gotfrid Schenk von L i m p u r g , Bischof von Würzburg u n d H e r zog zu Franken, 1442—1455, i n : A r c h i v des Historischen Vereins von U n t e r franken u n d Aschaffenburg 53 (1911), S. 1—154 (12). 75 Vgl. Sendschreiben der Stadt Nürnberg an Fürsten u n d Städte m i t Beschwerde über die Brüder von Waldenfels v o m 2. März 1444, deren Vorgehen i n der oben genanten Weise als allgemein bekannt vorausgesetzt w i r d (Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 2, Nürnberg, Bd. 2, Leipzig 1864, S. 72). 76 Vgl. den Bericht von Lorenz Fries, Historie der gewesenen Bischoffen zu Würtzburg (1544), i n : Johann Peter Ludewig, Geschicht-Schreiber von dem Bischoffthum Wirtzburg, Franckfurt 1713, S. 373—866 (762), der auf Gerüchte anläßlich der W a h l Albrechts I I . zum K ö n i g am 18. März 1438 Bezug n i m m t . Siehe auch Wendehorst, Das B i s t u m Würzburg, T e i l 2. Die Bischofsreihe von 1254—1455, B e r l i n 1969, S. 150. 77 So K u r f ü r s t Albrecht I I I . Achilles von Brandenburg am 11. Februar 1485 an Kaiser Friedrich I I I . i n dem oben, F N 73, genannten Zusammenhang (Priebatsch, Politische Correspondenz des Kurfürsten Albrecht Achilles, Bd. 3, Nr. 1044, S. 347 ff., 348). Vgl. dazu Ernst Schubert, „bauerngeschrey". Z u m Problem der öffentlichen Meinung i m spätmittelalterlichen Franken, i n : Festschrift f ü r Gerhard Pfeiffer, Neustadt (Aisch) 1975 (Jb. f ü r fränkische L a n desforschung, 34/35), S. 883—907. 78 Vgl. Bischof Johann von Brunn, der sich i m K a m p f gegen sein D o m kapitel 1432 an die Würzburger Gemeinde wendet, der er die Zusicherung gibt: „ob jemand wolte sprechen, w i r böten v i l m i t den worten, u n d thäten die werke nicht: darum so haben w i r diesen offenen brief m i t unserm aufgedruckten insiegel versiegelt". Vgl. Fries, Historie, S. 714. 79 So 1322 der Erzbischof von Mainz, der befiehlt, i n Würzburg eine derartige Proklamation zu erlassen. Vgl. Wendehorst (Hg.), Tabula formarum curie episcopi. Das Formularbuch der Würzburger Bischofskanzlei von ca. 1324, Würzburg 1957, Nr. 182, S. 117 ff. (118). 80 Entsprechend der Beurkundung des Bischofs von Augsburg, der i n obiger Angelegenheit i n Vertretung des Erzbischofs von Mainz t ä t i g geworden war. Ebd., Nr. 183, S. 119.
4 2 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Publizität eine bedeutsame Funktion zu. Zum einen, weil sie durch ihre Legaten über ein ausgezeichnetes Kommunikationsnetz verfügt, zum anderen, weil sie mittels der als „publica instructio" begriffenen Predigt nicht nur der Erbauung der Gläubigen, sondern auch ihrer allgemeinen Unterrichtung dient (informationi hominum) 8 1 . Darüber hinaus tragen die Pilgerströme zu den zahlreichen heiligen Stätten ebenso wie die Kreuzzugsfahrten dazu bei, eine Vielzahl von Nachrichten und Informationen weiterzugeben, die i n den Wallfahrtsorten und Beherbergungsstationen ausgetauscht und damit einem größeren Personenkreis zugänglich werden 82 . Es ist nach allem nicht erstaunlich, wenn sich bereits i m späten Mitelalter eine — zunächst auf mündlicher, später auch auf schriftlicher Nachrichtenübermittlung beruhende — Keimzelle öffentlicher Meinung 8 3 herauszubilden beginnt, auf die i n zahlreichen Urkunden als „fama publica" 8 4 Bezug genommen wird. Stellt man die Frage nach der Öffentlichkeit mittelalterlicher Herrschafts- und Sozialstrukturen i n dem hier entwickelten neuen Problemzusammenhang, so erweisen sich Begriff und Bereich des öffentlichen dem Mittelalter als keineswegs so fremd, wie gemeinhin noch immer angenommen wird. Zwar läßt sich das öffentliche des Mittelalters nicht als ein substanzhaft fest umrissener, bereits ausdifferenzierter Bereich abgrenzen, doch erschließt es sich i n dem Maße, i n dem man die Vielzahl der Ansätze i n ihren unterschiedlichen Zusammenhängen aufspürt und i n den Bezugsrahmen frühmoderner Staatlichkeit zum einen, der sich ausbildenden frühen bürgerlichen Sozialstrukturen zum anderen, einfügt. Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob und inwieweit Begriff und Bereich des öffentlichen auch i n rechtlicher Hinsicht i n den Herrschaftsund Sozialstrukturen des Mittelalters zum Ausdruck gekommen sind. 81 Vgl. den i n der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts i n Paris lehrenden Theologen u n d Philosophen Alanus ab Insults, Summa de arte praedicatoria, i n : ders., Opera omnia, accurante J.-P. Migne, Parisiis 1855 (PL, 210), Sp. 111— 198, cap. 1, Sp. I l l : „Praedicatio est, manifesta et publica instructio m o r u m et fidei, informationi h o m i n u m deserviens . . . " . 82 Z u r mittelalterlichen Pilgerbewegung siehe Oursei, Les pèlerins d u m o yen âge. Les hommes, les chemins, les sanctuaires, Paris 1963, bes. S. 51 ff. Ferner Sumption , Pilgrimage. A n Image of Mediaeval Religion, London 1975, S. 114 ff. Den Ursprüngen des Pilgerwesens i m christlichen A l t e r t u m geht Kötting, Peregrinatio religiosa, 2. Aufl., Münster 1980, nach. 83 Hierzu als Materialsammlung noch i m m e r nützlich: Théremin, Beitrag zur öffentlichen Meinung über Kirche u n d Staat i n der städtischen Geschichtsschreibung Deutschlands von 1349—1415, B e r l i n 1909. Vgl. ferner Benzinger, Z u m Wesen u n d zu den Formen von K o m m u n i k a t i o n u n d P u b l i zistik i m Mittelalter, i n : Publizistik 15 (1970), S. 295—318, sowie — m i t B l i c k richtung auf den kirchlich-konziliaren Bereich — Miethke, Die Konzilien als F o r u m der öffentlichen Meinung i m 15. Jahrhundert, i n : D A 37 (1981), S. 736—773. 84 Vgl. etwa Wendehorst, Tabula formarum, Nr. 58, S.36; Nr. 59, S. 37.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
43
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune 1. Die Erneuerung des römischen Rechts als lus commune
Ebenso wie der Begriff des öffentlichen soll dem Mittelalter einer herkömmlichen und noch immer verbreiteten Auffassung entsprechend der Begriff des öffentlichen Rechts fremd sein 85 . Das mittelalterliche Recht ist nach dieser, auf den Verfassungshistoriker Fritz Kern (1884 bis 1950) zurückgehenden 86 , von Otto Brunner 8 7 aufgenommenen und fortgeführten Lehre auf dem Rechtsgefühl beruhendes gutes altes, ungesetztes und ungeschriebenes Recht, das „allein die Ganzheit des Rechts" darstellt 8 8 . Die Unterscheidung von positivem und idealem Recht fehlt danach ebenso wie die von subjektivem und objektivem Recht 89 , w e i l das Recht „göttlich, natürlich, moralisch und positiv zugleich" ist 9 0 , d. h. durch eine „natürliche Ganzheit des Rechtsbewußtseins" getragen wird 9 1 . Auch der Herrscher hat lediglich „sein subjektives Recht auf Herrschaft, wie der letzte Hörige sein Recht auf Bearbeitung der Scholle" 92 . Es gibt für K e r n daher „kein besonderes Staatsrecht", m i t h i n auch keine Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht 93 . Dem römischen wie dem kanonischen Recht wollte K e r n für den mittelalterlichen Rechtsbegriff keine große Bedeutung beimessen. Zwar leugnete er das Bestehen einer „gewissen gelehrten Jurisprudenz" ebensowenig wie die Tatsache, daß das römische Recht zusammen m i t dem Kirchenrecht den mittelalterlichen Rechtsbegriff durch seine antiken Bestandteile allmählich sprengt 94 , vermochte jedoch die darin liegende Relevanz für Recht und Rechtsdenken nicht v o l l zu erkennen, w e i l er das römische Recht als „totes Recht" 95 ansah, dem das „lebendige Rechtsbewußtsein der Zeit" trotzte 96 . 85
Vgl. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 31 m. w . N. Vgl. seinen zuerst 1919 i n der Historischen Zeitschrift publizierten A u f satz über „Recht u n d Verfassung i m Mittelalter". Selbständig erschienen als Bd. 3 der L i b e l l i der Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt 1952, Neudr. 1958 (danach die folgenden Zitate). Ferner ders., Gottesgnadentum u n d W i d e r standsrecht i m frühen Mittelalter (zuerst 1914), 3. Aufl. Unveränd. Nachdruck der 2. A u f l . von 1954, hg. v. R. Buchner, Darmstadt 1962. 87 L a n d u n d Herrschaft, S. 122 f., 133 ff. 88 Kern, Recht u n d Verfassung, S. 23 ff. (27). 89 Ebd., S. 17, S. 35 f., 47. 90 Ebd., S. 17. 91 Ebd., S. 62. 92 Ebd., S. 67. Das objektive Recht k a n n demnach allenfalls als Summe sämtlicher subjektiven Rechte vorgestellt werden, es „besteht aus ihnen". 93 Ebd. 94 Ebd., S. 40. 95 Ebd., S. 60. 96 Gottesgnadentum u n d Widerstandsrecht, S. 265. 86
I. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
44
Dieses seinerzeit v o n F r i t z K e r n Idealisierung
und Überbewertung
entworfene,
von
zeitgebundener
angeblich germanischer
Rechtszu-
stände n i c h t f r e i e B i l d 9 7 des m i t t e l a l t e r l i c h e n Rechts i s t i n z w i s c h e n m i t G r u n d w e s e n t l i c h m o d i f i z i e r t w o r d e n . Z u m e i n e n h a t sich d i e K e n n z e i c h n u n g des m i t t e l a l t e r l i c h e n Rechts als eines i n d e r U n v o r d e n k l i c h k e i t g e g r ü n d e t e n als z u e i n s e i t i g erwiesen. M a n k a n n , w i e
Hermann
Krause
vorherr-
ü b e r z e u g e n d nachgewiesen h a t , a l l e n f a l l s v o n e i n e r
schenden T e n d e n z 9 8 sprechen, z u m a l b e r e i t s d e m f r ü h e r e n
Mittelalter
d i e V o r s t e l l u n g d e r V e r ä n d e r b a r k e i t u n d G e s t a l t u n g des Rechts d u r c h aus n i c h t f r e m d i s t 9 9 . Rechtsterminologische F o r s c h u n g e n 1 0 0 h a b e n dieses gegenüber d e m K e r n s c h e n A n s a t z d i f f e r e n z i e r t e r e B i l d b e s t ä t i g t m i t d e r Folge, daß verschiedene Schichten o d e r T y p e n m i t t e l a l t e r l i c h e n Rechts hervortreten,
d i e n i c h t n u r d e m A l t e r , s o n d e r n auch d e r
Geltungs-
weise101 nach unterschieden w e r d e n können. Z u m anderen w i r d heute
97 Das, w i e Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris, K ö l n 1968, S. 23, zutreffend darlegt, v o n einer „übermäßigen nationalen Verengung des rechtsgeschichtlichen Blickfeldes" gekennzeichnet war. 98 Krause, Dauer u n d Vergänglichkeit i m mittelalterlichen Recht, i n : Z R G G A 75 (1958), S. 206—251 (209). Z u r Lockerung der Vorstellung v o m alten Recht i m M i t t e l a l t e r siehe ders., Gesetzgebung, i n : H R G Bd. 1, B e r l i n 1971, Sp. 1606—1620 (1607). 99 Dazu Sprandel, Über das Problem neuen Rechts i m früheren M i t t e l alter, i n : Z R G K A 48 (1962), S. 117—137 m i t zahlreichen Beispielen bewußter Rechtsveränderung, namentlich der Karolingerzeit, sowie Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechts i m frühen u n d hohen Mittelalter, i n : W i l p e r t (Hg.), L e x et Sacramentum i m Mittelalter, B e r l i n 1969, S. 157—188 (171), der die Veränderung u n d Gestaltung des Rechts i m M i t t e l a l t e r i n den Rahmen einer abendländischen „Wende zur Z u k u n f t " einordnet. Ferner Gr awert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, i n : Der Staat 11 (1972), S. 1—25 (5), der zu dem Schluß kommt, daß jedenfalls „ i m Hochmittelalter die gedanklichen Voraussetzungen f ü r ein Recht bereitgestellt (sind), das gesetzt w i r d u n d damit instrumental, zweckfunktional verfügbar ist, das zudem temporal u n d situationsbedingt beweglich w i r d " . 100 Vgl. Kroeschell, Recht u n d Rechtsbegriff i m 12. Jahrhundert, i n : Probleme des 12. Jahrhunderts, Konstanz 1968 (Vorträge u n d Forschungen, Bd. 12), S. 309—335; Köbler, Das Recht i m frühen Mittelalter. Untersuchungen zu H e r k u n f t u n d I n h a l t frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe i m deutschen Sprachgebiet, K ö l n 1971, der aber i n der Ablehnung der Kernschen Lehre zu w e i t geht, w e n n er zu dem Ergebnis kommt, daß die Lehre einer germanisch-deutschen Vorstellung v o m unveränderlichen guten alten Recht aus den „gesamten frühmittelalterlichen Quellen nicht zu rechtfertigen" sei (S. 226). 101 ζ. B. i n dem Sinne, daß Herrschaftskreisen Rechtsentstehungskreise zugeordnet werden. Vgl. Trusen, Gutes altes Recht u n d consuetudo. Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre i m Mittelalter, i n : Recht u n d Staat. Festschrift f ü r Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag, hg. von H. Hablitzel u n d M. Wollenschläger, B e r l i n 1972, S. 189—204 (191). Ferner Kroeschell, Recht u n d Rechtsbegriff i m 12. Jahrhundert, S. 309 ff. (314). Siehe hierzu auch van Caenegem, L a w i n the Medieval World, i n : TR G 49 (1981), S. 13—46 (13), der m i t G r u n d unterstreicht, daß das mittelalterliche Recht k e i n monolithisches K o n t i n u u m darstelle (medieval l a w not a monolithic continuum),
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
45
den gelehrten Rechten eine bei weitem größere Bedeutung zugemessen, als K e r n dies zugestehen mochte. Damit erscheint jener gemeineuropäische Vorgang, der herkömmlicherweise als Rezeption des römischen Rechts bezeichnet wird, i n einem neuen Licht 1 0 2 . Nicht nur die Preisgabe rechtspositivistischer Vorurteile des 19. Jahrhunderts, auch die Überwindung einer einseitig isolierenden germanistischen oder romanistischen Betrachtungsweise haben i m Zuge fächerübergreifender Zusammenarbeit dazu beigetragen, den Weg freizumachen für ein neues Rezeptionsverständnis 103 , i n dem die Wiedergeburt des römischen Rechts als Teil eines sowohl kulturelle als auch politische und sozio-ökonomische Aspekte aufweisenden Wandlungsprozesses begriffen wird, der die gesamte mittelalterlich-europäische Welt erfaßt und tiefgreifend umgestaltet. E i n derartiges Rezeptionsverständnis erschließt sich nicht mehr ausschließlich vom ,Kampf' zweier Rechtsordnungen her, der germanisch-deutschen einerseits, der romanistisch-fremden andererseits, noch von der Vorstellung einer schematischen Übernahme toten Rechtsstoffs, sondern läßt zugleich den grundlegenden strukturellen Wandel deutlich werden, der Recht und Rechtsdenken i n ihrer Gesamtheit ergreift. Damit soll nicht geleugnet werden, daß nach wie vor — etwa i m Verhältnis zwischen römischem und deutschem Recht — nicht unbeträchtliche Auffassungsunterschiede bestehen. Jedoch ist, wie Hans Thieme m i t Grund feststellt, der „Grabenkampf u m die Herkunft dieser oder jener Lehre und Institution" inzwischen eingestellt 104 und der Blick auf übergreifende Zusammenhänge freigelegt worden. I n der Tat ist die nicht zu leugnende Übernahme materieller Vorschriften lediglich Teilerscheinung eines viel umfassenderen, tiefersowie Wadle, Über Entstehung, F u n k t i o n u n d Geltungsgrund normativer Rechtsaufzeichnungen i m Mittelalter, i n : P. Classen (Hg.), Recht u n d Schrift i m Mittelalter, Sigmaringen 1977, S. 503—518 (512 ff.). 102 Vgl. hierzu Kunkel, Das Wesen der Rezeption des römischen Rechts, i n : Heidelberger Jahrbücher 1 (1957), S. 1—12; Wieacker, Z u m heutigen Stand der Rezeptionsforschung, i n : Festschrift für Joseph K l e i n zum 70. Geburtstag, hg. v. E. Fries, Göttingen 1967, S. 181—201, sowie Coing , Die Rezeption des römischen Rechts. E n t w i c k l u n g eines Forschungsprogramms, i n : Mélanges Roger Aubenas, Montpellier 1974, S. 169—179 (176 ff.). Ferner Bardach, Recepja w historii paùstwa i prawa (La réception dans l'histoire d u droit et des institutions), i n : C P H 29/1 (1977), S. 1—62, sowie Kuttner, The Revival of Jurisprudence, i n : Benson / Constable (Hg.), Renaissance and Renewal i n the 12th Century, Oxford 1982, S. 299—323. 103 Dem vor allem Wieacker vorgearbeitet hat, indem er die Forderung aufstellte, der Historiker der Rezeption müsse außer den Rechtsquellen u n d -normen auch den „politischen, gesellschaftlichen u n d sozialen Zustand" des von i h m behandelten Zeitalters einbeziehen (Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 189). 104 Vgl. Hans Thieme, K o n t i n u i t ä t — Diskontinuität i n der Sicht der Rechtsgeschichte, i n : T r ü m p y (Hg.), K o n t i n u i t ä t , Diskontinuität i n den Geisteswissenschaften, Darmstadt 1973, S. 150—166 (154).
4 6 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
reichenden Vorganges 105, der die bereits v o n M a x Weber diagnostizierte R a t i o n a l i s i e r u n g d e r W e l t 1 0 6 h e r a u f f ü h r t u n d sich r e c h t l i c h als Prozeß der Verwissenschaftlichung 107 der Jurisprudenz darstellt. I n d e m i m Verl a u f e dieses Verwissenschaftlichungsprozesses das C o r p u s I u r i s d e r B i b e l als d i e w e l t l i c h e r a t i o s c r i p t a 1 0 8 a n d i e Seite t r i t t , w i r d d e r B o d e n b e r e i t e t n i c h t n u r f ü r e i n e V e r e i n h e i t l i c h u n g des Rechts u n d des sich a n i h m e n t f a l t e n d e n Rechtsdenkens, d e m v o r a l l e m d i e r ö m i s c h r e c h t liche Sprache u n d B e g r i f f l i c h k e i t als l i n g u a f r a n c a 1 0 9 d i e n t , s o n d e r n auch f ü r j e n e j u r i s t i s c h e D u r c h d r i n g u n g a l l e r Lebensbereiche, d i e d e r A u s b r e i t u n g des r ö m i s c h e n Rechts p a r a l l e l geht. N i c h t v o n u n g e f ä h r i s t das e r n e u e r t e römische Recht s e i n e m S e l b s t v e r s t ä n d n i s n a c h i u s c o m m u n e 1 1 0 , d. h. gemeines Recht, welches auch d a G e l t u n g beansprucht, w o es n i c h t eigens i n K r a f t gesetzt w o r d e n ist, w e i l d i e l o k a l e n R e g e l n des i u s p a r t i c u l a r e (speciale, p r o p r i u m ) i n seinen G e s a m t r a h m e n e i n g e o r d n e t w e r d e n 1 1 1 . Baldus h a t diesen k o m p l e x e n S a c h v e r h a l t i m ausgehenden 105
Kunkel, Das Wesen der Rezeption, S. 2 f., hat deshalb die Veränderungen i m Bestände der positiven Rechtsnormen zutreffend eine „sekundäre Erscheinung" genannt. ιοβ Wirtschaft u n d Gesellschaft, 5. Aufl., bes. von J. Winckelmann, Tübingen 1972, S. 195, 491 ff. 107
Vgl. hierzu vor allem Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 131 ff.; ders., Z u m heutigen Stand der Rezeptionsforschung, S. 198 f., sow i e Rheinstein, Types of Reception (1956), i n : ders., Gesammelte Schriften, hg. von H. G. Leser, Tübingen, 1979, Bd. 1, S. 261—268 (267). Siehe ferner Diestelkamp, Rezeption u n d Römisches Recht, i n : Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hg. v o n A . Görlitz, München 1972, S. 371—379 (372); Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 5. Aufl., Opladen 1982, S. 239; ders., Die Rezeption der gelehrten Rechte u n d ihre Bedeutung f ü r die B i l d u n g des Territorialstaates, i n : Jeserich u. a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: V o m Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 279— 288 (284); Hans Schlosser, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, 3., v ö l l i g überarb. u. erw. Aufl. des von Erich M o l i t o r begründeten Werkes, Heidelberg 1979, S. 4; Laufs, Rechtsentwicklungen i n Deutschland, 2. Aufl., B e r l i n 1978, S. 28. 108 Hierzu Wieacker, Ratio scripta. Das römische Recht u n d die abendländische Rechtswissenschaft, i n : ders., V o m römischen Recht, Leipzig 1944, S. 195—284 (207 ff.). Z u m — w o h l französischen — Ursprung sowie zur W e i terentwicklung der Formel siehe Alejandro Guzman, Ratio scripta, F r a n k f u r t a. M. 1981, S. 5 ff. 109 Z u r Ausbildung einer universellen juristischen Fachsprache durch die mittelalterlichen Legisten siehe Yntema, Legal Science and the Development of C i v i l L a w Doctrine, i n : Estudios j u r i d i c o — sociales. Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, t. 1, Santiago de Compostela 1960, S. 523—536 (523 f.). 110 Z u m Begriff des ius commune siehe Calasso, Introduzione al d i r i t t o comune, Milano 1951, S. 31 ff. Ferner Thieme, Z u m Begriff des Gemeinen Rechts, i n : Einzelne Probleme der Rechtsgeschichte u n d des römischen Rechts, Szeged 1970 (Acta Universitatis Szegediensis, t. 17), S. 109—119 m i t Hinweis darauf, daß der Begriff „überaus vieldeutig" ist (S. 111). 111 Mittels der sogen. Statutentheorie, d . h . der für das Zustandekommen, die Geltung u n d die Interpretation des nicht gemeinen Rechts aufgestellten
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
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14. Jahrhundert treffend m i t den Worten umschrieben, das ius commune werde selbst da anerkannt, wo es nicht gelte (ubi non viget), weil es als ius communissimum allen Völkern gemeinsam sei und insoweit mit dem ius gentium zusammenfalle 112 . 2. Zur Frage der Herkunft des lus publicum aus dem römischen Recht der Spätklassik
Versucht man, den vielschichtigen Regelungszusammenhang des ius commune näher zu bestimmen, so zeigt sich, daß dieser vermeintlich so einheitliche Block des einen Rechts (unum ius) 1 1 3 sehr wohl der Differenzierung fähig ist. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich freilich nicht aus einer etwaigen systematischen Ordnung der zugrunde liegenden Rechtsquellen selbst. Das von den mittelalterlichen Legisten wieder erschlossene Corpus Iuris ist bekanntlich keine nach rechtssystematischen Gesichtspunkten gegliederte Kodifikation 1 1 4 i m neuzeitlichen Sinn. Es stellt vielmehr eine Sammlung kasuistischen, i m Laufe von Jahrhunderten historisch gewachsenen rechtlichen Materials unterschiedlichster Provenienz dar, das i n sich uneinheitlich ist und zudem z. T. erhebliche Widersprüche 115 aufweist. Es ist nach allem nicht erstaunlich, wenn dem Corpus Iuris eine systematische Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht fehlt. Regeln. Hierzu Trusen, Römisches u n d partikuläres Recht i n der Rezeptionszeit, i n : Rechtsbewahrung u n d Rechtsentwicklung. Festschrift f ü r H e i n rich Lange zum 70. Geburtstag, hg. von K . Kuchinke, München 1970, S. 97— 120; Wolf gang Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, Ebelsbach 1977, S. 7. Vgl. auch Ugo Nicolini, Autonomia e d i r i t t o proprio nelle città italiane del Medio Evo, i n : Europäisches Rechtsdenken i n Geschichte u n d Gegenwart. Festschrift f ü r H e l m u t Coing zum 70. Geburtstag, hg. von Norbert Horn, München 1982, Bd. 1, S. 249—267 (264), der dem römischen Recht i m Hinblick auf die partikularen Rechte eine integrative F u n k t i o n zuspricht. 112 Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, Venetiis 1572, lib. I, tit. I, 1. 9, Nr. 2, Bl. 14 r. 113 Entsprechend dem Satz: U n u m esse ius, cum u n u m sit imperium. So die u m die M i t t e des 12. Jahrhunderts entstandenen, zu Unrecht dem Irnerius zugeschriebenen: Questiones de iuris subtilitatibus, ed. G. Zanetti, Firenze 1958, I I , 16, S. 16. 114 Vgl. Genzmer, Die justinianische K o d i f i k a t i o n u n d die Glossatoren, i n : A t t i del Congresso Internazionale d i D i r i t t o Romano, vol. 1, Pavia 1934, S. 345—430 (353). Z u m modernen Kodifikationsbegriff siehe Vanderlinden, Le concept de code en Europe occidentale d u 13e au 19 e siècle. Essai de définition, Bruxelles 1967, S. 69 ff. Siehe ferner Bühler, Rechtsquellenlehre, Bd. 1: Gewohnheitsrecht, Enquête, Kodifikation, Zürich 1977, S. 87 ff., der das Corpus Iuris als Kompilation, d. i. eine V o r - u n d F r ü h f o r m der K o d i f i kation qualifiziert. 115 Entgegen der ausdrücklichen Behauptung Justinians (Const. Tanta pr.; § 15). Vgl. hierzu Genzmer, Die justinianische Kodifikation, S. 353, der diese Behauptung m i t Recht einen „Selbstbetrug" nennt.
4 8 I .
1. Kap.: Die Geburt de lus publicum aus dem lus commune
Gleichwohl darf man aus dieser Erkenntnis nicht den Schluß ziehen, Begriff und Regelungsbereich des öffentlichen Rechts seien der römischen Jurisprudenz völlig fremd geblieben. Schon i n der ausgehenden Prinzipatszeit w i r d das ius publicum von den römischen Juristen ausdrücklich i n Bezug genommen und an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert durch den Spätklassiker Ulpian als diejenige Rechtsphäre gekennzeichnet, die dem römischen Gemeinwesen zugewandt ist (ad statum rei Romanae spectat)11®. Ulpian verdeutlicht diesen Zusammenhang, indem er ius publicum und römische Magistratur beispielhaft aufeinander bezieht (in magistratibus consisit) 117 . Daß diese Zuordnung nicht isoliert geschieht, sondern i n einen größeren Rahmen eingefügt ist, folgt aus einer Reihe von Parallelzeugnissen, i n denen römisches Gemeinwesen, öffentliche Gewalt und ius publicum zueinander i n Beziehung gesetzt werden. So ordnet Ulpian nicht nur die Amtsgewalt (ius potestatis) des Magistrats 118 dem ius publicum zu, sondern auch die sonstigen öffentlichen Ämter (cetera officia publica), die von i h m zum Kreis der staatlichen Rechte (iura civitatis) gezählt werden 1 1 9 . Sein Zeitgenosse Paulus bestätigt diese Zuordnung, wenn er die Fähigkeit, Magistrat, Senator oder Richter zu sein, demjenigen Rechtsbereich zuweist, den die iura publica 1 2 0 regeln. Darüber hinaus lassen zahlreiche Inbezugnahmen öffentlicher Einrichtungen und Sachen erkennen, daß den römischen Juristen, die hierzu etwa den Fiskus 1 2 1 und die an diesen 116 Dig. 1, 1, 1, 2; Inst. 1, 1, 4. Z u r Echtheit dieser i n der älteren Romanistik teilweise übertrieben verdächtigten Stelle: Nocera, Jus publicum. Contributo alla ricostruzione storio-esegetica delle regulae iuris, Roma 1946, S. 152 ff., sowie Käser, ,Ius publicum 4 — ,ius privatum', i n : S D H I 17 (1951), S. 267—279 (277), der zu dem Ergebnis kommt, daß die Dig. 1, 1, 1, 2 ausgesprochene Bestimmung des ius p u b l i c u m „ i n einem T e x t Ulpians gestanden haben kann". 117 Ebd. Die weiteren dort genannten Beispiele (sacra, sacerdotes) beziehen sich auf das römische Sakralrecht. Dazu Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3. Aufl., Bd. I I , 1, Leipzig 1887, Neudr. Darmstadt 1971, S. 18 ff. 118 Dies folgt aus dem Zusammenhang der Rechtmäßigkeitsvermutung f ü r den Amtsträger i n Dig. 47, 10, 13, 1: „Is, q u i iure publico u t i t u r , non videtur iniuriae faciendae causa hoc facere" u n d ebd., 6: „Quae iure postestatis a magistratu fiunt, ad i n i u r i a r u m actionem non pertinent." Dazu Nocera, Jus publicum, S. 134 ff.; Käser, lus publicum, S. 270. 119 Das geht aus Dig. 4, 5, 6 hervor, wonach die öffentlichen Ä m t e r u n d das ihnen zugehörige Recht bei einer Schmälerung der bürgerlichen Rechtsstellung (capitis deminutio) nicht berührt werden: „ N a m et cetera officia quae publica sunt i n eo [i. e. capitis deminutio] non f i n i u n t u r : capitis enim m i n u t i o privata hominis et familiae eius iura, non civitatis amittit." Vgl. hierzu Nocera, S. 154. 120 Vgl. Dig. 4, 5, 5, 2, w o jene öffentlichen Ä m t e r aufgeführt sind, die ungeachtet der capitis deminutio bestehen bleiben: „per quam [i.e. capitis deminutio] publica iura non interverti constat: nam manere magistratum v e l senatorem v e l iudicem certum est." Hierzu Nocera, ebd. 121 Der ursprünglich als »publicus 4 schlechthin bezeichnet wurde (Gaius Dig. 29, 6, 25 pr.: ,ex publico accipere', ebd. 2: ,in p u b l i c u m redigere'). Z u m
§ 2 Das Verhältnis v o n lus publicum u n d lus commune
49
zu leistenden A b g a b e n (publica vectigalia)122 sowie die i m Gemeing e b r a u c h ( i n p u b l i c o usu) stehenden Plätze, Wege, S t r a ß e n u n d F l ü s s e 1 2 3 zählen, H e c h t s b e g r i f f u n d Rechtsbereich des ö f f e n t l i c h e n d u r c h a u s gel ä u f i g sind. A l l dies w ü r d e f ü r sich g e n o m m e n n u r w e n i g A u s s a g e k r a f t besitzen, w e n n n i c h t e i n K r i t e r i u m b e n a n n t w e r d e n k ö n n t e , das a n g i b t , w a n n ein Sachverhalt öffentlichrechtlicher N a t u r ist u n d w a n n nicht. Die römische J u r i s p r u d e n z h a t sich diese F r a g e d u r c h a u s v o r g e l e g t u n d f ü r das ö f f e n t l i c h e Recht i m S i n n e d e r G e m e i n w o h l b e z o g e n h e i t 1 2 4 z u b e a n t w o r t e n gesucht. M a n k o n n t e sich h i e r b e i a u f eine b i s i n d i e g r i e chische P h i l o s o p h i e d e r S o p h i s t i k z u r ü c k r e i c h e n d e T r a d i t i o n stützen, d i e d e m r ö m i s c h e n Rechts- u n d S t a a t s d e n k e n v o r a l l e m d u r c h Cicero v e r m i t t e l t w o r d e n ist, w o sie i n F o r m u n d B e r u f u n g a u f d i e u t i l i t a s p u b l i c a 1 2 5 g r e i f b a r w i r d . B e g r ü n d u n g s f u n k t i o n f ü r das ö f f e n t l i c h e Recht g e w i n n t d i e b e r e i t s d e r klassischen r ö m i s c h e n J u r i s p r u d e n z i n G e s t a l t des — f r e i l i c h spezielleren — N ü t z l i c h k e i t s a r g u m e n t s n i c h t u n b e k a n n t e G e m e i n w o h l f o r m e l 1 2 6 j e d o c h erst i n d e r S p ä t k l a s s i k . S o w o h l P a u l u s als auch U l p i a n z i e h e n d i e u t i l i t a s p u b l i c a j e w e i l s d a n n z u r B e g r ü n d u n g h e r a n , w e n n es u m ö f f e n t l i c h e E i n r i c h t u n g e n oder Sachen geht, d i e Zusammenhang von Fiskus u n d öffentlichem Recht vgl. die K o n s t i t u t i o n der Kaiser Severus u n d Antoninus aus dem Jahre 200, die diesen anläßlich eines die restitutio i n integrum betreffenden Falles ausdrücklich dem ius publicum unterstellt: „iuris p u b l i c i fiscus noster i n iure restitutionis sequetur auctor i t a t e m " (Cod. 2, 36, 1). Z u m Fiskusbegriff der Kaiserzeit siehe Miliar, The fiscus i n the First T w o Centuries, i n : JRS 53 (1963), S. 29—42. 122 Vgl. Ulpian Dig. 50, 16, 17, 1: „Publica vectigalia intellegere debemus, ex quibus vectigal fiscus capit: quale est vectigal portus v e l v e n a l i u m rerum, i t e m salinarum et metallorum et picariarum." 123 Siehe etwa Pomponius Dig. 18,1, 6 pr., der das Marsfeld zu den ,in publico usu' stehenden Plätzen zählt. Vgl. i m übrigen die ins einzelne gehenden Bestimmungen über loca, itinera, f l u m i n a publica i n Dig. 43, 7 ff. Z u m öffentlichrechtlichen Charakter des Bauverbots auf i n Gemeingebrauch stehendem G r u n d gemäß Dig. 39, 1, 1, 17 siehe Berger, L ' „operis n o v i n u n t i a t i o " ed i l concetto d i „ius p u b l i c u m " d i Ulpiano, i n : I u r a 1 (1950), S. 102—123. 124 Hierzu eingehend: Thomas Honsell, Gemeinwohl u n d öffentliches I n teresse i m klassischen römischen Recht, i n : Z R G R A 95 (1978), S. 93—137. Vgl. auch Longo, Utüitas publica, i n : A t t i del Seminario romanistico internazionale, Perugia 1972, S. 155—227, jedoch m i t zu weitgehenden Interpolationsannahmen. 125 Auch utilitas communis, utilitas omnium, utilitas rei publicae. Vgl. dazu die bei Gaudemet, Utilitas publica, i n : R H D F E 29 (1951), S. 465—499 (467 ff.), angeführten Belege. 126 Hierzu Leptien, U t i l i t a t i s causa. Zweckmäßigkeitsentscheidungen i m r ö mischen Recht, Diss. Freiburg/Br. 1967, S. 18 f. Siehe auch Mayer-Maly, Gem e i n w o h l u n d Necessitas, i n : Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift f ü r Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hg. v o n H.-J. Becker (u. a.), Aalen 1976, S. 135—145 (138), der das ältere, mehr „verkehrsbezogene Gemeinwohlverständnis des klassischen Rechts" von dem jüngeren „staatsbezogenen Gemeinwohlverständnis" der Spät- u n d Nachklassik unterscheidet.
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1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
v i t a l e B e l a n g e des r ö m i s c h e n G e m e i n w e s e n s b e t r e f f e n 1 2 7 . Es i s t deshalb n i c h t s U n g e w ö h n l i c h e s , w e n n U l p i a n seiner D e f i n i t i o n des i u s p u b l i c u m e r l ä u t e r n d a n f ü g t , es h a n d l e sich i m m e r d a n n u m ö f f e n t l i c h e s Recht, wenn
Fragen
zur
Debatte
stehen,
die
von
öffentlichem
Interesse
( p u b l i c e u t i l i a ) 1 2 8 sind. D a s i n dieser W e i s e i n s B l i c k f e l d d e r spätklassischen J u r i s p r u d e n z t r e t e n d e i u s p u b l i c u m w i r d einerseits p o s i t i v d u r c h seinen B e z u g a u f G e m e i n w e s e n u n d G e m e i n w o h l als e i n besonderer B e t r a c h t u n g f ä h i g e r Rechtskreis c h a r a k t e r i s i e r t , andererseits n e g a t i v v o n j e n e r Rechtss p h ä r e abgehoben, d i e U l p i a n als das p r i v a t e Recht (ius p r i v a t u m ) d e m ö f f e n t l i c h e n g e g e n ü b e r s t e l l t 1 2 9 . D i e s geschieht a u f zweifache Weise. E i n m a l i n h a l t l i c h dadurch, daß d e m i u s p r i v a t u m anders als d e m ö f f e n t l i c h e n Recht das Interesse d e r e i n z e l n e n ( u t i l i t a s s i n g u l o r u m ) 1 3 0 zugeo r d n e t w i r d , z u m a n d e r e n f o r m a l m i t t e l s d e r sogen. U n a u f h e b b a r k e i t s regel, w o n a c h V e r e i n b a r u n g e n P r i v a t e r ö f f e n t l i c h e s Recht n i c h t a b ä n dern können: P r i v a t o r u m conventio i u r i publico n o n derogat131. Die r e s p u b l i c a u n d d i e a u f sie bezogenen I n t e r e s s e n w e r d e n d a m i t n i c h t 127 Vgl. z.B. Paulus Dig. 43, 1, 2, 1, w o anläßlich der Unterscheidung der Interdikte eine Verbindung zwischen öffentlichem Interesse u n d dem Recht der öffentlichen Sachen hergestellt w i r d : „publicae utilitatis causa competit interdictum ,ut v i a publica u t i liceat' et ,flumine publico' et ,ne q u i d f i a t i n via publica'". Ulpian Dig. 43, 8, 2, 44 r e k u r r i e r t auf das öffentliche Interesse als Begründung f ü r das Fehlen einer zeitlichen Begrenzung des Interdikts zur Unterbindung von nicht zulässigen Bauten oder Immissionen: „ I n t e r d i c t u m hoc non esse temporarium sciendum est: pertinet enim ad publicam utilitatem." Weitere Beispiele bei Thomas Honsell, Gemeinwohl u n d öffentliches Interesse, S. 105 ff. 128 Dig. 1, 1, 1, 2. Daß das hier verwendete Interessseargument nicht lediglich eine Leerformel darstellt, betont bei vorsichtiger Skepsis gegenüber seiner Erklärungsfunktion zu Recht Honsell, S. 134. 120 Dig. 1, 1, 1, 2. Hierzu Käser, lus publicum, S. 277, der die Unterscheidung f ü r klassisch hält. Vgl. ferner Giuseppe Grosso, Riflessioni i n tema d i ,ius publicum', i n : Studi i n onore d i Siro Solazzi nel cinquantesimo anniversario del suo insegnamento universitario (1899—1948), Napoli 1948, S. 461— 469 (467), der nicht daran zweifelt, daß die Unterscheidung „fosse enunciata da Ulpiano stesso". Unzutreffend Dulckeit, öffentliches u n d Privatrecht i m römischen Recht, i n : Zeitschrift der Akademie f ü r Deutsches Recht 2 (1935), S. 277—282 (280), wonach die Unterscheidung „Ausdruck des fortschreitenden Niederganges" der römischen Rechtswissenschaft sein soll; die „billige u n d schiefe Begründung m i t der utilitas" sei auf die „bekannte nachklassische Neigung zu abstrakt-theoretischer Formulierung" zurückzuführen u n d als „unrömische Lehre" i n byzantinischer Fassung der Nachwelt überliefert worden. 130 Ebd. Dazu Steinwenter, Utilitas publica — utilitas singulorum, i n : Festschrift Paul Koschaker, Weimar 1939, Bd. 1, S. 84—102. 131 Ulpian Dig. 50, 17, 45, 1. Vgl. auch Papinian Dig. 2, 14, 38: l u s p u b l i c u m p r i v a t o r u m pactis m u t a r i non potest. Z u r Klassizität der Regel: Nocera, Jus publicum, S. 209 ff.; Käser, lus publicum, S. 272. Vgl. auch ders., Der P r i v a t rechtsakt (FN 132), S. 109, m i t dem Hinweis, daß bei dem unabdingbaren ius p u b l i c u m „überall öffentliche Interessen vorliegen".
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
51
einer völlig getrennten Rechtssphäre m i t eigenen Rechtsregeln unterworfen. Eine solche Auffassung würde neuzeitlichen Systembedürfnissen entsprechen, aber dem römischrechtlichen, mehr konkret-individuellem Denken nicht gerecht werden. Gleichwohl w i r d hier ein erster, folgenreicher Versuch unternommen, das öffentliche Recht durch sachbezogene Differenzierung zwischen individuellen und öffentlichen Rechtsangelegenheiten sowohl vom Gegenstand als auch von der betroffenen Interessenkonstellation her zu begründen und als einen besonderen Rechtsbereich auszuweisen 132 . Die allmähliche Ausdifferenzierung einer öffentlichrechtlichen Sphäre läßt sich aber nicht nur begrifflich verfolgen, sondern ist zugleich i n den Rechtsstrukturen des römischen Reichs der ausgehenden Prinzipatszeit nachweisbar. Sie steht i m Zusammenhang politischer und sozialer Veränderungen, die für den Übergang vom augusteischen Prinzipat zur absoluten Monarchie des Dominats charakteristisch sind und von einem auf personaler auctoritas 133 beruhenden Herrschaftstypus zur permanenten, auf Ämter gestützten Herrschaftsorganisation 134 überleiten. Die damit einhergehenden rechtsstrukturellen Veränderungen werden einmal i n der Ausbildung einer beim Kaiser sich monopolisierenden Rechtsetzung durch allgemeine Anordnungen (constitutiones) 135 sichtbar, die neben die hergebrachten vielfältigen Formen der Rechtschöpfung tritt, weil sie stärker als diese den i m Wandel begriffenen Bedürfnissen eines sich ausdehnenden Großreiches Rechnung trägt. Sie manifestieren sich zum anderen i n der Zusammenfassung ursprünglich einzelner Herrschaftsbefugnisse (imperium, iurisdictio) 1 3 6 , die spätestens 132 Dazu Käser, Der Privatrechtsakt i n der römischen Rechtsquellenlehre, i n : Festschrift f ü r Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, hg. von Okko Behrends (u. a.), Göttingen 1978, S. 90—114 (112), der die Unterscheidung Ulpians der Sache nach m i t G r u n d f ü r berechtigt hält, w e i l hier eine „Veranschaulichung der Lebensfunktionen des Rechts" bezweckt w i r d u n d der „ K o n f l i k t zwischen den individuellen u n d den kollektiven Interessen i m Vordergrund des römischen Rechtsgeschehens" steht. Vgl. auch ders., Das römische P r i v a t recht, 1. Abschnitt, 2. Aufl., München 1971, § 48, I V , S. 197 f. Ferner Giuffrè, I l „ d i r i t t o pubblico" nell'esperienza romana, Napoli 1977, S. 86 f. 133 Vgl. hierzu Magdelain, Auctoritas principis, Paris 1947, S. 62, der den schillernden Charakter der auctoritas Augusti treffend kennzeichnet, w e n n er sagt: „Elle tend à devenir une institution, mais elle n'y est pas encore parvenue." 134 Hierzu: de Robertis, D a l potere personale alla competenza dell' ufficio, i n : S D H I 8 (1942), S. 255—307; Loewenstein, The Governance of Rome, The Hague 1973, S. 433 ff. 135 Z u r E n t w i c k l u n g der kaiserlichen Rechtsetzung vgl. de Francisci, Per la storia della legislazione imperiale durante i l principato, i n : A n n a l i d i storia del d i r i t t o 12/13 (1968/69), S. 1—41. 136 Das i m p e r i u m bezeichnet ursprünglich die Amtsgewalt des regierenden Magistrats, die iurisdictio die magistratische Machtbefugnis, sofern diese der Rechtspflege zugewandt ist. Dazu sowie zur Fortentwicklung der Begriffe:
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1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
seit d e r S e v e r e r z e i t d e m K a i s e r n i c h t m e h r — w i e i n d e n A n f ä n g e n des P r i n z i p a t s — j e w e i l s b e i A m t s a n t r i t t gesondert v e r l i e h e n , s o n d e r n n u n m e h r aus e i n e r g e n e r e l l e n Ü b e r t r a g u n g a l l e r M a c h t (omne i m p e r i u m e t potestas) d u r c h das V o l k l e g i t i m i e r t w e r d e n 1 3 7 . Es i s t n u r k o n s e q u e n t , w e n n Ulpian d a r a u s einerseits d i e Rechtsregel a b l e i t e t , w a s d e m H e r r scher b e l i e b e (placuit), h a b e Gesetzeskraft (legis v i g o r e m ) 1 3 8 u n d a n d e rerseits z u d e m Schluß k o m m t , u n t e r diesen U m s t ä n d e n müsse d e r H e r r s c h e r z u g l e i c h v o n d e n Gesetzen e n t b u n d e n ( l e g i b u s s o l u t u s ) 1 3 9 sein. O b w o h l h i n t e r diesen u n d anderen, i n d e n u n t e r s c h i e d l i c h s t e n Z u s a m m e n h ä n g e n t h e m a t i s i e r t e n F o r m u l i e r u n g e n b e g r e i f l i c h e r w e i s e noch k e i n s t r u k t u r i e r t e s ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h e s S y s t e m steht, so zeichnen sich d a r i n doch w e n i g s t e n s A n s ä t z e e i n e r i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e n H e r r s c h a f t s o r d n u n g u n d h i e r a u f bezogener Rechtsregeln ab, d i e g e d a n k l i c h e w i e s t r u k t u r e l l e V o r e n t w i c k l u n g e n eines ö f f e n t l i c h e n R e c h t s 1 4 0 d a r s t e l l e n . A l s solche s i n d sie schließlich i n das C o r p u s I u r i s J u s t i n i a n s eingegangen u n d a u f diese Weise z u r höchst f o l g e n r e i c h e n G r u n d l a g e d e r k ü n f t i g e n Rechtsu n d Staatsentwicklung geworden.
Bleichen, Imperium, i n : Der Kleine Pauly, Bd. 2, Stuttgart 1967, Sp. 1381— 1383; Steinwenter, Iurisdictio, i n : RE 10 (1919), Sp. 1155—1157; van de Kerckhove, De notione jurisdictionis i n j u r e Romano, i n : Jus Pontificium 16 (1936), S. 49—65. 137 Mittels der sogen. L e x regia. Vgl. Ulpian Dig. 1, 4, 1 pr., wonach „ c u m lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et i n eum omne suum i m p e r i u m et potestatem conférât". Allenfalls die Bezeichnung der lex als „regia" könnte interpoliert sein. Z u den Ursprüngen der L e x regia i n der klassischen L e x de imperio vgl. Brunt, L e x de imperio Vespasiani, i n : JRS 67 (1977), S. 95—116. 138 Dig. l , 4, 1 pr. Während m a n i n der älteren romanistischen Forschung unter dem Eindruck übertriebener Interpolationsvermutungen h i e r i n n u r die Befugnis des Princeps zur authentischen Interpretation des Rechts sehen wollte (so noch von Lübtow, Das römische Volk. Sein Staat u n d sein Recht, F r a n k f u r t a. M . 1955, S. 461 ff.), w i r d heute der rechtschöpferische Charakter kaiserlicher Konstitutionengebung gesehen u n d m i t G r u n d akzentuiert. Vgl. hierzu de Francisci, Per la storia della legislazione imperiale, S. 13 ff. 139 Dig. 1, 3, 31. Z u H e r k u n f t u n d E n t w i c k l u n g der Formel, die das n o t wendige Gegenstück der kaiserlichen Rechtsetzungsmacht darstellt u n d den Ansatzpunkt f ü r eine neue, m i t den Traditionen des Prinzipats brechende Auffassung des Verhältnisses von Herrscher u n d Recht bildet, siehe de Francisci, Intorno alla massima „Princeps legibus solutus est", i n : B I D R 34 (1925), S. 321—343 (327 ff.); Bretone, Pensiero politico e d i r i t t o pubblico, i n : ders., Tecniche e ideologie dei g i u r i s t i romani, Napoli 1971, S. 1—71 (34 ff.). Der i n der älteren Forschung erhobene Interpolationsverdacht ist inzwischen überholt. Hierzu sowie zur Einordnung der Formel i n den entwicklungsgeschichtlichen K o n t e x t Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- u n d Staatslehre, B e r l i n 1979, bes. S. 48 ff. 140 Anders Bullinger, öffentliches Recht, S. 16, der i n der Unterscheidung von ius publicum u n d ius p r i v a t u m „ w o h l k a u m mehr als eine Möglichkeit begrifflicher Betrachtungsweise" sieht.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
53
3. Die Grundlegung des lus publicum im lus commune
Wendet man sich vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten erneut der Frage einer Grundlegung des ius publicum i m ius commune zu, so sind jene rechtsbegrifflichen und rechtsstrukturellen Zusammenhänge i n den Blick zu fassen, i n denen das römischrechtliche Erbe i m hohen und späten Mittelalter seinen Niederschlag gefunden hat. Auszugehen ist hierbei von dem quellenmäßigen Befund, den die Glossen und Kommentare der mittelalterlichen Legistik zu den überlieferten Hechtstexten bieten. Die Glossatoren knüpfen durchaus unbefangen an den überkommenen Bestand des Corpus Iuris an. Sie machen sich hierbei weitgehend den schon von Ulpian vorgelegten Ansatz einer Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht zu eigen 141 , formen diesen jedoch bei grundsätzlicher Anerkennung i m einzelnen unterschiedlich aus. So stellt etwa Placentinus i m ausgehenden 12. Jahrhundert auf die Verschiedenartigkeit der betroffenen Sachbereiche (res publica, res privata) 1 4 2 ab, u m darauf dem einen das öffentliche, dem anderen das Privatrecht zuzuordnen. Azo und die von diesem abhängige Glosse des Accursius gehen umgekehrt vom rechtlichen Zuweisungsgehalt der Unterscheidung als gegeben aus 143 und gelangen von daher zur Qualifizierung von Personen und Sachen als öffentlich- oder privatrechtlich. Von beiden Ansatzpunkten her bedurfte es einer näheren Bestimmung dessen, was inhaltlich m i t den Begriffen gemeint war. Von der einen Seite, w e i l der öffentliche bzw. private Gehalt der jeweils betroffenen Sache, von der anderen, weil der öffentlich- bzw. privatrechtliche Charakter der infrage stehenden Rechtsregel zu begründen war. Es lag nahe, sich hierbei des von Ulpian eingeführten Abgrenzungskriteriums der utilitas zu bedienen. I n der Tat nehmen die Glossatoren diesen Rechtsgedanken auf, jedoch m i t der Modifikation, daß für das Vorliegen von ius publicum resp. privatum der Nachweis eines bloß vor141 Vgl. Calasso, l u s p u b l i c u m e ius p r i v a t u m nel d i r i t t o comune classico (1943), i n : A n n a l i d i storia del d i r i t t o 9 (1965) = Scritti d i Francesco Calasso, S. 57—87 (62 ff .) ; Chevrier, Les critères de la distinction d u droit privé et d u droit public dans la pensée savante médiévale, i n : Etudes d'histoire d u droit canonique dédiées à Gabriel L e Bras, Paris 1965, t. 2, S. 841—859 (845 ff.). 142 Placentinus , I n summam I n s t i t u t i o n u m sive elementorum l i b r i I V , L u g d u n i 1536, lib. I, tit. I, S. 4. 143 Azo, Summa super quatuor libros Institutionum, i n : ders., Summa aurea, L u g d u n i 1557, Neudr. F r a n k f u r t / M . 1968, Bl. 267 v-292 ν, lib. I, t i t . I, 1. 4, Nr. 12, Bl. 269 r, k o m m t zu dem Schluß, daß öffentliches u n d Privatrecht „assignentur res, v e l personae super quibus posita sunt iura". Die Glosse des Accursius, Inst. 1, 1, 4, Gl. „positiones" (ed. Lugd. 1627, t. V, Neudr. Osnabrück 1966, Sp. 14) gibt zu bedenken, daß bei Zugrundelegung verschiedener Sachbereiche „ex m u l t i t u d o r e r u m m u l t a dicantur iura".
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I. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
herrschenden Interesses 144 ausreichen soll. Vor allem die bereits den Übergang zu den Kommentatoren vermittelnde Rechtsschule von Orléans hat sich diesen gedanklichen Ansatz zu eigen gemacht und i n dem Sinne generalisiert, daß bezüglich der Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht auf den jeweils vom Einzelfall her zu ermittelnden Zweck abzustellen sei 145 . Vor diesem Hintergrund entwickelt Bartolus i n der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein mehrfach gestuftes, vom überwiegenden Gemeinnutz (utilitas communis et i n quolibet particulari) bis zum vorherrschenden privaten Nutzen (utilitas privata principaliter) reichendes Abgrenzungsinstrumentarium 1 4 6 i n der Absicht, eine normative Zuordnung zu dem einen oder anderen Rechtsgebiet zu ermöglichen. Es erscheint nur folgerichtig, wenn Paulus de Castro auf dieser Grundlage ein Jahrhundert später zu dem Schluß gelangt, daß eine der möglichen Unterscheidungen des Rechts darin bestehe, alles Recht entweder als öffentlichrechtlich oder als privatrechtlich zu qualifizieren: omne ius aut est publicum, aut privatum 1 4 7 . Mochte Bartolus noch Bedenken gehabt haben, ob eine solche A u f gliederung durchgängig möglich sei, so scheint Paulus tatsächlich die Vorstellung einer erschöpfenden Zweiteilung (distinctio bimenbris) des gesamten Rechts i n Betracht gezogen zu haben 148 . Angesichts der Tatsache, daß dem geltenden Recht der Zeit eine dahingehende, systematisch durchgeführte Ordnung fehlte, mußte hierbei alles von der Trennschärfe des Utilitas-Arguments abhängen. Daß i n diesem Punkt Zweifel angebracht und berechtigt sind, hat vor allem Baldus erkannt und mit Grund darauf hingewiesen, daß es zwar möglich sei, öffentliches und privates Recht voneinander zu scheiden, unter Zugrundelegung des 144 Vgl. Azo, Summa super quatuor libros Institutionum, lib. I, t i t . I, 1. 4, Nr. 12, Bl. 269 r : „ l u s autem p r i v a t u m est, quod ad singulorum pertinet u t i l i tatem, subaudi principaliter, secundario tarnen, et ad rempublicam pertinet . . . Sic quod reipublicae principaliter interest, secundario puto quod respiciat u t i l i t a t e m singulorum." 145 Vgl. Petrus de Bellapertica, I n libros I n s t i t u t i o n u m Commentarli, L u g d u n i 1536, Neudr. u. d. T.: Lectura Institutionum, Bologna 1972, lib. I, tit. I, Nr. 21 f., S. 57 f.: „ P u b l i c u m ius est quod i n quolibet casu particulari continet publicam utilitatem. . . . Sed ius p r i v a t u m dicitur quod non affert publicam u t i l i t a t e m i n quolibet casu particulari, sed u t i l i t a t e m p r i v a t a m " . Dazu Chevrier , Remarques sur l'introduction et les vicissitudes de la distinction d u „jus p r i v a t u m " et d u „jus p u b l i c u m " dans les oeuvres des anciens juristes français, i n : L a distinction d u droit privé et d u droit public et l'entreprise public, Paris 1952 (Archives de philosophie d u droit, N.S.), S. 5—77 (30 ff.). 148 Bartolus , I n p r i m a m partem I n f o r t i a t i Commentarla, Basileae 1588, lib. X X I V , tit. I I I , 1.1, Nr. 25, S. 8 f. Z u m erbrechtlichen K o n t e x t siehe Calasso, l u s publicum, S. 83 f. 147 Paulus de Castro, Commentarla i n Digestum vetus, L u g d u n i 1561, lib. I , tit. 1,1. 1, § „huius studii", Nr. 1, Bl. 2 v. 148 Ebd.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
55
Utilitas-Gedankens jedoch nur i n einem mehr allgemeinen Sinne (principaliter loquendo). Da das Gemeinwesen nichts anderes darstelle als die Menschen selbst (Respublica non sit aliud nisi ipsi homines), sei das öffentliche Wohl (bonum publicum) nicht ohne das private wie umgekehrt das private Wohl (bonum privatum) nicht ohne jenes zu begreifen 149 . Wollte man dem daraus sich ergebenden Dilemma entgehen, so waren weitere Kriterien dafür zu entwickeln, wann öffentliches Recht bzw. Privatrecht vorliege. Bereits die Glossatoren haben Überlegungen i n dieser Richtung angestellt und die Frage nach der Herkunft des öffentlichen Rechts aufgeworfen. Azo führt diesen Gedanken erstmals näher aus, indem er feststellt, öffentliches Recht werde nicht nur durch seinen Bezug auf das Gemeinwohl, sondern überdies durch die Tatsache gekennzeichnet, von einer hierzu autorisierten öffentlichen Instanz gesetzt zu sein (publica autoritate constitutum) 1 5 0 , öffentliches und privates Recht unterscheiden sich demnach dadurch, daß jenes auf das öffentliche Wohl abzielt und sich zugleich öffentlicher Autorität verdankt (ius publicum utilitate et autoritate publica), während letzteres lediglich auf dem Einzelnutzen beruht (ius privatum utilitate tantum) 1 5 1 . Azo artikuliert damit die außerordentlich wichtige Erkenntnis, daß öffentliches Recht und öffentliche Herrschaftsgewalt zusammengehören. Geht man diesem Zusammenhang weiter nach und fragt, w o r i n die von Azo i n Bezug genommene Herrschaftsgewalt eigentlich besteht, so stößt man auf jene bereits dem dem klassischen römischen Recht als iurisdictio geläufige magistratische Amtsbefugnis 152 , die — ursprünglich allein der Rechtspflege zugewandt — schon i m Laufe der Kaiserzeit zum Inbegriff herrschaftlicher Gewalt schlechthin geworden war 1 5 3 . Die Glossatoren greifen diesen gedanklichen Ansatz auf, indem sie potestas und iurisdictio aufeinander beziehen (potestas accipitur pro iurisdictione) 154 , wobei letztere als eine umfassende, jedoch wesentlich auf das 149 Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I, tit. I, 1. 1, § „huius studii", Nr. 7—9, Bl. 8 v. 150 Vgl.: Die Quaestiones des Azo, hg. v o n E. Landsberg, Freiburg 1888, qu. I, S. 37. Die utilitas publica ist m i t h i n , w i e Chevrier, L a distinction d u droit privé et d u droit public, S. 852, zutreffend bemerkt, ausschlaggebendes K r i t e r i u m n u r dann, „quand elle est doublée par l'autorité". 151 Ebd., S. 37, S. 101, m i t Hinweis Landsbergs zur richtigen Lesart der i n den Manuskripten offenbar verderbten Stelle. 152 Siehe dazu oben F N 136. 153 Vgl. hierzu van de Kerckhove , De notione jurisdictionis i n j u r e romano, S. 52 ff., 59 ff., der die kontinuierliche Bedeutungsausweitung nachweist. 154 Vgl. Glosse des Accursius, Inst. 4, 6, 5, Gl. „potestate" (ed. Lugd. 1627, t. V, Neudr. Osnabrück 1966, Sp. 484). Dazu u n d zum Folgenden Costa, I u r i s dictio. Semantica del potere politico nella pubblicistica medievale (1100— 1433), Milano 1969, S. 118.
5 6 I .
1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Recht u n d seine G e s t a l t u n g bezogene, d . h . r e c h t a u s t e i l e n d e u n d ger e c h t i g k e i t s v e r w i r k l i c h e n d e H e r r s c h a f t s m a c h t (potestas c u m necessitate i u r i s scilicet r e d d e n d i e q u i t a t i s q u e statuende) ö f f e n t l i c h b e g r ü n d e t i s t (a p u b l i c o i n d u l t a )
156
begriffen
wird155,
die
.
V o n ö f f e n t l i c h e m Recht i s t h i e r b e i a u s d r ü c k l i c h noch n i c h t d i e Rede. E r s t d i e K o m m e n t a t o r e n g e s t a l t e n d i e i u r i s d i c t i o z u e i n e m als ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h v e r s t a n d e n e n R e c h t s i n s t i t u t aus. So q u a l i f i z i e r t Bartolus d i e i u r i s d i c t i o , d i e e r f o r m a l als genus b e g r e i f t 1 5 7 , i n h a l t l i c h als d i e a u f e i n e ö f f e n t l i c h e I n s t a n z (persona p u b l i c a ) zurückgehende, m i t h i n ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h b e g r ü n d e t e H e r r s c h a f t s g e w a l t (potestas d e i u r e p u b l i c o i n t r o d u c t a ) s c h l e c h t h i n 1 5 8 . D e r a u f diese W e i s e b e s t i m m t e n i u r i s d i c t i o w e r d e n sogleich i m p e r i u m m e r u m u n d i m p e r i u m m i x t u m z u s a m m e n m i t d e r i u r i s d i c t i o s i m p l e x als species z u g e o r d n e t 1 5 9 . W ä h r e n d das i m p e r i u m m e r u m als d e r I n b e g r i f f h e r r s c h a f t l i c h e r B e f u g n i s s e 1 6 0 g i l t m i t d e r Folge, daß diesem d i e F r a g e n d e r p u b l i c a u t i l i t a s zugewiesen w e r den, b l e i b t das i m p e r i u m m i x t u m z u s a m m e n m i t d e r schlichten Z i v i l j u r i s d i k t i o n a u f d e n P r o b l e m k r e i s des p r i v a t e n W o h l s b e s c h r ä n k t 1 6 1 . Es 155 So schon Irnerius, Gl. zu Dig. 2, 1, ad rubr., i n : L'opera d'Irnerio, vol. 2: Glosse inedite d'Irnerio al Digestum Vetus, ed. E. Besta, Torino 1896, S. 20. 158 Vgl. Placentinus, I n Codicis I u s t i n i a n i libros I X summa, Moguntiae 1536, Neudr. Torino 1962, lib. I I I , t i t . X I I I , S. 104, i m Anschluß an die Jurisdiktionsdefinition des Irnerius. Hierzu Costa, Iurisdictio, S. 99 f. 157 Vgl. Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, Basileae 1589, lib. I I , tit. 1,1. 3, Nr. 4, S. 164: „Est ergo iurisdictio genus". 158 Siehe ders., ebd., 1.1, Nr. 3, S. 157 f.: „Iurisdictio est potestas de iure publico introducta, cum necessitate iuris dicendi, et aequitatis, tanquam a persona publica, statuendae." Vgl. auch die ebd. gegebene Begründung: „Hoc dico, quod tanquam a persona publica, perficit diffinitionem: quia i n contrariis facit tanquam privatus . . . " Z u r Identifizierung v o n iurisdictio u n d potestas siehe ebd., Nr.4, S. 164: „ N a m potestas et iurisdictio idem sunt . . . et est potestas iuris, ergo est iurisdictio". 159 Vgl. Bartolus, ebd., 1.3 v o r Nr. 1, S. 163: „Iurisdictio d i v i d i t u r i n i m perium, et iurisdictionem. E t i m p e r i u m d i v i d i t u r i n m e r u m et m i s t u m i m perium". Siehe auch ebd., Nr. 4, S. 164, w o die weitere Erläuterung gegeben w i r d : „ . . . iurisdictio i n genere sumta, d i v i d i t u r i n duas species: scilicet i n i m p e r i u m simpliciter sumtum, et i n speciem quid est iurisdictio . . . I t e m i m p e r i u m subdividitur i n m e r u m et m i s t u m : u t hic". Z u r iurisdictio simplex, die von Bartolus auch als iurisdictio stricte sumta bezeichnet w i r d , siehe ebd., 1. 3, vor Nr. 1, S. 163, sowie Nr. 23, S. 166. 180 Vgl. Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris Commentarla, lib. I I , t i t . I, 1.3, Nr. 6, S. 164, wonach „ m e r u m " als „quasi l i b e r u m " zu verstehen ist: „ F u i t enim collatum i n Principem i m p e r i u m libere, n u l l i necessitati subiectum". 181 Vgl. ebd., Nr. 6, S. 164, w o Bartolus den Begriff des i m p e r i u m m e r u m erläuternd präzisiert: „Publicam u t i l i t a t e m respiciens principaliter". Siehe ebd. die Abgrenzung zum i m p e r i u m m i x t u m : „Hoc d i x i ad differentiam m i s t i imperii, quod principaliter respicit p r i v a t a m u t i l i t a t e m " . Auch die schlichte Z i v i l j u r i s d i k t i o n ist dem privaten W o h l zugewandt, stellt jedoch anders als i m p e r i u m m e r u m bzw. m i x t u m kein officium nobile, sondern lediglich ein besoldetes A m t (officium mercenarium) dar. Vgl. ebd., Nr. 23, S. 166.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
57
ist durchaus konsequent, wenn Bartolus vor diesem Hintergrund die Befugnis zur Rechtsetzung aus dem imperium merum herleitet: „Nam constat, quot condere legem est meri imperii" 1 6 2 . Wie man sieht, legt Bartolus seinen Ausführungen einen überaus weit gefächerten Jurisdiktionsbegriff zugrunde, der keineswegs nur richterliche Aktivitäten, sondern darüber hinaus die ganze Breite des Betätigungsfeldes herrschaftlicher Gewalt i n den begrifflich-systematischen Zusammenhang einzubeziehen sucht. Die iurisdictio w i r d damit zum Dreh- und Angelpunkt öffentlicher Herrschaftsgewalt überhaupt 1 6 3 . Zwar läßt die begriffliche Zuordnung von iurisdictio, imperium und potestas noch zu wünschen übrig, w e i l nicht immer m i t hinreichender Deutlichkeit hervortritt, ob und inwieweit das für die species der iurisdictio Ausgeführte auch für die iurisdictio i m ganzen gilt. Gleichwohl markiert der von Bartolus unternommene Versuch einer Fundierung bisher getrennt gedachter Herrschaftsbefugnisse i n der Jurisdiktionslehre einen wichtigen Neuansatz, der es gestattete, die sich ausbildende öffentliche Gewalt m i t den M i t t e l n des Rechts zu erfassen und damit zugleich zu einem vertieften Verständnis des ius publicum vorzudringen. A u f der Grundlage dieses gedanklichen Zusammenhangs wendet sich Baldus, den auf der Jurisdiktionslehre des Bartolus basierenden Rechtsgedanken weiterführend, der Aufgabe einer begrifflichen Neubestimmung des Verhältnisses von öffentlicher Gewalt und Öffentlichem Recht zu. Er geht ebenso wie Bartolus davon aus, daß die iurisdictio ein Institut öffentlichen Rechts darstellt 1 6 4 . Ferner ist i h m klar, daß Jurisdiktions- und Rechtsetzungsbefugnis i n einem engen systematischen Zusammenhang stehen. Baldus legt dies nicht nur beispielhaft anhand der Statutengebung dar (statuta condere est iurisdictionis) 165 , sondern qualifiziert darüber hinaus die von i h m so genannte ,iurisdictio statutaria faciendi leges et statuta' ausdrücklich als eine der infrage kommenden Erscheinungsformen der Jurisdiktion 1 6 6 . Der begriffliche und systematische Gesamtzusammenhang, i n den Baldus seine Jurisdiktionslehre 162
S. 164.
Bartolus,
I n p r i m a m Digesti veteris Commentarla, lib. I I , t i t . I , 1.3, N r . 6,
163 Siehe hierzu Costa, Iurisdictio, S. 169, der m i t Recht unterstreicht, daß „»iurisdictio 4 i n Bartolo era i l pernio del sistema politico, era i l medium simbolico per una rappresentazione globale della società". 184 Vgl. Baldus , Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, Venetiis 1572, lib. I, t i t . X V I , 1.2, Nr. 5, Bl. 63 v.: „ N a m iurisdictio est p u b l i c i iuris". 165 Vgl. Baldus , ebd., t i t . 1,1.1, Nr. 9, Bl. 14 r : „Sed statuta condere est iurisdictionis: quia q u i statuit, ius dicit, i m m o facit . . . " . Siehe auch ders., Consiliorum sive responsorum volumina, Venetiis, 1575, pars V, cons. 83: „Praem i t t e n d u m est ad evidentiam quod statutum iurisdictionis e s t . . . " . 1ββ Siehe Baldus, I n septimum (— nonum) Codicis l i b r u m praelectiones, L u g d u n i 1556, lib. V I I I , t i t . X L I X , 1. 1, vor Nr. 1, Bl. 189 v : „ N a m t r i p l e x est iurisdictio, quedam contentiosa f o r i contentiosi, quedam voluntaria f o r i v o luntarii, quedam statutaria faciendi leges et statuta".
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Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
einfügt, weist indessen gegenüber dem Ansatz des Bartolus charakteristische Veränderungen und Akzentverschiebungen auf. Zum einen ist sein Jurisdiktionsbegriff, wenngleich er formal weiterh i n als genus verstanden w i r d 1 6 7 , i n dieser Eigenschaft kategorial und systematisch nur wenig konturiert. Zum anderen kennt er darüber hinaus noch einen weiteren Begriff der Jurisdiktion „per se", den er als legitime, öffentlich begründete Herrschaftsgewalt (légitima potestas de publico introducta) definiert, welche jedoch nicht umfassend verstanden wird, sondern i m wesentlichen der Zivilrechtspflege zugewandt sein soll 1 6 8 . Demgegenüber erweist sich der Begriff des merum imperium als erheblich aufgewertet. Vor allem deshalb, w e i l Baldus neben die herkömmlichen Begriffsvarianten des merum imperium den neuen Terminus eines die Grenzen des bisherigen Rechtsverständnisses überschreitenden, rechtlich weitgehend ungebundenen merum imperium absolut u m stellt. Während das gewöhnliche merum imperium rechtlich beschränkt ist (a iure limitatum) und auch nachgeordneten Amtsträgern zusteht, soll das merum imperium absolutum als eine ihrem Wesen nach unbeschränkte Herrschaftsmacht allein dem Herrscher zukommen. A l l dies w i r d i n seiner Bedeutung noch dadurch unterstrichen, daß Baldus dem merum imperium absolutum zugleich die umfassende Kompetenz der i n der kanonistischen Jurisprudenz entwickelten, am Vorbild der päpstlichen Herrschaftsgewalt ausgebildeten plenitudo potestatis zuweist 1 6 9 . Der Begriff des merum imperium absolutum gewinnt damit für Baldus den Charakter einer absoluten Herrschaftsgewalt schlechthin. Wie er am Beispiel der Institutionen des Kaiser- und des Papsttums verdeutlicht, kommt beiden für ihren Herrschaftsbereich eine derartige absolute Herrschaftsgewalt (absoluta potestas) zu. Sie besteht freilich 167 Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, repetitio ad lib. I I , tit. I , 1.2, vb. „ i m p e r i u m " , Nr. 2, Bl. 76 v : „Iurisdictio est genus generalissimum, qua praedicatur de mero imperio. I t e m de m i x t o etc. . . . " . 188 Siehe hierzu Baldus, ebd., repetitio ad lib. I I , tit. I, 1. 2, vb. „ i m p e r i u m " , Nr. 4 f., Bl. 77 v : „Videamus de iurisdictione prout s u m i t u r per se qualiter describatur. Dico quod iurisdictio est potestas i n persona iudicantis consistens, sie describo iurisdictionem prout sumitur i n genere ad m e r u m i m p e r i u m et ad omnes casus. Unde ex natura vocabuli bene potest dici légitima. . . . Sed videamus de iurisdictione prout distinguitur ab Imperio et consideratur per se qualiter describatur. . . . Dico quod iurisdictio est légitima potestas de publico introducta cum necessitate iurisdicendi, et aequitatis statuendae i n causa principaliter non criminaliter intentata, nec per decreti interpositionem: sed per sententiam determinanda declaratur". 189 Vgl. Baldus, ebd., lib. I I , tit. 1,1. 2, vb. „ i m p e r i u m " , Nr. 1, Bl. 76 v : „Quoddam est m e r u m i m p e r i u m a iure l i m i t a t u m , et istud residet i n praesidibus et etiam i n maioribus magistratibus . . . Quoddam est m e r u m i m p e r i u m absolutum cum plenitudine potestatis, et non est nisi i n Principe . . . " . Z u den kanonistischen I m p l i k a t i o n e n der Lehre des Baldus von der Absolutheit herrschaftlicher Gewalt siehe näher unten Kap. 2, § 7, Nr. 1, S. 97 f.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
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nicht zu eigenem Recht. Denn die päpstliche Machtfülle soll auf göttliche Inspiration, die kaiserliche Herrschaftsgewalt auf die i n der Lex regia i n Bezug genommene Übertragung durch das Volk zurückgehen 170 . Die iurisdictio rückt auf diese Weise i n einen neuen Begriffs- und Problemzusammenhang ein, i n dem sie ihre Funktion allmählich wandelt. Zwar bleibt die iurisdictio i n formaler Hinsicht auch für Baldus oberster rechtlicher Bezugspunkt 171 , doch t r i t t der Jurisdiktionsbegriff i n seiner Bedeutung als öffentlichrechtlicher Schlüsselbegriff i n dem Maße sichtlich zurück, i n dem imperium absolutum und absoluta potestas als neue, sehr viel weiterreichende Äußerungen öffentlicher Herrschaftsgewalt hervortreten. Die Jurisdiktionsbefugnis erweist sich i n diesem gewandelten Bezugsrahmen nurmehr als eine spezielle A r t legitimer öffentlicher Herrschaftskompetenz, die angesichts der Tatsache, daß sie auf einer öffentlichen Geltungsgrundlage beruht, dem öffentlichen Recht zuzurechnen ist 1 7 2 . Es ist nicht erstaunlich, wenn Baldus vor diesem Horizont zu der Auffassung gelangt, daß auch ein Gesetz öffentlicher Autorität bedürfe, ohne die es nicht zustande komme: „Lex sine publica authoritate fieri non potest 173 ." Von hier aus eröffnet sich Baldus schließlich der Weg zu einer neuen Begriffsbestimmung des öffentlichen Rechts. Gehe man nämlich davon aus, daß jedes Gesetz ein öffentliches genannt werde (omnis lex dicitur lex publica), dann sei jede als Gesetz ergangene Vorschrift dem öffentlichen Recht zuzurechnen (omne legis praeceptum est ius publicum) 1 7 4 . Baldus weiß sehr wohl, daß diese A r t der Bestimmung 170 Siehe ders., ebd., Nr. 6, wonach der Begriff des m e r u m i m p e r i u m eine doppelte Bedeutung hat: „Scilicet absolutum i n Principe, et l i m i t a t u m i n inferiore, prout est i n Principe d i f f i n i t u r sie, m e r u m i m p e r i u m est absoluta potestas imperatori concessa per legem Regiam, i n Papa d i f f i n i t u r sie, m e r u m i m p e r i u m est absoluta potestas Apostolico i n spiritualibus a deo concessa . . . " . 171 W e i l sie w e i t e r h i n als genus verstanden w i r d . Dazu oben F N 167. 172 Siehe hierzu Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I, tit. X I V , 1. 3, Nr. 36, Bl. 59 v, der die Zugehörigkeit der iurisdictio zum öffentlichen Recht damit begründet, daß sie nach Ursprung, Geltung u n d Zweck durchweg öffentlichen Charakter auf weise: „ . . . iurisdictio est iuris publici i n universali, et i n speciali: quaestionem i n quolibet suo singulari a publico fonte, auctoritate, et u t i l i t a t e procedit". Dies hat zur Folge, daß Private die iurisdictio nicht übertragen können: „ . . . quia iurisdictio est potestas de publico introducta unde eam p r i v a t i conferre non possunt". Vgl. ders., I n p r i m u m (— tertium) Codicis l i b r u m praelectiones, L u g d u n i 1556, lib. I I I , tit. X I I I , 1. 3, v o r Nr. 1, Bl. 177 r. 173 Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I , t i t . I I I , 1.1, Nr. 3, rubr., Bl. 19 r. 174 Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I , t i t . I , 1.1, § „huius studii", Nr. 10, Bl. 8 v, unter Hinweis auf Papinianus Dig. 28, 1, 3: „Testamenti factio non privati, sed p u b l i c i iuris est." Z u r klassischen Bedeutung der Stelle siehe Leuregans, Testamenti factio non p r i v a t i sed publici iuris est, i n : R H D F E 53 (1975), S. 225—257 (256 f.), der zu dem Schluß kommt,
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1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
dessen, was öffentliches Recht sei, nur eine unter verschiedenen anderen Möglichkeiten darstellt. So ist i h m durchaus klar, daß man zur überlieferten Zweiteilung i n öffentliches und Privatrecht dann gelangt, wenn man — i m Sinne der von i h m kommentierten Ulpian-Stelle — auf Utilitas-Erwägungen 1 7 5 oder etwa auf das Recht der Personen (ius personarum) 176 abhebt, d. h. darauf, ob es sich u m eine öffentliche Person (persona publica) 1 7 7 handelt oder nicht. Gleichwohl bezieht er darüber hinaus die Möglichkeit, ausschließlich auf das Gesetzesrecht (ius legis) abzustellen, i n seine Überlegungen ein m i t der Folge, daß für diesen Fall alles Recht als öffentliches angesehen werden kann (omne ius est publicum) 1 7 8 . Es mag überraschen, bereits i m 14. Jahrhundert eine derart weit gefaßte Begriffsbestimmung des öffentlichen Rechts zu finden. Das gilt freilich nur dann, wenn man noch immer der von Fritz K e r n vertretenen Lehre folgt, die dem Recht des Mittelalters als dem guten alten und unveränderlichen Recht 179 die Kategorie der Setzung abspricht. Eine solche Betrachtungsweise verfehlt jedoch die mittelalterliche Rechtswirklichkeit, der, wie die neuere rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung 180 längst ergeben hat, die Gestaltung des Rechts durch bewußte Entscheidung keineswegs fremd ist. Die rechtschöpferischen Aktivitäten, die bis i n das frühere Mittelalter zurückreichen, verdichten sich seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert i n einer Welle von Gesetzgebungswerken 181 , die gemeineuropäischen Charakter trägt und den Übergang von der bloßen Aufzeichnung bestehenden Rechts zur daß bereits i n Rom „ l a notion de ius p u b l i c u m s'est tellement élargie que la formule de Papinien ne doit pas nous étonner. Elle n'est certes pas en contradiction avec celle d'Ulpien, mais la notion de ius p u b l i c u m a été envahie par l'intervention étatique et l'ordre m o r a l . . . Ainsi, au sens large, la testam e n t i f actio est bien p u b l i c i iuris". 175 Siehe Baldus, ebd., Nr. 7 ff. Dazu oben S. 54 f. 176 Ebd., Nr. 10. 177 Vgl. Baldus, ebd., Nr. 18 f., w o die Frage aufgeworfen w i r d , i n w i e w e i t sacerdos u n d magistratus als personae publicae anzusehen seien. 178 Vgl. Baldus, ebd., Nr. 10: „ . . . aut consideramus ius legis, et omne ius est publicum: aut ius personarum: et tunc aliud est publicum, et aliud p r i v a t u m u t hic". Ungleich deutlicher der Baldus-Schüler Paulus de Castro, Commentarla i n Digestum vetus, lib. I , t i t . 1,1.1, § „huius studii", Nr. 3, Bl. 2 v, der als eine der von i h m i n Betracht gezogenen Möglichkeiten einer Begriffsbestimmung des ius p u b l i c u m anführt: omne ius positivum, sive sit ius commune, sive municipale, potest dici ius publicum: quia sit publica authoritate confectum". 179 Siehe oben unter Nr. 1, S. 43. 180 Vgl. hierzu die oben, S. 44, angeführten neueren Forschungsbeiträge. 181 Siehe hierzu die nach historisch-geographischen Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung bei Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, i n : Coing (Hg.), Handbuch, Bd. 1, München 1973, S. 517—800 (566 ff.).
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bewußt geschaffenen, nach bestimmten Gesichtspunkten gegliederten Kodifikation 1 8 2 vermittelt. Das belegen nicht nur die vielfältigen, auf die Setzung neuen Rechts abzielenden Initiativen der deutschen Kaiser und Könige, für die das Gesetz zum rational gehandhabten Instrument i n der politischen Auseinandersetzung 183 wird, sondern auch die i n den Satzungen und Statuten 1 8 4 der aufstrebenden territorialen und nationalen Herrschaftsverbände niedergelegten Regelungen aktueller Rechtsfragen sowie deren Zusammenfassung i n systematischer Form. Dabei ist man sich i m allgemeinen der Tatsache durchaus bewußt, i n den traditionalen Normenbestand einzugreifen. So heißt es i m Liber A u gustalis 185 Kaiser Friedrich II. von 1231, es sei dem Gesetzgeber darum gegangen, neues Recht (nova iura) hervorzubringen 186 . Die Siete Partidas, das Gesetzgebungswerk Alfons des Weisen (1227—1284), begründen eigens die Schaffung neuen Rechts m i t dem natürlichen Streben der Menschen nach neuen Erfahrungen (oir, et saber et veer cosas nuevas) 187 . Überdies w i r d i n zahlreichen spätmittelalterlichen Gesetzbüchern ausdrücklich auf die Möglichkeit, zu ändern oder zu korrigieren, hinzuzufügen oder zu streichen (potestas mutandi, vel etiam corrigendi, addendi vel minuendi) hingewiesen 188 . Es geht demnach nicht mehr bloß u m die rechtliche Fixierung etwa schon bestehender Gewohnheiten und Gebräuche, sondern darüber hinaus u m die bewußte, planvolle Setzung neuen Rechts 189 . 182 Dazu Armin Wolf, Gesetzgebung u n d Kodifikationen, i n : Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften i m 12. Jahrhundert, Zürich 1981, S. 143—171 (144), der Gesetzgebung als ein selbstverständliches I n s t i t u t zur Organisation menschlichen Zusammenlebens i n den europäischen Ländern m i t Recht eine „Errungenschaft des Mittelalters, i m wesentlichen des 13. J a h r hunderts, i n den Anfängen aber schon des 12. Jahrhunderts" nennt. Danach sind v o r 1500 etwa 40 Kodifikationen auszumachen (ebd., S. 149; vgl. auch ders., Die Gesetzgebung, S. 553 ff.). 183 D a m i t bricht, w i e Hermann Krause, Kaiserrecht u n d Rezeption, H e i delberg 1952, S. 36, zutreffend gesehen hat, die „Auffassung v o m Gesetz als einem Willens- u n d Machtinstrument" durch. 184 A l l e i n i n I t a l i e n w i r d die Z a h l der Statuten auf über 10 000 geschätzt. Vgl. Armin Wolf, Die Gesetzgebung, S. 526. 185 Hier benutzt i n der lateinisch-deutschen Ausgabe: Die Konstitutionen Friedrichs I I . von Hohenstaufen f ü r sein Königreich Sizilien, hg. u. übers, von H. Conrad (u. a.), K ö l n 1973 (zitiert: L i b e r Augustalis). 186 L i b e r Augustalis, lib. I , tit. 38, S. 52. 187 Las Siete Partidas, ed. M a d r i d 1807, 1.1, part. I, tit. I, 1.19, S. 26. Dazu Garcia Gallo, Nuevas observaciones sobre la obra legislativa de Alfonso X , i n : A n u a r i o de historia del derecho espanol 46 (1976), S. 609—670. 188 v g l , etwa die „Ordonnance pour la réformation de moeurs dans le Languedoc et le Languedoil (1254), i n : Recueil général des anciennes lois françaises, 1.1, Paris 1822, Nr. 170, S. 264—274 (274). Weitere Beispiele bei Armin Wolf, Die Gesetzgebung, S. 550 f. 189 TffiQ ψ ο ΐ ί , Gesetzgebung u n d Kodifikationen, S. 147, zutreffend ausführt, werden nunmehr „allgemeine Rechtsnormen schriftlich u n d u r k u n d e n -
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. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
Die aus den Rechtsquellen selbst sich ergebenden Auffassungen über die Geltungsqualität gesetzten Rechts finden ihre Entsprechung i n der zeitgenössischen Rechts- und Staatsphilosophie, i n der vor allem durch Thomas von Aquin eine allgemeine Gesetzeslehre 190 entwickelt worden ist, die erkennen läßt, daß man zwischen menschlicher Satzung (lex humanitus posita) einerseits, göttlichem und natürlichem Gebot (lex divina, lex naturalis) andererseits, sehr wohl zu differenzieren wußte 1 9 1 . Das Gesetz ist danach eine vernünftige, auf das gemeine Wohl bezogene Regel (quaedam rationis ordinatio ad bonum commune) 102 , die entsprechend den sich wandelnden Umständen der Veränderbarkeit unterliegt (recte mutari potest propter mutationem conditionum hominum) 1 9 3 . I n Anwendung dieser Erkenntnis auf die Rechtspraxis kommt Baldus schließlich zu dem Ergebnis, das rein positive Recht (ius mere positivum) sei prinzipiell der Veränderbarkeit zugänglich, m i t h i n wandelbar (bene potest mutari) 1 9 4 . Die bewegenden Gründe für die Ausbildung eines auf veränderliche Bedürfnisse eingestellten Gesetzesrechts, das als Öffentliches Recht verstanden wird, sind außerordentlich vielschichtig. Man w i r d sie nicht zuletzt i n jenen eingangs dargelegten Veränderungen der hoch- und spätmittelalterlichen Herrschafts- und Sozialstrukturen 195 zu suchen haben, die den Übergang von der archaischen zur frühen bürgerlichen Gesellschaft markieren. Der Bevölkerungsanstieg, der Aufschwung von artig, das heißt m i t Datum, Aussteller, Sanktion usw. festgelegt". I n der Tat ist diese „Rechtsetzung i n Gesetzesform" gegenüber der älteren mündlichen Rechtsetzung „etwas Neues" (ebd., S. 146). 190 Vgl. Summa Theologiae I — I I , qu. 90—114. Dazu grundlegend Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm 1960, S. 179 ff. 191 Hierzu qu. 95 f., w o Thomas seine Auffassung v o m menschlichen Gesetz sowie dessen Beziehungen zum göttlichen u n d natürlichen Recht eingehend darlegt. Was die Einbindung der lex humana i n den legeshierarchischen Z u sammenhang der Normen angeht vgl. Bujo, Moralautonomie u n d Normenfindung bei Thomas von A q u i n , Paderborn 1979, S. 283 ff. Z u r Bedeutung des Hierarchiemodells f ü r die Institutionalisierung u n d Mobilisierung des positiven Rechts siehe Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek bei H a m b u r g 1972, S. 197 ; ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (1970), i n : ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 113—153 (121 f.). 192 Summa Theologiae I — I I , qu. 90, art. 4. 193 Ebd. qu. 97, art. 1. Dazu Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, S. 275 ff., der zutreffend darlegt, daß Thomas die „Gesetzesänder u n g als die notwendige Folge der veränderten Lebensverhältnisse der Menschen" begreift (S. 277). Siehe ferner Mikat, Gesetz u n d Staat nach Thomas von A q u i n unter besonderer Berücksichtigung der Lehre v o m Gesetz i n der Summa Theologiae, i n : Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift f ü r Hermann Conrad, hg. von G. Kleinheyer u n d P. M i k a t , Paderborn 1979, S. 439—465 (446). 194 Baldus, I n septimum Codicis l i b r u m Praelectiones, tit. I X , 1. 1, Nr. 4, Bl. 9 v. 195 Siehe dazu oben unter § 1, Nr. 1, S. 32 ff., Nr. 2, S. 37 ff.
§ 2 Das Verhältnis von lus publicum und lus commune
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Handel und Gewerbe sowie eine wachsende soziale Mobilität lassen es seit dem 11. Jahrhundert notwendig werden, die sich entfaltende gesellschaftliche Dynamik i n Regeln einzufangen und damit normativ zu strukturieren. Dem so allmählich entstehenden öffentlichen Gesetzesrecht kommen, wie schon Georg von Below zutreffend festgestellt hat, Wirkungen zu, die den „privaten Rechten nicht eigen sind" 1 9 6 . I n der Tat erweist sich bereits i n der Anschauung spätmittelalterlicher Legisten öffentliches Recht aus der Sicht Privater als unveränderbar (per privates personas derogari non potest) 197 . Darüber hinaus soll es nur i n ganz bestimmter Form (certa forma) 198 , nämlich durch Entscheidung einer dazu befugten Autorität (ab authoritate concedentis) 199 i n Geltung gesetzt werden können. Die Herausbildung eines derartigen öffentlichen Rechts vollzieht sich zunächst scheinbar unmerklich innerhalb der Rechtsstrukturen des ius commune selbst und auf dem Boden seiner Begrifflichkeit. Schon früh zeigt sich jedoch die Tendenz, den durch das ius commune gebildeten Rahmen öffentlichrechtlich zu überschreiten. Ebenso wie sich das neue Gesetzesrecht den tradierten Normen, d. h. auch dem justinianischen Corpus Iuris, allmählich substituiert, läßt sich rechtsterminologisch ein Ausgreifen des ius publicum auf das ius commune als Ganzes beobachten. Nicht von ungefähr w i r d i m legistisch-gemeinrechtlichen Sprachgebrauch das Öffentliche Recht auch als das gemeine Recht aller (ius commune omnium) 2 0 0 apostrophiert. Einen bereits verselbständigten öffentlichrechtlichen Regelungszusammenhang kennt das ius commune gleichwohl noch nicht. Daß sich dennoch innerhalb desselben ein derartiger Rechtsbereich auszudifferenzieren beginnt, läßt sich nicht nur aus den vielfältigen Versuchen der Legisten erschließen, das Recht i m Hinblick auf seinen Gegenstand, die betroffenen Interessen oder seine Herkunft unterschiedlichen Sphären zuzuordnen, sondern geht auch aus dem strukturellen Wandel des normativen Rahmens selbst hervor, der sich m i t Hilfe des Gesetzesrechts allmählich auf variable Umweltverhältnisse einstellt. Wenn es den 196
Der deutsche Staat des Mittelalters, S. 289. Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I I , tit. X I V , 1. 39, rubr., Bl. 160 r. Ebenso Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I I , tit. X I V , 1. 39, Nr. 2, S. 297. 198 ] v j u r f ü r diesen F a l l ist es positives menschliches Recht (ius positivum introductum per humanam dispositionem), w i e Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I I , tit. X I V , 1. 40, Nr. 1, Bl. 160 r, betont. 197
199 So Paulus de Castro, Commentarla i n Digestum vetus, lib. I, tit. I, 1.1, § „huius studii", Nr. 3, Bl. 2 ν, i n weitgehendem Anschluß an seinen Lehrer Baldus. 200 So bereits Placentinus, I n summam I n s t i t u t i o n u m sive elementorum l i b r i I V , lib. I, tit. I, S. 5.
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I. 1. Kap.: Die Geburt des lus publicum aus dem lus commune
jeweils vom einzelnen F a l l ausgehenden Legisten letztlich nicht gelungen ist, die verschiedenartigen Versuche einer Differenzierung des Rechts zu einem systematisch geschlossenen Ganzen auszugestalten, so darf das über die Relevanz ihrer Bemühungen nicht hinwegtäuschen. Sie haben mittels ihrer an der Rechtspraxis entwickelten begrifflich-systematischen Technik einen öffentlic±Lrechtlichen Bezugsrahmen abgesteckt, der für die Ausbildung eines selbständigen ius publicum von kaum zu überschätzender Tragweite 2 0 1 wurde und der u m so bedeutsamer sein mußte, als er auch i n der sozialen und politischen Wirklichkeit des Rechts eine Grundlage besaß.
201 Anders Stolleis, öffentliches Recht I (bis 1750), i n : H R G Bd. 3, B e r l i n 1982, Sp. 1189—1198 (1189), der der Unterscheidung v o n ius p u b l i c u m u n d ius p r i v a t u m f ü r das mittelalterliche Rechtsdenken „keinerlei grundsätzliche Bedeutung" zuerkennen w i l l . Vgl. demgegenüber Sprandel, Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 111, der davon ausgeht, daß „ i m M i t t e l a l t e r . . . das öffentliche Recht entstanden (ist): noch nicht m i t der Systematik, die w i r voraussetzen, aber doch m i t einem wesentlichen Merkmal, der Reservierung bestimmter Rechte u n d Pflichten, Rechtskompetenzen f ü r eine übergeordnete Herrschaft."
Zweites Kapitel
Anfänge eines staatlichen Rechts im ausgehenden Mittelalter § 3 Römisches Recht u n d staatliches Recht 1. Die Institutionalisierung staatlicher Herrschaft
Wenn das öffentliche Recht, wie Ulpian feststellt, auf das Gemeinwesen ,blickt 4 (ad statum rei Romanae spectat) 1 , wenn ferner dem M i t telalter öffentlichrechtliche Strukturen nicht fremd sind, dann muß es möglich sein, aus dem Regelungszusammenhang des ius commune einen engeren Bereich auszugrenzen, der dem sich ausbildenden frühmodernen Staat und seinem Recht zugewandt ist. Erste Ansätze eines solchen, auf den Staat bezogenen Rechts werden üblicherweise i n der Manifestation jener Verselbständigungstendenzen gesehen, die m i t der allmählichen Ablösung der nationalen und territorialen Herrschaftsverbände von Kaiser und Reich 2 einhergehen und die ihren Niederschlag i n dem Versuch der Legisten gefunden haben, die Könige dem Kaiser gleichzustellen. Schon i n der glossatorischen Jurisprudenz w i r d der König i n seinem Lande (in sua terra) m i t dem Kaiser auf eine Stufe gehoben 3 . Die Kommentatoren greifen den darin liegenden Rechtsgedanken auf, den Baldus schließlich i n die präzise Form bringt: „Rex i n regno suo est imperator regni sui 4 ." Frühmoderne Staatlichkeit läßt sich freilich ebensowenig wie das zugehörige Recht allein vom Unabhängigkeitsstreben der Könige her begründen. So folgenreich die Verselbständigungsbestrebungen schließlich geworden sind, so stellen sie doch nur den gleichsam äußeren Aspekt eines tieferreichenden Wandels dar. Dieser ist, da auf den 1
Dig. 1, 1, 1, 2. Z u diesem Prozeß vgl. Walther Holtzmann, Das mittelalterliche I m p e r i u m u n d die werdenden Nationen, K ö l n 1953, S. 20 ff., sowie den von Helmut Beumann u n d Werner Schröder hg. Sammelband: Aspekte der Nationenb i l d u n g i m Mittelalter, Sigmaringen 1978. 3 So z.B. von Azo. Vgl.: Die Quaestiones des Azo, q u . X I I I , S. 86f. (87). Hierzu Calasso , I glossatori e la teoria della sovranità. Studio d i d i r i t t o comune pubblico, 3. ed., Milano 1957, S. 33 ff. 4 Baldus , I n q u a r t u m et q u i n t u m Codicis libros Praelectiones, L u g d u n i 1556, lib. I V , tit. X V I I I (De probationibus), 1. 7, Nr. 4, Bl. 39 v. 2
5 Wyduckel
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
inneren Bau und die Organisation des Gemeinwesens bezogen, struktureller A r t und erschließt sich infolgedessen einer lediglich personal bestimmten Betrachtungsweise nur unzureichend. W i l l man diesen, auf die Ausbildung des frühmodernen Staates gerichteten Wandel i n seinem ganzen Ausmaß erfassen, so gilt es, jenen fortschreitenden Prozeß politischer Institutionalisierung 5 i n den Blick zu fassen, der sich i n der Herausbildung einer auf Ämter und Behörden gestützten Organisation einerseits, des diesbezüglichen normativen Instrumentariums andererseits äußert, und der seinen Ausdruck zugleich i n einer spezifischen, beides reflektierenden Rechtsbegrifflichkeit gefunden hat. Bereits i m früheren Mittelalter w i r d das Bemühen erkennbar, Person und A m t des Herrschers voneinander zu unterscheiden. Sei es, daß man auf den als öffentliches Herrschaftssymbol betrachteten Thron (publicus thronus regalis) 6 rekurriert, sei es, daß man den aus der A n t i k e überlieferten Vergleich m i t dem Staatsschiff 7 heranzieht, dessen jeweils wechselnder Steuermann der Herrscher ist, immer geht es darum, die Herrschaftsbeziehungen von der Herrscherperson zu lösen und damit zu versachlichen. Auch die Legisten sind sich dieser Problematik durchaus bewußt, die sie als Frage der Auf-Dauer-Stellung von Herrschaft thematisieren und, wie z. B. Bartolus, dahingehend beantworten, der Herrscher sei bezüglich seines Amtes (respectu officii) unsterblich 8 . Darüber hinaus gewinnt der fiscus 9 als Bezugspunkt transpersonaler Überlegungen an Bedeutung und — als Inbegriff unveräußerlicher Rechte des Königs — i n zunehmendem Maße auch die Krone (corona regni) 10 . 5 Den bereits Theodor Mayer anvisierte, als er den Grundlagen des institutionellen Flächenstaates i m Mittelalter nachspürte. Dazu oben § 1, Nr. 1, S. 31. 6 So i n den vierziger Jahren des 11. Jahrhunderts Wipo i n seinen: Gesta Chuonradi I I . Imperatoris, i n : ders., Werke, 3. Aufl., hg. von H. Bresslau, Hannover 1915 (MGH, Scriptores, 61), S. 1—62, cap. V I , S. 28, der berichtet, K o n r a d sei nach Aachen gezogen, „ u b i publicus thronus regalis ab antiquis regibus et a Carolo praecipue locatus totius regni archisolium habetur. Quo sedens excellentissime rem publicam ordinavit ibique publico placito et generali concilio habito divina et humana iura u t i l i t e r distribuebat." Dazu Beumann, Z u r E n t w i c k l u n g transpersonaler Staatsvorstellungen (1956), i n : ders., Wissenschaft v o m Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, K ö l n 1972, S. 135— 174 (149 f.). 7 Vgl. Wipo, cap. V I I , S. 30, der K o n r a d I I . 1025 die Worte sagen läßt: „Si rex periit, regnum remansit, sicut na vis remanet, cuius gubernator cadit." Dazu Quaritsch, Das Schiff als Gleichnis, i n : Recht über See. Festschrift Rolf Stödter zum 70. Geburtstag, hg. von H. P. Ipsen u n d K . - H . Necker, Hamburg 1979, S. 251—286 (267). 8 Bartolus, I n secundam et tertiam partem Codicis Commentarla, Basileae 1588, lib. X I , tit. I X , 1. 2, Nr. 1, S. 79. 9 Z u r Frage einer Identität von fiscus u n d respublica vgl. die A u s f ü h r u n gen des Bartolus, ebd., lib. X , tit. I, S. 1 f.
§ 3 Römisches Recht und staatliches Recht
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Die i n derartigen Überlegungen sich abzeichnende rechtliche Entwicklung zur Transpersonalität findet ihre verfassungsgeschichtliche Entsprechung i m Vorgang des Auseinandertretens von Hausgut und Reichsgut, wie er seit der ausgehenden Karolingerzeit beobachtet werden kann 1 1 . Anders als das Hausgut, welches persönliches Eigen des Königs und seines Hauses darstellt, überdauert das Reichsgut als eine von der jeweiligen Person des Herrschers unabhängige Vermögenseinheit auch den Dynastiewechsel und bleibt Krone und Reich erhalten. Eine i n dieser Weise gesonderte Behandlung beider Vermögenssphären läßt sich namentlich dem Regensburger Fürstenspruch von 1125 entnehmen, i n dem zwischen Vermögensbeständen, die der „proprietas regis" unterliegen und solchen Gütern, die der „ditio regiminis" zugeordnet sind, unterschieden wird 1 2 . N u r wenige Jahre später faßt Gerhoh von Reichersperg den Unterschied noch wesentlich präziser, indem er zwischen Schenkungen aus öffentlichen M i t t e l n (de regni facultate quae est res publica) einerseits, solchen aus privaten M i t t e l n (de re privata) andererseits, differenziert 13 und damit erkennen läßt, daß eine Zuordnung bestimmter Besitzungen und Güter zu dem einen oder anderen Bereich i n seiner Zeit nichts Ungewöhnliches darstellt. Wenngleich es zu weit gehen würde, i n derartigen Wendungen bereits eine ausgebildete rechtliche Trennung zweier verselbständigter Vermögenssphären zu sehen, so w i r d doch i n ersten Umrissen ein transpersonaler Aspekt herrschaftlicher Gewalt sichtbar, welchem nicht nur theoretisch-prinzipielle, sondern auch praktisch-politische Bedeutung zukommt. Dies 10 Dazu Hellmann (Hg.), Corona regni. Studien über die Krone als Symbol des Staates i m späteren Mittelalter, Darmstadt 1961; Hartmut Hoff mann, Die Krone i m hochmittelalterlichen Staatsdenken, i n : Festschrift f ü r H a r a l d Keller, hg. v o n H. M . F r h r . von Erffa u n d E. Herget, ebd. 1963, S. 71—85. 11 Hierzu Wadle, Reichsgut u n d Königsherrschaft unter L o t h a r I I I . (1125— 1137). E i n Beitrag zur Verfassungsgeschichte des 12. Jahrhunderts, B e r l i n 1969, S. 100 ff., 123 ff. 12 Anläßlich der v o r dem H i n t e r g r u n d der politischen Auseinandersetzung u m das salisch-staufische Erbe v o n Lothar I I I . gestellten Frage, welchem der beiden Bereiche das Tausch- u n d Ächtergut zuzuordnen sei. Vgl. Annales Sancti Disibodi a. 1125, M G H , Scriptores X V I I , S. 4—30 (23): „Rege apud Ratisponam i n conventu p r i n c i p u m inquirente, praedia iudicio proscriptorum a rege si iuste forifactoribus abiudicata fuerint, v e l pro his quae regno a t t i nent commutata, u t r u m cédant (ditioni regiminis) v e l proprietati regis: i u d i catum, potius regiminis subiacere d i t i o n i quam regis proprietati." Hierzu Wadle, Reichsgut u n d Königsherrschaft, S. 101 ff. (113), der i m Regensburger Fürstenspruch Ansätze einer „Unterscheidung des königlichen Tätigkeitsbereiches i n eine »öffentliche 4 u n d eine »private 4 Sphäre" erblickt. 13 Vgl. Gerhohi praepositi Reichersbergensis opusculum de edificio Dei, i n : M G H , L i b e l l i de lite I I I , S. 136—202 (cap. 21, S. 152): „De regni autem facultate, quae est res publica, non debet a rege fieri donatio privata. Est enim aut regibus i n posterum successuris integre conservanda aut communicato p r i n c i p u m Consilio donanda. De re autem privata tarn a regibus, quam a ceteris principibus potest fieri donatio privata."
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
u m so mehr, als eine vergleichbare Entwicklung auch i n anderen Ländern zu beobachten ist, i n denen, wie etwa i n Frankreich und England, die transpersonalen Bezüge königlicher Herrschaftsgewalt i n der Herausbildung einer als unveräußerlich betrachteten Krondomäne zutage treten 14 . Die vielfältigen Bemühungen u m eine rechtliche Erfassung frühmoderner Staatlichkeit setzen aber nicht nur beim Herrscher und den auf i h n bezogenen Institutionen an, sondern tragen zugleich der Tatsache Rechnung, daß das Gemeinwesen einen Personalverband darstellt, dem als Ganzem — neben und unabhängig von seinen Mitgliedern — eine eigene, überindividuelle Identität 1 5 zukommt. Man konnte sich hierbei auf die i m klassischen römischen Recht erarbeiteten Ansätze stützen, Personengesamtheiten als gegenüber dem wechselnden M i t gliederbestand verselbständigte, auf nicht bloß vorübergehende, gemeinsame und dauerhafte Zwecke gerichtete Einheit (universitas, corpus, collegium) zu begreifen 16 . Die Glossatoren bauen auf diesem Problemstand auf, ohne jedoch wegen der Weite und Unbestimmtheit des von ihnen vertretenen Verbandsbegriffs zu konkreten Schlußfolgerungen für das Gemeinwesen zu gelangen. Erst die ungleich schärfer der politischen Realität ihrer Zeit zugewandten Kommentatoren dringen zu einer gemeinwesenorientierten Verbandsauffassung vor. Bartolus schafft ausgehend vom Vorbild der oberitalienischen Stadtgemeinden die Voraussetzung für den Übergang vom personalen zum transpersonalen Rechts- und Staatsdenken, indem er civitas und princeps gleichsetzt: civitas sibi princeps est! 17 . Er ermöglicht damit nicht nur die korporative 14 Hierzu Hartmut Hoffmann, Die Unveräußerlichkeit der Kronrechte i m Mittelalter, i n : D A 20 (1964), S. 389—474 (420 ff., 448 ff.), m i t Hinweis darauf, daß sich i m Unveräußerlichkeitsprinzip die — wenngleich noch wenig differenzierte — „neue Sachlichkeit des institutionalisierten Staats" spiegelt (S. 474). Siehe ferner Riesenberg, Inalienability of Sovereignty i n Medieval Political Thought, New Y o r k 1956, bes. S. 81 ff. 15 Hierzu nach w i e vor grundlegend: Otto von Gierke, Die Staats- u n d Korporationslehre des Altertums u n d des Mittelalters u n d ihre Aufnahme i n Deutschland, B e r l i n 1881, Neudr. Darmstadt 1954, bes. S. 188 ff. Vgl. ferner C.-F. M eng er, Z u r Geschichte der Vereinskonzession. Untersuchungen über die Frage der M i t w i r k u n g des Staates bei der Begründung selbständiger Verbandspersonen i n der deutschen Rechtsgeschichte, Diss. Göttingen 1940, S. 13 ff., sowie nunmehr Krawietz, Körperschaft, i n : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter u. K . Gründer, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1101— 1134 (1111 ff.). 16 Vgl. Schnorr von Carolsfeld, Geschichte der Juristischen Person, Bd. 1 : Universitas, corpus, collegium i m klassischen römischen Recht, Neudr. der Ausg. M ü n d i e n 1933 m i t V o r w o r t u n d Ergänzungen des Verf. von 1969, Aalen 1969; Or estano, I l „problema delle persone giuridiche" i n d i r i t t o romano, Torino 1968, S. 79 ff. 17 I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I V , tit. I V , 1. 3, Nr. 1, S. 430. Dazu Ercole, Impero universale e Stati particolari. L a „Civitas sibi princeps" e lo Stato moderno (1915), i n : ders., Da Bartolo all' Althusio. Saggi
§ 3 Römisches Recht und staatliches Recht
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Erfassung der civitas i m speziellen, sondern des Gemeinwesens überhaupt, w e i l die von i h m eingeführte Formel zugleich eine transpersonale Adaptation des Satzes von der Unabhängigkeit der Könige 1 8 gewährleistet. Darüber hinaus bereitet er den Boden für eine rechtsbegriffliche Bestimmung des institutionell verfaßten Personenverbandes, indem er m i t bislang nicht gekannter Deutlichkeit darauf hinweist, daß die universitas rechtlich gesehen (secundum iuris fictionem) von den ihr zugehörigen Individuen unterschieden werden müsse (aliud est universitas quam personae quae faciunt universitatem), da sie eine eigene, der Gesamtheit gegenübertretende Persönlichkeit (persona repraesentata) besitze 19 . Diese Lehre w i r d von Baldus fortgebildet, der den organisierten Personenverband als künstliche Person (persona ficta) 20 begreift, die, wie er i m Hinblick auf das Gemeinwesen präzisiert, niemals untergehen könne, da sie auf Dauer i n sich selbst fortbestehe (semper v i v i t i n semetipsa) 21 . Der damit anvisierte Prozeß politischer und rechtlicher Institutionalisierung läßt sich aber nicht nur unter dem Aspekt der Herausbildung äußerer Strukturen des Gemeinwesens verfolgen, sondern stellt sich zugleich als ein Problem organisatorischer Binnendifferenzierung dar. Den rechtlichen Anknüpfungspunkt hierfür bilden die allmählich sich ausdifferenzierenden, gegenüber Kaiser und Reich bereits weitgehend verselbständigten oder doch sich verselbständigenden Bereiche eigener Jurisdiktionsbefugnis. Nicht von ungefähr erweist sich legistischer A u f fassung die zunehmende Unabhängigkeit der nationalen und territorialen Herrschaftsverbände vornehmlich als eine Frage des Besitzes bzw. Nichtbesitzes von Jurisdiktionsgewalt 2 2 . Die iurisdictio w i r d hierbei i n sulla storia del pensiero pubblicistico del Rinascimento italiano, Firenze 1932, S. 49—159. 18 Dazu oben S. 65. 19 Bartolus , I n secundam partem Digesti n o v i Commentarla, lib. X L V i l i , tit. X I X , 1.16, § 10, Nr. 3, S. 560. Z u r V e r m i t t l u n g der Rechtswirklichkeit durch die Lehre von der persona repraesentata vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur W o r t - u n d Begriffsgeschichte von der A n t i k e bis ins 19. Jahrhundert, B e r l i n 1974, S. 132 ff. 20 Baldus, Commentarla i n Digestum novum, Venetiis 1572, lib. X L V I , t i t . I , 1. 22, Nr. 3, Bl. 31 v. Z u r Fiktionslehre des Baldus siehe Bar assi, L e „fictiones iuris" i n Baldo, i n : L'opera d i Baldo, Perugia 1901, S. 113—138. Z u den k a nonistischen Ursprüngen dieser Lehre siehe unten Kap. 3, § 7, Nr. 2. 21 Baldus, Consiliorum sive Responsorum, vol. I I I , Francofurti a. M. 1589, Nr. 159, 5, Bl. 41 v. Z u r Auseinandersetzung m i t der Fiktionslehre i m 19. Jahrhundert siehe unten Abschnitt I I I , Kap. 2, § 19, Nr. 1. 22 Vgl. hierzu die verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Forschungen v o n Hans Hirsch, Die hohe Gerichtsbarkeit i m deutschen Mittelalter, 2. u n v e r änd. Aufl. m i t Nachwort von Theodor Mayer, Nachdr. der Ausg. von 1922, Darmstadt 1958, bes. S. 204 ff., der seinerzeit auf die Bedeutung der (hohen) Gerichtsbarkeit f ü r die Ausbildung der Landeshoheit aufmerksam gemacht hat. Siehe nunmehr Willow eit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, K ö l n 1975, S. 17 ff.
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einem übergreifenden Sinne als die der Rechtspflege insgesamt zugewandte Herrschaftsgewalt 23 begriffen, die die Befugnis zur Rechtsauslegung wie zur Rechtsetzung umfaßt. Wie anderwärts kommt auch hier Bartolus das Verdienst zu, nach der begrifflichen Grundlegung durch die Glossatoren den entscheidenden Schritt zur Vereinheitlichung und Systematisierung der i m einzelnen unterschiedlichen Konzepte unternommen zu haben. Bartolus macht die iurisdictio zum Zentralbegriff eines systematisch durchgebildeten Rechtsinstituts 24 , dem er, jeweils stufenförmig gegliedert, imperium merum und imperium m i x t u m zuweist. Während jenes die Befugnis zur Rechtsetzung (potestas legem condendi) sowie zur hohen (Straf-)Gerichtsbarkeit umfaßt und auf die publica utilitas gerichtet ist, bleibt dieses auf die schlichte Ziviljurisdiktion und die i h r zugeordnete privata utilitas beschränkt 25 . A u f diese Weise gelingt es ihm, ein subtiles Instrumentarium zu entwickeln, das geeignet war, die Herrschafts- und Verbandsbildungen seiner Zeit rechtlich zu qualifizieren, w e i l nunmehr jeder universitas ein bestimmter Grad an Jurisdiktion zuerkannt werden konnte. Zwar hält Bartolus daran fest, daß die höchste Form der Jurisdiktion, das imperium merum maximum, allein Kaiser und Reich vorbehalten sei 26 , doch ist er Realist genug, die Verselbständigungsbestrebungen der nationalen und territorialen Herrschaftsverbände als gegeben hinzunehmen, indem er davon ausgeht, daß es Herrschaftsinstanzen gibt, die den Kaiser als ihren Oberherrn nicht anerkennen (Imperatoren i n dominum non recognoscunt) 27 . Obwohl er sich versagt, die äußersten Konsequenzen seiner rechtlichen Gedankenführung zu ziehen — der Kaiser bleibt dominus 23
Dazu oben Abschnitt I , Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 55 f. Vgl. Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I I , tit. I, 1.3, Nr. 1 ff. (3), S. 163. Hierzu Costa, Iurisdictio, S. 161 ff., sowie Gilmore, Argument F r o m Roman L a w i n Political Thought, 1200—1600, Cambridge, Mass. 1941, Neudr. New Y o r k 1967, S. 36 ff. 25 Vgl. Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I I , tit. I, 1. 3, Nr. 3, S. 163. 26 Siehe ebd., lib. I I , tit. I , 1. 3, Nr. 8, S. 164: „ I m p e r i u m [sc. merum] m a x i m u m est, habere potestatem condendi legem generalem: quod competit soli P r i n c i p i et S e n a t u i . . . " . 27 Vgl. ebd., lib. I I I , t i t . I , 1.1, § „De qua re", Nr. 3, S. 322, w o Bartolus i m Hinblick auf die an sich n u r Kaiser u n d Reich zustehende Befugnis zur restitutio famae ausführt: „Sed si esset Rex, Princeps v e l populus q u i Imperatorem i n d o m i n u m non recognosceret: tunc quo ad seipsos, restitutio famae valeret: quia talis appellatur populus liber". Siehe ders., ebd., lib. I V , t i t . I V , 1. 3, Nr. 1, S. 430, anläßlich der Frage, i n w i e w e i t Minderjährigen das Recht zur V e r w a l t u n g ihres Vermögens zusteht: „Civitates tarnen quae Principem non recognoscunt i n dominum, et sie earum populus liber est . . . possent hoc forte statuere". Als Begründung hierfür w i r d der Satz angeführt: „quia ipsamet civitas sibi Princeps est". (Siehe dazu auch oben S. 68). Vgl. ferner ders., I n secundam partem Digesti n o v i Commentarla, lib. X L I X , tit. I I , 1.1, § „ I n t e r d u m Imperator", Nr. 3, S. 600. Hierzu eingehend: Ercole, Impero u n i versale et Stati particolari, S. 70 ff. 24
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mundi m i t nicht näher umschriebenen Schutz- und Verteidigungsfunktionen 28 — w i r d er damit gleichwohl zum Wegbereiter einer die Einheit der respublica Christiana letztlich überwindenden rechtlichen Sichtweise. 2. Die Relevanz des römischen Rechts für die Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen
Erblickt man i n der legistischen Formulierung der Unabhängigkeitsund Verselbständigungsbestrebungen erste Versuche einer rechtlichen Qualifizierung frühmoderner Staatlichkeit, so erhebt sich die Frage, welche Relevanz dem römischen Recht i m Prozeß der Ausbildung früher staatlicher Rechtsstrukturen zukommt. Schon Paul Laband hat sich dieser Problematik zugewandt, indem er die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Staatsrecht 20 zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchung machte. Laband vertrat die Auffassung, daß für den Rezeptionsvorgang politische Motive die eigentlich ausschlaggebenden gewesen seien und kam zu dem Schluß, daß die — von i h m vorausgesetzte — Rezeption des römischen Rechts i m Staatsrecht angefangen habe 30 . Obwohl Laband m i t einiger Verwunderung feststellte, die Verfassungszustände des Deutschen Reiches seien zu allen Zeiten von denen des römischen Kaiserreichs derart verschieden gewesen, daß man kaum verstehen könne, wie i n „irgendeiner Epoche auf diesen historisch gegebenen deutschen Staat die i m Römischen Recht i n Geltung gewesenen Vorschriften für anwendbar erklärt werden konnten", hielt er dessenungeachtet an der Vorstellung einer Rezeption des römischen Rechts i n das deutsche Staatsrecht fest, weil er davon ausging, daß man den „Grundbegriff desselben . . . dem antiken Staat, insbesondere dem Römischen Kaiserthum (entnahm)" 31 . Es liegt i n der Tat nahe, an eine Übernahme von Formeln und Maximen des spätrömischen Kaiserrechts i n das spätmittelalterliche Reichsrecht zu denken. Nicht nur die Neubelebung der Romidee 32 i m hohen und späten Mittelalter, auch der parallel dazu aufkommende 28 Vgl. Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, ad const. „Omnem", Nr. 3, S. 9, w o der Kaiser als dominus m u n d i bezeichnet w i r d , „quia tenetur t o t u m m u n d u m defendere, et protegere". Hierzu Baszkiewicz, Quelques remarques sur la conception de d o m i n i u m m u n d i dans l'oeuvre de Bartolus, i n : Bartolo da Sassoferrato, Studi e documenti per i l V I centenario, Milano 1962, voi. 2, S. 7—25. 29 Vgl. seine Rede über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts i n das deutsche Staatsrecht, Straßburg 1880. 30 Ebd., S. 9. 31 Ebd., S. 8, 17. 82 Vgl. dazu noch i m m e r : Fedor Schneider, Rom u n d Romgedanke i m M i t telalter. Die geistigen Grundlagen der Renaissance. Unveränd. Nachdruck der Aufl. v o n 1926, Darmstadt 1959, S. 179 ff.
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Gedanke einer Translatio Imperii 3 3 sind dazu angetan, die Vorstellung zu befördern, das antike römische Imperium sei niemals untergegangen, sondern habe i n seiner okzidentalen Gestalt ungespalten fortbestanden m i t der Folge, daß auch die kaiserrechtlichen Vorschriften nach wie vor anwendbar geblieben seien. Tatsächlich haben zeitweise einzelne Herrscher, vor allem der Stauferzeit, unterstützt durch ihnen nahestehende Legisten die spätrömischen Kaiserrechtsregeln für sich zu beanspruchen gesucht. So zog Friedrich I. zum Reichstag zu Roncaglia 1158 eigens die als quattuor doctores bekannten Irnerius-Schüler Bulgarus, Martinus, Jacobus und Hugo bei, u m sich ihres Rats i m Hinblick auf die Feststellung seiner Regalien i n Italien zu vergewissern 34 . Diese versicherten einem zeitgenössischen Bericht zufolge dem Kaiser ihrerseits, daß i h m als dem leibhaftigen Gesetz (lex viva) die Macht zukomme, Gesetze zu geben (condere leges) 35 . Friedrich II. nahm auf dem Höhepunkt staufischer Machtentfaltung i m Liber Augustalis, dem 1231 ergangenen Gesetzbuch für Sizilien, das Gesetzgebungsrecht (condendae legis ius) der Nachfolger Justinians für sich i n Anspruch i n dem Bewußtsein, nicht lediglich Beschützer und Bewahrer, sondern wie die spätantiken Principes Ausgangspunkt und Quelle des Rechts (origo iuris) zu sein 36 . So bedeutsam die darin liegende Wiederaufnahme des römischen Rechts i m Gefolge von Kaisertum und Kaiseridee geworden ist, so würde man die hoch- und spätmittelalterliche Rechts- und Verfassungswirklichkeit verzeichnen, wenn man sie ausschließlich nach Maßgabe 33 Dazu Werner Goez, Translatio Imperii. E i n Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens u n d der politischen Theorien i m Mittelalter u n d i n der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, S. 77 ff. 34 Daß A r t u n d Ausmaß des römischrechtlichen Einflusses auf die roncalischen Beschlüsse offenbar bedeutsamer sind als m a n bisher angenommen hat, geht aus den Forschungen von Colorni hervor, der die drei bislang als verschollen geltenden Gesetze von Roncaglia wieder aufgefunden hat. Vgl.: L e tre leggi perdute d i Roncaglia [1158] ritrovate i n u n manoscritto parigino, i n : Scritti i n memoria d i Antonio Giuffrè, vol. 1, Milano 1967, S. I l i — 1 7 0 (deutsche Übers, von G. Dolezalek, Aalen 1969). 35 Vgl. Gottfried von Viterbo, Gesta Friderici, i n : M G H , ed. G. H. Pertz, Scriptorum t. 22, S. 307—334 (316). Dazu Thomas Szabó, Römischrechtliche Einflüsse auf die Beziehung des Herrschers zum Recht, i n : Quellen u n d F o r schungen aus italienischen Archiven u n d Bibliotheken 53 (1973), S. 34—48 (39 ff.). 36 Vgl.: Die Konstitutionen Friedrichs I I . von Hohenstaufen f ü r sein K ö nigreich Sizilien, hg. u. übers, von H. Conrad (u. a.), K ö l n 1973 (zitiert: L i b e r Augustalis), lib. I, t i t . 31, S. 44/46. Hierzu Hermann Dilcher, Die sizilische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs I I . Quellen der Constitutionen von M e l f i u n d ihrer Novellen, K ö l n 1975, S. 816, wonach der A n t e i l römischer Quellenvorbilder insgesamt sich auf zwei D r i t t e l des Ganzen beläuft. Z u den religiöschristlichen Grundlagen der Vorstellung des das Recht als Herr u n d Vater hervorbringenden sowie als Diener u n d Sohn schützenden u n d bewahrenden Herrschers vgl. Ernst H. Kantorowicz, The King's T w o Bodies. A Study i n Mediaeval Political Theology, Princeton, N.J. 1957, Neudr. ebd. 1970, S. 97 ff.
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einer Rezeption spätrömischer Kaiserrechtsregeln beurteilen wollte. Zwar mögen einzelne Rechtsmaterien tatsächlich übernommen worden sein. Hinsichtlich der zentralen Formeln und Begriffe des römischen Kaiserrechts ist eine unmittelbare Übernahme indessen stets bestritten geblieben. Das betrifft den Satz ,Princeps legibus solutus' ebenso wie dessen Schwestermaxime ,Quod principi placuit legis habet vigorem' oder die Regeln über Umfang und Grenzen des imperium 3 7 . Daß die genannten Vorschriften nicht als unmittelbar geltendes Recht rezipiert werden konnten, liegt i n der schon von Laband zutreffend diagnostizierten Verschiedenheit der öffentlichen Zustände des Spätmittelalters von denen der Spätantike begründet 38 . Das Corpus Iuris Justinians spiegelte den Rechtszustand einer zentral regierten absoluten Monarchie. Die Übertragung der dieses Rechtssystem kennzeichnenden Regeln und Begriffe auf die ganz anders gearteten Herrschafts- und Machtstrukturen des Mittelalters mußte schon deshalb problematisch sein, w e i l die von Papst und Kaiser gemeinsam repräsentierte mittelalterliche respublica Christiana kein zentralistisch organisiertes Ganzes, sondern ein Neben- und Miteinander verschiedenster Herrschaftssphären darstellte, die sich infolge der Auflösung der Reichsgewalt i m Westen inzwischen herausgebildet und bereits weitgehend verselbständigt hatten. Zudem war der mittelalterliche Kaiser alles andere als ein absoluter Herrscher. Da seine Machtposition i m wesentlichen auf seiner Stellung als deutscher König 3 9 beruhte, war er nicht nur von der Wahl durch die deutschen Fürsten abhängig, sondern darüber hinaus — wie andere mittelalterliche Herrscher — i n vielfältiger Weise durch Wahlversprechungen, den zu leistenden Krönungseid und sonstige Zugeständnisse 40 beschränkt. K a n n demnach das Spezifische der ,Rezeption4 nicht i n einer schlichten inhaltlichen Übernahme von Rechtsregeln des spät- und nachklassischen Kaiserrechts gesehen werden, so fragt es sich, w o r i n die Relevanz des römischen Rechts für die allmählich sich ausbildende staatliche Rechtsordnung zu erblicken ist. Die ältere rezeptionsgeschichtliche Forschung hat hierauf eine zureichende A n t w o r t vermissen lassen, w e i l sie, auf die Fragestellung einer inhaltlichen Rezeption fixiert, i m wesentlichen Ursachenforschung 41 betrieb. Immerhin deutete Laband 87
Dig. 1, 3, 31; Dig. 1, 4, 1 pr.; Dig. 2, 1, 3. Z u r Umdeutung der römischrechtlichen Formeln u n d Begriffe i n der Legistik vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 84, 135 f. 38 Siehe oben S. 71. 39 Z u den rechtlichen Grundlagen des Königtums i m Reich vgl. Ernst Schubert, K ö n i g u n d Reich, S. 114 ff. 40 Vgl. zur Herrschaftsbindung ebd., S. 115 ff. 41 Vgl. etwa von Below, Die Ursachen der Rezeption des Römischen Rechts i n Deutschland, München 1905, Neudr. Aalen 1964.
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bereits an, daß man angesichts der öffentlichrechtlichen Unbrauchbarkeit des tradierten Stoffs aus dem römischen Recht vor allem den „Schatz publizistischer Rechtsbegriffe und die Methode ihrer Verwerthung" übernommen habe 42 . Rudolf Sohm kam ausgehend von Untersuchungen zur deutschen Gerichtsverfassung zu ähnlichen Schlußfolgerungen, wenn er feststellte, daß nicht das Corpus Iuris Justinians, sondern das „Recht der italienischen Rechtswissenschaft" Gegenstand einer Rezeption gewesen sei 43 . Der Blick richtet sich damit erneut auf jenen bereits i n Bezug genommenen gemeineuropäischen Rationalisierungsund Verwissenschaftlichungsprozeß 44 , der alle Rechtsgebiete ergreift und zu einer Umgestaltung des mittelalterlichen Rechts überhaupt führt. Zum Träger der damit eingeleiteten Rechtsentwicklung w i r d ein professioneller Juristenstand 45 , der die komplexen Probleme der sich ausbreitenden frühen (stadt)bürgerlichen Gesellschaft einer rationalen Betrachtungsweise unterwirft und damit die überkommenen naiv-intuitiven Rechtstechniken allmählich verdrängt. Die gelehrten Juristen bilden zwar nicht allein, doch i m Verbände des entstehenden Ämter- und Beamtenwesens eine neue soziale Gruppe, die aufgrund ihrer einheitlichen Ausbildung relativ geschlossen ist und eine der Grundlagen für die Entwicklung des gemeinen Rechts i n Europa 46 darstellt. Gerade w e i l i m Bereich des öffentlichen Rechts eine direkte Rezeption nicht infrage kam, mußte der begrifflich-systematischen Verarbeitung des überkommenen Rechtsstoffs durch die Legisten eine gesteigerte Bedeutung zufallen. Wenn die kaiserrechtlichen Formeln und Maximen schon nicht einfach übernommen werden konnten, so stellten sie jedenfalls vielfältig verwendbare Topoi dar, mittels deren Hilfe grundlegende, für jedes staatlich organisierte Rechtssystem bedeutsame Fragen und Probleme exemplifiziert und verdeutlicht werden konnten. Das läßt sich an der Auseinandersetzung der Legisten m i t dem spätund nachklassischen Kaiserrecht beispielhaft verfolgen. So w i r d etwa die Formel,Princeps legibus solutus 4 , die bei oberflächlicher Betrachtung lediglich eine absolutistische Herrschaftsweise zu rechtfertigen scheint, für die Legisten zugleich zum Ansatzpunkt weit42
Laband, Rede über die Bedeutung der Rezeption, S. 32. Sohm, Die deutsche Rechtsentwicklung u n d die Kodifikationsfrage, i n : Zeitschrift f ü r das P r i v a t - u n d öffentliche Recht der Gegenwart (Grünhuts Zeitschrift) 1 (1874), S. 245—280 (258). 44 Siehe oben Kap. 1, § 2, Nr. 1, S. 45 f. 45 Hierzu Fried, Die Entstehung des Juristenstandes i m 12. Jahrhundert, K ö l n 1974, der soziale Stellung u n d politische Bedeutung gelehrter Juristen beispielhaft für Bologna u n d Modena untersucht hat. 48 Vgl. Coing , Die juristische Fakultät u n d i h r Lehrprogramm, i n : ders. (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 39—128 (79 f.). 43
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reichender Rechtsquellenerörterungen, w e i l sie erkennen, daß die Erzeugung neuen Rechts notwendigerweise eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der jeweils bestehenden Rechtsordnung voraussetzt 47 . Die ursprünglich nur der Rechtsprechung zugewandten Regeln über die iurisdictio werden unter der Hand der Legisten zum Kristallisationskern von Erwägungen zu Inhalt und Umfang von Herrschaftsgewalt überhaupt und damit zur sedes materiae von Souveränitätsüberlegungen 48 . Der Satz ,Quod principi placuit legis habet vigorem' schließlich gewinnt i n der legistischen Interpretation neben und unabhängig von der darin ausgesprochenen Rechtsetzungskompetenz des Herrschers darüber hinausgehende, grundlegende Relevanz für die i m Entstehen begriffene staatliche Rechtsordnung, weil das Hauptaugenmerk der Legisten sich auf die darin zur Begründung angeführte, alle Herrschaftsgewalt fundierende Lex regia4® richtet. Danach soll das Volk einst alle Macht (omne suum imperium et potestas) auf den Herrscher übertragen haben. Wie die legistische Auseinandersetzung mit diesem grundlegenden Gesetz zeigt, läßt sich der hierin vorausgesetzte Übertragungsakt, der eine völlige Rechtsentäußerung des populus zu enthalten scheint, auf durchaus zweifache Weise deuten. Man kann zum einen davon ausgehen, daß die Übertragung der ursprünglich beim Volke liegenden Gewalt auf den Herrscher eine endgültige ist (translatio) 50 . Für diesen Fall gelangt man zur ausschließlichen und — wenn man überdies den Satz ,Princeps legibus solutus' beizieht — auch zur unumschränkten Rechtsetzungskompetenz des Herrschers. Interpretiert man hingegen den Übertragungsvorgang als Gewährung (concessio)51, so kommt man zu einer vertragsmäßig begründeten Herrschaftskonzeption 47 Siehe z. B. die von Odofredus (f 1265) zu Dig. 1, 3, 31 gegebene Begründung: „Nemo potest sibi legem dicere a qua sibi recedere non liceat" (Interpretatio i n undecim primos Pandectarum libros, L u g d u n i 1550, Neudr. B o logna 1967, lib. I, t i t . I I I , 1. 31, Bl. 14 v). 48 Vgl. die Begriffsbestimmung des Bartolus, wonach „iurisdictio est nomen generale comprehendens m e r u m et m i s t u m i m p e r i u m (Tractatus de iurisdictione, i n : ders., Consilia, Quaestiones, et Tractatus, Basileae 1588, S. 392—396, S. 396, Nr. 34). Siehe auch oben unter Nr. 1, S. 69 f., u n d f ü r den Zusammenhang m i t der Souveränitätslehre unten Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, Nr. 2. 49 Hierzu Morel , L a place de la L e x regia dans l'histoire des idées p o l i t i ques, i n : Etudes offertes à Jean Macqueron, Aix-en-Provence 1970, S. 545— 555 (546 ff.). 50 So die Glosse des Accursius , Dig. 1, 4, 1, Gl. „conférât" (ed. Lugd. 1627, 1.1, Neudr. Osnabrück 1965, Sp. 44). 61 So Odofredus , Interpretatio i n undecim primos Pandectarum libros, lib. I, t i t . I I I , 1.32, Nr. 7, Bl. 15 ν : „ N a m populus bene postest hodie legem condere sicut o l i m poterat. I t e m non obstat quod a l i b i d i c i t u r quod populus omnne i m p e r i u m legis condendae transtulit i n principem, quia intelligo transtulit, i d est concessit, non tarnen a se abdicando." Vgl. hierzu C.-F. Menger , Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4., durchges. Aufl., Heidelberg 1984, S. 8, Rdnr. 17.
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m i t der Folge, daß die Herrschaftsmacht lediglich zur Ausübung überlassen, m i t h i n widerrufbar ist. Die Legisten sind sich durchaus i m klaren darüber, daß i m letzteren F a l l auch die Rechtsetzungsbefugnis keine ausschließliche oder unumschränkte sein kann. Sie bedienen sich deshalb der schon dem klassischen römischen Recht vertrauten Erkenntnis, daß eine Rechtsnorm auch vertragsmäßige Züge annehmen, d. h. als lex contractus 52 vereinbart werden kann, und gelangen auf dem Hintergrund dieser Überlegungen zu dem Schluß, daß ein derart zustandegekommenes Gesetz, w e i l i n den Vertrag eingegangen — lex transit i n contractum! 53 —, nicht mehr einseitig veränderbar oder gar aufhebbar ist. Die Folgewirkungen dieser Auffassung liegen vor allem i m Bereich der rechtlichen Bindung. Während der allein das Recht setzende Herrscher lediglich naturrechtlich oder aber freiwillig (de voluntate) gebunden 54 ist, muß sich der vertraglich verpflichtete Träger von Herrschaftsgewalt die Gegenseitigkeitsregel (régula correlativorum) 5 5 entgegenhalten lassen m i t der Konsequenz, daß bei Vertragsbruch dem Vertragspartner ein Rücktritts- oder Widerstandsrecht 58 zustehen kann. Entgegen einer noch immer verbreiteten Auffassung 57 sind diese, auf das i m Entstehen begriffene staatlich organisierte Rechtssystem gerichteten gedanklichen Bemühungen der Legisten keineswegs Produkte realitätsfremden Konstruierens. Es handelt sich vielmehr u m den bemerkenswerten Versuch, das Entstehen frühmoderner Staatlichkeit mittels der am römischen Recht gewonnenen, jedoch selbständig und zeitgemäß fortentwickelten Begrifflichkeit als eine Frage der Setzung von Recht zu reflektieren. Bemerkenswert ist einmal die Thematisierung der Frage überhaupt: Rechtsetzung als Schaffung neuen Rechts durch eine öffentliche Instanz w i r d zum legitimen Gegenstand legistischer Jurisprudenz. Zum anderen verdient die Erfassung des ,Wie 4 der Rechtsetzung Beachtung: neues Recht w i r d nicht notwendig als allein vom Herrscher ausgehendes Gebotsrecht, sondern sehr w o h l auch als i n vertragsmäßiger Form vereinbartes Recht begriffen. 52 Dazu Käser, Das römische Privatrecht I, § 48, I V , S. 197, wonach die klassische lex contractus „ v o m P r i v a t w i l l e n gesetzte Geschäftsbedingung" ist. 53 Vgl. Baldus, I n q u a r t u m et q u i n t u m Codicis libros Praelectiones, lib. V, t i t . X V I , 1. 26, rubr. Bl. 212 r. 54 Beide Möglichkeiten rechtlicher B i n d u n g werden von der accursischen Glosse „Princeps legibus" zu Dig. 1, 3, 31 i n Betracht gezogen (ed. Lugd. 1627, 1.1, Sp. 40). Während die freiwillige B i n d u n g ausdrücklich genannt w i r d , geht die naturrechtliche aus der Verweisung auf Dist. 8, cap. 2, rubr. des Decretum Gratiani hervor: „Adversus naturale ius n u l l i quicquam agere licet." 55 Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I , t i t . I I I , 1. 30 (31), Nr. 2 f., Bl. 23 r. 56 Hierzu näher unten Abschnitt I I , Kap. 2, § 12, Nr. 2, S. 164 f. 57 Vgl. etwa Quaritsch, Staat u n d Souveränität, S. 144 f., 169.
§ 4 Strukturelle Ansätze staatlicher Ordnung
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§ 4 Strukturelle Ansätze staatlicher Ordnung 1. Die Ausdifferenzierung nationaler und territorialer Herrschaftssysteme
Daß bereits i n der römischen Jurisprudenz der Spätklassik Ansätze einer als staatlich begriffenen Rechtsordnung wenigstens angelegt sind, hat seinerzeit Eugen Ehrlich 58 nachgewiesen. Er machte nämlich darauf aufmerksam, daß die Römer den Begriff des ius publicum i n einem doppelten Sinn verwenden, w e i l sie darunter nicht nur das die respublica angehende, sondern auch das von i h r ausgehende Recht verstehen 59 . Während der erste Aspekt vor allem i n der bekannten Begriffsbestimmung Ulpians 6 0 zum Ausdruck kommt, t r i t t der zweite Gesichtspunkt überall da hervor, wo die römischen Juristen eine bestimmte einzelne Vorschrift dem ius publicum als eine Vorschrift positiv gesetzten Rechts zurechnen, die von der respublica als geltend anerkannt wird® 1. Freilich bringen erst die spätmittelalterlichen Legisten diesen Erzeugungszusammenhang wirklich auf den Begriff, indem sie, wie Bartolus, Öffentliches Recht und öffentliche Herrschaftsinstanz (persona publica) 62 zueinander i n Beziehung setzen oder, wie Baldus, alles Gesetzesrecht (ius legis) als Öffentliches Recht 63 betrachten. Dabei wird, was die rechtsetzende öffentliche Instanz angeht, keineswegs nur an Kaiser und Reich gedacht. Vielmehr suchen die Legisten der Rechtswirklichkeit ihrer Zeit, wie sie ihnen i n Gestalt nationaler und territorialer Statuten entgegentritt, auch da gerecht zu werden, wo der Kaiser als dominus mundi nicht anerkannt wird. Sei es, daß sie eine vom Kaiser 58 Siehe seine: Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen. 1. (einziger) Teil. Das ius civile, ius publicum, ius privatum, Neudr. der Ausg. B e r l i n 1902, Aalen 1970. 69 Vgl. ebd. Kap. 13, S. 168ff.: ,Ius publicum als Staatsrecht u n d staatliches Recht 4 . Die Begriffswahl ist nicht sehr glücklich, wenngleich der Sache nach zutreffend. Ehrlich steht hier terminologisch offenbar unter dem Einfluß von Mommsen, der davon ausgegangen war, daß die römischen Juristen den „Begriff des Staatsrechts unter der Bezeichnung ius p u b l i c u m gekannt" haben (Römisches Staatsrecht, Bd. 1, Nachdr. der 3. Aufl., Leipzig 1887, D a r m stadt 1971, S. 3). 60 Dig. 1, 1, 1, 2: P u b l i c u m ius est quod ad statum rei Romanae spectat. 61 Also: Leges, senatusconsulta, constitutiones. Dazu Ehrlich, S. 172 ff. Ferner Müllejans, Publicus u n d Privatus i m Römischen Recht u n d i m älteren Kanonischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Unterscheidung lus publicum u n d lus privatum, München 1961, S. 29 ff. Z u eng Silvio Romano, L a distinzione fra ,ius publicum 4 e ,ius p r i v a t u m 4 nella giurisprudenza romana, i n : Scritti g i u r i d i c i i n onore d i Santi Romano, voi. 4, Padova 1940, S. 157—171 (168), der n u r diesen Gesichtspunkt betont. 62 Bartolus, I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I I , tit. I , 1. 1, Nr. 3, S. 157 f., anläßlich der Bestimmung des Jurisdiktionsbegriffs. 63 Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I, tit. I, 1.1, § „huius studii", Nr. 10, Bl. 8 v. Siehe auch oben Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 59 f.
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unabhängige Rechtsetzung durch dahingehende Privilegien 6 4 zu legitimieren suchen, sei es, daß sie die potestas legem condendi vom tatsächlichen Besitz einer dazu ermächtigenden Jurisdiktionsbefugnis 65 abhängig machen, immer geht es ihnen darum, den i n vollem Gang befindlichen Verselbständigungsprozeß der nationalen und territorialen Herrschaftsverbände i n ihre Überlegungen einzubeziehen. So stellt beispielsweise Cinus fest, zwar sei alle Welt dem Kaiser Untertan (omnes subsunt imperio), doch faktisch treffe das nicht zu (licet de facto non sit ita) 66 . Baldus führt diesen Gedanken weiter aus, indem er betont, es sei untunlich, faktisch unabhängigen Völkern Gesetze auferlegen zu wollen: dem Kaiser müsse deshalb unterstellt werden, nur solchen Völkern Gesetze zu geben, „de quibus est spes quod obediant" 67 . Der Weg w i r d damit frei für die Erkenntnis, daß der Geltungsbereich des römischen Rechts erst da beginnt, wo das Statut aufhört 68 . Das römische Recht vermochte nicht zuletzt deshalb fortzubestehen und sich auszubreiten, weil auch seine Protagonisten nicht von der Vorstellung einer materialen Rezeption ausgingen, sondern diesem — teils bewußt, teils latent — die Funktion eines zwar universell anwendbaren, letztlich jedoch nur subsidiären Gemeinrechts 60 beilegten. Es hat infolgedessen nichts Ungewöhnliches, wenn das römische Recht auch da als anwendbar betrachtet wird, wo es nicht eigens i n Geltung gesetzt worden ist. Die hierzu erforderliche Assimilierungs- und Interpretationsleistung w i r d insbesondere von den i m Gefolge der Erneuerung des römischen Rechts aufblühenden nationalen Rechtsschulen 70 und deren Adepten erbracht. Eine Führungsrolle kommt schon früh den französischen Legisten zu, die, gestützt auf ein erstarkendes Königtum, das römische Recht für das sich ausformende nationale Rechtssystem praktisch nutzbar zu machen suchen. I m Anschluß an die i n der Rechtsschule 64
So Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I, t i t . I, 1. 9, Nr. 27, Bl. 14 v, der das Vorliegen einer permissio fordert. 65 So Bartolus , I n p r i m a m Digesti veteris partem Commentarla, lib. I , t i t . I , 1. 9, Nr. 3 f., S. 27; lib. I I , t i t . 1,1. 3, Nr. 6 ff., S. 164. 66 Cinus, I n Codicem et aliquot titulos p r i m i Pandectarum Tomi, i d est Digesti veteris, doctissima Commentarla, Francofurti a. M. 1578, Neudr. Torino 1964, lib. I V , t i t . V I , Nr. 5, S. 198 A . Dazu C.-F. Menger, Deutsche V e r fassungsgeschichte, S. 11, Rndr. 23. 67 Siehe Baldus, I n p r i m u m Codicis l i b r u m Praelectiones, L u g d u n i 1556, lib. I, t i t . 1,1.1, Nr. 1, Bl. 5 r. 68 Vgl. Baldus, Commentarla i n p r i m a m Digesti veteris partem, lib. I , t i t . I , 1. 9, Nr. 2, Bl. 14 r : „ U b i cessât statutum habet locum ius civile". 69 Vgl. hierzu Coing, Einleitung, i n : ders., Handbuch, Bd. 1, S. 27; Trusen, Römisches u n d partikuläres Recht i n der Rezeptionszeit, i n : Rechtsbewahr u n g u n d Rechtsentwicklung. Festschrift f ü r Heinrich Lange zum 70. Geburtstag, hg. von K . Kuchinke, München 1970, S. 97—120 (101). 70 Vgl. die Zusammenstellung bei Coing, Die juristische Fakultät, i n : ders., Handbuch, Bd. 1, S. 41 ff.
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von Orléans erarbeiteten Grundlagen 71 gibt u m die M i t t e des 13. Jahrhunderts der noch i n Bologna ausgebildete, später i n L y o n als Offizial tätige Jean de Blanot solchen Tendenzen Ausdruck, indem er den französischen König m i t dem Kaiser gleichsetzt: Rex Franciae i n regno suo princeps est 72 . Er weist damit zum einen imperiale Ansprüche ab und ebnet zum anderen mittels der von i h m vorgenommenen Gleichsetzung von König und Kaiser den Weg für eine selektive, auf Frankreich abgestellte Anwendung römischrechtlicher Formeln und Begriffe. Tatsächlich w i r d beispielsweise die Formel,Princeps legibus solutus 473 spätestens i m Laufe des 14. Jahrhunderts als für den französischen König geltendes Recht i n Anspruch genommen 74 . Nicht anders verhält es sich m i t dem Satz ,Quod principi placuit legis habet vigorem' 75 . Bereits am Ende des 13. Jahrhunderts zieht Philippe de Beaumanoir, königlicher Rat, angesichts der sich entfaltenden königlichen Gesetzgebung daraus die naheliegende Konsequenz, dasjenige, was dem französischen König beliebe, habe Gesetzeskraft (ce qu'il l i plest a fere doit estre tenu pour loi) 76 . E i n Jahrhundert später faßt Jean Boutillier i n seiner aus der Rechtspraxis erwachsenen ,Somme rural· die Entwicklung dahingehend zusammen, „que le roy de France, qui est empereur en son royaume, peut faire ordonnances qui tiennent et vaillent loy" 7 7 . I n anderen europäischen Königreichen des Westens wie des Ostens läßt sich eine vergleichbare Entwicklungstendenz 78 beobachten. Das g i l t auch für Eng71 Deren bekannteste Vertreter Jacques de Révigny u n d Pierre de Belleperche sind. Dazu Feenstra, De Universiteit v a n Orleans i n de Middeleeuwen. Centrum v a n europese rechtswetenschap en kweekschool van Nederlandse juristen, i n : Samen vinnige. Tien opstellen over rechtsgeschiedenis geschreven ter gelegenheid v a n het tienjarig bestaan v a n het interuniversit a i r instituut Nederlands Centrum voor Rechtshistorische Documentatie, Zwolle 1977, S. 11—32 (17 ff.). 72 Jean de Blanot (Ioannes de Blanasco), Commentarla super t i t u l u m de actionibus i n Institutis, Moguntiae 1539, Bl. X L V r. Hierzu Feenstra, Jean de Blanot et la formule „Rex Franciae i n regno suo princeps est", i n : Etudes d'histoire d u droit canonique dédiées à Gabriel Le Bras, Paris 1965, t. 2, S. 885—895. 73 Dig. 1, 3, 31. Dazu näher oben Kap. 1, § 2, Nr. 2, S. 52. 74 Siehe hierzu die Ordonnanz Karls V. (1364—1380) v o m August 1374, w o nach der König, „ q u i solutus est legibus", seine V o l l j ä h r i g k e i t bereits m i t 14 Jahren erreicht. Vgl. Dupuy, Traité de la majorité de nos rois et des régences d u royaume, Amsterdam 1722, 1.1, S. 214—226 (223). Dazu Esmein, »Princeps legibus solutus est' dans l'ancien droit public français, i n : Essays i n Legal History, ed. b y P. Vinogradoff, London 1913, S. 201—214 (203). 75 Dig. 1, 4, 1 pr. Dazu oben Kap. 1, § 2, Nr. 2, S. 52. 76 Philippe de Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis, pubi, par A. Salmon, t. 2, Paris 1900, chap. X X X V , Nr. 1103, S. 63. 77 Jean Boutillier, Somme rural, ou le Grand Coustumier général de practique c i v i l et canon, Paris 1603, l i v . I I , tit. 1, S. 646. 78 So w i r d i m bekannten Gesetzgebungswerk Alfons' (des Weisen), K ö n i g von Kastilien u n d Leon (1252—1284) der K ö n i g als „emperador en su i m perio" bezeichnet (Las Siete Partidas, ed. M a d r i d 1807, t. 2, tit. I, 1. 5, S. 7). F ü r
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
land, wo der als königlicher Richter m i t der Rechtspraxis seiner Zeit wohlvertraute Henry de Bracton die Rechtsetzungskompetenz des K a i sers nach Dig. 1, 4, 1 i m Sinne des Common L a w umbiegt, indem er darauf hinweist, auch der englische König besitze die Befugnis zur Gesetzgebung, freilich m i t der Maßgabe, daß er sich zuvor m i t den Großen seines Landes abstimme 79 . Auch i m Reich sind strukturelle Ansätze nachweisbar, die auf die Ausbildung einer staatlichen Rechtsordnung gerichtet sind. Das ist i n der älteren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung nicht immer m i t hinreichender Deutlichkeit gesehen worden. Man ging nämlich von der Voraussetzung aus, daß der moderne Staat sich nur auf jeweils einer der infrage kommenden Ebenen 80 , sei es der des Reichs oder der Territorien, ausgebildet haben könne. Weil man hierbei einen substanzhaften Staatsbegriff zugrunde legte, übersah man die Vielschichtigkeit der i n Reich, Territorium und Stadt allenthalben sich vollziehenden politisch-sozialen Abläufe und verkannte, daß es — unabhängig davon, auf welcher Bezugsebene man bei der rechtlichen Analyse ansetzt — gleichermaßen u m das den frühmodernen Staat kennzeichnende Phänomen funktionaler Ausdifferenzierung politischer und rechtlicher Institutionen geht. Das Reich hat allerdings nicht zu jener Form nationaler und zentraler Staatlichkeit gefunden, wie sie beispielsweise i n Frankreich und England ausgebildet worden ist. Anders als i m Westen haben sich i m Reich föderale Staatsstrukturen 81 ausgeprägt mit der Folge, daß die Territorien an der Entwicklung zum frühmodernen Staat maßgeblich beteiligt sind. Der auf territorialer Ebene ablaufende Verstaatungsprozeß w i r d i n den fünfziger Jahren des 14. Jahrhunderts von dem niederländischen Juristen Philipp von Leyden treffend dahingehend charakterisiert, daß ein jeglicher i n seinen Teilen Kaiser sei (imperator sit i n partibus suis), Böhmen, Ungarn u n d Polen, wo die Rex-Imperator-Formel allerdings nicht w ö r t l i c h übernommen w i r d , vgl. Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, i n : Coing (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 530 f. 79 Vgl. seine u m die M i t t e des 13. Jahrhunderts verfaßten: De Legibus et Consuetudinibus Angliae l i b r i quinque, ed. G. E. Woodbine, vol. 2, London 1923, lib. I I I , cap. 9, S. 305, w o erläutert w i r d , das ,Quod p r i n c i p i placuit' gelte nicht „ q u i d q u i d de voluntate regis temere praesumptum est, sed quod magnat i u m suorum Consilio, rege auctoritatem praestante et habita super hoc deliberatione et tractatu, recte fuerit definitum". Hierzu Ewart Lewis, K i n g Above Law? „Quod p r i n c i p i placuit" i n Bracton, i n : Speculum 39 (1964), S. 240—269. so Typisch hierfür etwa Ludwig Zimmermann, Motive u n d Grundformen moderner Staatsbildung i n Deutschland (1939), i n : K ä m p f (Hg.), Herrschaft u n d Staat i m Mittelalter, S. 365—409 (367): „Moderne Staatsbildung aber muß außerhalb der Reichstradition erfolgen oder sie überwinden." 81
Hierzu näher unten Abschnitt I I , Kap. 2, § 13.
§ 4 Strukturelle Ansätze staatlicher Ordnung
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so daß jeder Herzog, Graf oder Freiherr i m Bereich seiner Jurisdiktion und seines Territoriums Princeps genannt werden könne (dux, comes vel baro potest dici princeps i n sua iurisdictione et suo territorio) 8 2 . Mochte Philipp diesen Zustand eher negativ beurteilen, weil er vor allem Dezentralisierungs- und Partikularisierungstendenzen zu erkennen glaubte, so hatte er doch durchaus richtig gesehen, daß der den frühmodernen Staat begleitende Prozeß politischer Institutionalisierung auch das Reich ergreift, wenngleich i n anderer Form und mit anderen Ergebnissen, als das i m übrigen Europa der Fall war. 2. Die Konstituierung des frühmodernen Staates aus der Rechtserzeugungsfunktion
Versucht man, das Gemeinsame des europäischen Vorgangs der Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit herauszuheben, so t r i t t allenthalben eine veränderte Einstellung zum Recht hervor. Das ist i n der rechtsund verfassungsgeschichtlichen Forschung seit geraumer Zeit bekannt und — von unterschiedlichen Ansatzpunkten her — i m einzelnen dargelegt worden. Schon i n den zwanziger Jahren hat Ernst Kantorowicz 83 auf die Rechtsetzung als ein wesentliches Element des frühmodernen Staates aufmerksam gemacht. A m Beispiel der Herrschaft Friedrichs II. i n Sizilien wies er nach, wie der Kaiser zum „Quell der Justitia" und diese zur „Gründerin des Staates" wird 8 4 . Der kaiserliche Gesetzesstaat ist i h m „Selbstzweck", weil auf seinem Boden die überkommene Justitia nicht mehr von religiös-jenseitigen Zielen bestimmt wird, sondern sich vielmehr den „täglich sich wandelnden Notwendigkeiten des Staates" anpaßt 85 . Kennzeichnend für den von Kantorowicz so bezeichneten »Juristen- oder Justitiastaat' 86 sind der juristische, von säkularem Geist durchdrungene Verwaltungskörper sowie eine permanent tätige, besoldete Beamtenschaft. Das damit etablierte neue Verwaltungssystem eröffnet, wie Kantorowicz zutreffend feststellt, erstmals die Möglichkeit, bis i n die untersten Sphären eine zentral geleitete und nach einem einzigen Willen planmäßig durchgreifende Staatsverwaltung 87 auszubilden. Es liegt auf der Hand, daß i h m hierbei als Modell frühmoderner 82 De cura reipublicae et sorte principantis, uitg. door R. F r u i n en P. C. Molhuysen, 's-Gravenhage 1900, casus I X , S. 54; casus X L I X , S. 215. Dazu Feenstra, P h i l i p of Leyden and His Treatise „De cura reipublicae et sorte principantis", Glasgow 1970, S. 69 ff. 83 I n seinem aufsehenerregenden W e r k : Kaiser Friedrich der Zweite, B e r l i n 1927—1931, 2 Bde., Neudr. Düsseldorf 1963. Siehe hierzu Abulafia, Kantorowicz and Frederick I I , i n : History 62 (1977), S. 193—210. 84 Ebd., Bd. 1, S. 211, 223. 85 Ebd., S. 223. 86 Ebd., S. 233, 249. 87 Ebd., S. 249.
6 Wyduckel
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
Staatlichkeit der absolute Staat vorschweben mußte. Folgerichtig sah er deshalb i m Sizilien Friedrichs II. die Verwirklichung der „ersten absoluten Monarchie des Abendlandes" 88 . Von einem anderen Ansatzpunkt her spürte Werner Näf 9 ,Frühformen des modernen Staates4 i m späteren Mittelalter nach. Auch er stellte entscheidend auf Recht und Rechtsetzung ab, ging jedoch nicht vom einseitigen Rechtsbefehl des Herrschers aus, sondern bezog die Stände i n den Rechtsetzungsprozeß ein. Näf erblickte demzufolge i n den Recht begründenden Herrschaftsverträgen, die seit dem 13. Jahrhundert i n ganz Europa aufkommen, das ausschlaggebende Charakteristikum frühmoderner Staatlichkeit. Er kam so zu der Überzeugung, daß grundlegend für die Frühform des modernen Staates ein Dualismus sei, weil überall als „Korrelat der Monarchie die Stände wirksam w u r den" 9 0 . Erst i m Zusammenwirken von Herrscher und Ständen kann demnach eine „genügende und geordnete Staatstätigkeit" sich ausbilden, erst „ i n der Zweiheit und durch sie" der Staat zustande kommen 91 . Ausgehend vom genossenschaftsrechtlichen Modell als dem dritten hier infrage kommenden Ansatz der Staatwerdung erblickte Otto von Gierke i n der spätmittelalterlichen Einung die „Quelle des staatlichen Verbandes" 92 . Der Staat entsteht danach „von unten auf durch freie Vereinbarung" 9 8 . Gierke dachte hierbei insbesondere an die „organisierte Landgemeinde 44 , die durch die Versammlung ihrer Vollbürger zur Erscheinung kommt 9 4 , sowie an die Stadt als eine „große, durch gleiches Recht und gleiche Pflicht verbundene Genossenschaft von Bürgern, die zugleich Gemeinde und auf freier Übereinstimmung Aller beruhende geschworene Einigung 44 ist 9 5 . A l l e Einungen stimmen darin überein, daß sie unter den Verbundenen eine „Gemeinschaft des Friedens, des Rechtes und des Interesses 44 begründen 98 . I n besonderer Weise erschien Gierke all das i n der Stadt verwirklicht, die er infolgedessen zum Modell eines „wahrhaft staatlichen Gemeinwesens44 erhob 97 . 88
Ebd., S. 195. Werner Näf, Frühformen des »modernen Staates' i m Spätmittelalter (1951), i n : H . H . Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, K ö l n 1967, S. 101—114. 90 Ebd., S. 102. 91 Ebd., S. 103 f. 92 Otto von Gierke , Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, B e r l i n 1868 (Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1), Neudr. Darmstadt 1954, S. 509. 93 Ebd., S. 10. 94 Ebd., S. 514 ff. (573). 95 Ebd., S. 300 ff. (327). 96 Ebd., S. 461. 97 Ebd., S. 332. 89
§ 4 Strukturelle Ansätze staatlicher Ordnung
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Von jeder der hier genannten Konzeptionen der Staatwerdung her ergibt sich eine spezifische Vorstellung staatlichen Rechts. So beruht für Kantorowicz das „Recht des Staates" allein darauf, daß der Herrscher die Form der Justitia einseitig gemäß den entsprechenden Notwendigkeiten verändern kann 9 8 . Das kommt, wie er ausführt, i n der Person Friedrichs II. deshalb besonders sinnfällig zum Ausdruck, w e i l dieser die bestehende Vielfalt unendlich verwickelter Rechts- und W i r t schaftsverhältnisse durch das i m Liber Augustalis niedergelegte „einheitliche Staats- und Verwaltungsrecht umklammerte" 9 9 . Näf hingegen sah angesichts der Tatsache, daß der frühmoderne Staat nicht „einseitiger Verwaltungs- und Machtstaat" 1 0 0 ist, den Staatsbildungsprozeß i n der „doppelten Form des Fürstlichen und des Ständischen" 101 verankert. Er sprach infolgedessen den zwischen den beiden Instanzen abgeschlossenen Herrschaftsverträgen den Charakter einer „staatsrechtlichen Vereinbarung" 1 0 2 zu, die zur Setzung neuen Rechts durch gemeinsamen Rat und aus vereinter K r a f t von Fürst und Land führt. Otto von Gierke schließlich, der das genossenschaftliche Modell der ,civitas sibi princeps 4103 vor Augen hatte, welche sich durch gewählte Repräsentanten selbst regiert, erblickte i n den Einungen über politische Verhältnisse nicht nur „bloße Verträge", sondern darüber hinausgehende „konstituierende, Verfassung gebende Akte" von staatsbegründender Relevanz 104 . Welcher der drei vertretenen Auffassungen man auch folgt, es liegt allenthalben das Bestreben zugrunde, politische Herrschaft mittels des Rechts zu begründen und über fundierende Normen näher zu bestimmen. Mögen Form und Entstehungsbedingungen dieses Rechts i m einzelnen noch so unterschiedlich sein, immer geht es u m das zentrale Phänomen einer Institutionalisierung staatlich organisierter Herrschaft. U m staatliches Recht handelt es sich hierbei, wie schon i n der Legistik erkannt worden ist, i n einer zweifachen Weise: einmal i m Hinblick darauf, daß es allgemein verbindlich i m Bereich eines bestimmten Gemeinwesens als gesetzt gilt (ius publicum cuiuslibet civitatis) 1 0 5 ; zum anderen hinsichtlich der Tatsache, daß es diejenigen Rechtsregeln umfaßt, die das jewei08
Vgl. E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Bd. 1, S. 223. Ebd., S. 258. 100 Vgl. Näf, Frühformen des ,modernen Staates 4 , S. 112. 101 Ebd., S. 108. 102 Ebd., S. 113. 103 Siehe oben Kap. 2, § 3, Nr. 1, S. 68 f. 104 Otto von Gierke , Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Bd. 1, S. 576. 105 So Bartolus, I n p r i m a m partem Codicis Commentarla, Basileae 1588, lib. I, tit. I I , 1.19, Nr. 7, S. 68. 99
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
lige Gemeinwesen i n ganz spezifischer Weise angehen, weil sie seine Herrschaftsstruktur (regimen) charakterisieren 106 . Hierzu zählen beispielsweise Krönungseide, Wahlversprechen, Landfriedensordnungen ebenso wie sonstige Rechtsakte (Konstitutionen, Statuten, Privilegien) 1 0 7 , soweit sie Aufbau und Struktur des Gemeinwesens betreffen. Für das Reich sind hier etwa die zahlreichen Landfrieden 1 0 8 auf zentraler, territorialer wie städtischer Ebene zu nennen, die, w e i l sie Störungen des öffentlichen Friedens auszuschalten suchen, als erste Ansätze einer staatlichen Ordnung angesehen werden können. Ferner gehören i n diesen Zusammenhang die Privilegien von 1220 und 1231 zugunsten der geistlichen bzw. weltlichen Fürsten 109 , i n denen wegen der darin ausgesprochenen Verleihung wichtiger Hoheitsrechte (Jurisdiktions-, Zollund Münzrecht) an die Landesherren erstmals die rechtlichen Grundlagen territorialstaatlicher Herrschaftsgewalt greifbar werden. I n den Bereich gemeinwesenbezogener Rechtsregeln fällt insbesondere die von K a r l IV. gegebene Goldene Bulle von 1356; nicht nur, w e i l sie das Königswahlrecht der Kurfürsten bestätigt und den Charakter des Reichs als eines ständisch bestimmten Wahlreichs rechtlich festschreibt, sondern auch deshalb, w e i l sie überdies m i t der Verleihung der bekannten Jurisdiktionsprivilegien (Privilegium de non evocando bzw. de non apellando) 110 den Kurfürsten erhebliche Vorrechte einräumt und damit die bereits i n den Zugeständnissen von 1220 und 1231 sich abzeichnende Tendenz zur Territorialisierung des Reichs erneut und äußerst folgenreich bekräftigt. Schließlich sind die zahlreichen Stadtrechte und Landesordnungen zu erwähnen, die i n ihren Bestimmungen über öffent106
Das macht Bartolus, Super Institutionibus I u r i s Civilis Commentarla, i n : ders., Super Authenticis et Institutionibus Commentarla, Basileae 1588, S. 161—286, De iustitia et iure, § „iuris praecepta sunt", Nr. 3, S. 166, am Beispiel des Reiches klar, indem er status reipublicae u n d regimen I m p e r i i aufeinander bezieht. 107 F ü r Zustandekommen u n d Geltungsanspruch vgl. Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, i n : Coing (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 539 ff. 108 Vgl. Angermeier, K ö n i g t u m u n d Landfriede i m deutschen Spätmittelalter, München 1966, S. 14 ff., jedoch m i t starker Akzentuierung des personalen Friedenselements. 109 Vgl. ,Confoederatio cum principibus ecclesiasticis' v o m 26. A p r i l 1220 (ed. Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung i n Mittelalter u n d Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen 1913, Nr. 40, S. 42 ff.) u n d ,Statutum i n favorem principum' v o m 1. M a i 1231 (ebd., Nr. 47, S. 51 f.; Nr. 53, S. 55 f.). Dazu Erich Klingelhöf er, Die Reichsgesetze von 1220, 1231/32 u n d 1235. I h r Werden u n d ihre W i r k u n g i m deutschen Staat Friedrichs II., Weim a r 1955, S. 5 ff., 61 ff. 110 Vgl. Goldene Bulle, cap. 11 (ed. Zeumer, Quellensammlung, Nr. 148, S. 202 f.). Dazu Eisenhardt, Die Rechtswirkungen der i n der Goldenen Bulle genannten privilegia de non evocando et appellando, i n : Z R G G A 86 (1969), S. 75—96.
§ 5 Die Herausbildung einer staatsrechtlichen Betrachtungsweise
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liehe Ä m t e r 1 1 1 und „gute polizey" 1 1 2 wesentlichen Aufschluß über die Binnenstrukturen frühmoderner Staatlichkeit i m späteren Mittelalter zu geben vermögen. Das i m Entstehen begriffene staatliche Normengefüge hat sich freilich noch nicht verselbständigt, sondern bleibt i n den feudalrechtlichen und ständisch-korporativen Kontext der Zeit eingebunden 113 . Die auf den entstehenden frühmodernen Staat sich beziehenden Rechtsregeln stellen infolgedessen noch keinen systematischen Zusammenhang i m Sinne eines durchgebildeten Rechtssystems dar. Sie erschließen sich jedoch einer Betrachtungsweise, welche sie als funktionale Strukturregeln einer sich staatlich organisierenden Gesellschaft begreift und i n den größeren Zusammenhang politischer Institutionalisierung einordnet. Die auf diese Weise gewonnenen Rechtsregeln und Begriffe bilden i n ihrer normativen Ausrichtung auf den frühen institutionellen Flächenstaat eine Einheit und können deshalb als funktionale Äquivalente eines staatsrechtlichen Regelungszusammenhangs betrachtet werden.
§ 5 Anfänge einer staatsrechtlichen Betrachtungsweise 1. Die Herausbildung einer gemeinwesenbezogenen rechtlichen Fachperspektive in der Legistik
Auch i n der das geltende Recht reflektierenden, d. h. i n gedanklicher Hinsicht erfassenden Jurisprudenz sind Anzeichen dafür gegeben, daß eine staatliche Rechtsordnung sich allmählich herauszubilden beginnt. Die Ausdifferenzierung einer derartigen, auf die begriffliche Erfassung und Verarbeitung der staatlichen Rechtsstrukturen gerichteten fachspezifischen Reflexionsebene 114 steht i m Zusammenhang jenes allgemeinen, für die Rezeptionsepoche kennzeichnenden Verwissenschaftlichungs- und Rationalisierungsprozesses 115 , der das gesamte Recht der 111 Siehe ζ. B. das Erste Straßburger Stadtrecht, w o bereits u m die M i t t e des 12. Jahrhunderts officium p u b l i c u m u n d urbis gubernatio zusammengesehen werden (Wilhelm Wiegand, Urkundenbuch der Stadt Straßburg, Bd. 1: U r k u n d e n u n d Stadtrechte bis zum Jahr 1266, Straßburg 1879, Nr. 616, Ziff. 6 f., S. 467). 112 v g L etwa Joseph Baader (Hg.), Nürnberger Polizeiverordnungen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1861, Neudr. Amsterdam 1966, S. 56. 113
Z u m Verhältnis von Feudalrecht u n d Staatsrecht siehe unten A b schnitt I I , Kap. 1, § 10, Nr. 2. 114 Das ist, systemtheoretisch gesehen, die Ausdifferenzierung eines reflektierenden Systems i m System bzw. die Ausdifferenzierung seiner Theorie. Dazu Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie i n gesellschaftstheoretischer Perspektive (1979), i n : ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 419—450 (421 ff.). 115 Dazu oben Kap. 1, § 2, Nr. 1, S. 45 f.
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
Zeit ergreift und für das Gemeinwesen und seine Funktionen nicht ohne Folgen bleibt. Dieser Umstand t r i t t bereits i m 12. Jahrhundert bei Placentinus hervor, der darauf aufmerksam macht, daß von ,ius publicum' auch i m Sinne einer Wissenschaft von den öffentlichen Dingen (scientia de rebus publicis) die Rede sein könne11®. Die von Placentinus anvisierte öffentlichrechtliche Fachperspektive ist zunächst weder systematisch ausgearbeitet noch institutionell i n besonderer Weise ausgestaltet 117 . Die Legisten behandeln vielmehr die i n diesem Bereich anfallenden Rechtsprobleme anläßlich der Diskussion einzelner Stellen des Corpus Iuris, ohne daß hierbei immer ein bestimmter Sachzusammenhang ersichtlich wäre. Eine gewisse Ausnahmestellung kommt lediglich den legistischen Erläuterungen des Codex zu, weil wegen seiner Herkunft aus dem kaiserlichen Konstitutionenrecht der Spätantike hier anders als i n den vor allem Juristenrecht enthaltenden Digesten von Anfang an zahlreiche Staat und Verwaltung betreffende Materien konzentriert waren. Ein gleichsam qualitativer Sprung vollzieht sich erst i m Übergang zur Kommentatorenzeit, weil m i t dem Aufkommen zusammenhängender Problemerfassung und -bearbeitung bestimmter Rechtsmaterien i n Form des Traktats auch die das Gemeinwesen betreffenden Fragen gesondert abgehandelt werden. Einen ersten beispielhaften Versuch i n dieser Richtung stellt die Abhandlung des Bartolus über die Regierung des Gemeinwesens (Tractatus de regimine civitatis) 1 1 8 dar. Obwohl i n vielem der zeitgenössischen Fürstenspiegelliteratur verpflichtet, lassen A r t und Weise des Zugriffs auf die Problematik eine spezifisch rechtliche Orientierung erkennen. Bartolus erfaßt das Gemeinwesen nämlich nicht mehr nur von den jeweils wechselnden Herrscherpersonen her (quo ad personas regentium), sondern n i m m t seine körperschaftliche Struktur i n den Blick m i t der Folge, daß das gesamte Gemeinwesen (tota civitas) als eine — freilich künstliche — Person (persona artificialis) erscheint, welche es nach Maßgabe von Gesetzen (quo ad leges) zu beurteilen gilt 1 1 9 . Er ist sich völlig i m klaren darüber, daß hierbei auch politischphilosophische Erwägungen eine Rolle spielen können, weiß aber, daß diese den Juristen, an die er sich wendet, allein nicht einleuchten w ü r den (Iuristis, quibus loquor, non saperent). Bartolus schlägt deshalb vor, solche Erwägungen, falls sie überhaupt i n rechtliche Überlegun116 Placentinus, I n summam I n s t i t u t i o n u m sive elementorum l i b r i I V , lib. I, tit. I, S. 4. Dazu Chevrier, Les critères de la distinction d u droit privé et du droit public, S. 846. 117 Z u r institutionellen Ausgestaltung einer öffentlichrechtlichen Fachperspektive siehe unten Abschnitt I I , Kap. 2, § 11 f. 118 I n : ders., Consilia, Quaestiones et Tractatus, S. 417—421. 119 Ebd., S. 417 f., prooem., Nr. 8.
§ 5 Die Herausbildung einer staatsrechtlichen Betrachtungsweise
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gen Eingang finden, jeweils sorgfältig am geltenden Recht zu überprüfen (per iura probare) 120 . Er gelangt damit über ein bloß politischphilosophisches Räsonnement hinaus und stößt zu einer auf das politische Gemeinwesen gerichteten, spezifisch rechtlichen Sichtweise vor. 2. Die Grundlagen des Reichsstaatsrechts in der spätmittelalterlichen Publizistik
Der Weg zu einer staatsrechtlichen Betrachtungsweise, d. h. der Beschäftigung m i t den positivrechtlichen Organisationsstrukturen eines konkreten Gemeinwesens, w i r d durch Bartolus zwar vorgezeichnet, aber noch nicht wirklich eingeschlagen. Einen ersten Schritt unternimmt i n der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts der i n Bologna ausgebildete deutsche Jurist Lupoid von Bebenburg i n seinem „Tractatus de juribus regni et Imperii" 1 2 1 . Lupoid wendet sich i n seiner systematisch aufgebauten Abhandlung gegen die weitreichenden Prätentionen des Weltkaisertums ebenso wie gegen den päpstlichen Herrschaftsanspruch. Für ihn ist die Kaiserwürde eine deutsche. Sie erstreckt sich auf das Reich i n seinen Kernlanden (Deutschland, Lotharingien, Burgund und Italien) 1 2 2 . Der von den Kurfürsten stellvertretend für die Gesamtheit (tota universitas) gewählte König erwirbt die kaiserlichen Sonderrechte unmittelbar m i t seiner Wahl, bedarf m i t h i n keiner weiteren Ernennung oder Approbation seitens des Papstes 123 . Lupoid kommt so zur Übertragung des Satzes vom „Rex imperator i n regno suo" auf die Verhältnisse des Reichs, indem er dem gewählten römischen König (rex Romanorum) i n Italien und den übrigen dem Reich unterstehenden Provinzen dieselbe Machtbefugnis zuerkennt, wie sie auch der Kaiser habe (quam habet Imperator) 1 2 4 . Er zeichnet damit die rechtlichen Umrisse eines von Rom unabhängigen, dem Königtum insoweit gleichstehenden Reichs120
Ebd., S. 418, Nr. 7. Lupoid von Bebenburg, Tractatus de juribus regni et Imperii, i n : Simon Schard, Syntagma tractatuum de imperiali jurisdictione, Argentorati 1609, S. 167—208. Hierzu Barisch, L u p o i d von Bebenburg. Z u m Verhältnis von politischer Praxis, politischer Theorie u n d angewandter Politik. Eine Studie über den Eigenwert politischen Handelns i n der Geschichte u n d der Gegenwart des 14. Jahrhunderts, i n : Bericht des Historischen Vereins f ü r die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 113 (1977), S. 219—432. 122 Tractatus, cap. I I , S. 171 ff.; cap. V — I X , S. 179 ff. 123 Tractatus, cap. V I , S. 181: „ A c proinde habenda est eorum electio ac si tota universitas p r i n c i p u m et populi hujus m o d i earn fecisset." Vgl. ebd., cap. V, S. 178: „Electus i n regem seu Imperatorem Romanorum a principibus Electoribus regni et i m p e r i i i n concordia, potest statim ex ipsa electione licite nomen regis assumere, ac j u r a et bona regni et i m p e r i i i n I t a l i a et i n aliis provinciis ejusdem regni et i m p e r i i administrare." 121
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Tractatus, cap. V I I , S. 182 f.
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I. 2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
kaisertums, i n dem regnum und imperium weitgehend zur Deckung gebracht werden. Gemessen an weltkaiserlichen, an der monarchia mundi orientierten Plänen der Epoche erscheint dieser rechtliche Lösungsversuch bemerkenswert realistisch. Zum einen, weil hier ein geographisch-territorialer Rahmen zugrunde gelegt ist, der einen wesentlichen Schritt zur Begrenzung des Heiligen Römischen Reiches auf die ,teutsche nation 1 darstellt, wie sie sich i m Laufe des 15. Jahrhunderts allmählich abzeichnet 125 . Zum anderen, weil Lupoid die administratio Germaniae i n den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt und damit erstmals jene Perspektive einnimmt, aus der Deutschland nicht mehr als ein Anhängsel Italiens erscheint (Germania non est accessorium regno Italiae!), sondern umgekehrt zum Hauptgegenstand reichsstaatsrechtlicher Analyse aufrückt 1 2 6 . Den von Lupoid eingeschlagenen Weg einer auf Recht und Organisation des Reiches gerichteten Betrachtungsweise verfolgen ein Jahrhundert später der vielseitige Aeneas Silvius Piccolomini, zeitweise Sekretär der kaiserlichen Kanzlei, sowie der Basler Rechtslehrer Peter von Andlau. Beide sind dem Kreis des oberrheinischen Frühhumanismus zuzurechnen und zutiefst von der Erneuerungsbedürftigkeit der Zustände i n Reich und Kirche überzeugt. Sie beabsichtigen m i t ihren Schriften angesichts der damals allenthalben beklagten öffentlichen Mißstände nicht nur eine rechtliche Analyse der bestehenden Verhältnisse ihrer Zeit, sondern zugleich deren Reform. Während Piccolomini i n seinem an Kaiser Friedrich I I I . gerichteten Brieftraktat ,De ortu et auctoritate imperii Romani' 1 2 7 von 1446 den unentschlossenen Herrscher vor allem aufrütteln und zur Wahrnehmung der Fülle seiner kaiserlichen Rechte ermutigen w i l l , geht es dem professionellen Juristen Andlau i n seinem 1460 entstandenen ,Libellus de Cesarea Monarchia' 128 125 Vgl. etwa den Frankfurter Reichslandfrieden v o m 17. März 1486, der „durch das ganz Römische reiche teutscher nation" gelten soll (Zeumer, Quellensammlung, Nr. 171, S. 273—276, 273). Dazu Schröcker, Die Deutsche Nation. Beobachtungen zur politischen Propaganda des ausgehenden 15. J a h r h u n derts, Lübeck 1974, S. 98, 116 ff. Ferner Nonn, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Z u m Nationenbegriff i m 15. Jahrhundert, i n : Z H F 9 (1982), S. 129—142. 126 Tractatus, cap. V, S. 179 f. 127 Deutsch-lateinische Ausgabe bei Kallen, Aeneas Silvius Piccolomini als Publizist i n der Epistola de o r t u et auctoritate i m p e r i i Romani, Stuttgart 1939, S. 51—97. 128 Ed. J. Hürbin, i n : Z R G G A 12 (1891), S. 34—103, ebd. 13 (1892), S. 163— 219. Der Libellus hat zwei Teile, von denen der erste die allgemeinen L e h ren, der zweite, hier einschlägige, das positiv geltende Reichsstaatsrecht behandelt. Z u Anlage u n d I n h a l t des Libellus vgl. Hürbin, Peter von Andlau, der Verfasser des ersten deutschen Reichsstaatsrechts, Straßburg 1897, S. 129 ff.
§ 5 Die Herausbildung einer staatsrechtlichen B e t r a c h t u n g s w e i s e 8 9 mehr um ein systematisch-kompilatorisches Interesse. Zwar ist auch seine Schrift dem Kaiser i n der Absicht zugeeignet, diesen zum entschlossenen Handeln zu bewegen, doch setzt er sich zugleich zum Ziel, die Kaiser und Reich betreffenden, sonst an unterschiedlichster Stelle aufzusuchenden Rechtsmaterien zu einem geordneten Ganzen zusammenzufassen (in unum compingere opus) 129 . Laband hat hierin den „Ansatz zur Bildung eines neuen Zweiges der Rechtsliteratur" sehen wollen und Peter von Andlau den Ruhm zuerkannt, die „Reihe der deutschen Staatsrechtsschriftsteller zu eröffnen" 1 5 0 . I n der Tat behandelt Andlau weitaus eingehender als vor i h m Lupoid von Bebenburg und Piccolomini, die sich m i t den Fragen nach dem Erwerb der Kaiser- und Königsstellung sowie nach Entstehung und Inhalt der auctoritas imperii Romani i m wesentlichen Einzelproblemen zugewandt hatten, erstmals i n systematischer Weise neben den Rechten und Pflichten von Kaiser und König auch weitere Themenkomplexe, darunter Befugnisse und Rechtsstellung der Kurfürsten, von Adel und Ritterstand sowie Fragen der gerichtlichen Organisation des Reiches 131 . Auch der Reichstag wird, wenngleich nur kurz, immerhin gewürdigt 1 3 2 und damit jene Institution wenigstens i n Bezug genommen, die auf den ständischen Charakter des Reichs hindeutet. Darüber hinaus finden rechtliche Einzelfragen Berücksichtigung, die bis i n Details, wie die Sorge des Kaisers für die öffentlichen Verkehrswege (stratas publicas) 133 , hineinreichen. Obwohl auch Peter von Andlau an der tradierten Vorstellung eines römischrechtlich fundierten Weltkaisertums festhält, kennt er die tat12Θ V 130
S. 5.
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prolog, ebd. 12 (1891), S. 41.
Laband, Rede über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts,
131 Libellus, lib. I I , tit. I : De Septem P r i n c i p u m Electorum institucione, S. 163—165; tit. X I : De nobilitate, et quibus causis nobilitatis j u r a nascantur, S. 189—194; tit. X I I : De Septem nobilitatis gradibus quibus terrena regit u r monarchia, S. 194—98; tit. X I I I : De militibus et veteri j u r e m i l i t a r i , S. 198— 202; tit. X V I : De hiis, que ad Imperatoris spectant officium; et defectus i m perii causis, S. 207—210. 132 Ebd., tit. X V : De imperialis curie celebracione, et Cesaree majestatis solempnitate, S. 205—207. A n d l a u lehnt sich hierbei eng an die Kap. X X V I f. der Goldenen Bulle (ed. Zeumer, Quellensammlung, S. 210 ff.), an, w o freilich n u r das die K u r f ü r s t e n betreffende Verfahren geregelt ist. Z u den Anfängen des Reichstags vgl. Ernst Schubert, K ö n i g u n d Reich, S. 323 ff.; Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, S. 117 ff., sowie Moraw, Versuch über die Entstehung des Reichstags, i n : H. Weber (Hg.), Politische Ordnungen u n d soziale K r ä f t e i m A l t e n Reich, Wiesbaden 1980, S. 1—36 (35), der den A u s führungen Andlaus i n diesem P u n k t freilich keine tiefere Bedeutung beilegen w i l l . 133 Ebd., tit. X V I I I : Quod Imperatoris maxime est i n orbe t e r r a r u m conservare pacem, et stratas publicas tenere securas, S. 212—216.
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.2. Kap.: Anfänge eines staatlichen Rechts
sächlichen Verhältnisse i m Reich zu genau, um sich Illusionen über dessen Verwirklichung hinzugeben. So greift auch er zum Hilfsmittel einer De f a c t o - / D e jure-Unterscheidunig 134 , wie sie die Legistik der Kommentatorenzeit entwickelt hatte, u m Widersprüche zwischen A n spruch und Wirklichkeit des Reiches harmonisierend zu überdecken. Soweit sein Libellus über die bestehenden Realitäten hinausgeht, gehört er i n die Reihe zeitgenössischer, engagiert geschriebener Reichsreformpläne 1 3 5 m i t der Besonderheit, daß hier der Jurist Besserung und A b hilfe von Mißständen vor allem durch ein von gelehrten Richtern entschlossen zur Geltung gebrachtes römisches Recht erwartet 13 ®. Daß letzteres mehr den Territorien als dem Reich zugute kommen sollte, hat er nicht vorauszusehen vermocht. Der rechtswissenschaftliche Wert seiner Ausführungen liegt denn auch nicht so sehr i m Bereich dieser sich schließlich so nicht realisierenden Erwartungen begründet. Er list vielmehr i n der Tatsache zu erblicken, daß erstmals jener Problemkomplex einer gesonderten und abgegrenzten rechtlichen Bearbeitung unterzogen wird, der i n funktionaler Hinsicht wenn nicht als deutsches Staatsrecht, so doch als Reichsstaatsrecht bezeichnet werden kann, w e i l Organisationszusammenhänge und Rechtsstrukturen thematisch zusammengefaßt werden, die für die staatliche Entwicklung des Reichs grundlegend geworden sind.
134 Ebd., tit. V I I I , S. 184. Z u r De facto/De jure-Unterscheidung der Legistik siehe oben Kap. 2, § 4, Nr. 1, S. 78. iss Vgl. hierzu Angermeier, Begriff u n d I n h a l t der Reichsreform, i n : Z R G G A 75 (1958), S. 181—205 (184 ff.), der aber die universalistische T r a d i t i o n zu stark hervortreten läßt. 136 Libellus, lib. I I , tit. X V I , S. 207 ff.
Drittes Kapitel
Der Anteil des kanonischen Rechts an der Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen § 6 Das kanonische Recht als Wegbereiter des staatlichen Rechtssystems 1. Der institutionelle Vorsprang der Ecclesia vor der Respublica
Auch die Kirche und das von ihr ausgehende Recht haben am Prozeß der Ausbildung moderner Staats- und Rechtsstrukturen ihren nicht unbeträchtlichen Anteil. Das w i r d zuweilen übersehen, insbesondere dann, wenn man allzu ausschließlich auf die i n ihrem K e r n sicherlich zutreffende Tatsache abstellt, daß die moderne Staatwerdung sich auch der Auseinandersetzung mit und schließlich der Ablösung von Papst und Kirche, d. h. einem gegenläufigen Vorgang der ,Entgeistlichung' oder,Verweltlichung' 1 verdankt. Schon ausgangs des 19. Jahrhunderts hat Otto von Gierke darauf aufmerksam gemacht, daß die Kirche selbst ganz allgemein „als ein ,Staat' aufgefaßt und konstruirt" werden kann 2 . N u r wenig später wies Max Weber soziologisch nach, daß die Kirchen die „ersten ,Anstalten' i m Rechtssinn" überhaupt sind m i t der Folge, daß von hier aus die „juristische Konstruktion der öffentlichen Verbände als Korporationen" ihren Ausgang nimmt 3 . I n der gegenwärtigen rechts- und staatswissenschaftlichen Forschung ist auf dieser Grundlage von unterschiedlichen Ansatzpunkten her erneut auf den institutionellen Vorsprung der Kirche gegenüber der säkularen politischen Herrschaft hingewiesen worden. So belegt Krawietz i n seinen Untersuchungen zum Begriff der Körperschaft, daß am Beispiel der Kirche einheitliches Wesen und Dauerhaftigkeit des Personenverbandes i n einer Weise zum Bewußtsein gebracht werden, welche die Annahme einer eigenen Rechtssubjektivität sinnfällig nahelegt 4 . Böckenförde lenkt die Aufmerksamkeit auf den Um1 Vgl. zu beiden Begriffen Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 32 ff. (37, 43). A u f den Vorgang selbst w i r d unter Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, näher einzugehen sein. 2 Staats- u n d Korporationslehre, S. 540. Vgl. auch ebd., S. 243 ff. 3 Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 481.
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
stand, daß m i t der Ausbildung personunabhängiger Ämter und einer entsprechenden Ämterorganisation die Kirche gerade jene Herrschaftsformen und - m i t t e l entwickelt und freisetzt, die „notwendige Bedingungen der modernen staatlichen Herrschaftsorganisation" sind 5 . Grund genug, i m folgenden der Frage nachzugehen, i n welcher Weise die Probleme frühmoderner Staatlichkeit am Beispiel der Kirche gleichsam i m Vorgriff beobachtet werden können. 2. Das kirchliche Recht als lus positivum
A u f Max Weber geht bekanntlich die inzwischen gut belegte These zurück, daß das kanonische für das profane Recht einer der „Führer auf dem Wege zur Rationalität" geworden sei®. Tatsächlich hat der kirchliche Verband schon früh ein rationales, seine vielfältigen Aktivitäten strukturierendes und zugleich steuerndes Rechtssystem7 hervorgebracht. Zwar lebt auch die Kirche ursprünglich nach römischem Recht (Ecclesia v i v i t lege Romana) 8 , doch vermag sie alsbald Ansätze einer durchaus eigenständigen Rechtstradition auszubilden. Die frühe kirchliche Rechtsüberlieferung umfaßt neben den rein theologischen Quellen, die naturgemäß ihren Grundbestand ausmachen (Bibel, Schriften der Kirchenväter), insbesondere die Beschlüsse der Konzilien und Synoden sowie die päpstlichen Rechtsäußerungen (Dekretalen), die, wenngleich vorwiegend zu Einzelfragen bzw. Einzelfällen ergangen, schon bald darüber hinausreichende, richtungweisende Bedeutung zu erlangen vermögen 9 . Obwohl die kirchlichen Rechtsquellen schon i m Laufe des frühen Mittelalters i n verschiedenartigen, meist 4 Vgl. Krawietz, Körperschaft, i n : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 1101 ff. (1106 ff.). 5 Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Z u m Verhältnis von Kirche u n d M o derner Welt. A u f r i ß eines Problems, i n : Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 154—177 (166). 6 Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 481. Siehe auch Odenheimer, Der christlich-kirchliche A n t e i l an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur u n d an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts i m deutschen u n d französischen Rechtsgebiet, Basel 1957, S. 40 ff. 7 Z u m Begriff des kirchlichen Rechtssystems siehe Rodes , The Canon L a w as a Legal System, i n : N a t u r a l L a w F o r u m 9 (1964), S. 45—94. Z u m A n t e i l der kirchlichen Jurisprudenz an der Ausbildung des modernen, staatlich organisierten Rechtssystems vgl. Mochi Onory, F o n t i canonistiche dell'idea moderna dello stato, Milano 1951, S. 21 ff. Ferner Gaudemet, L a contribution des romanistes et des canonistes médiévaux à la théorie moderne de l'état, i n : D i r i t t o e potere nella storia europea. A t t i i n onore d i Bruno Paradisi, Firenze 1982,1.1, S. 1—36. 8 Hierzu kritisch Fürst, Ecclesia v i v i t lege Romana?, i n : Z R G K A 61 (1975), S. 17—36. Z u m Satz selbst vgl. L e x Ribuaria 61, 1. 9 Vgl. Fransen, Les décrétales et les collections de décrétales, T u r n h o u t 1972, S. 12 ff., 34 ff.
§ 6 Das kanonische Recht als Wegbereiter des staatlichen Rechts
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historisch-chronologisch geordneten Sammlungen zusammengestellt werden, kommt es erst u m die Mitte des 12. Jahrhunderts m i t dem Decretum Gratiani zu einer dem Corpus Iuris Justinians an Bedeutung gleichzuachtenden Zusammenfassung des heterogenen kirchlichen Rechtsstoffs. Daß ein derartiges kirchliches Rechtsbuch überhaupt zustande kommen konnte, ist sicherlich auch zeitgenössischen, auf Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der mittelalterlichen Welt drängenden Tendenzen und Bestrebungen zuzuschreiben, wie sie i m Zuge der Erneuerung römischen Rechts und Rechtsdenkens ganz allgemein virulent waren. Der spezifisch religiös-christliche A n t e i l an der Herausbildung kirchlicher Rechtsstrukturen darf dabei jedoch nicht unterschätzt werden. Sowohl i n der Aufstellung von Kirchenzucht verbürgenden Bußordnungen, der „ersten eigentlich systematischen Rechtsbildung" der Kirche 10 , wie i n der Ausbildung der Liturgie, die man nicht ohne Grund das „Herzstück innerkirchlichen Lebens" genannt hat 1 1 , w i r d bereits frühzeitig das Bemühen manifest, christliches Gemeinschaftsleben an Regeln zu binden und mittels kirchenspezifischer Verfahrensweisen zu strukturieren. Der hierarchische Aufbau der kirchlichen Organisation unter päpstlicher Führung trägt das Seine dazu bei, dem sich ausbildenden kirchlichen Regelsystem Effizienz und Stabilität zu verleihen. Schließlich ist es nicht zuletzt der Kirche zu verdanken, daß die rechtliche Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter niemals völlig abriß, weil der kirchliche Verband kraft der i h m eigenen inneren Konsistenz die Stürme der Völkerwanderungszeit überdauerte und mit dem geistigkulturellen auch das juridische Erbe Roms weitertrug. Daß das kanonische Recht schließlich einen Vorsprung an Rationalität gegenüber dem weltlichen Recht gewinnen konnte, hat darüber hinaus tieferreichende, i n der Eigenart kirchlicher Rechtsentwicklung selbst angelegte Gründe. Während die mittelalterlichen Legisten i m Corpus Iuris ein fertiges Rechtsbuch vorfanden, mußten die Kanonisten ein solches erst hervorbringen. Als schließlich mit dem Decretum Gratiani ein erster Ansatz zu einem kirchlichen Rechtscodex vorlag, erwies sich die Rechtsbildung als noch keineswegs abgeschlossen. Diese n i m m t vielmehr erst i n der Folgezeit m i t den päpstlichen Dekretalen ihren eigentlichen Aufschwung 12 , u m i n den ausgangs des 12. Jahrhunderts einsetzenden großen Sammlungen, unter denen Liber Extra (1234) und Liber Sextus (1298) hervorragen, Höhepunkt und vorläufigen Abschluß 10
Vgl. Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 480. Siehe Karl Baus / Eugen Ewig, Die Reichskirche nach Konstantin d. Gr., 1. Halbbd. : Die Kirche von N i k a i a bis Chalkedon, Freiburg 1973 (Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. I I / l ) , S. 300. 12 Dazu Ch. Lefebvre, Formation d u droit classique, i n : G. Le Bras (u. a.), L'Age classique 1140—1378. Sources et théorie d u droit, Paris 1965 (Histoire d u D r o i t et des Institutions de l'Eglise en Occident, t. 7), S. 131—345 (222 ff.). 11
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
zu finden. Z u m Träger der kirchlichen Rechtsentwicklung w i r d ein zunehmend erstarkendes Papsttum 13 , das dem Kaisertum auch i n politischer Hinsicht die alleinige Führung der respublica Christiana streitig macht und selbst Anspruch auf die Vorherrschaft erhebt. Die großen Juristenpäpste treiben diese Entwicklung voran, indem sie, auf das römische Vorbild rekurrierend, neues Recht setzen und, wie der als Innozenz IV. i n die Kirchengeschichte eingegangene Sinibaldus Fliscus, um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Papst den conditor iuris schlechth i n erblicken 14 . Die zeitgenössische kanonistische Lehre untermauert die päpstlichen Prätentionen und kommt m i t Hostiensis zu dem Schluß, daß auch der Papst Herrscher sei (Papa princeps est) 15 , m i t der Folge, daß dasjenige, was i h m beliebe, Gesetz werde (quicquid ei placet, lex est) 16 . Obwohl die Kanonisten sich hierbei römischrechtlicher Formeln bedienen, ergeben sich gegenüber der Legistik strukturell wie vom gedanklichen Ansatz her charakteristische Unterschiede. Anders als die am Corpus Iuris orientierten Legisten werden die Kanonisten Zeugen einer bewegten rechtschöpferischen Entwicklung, i n deren Verlauf interpretatorische Bemühungen immer wieder durch neue Normen überholt werden. Von daher ergibt sich, was die kirchliche Rechtsentwicklung angeht, nahezu zwangsläufig eine andere Einstellung zum Recht und seiner Veränderbarkeit überhaupt. Konnte für die Legisten eine Änderung des Corpus Iuris allenfalls als äußerste Möglichkeit infrage kommen, so mußten die Kanonisten für eine Veränderung bestehenden Rechts von vornherein viel empfänglicher sein. A u f solchem Boden erwuchs die Auffassung, daß derjenige, der das Recht setzen könne, zugleich die Befugnis haben müsse, es wieder aufzuheben (quia eius est destruere ius, qui i l l u d condidit) 17 . Desgleichen konnte sich unter den gegebenen Voraussetzungen die Rechtsregel ausbilden, daß die jüngere kirchliche oder weltliche Norm der älteren vorgehe (nam i n canonibus vel legibus posterior derogat priori) 1 8 . 13 Vgl. Walter Ulimann, Die Machtstellung des Papsttums i m Mittelalter, Graz 1960, S. 383 ff. 14 Sinibaldus Fliscus, Commentarla super libros quinque Decretalium, Francofurti a. M. 1570, Neudr. ebd. 1968, lib. I I I , tit. X X X V , cap. 6, Nr. 1, Bl. 432 v. 15 Hostiensis, I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, Venetiis 1581, Neudr. Torino 1965, t i t . V I , cap. 57, Nr. 23, S. 80 A . 1β Oers., I n secundum Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X X V I , cap. 19, Nr. 5, S. 166 A . 17 Vgl. Sinibaldus Fliscus, Commentarla super libros quinque Decretalium, lib. I I , t i t . X X X V , cap. 6, Nr. 3, Bl. 433 r. 18 So gegen Ende des 12. Jahrhunderts Huguccio i n seiner nicht publizierten Summe zum Decretum, Dist. 18, cap. 7, vb. „regula". Vgl. Gillmann, „ R o -
§ 6 Das kanonische Recht als Wegbereiter des staatlichen Rechts
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Das hierin zum Ausdruck kommende Rechts- und Gesetzesverständnis ist wesentlich stärker instrumentalisiert als w i r es sonst i m hoch- und spätmittelalterlichen Recht und Rechtsdenken antreffen. Auch w i r d der Begriff des Gesetzes i m Bereich kirchlichen Rechts sehr viel klarer herausgearbeitet als i n der zeitgenössischen Legistik. Gerade da, wo man sich gleichsam von Amts wegen m i t der Problematik göttlichen und natürlichen Rechts konfrontiert sah, mußte das Bewußtsein für menschliches Recht als etwas Besonderes, der Begründung und Rechtfertigung Bedürftiges, geschärft sein. Bereits Gratian legte den Grund zu einer klaren Konzeption menschlich gesetzten Rechts, indem er es unternahm, die lex humana als den Inbegriff menschlicher Festlegung aus dem Zusammenhang göttlichen und natürlichen Rechts gedanklich herauszulösen 19 . Er schichtete zu diesem Zweck zunächst den Bereich des natürlichen Rechts ab, das für i h n inhaltlich weitgehend mit (göttlichem) Gesetz und Evangelium übereinstimmt 2 0 . I n einem zweiten Schritt wies er der lex humana einerseits Sitte (mos) und Gewohnheit (consuetudo) 21 , andererseits die schriftgelegte Satzung zu, welche er als constitutio i n scriptis redacta 22 begrifflich erfaßte. Gratian leugnet damit den für i h n weiter bestehenden Zusammenhang menschlichen und göttlich-natürlichen Rechts keineswegs, gelangt jedoch zu einer begrifflichanalytischen Profilierung menschlicher Satzung, wie sie i m seinerzeitigen legistischen Verständnis i n dieser Deutlichkeit nicht erreicht wurde. Es ist kein Zufall, daß die Verselbständigung der lex humana i m kanonistischen Rechtsbereich besonders augenfällig wird. Angesichts einer schnell expandierenden kirchlichen Rechtsetzung konnte man kaum die Auffassung vertreten, daß bestehendes Recht, aus welchen Gründen auch immer, schlechthin unverfügbar sei. Nicht von ungefähr manus pontifex iura omnia i n scrinio pectoris sui censetur habere", i n : A r chiv f ü r katholisches Kirchenrecht 92 (1912), S. 3—17 (5 f.). 19 Grundlegend Dist. 1, cap. 1, rubr., wo er, Isidor von Sevilla folgend, göttliche u n d menschliche Gesetze einander gegenüberstellt, wobei jene m i t der Natur, diese m i t den Gewohnheiten identifiziert werden: „Divinae leges natura, humanae moribus constant." 20 Vgl. D i c t u m a. Dist. 1, cap. 1: „Ius naturae est, quod i n lege et evangelio contine tur." 21 Siehe D i c t u m p. Dist. 1, cap. 1, w o Gratian, ebenfalls i m Anschluß an Isidor, der zwischen fas u n d ius unterschieden hatte, erläuternd ausführt: „ E x verbis huius auctoritatis evidenter datur intelligi, i n quo différant inter se lex divina et humana, cum omne quod fas est, nomine divinae vel naturalis legis accipiatur, nomine vero legis humanae mores iure conscripti et t r a d i t i intelligantur." 22 Vgl. D i c t u m p. Dist. 1, cap. 5: „Quae i n scriptis redacta est, constitutio sive ius vocatur; quae vero i n scriptis redacta non est, generali nomine, consuetudo videlicet, appellatur." Hierzu Luca, L a nozione della legge nel decreto d i Graziano, i n : Studia Gratiana 11 (1967), S. 405—430 (411), der aber die lex humana Gratians auf eine consuetudo scripta verengt.
I. 3. Kap.: Kanonisches Recht u n d staatliche Rechtsstrukturen
96
d r i n g t deshalb gerade v o n h i e r aus seit d e m ausgehenden 12. J a h r hundert
allmählich die Anschauung
durch,
daß menschliches
Recht
positives, d. h. v o n M e n s c h e n f ü r M e n s c h e n gemachtes Recht d a r s t e l l t (ius p o s i t i v u m sive e x p o s i t u m ab h o m i n e ) 2 3 , welches v a r i a b e l ist, m i t h i n prinzipiell der Veränderbarkeit unterliegt.
§ 7 D i e Binnenstruktur des kirchlichen Verbandes als V o r b i l d staatlicher Organisation 1. Die Plenitudo potestatis des Papstes als Rechtsetzungsmacht D a s kanonische Recht h ä t t e d i e i h m eigene D u r c h s c h l a g s k r a f t n i c h t e n t f a l t e n k ö n n e n , w ä r e seine A u s b i l d u n g u n d A u s b r e i t u n g ü b e r d i e I n s t i t u t i o n des P a p s t t u m s 2 4 n i c h t gesichert u n d g e f ö r d e r t w o r d e n . Schon i m 5. J a h r h u n d e r t w a r d i e a u f d e r B i n d e - u n d L ö s e g e w a l t P e t r i (ius l i g a n d i a t q u e solvendi) b e r u h e n d e H e r r s c h a f t s m a c h t des Papstes als Machtfülle (plenitudo potestatis)25 begriffen worden. O b w o h l m a n nicht v o n e i n e m l i n e a r e n A u f s t i e g des P a p s t t u m s i n n e r h a l b des k i r c h l i c h e n V e r b a n d e s sprechen k a n n , l ä ß t sich doch e i n l a n g f r i s t i g e r M a c h t z u w a c h s beobachten, d e r i m I n v e s t i t u r s t r e i t des 11. J a h r h u n d e r t s e i n e m ersten H ö h e p u n k t z u s t r e b t . B e m e r k e n s w e r t i s t h i e r b e i , daß d i e H e r r s c h a f t s b e f u g n i s des Papstes schon f r ü h als eine j u r i s d i k t i o n e l l e aufgefaßt w i r d , d i e sich i m w e s e n t l i c h e n als Rechtsetzungsmacht 2 6 äußert. D i e Päpste 23 So der Bologneser Dekretalist Damasus. Vgl. Damasi Boemi et Bernardi Parmensis summarum specimina, i n : Bernardi Papiensis Summa Decretalium, ed. E. A . Th. Laspeyres, Regensburg 1860, Neudr. Graz 1956, S. 353—354 (353). Hierzu Kuttner, Sur les origines du terme „ d r o i t positif", i n : R H D F E 15 (1936), S. 728—740 (734 f.). Z u r Theoretisierung des Begriffs i n der scholastischen Rechts- u n d Staatsphilosophie sowie zu seinem Eindringen i n die legistische Terminologie siehe oben Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 62. 24 Hierzu grundlegend Ullmann, The Papacy as an I n s t i t u t i o n of Government i n the Middle Ages, i n : Studies i n Church History 2 (1965), S. 78—101, erneut abgedr. i n : ders., The Papacy and Political Ideas i n the M i d d l e Ages, London 1976 (Variorum Reprints), Nr. X V I I I . 26 Durch Leo I. (440—461), der — seine Gewalt von derjenigen der Bischöfe abhebend — unterstreicht, daß ein Stellvertreter des Papstes zwar an der päpstlichen Regierung, nicht hingegen an der päpstlichen Machtfülle teilhabe: „Vices enim nostras ita tuae credidimus caritati, u t i n partem sis vocatus sollicitudinis, non i n plenitudinem potestatis." Vgl. Epistolae, i n : ders., Opera omnia, accurante J.-P. Migne, 1.1, Parisiis 1881, P L 54, Sp. 551—1218; Nr. 14, cap. 1, Sp. 666—677 (671). Z u r Berufung auf die Binde- u n d Lösegewalt vgl. ders., Tractatus septem et nonaginta, ree. A. Chavasse, T u r n h o l t i 1973 (Corpus Christianorum, Ser. lat., 138), Nr. 5, S. 22—25 (24 f.). Z u m gesamten P r o blemzusammenhang siehe Ullmann, Leo I and the Theme of Papal Primacy, i n : The Journal of Theological Studies 11 (1960), S. 25—51 (36 ff.), m i t hoher Einschätzung des hierokratisch-theokratischen Herrschaftselements. 26 Diese w i r d durch Kaiser Valentinian III. i m 5. Jahrhundert ausdrücklich anerkannt, der 445 verfügt, daß als Gesetz gelte, was die A u t o r i t ä t des apostolischen Stuhles verordnet hat oder verordnen w i r d (pro lege sit quic-
§ 7 Der kirchliche Verband als Vorbild staatlicher O r g a n i s a t i o n 9 7 erscheinen demzufolge i m Dekret Gratians als Herren und Begründer kirchlichen Rechts (decretorum domini et conditores) 27 . Vor dem Hintergrund sich realisierender kirchlicher Hegemonialansprüche vermag i m Laufe des 12. Jahrhunderts die rechtliche Vorstellung päpstlicher Machtfülle sich zusehends zu verdichten 28 . Der Papst w i r d bereits an der Wende zum 13. Jahrhundert unmittelbar m i t Gott verglichen und als dessen Stellvertreter auf Erden betrachtet: veri Dei vicem gerit i n terris 29 . Zur Umschreibung und Absicherung der behaupteten weitreichenden päpstlichen Machtbefugnisse nehmen die Kanonisten ganz unbefangen das römische Recht 30 zu Hilfe. Das ist nur konsequent, wenn man i n Betracht zieht, daß der Papst u m diese Zeit mit dem Kaiser u m die Führungsrolle i n der mittelalterlichen respublica Christiana ringt. Die überkommene plenitudo potestatis erfährt auf diese Weise ihre höchste Steigerung 31 . Sie w i r d zum einen i m Sinne der Formeln und Maximen des römischen Kaiserrechts inhaltlich aufgefüllt, zum anderen ins Licht göttlicher Allmacht 3 2 gerückt m i t der Folge, daß daraus jene neuartige absolute Herrschaftsgewalt (potestas absoluta) hervorgeht, wie sie Hostiensis, einer der führenden Kirchenjuristen seiner Zeit, nunmehr dem Papst ganz allgemein über dessen — an sich unstreitige — gewöhnliche Machtbefugnis (potestas ordinaria, ordinata) hinaus zuerkennt 33 . Der Papst verfügt damit ohne weiteres über die Macht eines Princeps legibus solutus; er kann jedoch, mehr und anders quid sanxit v e l sanxerit apostolicae sedis auctoritas). Vgl. Leges Novellae ad Theodosianum, Valent. X V I I (XVI), 3. 27 C. 25, qu. 1, p. cap. 16. Z u r Gesetzgebungslehre Gratians vgl. Chodorow, Christian Political Theory and Church Politics i n the M i d - T w e l f t h Century, Berkeley 1972, S. 133 ff. 28 Vgl. Benson, Plenitudo potestatis. Evolution of a formula f r o m Gregory I V to Gratian, i n : Studia Gratiana 14 (1967), S. 193—217 (196). 29 So Innozenz I I I . , L i b e r E x t r a 1, 7, 3. Dazu Maccarone, Vicarius Christi. Storia del titolo papale, Romae 1952, S. 109 ff. 30 Dazu Le Bras, Le droit romain au service de la domination pontificale, i n : R H D F E 27 (1949), S. 377—398. Ferner Legendr e, L a pénétration d u droit romain dans le droit canonique classique de Gratien à Innocent I V (1140— 1254), Paris 1964, S. 87 ff. 31 Vgl. hierzu eingehend Watt, The Theory of Papal Monarchy i n the 13th Century. The Contribution of the Canonists, London 1965, S. 75 ff. 32 Z u r theologisch-philosophischen Lehre von der omnipotentia Dei vgl. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit u n d Selbstbindung Gottes i n der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977, S. 345 ff., 435 f. 33 Hostiensis, I n t e r t i u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X X X V , cap. 6, Nr. 30, S. 134. Dazu Watt, The Use of the T e r m „plenitudo potestatis" by Hostiensis, i n : Proceedings of the Second International Congress of Medieval Canon L a w , Boston College, 1963, ed. b y St. K u t t n e r and J . J . Ryan, Civitas Vaticana 1965, S. 161—187 (166 ff.). Z u den Ursprüngen der Problem a t i k i n der Dispensationsfrage vgl. Buisson, Potestas u n d Caritas. Die päpstliche Gewalt i m Spätmittelalter, 2. Aufl., K ö l n 1982, S. 88 ff. 7 Wyduckel
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
als dieser, überdies i n all und jedem t u n und sagen, was i h m beliebt (in omnibus et per omnia potest facere et dicere, quicquid placet) 34 . Das i n der Kanonistik am Beispiel von Papst und Kirche entwickelte Institut der potestas absoluta zeigt exemplarisch, wie weit man i n gedanklicher und tatsächlicher Hinsicht gegenüber der hergebrachten Ordnung zu gehen bereit war, und mehr als das, welchen Grad die Ausdifferenzierung herrschaftlicher Gewalt bereits erreicht haben mußte, u m derart auf den Begriff gebracht zu werden. Die auf kirchlichem Boden erwachsene Vorstellung absoluter Gewalt verhilft als eine gleichsam evolutionäre Errungenschaft der rechts- und staatstheoretischen Erkenntnis zum Durchbruch, daß alle Rechtsetzung der Selbständigkeit gegenüber bestehendem Recht bedarf, um, den jeweiligen Erfordernissen entsprechend 35 , stabilisierende oder steuernde W i r k u n g zu entfalten. Es handelt sich hierbei keineswegs u m eine Frage von ausschließlich innerkirchlicher Relevanz, sondern u m ein aller Herrschaftsorganisation eignendes strukturelles Problem, das i n der Kirche nur zuerst hervortritt, jedoch gleichermaßen für das staatlich organisierte Gemeinwesen von Bedeutung ist. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Lehre von der potestas absoluta ins weltliche Recht eindringt, wo sie i n den Kommentaren des Baldus, der bezeichnenderweise sowohl als Kanonist wie als Legist hervorgetreten ist, ihre für die Folgezeit weith i n verbindliche Gestalt erhält 3 8 . Von hier aus mündet sie schließlich i n die publizistische Souveränitätslehre 37 ein und w i r d nunmehr ohne weiteres auf Kaiser und Reich ebenso wie auf den entstehenden frühmodernen Territorial- und Nationalstaat übertragen und angewandt. 2. Der kirchliche Personenverband und seine transpersonale Struktur
Die Kirche hat jedoch nicht nur der Theorie und Praxis des absoluten Staates vorgearbeitet. A m Beispiel des kirchlich organisierten Personenverbandes ließen sich vielmehr wesentliche Strukturprinzipien staatlich verfaßter Herrschaft überhaupt ablesen. Grundlage und Ausgangspunkt 34 Hostiensis, Summa aurea, Venetiis 1573, Neudr. Torino 1963, lib. I , t i t . X X X , Nr. 3, Sp. 326. Daß die von Hostiensis dem Papst zugesprochene Machtfülle nicht n u r von ihren absolutistischen I m p l i k a t i o n e n her gedeutet werden darf, sondern auch i m Dienst der kirchlichen Ordnungs- u n d E i n heitsfunktion zu sehen ist, betont zutreffend Gallagher, Canon L a w and the Christian Community. The Role of L a w i n the Church According to the Summa Aurea of Cardinal Hostiensis, Roma 1978, S. 81 ff., 94 ff. 35 „Prout expedire vidimus", w i e Bonifaz V I I I . i n der Einführungsurkunde jSacrosanctae' zum L i b e r Sextus von 1298 ausführt (Sp. 935 f.). 86 Vgl. Baldus, A d Très priores libros Decretalium Commentarla, L u g d u n i 1585, Neudr. Aalen 1970, lib. I I , tit. I, cap. 12, Nr. 3, Bl. 142 r ; ders., I n p r i m u m Codicis l i b r u m praelectiones, L u g d u n i 1556, lib. I, tit. X I V , 1.4, pr., Bl. 58 r. 37 Dazu näher unten Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, Nr. 2.
§ 7 Der kirchliche Verband als Vorbild staatlicher Organisation
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der einschlägigen Bestrebungen und Erörterungen ist die zusehends spürbar werdende Notwendigkeit, das Verhältnis von Papsttum und Gesamtkirche näher zu bestimmen. Wenn man sich nicht damit zufriedengeben wollte, daß die Kirche von der Person des Nachfolgers Petri mitumfaßt 3 8 werde, mußte man nach anderen Erklärungsmodellen suchen. Die theoretischen Voraussetzungen für die gedankliche Bewältigung derartiger Probleme waren gerade i m kirchlichen Raum außerordentlich günstig. Erste Schritte i m Hinblick auf eine zureichende Erfassung des Personenverbandes der Kirche sind bereits i n jenen theologisch-philosophisch fundierten Anschauungen angelegt, welche die ecclesia personhaft als den übernatürlich-geistigen Körper Christi (corpus Christi mysticum) 3 9 zu begreifen suchen. Andere, mehr allegorische Bezeichnungen, i n denen die Kirche als uxor, mater oder sponsa40 gedacht wird, weisen i n dieselbe Richtung, w e i l sie das Bestreben erkennen lassen, dem kirchlichen Personenverband den Charakter einer körperschaftlichen Einheit zuzuerkennen. M i t der zunehmenden Ausdifferenzierung kirchlicher Institutionen und dem Aufkommen einer spezifisch kirchenrechtlichen Betrachtungsweise erhalten die bereits bestehenden Ansätze körperschaftlicher Erfassung der Kirche i n den Werken der großen Kanonisten des 12. und 13. Jahrhunderts ihre präzise Form. Zunächst w i r d die Erkenntnis gewonnen, daß die Kirche eine Institution von überzeitlicher Dauer darstellt (Ecclesia nunquam moritur) 4 1 ; ferner die Einsicht erzielt, daß darüber hinaus zwischen der Personengesamtheit (universitas) als solcher und den i h r angehörenden, jeweils wechselnden Mitgliedern (singuli) unterschieden werden muß 4 2 ; und schließlich insbesondere durch Sini88 Entsprechend dem Satz, daß der Papst die Kirche selbst sei (ipse ecclesia). Vgl. hierzu die Ausführungen des Huguccio i n seiner unpublizierten Dekretsumme (auszugsweise bei Joh. Friedr. von Schulte, Die Stellung der Konzilien, Neudr. der Ausg. Prag 1871, Aalen 1976, S. 259—264 [263]). 39 Z u dieser i n der paulinischen Theologie wurzelnden, i m Frühmittelalter fortgebildeten Bezeichnung f ü r Kirche u n d Gemeinde als I n s t i t u t i o n vgl. Melchiorre Roberti , I l corpus mysticum d i S. Paolo nella storia della persona giuridica, i n : Studi d i storia e d i r i t t o i n onore d i Enrico Besta per i l X L anno del suo insegnamento, voi. 4, Milano 1939, S. 35—82; de Lubac, Corpus M y s t i cum. Kirche u n d Eucharistie i m Mittelalter. Übertr. von H. U. von Balthasar, Einsiedeln 1969, S. 127 ff. Ferner Dohrn-van Rossum, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, i n : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, hg. von O. B r u n ner (u. a.), Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 519—560 (540 f.). 40 z.B. bei Gregor V I I . (1073—1085): Ecclesia, quae est sponsa Dei et mater nostra (Migne, P L 148, 708). Dazu Krawietz, Körperschaft, S. 1107. 41 Vgl. Hostiensis, I n secundum Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. I I , cap. 17, Nr. 2, rubr., S. 15 Α. Siehe auch ders., I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X V , cap. 1, Nr. 39, S. 112: „Ecclesia est m u l t i t u d o fidelium, si ve universitas christianorum." 42 Siehe Hostiensis , I n t e r t i u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X X X V I I , cap. 2, Nr. 1, S. 139 A : „ a l i u d est ius universitatis, aliud singulorum."
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
baldus Fliscus, den späteren Papst Innozenz I V . (1243—1254) herausgearbeitet, daß die kirchliche universitas selbst als eine Person vorgestellt und damit rechtlich qualifiziert werden kann (fingatur una persona) 48 . Die von den Kanonisten erzielten Erkenntnisse werden durch die Legisten des 14. Jahrhunderts aufgenommen 44 und auf der Grundlage der von ihnen eingebrachten und fortentwickelten, römischrechtlich geprägten Körperschaftsvorstellung generalisiert. Bei Bartolus erscheint die Personengesamtheit schlechthin als eine stellvertretende Person (quaedam persona repraesentata) 45 , bei seinem Schüler Baldus, der bereits einen gewissen Abschluß der Entwicklung markiert, als eine zu Rechtszwecken angenommene, künstliche Person (persona ficta), die bei allem Mitgliederwechsel m i t sich selbst identisch bleibt 4 6 . Zwar ist die verwendete Begrifflichkeit (persona, corpus, universitas, collegium) noch keineswegs einheitlich oder auf ihre möglichen Anwendungsbereiche h i n systematisiert, doch besteht kein Zweifel daran, daß eine körperschaftliche Erfassung auch des Gemeinwesens durchaus beabsichtigt wird, wie aus der Identifizierung von universitas und respublica 47 einerseits, der Bezeichnung des Herrschaftsverbandes als persona politica 4 8 oder persona civitatis 4 9 andererseits, hervorgeht. Die maßgeblich am kirchlichen Verbände abgelesene, auf das Gemeinwesen übertragene Einsicht i n die überzeitliche, transpersonale Struktur des Personenverbandes war, auch für sich allein betrachtet, bedeutsam genug, mußte aber gleichwohl unzureichend bleiben, solange nicht die Frage geklärt wurde, wie unter den gegebenen Bedingungen einer weitgehend hierarchischen Organisation die jeweilige Spitze des Herrschaftsverbandes rechtlich einzuordnen sei. Auch hier sind Kirche und Kirchenrecht dem staatlich organisierten Rechtssystem entscheidend vorange43
Sinibaldus Fliscus, Commentarla super libros quinque Decretalium, lib. I I , tit. X X , cap. 57, Nr. 5, Bl. 270 ν. Hierzu Panizo Orallo, Persona j u r i d i c a y ficción. Estudio de la obra de Sinibaldo de Fieschi (Innocencio IV), Pamplona 1975, S. 115 ff. 44 Vgl. hierzu auch das zuvor i n Kap. 2, § 3, Nr. 1, S. 68 f. Dargelegte. 45 Bartolus, I n secundam partem Digesti N o v i Commentarla, lib. X L V I I I , t i t . X I X , 1.16, § 10, Nr. 3, S. 560. 46 Baldus, Commentarla i n Digestum novum, lib. X L V I , tit. I , 1.22, Nr. 3, Bl. 31 v. 47 Vgl. Baldus, Consiliorum sive Responsorum vol. I l l , Francofurti a. M. 1589, Nr. 159, 5, Bl. 41 v. 48 Siehe Baldus, I n septimum Codicis l i b r u m praelectiones, L u g d u n i 1556, tit. L U I , 1. 5, Nr. 13, Bl. 81 r. 49 Vgl. Baldus, Commentariolum super pace Constantiae, i n : ders., I n Feudorum usus Commentarla, Venetiis 1580, vb. „Imperialis clementiae", Nr. 13, Bl. 97 r. : „ N a m civitas vice personae fungitur, cum talis est universitas, quae vice unius personae fungatur, omnia transeunt cum ipsa."
§ 7 Der kirchliche Verband als Vorbild staatlicher Organisation
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gangen, wie sich am Beispiel des rechtlichen Verständnisses der Stellung von Papst und Papsttum verfolgen läßt. Ebenso wie die Gesamtkirche w i r d auch die Institution des Papsttums i n der kirchlich-theologischen Reflexion schon früh nicht lediglich leiblich-personhaft, d.h. von der Person einzelner Päpste her begriffen, sondern bereits i m Ansatz transpersonal verstanden. Der Ausgangspunkt solcher, von der Einzelperson abgelösten Überlegungen liegt, abgesehen von den bereits oben i n Bezug genommenen christologischen Erwägungen 50 , i n der Herleitung der päpstlichen Stellung aus der Nachfolgeschaft Petri begründet, w e i l i m Gefolge dieser Anknüpfung eine Unterscheidung zwischen Petrusamt (dignitas) und Person (persona) des jeweiligen Nachfolgers bzw. Amtsträgers erforderlich wurde 5 1 . Die päpstliche Herrschaft w i r d deshalb schon seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert nicht als von der Person des einzelnen Papstes selbst, sondern symbolhaft als von der sedes apostolica 52 ausgehend begriffen. Ähnliche Erwägungen knüpfen an den eigentlichen Amtssitz, die cathedra Petri an. Dieser, nicht der Person des jeweiligen Papstes, soll die entgegengebrachte Ehrerbietung vor allem gelten: Honoranda est cathedra pontificalis 53 . Die kanonistische Jurisprudenz macht sich die darin zum Ausdruck kommenden Ansätze eines kirchlichen Ämterwesens und Ämterverständnisses weitgehend zu eigen und formuliert sie rechtlich aus. Grundlegend für die rechtliche Argumentation ist die Einsicht i n die überindividuelle Existenz des Kirchenverbandes, wie sie am Beispiel der fortdauernden Würde des Kirchenamtes hervortritt: Dignitas nunquam moritur 5 4 . Auch der Papst hat ein solches A m t inne. K r a f t dieses Amtes, 50
Siehe S. 99. Siehe hierzu die einschlägigen Überlegungen Leos d. Gr., der die U n t e r scheidung zwischen Person (persona humilitatis meae) u n d A m t (dignitas) mittels der Rechtsfigur eines unwürdigen Erben Petri (indignus haeres Petri) bewerkstelligt. Vgl. seine: Tractatus septem et nonaginta, ree A . Chavasse, T u r n h o l t i 1973 (Corpus Christianorum, Ser. lat., 138), Tract. I V v o m 29. Sept. 443, Ziff. 4, S. 10—15 (13 f.). Dazu Ullmann, Leo I and the Theme of Papal Primacy, S. 35. 62 Hierzu Batiffol, Papa, sedes apostolica, apostolatus, i n : Rivista d i archeologie cristiana 2 (1925), S. 99—116 (103 ff.). 53 So Papst Gregor I V . i m Jahre 833 i n seinem Schreiben an die fränkischen Bischöfe, i n : Epistolae K a r o l i n i Aevi, t. I I I , B e r o l i n i 1899 (MGH, Epistolae, t . V ) , S. 228—232 (S. 230, Z. 7). Dazu Gussone, T h r o n u n d Inthronisation des Papstes von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, Bonn 1978, S. 197. 54 Vgl. Hostiensis, I n secundum Decretalium l i b r u m Commentarla, t i t . X , cap. 2, Nr. 28, S. 37. Z u m Begriff der dignitas als „quaedam praeeminentia i n ecclesia" siehe ders., I n sextum Decretalium l i b r u m Commentarla, t i t . ,De rescriptis', cap. 2, Nr. 14, S. 2 A. Z u r Gleichsetzung von dignitas u n d officium ebd., Nr. 13. Z u m Begriff des Kirchenamtes siehe Dreier, Das kirchliche A m t , München 1972, S. 115 ff. 51
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
nicht aufgrund seiner individuellen Persönlichkeit kommt i h m eine alle anderen überragende Stellung zu (officium Romani Pontificis prae omnibus alns exuberat) 55 . Es ist nach alldem keineswegs erstaunlich, wenn die Kirchenjuristen seit dem 13. Jahrhundert dazu übergehen, den Papst als öffentlichen Amtsträger von seiner natürlichen Person abzuheben: Papa persona publica est 56 . Die Erkenntnis, daß der Papst ein öffentliches A m t ausübt, kann i n ihrer Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn die kirchlichem Leben und Denken geläufige Vorstellung, daß Herrschaftsbefugnisse nicht Eigenrecht der jeweiligen Herrschaftsträger sind, sondern Amtscharakter besitzen, ist der mittelalterlichen Herrschaftstheorie und -praxis keineswegs schon aus sich heraus eigentümlich 57 . Kirche und Kirchenrecht haben i n ganz entscheidendem Maße dazu beigetragen, daß dieser Gedanke i n der mittelalterlichen Welt sich ausbreiten und von hier aus nachhaltige Wirkung entfalten konnte. 3. Wahl der Amtsträger und Repräsentation der Gesamtheit
I n der kirchlichen Rechtsentwicklung, wie sie sich dem heutigen Betrachter darbietet, ist organisationsstrukturell indessen weit mehr angelegt als nur die Trennung von A m t und Person einerseits, von Körperschaft und Körperschaftsmitgliedschaft andererseits. War man nämlich bereit zuzugestehen, daß der Papst lediglich ein A m t innehabe, so lag es nahe, ungeachtet aller i h m ansonsten zugeschriebenen Machtfülle zugleich auf den Umstand hinzuweisen, daß dem Nachfolger Petri letztlich nur eine Amtsgewalt (officii plenitudo) 58 , d. h. eine beschränkte oder doch beschränkbare Herrschaftsmacht zukomme. Des weiteren stellte sich die prekäre Frage, wie der Papst i n sein A m t gelange und i n welchem Umfang die Gesamtkirche hierbei beteiligt sei. Schon seit den ältesten Zeiten her w a r i n der Kirche dem Grundsatz nach anerkannt, daß die Berufung i n ein Kirchenamt durch Wahl 5 9 zu 55 Vgl. Hostiensis, I n q u i n t u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X X X I I I , cap. 14, Nr. 17, S. 83 Α. 58 Siehe Hostiensis, I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X X X V , cap. 4, Nr. 5, S. 177 A . So auch Johannes Andreae, I n p r i m u m Decret a l i u m l i b r u m Novella Commentarla, Venetiis 1581, Neudr. Torino 1963, t i t . X X X V , cap. 4, Nr. 4, S. 273. Z u r Generalisierung dieser Lehre i n der L e gistik siehe oben Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 56, 60. 67 Das betont m i t G r u n d Böckenförde, Z u m Verhältnis von Kirche und Moderner Welt, S. 166. 58 Vgl. Hostiensis, I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. V I , cap. 11, Nr. 2, S. 43. 59 Hierzu Benson, The Bishop-Elect. A Study i n Medieval Ecclesiastical Office, Princeton, N.J. 1968, S. 23 ff.
§ 7 Der kirchliche Verband als Vorbild staatlicher O r g a n i s a t i o n 1 0 3 geschehen habe. Lediglich die Frage nach dem Kreis der Wahlberechtigten sowie danach, wie i m einzelnen zu verfahren sei, wurde i m Laufe der Zeit unterschiedlich beantwortet. Was die — eine Sonderform der Bischofswahl darstellende — Wahl des Papstes angeht, so hatte sich seit dem 11. Jahrhundert allmählich die feste Übung herausgebildet, Wahlberechtigung und Wahlhandlung auf das Kardinalskollegium zu beschränken mit der weiteren Bestimmung, daß für das Zustandekommen des Votums eine Zweidrittelmehrheit ausreichend, aber auch erforderlich sei 60 . Es ist kaum zu überschätzen, welche Bedeutung dem von der Kirche praktizierten und zugleich rechtlich kodifizierten Wahlprinzip für das moderne, staatlich organisierte Rechtssystem zukommt. Zwar ist die i m Verlauf der frühmodernen Rechts- und Staatsentwicklung sich allmählich durchsetzende Praxis, die Bestellung von Herrschaftsträgern durch Wahl vorzunehmen, keineswegs allein dem kirchenverfassungsrechtlichen Vorbild zu verdanken. Doch hat das Wahlprinzip i m kirchlichen Raum seine für den modernen Staat prägende K r a f t erhalten, weil hier erstmals über eine längere Zeitspanne m i t Erfolg exemplifiziert wurde, daß ein geschlechter- bzw. dynastieunabhängiges, von Einzelpersonen weitgehend gelöstes Verfahren der Herrschaftsübernahme und Organbestellung geeignet und i n der Lage ist, die für eine Großorganisation erforderliche innere wie äußere Stabilität auf Dauer zu gewährleisten. Wahl und Mehrheitsprinzip dürfen i m Rahmen kanonistischer Jurisprudenz freilich nicht isoliert betrachtet werden. Sie fügen sich vielmehr einem Gesamtkonzept ein, i n dem der allgemeine Status der Kirche (generalis status ecclesiae)61 thematisiert und die Frage nach der Binnendifferenzierung kirchlicher Organisationsstrukturen aufgeworfen wird. Eine solche Problemstellung ließ sich nicht mehr nur m i t dem bloßen Hinweis darauf bewältigen, daß Papst und Kirche identisch seien (papa ipse ecclesia)62, weil i h r von vornherein ein Kirchenbegriff zugrunde liegt, der wenigstens Papst und Kardinäle (papa et cardinales) umfaßt 68 . I m Gefolge dieser, der wachsenden Bedeutung des Kardinals00 Endgültig geregelt i n der Dekretale ,Licet de vitanda* Alexanders I I I . von 1179 (Corpus I u r i s Canonici I, 6, 6). Dazu Elsener, Z u r Geschichte des Majoritätsprinzips, i n : Z R G K A 73 (1956), S. 73—106 (86 ff.); Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 21 f. 61 Hierauf w i r d bereits i n der Glosse Bezug genommen. Vgl. die i n der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Johannes Teutonicus zusammengestellte, von Bartholomaeus Brixiensis überarbeitete Glosse zum Dekret (Corpus Iuris Canonici i n très partes distinctum, glossis diversorum illustratum, ed. noviss., 1.1, L u g d u n i 1671, Gl. „ P r i v i l e g i a " zu C. 25, qu. 2, cap. 17, Sp. 1451). Z u m K o n t e x t siehe J. C. Hackett, ,State of the Church'. A Concept of the M e dieval Canonists, i n : The Jurist 23 (1963), S. 259—290. 82 Siehe dazu oben F N 38.
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
kollegiums entsprechenden Auffassung waren Auswirkungen auf die Lehre von der päpstlichen plenitudo potestatis unvermeidbar. Ein i n charakteristischer Weise modifiziertes Verständnis der plenitudo potestatis deutet sich bereits auf der Höhe päpstlicher Machtstellung an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert i n den Werken des französischen Bischofs Johannes Monachus an, der — bei dem ohnehin neuralgischen Punkt der Papstwahl ansetzend — für den Fall einer Sedisvakanz die gesamte Machtfülle den Kardinälen zuspricht 64 . Er bringt den daraus gewonnenen Rechtsgedanken sogleich auf die allgemeine Formel, die plenitudo potestatis liege hauptsächlich beim Papst, subsidiär bei jenen (in papa est principalis, i n collegio subsidiaria) 65 . Johannes Monachus folgt hiermit zwar weitgehend der hergebrachten Lehre päpstlicher Präponderanz, läßt aber zugleich ein neues Deutungsschema kirchlicher Machtverteilung durchblicken; denn er relativiert die Exzeptionalität der päpstlichen Position, indem er hinzusetzt, der Papst befinde sich rechtlich gegenüber dem Kardinalskollegium in keiner anderen Lage als jeder Bischof gegenüber seinem Kapitel 6 6 . Die Kanonisten des beginnenden 14. Jahrhunderts bleiben bei dieser vermittelnden Auffassung nicht stehen, sondern schreiten fort zu einer ekklesiologischen Konzeption, nach der weder der Papst, noch dieser gemeinsam m i t den Kardinälen, sondern allein die Gemeinschaft der Gläubigen (congregatio fidelium) die Kirche ausmacht. Dieser schon bei den älteren Kanonisten mitunter durchscheinende Kirchenbegriff 6 7 erfährt seine volle Ausarbeitung und Konkretisierung i m Rahmen jener als konziliare Theorie 68 bezeichneten kirchlichen Strömung, welche die Kräfteverhältnisse innerhalb des Herrschaftsverbandes der Kirche nicht mehr vorrangig von der päpstlichen Spitze der Hierarchie, sondern wesentlich von den körperschaftlich verbundenen Gläubigen her be83 Vgl. Hostiensis, I n secundum Decretalium l i b r u m Commentarla, t i t . X X I V , cap. 4, rubr., Nr. 2, S. 126: „Papa et Cardinales Romanam ecclesiam constituunt." Die K l e r i k e r bleiben i n dieser Definition außer Betracht, w e i l sie als „pars corporis Papae" gelten (ebd., Nr. 3). 84 Vgl. Johannes Monachus, Glossa aurea super Sexto Decretalium, Paris 1535, Neudr. Aalen 1968, Gl. ad l i b . V , tit. 11, cap. 2, rubr. Nr. 6, B1.398v: „Sede vacante, plenitudo potestatis residet penes cetum cardinalium." 86 Ebd. 88 Ebd., Gl. ad lib. V, tit. 3, cap. un., rubr. Nr. 4, Bl. 366 r : „Papa sic se habet ad collegium cardinalium, sicut alter episcopus respectu sui collegii." 87 Vgl. die Glosse zum Dekret: „ipsa congregatio f i d e l i u m hic dicitur ecclesia" (Corpus Iuris Canonici i n très partes distinctum, glossis diversorum illustratum, ed. novissima, 1.1, Gl. „Novitatibus" zu C. 24, qu. 1, cap. 9, Sp. 1387). 88 Grundlegend hierzu: Tierney, Foundations of the Conciliar Theory, Cambridge 1955. Ferner Antony Black, Monarchy and Community. Political Ideas i n the Later Conciliar Controversy, 1430—1450, Cambridge 1970 sowie R. Bäumer (Hg.), Die E n t w i c k l u n g des Konziliarismus. Werden u n d Nachwirken der konziliaren Idee, Darmstadt 1976.
§ 7 Der kirchliche Verband als Vorbild staatlicher O r g a n i s a t i o n 1 0 5 leuchtet. Zur rechtlichen Begründung des neuen Kirchenbegriffs und Kirchenverständnisses beruft man sich auf den ursprünglich römischrechtlichen, jedoch kanonistisch umformulierten Satz, was alle angehe, müsse auch von allen behandelt und gebilligt werden (Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet) 69 . Die vielfach i n theologische und philosophische Zusammenhänge eingebundenen konziliaren Lehren haben ihre wohl geschlossenste kanonistische Darstellung i m Werk des Franziscus Zabarella (1360—1417), einem der bedeutendsten Kirchenrechtslehrer seiner Zeit, gefunden 70 . Die plenitudo potestatis liegt danach wesenhaft bei der — durch ein allgemeines Konzil repräsentierten — Gesamtkirche (in ipsa universitate tanquam i n fundamento), als deren erster Diener (principalis minister) der Papst fungiert 7 1 . Pierre d'Ailly (1350—1420), französischer Kanonist und kongenialer Zeitgenosse Zabarellas, findet für die neue, der konziliaren Bewegung des 14. und 15. Jahrhunderts entsprechende Rechtslage die prägnante Formel von der dreifachen Bedeutung der plenitudo potestatis, die subjekthaft dem Papst (tanquam i n subjecto), objekthaft der Gesamtkirche (tanquam i n objecto), schließlich beispielhaft repräsentativ-leitend dem Konzil (tanquam i n exemplo ipsam repraesentante et regulariter dirigente) zuzuordnen sei 72 . Die konziliare Theorie hat 69 Siehe hierzu Congar, Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet (1958). Aus dem Französ. übers, von E. Hanewinkel, i n : Heinz Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, Bd. 1, Darmstadt 1980, S. 115—182. 70 Vgl. insbesondere seine Schrift: De schismate tractatus, i n : Schard, Syntagma tractatuum de imperiali jurisdictione, Argentorati 1609, S. 235— 247. Dazu Merzbacher, Die ekklesiologische Konzeption des Kardinals F r a n cesco Zabarella (1360—1417), i n : Festschrift K a r l Pivec zum 60. Geburtstag, hg. von A . Haidacher u. H. E. Mayer, Innsbruck 1966, S. 279—293. 71 Vgl. Zabarella, De schismate tractatus, S. 242 f. Z u r Repräsentation der Gesamtkirche durch das K o n z i l ebd., S. 236. Z u der i n dieser Konzeption angelegten Lehre einer geteilten' Souveränität siehe Tierney, »Divided Sovereignty* at Constance. A Problem of Medieval and Early Modern Political Theory, i n : A n n u a r i u m Historiae Conciliorum 7 (1975), S. 238—256 (244 f f.). 72 d'Ailly , Tractatus de Ecclesiae Concilii Generalis, Romani Pontificis, et Cardinalium Autoritate liber unicus, scriptus i n Concilio Constantiensi 1417, i n : Jean Gerson, Opera omnia, opera et studio Lud. Ellies D u Pin, t. 2, A n t werpiae 1706, Sp. 925—960 pars I I I , cap. 1, Sp. 951: „ P r i m o ergo modo, plenitudo postestatis est i n Papa, tanquam i n subjecto ipsam recipiente, et m i nisterialiter exercente. Secundo, est i n Universali Ecclesia, tanquam i n objecto ipsam causaliter et f inaliter continente. Tertio, est i n Generali Concilio tanquam i n exemplo ipsam repraesentante, et regulariter dirigente." A i l l y entwickelt seine Auffassung i n Auseinandersetzung m i t einer auf dem K o n z i l vertretenen weitergehenden Lehre, derzufolge die plenitudo potestatis u n trennbar (inseparabiliter) der Gesamtkirche, repräsentativ (repraesentative) dem allgemeinen K o n z i l u n d bloß trennbar (separabiliter) dem Papst zukomme. Vgl. ebd., Sp. 950. Vgl. hierzu Oakley, The Political Thought of Pierre d ' A i l l y , New Haven 1964, S. 119 ff. (127), der zu dem Schluß kommt, „ t h a t A i l l y viewed the ecclesiastical constitution as a m i x e d one embodying monarchical, aristocratic, and democratic 4 elements".
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
sich darüber hinaus i n einem amtlichen Dokument des Konstanzer Konzils (1414—1418) niedergeschlagen, i n welchem dem Generalkonzil die unmittelbare Repräsentanz der Kirche zuerkannt wird 7 3 . Ebenso wie die hierarchisch aufgebaute Papstkirche dem absoluten Fürstenstaat, entspricht — jedenfalls i n strukturell-funktionaler Hinsicht — die konziliar verfaßte Gemeindekirche dem zunächst ständisch, später parlamentarisch-repräsentativ organisierten staatlichen Gemeinwesen 74 . Das ist auch den zeitgenössischen Beobachtern der konziliaren Bewegung nicht verborgen geblieben und nach der gedanklichen Vorbereitung durch Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua 75 von Nikolaus von Kues, der als Teilnehmer des Konzils von Basel (1431 bis 1449) aus unmittelbarer Erfahrung schöpfen konnte, i n eindringlicher Weise verdeutlicht worden. Der organisationsstrukturelle Ertrag der konziliaren Bewegung w i r d von i h m i n seiner ,Katholischen Konkordanz' i n einen übergreifenden Bezugsrahmen gestellt, i n dem der Konziliarismus als ein allgemeines Strukturprinzip 7 6 erscheint, das nicht nur für die Kirche, sondern für das Gemeinwesen überhaupt von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die auch für die Reichsreform ertragreichen, wesentlich auf Wahl und Repräsentation 77 aufbauenden rechtlichen Überlegungen des Cusanus münden schließlich i n ein konsensuales Denkmodell 7 8 ein, dessen epochale Bedeutung darin liegt, daß 73 Siehe den Beschluß der Sessio V v o m 6. A p r i l 1415, wonach das allgemeine K o n z i l die katholische Kirche repräsentiert (ecclesiam catholicam m i l i t a n t e m repraesentans). Vgl. Mirbt/Aland (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums u n d des römischen Katholizismus, 6. Aufl., Tübingen 1967, Nr. 767, S. 477. 74 Dieser Aspekt ist bislang noch wenig herausgearbeitet. Vgl. einstweilen Gaines Post. Plena potestas and Consent i n Medieval Assemblies. A Study i n Romano-Canonical Procedure and the Rise of Representation, 1150—1325 (1943), i n : Heinz Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, Bd. 1, S. 30—114. 75 Dazu Tierney, Ockham, die konziliare Theorie u n d die Kanonisten (1954), i n : Bäumer (Hg.), E n t w i c k l u n g des Konziliarismus, S. 113—155; Sigmund, The Influence of Marsilius of Padua on 15th Century Conciliar ism, i n : J H I 23 (1962), S. 392—402. 78 Vgl. hierzu insbesondere das dritte Buch seiner ,Concordanza Catholica* (1432/33), ed. G. Kallen, H a m b u r g 1959 (Opera omnia, Bd. X I V , 3). Dazu Sigmund, Nicholas of Cusa and Medieval Political Thought, Cambridge, Mass. 1963, S. 158 ff., 188 ff. Ferner Tierney, Religion, L a w and the G r o w t h of Constitutional Thought 1150—1650, Cambridge 1982, S. 66 ff. 77 Dazu Pernthaler, Die Repräsentationslehre i m Staatsdenken der Concordanza Catholica, i n : Grass (Hg.), Cusanus-Gedächtnisschrift, Innsbruck 1970, S. 45—99, der m i t Recht betont, daß Cusanus „politische Gewalt als rechtliche Vertretungsmacht denkt" (S. 69). 78 Eine geordnete Herrschaftsgewalt (ordinata potestas) k a n n demnach n u r durch W a h l u n d Zustimmung errichtet werden: „ N a m si natura aeque potentes et aeque l i b e r i homines sunt, vera et ordinata potestas unius communis aeque potentis naturaliter non nisi electione et consensu aliorum constitui
§ 8 Der kanonistische Begriff des lus publicum
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politische Macht als rechtlich verfügbar vorgestellt und vorausgesetzt wird. Die hieraus für das staatliche Gemeinwesen sich ergebenden Folgerungen werden i m Auge zu behalten sein.
§ 8 D e r kanonistische Begriff des lus publicum
Vergegenwärtigt man sich auf dem hier skizzierten Hintergrund kanonistischer Hechtsentwicklungen die unterschiedlichen Ansätze einer rechtlichen Erfassung kirchlicher Verbands- und Organisationsstrukturen, so kann es nicht überraschen, auch i m Bereich kirchlichen Rechts und Rechtsdenkens eine Vorstellung davon zu finden, was öffentliches Recht sei. Begreiflicherweise ist der kirchliche Begriff des öffentlichen Rechts romanistisch fundiert und zunächst noch wenig spezifisch 79 . Erst i m Laufe der dynamischen Kirchenrechtsentwicklung des 13. Jahrhunderts gewinnt das ius publicum i n der kanonistischen Jurisprudenz schärfere Konturen. Grundlegend für den kanonistischen Begriff des öffentlichen Rechts sind anders als i n der Legistik, die sich naturgemäß stärker dem römischrechtlichen Vorbild verpflichtet glaubte, weniger Interessenoder Nutzenerwägungen als vielmehr Rechtsquellenüberlegungen, die auf die Frage der Herkunft allen positiv gesetzten Rechts abzielen. Zwar haben auch die Legisten diese Frage aufgeworfen 80 , jedoch bei weitem nicht m i t dem Maß an Präzision und Originalität zu beantworten gewußt wie — i m Zeichen einer expandierenden Rechtsetzung — ihre kanonistischen Zeitgenossen. Hostiensis kommt das Verdienst zu, in seinem Dekretalenkommentar, besonders aber i n seiner Dekretalensumme, die kanonistischen Erklärungsansätze dessen, was öffentliches Recht sei, zusammengestellt und beispielhaft erörtert zu haben 81 . Als öffentliches Recht i n einem weiten Sinne (largo modo) ist danach all dasjenige Recht anzusehen, welches potest, sicut etiam lex ex consensu constituitur." Vgl. De Concordantia Catholica, lib. I I , cap. 14, Nr. 127, S. 162. Siehe hierzu Helmut G. Walther, I m periales Königtum, Konziliarismus u n d Volkssouveränität, München 1976, S. 243 ff., der es sich jedoch zu leicht macht, w e n n er die Frage nach der H e r k u n f t der Herrschaftsgewalt i m Sinne des Cusanus meint dahingehend beantworten zu können, daß „alle Macht v o n oben" sei (S. 248). Z u r zukunftsweisenden Bedeutung des i n der konziliaren Theorie angelegten konsensualen Ansatzes vgl. Oakley , N a t u r a l L a w , the ,Corpus Mysticum', and Consent i n Conciliar Thought f r o m John of Paris to Matthias Ugonius, i n : Speculum 56 (1981), S. 786—810 (805 f.). 79 Das hat Müllejans, Publicus u n d Privatus i m Römischen Recht u n d i m älteren Kanonischen Recht, S. 62 ff., i m einzelnen nachgewiesen. 80 Dazu oben Abschnitt I, Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 59 f. 81 Hostiensis. Summa aurea, lib. I, tit. 9, Nr. 2 f., Bl. 26 ν f. Dazu Calasso, lus p u b l i c u m e ius privatum, S. 81 f.
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
von öffentlichen Instanzen (a publicis personis) herrührt und schriftlich niedergelegt ist (in scriptis redactum) 82 . Unter den Begriff der persona publica fallen, wie sogleich erläutert wird, sowohl die Päpste (principes sancti), als auch die Konzilien (concilii), woraus erhellt, daß kirchliche Rechtsetzung nicht als päpstliches Monopol begriffen, sondern auch Vertretungskörperschaften zugestanden wird. Erst danach, also an zweiter Stelle, kommt für die Bestimmung öffentlichen Rechts das K r i t e r i u m der utilitas publica zum Zuge. Unter Berücksichtigung dieser begrifflichen Vorabklärung ergeben sich, wie Hostiensis darlegt, folgende Möglichkeiten einer klassifikatorischen Kombination 8 3 : Recht kann öffentlich sein der Herkunft und der Interessenausrichtung nach (publicum authoritate, et utilitate); lediglich aufgrund seiner Herkunft, nicht hingegen aufgrund seiner Interessenausrichtung, w e i l diese privat ist (publicum authoritate, sed utilitate privatum). Auch das private Recht ist demnach öffentliches Recht seiner Herkunft nach. Es kann jedoch i m allgemeinen Interesse (ob communem utilitatem) oder i m privaten Interesse (propter privatam utilitatem) ergangen sein. N u r i m letzteren Fall ist es seitens Privater abdingbar 84 . I m übrigen gelten der Grundsatz der Unabdingbarkeit öffentlichen Rechts (renunciari non potest) 85 sowie die allgemeine Auslegungsregel, daß das Gemeinwohl dem Einzelinteresse grundsätzlich vorzugehen habe (utilitas publica privatae praefert) 88 . I m Zweifel w i r d es sich deshalb, sofern man bei der Abgrenzung U t i l i tas-Erwägungen zugrunde legt, um ius publicum handeln. I n einem engeren Sinne (specialiter) 87 spricht Hostiensis darüber hinaus von öffentlichem Recht i m Hinblick auf bestimmte Rechtsbereiche, 82 Hostiensis, Summa aurea, lib. I, tit. 9, Nr. 2, Bl. 26 v. Z u r Bedeutung der Schriftlegung sowie zum A n t e i l der Kirche an der Ausbildung der Schriftlichkeit des Rechts siehe Wadle, Über Entstehung, F u n k t i o n u n d Geltungsgrund normativer Rechtsaufzeichnungen i m Mittelalter, S. 503 (513 ff.). 83 Hostiensis, Summa aurea, lib. I, tit. 9, Nr. 3, Bl. 26 v. 84 Unter der weiteren Voraussetzung, daß es sich u m begünstigendes u n d eigenes Recht (si favorabile est et proprium) handelt. Vgl. ebd. 85 Hostiensis, Summa aurea, lib. I, t i t . 9, Nr. 3 f., Bl. 27 r. Z u r römischrechtlichen Grundlage der Unaufhebbarkeitsregel siehe oben Abschnitt I, Kap. 1, § 2, Nr. 2, S. 50. 86 Dieser Grundsatz w i r d von Hostiensis auch i n seinem Dekretalenkommentar vielfach aufgegriffen u n d bekräftigt. Vgl.: I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. I X , cap. 10, rubr., Nr. 24, S. 90: „Utilitas publica privatae praefertur." ; ebd., rubr., Nr. 81: „Utilitas communis, privatae est praef erenda." Siehe auch ebd. tit. V, cap. 3, rubr. Nr. 6, S. 34 A , sowie: I n t e r t i u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. V, cap. 18, rubr. Nr. 6, S. 18 bis; t i t . X X X I , cap. 23, rubr. Nr. 2, S. 115 A. Daß dem Gemeinwohl auch i n der Spätzeit grundsätzlich der Vorzug gegeben w i r d , belegt Antonius de Butrio ( t 1408), Super p r i m a p r i m i Decretalium Commentarli, t. I, Venetiis 1578, Neudr. Torino 1967, t i t . V, cap. 3, Nr. 43, S. 92; ebd. Nr. 8, S. 91. 87 Speziell öffentliches Recht i n diesem Sinne ist vor allem das „ i n sacris et sacerdotibus" bestehende ius publicum divinum. Vgl. ebd., Nr. 2, Bl. 26 v.
§ 8 Der kanonistische Begriff des lus publicum
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wie ζ. B. das Finanzrecht (ius fiscale) 88 , oder hinsichtlich organisationsrechtlicher Fragen, wie sie sich i m Zusammenhang m i t Wahlen zu stellen pflegen. Begreiflicherweise steht i m Vordergrund seines Interesses das Recht der Papstwahl (ius eligendi, per quod creatur papa), welches aufgrund der einzigartigen Stellung des Nachfolgers Petri als i n höchstem Maße öffentlich angesehen w i r d (summe publicum est) 80 . I n der auf Hostiensis folgenden Epoche werden bei grundsätzlicher Übernahme der einmal dargelegten Positionen Begriff und normative Zielrichtung des ius publicum durch eine genauere Bestimmung dessen, was i m rechtlichen Sinne öffentlich sei, entfaltet und weiter ausgebaut. Johannes Andreae sucht i n der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts diese Problematik von der ,Quod omnes tangit'-Formel her zu erschließen, indem er das Vorliegen der publica utilitas vom Nachweis eines Interesses aller abhängig macht (quando omnium i b i tangitur utilitas) 9 0 . Antonius de Butrio wendet sich gegen Ende des Jahrhunderts einer rechtlichen Begriffsbestimmung des öffentlichen schlechthin zu. öffentlich ist danach das allgemein Bekannte (famosum et notorium) 9 1 , m. a. W. dasjenige, von dem viele Kenntnis haben (quod f i t multis scientibus) 92 . Nicolaus de Tudeschis schließlich, bedeutendster Kanonist der Spätzeit, faßt die unterschiedlichen Aspekte des Öffentlichen rechtlich i m Begriff der Öffentlichkeit (publicitas) 9 * zusammen, welche, wie er darlegt, durch die Beschaffenheit des Ortes und die Zahl der Anwesenden (ex qualitate loci et multitudine adstantium) hergestellt wird. Fragt man nach dem Ertrag kirchlichen Rechts und kirchlicher Jurisprudenz für die Ausbildung des staatlich organisierten Rechtssystems, so bleibt zum einen festzuhalten, daß die Kirche, was Struktur und Funktion des von i h r hervorgebrachten Rechts anbetrifft, dem modernen Staat und seinem Recht wegweisend vorangegangen ist. Zum anderen bedarf der Hervorhebung, daß i m Umkreis der Kirche und ihren Rechts Begriff und Bereich des öffentlichen wie des öffentlichen Rechts ungleich schärfer konturiert sind als i n der am römischen Recht orien88
Hostiensis, Summa aurea, lib. I, tit. 9, Nr. 3, 26 v. Vgl. Hostiensis, I n p r i m u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. I X , cap. 10, Nr. 35, S. 91 A . 90 Johannes Andreae, I n secundum Decretalium l i b r u m Novella Commentarla, t i t . I I , cap. 12, Nr. 19, S. 23. Z u r ,Quod-omnes-tangit'-Formel siehe oben § 7, Nr. 3, S. 105. 91 U n d zwar i n einer weiten Bedeutung (lata significatione). Vgl. Antonius de Butrio, I n l i b r u m t e r t i u m Decretalium Commentarli, t. V, tit. I I , cap. 8, Nr. 2, S. 16 Α. 92 Ders., Super p r i m a p r i m i Decretalium Commentarli, tit. V, cap. 1, Nr. 23, S. 88 A . 93 Vgl. Nikolaus de Tudeschis (Panormitanus), Omnia Consilia, quaestiones et tractatus, L u g d u n i 1578, consil. X C I X , Nr. 3, Bl. 55 v. 89
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I. 3. Kap.: Kanonisches Recht und staatliche Rechtsstrukturen
tierten zeitgenössischen Legistik. Das mag daran liegen, daß die Kirche bereits durch die A r t ihrer Selbstdarstellung, wie sie i n der Öffentlichkeit von Messe (missa publica) 94 und Buße (poenitentia publica) 95 hervortritt, von vornherein stärker publizitätsgerichtet ist als andere Institutionen der Zeit, seinen Grund aber auch darin haben, daß die hochund spätmittelalterliche Kirche i n ungewöhnlichem Maße den ganzen Menschen beansprucht 96 m i t der Folge, daß Ausgrenzungen persönlichprivater A r t zwangsläufig zurücktreten 97 . Zwar hat auch die Kirche einen systematisch geordneten öffentlichrechtlichen Regelungszusammenhang nicht hervorgebracht, doch lassen es die i m Laufe der Zeit von i h r ausgebildeten Rechtsstrukturen und -begriffe gleichwohl gerechtfertigt erscheinen, Kirche und kanonistischer Jurisprudenz einen maßgeblichen A n t e i l an der Konstituierung dessen zuzuschreiben, was öffentliches Recht i m allgemeinen und staatliches Recht i m besonderen ausmacht.
94 Vgl. hierzu Hostiensis, I n t e r t i u m Decretalium l i b r u m Commentarla, tit. X L I , cap. 1, Nr. 22, S. 161 Α. 95 Siehe ders., I n q u i n t u m Decretalium l i b r u m Commentarla, t i t . X X V I , cap. 2, Nr. 4, S. 65 A ; t i t . X X X V I I I , cap. 12, Nr. 8, S. 101 A . 9e Vgl. hierzu Max Weber , Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 481, der auf die dem kanonischen Recht eignende „prinzipielle Schrankenlosigkeit des A n spruchs auf materiale Beherrschung der gesamten Lebensführung" sam gemacht hat. 97 Eine dem weltlichen Recht vergleichbare Unterscheidung von ius p u b l i cum u n d ius p r i v a t u m ist deshalb i m Kirchenrecht nicht bzw. n u r u n v o l l kommen ausgebildet worden. Dazu Gagnér , Uber Voraussetzungen einer V e r wendung der Sprachformel „öffentliches Recht u n d Privatrecht" i m kanonistischen Bereich, i n : Deutsdhe Landesreferate zum V I I . Internat. Kongreß f ü r Rechts vergleichung i n Uppsala 1966, hg. von E. von Caemmerer u n d K . Zweigert, B e r l i n 1967, S. 23—57 (49 ff.).
Zweiter
Abschnitt
Geltungsgrundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Erstes Kapitel
Der Gegenstandsbereich des lus publicum unter dem Aspekt von Staatsräson, Souveränität und Vertragslehre § 9 D i e Säkularisierung der mittelalterlichen Respublica Christiana 1. Die Staatsräson des frühmodernen Staates
M i t dem Durchbruch von Renaissance, Humanismus und Reformation soll u m die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert einer nicht nur i n der historischen Forschung noch immer weit verbreiteten Auffassung zufolge eine neue Zeit 1 ihren Anfang genommen haben. Man beruft sich hierbei herkömmlicherweise auf tatsächliche Veränderungen i n den politischen und gesellschaftlichen Strukturen ebenso wie auf einen grundlegenden Wandel des Denkens, der alle Lebensbereiche ergriffen habe und durch die Abkehr von der unmittelbar voraufgehenden, als barbarisch und dunkel empfundenen Zwischenzeit 2 gekennzeichnet sei. I n der rechts- und staatswissenschaftlichen Forschung hat diese A u f fassung vom Beginn einer neuen Zeit ihren Niederschlag i n der A n schauung gefunden, daß auch der Staat ein „ausgesprochen modernes 1 Z u r Problematik des überkommenen Periodisierungsschemas vgl. Wälder, Z u r Geschichte u n d Problematik des Epochenbegriffs „Neuzeit", i n : Festgabe Hans von Greyerz, Bern 1967, S. 21—47; Mieck, Periodisierung u n d Terminologie der Frühen Neuzeit, i n : Geschichte i n Wissenschaft u n d U n t e r richt 19 (1968), S. 357—373. 2 Z u r angeblichen Barbarei des Mittelalters siehe Harald Zimmermann, De medii aevi barbarie. E i n alter Gelehrtenstreit, i n : Geschichtsschreibung u n d geistiges Leben i m Mittelalter. Festschrift f ü r Heinz L ö w e zum 65. Geburtstag, hg. von K . Hauck u. H. Mordek, K ö l n 1978, S. 650—669 (659 ff.). Ferner Klaus Arnold, Das „finstere" Mittelalter. Z u r Genese u n d Phänomenologie eines Fehlurteils, i n : Saeculum 32 (1981), S. 287—300.
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität
Gebilde" darstelle, das von der Neuzeit hervorgebracht worden sei und m i t der Entstehung „ganz neuartiger äußerer und innerer ,Lagen'" u m 1500 zusammenhänge 3 . I n der Tat zeichnet sich m i t dem Beginn des 16. Jahrhunderts eine Neuorientierung des politischen Gemeinwesens ab, welche i m Denken der Zeit i n den Begriffen von Staatsräson 4 und Souveränität 5 hervort r i t t und die etablierten Macht- und Denkpositionen i n Reich und Kirche fragwürdig erscheinen läßt. Der hiermit verbundene geistige, politische und soziale Wandel, dem die Säkularisierung® der respublica Christiana parallel geht, w i r d indessen überschätzt, wenn man i h n zum Anlaß dafür nimmt, eine Epochenschwelle zu markieren, von der aus ein neues Zeitalter zu datieren sei. Bereits lange vor dem 16. Jahrhundert sind jene Prozesse feststellbar, welche die Ausbildung des modernen Staates begleiten und die archaiche Feudalgesellschaft tiefgreifend umstrukturieren. Z u erinnern ist zum einen an jene große, als »Renaissance des 12. Jahrhunderts' 7 bekannte Bewegung, die als philosophische Strömung i n der Kathedralschule von Chartres 8 auf eine Neubelebung griechisch-platonischen Denkens gerichtet ist. I n diesen Zusammenhang gehört auch die Erneuerung des römischen Rechts, die, ausgehend von Oberitalien und Südfrankreich, die Entstehung und Ausbreitung der gelehrten Rechte einleitet. Zum anderen muß die Wiederaufnahme der aristotelischen Philosophie, wie sie sich i m Horizont scholastischen Denkens des 13. Jahrhunderts bei Thomas von Aquin vollzieht, i n Ansatz gebracht 3
Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. V I I . Dazu nach w i e vor nützlich: Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson i n der neueren Geschichte, hg. u. eingel. von W. Hof er, München 1957 (zuerst 1924). Siehe ferner Schnur (Hg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, B e r l i n 1975; Kreuz, Überleben u n d gutes Leben. Erläuterungen zu Begriff u n d Geschichte der Staatsräson, i n : Deutsche Vierteljahresschrift f ü r Literaturwissenschaft u n d Geistesgeschichte 52 (1978), S. 173—208, sowie Stolleis, Arcana i m p e r i i u n d Ratio status. Bemerkung zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980. 5 Dazu unten unter Nr. 2. • Hierzu das grundlegende Werk von Georges de hagarde, L a naissance de l'esprit laïque au déclin d u moyen âge, L o u v a i n 1956—1970, 5 Bde. (zuerst 1934—1946 i n 6 Bdn.). Z u r Terminologie siehe Baruzzi, Z u m Begriff u n d Problem „Säkularisierung", i n : A . Rauscher (Hg.), Säkularisierung u n d Säkularisation vor 1800, München 1976, S. 121—134. 7 Vgl. Haskins, The Renaissance of the 12th Century, Cambridge, Mass. 1927, 4. print., N e w Y o r k 1960 sowie de Gandillac / Jeauneau (Hg.), Entretiens sur la Renaissance de 12 e siècle, Paris 1968. Ferner Benson ί Constable (Hg.), Renaissance and Renewal i n the 12th Century, Oxford 1982. 8 Hierzu Southern, Humanism and the School of Chartres, i n : ders., M e dieval Humanism and Other Studies, Oxford 1970, S. 61—85; ders., The Schools of Paris and the School of Chartres, i n : Benson / Constable (Hg.), Renaissance and Renewal, S. 113—137. 4
§ 9 Die Säkularisierung der Respublica Christiana
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werden 9 , w e i l m i t der Hinwendung zur antik-heidnischen Gedankenwelt des Aristoteles zugleich eine neue Weltsicht und Weltlichkeit begründet wird, die tendenziell vom religiös-jenseitig zum empirischdiesseitig bestimmten Denken und Handeln führt. Der seit dem 12. Jahrhundert sich intensivierende Vorgang der Rückbesinnung auf die griechische und römische Antike ist keineswegs ein bloß geistig-philosophisches Phänomen. Die geistigen Veränderungen werden vielmehr begleitet und gefördert von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungen, welche sich i n einer gesteigerten sozialen Mobilität 1 0 äußern und das Aufkommen einer vor allem i n den aufstrebenden Städten sich ausbildenden frühen bürgerlichen Gesellschaft 11 signalisieren. Auch i m Bewußtsein der Zeit w i r d die damit einhergehende Veränderung der Lebensverhältnisse wahrgenommen, wo sie sich begrifflich-terminologisch i n der Erfassung der menschlichen Gesellschaft als einer societas politica, societas publica oder societas civilis niederschlägt 12 . Die i m Verlaufe dieser Entwicklung sich ausprägenden neuen Organisationsstrukturen sucht man i n Anlehnung an antike Vorbilder philosophisch-politisch zunächst mittels organologischer Vorstellungen 13 zu erklären. Das Gemeinwesen erschließt sich von daher dem der Schule von Chartres verpflichteten Johannes von Salisbury u m die Mitte des 12. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich augustinisch-heilsgeschichtlich, sondern w i r d als ein organischer Teil der Naturordnung begriffen, der einem lebendigen Organismus vergleichbar ist (res publica corpus quoddam) 14 . ö Siehe hierzu die zahlreichen Untersuchungen von Martin Grabmann, jetzt i n : ders., Gesammelte Akademieabhandlungen, hg. v o m GrabmannI n s t i t u t der Universität München, Einl. von Michael Schmaus, Paderborn 1979, 2 Bde. 10 Wie sie die neuere Sozialgeschichtsforschung f ü r das spätere Mittelalter nachgewiesen hat. Dazu näher oben Abschnitt I, Kap. 1, § 1, Nr. 2, S. 37 ff. 11 Vgl. hierzu Haverkamp, Die „frühbürgerliche" Welt i m hohen u n d späteren Mittelalter. Landesgeschichte u n d Geschichte der städtischen Gesellschaft, i n : H Z 221 (1975), S. 571—602. 12 Vgl. Thomas von Aquin, Contra impugnantes Dei c u l t u m et religionem, cap. I I I , § 4; ders., Sententia l i b r i Ethicorum, lib. V I I I , cap. 12, Nr. 19. Dazu Manfred Riedel, Bürgerliche Gesellschaft, i n : Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von O. Brunner (u.a.), Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719—800 (726), der zutreffend darauf hinweist, daß die Begriffsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft i n der mittelalterlichen Aristotelesrezeption, nicht erst m i t dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts beginnt. 13 Vgl. Tilman Struve, Die E n t w i c k l u n g der organologiechen Staatsauffassung i m Mittelalter, Stuttgart 1978, S. 10 ff., 87 ff. 14 Vgl. seinen ,Policraticus', ed. C.C.J. Webb, O x o n i i 1909, 2 Bde., Neudr. F r a n k f u r t a. M. 1965, lib. V, cap. 2 (Bd. 1, S. 282). Dazu sowie zur H e r k u n f t des organologiechen Vergleichs Kerner, Johannes von Salisbury u n d die logische S t r u k t u r seines Policraticus, Wiesbaden 1977, S. 171 ff.
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität
Den wirklichen Durchbruch der neuen, auf das Zusammenleben der Menschen i m Gemeinwesen gerichteten philosophischen und politischen Bestrebungen bringt indes erst die Wiederentdeckung des politischen Menschen als eines ,naturaliter animal politicum et sociale4 auf der Höhe der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts durch Thomas von Aquin 15 m i t sich. Das Gemeinwesen ist danach auf das allgemeine Wohl (bonum commune) 16 der i n i h m Lebenden gerichtet. Es w i r d damit nicht mehr nur theologisch von der Heilslehre her verstanden, sondern empirisch aus der sozialen Anlage des Menschen begründet. Thomas hatte i n seinen wohlausgewogenen Überlegungen bei aller Offenheit für die antik-heidnische Philosophie letztlich den mittelalterlichen Ordo-Gedanken und damit die Einheit der respublica Christiana aufrechtzuerhalten gesucht. Aber auch diese, auf einen vermittelnden Standpunkt abzielende Position w i r d bereits wenig später durch eine schnell fortschreitende Entwicklung überholt. Der Aufschwung nominalistischer Philosophie 17 i m Verein m i t dem Vordringen einer rationalistischen, vornehmlich arabisch-averroistisch geprägten AristotelesInterpretation 1 8 tragen seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts wesentlich dazu bei, die universalistische Einheits- und Ordnungsvorstellung weiter i n Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund wendet sich i m beginnenden 14. Jahrhundert Marsilius von Padua i n seinem ,Defensor Pads' 1 9 erneut den grundlegenden Fragen und Problemen menschlichen Zusammenlebens i m Gemeinwesen zu. Auch Marsilius geht davon aus, daß das Gemeinwesen ein organisches Gebilde 20 sei. Er wertet aber die Lehren des Aristoteles sehr viel konsequenter aus, als Thomas dies zuvor getan hatte. Marsilius betont nämlich, daß die Menschen sich allein des befriedigenden Daseins wegen (propter sufficienter vivere) zusammengeschlossen haben 21 . Dieser Zu15
Summa Theologiae I — I I , qu. 72. art. 4. Vgl. seinen unvollendet gebliebenen Fürstenspiegel: De regno sive de regimine p r i n c i p u m ad regem Cypri, i n : ders., Opuscula omnia, ed. J. Perrier, I, Paris 1949, S. 220—267, lib. I, cap. 2, 2 ff. (4 ff.), S. 222 ff. Z u r Relevanz des bonum commune f ü r die Gemeinwesenvorstellung des Aquinaten siehe Verpaalen, Der Begriff des Gemeinwohls bei Thomas von Aquin, Heidelberg 1954, S. 73 ff. 17 Hierzu Knowles, The Evolution of Medieval Thought, London 1962, S. 327 ff.; Courtenay, Nominalism and Late Medieval Thought, i n : Theological Studies 33 (1972), S. 716—734. 18 Wie sie etwa i n Padua gepflegt wurde. Dazu Poppi, Introduzione all'aristotelismo padovano, Padova 1970, S. 13 ff. 19 Vgl. die lateinisch-deutsche Ausgabe, nach der Ubers, von W. K u n z mann, bearb. u. eingel. v o n H. Kusch, Darmstadt 1958, 2 Bde. 20 Defensor Pacis I, cap. 2, § 3, S. 28 (civitatem esse velut animatam sive animalem naturam quandam). 21 Ebd., cap. 4, § 5, S. 42. 16
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sammenschluß erscheint i h m schlechthin vollkommen und sich selbst i n höchstem Maße genug (congregacio perfecta et terminum habens per se sufficiencie) 22 . Das Transzendent-Jenseitige kann demnach nicht Gegenstand der von i h m anvisierten, diesseitig-politischen Ordnung sein. Er trennt deshalb folgerichtig zwischen dem auf das Jenseits sich beziehenden Glauben einerseits und der auf das Diesseits gerichteten menschlichen Vernunft und Erfahrung (hominum racio et experiencia) 28 andererseits. Die den Defensor Pacis des Marsilius durchgängig kennzeichnende Ausrichtung auf die Fragen des Gemeinwesens i n dieser Welt (in hoc seculo) 24 entspringt keineswegs einem nur theoretisch-philosophischen Interesse, sondern hat ihren tieferen Grund i n jenem seit dem hohen Mittelalter erkennbar werdenden Prozeß tatsächlicher Absetzung der weltlichen von der geistlichen Herrschaftsgewalt, der auf die Trennung der politischen Ordnung von ihrer christlich-religiösen Bestimmung und Durchformung gerichtet ist 2 5 . Bereits i m Investiturstreit des 11. Jahrhunderts hatten sich widerstreitende Interessen zwischen dem Kaisertum bzw. Königtum auf der einen und dem Papsttum auf der anderen Seite geltend gemacht. I n dem Maße, i n dem i m Laufe der darauf folgenden Zeit Papst .und Kirche i n gesteigerter Weise auch die politische Herrschaft 26 der respublica Christiana anstrebten, gerieten die — mittels der überlieferten Zwei-Schwerter-Lehre 2 7 versinnbildlichten — Grundpfeiler der christlichen Gemeinschaft zunehmend ins Wanken. Das Ganze mußte für den Fortbestand der universitas Christiana u m so bedrohlicher sein, als nunmehr auch das Papsttum i n die Auseinandersetzung m i t den auf Selbständigkeit drängenden nationalen und territorialen Herrschaftsverbänden verstrickt wurde. Die neuen, säkularen Tendenzen und Strömungen zeigen sich i n Frankreich mit ganz besonderer Deutlichkeit. Sie verdichten sich um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert i m K o n f l i k t zwischen 22
Ebd. Ebd., cap. 3, § 5, S. 36. 24 Z u r Gegenüberstellung von Diesseits (hoc seculum) u n d Jenseits (futur u m seculum) siehe ebd., cap. 4, § 4, S. 40. Vgl. auch ebd., § 3, S. 38. 25 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als V o r gang der Säkularisation (1967), i n : ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie u n d zum Verfassungsrecht, F r a n k f u r t a. M. 1976, S. 42—64. 26 Dazu Pacaut, L a théocratie. L'Eglise et le pouvoir au moyen âge, Paris 1957, S. 137 ff.; Kölmel, Regimen christianum. Weg u n d Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses u n d des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert), B e r l i n 1970, S. 205 ff. 27 Hierzu Borst, Der mittelalterliche Streit u m das weltliche u n d das geistliche Schwert, i n : W. P. Fuchs (Hg.), Staat u n d Kirche i m Wandel der J a h r hunderte, Stuttgart 1966, S. 34—52. 23
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Philipp dem Schönen und Bonifaz V I I I . 2 8 , der schließlich m i t der Gefangensetzung des Papstes endet und dazu führt, daß Papst und Kirche für mehr als ein halbes Jahrhundert unter die Vorherrschaft des französischen Königtums geraten. Die geistigen Wegbereiter des säkularen Selbstverständnisses sind nicht zuletzt die am römischen Recht geschulten französischen Legisten 29 , die ihre geschliffenen rechtlichen Argumente i n rationaler Weise als intellektuelle Waffen gegen Papst und Kirche einsetzen. A u f diesem durch Männer wie Wilhelm Nogaret, Pierre Dubois und Pierre Flöte bereiteten Boden konnte sich alsbald die Auffassung herausbilden, der französische König erkenne i n temporabilibus außer Gott niemanden über sich an, weder den Kaiser, noch den Papst (nec Imperatorem, nec Papam) und besitze infolgedessen die höchste Gewalt i n seinem Königreich (ius summae superioritatis i n regno suo) 30 . Das wachsende Bedürfnis nach einer Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt bleibt freilich nicht auf Frankreich beschränkt, sondern ergreift — wenn auch i n unterschiedlicher Intensität — die gesamte christlich-abendländische Welt. Den i m einzelnen verschiedenartigen politischen und philosophischen Strömungen liegt bei aller Unterschiedlichkeit i n Ansatz und Akzentuierung die wachsende Erkenntnis zugrunde, daß das Gemeinwesen als ein weltimmanenter Körper begriffen werden kann, der einen eigenen, positiven Wert besitzt und darum rational-diesseitiger Betrachtung zugänglich ist. Nicht von ungefähr beginnt die tradierte Vorstellung der respublica bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts von dem neuen Begriff des „status" 3 1 und damit derjenigen Bezeichnung überlagert zu werden, die seither für das politisch 28 Der i n zahlreichen politischen Streitschriften seinen Niederschlag gefunden hat, deren bedeutendste die den königlich-säkularen Standpunkt vertretende A b h a n d l u n g des Johannes von Paris ,De regia potestate et papali' darstellt (textkrit. Ed. m i t deutscher Übers, von F. Bleienstein, Stuttgart 1969). Dazu Podlech, Die Herrschaftstheorie des Johannes von Paris, i n : Der Staat 16 (1977), S. 465—492. 20 Vgl. hierzu Carl Schmitt, Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten, i n : Deutschland — Frankreich 1 (1942), S. 1—30 (11 ff.). 30 Vgl. die unter dem Namen „Rex pacificus" bekannt gewordene „Quaestio de potestate papae" (ed. Dupuy, Histoire d u différend d'entre le pape B o n i face V i l i et Philippe le Bel, Paris 1655, S. 663—683 [675]): „Reges autem Franciae longe plus quam a centum annis sunt i n possessione pacifica, quod solum Deum superiorem habent i n temporalibus, n u l l u m a l i u m recognoscentes superiorem i n istis, nec Imperatorem, nec Papam. Unde patet, quod per d i u t u r n a m possessionem est ipsis ius summae superioritatis i n regno suo taliter acquisitum." Dazu Rivière, Le problème de l'Eglise et de l'Etat au temps de Philippe le Bel, L o u v a i n 1926, S. 262 ff. (268). Z u r Gleichsetzung von K ö n i g - u n d Kaisertum siehe auch oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 1. 31 Vgl. Gaines Post, Status regni. Lestat D u Roialme i n the Statute of York, 1322, i n : ders., Studies i n Medieval Legal Thought, Princeton, N.J. 1964, S. 310—332. Siehe ferner Weinacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, B e r l i n 1968,
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verfaßte Gemeinwesen geläufig ist. Darüber hinaus zeichnet sich allmählich i n einer Vielzahl von Zusammenhängen jene Eigengesetzlichkeit der politischen Organisation menschlichen Zusammenlebens ab, die begrifflich als ratio publicae utilitatis oder schlechthin als ratio status 32 in Erscheinung t r i t t und seit dem 12. Jahrhundert rechtlich wie politisch zum Thema und Problem wird. Stellt man die am Beispiel der oberitalienischen Stadtstaatenwelt gewonnene politische Lehre Machiavellis i n den Kontext der zuvor geschilderten Entwicklung, so w i r k t sie weit weniger revolutionär und neuartig, als man gemeinhin annimmt 3 9 . Die Tatsache ihrer weltgeschichtlichen Wirkung w i r d damit weder bestritten noch geschmälert. Machiavelli kommt das nicht geringe Verdienst zu, i m einzelnen durchaus bekannte Auffassungen über Herrscher und Gemeinwesen dahingehend präzisiert und verschärft zu haben, daß 1) der — von i h m als Zustand gesicherter politischer Herrschaft verstandene — Staat (lo stato) 34 ein i m wesentlichen auf Macht gegründetes Gebilde darstellt, daß 2) alle Staaten i n ihrem Handeln an der necessità 35 , d. h. notwendig an ihrem Eigeninteresse ausgerichtet sind und daß es 3) vor allem darauf ankommt, das politische Leben so zu sehen, wie es ist, nicht hingegen, wie es sein sollte. Machiavelli verdeutlicht damit unübersehbar, daß der Prozeß der Ausbildung des frühmodernen Staates zugleich ein Vorgang der Herauslösung aus überkommenen religiösen und ethischen Bezügen ist. S. 57 ff., m i t zahlreichen Belegen, sowie Mager, Z u r Entstehung des modernen Staatsbegriffs, Wiesbaden 1968, S. 91, der darauf hinweist, daß bei den Theoretikern der P o l i t i k seit dem 14. Jahrhundert eine „Tendenz zur V e r schmelzung von status regalis m i t der Gesamtheit der Beherrschten sichtbar w i r d " . Vgl. auch Marongiu, L a parola stato i n alcuni documenti del TreQuattro — Cinquecento, i n : R I F D 50 (1973), S. 723—753 (743 f f.). 32 Siehe Post, Ratio publicae utilitatis, ratio status, and „Reason of State", 1100—1300, ebd., S. 241—309 (301 ff.). 33 Noch ganz der herkömmlichen Auffassung folgend: Schnur, Einleitung, i n : ders. (Hg.), Staatsräson, S. 11—25 (14 ff.). Vgl. demgegenüber Isaiah Berlin, The Originality of Machiavelli, i n : Gilmore (Hg.), Studies on Machiavelli, Firenze 1972, S. 149—206, der das Neuartige i m Denken Machiavellis nicht i n der Kategorie der Staatsräson erblickt, sondern darin, „ t h a t entire systems of value may come into collision w i t h o u t possibility of rational arbitration" (S. 201). 34 Wie dieser Zustand zu erreichen u n d zu erhalten ist („mantenere lo stato"), w i r d i m T r a k t a t über den Fürsten (II Principe) dargelegt. Vgl.: Tutte le opere, ed. F. Flora e C. Cordiè, 2. ed., Milano 1968, vol. 1, S. 1—64 (56). Dazu Grauhan, Der „Staat" des Machiavelli u n d der moderne Begriff des „ P o l i tischen", i n : Res Publica. Studien zum Verfassungswesen. Dolf Sternberger zum 70. Geburtstag, hg. von P. Haungs, München 1977, S. 115—140 (123 ff.). 35 Das W o r t „ragione d i stato", das erst ausgangs des 16. Jahrhunderts belegt ist, findet sich bei Machiavelli bekanntlich nicht. Daß die Staatsräson der Sache nach gleichwohl sein Denken kennzeichnet, betont m i t Recht Polin, Le concept de Raison d'Etat avant la lettre d'après Machiavel, i n : Schnur (Hg.), Staatsräson, S. 27—42.
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M i t der von i h m gewonnenen Einsicht i n die Eigengesetzlichkeit staatlichen Lebens und Handelns steht Machiavelli i n seiner Zeit freilich nicht allein. Er t r i f f t sich vielmehr, wenn auch unbeabsichtigt, i m Ergebnis mit den ganz anders gelagerten Intentionen der auf ein neues Verständnis geistlicher und weltlicher Gewalt drängenden Reformatoren, als auch diese von der Vorstellung einer mit theologischen Mitteln allein nicht mehr beherrschbaren Eigendynamik der sich ausbildenden säkularen politischen Gemeinwesen ausgehen. Namentlich die ZweiReiche-Lehre 96 Luthers zeugt von dem Bemühen, die Kirche als eine primär geistliche, unter der Herrschaft Christi stehende Gemeinschaft von der weltlichen Obrigkeit abzuheben, die demgegenüber als Ordnung zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens auf Erden begriffen wird. Während das geistliche Regiment die Menschen für den Stand der Seligkeit vorbereitet, so daß sie das ewige Leben erlangen, ist das weltliche Regiment der von Luther vertretenen Lehre zufolge der „vernunfft unterworffen und befohlen, w e i l es nicht der seelen heil noch ewiges gut, sondern allein leiblich und zeitlich güter regiren soll" 3 7 . Luther verleiht damit aus der Erkenntnis heraus, daß zu äußeren Dingen der Heilige Geist „nicht von nöten" 3 8 ist, aller weltlichen Herrschaft einen eigenen Rang und Wert, der letztlich seiner — freilich nicht unproblematischen — Einsicht i n die Vernunftgeleitetheit menschlicher politischer Ordnung i m Sinne einer „modifizierten Staatsräson" 39 entspringt. Auch die Lehre von den zwei Reichen oder Regimenten stellt keine Neuerung der Reformationszeit dar, sondern gründet — von den augustinischen Wurzeln 4 0 abgesehen — i n jenen spätmittelalterlichen Auffassungen einer Trennung des geistlichen und des weltlichen Schwertes, wie sie i n besonderer Klarheit bereits bei Marsilius von Padua 41 formu88 Hierzu grundlegend: Johannes Heckel, I m Irrgarten der Zwei-ReicheLehre, München 1957. Ferner Siegfried Grundmann, Kirche u n d Staat nach der Zwei-Reiche-Lehre Luthers (1963), i n : ders., Abhandlungen zum Kirchenrecht, K ö l n 1969, S. 274—297, sowie Duchrow, Christenheit u n d Weltverantwortung. Traditionsgeschichte u n d systematische S t r u k t u r der Zweireichelehre, Stuttgart 1970, S. 439 ff. 37 Martin Luther, Auslegung des 101. Psalms, 1534—1535 (Werke, Weimarer Ausgabe, 51, S. 197 ff. [242]). Vgl. auch ders., Ob Kriegsleute auch i n seligem Stande sein können, 1526, ebd., 19, S. 616 ff. (629). Hierzu Georg-Christoph von Unruh, Obrigkeit u n d A m t bei L u t h e r u n d das von i h m beeinflußte Staatsverständnis, i n : Schnur (Hg.), Staatsräson, S. 339—361 (341 ff.). 38 Vgl. Luther, V o n den Konziliis u n d Kirchen, 1539 (WA 50, 488 ff. [553]). 39 Vgl. von Unruh, Obrigkeit u n d A m t bei Luther, S. 354. 40 Hierzu Kretschmar, Die zwei Imperien u n d die zwei Reiche, i n : Ecclesia u n d Res Publica, hg. von dems. u. B. Lohse, Göttingen 1961, S. 89—112. 41 Vgl. Johannes Heckel, Marsilius von Padua u n d M a r t i n Luther. E i n Vergleich ihrer Rechts- u n d Soziallehre (1958), i n : ders., Das blinde, u n deutliche W o r t „Kirche". Gesammelte Aufsätze, hg. von S. Grundmann, K ö l n 1964, S. 49—110.
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liert sind. Was die Tiefe und Breite der Wirkung angeht, so erlangt diese ursprünglich rein theologisch konzipierte Lehre ihre politische Brisanz i m Laufe des 16. Jahrhunderts vor allem deshalb, w e i l sie i n einen breiten Strom politischen Denkens und Handelns eingeordnet ist, i n dessen Verlauf der frühmoderne Staat sich Bahn bricht, und weil ihr darüber hinaus Überlegungen i n den Denkkategorien der Vernunft dieses Staates nicht fremd sind. Für die Universalität des m i t der Staatsräson bezeichneten Strukturproblems spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß noch i m Verlauf des 16. Jahrhunderts m i t Giovanni Botero auch ein Vertreter der katholischen Reformbewegung die ursprünglich von der Kirche völlig abgelehnte Lehre i n die überkommene christlich-katholische Wertordnung einfügt und ihr m i t Erfolg dienstbar macht 42 . Aus dem Vorangegangenen erhellt, daß die Staatsräson nicht nur i n einem bestimmten, geschichtlich-einmaligen Kontext von Belang ist 4 3 , sondern als ein ständiger und wesentlicher — mitunter verdeckter — Bestandteil des politischen Lebens das Werden des frühmodernen Staates i n vielfältiger Ausgestaltung begleitet. Ratio w i r d damit zum Inbegriff staatlicher Existenz und staatlicher Selbstbehauptung, m. a. W. zum Ausdruck einer strukturellen Besonderheit des modernen Staates überhaupt, der seinen Bestand und seine Funktionsfähigkeit als vernünftigen, d. h. legitimen Zweck setzt. 2. Die Souveränität staatlicher Herrschaftsgewalt
Die Souveränität ist, folgt man einer hergebrachten Auffassung, als die höchste, von den Gesetzen entbundene Gewalt über Bürger und Untertanen (summa i n cives ac subditos legisbusque soluta potestas) erstmals von Jean Bodin auf den Begriff gebracht worden 4 4 . Man bringt ihr Aufkommen i m allgemeinen m i t der historisch-politischen Situation i m Frankreich des 16. Jahrhunderts in Verbindung, wo sie sich als ordnungsstiftende rechtliche A n t w o r t auf die Herausforderung des konfessionellen Bürgerkrieges 45 zuerst herausgebildet habe. Die Souveräni42 Vgl. sein erstmals 1589 erschienenes W e r k : Della ragion d i Stato. A cura d i C. Morandi, Bologna 1930. Dazu Rodolfo de Mattel , L a posizione dottrinale del Botero e le recenti interpretazioni critiche, i n : Bolletino della Società per g l i studi storici, archeologici ed artistici nella provincia d i Cuneo 34 (1954), S. 29—49. 43 Das betont zutreffend Helmut Rumpf, Die Staatsräson i m demokratischen Rechtsstaat, i n : Der Staat 19 (1980), S. 273—292 (275 ff.). 44 Bodin, De Republica l i b r i sex, ed. Francofurti 1594, lib. I, cap. 8, S. 123. I n der bereits i m Jahre 1576 erschienenen französischen Erstausgabe w i r d die Souveränität als „puissance absolue" bezeichnet. Vgl. Les six livres de la République, I, 8, S. 122 (ed. Paris 1583, Neudr. Aalen 1961). 45 Vgl. Greenleaf, Bodin and the Idea of Order, i n : Denzer (Hg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internat. Bodin-Tagung i n München, München
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tät erscheint auf diesem Hintergrund als Ausdruck von Macht- und Konzentrationsprozessen, welche die europäische Staatenwelt seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts nachhaltig bestimmen und maßgeblich zur Ausbildung moderner Staatlichkeit beigetragen haben. So wenig bestritten werden kann, daß die Begriffsbildung Bodins bis i n unsere Tage hinein ihre — freilich mannigfach gebrochene — Wirkung entfaltet, so sehr werden ihre Neuartigkeit und Originalität überschätzt 46 . Bodin selbst ist bekanntlich außerordentlich interessiert daran gewesen, die Souveränität als etwas unerhört Neues erscheinen zu lassen. Zum einen w i l l er zu Beginn seines berühmten Souveränitätskapitels glauben machen, daß niemand vor ihm den Begriff definiert habe 47 . Zum anderen hat er eine spätere Überprüfung der gedanklichen Genese seiner begrifflichen Bemühungen zu verhindern gewußt, weil er kurz vor seinem Tode die Vernichtung jener Frühschriften anordnete 48 , die darüber vermutlich hätten wesentlichen Aufschluß geben können. Tatsächlich lassen sich die tragenden Elemente der Souveränitätskonzeption Bodins i m mittelalterlichen Rechts- und Staatsdenken 49 nachweisen. Sie sind sowohl i n Kanonistik und Legistik aufzufinden, wo sie sich vor allem i n der Vorstellung der absoluta potestas niedergeschlagen haben, als auch i n der scholastischen Rechts- und Staatsphilosophie aufzuspüren, wo sie ihre Sprengkraft aus dem Vergleich weltlicher Herrschaftsmacht m i t der omnipotentia Dei beziehen 50 . Darüber hinaus bildet sich i n der den aufsteigenden frühmodernen Staat begleitenden Publizistik 5 1 eine spezifische öffentlichrechtliche Argumentation heraus, 1973, S. 23—38. Z u r Grundlegung i n der ordnungspolitischen Konzeption der als „ P o l i t i k e r " bekannten, staatsbezogenen französischen Juristen siehe Schnur, Die französischen Juristen i m konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, B e r l i n 1962. 48 Vgl. etwa Quaritsch, Staat u n d Souveränität, S. 243 ff. (247), der zu sehr auf das „grundlegend Neue" der Konzeption Bodins abstellt. Siehe demgegenüber Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, i n : Achterberg / K r a w i e t z (Hg.), Legitimation des modernen Staates, Wiesbaden 1981 (ARSP, Beih. Nr. 15), S. 1—14 (6 f.), der betont, daß der Staat i m heutigen Sinne nicht etwa erst i m 16. Jahrhundert, insbesondere nicht durch die Souveränitätslehre Bodins begründet sei. Die politische Theorie seit der A n t i k e bilde vielmehr eine Einheit, deren Tradition der Probleme „niemals unterbrochen worden ist". 47 Bodin , De Republica, lib. I, cap. 8, S. 123: „Principio definienda f u i t maiestas, quam nec philosophorum nec Iurisconsultorum quisquam definiit." 48 Das berichtet Chauvir é, Jean Bodin, auteur de la „République", Paris 1914, Neudr. Genève 1969, S. 95. 49 Hierzu Giesey , Medieval Jurisprudence i n Bodin's Concept of Sovereignty, i n : Denzer (Hg.), Jean Bodin, S. 167—186. Dazu oben Abschnitt I, Kap. 3, § 7, Nr. 1. 51 Siehe oben ebd. Kap. 2, § 5, Nr. 2.
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welche die Souveränitätsthematik aufnimmt und mit Zielrichtung vor allem gegen Papst, Kaiser und Reich als rechtliche Waffe i m politischen K o n f l i k t einsetzt. Es ist nicht von ungefähr das relativ früh sich stabilisierende, seiner Macht wohl bewußte französische Königtum, das eben jene Rechte für sich reklamiert, auf denen Papst und Kaiser namens der von ihnen regierten respublica Christiana ihrerseits bestehen. Schon um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert w i r d der französische König i n der anonymen, wahrscheinlich von einem Legisten verfaßten ,Disputatio inter clericum et militem' als die höchste Instanz überhaupt bezeichnet (qui est summus) 52 . Pierre Dubois beleuchtet diesen Aspekt etwa u m die gleiche Zeit terminologisch noch schärfer, indem er sich auf die dem König von Frankreich zukommende höchste Macht königlicher Majestät (summa potestas regiae majestatis) beruft 5 3 . Daß es sich hierbei u m die Ausübung und Durchsetzung höchster Gewalt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen handelt, hatte bereits i n den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts der königliche Rat Philippe de Beaumanoir 54 verdeutlicht, als er den französischen König seinen Baronen gegenüber „souverains par dessus tout" nannte. Mitunter w i r d noch immer die Ansicht vertreten, die legistische Souveränitätsdiskussion sei bloß abstrakter Natur und durch das geltende Recht nicht gedeckte Theorie 55 geblieben. Diese Auffassung ist schon deshalb problematisch, weil i n der Legistik durchgängig solche Argumente vorgetragen werden, die jeweils aus einer bestimmten Praxis, d. h. aus konkreten rechtlichen Zusammenhängen hervorgegangen und durch diese bedingt sind. Eine nur theoretische Reflexion über abstrakte, von realen Bezügen gelöste Probleme hätte königlichen Beratern, anders als i m übrigen den zeitgenössischen Philosophen, durchaus ferngelegen. Aber die Souveränitätsüberlegungen beziehen ihre rechtliche Relevanz nicht nur aus unmittelbarer Praxisbezogenheit. Sie sind vielmehr i n den größeren gemeineuropäischen Vorgang frühmoderner Staatwerdung 52
Ed. Simon S char d, Syntagma tractatuum de imperiali jurisdictione, A r gentorati 1609, S. 75—80 (80). Z u Entstehungszeit u n d Verfasser siehe Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen u n d Bonifaz' V I I I . , Stuttgart 1903, Neudr. Amsterdam 1962, S. 335 ff. 53 I n der bislang unpublizierten „Summaria brevis et compendiosa doctrina felicis expeditionis et abreviationis guerrarum ac l i t i u m regni Francorum". Vgl. Hellmut Kämpf, Pierre Dubois u n d die geistigen Grundlagen des französischen Nationalbewußtseins u m 1300, Leipzig 1935, S. 15. Siehe auch Scholz, Publizistik, S. 385. 54 Coutumes de Beauvaisis, chap. X X X I V , Nr. 1034 (ed. A . Salmon, Paris 1900, Bd. 2, S. 23). Dazu, jedoch zu sehr auf die Grenzen spätmittelalterlicher Souveränität abstellend, Marcel David, L a souveraineté et les limites j u r i d i ques d u pouvoir monarchique du 9 e au 15 e siècle, Paris 1954, S. 67 ff. 55 Vgl. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, S. 168 f.
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eingeordnet, der i n Frankreich nur besonders pointiert hervortritt. Wenngleich sich begreiflicherweise eine bestimmte „Geburtsstunde des souveränen Staates" 58 nicht ausmachen läßt, so kann man doch allmählich sich abzeichnende Strukturen und Funktionszusammenhänge erkennen, die für die frühmoderne Staatwerdung typisch und langfristig bedeutsam sind. Wie Bodin richtig gesehen hat, stellt die Rechtsetzung einen solchen Funktionszusammenhang dar. Die Gesetzgebungskompetenz w i r d von i h m deshalb als das entscheidende K r i t e r i u m der Souveränität betrachtet (primum ac praecipuum caput maiestatis) 57 . Freilich ist Bodin i n diesem Punkt keineswegs besonders originell oder gar revolutionär zu nennen, wenn man ihn an den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen mißt. Bereits Bartolus war der Umstand, daß der potestas legem condendi 58 zentrale Bedeutung für den Herrschaftsverband zukommt, durchaus vertraut. Das gilt gleichermaßen für die Kanonisten, die den Vorgang kirchlicher Rechtsbildung von der päpstlichen plenitudo potestatis 59 her begreifen. Aber auch i n den aufsteigenden nationalen und territorialen Herrschaftsverbänden w i r d die herrschaftliche Gewalt vor allem als Rechtsetzungsbefugnis verstanden und praktiziert. Wiederum fällt Frankreich angesichts einer zusehends sich entfaltenden königlichen Gesetzgebung 00 schon früh eine Führungsposition zu. Noch vor dem Ende des 13. Jahrhunderts kann Philippe de Beaumanoir mit Grund feststellen, auch was dem französischen König beliebe, habe Gesetzeskraft (doit estre tenu pour loi) 6 1 und damit eine Einsicht erzielen, die i n der Folgezeit nicht mehr verlorengeht. W i l l man die Leistung Bodins vor dem Hintergrund der dargelegten rechtlichen und staatlichen Entwicklung zureichend würdigen, so w i r d man vor allem darauf verweisen, daß i n seinem Souveränitätsbegriff einzelne, durchaus bekannte, jedoch i n dieser Weise noch nicht zusammengefaßte Elemente gebündelt werden; ferner darauf, daß die staatliche Funktion der Gesetzgebung nunmehr aus dem Zusammenhang der Jurisdiktion weitgehend gelöst, d.h. relativ verselbständigt i n Er56 Siehe hierzu von der Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, Regensburg 1952, der ungeachtet des Titels, den er seinem Werk gegeben hat, v o n einem „langsamen Gestaltwerden des modernen souveränen Staats i m politischen Denken u n d i n der politischen Praxis" zwischen 1250 u n d 1350 überzeugt zu sein scheint (S. V I I I , 10). 57 Bodin, De Republica, lib. I, cap. 10, S. 240. 58 Siehe oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 1, S. 70. 59 Dazu oben ebd. Kap. 3, § 7, Nr. 1. 60 Vgl. hierzu Bongert , Vers la formation d'un pouvoir législatif royal (fin l i e - d é b u t 13e siècle), i n : Etudes offertes à Jean Macqueron, Aix-en-Provence 1970, S. 127—140. 61 Coutumes, chap. X X X V , Nr. 1103 (ed. Salmon, Bd. 2, S. 63).
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scheinung t r i t t 8 2 . Daß eine derartige Begriffsbildung ohne die vielhundertjährige Vorentwicklung i n Legistik und Kanonistik wohl kaum möglich gewesen wäre, schmälert sein Verdienst keineswegs. Indem er die überlieferten Elemente mittels der Rechtsetzungskompetenz zu einer begrifflichen Einheit verschmolz, legte er zugleich ein i n seiner ganzen Bedeutung bislang nicht voll zum Bewußtsein gebrachtes Strukturproblem staatlich organisierter Herrschaft überhaupt offen. Dieses Strukturproblem liegt nicht so sehr i n der Erkenntnis, daß staatliche Herrschaft notwendigerweise absolute Herrschaft sei, sondern i n der darüber hinausführenden Einsicht, daß der Staat die Anpassung an veränderte innen- oder außenpolitische ,Lagen' 63 m i t Hilfe der Setzung neuen Rechts gleichsam routinemäßig bewältigen kann und darf. Bodin hat freilich i m Rahmen seiner Souveränitätslehre mehr Fragen aufgeworfen, als er schließlich zu beantworten wußte. Zum einen bleibt er eine befriedigende A n t w o r t darauf schuldig, wie man sich das Verhältnis der absoluta potestas zu der — von i h m weiterhin befürworteten — Bindung an göttliches und natürliches Recht vorzustellen habe 84 . Entsprechendes g i l t für die Reichsgrundgesetze (leges imperii) 6 5 , deren Beziehung zur souveränen Herrschaftsgewalt unklar geblieben ist. Denn eine zuvor als absolut vorgestellte staatliche Herrschaftsgewalt verliert ihren Sinn, wenn sie zugleich der Bindung an bestimmte Fundamentalnormen unterliegen soll 68 . Zum anderen w i r d nicht hinreichend deutlich, wem die Souveränität letztlich zusteht, w e i l Bodin i n seinen Darlegungen schwankt, d. h. einmal der respublica als solcher, andererseits dem Herrscher selbst den Vorzug gibt 6 7 . A l l das mag, wie man gesagt hat, seinen Grund darin haben, daß das rationale Denken Bodins den Einfluß der politischen Gegebenheiten seiner Zeit noch nicht angemessen zu bewältigen vermag 68 . Da es i h m nicht darum zu t u n ist, eine neue politische Ordnung zu entwerfen, kann er sich den Vor82 Dazu Mohnhaupt, Potestas legislatoria u n d Gesetzesbegriff i m Ancien Régime, i n : lus Commune 4 (1972), S. 188—239 (190). 63 U m m i t Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 15, zu sprechen. 84 W e i l nicht hinreichend geklärt werden kann, was darunter eigentlich zu verstehen sei. Vgl. De Republica, lib. I, cap. 8, S. 159 ff. Das gesteht auch Quaritsch, Staat u n d Souveränität, S. 383 ff. (392) zu, wenn er das Ergebnis der Argumentation Bodins als „ q u a n t i t a t i v d ü r f t i g " bezeichnet. 85 Vgl. Bodin, De Republica, lib. I, cap. 8, S. 139 ff. 88 Vgl. demgegenüber die von Althusius vorgeschlagene Problemlösung, derzufolge die staatliche Herrschaftsgewalt eine immer schon rechtlich gebundene ist. Dazu näher unten unter Nr. 3, S. 129 ff. 87 M. a. W. : Bodin k a n n auf der Grundlage seines Staatsbegriffs ,Princeps legibus solutus' u n d ,Potestas legibus soluta' nicht zur Deckung bringen. Vgl. De Republica, lib. I, cap. 8, S. 123 ff. 88 Vgl. Dennert, Ursprung u n d Begriff der Souveränität, Stuttgart 1964, S. 65.
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Stellungen der tradierten Ordnung nicht ohne weiteres entziehen. Erst der Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts w i r d sich den aufgegebenen Problemen erneut und m i t geschärftem theoretischen Rüstzeug zuwenden. Bodin kommt i n dieser langfristigen Entwicklung eine Position der Mitte 6 9 zu zwischen überlieferten Auffassungen, die er resümiert, und neuen Denkansätzen, die er zwar anvisiert, aber noch nicht zureichend rational zu durchdringen vermag. 3. Die vertragliche Begründung staatlicher Herrschaft
Die als souverän vorgestellte staatliche Herrschaftsgewalt ist i n den Darlegungen Bodins keineswegs völlig schrankenlos konzipiert. Gleichwohl hat er offenbar das Leitbild eines zwar gemäßigten, jedoch durchaus monarchisch-absolut regierten Staates vor Augen. Nicht von ungefähr w i r d den ständischen Kräften i n seinen Überlegungen nur eine marginale Position 70 eingeräumt. Folgerichtig ist das Gesetz als Befehl (iussum) an die Untertanen ausgestaltet, kommt also ohne deren M i t w i r k u n g (sine consensu) zustande 71 . Bodin bringt hiermit einen wichtigen Teilaspekt frühmoderner Staatlichkeit zum Ausdruck, insoweit diese tatsächlich durch Konzentrationsprozesse öffentlicher Herrschaftsgewalt gekennzeichnet ist, die auf die Zusammenziehung essentieller Herrschaftsrechte abzielen. Das gesellschaftliche Substrat dieser Konzentrationsbewegung w i r d i m allgemeinen i n jener tiefgreifenden sozialen Disziplinierung aller Lebensbereiche gesehen, die von dem Verfassungshistoriker Gerhard Oestreich mit Recht als „FundamentalVorgang, als Grundtatsache und als Leitidee" des Absolutismus herausgestellt worden ist 7 2 . Es wäre jedoch zu eng, den vielschichtigen Vorgang frühmoderner Staatwerdung ausschließlich unter dem Aspekt von Konzentration und Disziplinierung zu sehen. Es geht vielmehr u m einen tiefer- und weiterreichenden Prozeß funktionaler Differenzierung 73 , i n dessen Verlauf 69 Hierzu: Imboden, Johannes Bodinus u n d die Souveränitätslehre (1963), i n : ders., Staat u n d Recht. Ausgew. Schriften u n d Vorträge, Basel 1971, S. 93—110 (94). 70 Vgl. dazu Scheuner, Ständische Einrichtungen u n d innerstaatliche K r ä f t e i n der Theorie Bodins, i n : Denzer (Hg.), Jean Bodin, S. 379—397, m i t Hinweis darauf, daß Bodin die Existenz der Stände zwar anerkennt, ihnen wegen des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Souveränität jedoch keinen Raum f ü r eine entscheidende Mitbestimmung läßt (S. 394). 71
Bodin, De Republica, lib. I, cap. 8, S. 159; cap. 10, S. 240. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus (1969), i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, B e r l i n 1969, S. 179—197 (187). Dazu Rassem, Bemerkungen zur ,Sozialdisziplinierung' i m frühmodernen Staat, i n : ZfP 30 (1983), S. 217—238. 72
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die frühmoderne Gesellschaft durch die Ausbildung sozialer und politischer Institutionen sich komplexer werdenden Umweltverhältnissen anpaßt. Daß auch die Stände i n diesen Prozeß einbezogen sind, ist i n der verfassungsgeschichtlichen Forschung lange Zeit nicht genügend berücksichtigt worden. Man wollte i n den Ständen mehr widerstrebende und retardierende, vor allem auf i h r Eigeninteresse bedachte Kräfte 7 4 sehen, die die Staatsbildung nicht gerade gefördert haben. Inzwischen hat die neuere Ständeforschung die älteren Auffassungen weitgehend korrigiert, und man sieht nun deutlicher, daß — wenngleich nicht überall und nicht immer i n der gleichen Intensität — ständische, lokale und partikulare Kräfte an der Ausformung des frühmodernen Staates nicht nur ihren A n t e i l haben, sondern auch zu Mitträgern 7 5 dieses umfassenden Prozesses geworden sind. Damit rücken zugleich die ständischen Vertretungen i n den Blick, die als Zwischeninstanzen eine wichtige staatliche Funktion ausüben und i n langfristiger Entwicklungsperspektive als unmittelbare Vorgänger moderner parlamentarischer Repräsentation 76 angesehen werden können. Neben den Ständen fällt darüber hinaus den Städten 77 eine wichtige Rolle i m Prozeß frühmoderner Staatsbildung zu, w e i l hier erstmals jene Ansätze früher bürgerlicher Herrschaftsordnung verwirklicht werden, die dem demokratisch-parlamentarisch verfaßten staatlichen Gemeinwesen strukturprägend voraufgegangen sind. 73
Hierzu Luhmann, Gesellschaft, i n : ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, S. 137—153 (139 f.). 74 Vgl. etwa Spangenberg, Landesherrliche Verwaltung, Feudalismus u n d Ständetum i n den deutschen Territorien des 13.—15. Jahrhunderts, i n : H Z 103 (1909), S. 473—526 (507). Noch ganz der älteren Auffassung verpflichtet: Heinrich Otto Meisner, Staats- u n d Regierungsformen i n Deutschland seit dem 16. Jahrhundert (1951/52), i n : H . H . Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 321—350 (323 f.), der i m monarchisch-ständischen Dualimus eine „Spaltung des Staates" bzw. eine „Halbierung der Staatsgewalt" sehen w i l l . 75 Vgl. Oestreich, Ständetum u n d Staatsbildung i n Deutschland (1967), i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, S. 277—289. Z u m Beitrag der Stände zur Ausbildung zentraler moderner Herrschaftsformen siehe ferner Ulrich Lange, Der ständestaatliche Dualismus. Bemerkungen zu einem Problem der deutschen Verfassungsgeschichte, i n : B D L G 117 (1981), S. 311— 334 (318 ff.). 76 Dazu Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus u n d seine Grundlagen i n der ständischen Repräsentation, B e r l i n 1977, der i n seinem V o r w o r t m i t Grund hervorhebt, daß man i n Europa die Entwicklung von der ständischen zur parlamentarischen Repräsentation „als einen einheitlichen Prozeß zu betrachten hat" (S. 7). Siehe auch Oestreich, Z u r Vorgeschichte des „Parlamentarismus. Ständische Verfassung, Landständische Verfassung u n d L a n d schaftliche Verfassung (1979), i n : ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. von B r i g i t t a Oestreich, B e r l i n 1980, S. 253— 271. 77 So vor allem Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, S. 300 ff. Siehe auch oben Abschnitt I, Kap. 2, § 4, Nr. 2, S. 82.
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Es leuchtet ein, daß der ständische Aspekt frühmoderner Staatsbildung mit den Mitteln der Souveränitätsterminologie Bodins nur schwer zu erfassen war. Sein Souveränitätsbegriff mußte sich vor allem aufgrund der i h m eigenen Absolutheit als zu unelastisch erweisen, u m einer komplexen Entwicklung gerecht zu werden. Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn i n der Reflexion über Recht und Staat für diesen F a l l andere Problemlösungsmöglichkeiten einer Begründung und Legitimation staatlicher Herrschaft ausgebildet worden sind. I n der Tradition rechts- und staatswissenschaftlicher Überlegungen fanden die den frühmodernen Staat von seinen ständischen und genossenschaftlichen Aspekten her angehenden Juristen einen Erklärungsansatz i n jenen Denkmodellen, die das Phänomen staatlich organisierter Herrschaft auf einer konsensualen Grundlage zu erfassen suchen. Die Ursprünge derartiger Lehren sind bis i n die griechische Rechts- und Staatsphilosophie zurückzuverfolgen, wo sie i n dem Versuch der Sophisten 78 , die Staatwerdung als ein bewußtes Werk von sich selbst vereinigenden Menschen zu erklären, erste Gestalt annehmen. Ihre rechtliche Form gewinnen diese Überlegungen nicht zuletzt dank der geistigphilosophischen Vermittlung Ciceros 79 i m römischen Reich der Prinzipatszeit. Sie haben insbesondere i n der römisch-rechtlichen Lex regia Ausdruck gefunden, die davon ausgeht, daß die — ursprünglich^ beim Volke liegende — Herrschaftsgewalt mittels eines Rechtsaktes auf den Herrscher übertragen worden sei 80 , diesem m i t h i n ein bloß delegiertes Herrschaftsrecht zustehe. I m hohen und späten Mittelalter w i r d i m Rahmen der Erneuerung des römischen Rechts diese Vorstellung des Verhältnisses von Recht und Herrschaft aufgenommen und fortentwickelt. Sie geht dort eine Verbindung mit jenen germanischen und feudalen Rechtsüberlieferungen ein, denen eigen ist, Herrschaft als etwas Mehrseitiges 81 zu betrachten. A m frühesten hat offenbar Manegold von Lautenbach die Konsequenzen dieser Herrschaftskonzeption gezogen, als er i m ausgehenden 11. Jahrhundert die Auffassung vertrat, daß der König durch Vertrag 78 Z u r Vertragslehre der Sophisten siehe d'Agostini , I l pensiero giuridico nella sofistica, i n : R I F D 52 (1975), S. 193—216, S. 547—573. 79 Vgl. dazu Cancelli, „ I u r i s consensu" nella definizione ciceroniana d i ,Res Publica 4 , i n : Studi i n memoria d i Guido Donatuti, Milano 1973, vol. 1, S. 211—235 (234 f.). 80 Dig. 1, 4, 1 pr. Dazu Karl Loewenstein, The Governance of Rome, The Hague 1973, S. 271 ff. (273), der m i t Recht auf die weitreichenden Folgewirkungen dieser rechtlichen K o n s t r u k t i o n hinweist. 81 Z u r Konsensgebundenheit des Herrschers siehe Fritz Kern, Gottesgnadentum u n d Widerstandsrecht, S. 129 ff., 278 ff. Vgl. ferner Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, 5. deutsche Aufl., Darmstadt 1977, S. 71 ff. (86).
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(pactum) 82 eingesetzt werde. Manegold, Anhänger der päpstlichen Partei i m Investiturstreit, gedachte hiermit, den König seiner geistlichen Legitimation zu berauben, w e i l dieser sein Herrschaftsrecht ,lediglich' auf das Volk zurückführen könne. Er wurde auf diese Weise, wenngleich unbeabsichtigt, zum Vertreter eben jener säkularen Herrschaftslegitimation, die alle weltliche Herrschaftsgewalt als eigenständig begreift und der geistlichen konfrontiert. I n der legistischen Jurisprudenz hat der Gedanke einer vertraglichen Herrschaftsbegründung seine Ausformung i n der konzessualistischen Deutung der Lex regia 8 3 erhalten, nach der alle Herrschaftsgewalt lediglich zur Ausübung überlassen ist. Bartolus, dem das B i l d der ,civitas sibi princeps' vorschwebt, ist auf diesem Wege am konsequentesten vorangeschritten, indem er die Konzeption eines regimen ad populum vorlegte, i n der alle Herrschaft als zeitlich befristeter Auftrag (regimen per tempus) vorgestellt wird 8 4 . Die i m einzelnen aus unterschiedlichen Quellen schöpfenden A u f fassungen sind zunächst weder zusammengefaßt noch i n irgend einer Weise systematisiert. Eine veränderte geistige Ausgangslage ergibt sich erst m i t der i m Laufe des 13. Jahrhunderts allmählich durchdringenden Aristotelesrezeption. Aus dem philosophisch-politischen Werk des A r i stoteles konnte man die Erkenntnis ziehen, daß die respublica Christiana nicht die einzig mögliche Form politischer Herrschaft sei, sondern daß es auch andere legitime Herrschafts- und Regierungsformen gebe. Unter den vielfältigen Möglichkeiten einer Klassifikation schält sich als Gegenposition zur alleinigen Kaiser- oder Königsherrschaft (regimen regale) die sogenannte politische Herrschaft (regimen politicum) heraus, die dadurch gekennzeichnet ist, daß dem Herrscher keine unumschränkte Macht (secundum arbitrium), sondern eine durch die Gesetze der Bürger beschränkte Herrschaftsgewalt (secundum leges quas cives instituerunt) zukommt 8 5 . 82 Manegold von Lautenbach, A d Gebehardum liber, ed. K . Francke, i n : M G H , L i b e l l i de lite, 1.1, S. 300—430, cap. X X X , S. 365. Dazu Horst Fuhrmann, „Volkssouveränität" u n d „Herrschaftsvertrag" bei Manegold von L a u tenbach, i n : Festschrift f ü r Hermann Krause, hg. von St. Gagnér (u. a.), K ö l n 1975, S. 21—42 (26 ff.). 83 Siehe dazu oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 2, S. 75 f. 84 Vgl. Bartolus, Tractatus de regimine civitatis, i n : ders., Consilia, Quaestiones et Tractatus, S. 417—421 (S. 420, Nr. 18). Z u r ,civitas sibi princeps 4 siehe oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 1, S. 68. 85 So der Thomas-Schüler Aegidius Romanus, De regimine p r i n c i p u m l i b r i I I I , Romae 1556, Neudr. F r a n k f u r t 1968, lib. I I , pars 1, cap. 14, Bl. 154 v/155 r i m Anschluß an die Ausführungen seines Lehrers (In libros Politicorum Aristotelis expositio, ed. R. M. Spiazzi, T a u r i n i 1951, lib. I, lectio 1, Nr. 13, S. 6).
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I n diesem Punkt setzt Marsilius von Padua ein und faltet i n enger Anlehnung an Aristoteles die Position des regimen politicum weiter aus. I h m erscheint diejenige Herrschaftsform als die beste, i n der die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (civium universitas aut eius pars valencior) 88 die bewegende Kraft des Ganzen darstellt, so daß dem Herrscher (pars principans) 87 lediglich ausführende Funktionen verbleiben. Letztlich existiert für Marsilius nurmehr eine richtige Staatsform: diejenige, bei der die Zustimmung der Bürger (subditorum consensus) gesichert ist 88 . Dem Ganzen liegt, schon vom Ansatz her, eine vertragsmäßige Auffassung des Gemeinwesens zugrunde, die begrifflich i n der Vorstellung einer freien Vereinbarung von Menschen (congregacio) 89 zum Ausdruck gelangt ist. M i t Recht hat vor diesem Problemhintergrund C.-F. Menger darauf hingewiesen, daß Marsilius von Padua ebenso wie dessen jüngerer Zeitgenosse Wilhelm von Ockham „bereits den ganzen für die Naturrechtslehre und deren Vertragstheorie typischen Gedankengang (entwickelten)" 90 . Einmal i n dieser Form dargelegt, w i r d die Lehre weitergetragen und namentlich durch Nikolaus von Kues ausgestaltet, dem der consensus91 das wichtigste Grundgesetz menschlicher Ordnung überhaupt ist. Auch i n der Reformation behält die vertragliche Begründung staatlicher Herrschaft ihre Bedeutung, w i r d jedoch nicht i m Bereich lutherischer, sondern reformiert-calvinistischer Lehren aufgenommen, wo entsprechend dem Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen das Modell einer presbyterialen Kirchenverfassung alsbald zu korrespondierenden A n nahmen über das Staatswesen führt 9 2 . Hieraus ergibt sich, wie der 80 Defensor Pacis I, cap. 12, § 1 ff., S. 116 ff. (§ 3, S. 118). Z u m Mehrheitsbegriff des Marsilius, der quantitative u n d qualitative Elemente umfaßt, siehe D i Vona, I p r i n c i p i del Defensor Pacis, Napoli 1974, S. 428 ff. 87 Ebd., cap. 9, § 1 ff., S. 76 ff. (§ 1, S. 76); cap. 15, § 4, S. 160. 88 Ebd., cap. 9, § 5, S. 86. 89 Ebd., cap. 4, § 5, S. 42. 90 Vgl. C.-F. M enger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 8, Rdnr. 18. Siehe ferner Grignaschi, Le problème d u contrat social et de l ' o r i gine de la „civitas" dans la scolastique, i n : A l b u m Emile Lousse, 1.1, L o u v a i n 1961, S. 65—85 (75). 91 Vgl. De Concordantia Catholica, lib. I I , cap. 14, Nr. 127 (ed. Kallen, S. 162): „Unde cum natura omnes sint liberi, tunc omnis principatus, sive consistât i n lege scripta sive v i v a apud principem . . . est a sola concordantia et consensu subiectivo." Dazu Kallen, Die politische Theorie i m philosophischen System des Nikolaus von Kues (1942), i n : ders., Probleme der Rechtsordnung i n Geschichte u n d Theorie, K ö l n 1965, S. 141—171 (151). Ferner Meuthen, Konsens bei Nikolaus von Kues u n d i m Kirchenverständnis des 15. J a h r hunderts, i n : P o l i t i k u n d Konfession. Festschrift für K o n r a d Repgen zum 60. Geburtstag, hg. von D. Albrecht (u. a.), B e r l i n 1983, S. 11—29. 92 Dieser Zusammenhang ist seinerzeit von Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen u n d Gruppen, Tübingen 1922, Neudr. Aalen 1961 (zuerst 1912), S. 683 ff., dargelegt worden. Vgl. nunmehr Joachim Staedtke, Demokratische Traditionen i m westlichen Protestantismus (1969): i n : ders.,
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vermutlich auf den Calvin-Schüler Theodor Beza zurückgehenden Schrift ,De iure magistratuum' 9 3 zu entnehmen ist, daß alle Herrschaft, auch die oberste, auf die öffentliche Autorität (publica authoritas) derjenigen zurückgeht, die sie zu dieser Würde erhoben haben 94 . Aber auch auf der Grundlage katholischer Anschauungen kann sich die Vertragslehre weiter behaupten. Die spanische Spätscholastik hat m i t Diego Covarruvias (1512—1577) und Fernando Vasques (1512—1564) zwei Juristen hervorgebracht, die i n ganz ungewöhnlichem Maße aus dieser Tradition schöpfen und deren Verdienst darin besteht, die überlieferten philosophisch-politischen Lehren i n die rechtliche Argumentation eingebracht zu haben 95 . Covarruvias geht davon aus, daß die gesamte höchste weltliche Gewalt bei dem Gemeinwesen als solchem liegt (penes ipsam Rempublicam est) 98 . Der Herrscher bzw. die Regierung w i r d durch Wahl oder Zustimmung des jeweiligen Volkes eingesetzt (electione aut consensu populorum constituatur) 07 . Für Vasques sind wahre und legitime Herrscher (meri et legitimi principes) überhaupt nur solche, die durch ein freies Volk gewählt worden sind (a populo libero eligentur) 98 . Johannes Althusius, der jüngere und zu Unrecht weit weniger gewürdigte deutsche Gegenspieler des Jean Bodin, hat wenig später die verschiedenartigen Traditionsstränge i n seiner ,Politica' zusammengefaßt und systematisiert 99 . Das staatliche Gemeinwesen ist danach ein öffentReformation u n d Zeugnis der Kirche. Gesammelte Studien, hg. von D. B l a u fuß, Zürich 1978, S. 281—304. 93 Zuerst i n französischer Sprache 1574 erschienen, lateinische Ausgabe 1576. Hier benutzt i n der Ausg. von Klaus Sturm, Neukirchen-Vluyn 1965. 04 Ebd., qu. 6, S. 46 f.: „ I n d e sequitur magistratuum o m n i u m quantumvis supremorum ac potentium authoritatem a publica eorum authoritate pendere, q u i ipsos ad hunc dignitatis gradum evexerunt, non contra." 95 Das hat Ernst Reibstein i n seinen Untersuchungen über die Schule von Salamanca nachgewiesen. Vgl. insbesondere: Johannes Althusius als F o r t setzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955. 96 Covarruvias, Practicae quaestiones, i n : ders., Opera omnia, t. 2, Francof u r t i a. M. 1608, S. 343—500, lib. I, cap. 1, Nr. 2, S. 347. 97 Ebd., Nr. 6, S. 349. Vgl. ferner ebd., Nr. 2, S. 347. 98 Vasquez, Controversiarum i l l u s t r i u m l i b r i très, Francofurti a. M. 1672, lib. I, cap. 1, Nr. 2, Bl. 15 v. Dazu Carpintero Benitez, Del derecho natural medieval al derecho n a t u r a l moderno. Fernando Vazquez de Menchaca, Salamanca 1977, S. 130 ff . 99 Politica methodice digesta, Herborn 1603 (hier benutzt i n der 3. Aufl., ebd. 1614, Neudr. Aalen 1961). Hierzu, die theologischen I m p l i k a t i o n e n akzentuierend, Peter J. Winters, Die P o l i t i k des Johannes Althusius u n d ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg/Br. 1963, u n d Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955, mehr auf die profan-naturrechtlichen Aspekte der »Politik' abstellend. Vgl. jetzt Eikema Hommes, Die Bedeutung der Staats- u n d Gesellschaftslehre des Johannes Althusius f ü r unsere Zeit, i n : Recht u n d Staat i m sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin, hg. von Achterberg, Krawietz, Wyduckel, B e r l i n 1983, S. 211—232 (215 ff.), der die ,Politik' des Althusius als eine r e l i giös inspirierte, normative philosophische Gesellschaftslehre begreift. 9 Wyduckel
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licher Zusammenschluß (publica consociatio), dessen verbindendes Element die Einigung seiner Glieder (consensus inter membra) darstellt 1 0 0 . Höchster Amtsträger (summus magistratus) ist derjenige, den die Gesamtheit hierzu aufgrund der Gesetze bestellt hat (secundum leges constituas) 1 0 1 . Die Einsetzung geschieht durch einen Rechtsakt, mittels dessen eine vertragliche Vereinbarung über die Bedingungen sowie die A r t und Weise der Herrschaft herbeigeführt wird 1 0 2 . Diese Vereinbarung w i r d von Althusius lex fundamentalis genannt, weil sie die Grundlagen enthält, auf denen das Gemeinwesen auf ruht: tanquam fundamento nititurloa. Für eine absoluta potestas i m Sinne Bodins ist i n diesem Konzept kein Raum. Eine legitime Gewalt kann für Althusius nur eine immer schon gebundene und regelhafte Befugnis (potestas alligata) sein, die auf die Verwaltung und Ausführung der von der Gesamtheit oder deren Vertretung verliehenen Rechte gerichtet ist 1 0 4 . Althusius visiert damit, wie Scupin nachgewiesen hat, eine gleichsam „verfassungsrechtliche Ordnung" 1 0 5 an, deren Grundlage die lex fundamentalis darstellt. Ebensowenig wie Bodin legt Althusius eine „neue" Lehre vom staatlichen Gemeinwesen vor, sondern fußt wie jener auf den seit dem hohen und späten Mittelalter entwickelten Anschauungen. Der endgültige Durchbruch von Renaissance, Humanismus und Reformation u m die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert bedeutet insoweit keinen w i r k lichen Einschnitt, sondern legt nur die tiefe Strukturkrise der respublica Christiana gänzlich offen, die bereits seit dem späteren Mittelalter andauerte. Es w i r d nunmehr vollends deutlich, daß es nicht mehr nur die eine Lehre von der allumfassenden Gemeinschaft eines Glaubens und 100 Politica, cap. I X , Nr. 1, S. 167; Nr. 7, S. 169 f. Glieder dieses Zusammenschlusses sind nicht etwa Individuen, sondern Korporationen. Vgl. ebd. Nr. 5, S. 168. 101 Politica, cap. X I X , Nr. 1, S. 326. 102 Ebd., Nr. 6, S. 328: „Constitutio magistratus summi est, qua i l l i i m p e r i u m et administrationem regni, a corpore consociationis universalis delatam suscipienti, regni membra se ad obsequia obligant. Seu, qua populus et magistratus summus inter se mutuo certis legibus et conditionibus de subjectionis et I m p e r i i forma ac modo paciscuntur, juramento u l t r o citroque fide data et accepta promissave." 103 Ebd., Nr. 49, S. 349. 104 V g l > Politica, cap. I X , Nr. 20 ff., S. 170 ff. (Nr. 27, S. 180), w o er sich m i t dem f ü r i h n unakzeptablen Souveränitätsbegriff Bodins auseinandersetzt. los vgL Scupin, Der Begriff der Souveränität bei Johannes Althusius u n d Jean Bodin, i n : Der Staat 4 (1965), S. 1—26 (24). Zuerst französisch u. d. T.: L a notion de souveraineté dans les oeuvres de Jean B o d i n et de Johannes Althusius.. i n : Annales de la Faculté de D r o i t et des Sciences Economiques de L i l l e 1963, S. 7—27 (27). Vgl. auch ders., Demokratische Elemente i n Theorie u n d Praxis des Johannes Althusius, i n : A Desirable World. Essays i n Honor of Professor B a r t Landheer, ed. b y A . M. C. H. Reigersman (u. a.), The Hague 1974, S. 67—78 (75).
§ 10 Die Emanzipation des lus publicum vom lus commune
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Rechts, sondern lediglich standortgebundene Perspektiven i n einer pluralen Welt prinzipiell gleichgeordneter staatlicher Gemeinwesen verschiedener religiöser und politischer Auffassungen geben kann. Zwar w i r d die Bindung an die göttliche Ordnung auch weiterhin bejaht, doch kann das weltliche Gemeinwesen nicht mehr ausschließlich theologischreligiös gerechtfertigt, sondern allenfalls mittelbar 1 0 6 auf Gott bezogen werden. Die m i t diesem Wandel verbundenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen kündigen eine neue, bürgerliche Welt an, welche sich mittels der Kategorie des Vertrages legitimiert und zunächst den archaisch-feudalen, später auch den ständisch-adligen Strukturen erfolgreich substituiert. § 10 D i e Emanzipation des lus publicum v o m lus commune 1. Die Historisierung des lus commune in der humanistischen Jurisprudenz
Staatsräson, Souveränität und Vertrag legen als gedankliche Kategorien den Blick offen darauf, daß das Gemeinwesen ein politischer K ö r per ist, dem eigener Wert zukommt und der eigenen Regeln folgt. A u f diese bereits dem späteren Mittelalter nicht unvertraute Erkenntnis hatte der komplexe Regelungszusammenhang des ius commune m i t der allmählichen Herausbildung eines ius publicum reagiert, das zwar A n sätze einer durchaus eigenständigen Entwicklung erkennen läßt, jedoch aus dem Gesamtzusammenhang des gemeinen Rechts noch nicht völlig herausgetreten ist. I n dem Maße, i n dem der Prozeß der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung unterschiedlicher staatlicher Gemeinwesen weiter voranschreitet, w i r d die Frage drängend, ob das ius commune m i t den i h m zu Gebote stehenden M i t t e l n auch künftig i n der Lage sei, für diese Entwicklung angemessene rechtliche Lösungen bereitzuhalten. Hierbei sollte ins Gewicht fallen, daß das römische Recht angesichts der gänzlich anderen Gegebenheiten, aus denen es einst erwachsen war, auch bei weitestgehender Auslegung und Umdeutung allmählich an Grenzen stoßen mußte, die die Problematik der Konzeption eines alles übergreifenden, i m wesentlichen römischrechtlich fundierten ius commune offensichtlich machten. 106 d . h . : A l l e Gewalt steht — nach Gott — der Gesamtheit zu. Vgl. Althusius, Politica, cap. I X , Nr. 22 : „ A b hoc corpore [sc. corpus universalis consociationis], post Deum, profluit omnis potestas légitima i n hos, quos reges, optimatesve vocamus." Zuvor hatte sich bereits Covarruvias (Practicae quaestiones, lib. I, cap. 1, Nr. 6, S. 349) i n diesem Sinne geäußert, als er sagte, „quod civilis potestas a Deo procedat mediate". Z u m Traditionszusammenhang siehe Reibstein, Johannes Althusius, S. 92 ff.
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I I . 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson u n d Souveränität
D i e h u m a n i s t i s c h e J u r i s p r u d e n z 1 0 7 sucht eine A n t w o r t a u f d i e d a m i t a u f g e w o r f e n e n P r o b l e m e z u geben, i n d e m sie d i e F r a g e nach d e n G r u n d l a g e n des r ö m i s c h e n Rechts s c h l e c h t h i n s t e l l t . D i e W u r z e l n d e r
ein-
schlägigen B e m ü h u n g e n lassen sich, w i e a l l e n t h a l b e n , auch h i e r b i s w e i t i n das M i t t e l a l t e r v e r f o l g e n . S i e reichen b i s i n j e n e Z e i t d e r E r n e u e r u n g u n d des A u f b r u c h s z u r ü c k , i n d e r i n W i e d e r b e g e g n u n g u n d A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r a n t i k e n G e d a n k e n w e l t 1 0 8 das E m p i r i s c h - I n d i v i d u e l l e u n d E i n m a l i g e d e r eigenen Z e i t auch i m Recht u n d Rechtsdenken e r s t m a l s z u m B e w u ß t s e i n k o m m t . N i c h t v o n u n g e f ä h r n i m m t diese E n t w i c k l u n g m a ß g e b l i c h v o n F r a n k r e i c h u n d seiner legistischen J u r i s p r u d e n z 1 0 9 i h r e n A u s g a n g . H i e r w a r d e m r ö m i s c h e n als e i n e m k r a f t
kaiserlicher
M a c h t g e l t e n d e n Recht zuerst die Gefolgschaft v e r w e i g e r t w o r d e n . D a m i t w i r d i n F r a n k r e i c h b e r e i t s i m 13. J a h r h u n d e r t e i n W e g beschritten, d e r f o l g e r i c h t i g z u m m o s g a l l i c u s 1 1 0 als e i n e r n e u e n S i c h t u n d S i c h t w e i s e a u f das i u s c o m m u n e ü b e r h a u p t f ü h r t , welches — h u m a n i s t i s c h e r T e x t u n d S i n n k r i t i k ausgesetzt — i n seiner A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t
zusehends
g e f ä h r d e t u n d i n s e i n e m G e l t u n g s a n s p r u c h r e l a t i v i e r t erscheinen m u ß t e .
107 Hierzu Guido Kisch, Die humanistische Jurisprudenz, i n : L a storia del d i r i t t o nel quadro delle scienze storiche. A t t i del p r i m o congresso i n t e r nazionale della Società Italiana d i storia del diritto, Firenze 1966, S. 469— 490; ders., Der Einfluß des Humanismus auf die Jurisprudenz, i n : ders., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, B e r l i n 1972, S. 17—64. Ferner Troje, Z u r humanistischen Jurisprudenz, i n : Festschrift f ü r Hermann H e i m pel zum 70. Geburtstag, Bd. 2, Göttingen 1972, S. 110—139; ders., Die L i t e r a t u r des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, i n : Coing (Hg.), Handbuch der Quellen u n d L i t e r a t u r der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2, Teilbd. 1, München 1977, S. 615—795, m i t zutreffendem H i n weis darauf, daß es hierbei weniger u m Jurisprudenz i m Zeitalter als unter dem Einfluß des Humanismus geht (S. 615). Ferner Heinz Hübner, Jurisprudenz als Wissenschaft i m Zeitalter des Humanismus, i n : Festschrift f ü r K a r l Larenz zum 70. Geburtstag, hg. v o n G. Paulus (u.a.), München 1973, S. 41—62, sowie Aldo Mazzacane, Teoria delle scienze e potere politico nelle sistematiche tedesche del secolo X V I , i n : L a formazione storica del d i r i t t o moderno i n Europa, Firenze 1977, vol. 1, S. 289—316. 108 Dazu Horst Rüdiger, Die Wiederentdeckung der antiken L i t e r a t u r i m Zeitalter der Renaissance, i n : Geschichte der Textüberlieferung der antiken u n d mittelalterlichen Literatur, Bd. 1, Zürich 1961, S. 511—580, sowie Buck / Heitmann (Hg.), Die A n t i k e — Rezeption der Wissenschaften während der Renaissance, Weinheim 1983. 109 vgl. Linton C. Stevens, The Contribution of French Jurists to the H u manism of the Renaissance, i n : Studies i n the Renaissance 1 (1954), S. 92—105. 110 Der dem mos italicus als der hergebrachten Methode der Auslegung u n d A n w e n d u n g des Corpus Juris gegenübergestellt wurde. Dazu Riccobono, Mos italicus e mos gallicus nella interpretazione del Corpus iuris civilis, i n : Acta congressus i u r i d i c i internationalis V I I saeculo a decretalibus, t. 2, Romae 1935, S. 377—398; Troje, Z u r humanistischen Jurisprudenz, S. 110 ff. Ferner Donald R. Kelley, C i v i l Science i n the Renaissance. Jurisprudence i n the French Manner, i n : History of European Ideas 2 (1981), S. 261—276.
§ 10 Die Emanzipation des lus publicum vom lus commune
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I m umfassenden Werk des Jacobus Cujacius (1512—1590), des wohl hervorragendsten Vertreters einer am mos gallicus geschulten Jurisprudenz 111 , w i r d die humanistische A r t des Umgangs m i t den überlieferten Rechtstexten i n einer offeneren und gegenüber der Legalordnung des Corpus Iuris freieren Anordnung und Darstellung des Rechtsstoffs 112 augenfällig. Die neue juristische Denk- und Argumentationsweise t r i t t jedoch ganz allgemein nicht nur formal, sondern auch inhaltlich hervor: zum einen i n der Beiziehung bislang nicht berücksichtigten, vor allem griechischen Quellenmaterials (Graeca leguntur!) 1 1 3 , zum anderen i n der bisher nicht geübten, jedoch außerordentlich folgenreichen Unterscheidung des Rechtszustandes von einst und jetzt, die auf das Erwachen eines historischen Bewußtseins 114 deutet und den Blick auf die raumzeitliche Bedingtheit allen, d. h. nicht nur des römischen Rechts, freigibt. Die m i t der humanistischen Jurisprudenz eingeleitete Historisierung des ius commune ist, was ihre Tragweite angeht, weit mehr als ein nur gelehrtes Anliegen 1 1 5 von auf Textforschung bedachten Juristen. Sie stellt angesichts wachsender nationaler und territorialer Differenzierung einerseits, zunehmender sozialer, politischer und rechtlicher Institutionalisierung andererseits eine Notwendigkeit dar und hat für das römische Recht zur Folge, daß es „vom Herrn zum Knecht" 1 1 8 wird. A u f dieser, gleichsam historisch bereinigten Basis erhält die nunmehr allenthalben erhobene Frage nach dem ,ordo iuris' 1 1 7 überhaupt erst ihren Sinn. Weil die äußere Gliederung der überlieferten Rechtstexte nicht mehr ungefragt als gültig und vorgegeben akzeptiert wird, erweist es sich als unumgänglich, den tradierten rechtlichen Regelungszusammenhang insgesamt einer kritischen Prüfung zu unterziehen, u m ihn alsdann einer neuen, systematischen Ordnung zuführen zu können. 111 Vgl. hierzu Pierre Mesnard, L a place de Cujas dans la querelle de l'humanisme juridique, i n : R H D F E 28 (1950), S. 521—537. 112 I n der L i t e r a t u r f o r m der observatio. Vgl. seine: Observationum et emendationum l i b r i X X V I I I (1557—1595), hier benutzt i n der Ausg. der Opera omnia, t. 3, Neapoli 1722, Sp. 1—786. 113 Siehe das gleichnamige W e r k von Troje, K ö l n 1971. 114 Dazu Donald R. Kelley, Legal Humanism and the Sense of History, i n : Studies i n the Renaissance 13 (1966), S. 184—199; ders., Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, L a w and History i n the French Renaissance, New Y o r k 1970, S. 116 ff. 115 Dazu Domenico Maffei , G l i i n i z i dell'umanesimo giuridico, Milano 1956, Neudr. ebd. 1964, S. 143 ff. 118 Vgl. Troje, Die europäische Rechtsliteratur unter dem Einfluß des H u manismus, i n : lus Commune 3 (1970), S. 33—63 (60). 117 Hierzu Troje, Wissenschaftlichkeit u n d System i n der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, i n : J. B l ü h d o r n / J . R i t t e r (Hg.), Philosophie u n d Rechtswissenschaft, F r a n k f u r t a. M. 1969, S. 63—88 (71 ff.); ders., Die L i t e r a t u r des gemeinen Rechts, i n : Coing (Hg.), Handbuch Bd. 2, Teilbd. 1, S. 741 ff.
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität 2. Das lus publicum als lus civitatis
Die Auswirkungen der humanistischen Neugliederungs- und Systematisierungsbemühungen werden alsbald schon i n einer gesonderten Behandlung des ius publicum sinnfällig, Einen ersten Versuch zu einer solchen besonderen Darstellung öffentlichrechtlicher Materien unternimmt der Marburger Jurist Nikolaus Vigelius (1529—1600) i n seinen ,Institutiones iuris publici' 1 1 8 . Er legt hierbei die Unterscheidung Ulpians von gemeinwesenbezogenem und individualbezogenem Recht als Ordnungsprinzip zugrunde 119 und stellt — freilich unterschiedslos — all dasjenige zusammen, was seiner Auffassung nach i n den zuvor bestimmten Bereich des ius publicum gehört. Wenngleich i h n dabei weniger ein sachlich-systematisches, als vielmehr ein klassifikatorisches Interesse leitet, so gibt Vigelius doch dem wachsenden Bedürfnis nach einer eigenen Darstellung des ius publicum Raum und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Verselbständigung eines sich ausbildenden neuen Zweiges der Rechtsliteratur. Zwar weiß Vigelius, daß i m Zentrum des ius publicum die auf das Gemeinwesen bezogenen rechtlichen Regeln und Institutionen stehen 120 , doch vermag er — wie viele seiner Zeitgenossen — aus dieser Einsicht die erforderlichen rechtssystematischen Folgerungen für Anlage und Aufbau eines eigenständigen Öffentlichen Rechts nicht zu ziehen, weil i h m ein dazu notwendiges ordnendes Prinzip fehlt. Es bedurfte der zusammenfassenden gedanklichen K r a f t Bodins, mit der Souveränität ein solches Prinzip aus der Tradition heraus zu erarbeiten und zu bestimmen. Es wurde nun möglich, die unterschiedlichen, bislang nur irgendwie zur respublica i n Beziehung gebrachten Rechtsregeln und Befugnisse funktional als zusammengehörig zu erweisen, indem man 118 I n s t i t u t i o n u m iuris publici l i b r i très, Basel 1572. Die bei Stintzing I, S. 436, genannte vermeintliche Erstausgabe von 1568 läßt sich nicht nachweisen. Gemeint ist wahrscheinlich ein anderes W e r k : der u.d.T. ,Digestorum pars p r i m a : De iure publico', Basel 1568, erschienene erste T e i l seiner u m fassenden ,Digestorum iuris civilis l i b r i quinquaginta i n septem partes d i stinctas', ebd. 1568—1571. 119 Vgl. I n s t i t u t i o n u m iuris publici lib. I, cap. 1, S. 2: „ C u m autem omnes leges ad u t i l i t a t e m h o m i n u m referantur, utilitas vero ista p a r t i m publica sit, p a r t i m privata: evenit inde, u t et ius aliud publicum, aliud p r i v a t u m appelletur. P u b l i c u m ius definitur, quod ad statum rei Romanae "spectet: p r i v a t i m , quod ad singulorum u t i l i t a t e m pertineat." Ebenso: De iure publico, praef., S. 6. 120 v g l . i n s t i t u t i o n u m iuris publici lib. I, cap. 1, S. 2: „ P u b l i c u m ius consistit i n legibus, magistratibus, iudiciis t u m publicis, t u m privatis, i n re ecclesiastica et religionis, Imperatoris, fisci, i n re m i l i t a r i , civitatum, i n muneribus denique et honoribus: i n quibus omnibus utilitas publica cernitur, de quibus speciebus singulis ordine i n hisce Institutionibus dicemus." Ebenso: De iure publico, S. 6.
§ 10 Die Emanzipation des lus publicum vom lus commune
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sie auf die souveräne Herrschaftsgewalt (maiestas) 121 als den entscheidenden Ordnungsgesichtspunkt bezog. Bodin bringt diesen Zusammenhang dadurch zum Ausdruck, daß er zu den konstitutiven Merkmalen des ius publicum 1 2 2 eben jene zählt, die auch für den Souveränitätsbegriff charakteristisch sind, also neben der alles überragenden Rechtsetzungsbefugnis i m wesentlichen die staatliche Organisations- und Strafgewalt sowie die Wahrnehmung der Außenbeziehungen. So wichtig die Einsicht i n die öffentlichrechtliche Relevanz der Souveränität war, so wenig konnte sie sich zunächst ausbreiten und durchsetzen. Es w i r k t e sich vielmehr, insbesondere i m Reich, hemmend aus, daß der Souveränitätsbegriff wegen seiner Verwurzelung i n päpstlichen wie kaiserlichen Plenitudo-potestatis-Vorstellungen von Anfang an keineswegs nur positive Assoziationen hervorrief. Vor allem die regalien- und feudalrechtlich denkenden deutschen Juristen 1 2 3 verfolgten die der Souveränitätskonzeption zugrunde liegenden, hergebrachte Positionen gefährdenden Konzentrationstendenzen m i t Skepsis. Das erklärt den Umstand, daß das Werk Bodins zunächst entweder gar nicht oder nur zögernd und ablehnend zur Kenntnis genommen wird. Ein besonders bezeichnendes Beispiel für diese Sichtweise bietet der i n Basel promovierte, zeitweise i n Frankfurt a. d. O. lehrende, zuletzt als brandenburgischer Kanzler tätige Friedrich Pruckmann (1562—1630). Sein i m Jahre 1591 publizierter ,Tractatus de regalibus' 124 nimmt, obwohl das von der Thematik her nahegelegen hätte, von Bodin keine Notiz. Das ist u m so erstaunlicher, als seine Schrift i m allgemeinen als „großer W u r f " 1 2 5 gilt und die einzige umfassende Behandlung der Problematik von Staat und Recht i m Deutschland dieser Zeit darstellt. 121 Vgl. Bodin, De Republica, lib. I, cap. 8, S. 123. Siehe auch oben § 9, Nr. 2, S. 119 ff. 122 v g l . seine 1578 erstmals publizierte: Juris universi distributio, i n : ders., Oeuvres philosophiques de Jean Bodin, éd. P. Mesnard, Paris 1951, S. 67—80 (73): „ P u b l i c u m [jus] est, quod publicam u t i l i t a t e m consectatur, cujus m o d i sunt, Sacra tueri, Leges jubere, Magistratus creare, Consilium de Republ. capere, B e l l u m indicere ac finire, Poenas ac praemia irrogare, Legis actiones exequi." Siehe hierzu die De Republica, lib. I, cap. 10, S. 230 ff., i m einzelnen aufgeführten Merkmale der Souveränität („Quae propria sint iura maiestatis"). 123
Hierzu Thomas Klein, Recht u n d Staat i m U r t e i l mitteldeutscher J u risten des späten 16. Jahrhunderts, i n : Festschrift f ü r Walter Schlesinger, hg. von H. Beumann, Bd. 1, K ö l n 1973, S. 427—512. 124 H i e r benutzt i n der Ausgabe: Paragraphi soluta potestas tractatus de regalibus prior, i n : Opera politico-juridica bina, 1.1, Francofurti a. M. 1672, S. 1—144. 125 Vgl. Klein, Recht u n d Staat, S. 463, der Pruckmann aber i n seiner Bedeutung w o h l zu hoch einschätzt.
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität
Pruckmann lehnt die Lehre von der absoluta potestas völlig ab, die er für arbiträr hält (arbitrii plenitudo), und stellt i n großer Ausführlichkeit die zahlreichen tradierten Bindungen heraus, denen seiner Meinung jede herrschaftliche Gewalt, auch i m Bereich des positiven Rechts, immer schon unterliegt 1 2 6 . Er plädiert demgegenüber für eine gebundene Gewalt (ordinaria potestas), deren rechtlicher Umfang vollauf genüge, da der Herrscher ohnehin zum rechten Handeln (ad juste agendum) verpflichtet sei 127 . So sehr Pruckmann hierbei um eine Bändigung und Begrenzung jeglicher Herrschaftsgewalt bemüht ist, so wenig vermag er die i n der absoluta potestas angelegten weiterführenden Möglichkeiten zu erkennen. Indem er nur das Willkürliche und Tyrannische 128 einer derart weitgespannten Ermächtigung sieht, fällt er hinter den Stand der bereits i n der älteren Kanonistik gewonnenen Einsichten zurück; denn diese hatte erstmals herausgearbeitet, daß i n einer die gewöhnlichen Befugnisse überschreitenden absoluten Herrschaftsgewalt — sofern man diese als Rechtsetzungsmacht 129 begreift — auch Chancen liegen, die eine Anpassung überkommener Rechtsstrukturen an veränderte äußere Umstände ermöglichen. Wenngleich man nicht überall i n der Ablehnung absoluta potestas so weit gehen mochte wie Pruckmann und teilweise gewisse Bewegungsspielräume i m Bereich des ius positivum nicht ausschließen wollte 1 3 0 , so zeichnet sich eine generelle Wende doch erst i m Verlaufe der neunziger Jahre des 16. Jahrhunderts ab, die dadurch mitbedingt sein mag, daß die ,De Republica l i b r i sex' Bodins nunmehr auch i n Deutschland erschienen 131 und damit einem breiteren gelehrten Publikum bekannt werden konnten. Wiederum geht ein entscheidender Anstoß von Marburg aus, wo mit Regner Sixtinus (1543—1617) ein i n Frankreich ausgebildeter Jurist lehrte, dem das Werk Bodins wohlbekannt war 1 8 2 . Sixtinus hat offenbar i n seinen Vorlesungen schon ausgangs der achtziger Jahre die überlieferte Regalienlehre 133 m i t dem Souveränitätsbegriff zusam128 Vgl. ebd., cap. I I , Nr. 20 f., S. 35, w o er die Gegenposition darstellt u n d cap. I I I , Nr. 1 ff., S. 42 ff., w o er seine eigenen Argumente entfaltet. 127 Ebd., cap. I I I , Nr. 45, S. 46: „ . . . cum ad juste agendum ordinaria potestas sufficit, p r i n c i p i soluta potestate supersedendum esse." Vgl. ebd., Nr. 138, S. 56. 128 Vgl. ebd., cap. I I I , Nr. 29, S. 44: „ . . . neminem nisi t y r a n n u m plenitudine potestatis u t i posse." 129 Dazu oben Abschnitt I, Kap. 3, § 7, Nr. 1. 130 Vgl. hierzu Thomas Klein, Recht u n d Staat, S. 488 ff. 181 F r a n k f u r t 1591 u n d 1594. 132 Freilich nicht mehr aus seiner Studienzeit unmittelbar, w e i l er, w i e Stintzing I, S. 707 angibt, bereits 1565 i n Orléans promoviert hatte. 138 Hierzu Hans-W. Waitz, F r a n k f u r t 1939, S. 15 ff.
Die E n t w i c k l u n g des Begriffs
der Regalien,
§ 10 Die Emanzipation des lus publicum vom lus commune
137
mengebracht, indem er die herkömmlichen, einzelne kaiserliche Befugnisse bezeichnenden regalia maiora nicht mehr als ein Ensemble von Einzelrechten verstand, sondern — wie es scheint erstmals — als Merkmal der Souveränität (iuris maiestatis propria) 1 3 4 deutete. Daß man i n Marburg i n der angegebenen Richtung weiter voranging, belegt die i m Jahre 1596 bei Philipp Matthaeus (1554—1603), dem Nachfolger des Vigelius i n der Digestenprofessur vorgelegte, einschlägige Dissertation des Andreas Schepsius, der das Souveränitätskonzept Bodins v o l l übernahm und die tradierte Regalienlehre dadurch überwand, daß er alle Regalien als Ausstrahlungen der Souveränität begriff (quae inter regalia vulgo numerantur, omnia majestatis effecta sunt propria) 135 . M i t der Rezeption des Souveränitätsbegriffs wurden aber nicht nur alte Probleme gelöst, sondern auch neue Fragen aufgeworfen. Wenn man sich dafür entschied, das ius publicum auf die summa et absoluta potestas zu gründen, so bedurfte auch weiterhin die Frage einer K l ä rung, ob und wie unter diesen Geltungsbedingungen eine rechtliche Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt gewährleistet werden könne. Denn darüber bestand Klarheit, daß die Feudisten eine höchst wichtige Thematik behandelt hatten, wenn sie diese auch einseitig übersteigert haben mochten. Es blieb Althusius vorbehalten, diesen Themenkomplex aufzugreifen und von Grund auf zu durchdenken. Seine Leistung ist vor allem darin zu erblicken, daß es i h m gelang, das Souveränitätskonzept zu übernehmen, ohne dabei die Frage der Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt zu vernachlässigen. Althusius geht wie Bodin zunächst von der Überlegung aus, daß die respublica einer höchsten Herrschaftsgewalt (summa potestas) bedürfe 136 . Er spricht diese aber sehr viel deutlicher als sein französischer Gegenspieler dem Gemeinwesen als Ganzem zu (reipublicae tanquam propria est adscribenda) 137 , das er als korporativen Zusammenschluß (corpus 134 Siehe seinen zuerst 1602 unautorisiert nach einer Vorlesungsnachschrift (die v o r 1591, seinem Weggang aus Marburg, angefertigt worden sein muß) publizierten, später von i h m gänzlich überarbeiteten ,Tractatus de regalibus 4 (hier benutzt i n der erneut Überarb. 3. Aufl., F r a n k f u r t 1617), lib. I, cap. 2, Nr. 5, S. 24 f., unter ausdrücklicher Berufung auf Bodin. Vgl. auch ebd., Nr. 2: „Maiora regalia sunt i n quibus potissimum suprema potestas et dignitas Principis r e l u c e t . . . " . 135 Philipp Matthaeus, Quaestio an princeps legibus sit solutus. Explicata ab Andrea Schepsio, M a r p u r g i Cattorum 1596, S. 35. 136 Vgl. Politica, cap. I X , Nr. 20 ff., S. 176 ff., w o er seine Auffassung von der Bodins abgrenzt. Siehe auch seine: Dicaeologica, Herbornae Nass. 1617, lib. I, cap. 32, Nr. 3, S. 118, w o er die höchste Gewalt als „publica universalis summa potestas" bezeichnet. 187 Vgl. ebd., Nr. 22, S. 178: „Sed hanc summam potestatem nequaquam possum tribuere regi, aut optimatibus; quam sententiam tarnen Bodinus
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität
consociatum) 138 vorstellt. Die von Bodin nicht restlos geklärte Frage, ob die souveräne Herrschaftsgewalt nicht vielleicht doch beim Herrscher liege, stellt sich für Althusius nicht, w e i l er diesem von vornherein lediglich Exekutiv- und Verwaltungsbefugnisse 139 zuerkennt. Sein entscheidender Neuansatz, der i h n von Bodin trennt, liegt indessen nicht nur i n einer anderen Auffassung vom Gemeinwesen, sondern vor allem i n der A r t der inhaltlichen Ausgestaltung souveräner Herrschaftsgewalt. Während Bodin dem Gemeinwesen eine zwar nicht völlig ungebundene, aber doch weitgehend ungeregelte Gewalt zugrunde legt, bestimmt Althusius die staatliche Herrschaftsgewalt als eine immer schon rechtlich vorgeformte. Er spricht deshalb m i t Grund nicht von Souveränität schlechthin, sondern vom Recht der Souveränität (jus majestatis) 140 , das für i h n eine gleichsam konstituierende Gewalt (potestas juris regni statuendi) darstellt, die all das vorschreibt, was für die Gesamtheit notwendig und nützlich ist (omnia quae consociation! universali sunt necessaria et utilia) 1 4 1 . Es kommt Althusius demnach wesentlich auf das rechtlich geregelte Zusammenleben der Menschen i m Gemeinwesen an. Dieses von i h m auch als symbiotisch bezeichnete Gemeinschaftsleben 142 w i r d durch das jus majestatis konstituiert und gewährleistet. Althusius spricht deshalb, wenn er den Gesamtzusammenhang der das Gemeinschaftsleben strukturierenden Rechte meint, auch von ,politeuma' oder von symbiotischem öffentlichem Recht (jus symbioticum publicum) 1 4 3 . acerrime propugnare conatur, sed j u r e i l l a t a n t u m corpori universali consociationis, n i m i r u m Reipublicae v e l regnò, tanquam propria est adscribenda." 138 Ebd., Nr. 18, S. 175. 139 Vgl. ebd., Nr. 4, S. 168: „ N a m et regni proprietas est populi, et administratio regis". Siehe auch Nr. 23, S. 178: „Unde efficitur, regem summam, perpetuam legeque solutam potestatem non habere, et per consequens, nec illius j u r a majestatis esse propria, quamvis eorundem administra tionem et exercitium ex corporis consociati concessione habeat." 140 Das von i h m auch als ,jus regni' bezeichnet w i r d (Politica, cap. I X , Nr. 13, S. 173; Nr. 18, S. 175). 141 Vgl. Politica, cap. I X , Nr. 16, S. 175: „Juris hujus regni statuendi et se obligandi ad id, potestatem populus, seu membra regni consociata habent. Atque i n hac potestate disponendi, praescribendi, ordinandi, administrandi et constituendi, singula, et omnia quae consociationi universali sunt necessaria et u t i l i a . . . vinculum, anima et Vitalis, spiritus regni, ejusque αύτονομία, amplitudo, magnitudo et autoritas continetur." 142 Siehe ebd., Nr. 30, S. 181: „Communio symbiotica universalis est, qua a membris regni seu universalis consociationis omnia quae ad eandem sunt necessaria et utilia, communicantur, et contraria removentur et tolluntur. Ideoque vocari potest βιονομ ικόν, v i t a m curans, κοινωνικόν, ad communionem pertinens, symbioticumve jus regni." Vgl. hierzu Merzbacher, Der homo politicus symbioticus u n d das ius symbioticum bei Johannes Althusius, i n : Recht u n d Staat. Festschrift f ü r Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag, hg. v o n H. Hablitzel u. M. Wollenschläger, B e r l i n 1972, S. 107—114.
§ 10 Die Emanzipation des lus publicum vom lus commune
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Althusius hat also sehr w o h l eine Vorstellung des öffentlichen Rechts 144 . Jedoch ist sein Begriff des ius publicum ein anderer als der Bodins. Während Bodin das auf der Unterwerfung unter die souveräne Gewalt beruhende Befehl-Gehorsam-Verhältnis 145 i n den Vordergrund stellt, hebt Althusius demgegenüber auf die konsensualen Aspekte staatlicher Herrschaft ab. Das die staatliche Gemeinschaft zusammenhaltende Band ist i h m der consensus146 m i t der Folge, daß das Recht der Souveränität nur allen gemeinsam (conjunctim universis membris) 147 zusteht, wenn auch seine Ausübung Repräsentanten 148 überlassen werden kann. Althusius bereitet es deshalb anders als Bodin keine Schwierigkeit, die stände- und städtestaatliche Realität der Zeit i n seiner Konzeption des staatlich organisierten Gemeinwesens rechtlich adäquat zu erfassen und abzubilden. Für die weitere Ausbildung des öffentlichen Rechts kommt, ungeachtet des unterschiedlichen Denkansatzes, beiden Konzeptionen einer Bestimmung und Begrenzung staatlicher Herrschaftsgewalt grundsätzliche Bedeutung zu. Althusius wie Bodin lassen i n ihren zentral der respublica zugewandten Werken den inzwischen erreichten Grad der Verselbständigung des staatlichen Gemeinwesens erkennen, dessen vielfältige strukturellen Probleme sie i n den Blick nehmen und eindringlich darlegen. Es w i r d damit offensichtlich, daß es unter den gegebenen Umständen künftig nicht mehr angehen konnte, die tragenden Rechtsstrukturen des Gemeinwesens ausschließlich nach Maßgabe der Kommentierung einzelner Digesten- oder Codexstellen zu beurteilen. Diese Einsicht gewinnt auch i n der humanistischen Jurisprudenz zunehmend an Boden, wo man sich allmählich klar darüber zu werden beginnt, daß die Wege sich trennen: einmal i n Richtung auf ein i m wesentlichen die Rechtsfragen der einzelnen betreffenden Privatrechts; zum anderen 143
Vgl. Politica, cap. V, Nr. 5, S. 60: „Politeuma i n genere, est jus et potestas communicandi et participandi u t i l i a et necessaria, quae ad corporis constituti v i t a m a membris consociatis conferuntur. Vocari potest jus symbioticum publicum." 144 So auch Bullinger, öffentliches Recht, S. 20. 145 Dazu oben § 9, Nr. 3, S. 124. 146 Vgl. Politica, cap. I X , Nr. 7, S. 169: „ V i n c u l u m hujus corporis et consociationis est consensus et inter membra Reipublicae fides data et accepta u l t r o citroque." 147 Ebd., Nr. 18, S. 175: „Hoc jus regni, seu majestatis jus, non singulis, sed conjunctim universis membris, et t o t i corpori consociato regni competit: u t enim non ab uno, sed universis simul membris universalis consociationis constitui potest, sic nec singulorum, sed universorum membrorum i l l u d esse dicitur." 148 Die von Althusius Ephoren genannt werden. Vgl. Politica, cap. X V I I I , Nr. 48, S. 292: „ E p h o r i sunt, quibus populi i n corpus politicum consociati consensu demandata est summa Reipublicae seu universalis consociationis, u t repraesentantes eandem."
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II. 1. Kap.: lus publicum, Staatsräson und Souveränität
auf ein öffentliches Recht hin, i n dessen Zentrum der gesamte Organisationszusammenhang der respublica steht. Für Cujacius nimmt dieser Sachverhalt i m Auseinandertreten von jus civile und jus civitatis Gestalt an. Während das jus civile privates Recht (privatum jus) darstellt, ist das jus civitatis öffentliches Recht (publicum jus) 1 4 9 . Mittels des einen (jure civili) werden die rechtlichen Verhältnisse der einzelnen Bürger, mittels des anderen (jure civitatis) die des Staates geregelt 150 . Es w i r d i m folgenden zu untersuchen sein, i n welcher Weise letzteres geschieht.
149 Vgl. Cujacius, Recitationes solemnes i n varios, eosque praecipuos D i gestorum titulos (zuerst posthum 1596), lib. I, tit. I, 1.1, § „ H u j u s studii" (ed. Neapoli 1722, t. V I I , Sp. 11 f.). 150 Ebd., Sp. 12: „Jure civitatis civitates reguntur. Jure c i v i l i quisque civis. Et aliud est jus civitatis: quod est jus publicum: aliud jus civile, quod est privatum."
Zweites Kapitel
Die Grundlegung des deutschen Reichsstaatsrechts im 17. Jahrhundert § 11 D i e Verselbständigung des lus publicum I m p e r i i Romano-Germanici 1. Der Gegenstandsbereich des deutschen Reichsstaatsrechts
Eine i m Entstehen begriffene Fachdisziplin bedarf nicht nur der A b und Ausgrenzung gegenüber tradierten Ansätzen der Forschung, sondern muß auch positiv angeben können, w o r i n ihr Arbeitsgegenstand besteht und wie sie sich i h m zu nähern gedenkt. Für das ius publicum war m i t der Erschütterung der Geltungsgrundlagen des Corpus Iuris durch die humanistische Jurisprudenz die erste Aufgabe zu einem gewissen Abschluß gelangt. Es wurde nunmehr erforderlich, den zweiten, konstruktiven Schritt zu tun. Die spätmittelalterliche Reichspublizistik hatte den einzuschlagenden Weg bereits vorgezeichnet und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Gegenstand öffentlichrechtlicher Untersuchung i n den Blick zu nehmen gesucht1. Solange man freilich an der Lehre von der Translatio Imperii 2 festhielt, nach der das Imperium Romanum i m wesentlichen ungespalten m i t allen Rechten auf die Deutschen übertragen worden sei, mußte der Durchbruch zu einer realistischen rechtlichen Betrachtungsweise wegen der immer mitschwingenden universalistischen Komponente problematisch bleiben. Gelang es hingegen, die Unhaltbarkeit der Translationslehre nachzuweisen, dann wurde es möglich, die öffentlichrechtliche Argumentation von all denjenigen Fragen und Problemen zu entlasten, die zwar i n der Tradition vorgefunden wurden, jedoch längst durch eine veränderte politische Wirklichkeit überholt worden waren.
1 Das übersieht Ernst Schubert, K ö n i g u n d Reich, S. 13, w e n n er feststellt, was seit dem frühen 17. Jahrhundert diskutiert wurde, sei dem „Spätmittelalter noch wesensfremd". Vgl. hierzu auch oben Abschnitt I , Kap. 2, § 5, Nr. 2. 2 Dazu Werner Goez, Translatio Imperii, S. 62 ff. Vgl. auch oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 2, S. 71 f.
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Offenbar war i n Marburg, wie schon zuvor, der Boden für derartige Überlegungen besonders günstig. Jedenfalls legt der seit 1580 i n Marburg lehrende Hermann Vultejus (1555—1634) i m Jahre 1599 einen Kommentar zu ausgewählten Titeln des Codex 3 vor, der — i n Anlage und Form scheinbar ganz der legistischen Tradition folgend — inhaltlich neue, Aufsehen erregende Akzente setzt. Bereits das Vorwort macht klar, worauf es Vultejus ankommt. Das von i h m behandelte Thema, die Jurisdiktionslehre, gelte als ungewöhnlich schwierig und kompliziert (difficilis et perplexus) 4 . Das liege aber weniger an der Jurisdiktionslehre selbst als vielmehr darin begründet, daß die äußeren Umstände sich gewandelt hätten. Das römische Reich, auf das die einschlägigen Vorschriften zurückgehen, sei nämlich längst untergegangen. Erst K a r l der Große habe es unter gänzlich anderen Bedingungen wieder erneuert. Das gegenwärtige römische Reich habe infolgedessen eine völlig andere Gestalt (aliam formam et faciem) als zuvor 5 . Vultejus weist i m folgenden an der Stellung des Kaisers, der Reichsstände und des Reichskammergerichts nach, welche Veränderungen sich i m einzelnen vollzogen haben® und kommt zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsform des Reichs i n den meisten Dingen von der vorherigen grundlegend verschieden sei (forma a priori i n plerisque mutata) 7 . Wenngleich Vultejus die Lehre von der Translatio Imperii nicht ausdrücklich angegriffen hatte, so war doch klar, daß seine Ausführungen an die Grundlagen des überlieferten Reichsverständnisses rührten, w e i l sie das Reich jener besonderen Weihe entkleideten, die i h m als dem Endreich der Danielschen Prophetie 8 zukommen sollte. Hermann Conring (1606—1681), den man nicht ohne Grund den „Entzauberer des Reiches" 9 genannt hat, verfolgt nur wenige Jahrzehnte später diesen 3 Hermann Vultejus, A d titulos Codicis, q u i sunt de iurisdictione et foro competenti, Commentarius, Francofurti 1599. Z u r hieran sich anschließenden Kontroverse m i t Gottfried Antonius siehe unten § 12, Nr. 1. 4 Ebd., Epist. dedic., Bl. 2 r. 5 Ebd., Bl. 2 v/3 r : „ A t q u e hinc obscuritatis istius i n hac, quae est de iurisdictione, doctrina, de qua tantopere conqueruntur omnes, occasio: p r i n cipium autem et origo illius ex r u i n a I m p e r i i Romani i n Occidente, cum quo hoc etiam ius nostrum Romanum i n Occidente t u m interiit. Etsi vero ex longo post intervallo Carolus Magnus I m p e r i u m Occidentis restituerit, aliam tarnen eius formam et faciem esse voluit, quam fuerit olim." β Vgl. vor allem t i t . X X I V ff., S. 505 ff. 7 Ebd., t i t . X X I V , 1.1, Nr. 4, S. 510. 8 Z u r auf Daniel 2, 21 gestützten Lehre von den vier Weltreichen, als deren letztes das römische angesehen wurde, siehe Goez, Translatio Imperii, S. 6 ff., 17 ff. 9 So, einem W o r t E r i k Wolfs folgend, Werner Goez, Translatio Imperii, S. 357. Vgl. zur Gesamtwürdigung Conrings den von Stolleis hg. Band: H e r mann Conring (1606—1681). Beiträge zu Leben u n d Werk, B e r l i n 1983.
§11 Die Verselbständigung des lus Publicum Imperii Romano-Germanici
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Weg weiter und versetzt der Translationslehre den endgültigen Stoß, indem er historisch nachweist, daß das Regnum Germanicum m i t dem Imperium Romanum niemals identisch gewesen sei 10 . Auch wenn man sich diese sehr weitgehende Auffassung nicht zu eigen machte, so wurde doch der Blick für die Realität des Reiches geschärft und damit ein Überdenken seiner Rechtsstrukturen nahegelegt. Vultejus mag die weitreichenden Folgen solcher Überlegungen für das öffentliche Recht i n ihrem vollen Ausmaß noch nicht übersehen haben. Jedenfalls trägt er seine Erkenntnisse ganz i m herkömmlichen Stil einer ausgewählten Codex-Kommentierung vor, wobei i m Mittelpunkt der Erörterungen die überlieferte Jurisdiktionslehre steht. Er folgt damit guter legistischer Tradition, i n der die iurisdictio 1 1 als Inbegriff herrschaftlicher Gewalt aufgefaßt und dargestellt worden war. Auch außerhalb Marburgs w i r d diese Form der Annäherung an die Fragen und Probleme des öffentlichen Rechts weiterhin gepflegt. Tobias Paurmeister (1553—1616), der zeitweise i n Freiburg lehrte und später braunschweigischer Kanzler war, legt seinem seinerzeit weitverbreiteten Werk über die Reichsverfassung den Jurisdiktionsbegriff zugrunde 12 . I n Greifswald suchte Matthias Stephani (1576—1646) i n eben dieser A r t und Weise das öffentliche Recht des Reiches zu erfassen 13. So sehr man sich hierbei bemühen mochte, dem Reich und seinen Institutionen gerecht zu werden, so war doch nicht zu übersehen, daß alle öffentlichrechtlichen Fragen letztlich auf ein gewiß bedeutsames, aber eben römischrechtliches, einer längst vergangenen Epoche angehörendes Institut zurückbezogen wurden. Zwar erkennt Paurmeister sehr wohl, daß es bei der von i h m behandelten Problematik u m den Angelpunkt der gesamten politischen Regierung (cardo totius politicae 10 Besonders ausführlich dargelegt i n : De Germanorum Imperio Romano liber unus, Helmestadi 1644, cap. I I I ff., S. 6 ff. Siehe auch sein erstmals 1654 erschienenes: Opus de finibus I m p e r i i Germanici, ed Francofurti 1693, w o es gleich zu Beginn heißt: „Verumenimvero potissima hodie i m p e r i i Germanici, quae Danubio, Rheno, Oceano et m a r i Balthico includuntur, florentissimis etiam Romanorum rebus, nunquam, vel non nisi l e v i ex parte ac brevissimo tempore, fuere Romanae ditionis. Nec enim nunc moror ineptam sententiam, quasi Romani veteres v e l tenuerint Imperio suo universum mundum, v e l omnem i l l u m occupandi jus habuerint. A l i a omnia quae hodie Germanici I m p e r i i finibus includuntur, j a m ante m i l l e annos et quod excurrit, ita a populis Germanicis occupata sunt, u t una cum possessione recuperandi quoque j u r a Romanum I m p e r i u m j a m d u d u m amiserit" (lib. I, cap. 1, Nr. 2, S. 2 f.). 11 Siehe dazu oben Abschnitt I, Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 55 ff. 12 Paurmeister, De jurisdictione I m p e r i i Romani l i b r i duo, Hanoviae 1608; hier benutzt i n der 3. Aufl., Helmstedt 1670. 18 Matthias Stephani, Tractatus de jurisdictione i n Imperio Romano, i n très libros divisus, Francofurti 1611 (zuerst seit 1606 stückweise erschienen).
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
gubernationis) 14 geht, doch vermag er daraus die gebotenen Folgerungen für das öffentliche Recht des Reiches nicht zu ziehen, weil auch er, wie Pütter i m 18. Jahrhundert zurückblickend bemerkt hat, von den „gemeinen Fehlern selbiger Zeit, da man noch so sehr ohne Unterschied an Römischen Sachen hieng, nicht frey gewesen" 15 . Der Übergang zu einer neuen öffentlichrechtlichen Betrachtungsweise war freilich längst vorbereitet. Nur drei Jahre nach dem Tode Paurmeisters legt Jakob Lampadius (1593—1649), später Professor i n Helmstedt und Hofrat i n braunschweigischen Diensten, bei Reinhard Bachov i n Heidelberg eine Dissertation vor, die den durchaus traditionellen Titel trägt ,De iurisdictione i n nostro Imperio Romano-Germanico' 1®, jedoch weit mehr enthält als nur eine Darstellung der Reichsverfassung unter dem bisher geläufigen Aspekt der iurisdictio. Nicht von ungefähr gibt Hermann Conring, der zu den Schülern des Lampadius i n Helmstedt zählt, i m Jahre 1634 die Dissertation seines Lehrers unter dem charakteristisch veränderten Titel ,Tractatus de constitutione Imperii Romano-Germanici 4 neu heraus 17 . Tatsächlich w i r d der neue Titel durch den Inhalt vollauf gerechtfertigt, w e i l Lampadius den römischrechtlichen Jurisdiktionsbegriff nurmehr zum Anlaß seiner Ausführungen nimmt, während i h n i n Wirklichkeit bereits die zusehends i n das öffentliche Recht eindringende Souveränitätsvorstellung Bodins leitet. Es geht i h m infolgedessen darum, die Regierungsgewalt des Gemeinwesens i n ihrem ganzen Umfang (omnis regendae reipublicae potestas) zu erfassen — ein Unternehmen, von dem er weiß, daß es nur i m allerweitesten Sinne (latissime) noch mittels des herkömmlichen Jurisdiktionsbegriffs zu bewältigen ist 1 8 . Er macht deshalb zum Richtpunkt seiner Erörterungen jene souveräne Herrschaftsgewalt, die das Gemeinwesen strukturell formt und i n der er das eigentliche Charakteristikum desselben erblickt (omnem regendae reipublicae potestatem primo et formaliter i n maiestate consistere) 19 . Indem Lampadius hierfür, Bodin folgend, den neuen öffentlichrechtlichen Leitbegriff der Souveränität wählt, trägt er dazu bei, die iurisdictio aus ihrer bisher dominierenden Stellung zu verdrängen. Der Schwerpunkt öffentlichrechtlicher Reflexion i m Reich 14
Paurmeister, De jurisdictione, lib. I, cap. 3, Nr. 22, S. 34. Johann Stephan Pütter, L i t t e r a t u r des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1, Göttingen 1776, Neudr. F r a n k f u r t / M a i n 1965, § 66, S. 159. 16 Dazu Richard Dietrich, Jacobus Lampadius. Seine Bedeutung f ü r die deutsche Verfassungsgeschichte u n d Staatstheorie, i n : Forschungen zu Staat u n d Verfassung. Festgabe f ü r Fritz Härtung, B e r l i n 1958, S. 163—185 (164). 17 Hier benutzt i n der Taschenausgabe, L u g d u n i Batavorum: E x officina Ioannis Maire 1634. 18 Lampadius, Tractatus de constitutione I m p e r i i Romano-Germanici, pars prima, Nr. 1, S. 14 f. 19 Ebd., Nr. 51, S. 45. Hierzu Dietrich, Jacobus Lampadius, S. 174 f. 15
§11 Die Verselbständigung des lus Publicum Imperii Romano-Germanici
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verlagert sich nunmehr von der tradierten, ursprünglich rechtsausteilenden und gerechtigkeitsverwirklichenden Herrschaftsbefugnis zunehmend zur neuen, souveränen staatlichen Herrschaftsgewalt hin, die alsbald zum ersten und wichtigsten Gegenstand des ius publicum aufrückt. Lampadius ist allerdings noch zu sehr m i t der theoretischen Bewältigung der durch den Übergang vom Jurisdiktions- zur Souveränitätsparadigma aufgeworfenen Probleme befaßt, u m zu den konkreten Rechtsfragen des Reiches i m einzelnen kommen zu können. Dieser A u f gabe widmen sich seine Zeitgenossen Dominicus Arumaeus (1579—1637)20 und Johannes Limnaeus (1592—1663)21 i n Jena, deren Verdienst es ist, i m Verein m i t Schülern und Kollegen die tatsächlichen Organisationsstrukturen des Reiches, wie sie sich damals darstellen, auf der Grundlage des theoretischen Rüstzeugs ihrer Zeit zum Gegenstand einer spezifisch öffentlichrechtlichen Bearbeitung gemacht zu haben. Grundlegend für den Kreis u m Arumaeus und Limnaeus ist nicht mehr bloß die Erkenntnis, daß das öffentliche Recht auf den Status des Reiches ganz allgemein gerichtet sei, sondern die begründete Überzeugung, daß es speziell auf die rechtliche Erfassung des Deutschen, oder wie man auch sagte, des Römisch-Deutschen Reichs abziele. Objekt bzw. Subjekt der einschlägigen gelehrten Bemühungen ist demnach das als Imperium Germanicum 22 begriffene Reich, öffentliches ausschließlich dasjenige Recht, welches seinen Status und seine Regierung 25 betrifft. Es geht hierbei, wie ausdrücklich klargestellt wird, u m die moderne Gestalt (moderna forma) des Reiches, m i t h i n u m aktuelles öffentliches Recht (jus publicum hodiernum) 24 . Das damit vorgezeichnete Programm zeitigt erste praktische Ergebnisse i n den der Arumaeus-Schule entstammenden Werken von Daniel 20 V o r allem i n den von i h m seit 1615 herausgegebenen ,Discursus academ i c i de j u r e publico', die neben eigenen auch Schriften v o n Schülern u n d gleichgesinnten Kollegen enthalten (hier benutzt i n der fünfbändigen Ausg. Jena 1620—1623). Z u Leben u n d W i r k e n des Arumaeus vgl. Hoke, Arumaeus, i n : H R G Bd. 1, B e r l i n 1971, Sp. 237—239. 21 Dazu näher unten S. 146. 22 Vgl. Matthias Bortius, Jurisprudentiae publicae Germanicae typus, i n : Arumaeus, Discursus, vol. I, Jenae 1621, Nr. 33, Bl. 322 v, 343 r, De praecognitis, thesis I I (S. 323): „ O b j e c t u m seu subjectum operationis est Respublica sive I m p e r i u m Germanicum." 23 Ebd., thesis V, S. 324 f.; thesis V I I , S. 325. Siehe auch Georg Braudlacht, Epitome jurisprudentiae publicae universae, i n : Arumaeus, Discursus, vol. V, Jenae 1623, Nr. 7, Bl. 303—366, lib. I, cap. 1 Nr. 3 (B1.303v): „ P u b l i c u m jus est, quod statum et regimen I m p e r i i Romano-Germanici concernit." 24 Vgl. Braudlacht, Epitome, Nr. 6 f. (Bl. 303 v), w o römisches „ j u s p u b l i c u m antiquum" u n d deutsches „jus p u b l i c u m hodiernum" gegenübergestellt w e r den.
10 Wyduckel
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Otto 25, Quirinus Cubach 26 und Georg Braudlacht 27; diese wenden sich den Institutionen des Reichs i n der bezeichneten Weise zu, wenn auch ihre Schriften, m i t Ausnahme der des letzteren, die Ansätze einer systematischen Bearbeitung erkennen läßt, i n Anlage und Aufbau noch keineswegs befriedigen. Arumaeus selbst trägt außer durch die von i h m herausgegebenen ,Discursus de jure publico' und eigene kleinere Schriften 28 vor allem m i t einer Monographie über die Institution des Reichstags 29 zur weiteren Erhellung des Jus publicum Romano-Germanicum bei, die wegen des i n i h r aufbereiteten Materials und der rechtlichen Würdigung desselben als die beste ihrer Zeit gilt. A l l e werden freilich von Johannes Limnaeus überragt, dessen voluminöse, zwischen 1629 und 1634 erschienenen Juris publici Imperii Romano-Germanici l i b r i I X ' 3 0 das öffentliche Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erstmals i m Zusammenhang i n bisher unerreichter Vollständigkeit und Ausführlichkeit zur Darstellung bringen. Diese, dem öffentlichen Recht des Reiches geltenden Bemühungen des Jenaer Juristenkreises entspringen nicht etwa einem nur abstrakten Erkenntnisinteresse. Sie stehen vielmehr zugleich i m Dienste des sich formierenden frühmodernen Staates, der sich seiner Organisationsstrukturen durch die Ausdifferenzierung eines öffentlichen Rechts vergewissert. Der Staat bedarf geradezu öffentlichrechtlich geschulter Juristen, die kraft ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten den zusehends komplexer werdenden staatlichen Organisations- und Regelungszusammenhang zu durchdringen vermögen. I n der Jenaer Schule des öffentlichen Rechts werden diese Zusammenhänge gesehen und artikuliert. Arumaeus fordert nicht ohne Grund, das ius publicum i m Hochschulunterricht stärker als bisher zu berücksichtigen 31 . Denjenigen, denen später die Besorgung der Staatsgeschäfte 25 Siehe seine erstmals 1616 erschienene: Dissertatio juridico-politica de j u r e publico I m p e r i i Romani, ed. noviss., Wittebergae 1668 (auch bei Arumaeus, Discursus, vol. V, Nr. 2, Bl. 41 r—219 v). 26 Vgl. seine J u r i s p r u d e n c e Germano-publicae l i b r i duo, Erfurdiae 1617 (auszugsweise bei Arumaeus, Discursus, vol. I I , Jenae 1620, Nr. 35, S. 1081— 1240). 27 Seine ,Epitome jurisprudentiae publicae universae' ist zuerst 1622 i n E r f u r t erschienen. Z u m Abdruck bei Arumaeus siehe oben F N 23. 28 Die i n A u s w a h l i n den ,Discursus 4 abgedruckt sind. 29 Commentarius juridico-historico-politicus de comitiis Romano-German i c i Imperii, Jenae 1630 (zitiert nach der 2. Aufl., ebd. 1635). 30 Hier benutzt i n der 3. Aufl., Argentorati 1657. Dazu Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus. E i n Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft i m 17. Jahrhundert, A a l e n 1968. 31 Siehe hierzu u n d zum folgenden: Arumaeus, Discursus academici ad A u r e a m Bullam, Jenae 1617 (hier benutzt i n der Ed. E. F. Schröter, ebd. 1663),
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anvertraut werde, müsse der rechtliche Status des Gemeinwesens bekannt sein. Es sei überhaupt erstaunlich, daß man herkömmlicherweise z. B. ausführlich darlege, welche Verfügungsmacht die Individuen über ihr Eigentum haben, den Fragen von Reich und Reichsverfassung hingegen weit weniger Beachtung schenke. Sein Schüler limnaeus unterstreicht diese Forderung. Für Juristen, die an der Leitung des Gemeinwesens teilnehmen, reiche die Kenntnis des Privatrechts allein nicht zu (non sola iuris privati scientia sufficiens est) 32 . Die Rechtsstudenten seien infolgedessen i m öffentlichen Recht gleichermaßen (aeque ac junctim) wie i m Privatrecht auszubilden, u m den später an sie gestellten Anforderungen gewachsen zu sein3®. Erst eine derartige Ausbildung befähige, wie Limnaeus nachdrücklich betont, zur Wahrnehmung staatlicher Funktionen; sie erscheint i h m i m übrigen unabdingbar, damit das Gemeinwesen optimal regiert werden kann (optime possit gubernari) 34 . Führt man sich rückblickend auf diesem Hintergrund die Entwicklung des ius publicum i m beginnenden 17. Jahrhundert vor Augen, so bleibt festzuhalten, daß 1) die existentielle Bedeutung des öffentlichen Rechts für das staatliche Gemeinwesen erkannt ist, daß 2) das Deutsche Reich territorial wie organisationsstrukturell endgültig i n den Mittelpunkt des öffentlichrechtlichen Interesses rückt und daß 3) nunmehr auch terminologisch alle hierauf bezüglichen Fragen zusammenfassend als dem ius publicum zugehörig begriffen und erörtert werden. Diese Entwicklung erkannt und gefördert zu haben, ist nicht ausschließlich das Verdienst der Jenaer Schule; sie hat aber maßgeblich hierzu beigetragen und m i t der Einsicht i n die Notwendigkeit des ius publicum für das Gemeinwesen den Übergang vom öffentlichen Recht des Reiches schlechthin zum deutschen Reichsstaatsrecht vollzogen. 2. Die Quellen des deutschen Reichsstaatsrechts
Die Abweisung der Translationslehre durch die deutsche Jurisprudenz und die daraus sich ergebende Konsequenz, daß das Deutsche mit dem Römischen Reich nicht identisch sei, konnte für die Geltung des ius commune nicht ohne Folgen bleiben. Es bedurfte freilich noch des disc. I, cap. 1, 1, S. 1 f. Z u m Aufschwung des öffentlichen Rechts i n der Lehre siehe Lieberwirth, Der Staat als Gegenstand des Hochschulunterrichts i n Deutschland v o m 16. bis zum 18. Jahrhundert, B e r l i n 1978 (Sb. der Sächs. Akad. der Wiss., Phil.-hist. Kl., Bd. 120, H. 4), S. 18 ff. 82 Limnaeus , I u r i s p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, lib. I , Dedicatio, Bl. 2 v. 88 Vgl. ebd.: „ E t ideo ego adolescentes existimo i n scholis t a m i n Iure p r i vato, quam i n publico exercendos aeque ac j u n c t i m esse, u t sive ad hanc, sive ad i l l a m abeant functionem, parati v e n i a n t . . . " . 84 Siehe ebd., lib. I , cap. 2, Nr. 11.
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exakten Nachweises, warum unter diesen Umständen dem römischen Recht i m Reich keine unmittelbare Geltung zukommen könne. Erst m i t den von Conring angestellten rechtshistorischen Untersuchungen 35 erhält der bereits lange i n Gang befindliche Prozeß des allmählichen Sich-Absetzens vom römischen Recht ein solides, rechtsquellenmäßig abgesichertes Fundament. Conring belegt ausgehend von den ältesten Gewohnheiten und Gebräuchen der Germanen, daß i n Deutschland seit altersher deutsches Recht gelte. Er bestreitet nicht, daß seit den Zeiten des Irnerius das römische Recht neu belebt worden sei 36 , weist aber zugleich auf die Geltung der von i h m eingehend untersuchten Volksrechte 37 hin. Conring ist es besonders darum zu tun, jene seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts aufgekommene, der Legitimation des i n die Defensive geratenen römischen Rechts dienende ,Lotharische Legende' zu widerlegen 38 , nach der das Corpus Iuris Civilis durch Kaiser Lothar I I I . i m Jahre 1137 mittels Gesetzgebungsaktes i m Reich eingeführt worden sein soll. Er legt dar, daß die Rezeption des römischen Rechts (Romani juris receptio) 39 nicht das Ergebnis einer einmaligen gesetzgeberischen Entscheidung ist, sondern einen komplexen, durch die Übernahme von Lehren der italienischen Legisten beförderten Prozeß allmählichen Eindringens der gelehrten Rechte i n die juristische Theorie und Praxis 4 0 darstellt. Conring steckt damit den Rahmen ab für eine realistische Betrachtung des römischen Rechts seiner Zeit, dem er die Bedeutung nicht abspricht, das er aber relativiert, indem er dem Corpus Iuris die deutschen Rechte zur Seite stellt. Es ist demnach nicht erstaunlich, daß Conring i m Hinblick auf das öffentliche Recht zu dem Ergebnis kommt: Jus publicum Justinianeum non obligare hodie Germaniam 41 . Das war auch zuvor schon behauptet, 35 Vgl. vor allem sein erstmals 1643 publiziertes, wegweisendes W e r k : De Origine juris germanici liber unus, hier benutzt i n der Ausg. der Opera, t. V I , Brunsvigae 1730, S. 77—188. 38 Cap. X X I I I , S. 142 ff. 37 Vgl. cap. I I I — X I I I , S. 90 ff. 38 Siehe hierzu cap. X X I : Quod vulgo asserì tur, Justinianeas leges i n scholas L o t h a r i i jussu et auctoritate esse reductas, i d non t a n t u m incertum, sed et falsum esse (S. 135 ff.). 39 Z u m Begriff ebd., cap. X X X I I I , S. 168. Z u r E n t w i c k l u n g der Auffassungen über die Rezeption vgl. Peter Bender, Die Rezeption des römischen Rechts i m U r t e i l der deutschen Rechtswissenschaft, F r a n k f u r t a. M . 1979 (Diss. F r e i b u r g 1956). 40 Conring, De origine j u r i s germanici, cap. X X X I I f., S. 164 ff. Dazu Luig, Conring, das deutsche Recht u n d die Rechtsgeschichte, i n : Stolleis (Hg.), H e r m a n n Conring, S. 355—395 (373 ff.). 41 Vgl. Conring, Praefatio apologetica contra J. O. Taborem praemissa dissertationi De j u r i s publici Justinianei i n Germania auctoritate (1649), i n : ders., Opera, t. V I , S. 192—194 (194), w o er sich m i t dem Straßburger Rechtslehrer Johann Otto Tabor (1604—1674) auseinandersetzt, der i h m widerspro-
§ 11 Die Verselbständigung des lus Publicum I m p e r i i Romano-Germanici
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aber n i c h t b e l e g t w o r d e n . V u l t e j u s h a t t e d i e A u f f a s s u n g v e r t r e t e n , m i t d e m U n t e r g a n g des Reiches i m W e s t e n h a b e das römische Recht seine G r u n d l a g e ü b e r h a u p t e i n g e b ü ß t 4 2 ; P a u r m e i s t e r eine v e r m i t t e l n d e A u f fassung v e r t r e t e n , w o n a c h das i u s c o m m u n e , s o w e i t n i c h t a u s d r ü c k l i c h geändert, f o r t g e l t e 4 3 ; d i e als , D o n a u w ö r t h i s c h e I n f o r m a t i o n ' 4 4 b e k a n n t e S t r e i t s c h r i f t i m J a h r e 1611 schließlich d i e These aufgestellt, daß „ i p s a t o t i u s R e i p u b l i c a e G e r m a n i c a e f o r m a n i c h t aus d e n L a t e i n i s c h e n Rechten, oder B a r t o l o u n d B a l d o , s o n d e r n v i e l m e h r aus des Reichs ü b l i c h e m H e r k o m m e n u n d dahero r ü h r e n d e n alten Verfassungen"
zu nehmen
sei 4 5 . V o r d e m H i n t e r g r u n d dieser R e c h t s e n t w i c k l u n g w e n d e n sich d i e J u r i s t e n d e r Jenaer Schule d e n Q u e l l e n des deutschen Reichsstaatsrechts zu. E i n h e l l i g k e i t besteht h i e r b e i d a r ü b e r , daß n i c h t a u f das C o r p u s I u r i s , s o n d e r n a u f d i e R e c h t s q u e l l e n d e r deutschen V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g a b z u s t e l l e n sei. W i e Arumaeus b e t o n t , i s t a n erster S t e l l e d i e Goldene B u l l e K a r l s I V . v o n 1356 z u nennen, z u d e r e r e i n e n K o m m e n t a r 4 6 v e r f a ß t h a t u n d d i e i h m G r u n d l a g e d e r Reichsverfassung ist. F e r n e r w e i s t er a u f d i e W a h l k a p i t u l a t i o n e n 4 7 h i n , w e i l i n diesen, n i c h t h i n g e g e n i n chen hatte u n d f ü r die A n w e n d u n g des justinianischen Rechts auch i m ius publicum des Reiches eingetreten war. Die Dissertation selbst ist 1649 zusammen m i t der 2. A u f l . von ,De origine j u r i s germanici 4 erschienen. 42 Vultejus, A d titulos Codicis Commentarius, Epist. dedic., Bl. 2 v . Siehe auch oben unter Nr. 1, 142. 43 Vgl. Paurmeister, De jurisdictione, lib. I I , cap. 6, Nr. 152, S. 714: „Etsi autem m u l t a non t a n t u m i n j u r e publico pro forma ac statu Reipublicae praesenti, sed etiam privato, p a r t i m moribus, p a r t i m expressis Imperatorum et O r d i n u m Constitutionibus sint immutata, i n iis tamen, quibus m u t a t u m non est jus commune, etiam hodie servandum esse, nemo est q u i ambigit." Es ist deshalb nicht richtig, w i e Stintzing I I , S. 178, davon auszugehen, daß Paurmeister die „ A n w e n d b a r k e i t des römischen jus publicum auf die deutschen Verhältnisse bestritt". 44 Beständige Informatio facti et iuris, w i e es m i t den am Kaiserlichen Hof w i d e r Donauwerth ausgegangenen Processen beschaffen sei, o. O. 1611. Als Verfasser der anonym erschienenen Schrift gelten Sebastian Faber, w ü r t tembergischer Vizekanzler, u n d L u d w i g Müller, Kanzler i n öttingenschen Diensten. Z u m historisch-politischen K o n t e x t der P u b l i k a t i o n siehe Richard Breitling, Der Streit u m Donauwörth, i n : Zeitschrift f ü r bayerische Landesgeschichte 2 (1929), S. 275—298. 45 Donauwörthische Information, S. 123. 46 Arumaeus, Discursus academici ad A u r e a m Bullam, Jenae 1617 (zit. Ed. E. F. Schröter, ebd. 1663). Vgl. insbes. disc. I. cap. I, 2, S. 2: „Decetque omnes, quorum campus literarius est seges et materies gloriae i n revolutionem Bullae nostrae nobiscum se convertere: nam praeterquam, quod firmissima Romani I m p e r i i petra sit, super qua etiamnum M a j estas et pax ejusdem tuto quiescit, compendiosam quoque juris p u b l i c i inductionem continet, siquidem non solum S u b l i m i u m Electorum praerogativam et sessionis i n culcat ordinem; v e r u m etiam pleraque ad ipsius I m p e r i i statum et t r a n q u i l l i t a t e m pertinentia insinuât." 47 Vgl. Arumaeus, Commentarius de comitiis, cap. I l l , Nr. 51, S. 92: „Capitulatio quippe n i h i l aliud est, quam Germanorum L e x Regia; u t enim i l i a
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
der römischrechtlichen Lex regia die Rechte von Kaiser und Reich zu suchen und zu finden seien. Limnaeus fügt diesen Rechtsquellen die Reichsabschiede, die Entscheidungen des Reichskammergerichts sowie das i n den zeitgenössischen Sammlungen aufgeführte, umfangreiche rechtliche Material hinzu 4 8 . I n der Tat haben Juristen und Historiker wie Melchior Goldast (1578—1635)4*, Marquard Freher (1565—1614)50 und Friedrich Hortleder (1579—1640)51 ein beachtliches Maß an deutschen Rechtsquellen erarbeitet, das nicht nur von dem wachsenden Bewußtsein des Eigenwerts deutschen Rechts zeugt, sondern auch die Hinwendung zur deutschen Rechts- und Verfassungspraxis eindrücklich belegt. Der um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert unternommene Versuch einer ersten Zusammenstellung von Rechtsquellen des ius publicum läßt zum einen die fortschreitende fachliche Verselbständigung des öffentlichen Rechts hervortreten; er belegt zum anderen die zunehmende Ausdifferenzierung des staatlichen Gemeinwesens, das sich seiner spezifischen rechtlichen Grundlagen i n dem Maße bewußt wird, i n dem diese aufgearbeitet und i n eine Ordnung gebracht werden. Die Weite eines bloß eindimensionalen Begriffs des öffentlichen Rechts, etwa i m Sinne allen auf das staatliche Gemeinwesen zurückgehenden positiven Gesetzesrechts 52, mußte sich unter diesen Bedingungen als nicht sehr praktikabel erweisen. I n der Jenaer Schule des Reichsstaatsrechts werden deshalb zwei Begriffe des ius publicum deutlich voneinander unterschieden: einmal der des ius publicum i m uneigentlichen Sinne (improprie), d. h. allen desjenigen Rechts, welches — da gesetzlich vorgeschrieben (a lege praefinitum) — privater Disposition nicht unterveteri i n Republica de Imperio ejus lata fuit, ita Capitulationem Caesaream Senatus populusque Germanici vice Electores de Romano Germanici I m p e r a toris Imperio tulerunt, qua, quousque ejus se exercere potestas debet, e x p r i m i t u r . " So zuvor schon der Historiker Friedrich Hortleder. Dazu unten § 12, Nr. 2, S. 163. 48 Vgl. Limnaeus, Iuris p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, lib. I, cap. 3 u. d. T.: Unde lus p u b l i c u m hauriendum?, der hier weitgehend der Donauwörthischen Information folgt. 49 Siehe etwa seine Sammlung der Reichssatzungen u n d Reichshandlungen, Hanau 1609—1613, 3 Bde. δ0 Freher hat sich Verdienste insbesondere u m die Herausgabe der Werke von Lupoid von Bebenburg u n d Peter von Andlau erworben (beide Straßb u r g 1603). Siehe hierzu auch oben Abschnitt I , Kap. 2, § 5, Nr. 2. 51 Vgl. seine: Handlungen u n d Ausschreiben von den Ursachen des T e u t schen Kriegs Kaiser Karls V. w i d e r die Schmalkaldische Bundesoberste K u r u n d Fürsten, F r a n k f u r t 1617, 2 Bde. Hortleder gehört dem Kreis u m A r u maeus an. Dazu auch unten § 12, Nr. 2, S. 163. 62 Wie er beispielsweise v o n Baldus als Möglichkeit i n Betracht gezogen worden war. Dazu oben Abschnitt I , Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 59 f.
§11 Die Verselbständigung des lus Publicum I m p e r i i Romano-Germanici
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l i e g t ( n o n est i n p r i v a t o r u m a r b i t r i o ) 5 3 . D i e d a m i t bezeichneten
Vor-
schriften, z u d e n e n e t w a das Recht d e r T e s t a m e n t s e r r i c h t u n g 5 4
zählt,
sind z w a r öffentlichen Ursprungs, betreffen jedoch nicht den Status R e i p u b l i c a e 5 5 . D a s ist n u r i m H i n b l i c k a u f j e n e speziellen V o r s c h r i f t e n d e r F a l l , d i e a u f das W o h l u n d d e n B e s t a n d des G e m e i n w e s e n s u n m i t t e l b a r a b z i e l e n u n d deshalb i m e i g e n t l i c h e n S i n n e (proprie) als ö f f e n t l i c h e Rechtsregeln (leges publicae) angesehen w e r d e n 5 6 , ö f f e n t l i c h e s Recht i s t hiernach, w i e d e r S t r a ß b u r g e r Rechtslehrer Johann
Heinrich
Boeder
(1611—1672), d i e A u f f a s s u n g e n d e r Jenaer Schule r e s ü m i e r e n d d a r l e g t , i m w e s e n t l i c h e n solches Recht, i n d e m das G e m e i n w e s e n i n h a l t l i c h b e schrieben w i r d ( q u o R e i p u b l i c a e d e s c r i p t i o c o n t i n e t u r ) 5 7 . W e n n g l e i c h das d e r m a ß e n b e g r i f f e n e i u s p u b l i c u m als F a c h d i s z i p l i n erst ansatzweise i n s t i t u t i o n a l i s i e r t 5 8 ist, so h a t es doch, w a s Gegenstandsbereich u n d G e l t u n g s g r u n d angeht, b e r e i t s i n u n g e w ö h n l i c h e m M a ß e z u r S e l b s t ä n d i g k e i t gefunden. D e r diese S e l b s t ä n d i g k e i t h e r v o r b r i n g e n d e Prozeß i s t e i n Prozeß d e r A u s d i f f e r e n z i e r u n g , d e r z u eng g e d e u t e t w i r d , w e n n m a n i h n , w i e es m i t u n t e r geschieht, b l o ß als V o r gang der ,Emanzipation v o n der Z i v i l i s t i k ' 5 9 begreift. Eine derartige 53 Vgl. Quirinus Cubach, De constitutione religiosa, i n : Arumaeus, Discursus, vol. I I , Nr. 12, S. 450—489, cap. I, Nr. 16 (S. 453). Siehe auch Limnaeus, Iuris p u b l i c i Romano-Germanici, lib. I, cap. 1, Nr. 5. 54 Cubach, De constitutione religiosa, Nr. 17: „ E t hoc i n significatu i m p r o prie testamenti factio dicitur esse j u r i s publici". Siehe hierzu auch oben Abschnitt I, Kap. 1, § 2, Nr. 3, S. 59 f. 55 Cubach, De constitutione religiosa, Nr. 16: „ S t a t u m tarnen Reipublicae n i h i l attingunt". 56 Ebd., Nr. 15; cap. I I , Nr. 6, S. 454. Vgl. auch Limnaeus, I u r i s p u b l i c i Romano-Germanici, lib. I , cap. 1, Nr. 7. 57 Vgl. seine: I n Danielis Ottonis Jus p u b l i c u m Notae et Animadversiones, Argentorati 1675, App., S. 1. 58 Z w a r spricht Limnaeus, I u r i s publici Romano-Germanici, lib. I, Dedicatio, Bl. 2 v f . davon, daß i n „ziemlich vielen" hohen Schulen des Reichs Lehrer des öffentlichen Rechts t ä t i g seien (hodie i n aliquam m u l t i s I m p e r i i nostri Academiis Iuris publici Professores docere novimus feliciter), doch sind die betreffenden Professuren noch k a u m als solche ausgewiesen. Vgl. Coing, Die juristische F a k u l t ä t u n d i h r Lehrprogramm, i n : ders. (Hg.), H a n d buch, Bd. 2, Teilbd. 1, S. 3—102 (42). Einer der ersten spezifisch öffentlichrechtlichen Lehrstühle ist 1636 an der Universität Ingolstadt eingerichtet worden. Dazu Klaus Neumaier, lus publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt, B e r l i n 1974, S. 110 ff. Z u r Gesamtentwicklung Hammerstein, Jus P u b l i c u m Romano — Germanicum, i n : D i r i t t o e potere nella storia europea. A t t i i n onore d i Bruno Paradisi, F i renze 1982, S. 717—753. 69 Vgl. demgegenüber Hoke, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Z i v i l i s t i k i m 17. Jahrhundert, i n : Der Staat 15 (1976), S. 211—230, dem es darum geht, v o r Augen zu führen, daß „ i n Deutschland i n der ersten Häfte des 17. Jahrhunderts tatsächlich ein Vorgang stattgefunden hat, den m a n als eine Emanzipation der Staatsrechtswissenschaft von der Z i v i l i s t i k bezeichnen k a n n " (S. 211).
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrcht im 17. Jahrhundert
Sichtweise setzt ein bereits ausgebildetes Zivilrecht voraus, von dem das öffentliche Recht sich alsdann hätte ablösen müssen. Diese A u f fassung geht daran vorbei, daß öffentliches Recht und Zivilrecht gleichermaßen auf dem Boden des beide übergreifenden ius commune entstanden sind. Erst i m Laufe der weiteren Rechtsentwicklung, insbesondere der Verfassungsentwicklung, treten beide aus diesem gemeinsamen älteren Bezugsrahmen heraus, wobei das Zivilrecht i m Usus modernus Pandectarum® 0, d.h. i m freieren Umgang m i t den römischrechtlichen Quellen seine spezifischen Konturen gewinnt, während das an Verfassungsrecht und -praxis des Reiches orientierte öffentliche Recht i m systematischen und methodologischen Zugriff der Reichsstaatsrechtslehre® 1 sich seiner selbst als einer eigenen rechtlichen Fachdisziplin bewußt wird. Naturgemäß vollziehen sich Ausdifferenzierungsprozesse dieser A r t nicht ohne Schwierigkeiten und Reibungen zwischen alten und neuen Positionen. So versuchen beispielsweise die Vertreter überkommener Lehren einer Klassifikation und Einteilung des Rechts, dem ius publicum wegen der i n i h m enthaltenen politischen Implikationen den Rechtscharakter streitig zu machen, indem sie es dem Fach der Politik zuweisen®2. Derartige Einwände schlagen aber nicht durch, weil man sich i m Kreise der Jenaer Schule ungeachtet der Tatsache, daß das ius publicum auf den status politicus®8 des Gemeinwesens ausgerichtet ist, dem gewählten Gegenstandsbereich m i t spezifisch rechtlichen Mitteln, d. h. auf der Grundlage von Rechtsquellen nähert, die es ermöglichen, das politische Gemeinwesen i n seiner normativen Struktur als staatlich organisiertes Rechtssystem zu erfassen. Limnaeus kann daher m i t Recht 60
Dazu Söllner, Die L i t e r a t u r zum gemeinen u n d partikularen Recht i n Deutschland, Österreich, den Niederlanden u n d der Schweiz, i n : Coing (Hg.), Handbuch, Bd. 2, Teilbd. 1, S. 501—614 (501 f.), der m i t G r u n d betont, daß i m Zeitalter des Usus modernus „jene gemeinrechtliche Dogmatik entstanden (ist), v o n der noch die geltenden Privatrechtskodifikationen zehren, u n d die sich i n der modernen Zivilrechtsdogmatik fortsetzt". Jede dogmengeschichtliche Untersuchung u n d jede historische Erforschung der Institutionen des neueren Privatrechts werde folglich „ v o m Usus modernus auszugehen haben oder, falls auch die mittelalterliche u n d die antike E n t w i c k l u n g einbezogen w i r d , doch beim Usus modernus verweilen u n d einen Schwerpunkt setzen müssen". Vgl. auch ders., Z u den L i t e r a t u r t y p e n des deutschen Usus modernus, i n : lus Commune 2 (1969), S. 167—186. 61 Namentlich der Jenaer Schule des Arumaeus u n d Limnaeus. Siehe dazu das oben unter Nr. 1, S. 145 ff., Ausgeführte. 62 So z.B. der i n Altdorf, später i n Ingolstadt lehrende Hubert Giphanius (1534—1604). Vgl. seinen: Commentarius i n quatuor libros I n s t i t u t i o n u m j u r i s civilis, Francofurti 1606, lib. I, t i t . I, § „Huius studii", S. 9 (ius p u b l i c u m potius ad politicam scientiam, et ad v i r u m politicum pertinere). 63 Vgl. Cubach, Jurisprudentiae Germano publicae capita aliquot, i n : A r u maeus, Discursus, vol. I I , Nr. 35, cap. 1, Ziff. 2, S. 1082, der die „ j u r a regni et I m p e r i i nostri Romano-Germanici" dem status politicus zureòhnet.
§ 1 Reichsstaatsrecht und
e i r a s s
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sagen, der Jurist bewege sich nicht außerhalb der Grenzen seines Fachs (non ultra terminos professionis suae)64, wenn er sich dem öffentlichen Recht zuwende. Er bringt damit das Selbstverständnis einer Fachdisziplin zum Ausdruck, welche die Anfänge hinter sich gelassen hat und i n die Phase der Konsolidierung eintritt.
§ 12 Reichsstaatsrecht und Reichsverfassung 1. Kaiserliches und reichsständisches Staatsrecht
Das ius publicum ist wegen seiner organisationsstrukturellen Bezogenheit auf den frühmodernen Staat von Anfang an m i t den politischen Gegebenheiten der Zeit aufs engste verknüpft. Die dem öffentlichen Recht des Reiches zugewandten Juristen sind deshalb unvermeidlich den großen politischen Streitfragen ihrer Epoche konfrontiert m i t der Folge, daß sich — je nach dem gewählten Standort — auch rechtlich alsbald unterschiedliche Auffassungen ergeben. So ist die einst von Marburger Juristen 6 5 initiierte, i n der Jenaer Schule des Reichsstaatsrechts ausgebaute Lehre des ius publicum keineswegs unumstritten oder gar allgemein anerkannt. Schon gegenüber der relativ maßvollen Position des Vultejus, der die mittelalterliche Translationslehre m i t guten Gründen angezweifelt hatte 6 6 , war erheblicher Widerspruch geäußert worden. Bedenken waren insbesondere von Gottfried Antonius (1571—1618)67 an der neugegründeten Universität i n Gießen vorgetragen worden, der i n der Abweisung der Lehre von der Translatio Imperii einen Angriff auf die Rechtsstellung des Kaisers 68 erblickte. Diese Auffassung war nicht unbegründet, denn m i t der A b lehnung der Translationslehre wurde die Geltungsgrundlage des römischen Rechts i n Zweifel gezogen und damit die kaiserliche Rechtsposition einer ihrer wichtigsten Stützen beraubt.
64
Vgl. Limnaeus, Iuris publici I m p e r i i Romano-Germanici, lib. I , cap. 2, Nr. 13. 65 Siehe oben Kap. 1, § 10, Nr. 2. ββ Dazu oben § 11, Nr. 1, S. 142. 67 Der zuvor i n M a r b u r g gelehrt, sich dort jedoch m i t Vultejus überworfen hatte. Z u m konfessionellen H i n t e r g r u n d der Auseinandersetzung siehe Κ . A . Hall, Die Juristische F a k u l t ä t der Universität Gießen i m 17. Jahrhundert, i n : Ludwigs-Universität. Justus-Liebig-Hochschule 1607—1957. Festschrift zur 350-Jahrfeier, Gießen 1957, S. 1—16 (2 f.). 68 Vgl. Gottfried Antonius, Disputatio apologetica de potestate Imperatoris legibus soluta, et hodierno I m p e r i i statu. Adversus H e r m a n n u m V u l t e j u m . [Resp.:] Christoph K a l t , Giessae Hassorum 1608. Siehe auch unten F N 70.
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Vultejus hatte i n der Tat bestritten, daß der Kaiser noch legibus solutus genannt werden könne 69 , Antonius darauf erwidert, der Kaiser sei nach wie vor wahrer Monarch (verum monarcham esse) und hinzugefügt, daß er es für verderblich halte zu behaupten, dieser sei nicht von den Gesetzen entbunden (nefas sit asserere Imperatorem hodie legibus non esse solutum) 70 . Der i m folgenden i n mehreren Kontroversdisputationen 7 1 ausgetragene Gelehrtenstreit, der sich schließlich vom Thema ganz entfernte und dessen Ausgang hier nicht weiter interessiert, ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil er den Anfang einer grundsätzlichen Debatte markiert, die auf ein strukturelles Problem weist und alsbald i n größerem Zusammenhang erneut aufgenommen wurde. Dietrich Reinking (1590—1664), wie Antonius Professor i n Gießen, knüpft i m Jahre 1619 i n seinem ,Tractatus de regimine saeculari et ecclesiastico' 72 an die Auffassungen seines ein Jahr zuvor verstorbenen Kollegen an, indem er dessen Ansätze systematisiert und i n den Rahmen eines römischrechtlich fundierten Reichsstaatsrechts einfügt, das ganz auf den Kaiser ausgerichtet ist. Er vertritt nicht von ungefähr den Standpunkt, daß das Reich als ein römisches auf die Deutschen übertragen worden sei 78 und kann deshalb folgerichtig seinen öffentlichrechtlichen Überlegungen die kaiserrechtlichen Formeln und Maximen zugrunde legen. Reinking ist aber nicht nur Vertreter eines lediglich auf römischrechtliche Quellen gestützten ius publicum. Er gründet vielmehr sein Reichsstaatsrecht zugleich auf die Souveränitätslehre Bodins 74 , die i n 69 Vultejus, A d titulos Codicis Commentarius, tit. X X I V , 1.1, Nr. 8, S. 511: „ N o n igitur, u t olim, ita hodie Princeps legibus solutus est, u t de eo, an Princeps legibus teneatur, nec ne, sollicite inquirere non admodum sit necessarium." 70 Antonius, De augustissimae, sacratissimaeque Camerae Imperialis j u risdictione. [Resp.:] Christoph K a l t , Giessae Hessorum 1607, Corollaria, I f . — Diese Disputation ist der i n F N 68 genannten vorausgegangen. Letztere w u r d e vor allem deshalb verfaßt, w e i l Vultejus seinen Kontrahenten keiner A n t w o r t gewürdigt hatte (nec ullo nos dignari responso). Vgl. Disputatio apologetica, thesis I, Nr. 4. Z u m H i n t e r g r u n d der Kontroverse siehe Stintzing I, S. 462 ff. 71 F ü r Vultejus antwortete dessen Schüler Georg Martinius. Vgl. seine Disputatio ,De potestate Imperatoris legibus soluta, et hodierno I m p e r i i statu, ad versus Gothofredum Antonium'. [Resp.:] Daniel Patterson (1609), i n : M e l chior Goldast, Politica Imperialia, Francofurti 1614, S. 630—636. Antonius ließ daraufhin seine insgesamt drei ,Disputationes Anti-Vulteianae' erscheinen (Gießen 1609—1610). 72 Hier benutzt i n der 3. Aufl., M a r b u r g 1641. Z u Reinkings Reichsstaatsrechtslehre vgl. Christoph Link, Dietrich Reinkingk, i n : Stolleis (Hg.), Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert, F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 78—99 (82 ff.). 73 Tractatus de regimine seculari, lib. I , cl. 2, cap. 3, Nr. 23, S. 48: „Sed Romanum f u i t translatum imperium. Ergo et Romanum est." 74 Siehe ebd., cap. 7, S. 62 ff.
§ 1 Reichsstaatsrecht und
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diesen Jahren i m Reich zusehends an Boden gewinnt 7 5 . Waren die Reichsjuristen bislang m i t der Übernahme des Souveränitätsbegriffs i m allgemeinen noch immer sehr zurückhaltend gewesen, so gilt m i t Reinking als ausgemacht, daß ius publicum und summa potestas sehr wohl miteinander vereinbar sind. Jedenfalls stützt er seine reichsstaatsrechtliche Konzeption nicht mehr auf die lange favorisierte iurisdictio, sondern ganz auf die durch Bodin neuformulierte höchste staatliche Herrschaftsgewalt. Es zeigte sich freilich sogleich, daß es nicht unproblematisch war, die Reichsverfassung auf diese Weise rechtlich darstellen zu wollen. Schon Bodin hatte es Schwierigkeiten bereitet, seinen an den gänzlich anders gearteten Verfassungsverhältnissen Frankreichs ausgebildeten Souveränitätsbegriff auf Kaiser und Reich zu übertragen 76 . Diese Schwierigkeiten treten bei Reinking i n ungleich schärferer Form zutage, w e i l sich inzwischen aufgrund der Vertiefung der konfessionellen Spaltung und der darauf folgenden, vom Reich auf Europa übergreifenden kriegerischen Auseinandersetzungen die Verfassungslage weiter kompliziert hatte. Reinking spricht trotz allem die höchste Gewalt i m Reich allein dem Kaiser zu (soli Imperatori) 7 7 . Obgleich er die Stände nicht völlig übergeht, verbleibt diesen letztlich doch nur ein allgemeines Beratungs- und eng begrenztes Mitwirkungsrecht 7 8 , das an der absolut-monarchischen Verfassungskonstruktion nichts zu ändern vermochte. M i t der Verfassungswirklichkeit des Reiches war diese Konzeption nur schwer i n Einklang zu bringen. Die Wirklichkeit der Reichsverfassung wurde nämlich seit dem ausgehenden Mittelalter durch den Dualismus von Kaiser und Reichsständen 79 bestimmt. Dieser Dualismus ist i m Tractatus Reinkings, der ein B i l d der überlieferten Reichsideologie entwirft, nur höchst unvollkommen zum Ausdruck gelangt. Wollte man die 75 Vgl. Hoke, Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, i n : Denzer (Hg.), Jean Bodin, München 1973, S. 315—332. 76 Siehe hierzu: De Republica, lib. I I , cap. 6, S. 349 ff. (358 ff.), w o er sich genötigt sieht, die Souveränität allein den Ständen zuzusprechen, w e i l der Kaiser v o n diesen abhänge. Z u den Problemen, welche sich Bodin i m H i n blick auf die Reichsverfassung stellen, vgl. Hoke, Bodins Einfluß, S. 318 ff. 77 Vgl. Reinking, Tractatus de regimine saeculari, lib. I , cl. 3, cap. 11, Nr. 9, S. 138: „Competit ergo majestas proprie et stricte loquendo soli Imperatori." Siehe auch lib. I, cl. 5, cap. 9, S. 319 ff. Reinking entscheidet sich demnach bezüglich der Innehabung der Souveränität i m Reich anders als Bodin, gegen den er i n diesem P u n k t heftig polemisiert (lib. I , cl. 2, cap. 2, S. 27 ff.), obw o h l er i h m ansonsten außerordentlich verpflichtet ist. 78 Siehe hierzu ebd., lib. I, cl. 5, cap. 8, S. 321 ff., w o eine Berücksichtigung ständischer Interessen i n Religions- u n d Steuerfragen i n Betracht gezogen ist. 79 Hierzu Gerhard Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der M o narchie i n Deutschland v o m 16. bis 18. Jahrhundert, i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, S. 253—276.
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
von Reinking nicht gelösten, gleichwohl weiter vorhandenen reichsstaatsrechtlichen Probleme bewältigen, erwies es sich als unumgänglich, andere Wege zu beschreiten. Vergegenwärtigt man sich, daß der gedankliche Ansatz Reinkings vor allem deshalb inadäquat erscheinen mußte, w e i l er von dem Modell eines Reiches ausging, welches so nicht existierte, w e i l er ferner auf ein Recht baute, dessen Geltungsgrundlagen bestritten wurden, so konnte eine angemessene Lösung eigentlich nur da gefunden werden, wo man bereit und i n der Lage war, von den genannten Voraussetzungen abzusehen. Beide Bedingungen sind i m Umkreis der Jenaer Schule des Reichsstaatsrechts gegeben, wo man sich der Besonderheiten des I m perium Germanicum bewußt w a r und der aktuellen Reichsverfassungsfragen des Hier und Jetzt i n spezifischer Weise annahm. Sowohl Arumaeus als auch Limnaeus ist klar, daß der Zugang zum deutschen Reichsstaatsrecht nicht über römische Rechtsquellen vermittelt werden kann. Sie legen deshalb dem Jus publicum Romano-Germanicum bewußt der deutschen Rechts- und Verfassungsentwicklung entstammende Quellen 80 zugrunde. Die Jenaer Juristen wissen aber auch, daß der Souveränitätsbegriff Bodins i n dieser Form für das Reichsstaatsrecht nicht brauchbar ist 8 1 , w e i l er der tatsächlichen Bedeutung der Reichsstände nicht gerecht wird. Bodin und i h m folgend Reinking hatten versucht, eine Lösung für das damit aufgeworfene Problem zu finden, indem sie Staats- und Regierungsform voneinander unterschieden 82 m i t der Folge, daß ein — dem status reipublicae nach — monarchischer Staat sehr wohl aristokratisch, d. h. unter M i t w i r k u n g der Stände regiert werden könne. Eine derartige Unterscheidung w a r aber künstlich und überdies nur dann sinnvoll, wenn man i m Gefolge Bodins und der an i h n sich anschließenden aristotelischen Politiklehre 8 3 der Zeit einer 80
Dazu oben § 11, Nr. 2. Vgl. hierzu etwa Arumaeus, A n summa potestas l i m i t i b u s circumscribi debet?, i n : ders., Discursus, vol. I V , Jenae 1623, Nr. 1, B l . 1; ders., A t q u i i n quies nonne M a j estati per hoc detrahitur?, ebd., Nr. 2, Bl. 2 r—Bl. 5 r, m i t dem Hinweis darauf, daß keinem der europäischen Könige eine souveräne Herrschaftsgewalt i m Sinne Bodins zukomme (Bl. 2 r ) . Siehe auch Reinhard König (Koning), De majestate et juribus Imperatori specialiter reservatis, i n : Arumaeus, Discursus, vol. I I , Nr. 17, S. 547—562, thesis 3 ff. (S. 548 ff.); ders., De statibus et membris I m p e r i i Romani, ebd., Nr. 18, S. 563—587. 82 Vgl. Bodin, De Republica, lib. I I , cap. 1 ff., S. 272 ff. — Reinking, Tractatus de regimine saeculari, lib. I , cl. 2, cap. 2, Nr. 4 ff., S. 31 ff., schließt sich Bodin, obwohl er gegen diesen zuvor polemisiert, i n dieser Frage am Ende nichtsdestoweniger an: „ E t licet quoad administrationis formam et m o d u m speciem quandam referat Aristocraticam, ipse tarnen status Monarchicus e s t . . ( e b d . , Nr. 242, S. 46). 83 Wie sie z. B. v o n Henning Arnisaeus i n Helmstedt vertreten wurde. Siehe dazu unten Kap. 3, § 14, Nr. 1, S. 178 f. 81
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scharfen Dreigliederung der Staatsformen monarchischen das Wort redete.
unter Bevorzugung
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Machte man sich hiervon frei und blickte auf die Realität des Reiches, so war nicht zu übersehen, daß den Reichsständen weit mehr zukam als nur ein Mitwirkungsrecht. Andererseits wäre es aber unangemessen gewesen, i n der Konsequenz der Lehre des Althusius 8 4 i m Kaiser lediglich den obersten Magistraten der Stände zu sehen. Angesichts dieser Situation rekurriert die Jenaer reichsstaatsrechtliche Schule auf eine Problemlösung, die den Interessen der Stände ebenso wie denen des Kaisers Rechnung zu tragen bemüht war, indem sie den Souveränitätsbegriff modifizierte und i n unterschiedliche Bestandteile aufgliederte. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Überzeugung, daß der Souveränitätsbegriff Bodins zu eng sei. Man müsse, wie Matthias Bortius ausführt, jedenfalls was das Reich angehe, zwischen Maj estas Imperii und Maj estas Imper atoris unterscheiden 85 . Die eine bezeichnet er, einem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend, als reale (maj estas realis), die andere als personale Majestät (majestas personalis) 86 . Während die maj estas realis durchaus i m Sinne des Althusius als konstituierende Gewalt begriffen wird, deren Subjekt die respublica als solche darstellt, ist die maj estas personalis die beim Herrscher liegende Regierungsgewalt 87 . Es w i r d hiermit nicht beabsichtigt, die Souveränität zu teilen. Limnaeus verdeutlicht diesen Gesichtspunkt, indem er die reale Majestät ausschließlich der ständisch organisierten staatlichen Gemeinschaft 88 zuerkennt. Der Kaiser befindet sich ungeachtet seiner per84
Siehe oben Kap. 1, § 9, Nr. 3, S. 129 f. Vgl. Matthias Bortius, De natura j u r i u m majestatis et regalium, i n : A r u maeus, Discursus, vol. I, Nr. 30, Bl. 274 v—300 v, cap. I, 1, B1.275r. 86 Ebd., cap. I, 2, Bl. 275 v. — Die Unterscheidung w i r d i n dieser F o r m i m allgemeinen Hermann Kirchner zugeschrieben, der sie i n seiner 1608 erschienenen »Respublica* zuerst gemacht haben soll. Vgl. disp. I I , thesis 3, S. 22 f. (zit. nach der 2. verm. Aufl., M a r b u r g 1609). I h r e Ursprünge reichen jedoch sehr v i e l weiter zurück. Dazu Tierney, ,Divided Sovereignty' at Constance, S. 238 ff., der die Anfänge der Lehre von der geteilten' Souveränität m i t G r u n d auf die konziliare Theorie zurückführt. Dazu näher oben A b schnitt I, Kap. 3, § 7, Nr. 3, S. 105 f. 87 Vgl. Bortius, cap. I, 2, Bl. 275 v : „Majestam realem definimus compagem potestatum et functionum ipsius Reipublicae status sui fundandi et conserv a n d i ergo. Personalem vero compagem functionum sive j u r i u m Principis regendae Reipublicae gratia, inter se apta et arcta connexione conformata." 88 Limnaeus , Iuris p u b l i c i Romano-Germanici, lib. I, cap. 12, Nr. 23: „ A t q u i maiestas Imperii, Reipublicae est coaeva, et tarn d i u permanet, quam d i u corpus eius durât, et etiam sub interregnis, et alterationibus persistit. Maiestas vero Imperatoris cum eodem i n t e r i t et annihilatur." Vgl. ders., Iuris p u b l i c i Romano-Germanici A d d i t i o n u m ad priores I I , Argentorati 1660, Add. ad lib. I, cap. 12, S. 188: „Regni maiestas est realis et perpetua, regnantis personalis, cum persona extinguitur." Siehe auch ders., Capitulationes i m perai orum et regum Romano-Germanor um cum annotamentis, Argentorati 85
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sonalen Majestät insofern i n Abhängigkeit von der Gesamtheit, als er von dieser eingesetzt wird, m i t h i n eine lediglich abgeleitete, organartige Stellung (tanquam Organum) besitze 89 . Obwohl die Gewalt des Kaisers damit nicht originär, sondern derivativ ist, w i r d aber auch i h m i m Hinblick auf seine maj estas personalis eine höchste Gewalt (suprema potestas) zugesprochen 90 mit der Begründung, daß es i m Reich eine dieser übergeordnete, weitere personale Majestät nicht gebe. Vergleicht man die Souveränitätslehre der Jenaer Schule m i t den einschlägigen Auffassungen des Althusius 9 1 , so erweist sie sich letztlich als eine — wenn auch maßvolle — Modifikation derselben. Sie ermöglichte zum einen eine realistische Erfassung der staatlichen Wirklichkeit des Reiches, gab zum anderen aber auch dem Kaiser eine Möglichkeit monarchischer Selbstdarstellung, die i h n gegenüber den anderen europäischen Monarchen nicht herabsetzte. Das rechtliche Modell modifizierter Souveränität verbleibt somit i n einer eigentümlichen Schwebelage, i n der die staatliche Souveränität zwar mit-, aber nicht zu Ende gedacht wird 9 2 . Dieses Denkmodell war den tatsächlichen Verhältnissen i m Reich jedoch angemessen93 und bildete sich nicht von ungefähr gerade da aus, wo Herrscher und Stände seit dem ausgehenden Mittelalter i m Sinne einer Mitsprache der letzteren zur Kooperation genötigt waren. Das Reich bewahrt diese ständisch-freiheitliche Tradition durch den Abso1651, S. 533, Nr. 54, w o er anläßlich der Kommentierung der W a h l k a p i t u l a t i o n Rudolfs I I . (1576—1612) die ma j estas realis als „potestas et dignitas Stat u u m universorum" bezeichnet. 89 Limnaeus, Iuris p u b l i c i Romano-Germanici A d d i t i o n u m ad priores I I , Add. ad lib. I, cap. 12, S. 189. Vgl. auch ders., Iuris p u b l i c i Romano-Germanici, lib. I , cap. 12, Nr. 24: „ C u m maiestas Imperatoris, ab I m p e r i i maiestate, tanquam fundamentum a fundamentato distinguatur, utique illius hac potior esse nequit, unde fit, u t maiestati regni regnantis maiestas, tanquam superiori obstringatur, ne q u i d Respublica detrimenti faciat." 90 So Limnaeus, Iuris p u b l i c i Romano-Germanici lib. I , cap. 12, Nr. 25, i n Auseinandersetzung m i t Reinking, wobei allerdings nicht ganz k l a r w i r d , ob er hier seine eigene Meinung äußert oder n u r die Auffassungen anderer referiert. Deutlicher ders., Capitulationes, S. 537, Nr. 65: „Personalem [majestatem], autem summam esse arbitror, si cum singulis reipublicae membris, ordinibus et magistratibus conferatur." 91 Hierzu Scupin, Die Souveränität der Reichsstände u n d die Lehren des Johannes Althusius, i n : Westfalen 40 (1962), S. 186—196, der i n den K o n zeptionen des Limnaeus eine „ w i r k l i c h e Vollendung der noch mehr allgemeinen Staatslehren althusianischer Provenienz zu einer Verfassungsrechtslehre des Reiches" erblickt (S. 195). Siehe auch Hoke, Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, S. 325. 92 Das geschieht erst i m Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. Dazu unten Abschnitt I I I , Kap. 1, § 16, Nr. 2. 93 Vgl. dazu Friedrich Hermann Schubert, Volkssouveränität u n d Heiliges Römisches Reich, i n : H Z 213 (1971), S. 91—122 (112 ff.). Siehe auch ders., Die deutschen Reichstage, S. 476 ff. Z u den verfassungsgeschichtlichen G r u n d lagen siehe Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen i m 16. J a h r hundert, B e r l i n 1982, S.23ff.
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lutismus hindurch und w i r d hiermit zum Beispiel dafür, daß auch eine beschränkte Monarchie i n vollem Sinne existenzfähiges staatliches Gemeinwesen 94 sein kann. Limnaeus baut auf dieser bis i n den spätmittelalterlichen Konziliarismus zurückreichenden Tradition auf, und es ist kein Zufall, wenn er, hierauf Bezug nehmend darlegt, der Kaiser sei dem Reich ebenso nachgeordnet wie der Papst dem Konzil (Imperatorem esse minorem Imperio, u t Pontificem Concilio) 95 . Das reichsständische Staatsrecht hat i n der Folge aber nicht nur Zustimmung erfahren, vor allem deshalb nicht, w e i l man es der Nähe zur Volkssouveränitätslehre verdächtigte, die als monarchomachisch 90 abgelehnt wurde. Andererseits ist bis auf den Versuch von Nikolaus Christoph Lyncker (1643—1726), die Thesen Reinkings zu beleben 97 , ein römisch-kaiserrechtlich fundiertes Reichsstaatsrecht nicht mehr vorgelegt worden. Letzteres hat seinen Grund darin, daß m i t dem Westfälischen Frieden und den i m Instrumentum Pacis festgeschriebenen Rechten der Reichsstände 98 ein ohne Rücksicht auf diese konzipiertes ius publicum m i t der Realität des Reiches nicht mehr vereinbar gewesen wäre und infolgedessen w o h l kaum Zustimmung erfahren hätte. Fragt man i m Rückblick auf die Genese des lus publicum RomanoGermanicum nach den entscheidenden Kräften, die es hervorgebracht und befördert haben, so sind jene auf die Ausbildung des frühmodernen Staates gerichteten Prozesse und Bestrebungen zu nennen, die sich i m Reich wie anderwärts manifestieren und m i t tiefgreifenden Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einhergehen. Diese i n ihrer Gesamtheit die frühmoderne Verstaatung vorantreibenden vielschichtigen Vorgänge und Abläufe, die schon i m späteren Mittelalter einsetzen, entfalten sich nunmehr verstärkt i n zunehmendem Handel, wachsendem Verkehr und gesteigerter Wirtschaftstätigkeit 9 9 . Der frühmoderne Staat, durch diese Prozesse bedingt, sie aber 94
Dazu F. H. Schubert, Volkssouveränität, S. 113, der betont, daß die Reichs Verfassung zum Kronzeugen dafür genommen werde, daß der „ G r u n d satz der Volkssouveränität w i e f ü r Republiken auch f ü r Monarchien gelte u n d daß v o n Rechts wegen i n jedem Herrschaftsstaat eine ständische M i t sprache w i e i m Reich zu bestehen habe". 95 Limnaeus, Iuris p u b l i c i Romano-Germanici, lib. I, cap. 12, Nr. 19. Z u m spätmittelalterlichen Konziliarismus siehe oben Abschnitt I, Kap. 3, § 7, Nr. 3, S. 104 ff. 96 Vgl. etwa Caspar Ziegler, De juribus majestatis tractatus academicus, Wittenbergae 1681, lib. I , cap. 1, Nr. 44 ff., S. 31 f., m i t ausdrücklichem Hinweis darauf, daß die Lehre v o n der m a j estas realis et personalis geeignet sei, den Königsmord zu rechtfertigen. 97 Lyncker hat k e i n geschlossenes Reichsstaatsrecht verfaßt, sondern n u r Einzelschriften u n d Disputationen vorgelegt. Vgl. hier: De plenitudine summae potestatis. [Resp.:] Carl Chr. Strauss, Jenae 1691. 98 Hierzu näher unten § 13, S. 176.
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zugleich auch merkantilistisch oder kameralistisch fördernd 1 0 0 , bedarf der fortschreitenden Institutionalisierung, wie sie sich beispielsweise i n der Errichtung von neuen Ä m t e r n und Behörden 101 äußert, u m den sich stellenden zahlreichen Aufgaben weiterhin gewachsen zu sein. Die Ausbildung eines Reichsstaatsrechts, das den Verstaatungsprozeß als Regelungszusammenhang darstellt und wiedergibt, erscheint unter diesen Umständen unumgänglich, w e i l die vielfältigen organisationsstrukturellen Probleme, die i m Reich i m Gefolge der staatlichen Entwicklung auftreten, einer spezifisch öffentlichrechtlichen Aufarbeitung und Durchdringung bedurften, welche m i t den M i t t e l n herkömmlicher Rechtstechniken allein nicht geleistet werden konnte. Die mitunter überschätzten konfessionellen Frontstellungen, wie sie sich seit der Reformation abzeichnen, treten angesichts der grundlegenderen Strukturprobleme zurück, öffentliches Recht als Fachdisziplin ist deshalb kein Privileg lutherischer oder reformierter Landesuniversitäten, wenngleich diese maßgeblichen A n t e i l an seiner Herausbildung haben. Das Jus publicum Romano-Germanicum w i r d nicht nur i n Marburg, Gießen oder Jena, sondern ebenso i n Ingolstadt 1 0 2 , einer stets katholisch gebliebenen Hochschule, und i n Salzburg 103 , einer Gründung des Erzbistums, gelehrt und betrieben, w e i l auch hier vergleichbare Strukturprobleme gegeben sind, die sich von denen anderer Regionen des Reichs funktional nicht unterscheiden. Daß sich ein ius publicum als Gegenstand der Jurisprudenz vor allem i m Reich, nicht hingegen — von Ansätzen abgesehen 104 — i n Frankreich 99 Vgl. dazu Herbert Hassinger, Politische K r ä f t e u n d Wirtschaft 1350— 1800, i n : A u b i n / Z o r n (Hg.), Handbuch der deutschen W i r t s c h a f t s - u n d Sozialgeschichte, Bd. 1, S. 608—657. 100 Hierzu Wilhelm Treue, Das Verhältnis von Fürst, Staat u n d Unternehmern i m Zeitalter des Merkantilismus, i n : V S W G 44 (1957), S. 26—56. ιοί v g L etwa Gerhard Oestreich, Der brandenburgisch-preußische Geheime Rat v o m Regierungsantritt des Großen K u r f ü r s t e n bis zu der Neuordnung i m Jahre 1651. Eine behördengeschichtliche Studie, Würzburg 1937. Z u r T y pologie zentraler Ä m t e r u n d Behörden siehe Willow eit, Allgemeine M e r k male der Verwaltungsorganisation i n den Territorien, i n : Jeserich u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 1, S. 289—346. 102 Vgl. Helmut Wolff , Geschichte der Ingolstädter Juristenfakultät 1472— 1625, B e r l i n 1973, S. 259. Siehe auch oben F N 58. loa w o bereits 1636 ein Ordinariat „ j u r i s publici" bestand. Hierzu Neumaier, lus publicum, S. 41. 104 Der erste Lehrstuhl f ü r öffentliches Recht w i r d i n Frankreich beispielsweise erst 1699 eingerichtet. Vgl. Collot, L'Ecole doctrinale de droit public de Pont-à-Mousson, Paris 1965, S. 3. — F ü r England vgl. das U r t e i l Hatscheks, die Wissenschaft des Staatsrechts falle, da zwischen die beiden Stühle Politics u n d L a w gesetzt, i n unserem kontinentalen Sinne „ganz auf den Boden" (Englisches Staatsrecht, Bd. 1, Tübingen 1905, S. 13). Z u m gesamteuropäischen öffentlichrechtlichen Kommunikationszusammenhang siehe Mohnhaupt, „Europa" u n d „ius p u b l i c u m " i m 17. u n d 18. Jahrhundert, i n : Aspekte europäi-
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oder i n England ausgebildet hat, liegt i n den außerordentlich komplexen politischen und rechtlichen Verhältnissen begründet, wie sie i n dieser Weise nur i n der Nachfolge des Imperium Romanum gegeben waren. Wo, wie i n Frankreich, der Grundsatz des ,L'Etat c'est moi' 1 0 5 sich durchsetzte, mochte eine absolutistische Staatslehre erforderlich sein, eines Staatsrechts bedurfte es unter derartigen Bedingungen kaum. Wo umgekehrt, wie i n England, die Konflikte i n der Revolution bis zur Hinrichtung des Monarchen 106 gesteigert wurden, waren die Voraussetzungen für die Ausbildung eines die staatlichen Verhältnisse reflektierenden öffentlichen Rechts gleichfalls nicht eben günstig 1 0 7 ; denn es fehlte an der notwendigen staatsrechtlichen Kontinuität, ohne die ein so voraussetzungsvolles Phänomen wie das ius publicum, anders i m übrigen als die politische Publizistik 1 0 8 , sich nicht zu entfalten vermag. So konnte schließlich das trotz allen Wandels Kontinuität verbürgende lus publicum Romano-Germanicum gerade aufgrund des prekären, jedoch auf Kompromiß und Ausgleich angelegten politischen und rechtlichen Status des Reichs bereits i m Laufe des 17. Jahrhunderts einen Entwicklungsvorsprung erzielen, der bis ins Zeitalter des Konstitutionalismus hinein trägt, dessen Staatsrechtslehre i n vielem auf den älteren Fundamenten aufruht. 2. Die leges fundamentales als Grundgesetze des Reiches
Wenn das Reichsstaatsrecht seine Existenzberechtigung i m Fächerkanon der Jurisprudenz behaupten und stabilisieren wollte, mußten spezifische Rechtsquellen nachgewiesen werden, die sich von denen anderer Rechtsdisziplinen unterscheiden und abgrenzen ließen. Es liegt nach dem Vorangegangenen auf der Hand, daß auch i n diesem Punkt die Wege des kaiserlichen und des ständischen Reichsstaatsrechts auseinandergehen mußten. Reinking als ein klassischer Protagonist kaiserlichen Reichsstaatsrechts rekurriert, was die Rechtsquellen des ius publicum anbelangt, scher Rechtsgeschichte. Festschrift f ü r H e l m u t Coing zum 70. Geburtstag, F r a n k f u r t a. M. 1982 (lus Commune, Sonderhefte, 17), S. 207—232 (212 ff.). 105 Z u dieser i m allgemeinen L u d w i g X I V . zugeschriebenen Formel vgl. Fritz Härtung, L'Etat c'est m o i (1949), i n : ders., Staatsbildende K r ä f t e der Neuzeit, B e r l i n 1961, S. 93—122. io« Karls I. i m Jahre 1649. Hierzu Wing field-Stratford, K i n g Charles the M a r t y r , 1643—1649, London 1950, S. 287 ff. 107 Dem Umstand, daß i n England das römische Recht nicht hat Fuß fassen können, k o m m t zwar auch — aber n u r als einem Faktor unter mehreren — Bedeutung f ü r die Vernachlässigung des öffentlichen Rechts zu. Hierzu Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 10 ff., der aber zu sehr auf das Fehlen der Rezeption abstellt. los welche damals i n England i n hoher Blüte steht. Vgl. Zagorin, A History of Political Thought i n the English Revolution, London 1954, S. 1.
11 Wyduckel
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ganz auf das römische Recht. Aus der Translatio Imperii von den Römern auf die Deutschen ergibt sich i h m zwingend der Schluß, daß das römische i m deutschen Kaisertum fortbestehe und infolgedessen auch die römisch-rechtliche Lex regia weitergelte 109 . Reinking folgt hier der Auffassung einer endgültigen und restlosen Rechtsübertragung seitens des Volkes, so daß allein der Kaiser 1 1 0 Inhaber der Majestätsrechte sein kann. Daß eine derartige Anschauung m i t der Wirklichkeit der Reichsverfassung nicht ohne weiteres vereinbar war, scheint auch Reinking bewußt gewesen zu sein. Er gesteht nämlich implizit zu, daß die kaiserliche Macht tatsächlich keineswegs so unumschränkt ist, wie er anfänglich vorgibt, sondern einer Vielzahl von Beschränkungen und Begrenzungen unterliegt, die von i h m i m einzelnen aufgeführt 1 1 1 und damit durchaus zum Bewußtsein gebracht werden. Reinking bewertet diese freilich insgesamt als so wenig ins Gewicht fallend, daß er gleichwohl an der Auffassung einer prinzipiell unbegrenzten kaiserlichen Machtvollkommenheit festhält. Er gerät damit i n ein ähnliches Dilemma wie zuvor Bodin 1 1 2 , w e i l auch dieser eine zureichende A n t w o r t darauf schuldig geblieben war, wie die Existenz einer vorgeblich höchsten, absoluten Herrschaftsmacht m i t dem Vorhandensein tatsächlicher rechtlicher Bindungen vereinbart werden könne. Von einem anderen Ansatzpunkt her wendet sich die reichsständische Schule des ius publicum dem Problem der Rechtsquellen des Reichsstaatsrechts zu. Da man sich hier vom römischen Recht weitgehend gelöst hatte, konnte die Frage einer spätantik-kaiserrechtlichen Fundierung des Reichsstaatsrechts gar nicht erst aufkommen. Es treten deshalb unmittelbar die deutschen Rechtsquellen 113 i n den Blick, aus denen die Goldene Bulle, die Wahlkapitulationen und die Reichsabschiede herausragen. Das allein hätte indessen noch keinen relevanten Unterschied gegenüber dem Ansatz Reinkings bedeutet; denn dieser bestreitet nicht, daß auch deutsche Rechtsquellen beizuziehen sind. Jedoch geht er nicht von den letzteren aus, sondern begründet die summa et absoluta potestas mittels der Lex regia rein römischrechtlich; erst darauf unternimmt er 109 v g l Reinking, Tractatus regimine seculari, lib. I, cl. 2, cap. 3, S. 46 ff.; ebd., cap. 2, Nr. 55, S. 34, m i t Hinweis darauf, daß die Übertragung der gesamten Herrschaftsgewalt niemals widerrufen worden sei (nunquam revocatum). 110
Ebd., lib. I , cl. 3, cap. 11, Nr. 9, S. 138. Siehe auch oben F N 77. Reinking benennt u. a. die Goldene Bulle, die W a h l k a p i t u l a t i o n u n d die Reichsabschiede (Tractatus, lib. I I , cl. 2, cap. 6, Nr. 5, S. 399). 112 Siehe hierzu oben Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, Nr. 2, S. 123. 113 Dazu oben Kap. 2, § 11, Nr. 2, S. 149 f. 111
§ 1 Reichsstaatsrecht und e i r a s s
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den — nicht geglückten — Versuch einer Begrenzung, weil offen bleibt, wie eine prinzipiell ungebundene Gewalt m i t M i t t e l n des Rechts einzuschränken sei. Anders geht die Jenaer Schule des Reichsstaatsrechts die Rechtsquellenfrage an. Hier beschreitet man den umgekehrten Weg, indem sogleich die deutschen Rechtsquellen als Grundlage herangezogen werden mit der Folge, daß die römischrechtliche Lex regia als solche außer Betracht bleibt, d. h. die staatliche Herrschaftsgewalt von Anfang an als eine schon immer rechtlich bestimmte und begrenzte erscheint. A n erster Stelle der die staatliche Herrschaft begründenden und begrenzenden Normen steht die Wahlkapitulation. Der dem Jenaer Kreis angehörende Historiker Friedrich Hortleder hat sie m i t Recht die Lex regia der Deutschen 114 genannt. Das ist nicht eine bloß terminologische Wendung, sondern bringt ein Verständnis von Recht und Staat zum Ausdruck, nach dem die herrschaftliche Gewalt — den Bestimmungen der Wahlkapitulation entsprechend — niemals vorbehaltlos, sondern stets unter bestimmten Bedingungen (certis conditionibus) 115 übertragen wird. Die Herrschaftsmacht des Kaisers i m Reich kann demnach keine unumschränkte sein. Das läßt sich nicht nur aus der Wahlkapitulation, sondern auch aus der Goldenen Bulle und den Reichsabschieden entnehmen. Aus jener, w e i l sie i n einer für den Kaiser selbst unabänderlichen Weise 116 festlegt, daß die Berufung zur Herrschaft einen Wahlvorgang seitens der Kurfürsten erfordert, das Reich m i t h i n ein Wahlreich ist; aus diesen, w e i l sie darauf verweisen, daß i h r Zustandekommen die M i t w i r k u n g der Reichsstände 117 voraussetzt, der Kaiser demnach i n seinen das Reich betreffenden Entscheidungen keineswegs als ungebunden gelten kann. 114 Decades quatuor Excerptarum ex Sleidano, i n : Arumaeus, Discursus, vol. 1, Nr. 26, Bl. 247 r—252 ν (247 ν), Ziff. 6: „Capitulatio, n i h i l aliud, nisi Lex Germanorum regia est." Z u r reichsstaatsrechtlichen Relevanz der W a h l kapitulation siehe Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, K a r l s ruhe 1968, S. 135 ff. 115 Ebd. 116 Z u r Frage der Abänderbarkeit der Goldenen Bulle vgl. Arumaeus, Discursus ad Auream Bullam, disc. I, cap. I, 7, S. 12: „Sane nec Imperator hanc B u l l a m abrogare poterit, quia non solo Imperatore auctore, sed u t textus habet, assidentibus Principibus, Electoribus Ecclesisticis et secularibus ac aliorum Principum, Comitum, Baronum, Procerum, N o b i l i u m et C i v i t a t u m numerosa promanavit multitudine, ita u t o m n i u m eorum i n destructione, siquidem eam abrogari v e l i n nonnullis i m m u t a r i velimus, quorum i n promulgatione auctoritas et consensus interveniat, necesse sit." 117 Dazu Matthias Bortius, Jurisprudentiae publicae Germanicae typus, i n : Arumaeus, Discursus, vol. 1, pars I, cap. 1, thesis 5, Bl. 327 r : „Recessus I m perii sunt communis Reipublicae seu Imperatoris et statuum sponsiones." Siehe auch unten S. 166.
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I I . 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht i m 17. Jahrhundert
E i n e m seit d e m E n d e des 16. J a h r h u n d e r t s n i c h t n u r i m R e i c h sich h e r a u s b i l d e n d e n Sprachgebrauch z u f o l g e w e r d e n d e r a r t i g e , d i e staatl i c h e H e r r s c h a f t s g e w a l t f u n d i e r e n d e u n d begrenzende Rechtsregeln als Grundgesetze (leges f u n d a m e n t a l e s ) 1 1 8 bezeichnet. T a t s ä c h l i c h h a n d e l t es sich h i e r b e i u m g r u n d l e g e n d e N o r m e n u n d N o r m e n k o m p l e x e , die, w i e Daniel
Otto
i m H i n b l i c k a u f das R e i c h z u t r e f f e n d b e m e r k t , Basis u n d
F u n d a m e n t des G a n z e n ( I m p e r i i basic ac f u n d a m en t u m ) 1 1 9 d a r s t e l l e n . D i e leges f u n d a m e n t a l e s w e r d e n , d e r i m S p ä t m i t t e l a l t e r ausgebildet e n T r a d i t i o n 1 2 0 entsprechend, nach A r t v o n V e r t r ä g e n b e g r i f f e n . A m k o n s e q u e n t e s t e n i s t die K o n z e p t i o n k o n s e n s u a l b e g r ü n d e t e r F u n d a m e n talgesetze v o n Dominicus Arumaeus u n d Benedikt Carpzov (1595 bis 1666) 1 2 1 d u r c h g e f ü h r t w o r d e n , d i e i n d e n leges f u n d a m e n t a l e s V e r t r ä g e zwischen H e r r s c h e r u n d S t ä n d e n e r b l i c k e n , aus d e n e n b e i d e T e i l e g l e i chermaßen v e r p f l i c h t e t w e r d e n 1 2 2 . B e i N i c h t e i n h a l t u n g eines solchen, i n 118 Vgl. hierzu Limnaeus, Iuris p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, 1.1, cap. X I , Nr. 1 : „Quemadmodum omnia alia Regna, ita et nostrum I m p e r i u m suas habet leges fundamentales, ita dictas, quod his, ceu fundamentis i n n i t a tur, per eas consistât, floreat, vigeat." — Der Begriff der lex fundamentalis scheint sich von Frankreich her verbreitet zu haben, w o er offenbar zuerst von den protestantischen Monarchomachen verwendet worden ist. Vgl. Lemaire, Les lois fondamentales de la monarchie française, Paris 1907, S. 106. I n größerem Rahmen findet er sich erstmals bei Petrus Gregorius Tholosanus (De republica l i b r i X X V I , L u g d u n i 1596). Vgl. vol. I, lib. I, cap. 1, Nr. 1, S. 1; lib. V I I , cap. 10, Nr. 1, S. 195; ebd., cap. 16, Nr. 8, S. 222 (zit. Ed. L u g d u n i 1609). Bodin gebraucht den Begriff der lex fundamentalis bekanntlich nicht, meint jedoch der Sache nach dasselbe, w e n n er von „leges I m p e r i i " spricht. Dazu oben Abschnitt I I , Kap. 1, § 9, Nr. 2, S. 123. 119 Daniel Otto, Dissertatio juridico-politica de j u r e publico I m p e r i i Romani, cap. X I I , S. 443. 120 Z u r mittelalterlichen Lex-contractus-Lehre siehe oben Abschnitt I, Kap. 2, § 3, Nr. 2, S. 76. 121 Dessen hauptsächliche Verdienste i m Straf recht liegen, der jedoch u. a. m i t seiner Abhandlung über die Wahlkapitulation (De capitulatione Caesarea sive de Lege regia Germanorum) auch zum Reichsstaatsrecht der Jenaer Schule einen wesentlichen Beitrag geleistet hat (abgedruckt bei Arumaeus, Discursus, vol. I V , Jenae 1623, Nr. 43, Bl. 253 r—388 v). Z u Carpzov siehe Kleinhey er, Benedikt Carpzov (1595—1666), i n : ders. (Hg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, Karlsruhe 1976, S. 50—54 (50), der i h n f ü r den praktisch w i e wissenschaftlich vielleicht einflußreichsten deutschen Juristen überhaupt hält. 122 v g l . Arumaeus, A n alius quam Germanus i n Regem Romanorum eligi possit?, i n : ders., Discursus, vol. I, Nr. 6, Bl. 24 ν—29 r (27 r) i n unmittelbarem Anschluß an u n d unter Berufung auf Althusius (dazu oben Kap. 1, § 9, Nr. 3, S. 157 f.) : „Concludimus itaque, cum haec fundamentalis i m p e r i i lex sit, i l i a autem n i h i l aliud quam conventio, sub qua omnia i m p e r i i membra sub uno capite collecta et i n u n u m corpus conjuncta sunt". Siehe auch ders., N u m Imperator noster etiamnum legibus solutus dici possit?, ebd., Bl. 29 ν — 33 r (32 v), wo auf die beiderseitige Verpflichtung „ex natura v i n c u l i obligat o r i i " ausdrücklich hingewiesen w i r d . F ü r Carpzov vgl. ,De capitulatione Caesarea', cap. I I I , Nr. 11, Bl. 295 v, wo die lex I m p e r i i fundamentalis als eine solche qualifiziert w i r d , „sub qua I m p e r i u m constitutum est, et q u i tanquam fundamentum ex consensu communi et approbatione n i t i t u r . "
§ 1 Reichsstaatsrecht u n d
e i r a s s
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d i e F o r m eines V e r t r a g e s g e k l e i d e t e n Grundgesetzes d u r c h d e n H e r r scher s o l l d e m a n d e r e n T e i l r e g e l m ä ß i g e i n W i d e r s t a n d s r e c h t 1 2 3 z u stehen. D e m K a i s e r k o m m t u n t e r diesen V o r a u s s e t z u n g e n k e i n e absolute, s o n d e r n eine r e c h t l i c h umschriebene, d. h. d u r c h d i e S t ä n d e beschränkte H e r r s c h a f t s g e w a l t 1 2 4 zu. M . a. W . : das b i s d a h i n w e i t g e h e n d u n g e k l ä r t e V e r h ä l t n i s v o n k a i s e r l i c h e r maiestas personalis u n d ständischer maiestas realis w i r d n u n m e h r m i t t e l s des I n s t r u m e n t s d e r F u n d a m e n t a l g e s e t z e auf eine rechtliche G r u n d l a g e gestellt. Leges f u n d a m e n t a l e s u n d maiestas h ä n g e n demnach, w i e B e n e d i k t C a r p z o v , d e n L e h r e n des A l t h u sius f o l g e n d b e m e r k t , z u s a m m e n ( c u m ipsa m a i e s t a t e c o n j u n c t a e s u n t ) 1 2 5 . D e r Z u s a m m e n h a n g i s t r e c h t l i c h e r A r t u n d besteht d a r i n , daß d i e maiestas n i c h t als absolute G e w a l t (potestas absoluta), s o n d e r n als f u n d a m e n t a l g e s e t z l i c h b e g r ü n d e t e Rechtsmacht (potestas l e g i b u s c i r c u m scripta) v o r g e s t e l l t w i r d 1 2 6 . W e d e r maiestas personalis noch maiestas realis k ö n n e n danach z u r e i c h e n d ohne das b e i d e f u n d i e r e n d e R e c h t 1 2 7 b e g r i f f e n w e r d e n . W e n n g l e i c h diese A u f f a s s u n g auch i n n e r h a l b d e r Jenaer Schule n i c h t u n u m s t r i t t e n 1 2 8 ist, so z e i g t sie doch, w i e w e i t d i e 128 Das betont Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I V , Nr. 6, Bl. 387 v : „Electores ergo ac r e l i q u i ordines I m p e r i i Imperatori contra capitulationem agenti quin resistere et de ipsius facto judicare queant n u l l u m est dubium, h i enim quando Imperator praescriptas i n capitulatione conditiones trans greditur, suo juramento liberantur, nec amplius p r i n c i p i subjecti, adeoque superiori non resistunt." Z u m Widerstandsrecht i m deutschen Staatsdenken siehe Christoph Link, Jus resistendi, i n : C o n v i v i u m utriusque iuris. A l e x a n der Dordett zum 60. Geburtstag, hg. von A. Scheuermann (u. a.), Wien 1976, S. 55—68. 124 Vgl. Arumaeus, A n summa potestas l i m i t i b u s circumscribi debet?, i n : ders., Discursus, vol. I V , Nr. 1, Bl. 1 r—Bl. 1 v ; ders., Nonne juramentum, quod capitulationis servandae gratia Imperator Romanorum interponit, ejus M a jestati praejudicat?, ebd., Nr. 3, Bl. 5 ν—Bl. 14 r. Siehe auch Limnaeus, Iuris publici I m p e r i i Romano-Germanici, t. I I , cap. 9, Nr. 1, der darlegt, daß anders als einst vieles nicht mehr i n das Belieben des Kaisers gestellt sei: „Plane m u l t a ex illis, quae o l i m eius arbitrio relieta, hodie non nisi assensu et adprobatione Statuum conficere potis est." 125 Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I I , Nr. 7, Bl. 373 v. Zur Berufung auf Althusius siehe ebd., cap. I, Nr. 8, Bl. 258 v. 126 v g l Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I V , Nr. 1, Bl. 385 v ; ebd., cap. X I I , Nr. 1, Bl. 372 v. Siehe auch Limnaeus, Iuris publici I m p e r i i RomanoGermanici, t. I V = A d d i t i o n u m ad priores I, Argentorati 1650, ad lib. I, cap. 10, Nr. 36, S. 112, der betont, „Imperatoris potestatem i n quamplurimis l i m i tatam esse, nec absolutam". 127 So Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. I, Nr. 25, Bl. 273 r : „ I t a nostri I m p e r i i m a j estas realis ex lege fundamentali, Capitulatione scilicet Caesarea dijudicanda, ad quam vicissim Imperatoria m a j estas, quae personalis, respicit, et ab eadem dependet." 128 So bestreitet Matthias Bortius, De natura j u r i u m majestatis et regalium, cap. I I , thesis 21, Bl. 283 v, den Zusammenhang von j u r a majestatis und leges fundamentales, gesteht jedoch i m m e r h i n zu, daß nichts verbiete, beides gleichwohl miteinander zu verbinden: „Quamvis n i h i l vetat, quo m i nus cum [leges fundamentales] M a j estate Principis conjungantur."
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Bemühungen u m eine rechtliche Absicherung staatlicher Herrschaftsgewalt i m Reich bereits gediehen waren und welcher rechtstechnischen M i t t e l man sich hierbei bediente. Die Fundamentalgesetze werden, weil sie den status publicus des Gemeinwesens betreffen, auch öffentliche Gesetze (leges publicae) 129 genannt. Sie enthalten grundlegende staatliche Strukturregeln und stehen, da sie nicht einseitig durch den Herrscher aufgekündigt werden können, unter erhöhtem Bestandsschutz 130 . Es kristallisiert sich damit eine Schicht spezifischer Rechtsregeln heraus, die für das Gemeinwesen konstitutiv sind und wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung der Disposition einzelner überhaupt entzogen bleiben. Zwar sind die i n den leges fundamentales enthaltenen rechtlichen Fixierungen, was den Gesamtaufbau des staatlichen Gemeinwesens angeht, weder erschöpfend noch i n bestimmter Weise systematisiert 131 , doch w i r d m i t derartigen, zunächst punktuell ansetzenden Festlegungen ein Weg beschritten, der schließlich zur schriftlichen Niederlegung aller Regierungs- und Verwaltungsfunktionen i n einem einzigen, rechtlich grundlegenden Dokument führt. Die leges fundamentales stellen eine frühe Stufe dieser — i m übrigen gemeineuropäischen — Entwicklung 1 3 2 dar; man kann sie deshalb als i n die Form von Herrschaftsverträgen gekleidetes funktionales Äquivalent der späteren Verfassungsgesetze 133 bezeichnen. Sie erweisen sich als notwendig, w e i l die komplexer werdenden politischen und sozialen Gegebenheiten auf der Grundlage überkommener Befehl-Gehorsam-Vorstellungen rechtlich nicht mehr zureichend bewältigt werden können. M i t der Ausbildung von Fundamentalgesetzen t r i t t zugleich die Debatte u m die legibus solutio des Herrschers i n die letzte Phase ihrer 129 Vgl. Bortius, Jurisprudentiae publicae Germanicae typus, p r i m a pars, cap. I, thesis 5, Bl. 327 r. 130 Vgl. ders., De natura j u r i u m majestatis et regalium, cap. I I , thesis 19, Bl. 283 r : „Leges hae fundamentales perpetuae sint. Suadente tarnen publica necessitate et u t i l i t a t e antiquari et possunt et debent. I d vero non nisi omn i u m ad quos pertinet consensu." 131 Hierzu Grawert, Gesetz, i n : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, hg. von O. Brunner (u. a.), Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 863—922 (887 f.). Ferner Unverhau, Lex, Diss. Heidelberg 1971, S. 40 ff. 132 Siehe z.B. f ü r England Gough, Fundamental L a w i n English Constitutional History, Oxford 1955, Neudr. ebd. 1961. 133 v g l Gerhard Oestreich, V o m Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die „Regierungsformen" des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle I n strumente, i n : Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, F u n damentalgesetze, Göttingen 1977, S. 45—67; auch i n : ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, S. 229—252. Ferner E.-W. Böckenförde, Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d Bedeutungswandel der Verfassung, i n : Festschrift f ü r R u dolf G m ü r zum 70. Geburtstag, hg. v o n A . Buschmann (u. a.), Bielefeld 1983, S. 7—19 (8 f.).
§ 1 Reichsstaatsrecht und
e i r a s s
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Entwicklung ein. Es kristallisiert sich zunächst die ganz allgemein herrschende, auch i n der kaiserlich-reichsstaatsrechtlichen Schule nicht bestrittene Auffassung heraus, daß i m Bereich der leges fundamentales eine legibus solutio nicht i n Betracht komme 1 9 4 . Darüber hinaus w i r d die viel weitergehende Frage aufgeworfen, ob die für die leges fundamentales entwickelten Grundsätze nicht für die leges 135 schlechthin, d. h. das gesamte positive Gesetzesrecht zu gelten hätten. Während Reinking i n diesem Punkt größtmögliche Freiheit für den Herrscher fordert 1 3 6 , w i r d i n der Jenaer Schule einer differenzierten Lösung der Vorzug gegeben. Soweit es u m solche Gesetze geht, die nach A r t oder i n der Form von Reichsabschieden zustande gekommen sind, sollen dieselben Regeln Anwendung finden wie für die leges fundamentales, weil auch die Reichsabschiede als zwischen den Ständen und dem Kaiser geschlossene Verträge (contractus inter status Imperii et Imperatorem) 1 3 7 begriffen werden. Nur soweit es sich u m tradiertes, ursprünglich allein auf den Kaiser zurückgehendes Recht 138 handelt, soll auch weiterhin der Grundsatz kaiserlicher Entbundenheit von den Gesetzen Gültigkeit besitzen 139 . Der legibus solutio w i r d damit bereits weitgehend der Boden entzogen; denn der Kaiser sah sich angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse kaum i n der Lage, einen anderen Weg der Gesetzgebung als den einer Einigung m i t den Reichsständen zu beschreiten. Zudem waren die verbliebenen, der legibus solutio weiterhin zugänglichen Normen entweder längst obsolet oder gehörten dem Kreis jener kaiserlichen Reservatrechte 140 zu, die ohnehin zugestanden wurden. 134 Das w i r d auch von Reinking, der einen extrem kaiserlichen Standpunkt einnimmt, nicht i n Abrede gestellt (Tractatus de regimine seculari, lib. I, cl. 3, cap. 12, Nr. 17 ff., S. 143). 135 Die als leges positivae oder — dem älteren römischrechtlich geprägten Sprachgebrauch folgend — auch als leges civiles bezeichnet werden, w e i l darunter alles i m Gemeinwesen f ü r die Bürger verbindliche Gesetzesrecht fällt. Vgl. Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I I , Nr. 7 f., Bl. 374 r ; Reinking, Tractatus de regimine seculari, lib. I, cl. 3, cap. 12, Nr. 20, S. 143. 138 d. h. f ü r dessen legibus solutio i m Bereich der leges civiles et positivae eintritt. Vgl. ebd., Nr. 20, S. 143. 137 Vgl. Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I I , Nr. 9 f., Bl. 374 ν f. (Nr. 10, Bl. 375 r). Es handelt sich demnach u m „leges consensu Imperatorie ac o m n i u m statuum I m p e r i i latae" (ebd., Nr. 9, Bl. 374 v). Siehe ferner Limnaeus, Iuris publici I m p e r i i Romano-Germanici, 1.1, cap. 10, Nr. 33: „ N o n aliam potestatem Caesaris esse i n lege ferenda, quam quae i n conventionibus alterius contrahentium." 138 D. i. solches Recht, welches der Kaiser „suo arbitrio et potestate" gesetzt hat. Vgl. Carpzov, De capitulatione Caesarea, cap. X I I , Nr. 7, Bl. 374 r. 139 Es k a n n sich demnach, w i e Carpzov zutreffend bemerkt, n u r u m eine solutio bezüglich einiger Gesetze (non ab o m n i u m sed quarundam legum c i v i l i u m observatione) handeln (De capitulatione, cap. X I I , Nr. 8, Bl. 374 r). Ebenso Limnaeus, I u r i s p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, t. I I , cap. 8, Nr. 57. 140 Vgl. etwa die Aufstellung der kaiserlichen Befugnisse bei Limnaeus, Iuris p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, t. I I , cap. 7 u n d 9.
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Es zeichnet sich damit ein grundsätzlicher Wandel ab, der von unbeschränkten Zuständigkeiten ganz allgemein zu rechtlich geregelten Kompetenzen und Befugnissen führt und den Weg zu einem rechtsstaatlich verfaßten Gemeinwesen eröffnet. Die Jenaer Schule u m Arumaeus und Limnaeus hat, indem sie die spätmittelalterliche Tradition der Herrschaftsverträge aufnahm und m i t dem Begriff eines einvernehmlich begründeten (Fundamental-)Gesetzes verschmolz, nachhaltig dazu beigetragen, die konstitutionellen Bestrebungen und Tendenzen bewußt zu machen und zu befördern. Sie markiert damit einen entscheidenden Wendepunkt i m Übergang vom Staatsrecht zum Verfassungsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
§ 13 Reichsstaatsrecht u n d Territorialstaatsrecht
Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen des Heiligen Römischen Reiches, Staatlichkeit nicht nur auf der Ebene der obersten politischen Organe, sondern zugleich auf der Ebene der Territorialgewalten hervorgebracht zu haben. Das w i r d mitunter verkannt, vor allem deshalb, w e i l man den Prozeß der Herausbildung des frühmodernen Staates zu einseitig i m Sinne eines Entweder — Oder auf nur eine der beiden infrage kommenden Ebenen bezieht und damit verkürzt 1 4 1 . Tatsächlich läßt sich der überaus komplexe Vorgang frühmoderner Staatswerdung auf beiden Bezugsebenen gleichermaßen verfolgen und — wenn auch nicht überall i n der gleichen Intensität — als Prozeß der Ausdifferenzierung politischer Institutionen rechtlich erfassen. Die dualistische Struktur des Reiches reicht bis weit i n das Mittelalter zurück, wo sie sich i n der Verleihung wichtiger Hoheitsrechte an die (geistlichen und weltlichen) Fürsten i n den Privilegien von 1220 und 1231 erstmals unübersehbar manifestiert 142 . Die Goldene Bulle von 1356 bekräftigt diesen Rechtszustand, indem sie i h n für die kleine, aber einflußreiche Gruppe der Kurfürsten folgenreich festschreibt 143 . Die Reichsreform des 15. Jahrhunderts vermag zugunsten des Reiches nichts mehr entscheidend zu verändern. Reformation und Glaubenskriege tragen dazu bei, den bestehenden Dualismus zu vertiefen 1 4 4 ; der Westfälische 141
Vgl. hierzu das oben, Abschnitt I , Kap. 2, § 4, Nr. 1, S. 80, Ausgeführte. Dazu Klingelhöfer, Die Reichsgesetze v o n 1220 u n d 1231, S. 61 ff. Siehe hierzu auch Abschnitt I, Kap. 2, § 4, Nr. 2, S. 84. 143 Durch die Zuerkennung der bekannten Gerichtsprivilegien sowie des wirtschaftlich bedeutsamen Münz-, Salz- u n d Bergwerksregals. Siehe auch oben Abschnitt I, Kap. 2, § 4, Nr. 2, S. 84. 144 Es ist deshalb nicht richtig zu sagen, die Reformation habe den f r ü h modernen Territorialstaat überhaupt erst ermöglicht. Vielmehr konnte u m gekehrt die Reformation i m Reich vor allem deshalb durchdringen, w e i l sie 142
§ 13 Reichsstaatsrecht und Territorialstaatsrecht
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Frieden von 1648 schließlich erhebt die dualistische Verfassungsstruktur des Reiches i n den Rang einer reichsgrundgesetzlichen Regelung, die m i t der Einräumung des ius territorii et superioritatis 145 die reichsständische Landeshoheit endgültig anerkennt. Für die Reichsstaatsrechtslehre ist die Erfassung der komplexen dualistischen Struktur des Reiches von Beginn an problematisch gewesen. Einer vor allem auf Einheit und Harmonie bedachten rechtlichen Ordnungskonzeption mußte die Ausdifferenzierung regionaler, nach Selbständigkeit strebender politischer Gebilde i n der Tat suspekt erscheinen. Diese eher negative Einschätzung des Ausdifferenzierungsprozesses spricht etwa aus der nüchternen Lagebeurteilung durch Philipp von Leyden, der u m die Mitte des 14. Jahrhunderts das Reich gespalten (scissum) nennt, w e i l jeder i n seinen Teilen Kaiser sei14®. I m merhin w i r d auf diese Weise der Prozeß der Ausdifferenzierung politischer Institutionen unterhalb der Reichsebene wenigstens i n den Blick genommen und einer rechtlichen Würdigung und Bewertung zugänglich gemacht. M i t dem Fortschreiten des Ausdifferenzierungsprozesses stellt sich die Frage einer staatsrechtlichen Verortung des Reiches immer drängender. Seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts wendet sich die Reichsstaatsrechtslehre dieser Problematik erneut zu, die sie als Frage nach dem status Imperii 1 4 7 formuliert und zu beantworten sucht. Naturgemäß mußte die A n t w o r t auf die gestellte Frage stark davon abhängen, welches kategoriale Modell man zugrunde legte. Für eine Klassifizierung bot sich zunächst das seit der Aristoteles-Rezeption des hohen und späten Mittelalters wieder allgemein bekannt gewordene aristotelische Schema einer Dreiteilung der Staatsformen 148 samt deren bereits auf eine territorialstaatliche S t r u k t u r traf, die ihre Ausbreitung begünstigte u n d förderte. Siehe hierzu Blaschke, Wechselwirkungen zwischen der Reformation u n d dem A u f b a u des Territorialstaates, i n : Der Staat 9 (1970), S. 347—364. Vgl. auch Stephan Skalweit, Reich u n d Reformation, B e r l i n 1967, S. 8 ff. Ferner Angermeier, Reichsreform u n d Reformation, i n : H Z 235 (1982), S. 529—604 (602), der darauf hinweist, daß „ n u r dort, w o das M i t telalter sich selbst schon politisch über seine Anfänge erhoben hatte, . . . auch die Reformation auf die Umgestaltung der öffentlichen Verhältnisse e i n w i r k e n (konnte)". 145 Vgl. IPO A r t . V, § 30. Dazu Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden u n d die Reichsverfassung, i n : Forschungen u n d Studien zur Geschichte des Westfälischen Friedens, Münster 1965, S. 5—32; ders., Der Westfälische F r i e den, 3. Aufl., Münster 1972, S. 332. 146 De cura reipublicae et sorte principantis, ed. F r u i n / Molhuysen, casus I X , S. 54. Siehe auch oben Abschnitt I , Kap. 2, § 4, Nr. 1, S. 80 f. 147 Dazu Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie i n Deutschland v o m 16. bis 18. Jahrhundert, i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, S. 253—276 (261 f.). 148 Vgl. Aristoteles, Politik, 1278 b 6—1280 a 6.
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Entartungen an. Kombinierte man, wie die kaiserliche Reichsstaatsrechtslehre, dieses Schema überdies m i t der Staats- und Souveränitätslehre Bodins, so hatte man bloß danach zu fragen, wer i m Reich Inhaber der summa potestas sei (einer, mehrere, alle), u m zu einer ersten A n t w o r t zu kommen. Daß auf diese relativ einfache Weise die komplexe Verfassungsstruktur des Reiches nicht zureichend zu erfassen war, läßt sich an den einschlägigen gedanklichen Bemühungen sowohl Bodins als auch Reinkings ablesen 149 , die sich — ihren Prämissen folgend — genötigt sahen, das Reich zu Unrecht als reine Aristokratie bzw. reine Monarchie zu qualifizieren, weil andere als die reinen Formen i n ihrem kategorialen Apparat nicht zur Verfügung standen. Aus der Erkenntnis heraus, daß ein derartiges Schema offenbar zu eng sei, wurden freilich auch andere Möglichkeiten einer Einteilung der Staatsformen erwogen. Schon Aristoteles hatte gewußt, daß die Vielfalt politischer Erscheinungen i n einem Modell m i t nur sechs Klassifikationsmöglichkeiten nicht zufriedenstellend abzubilden ist und deshalb Mischformen 150 i n seine Überlegungen einbezogen. Dieser Ansatz w i r d später von Polybios i n einer expliziten Mischverfassungslehre, die er am Beispiel der römischen Republik gewinnt, erstmals breiter dargelegt 151 und schließlich durch Cicero 152 , dem — wie i n so vielem — eine wichtige Vermittlerrolle zukommt, für den Bereich des Imperium Romanum und seiner Nachfolgestaaten zukunftweisend adaptiert und aufbereitet. I m Horizont der allgemeinen Rezeption antiken Gedankenguts i m hohen und späten Mittelalter erfährt auch diese Tradition eine Erneuerung, die sich bei Thomas von Aquin i n dem an der Realität des mittelalterlichen Wahlrechts orientierten Begriff des regimen commixtum 1 5 3 niederschlägt. Die Reichsstaatsrechtslehre des beginnenden 17. Jahrhunderts steht durchaus i n diesem Überlieferungszusammenhang, wenn sie sich die Frage vorlegt, ob das Reich einem irgendwie gemischten Status (status mixtus) zuzuordnen sei. I n der Jenaer Schule, die hierzu 149
Dazu oben § 12, Nr. 1, S. 154 f. Vgl. hierzu Aalders, Die Mischverfassung u n d ihre historische D o k u mentation i n den Politica des Aristoteles, i n : L a „Politique" d'Aristote. Sept exposés et discussions par R. Stark (u. a.), Genève 1965, S. 199—237. 151 Polybios , Historiae 6, 3 f f . Hierzu Wemb er, Verfassungsmischung u n d Verfassungsmitte, B e r l i n 1977, S. 41 ff. Ferner Nippel, Mischverfassungstheorie u n d Verfassungsrealität i n A n t i k e u n d früher Neuzeit, Stuttgart 1980, S. 142 ff., der Polybios' Konzeption einer gemischten Verfassung i m Sinne der „checks- and -balances"-Lehre deutet. 152 Vgl. De republica 1, 45, 69. Dazu Solmsen, Die Theorie der Staatsformen bei Cicero de re publica I (1933), i n : Richard K l e i n (Hg.), Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966 (WdF 46), S. 315—331, jedoch unter Hintansetzung der Tradition des Polybios. 153 Summa Theologiae I — I I , qu. 95, art. 4; qu. 105, art. 1. 150
§ 13 Reichsstaatsrecht und Territorialstaatsrecht
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zunächst keine einheitliche Auffassung ausgebildet hat, gewinnt diese Position erstmals bei Georg Frantzke (1594—1659) schärfere Konturen 1 5 4 , u m darauf durch Limnaeus entfaltet und entschieden vertreten zu werden. Limnaeus weist zunächst i n einer sehr freimütigen Argumentation die Auffassungen von Bodin und Reinking als unzutreffend zurück 155 . Er wählt überhaupt einen gänzlich anderen, nicht durch starre Denkschemata verstellten Ausgangspunkt, indem er die These vertritt, daß ein staatliches Gemeinwesen grundsätzlich frei über seinen Status, d. h. die A r t der Organisation staatlicher Herrschaft befinden könne (formam regiminis pro l i b i t u sibi eligere potest, quam voluerit) 1 5 8 . Von hier aus gewinnt er die Überzeugung, daß das Reich einen aus monarchischen und aristokratischen Elementen gemischten Status habe: Imperium m i x t u m ex monarchia et aristocratia arbitramur 1 5 7 . Zwar sei der Kaiser i n vielen seiner Hoheitsakte allein zur Entscheidung befugt, die Mehrzahl derselben falle indessen i n die gemeinschaftliche Kompetenz des Kaisers und der Reichsstände, wie sich i m übrigen den grundlegenden Gesetzen des Reiches unschwer entnehmen lasse 158 . Die von Limnaeus exemplifizierte Auffassung vermied nicht nur die klassifikatorischen Probleme, die i m Gefolge der von Bodin neuformulierten aristotelischen Staatsformenlehre auftraten, sondern stellte darüber hinaus eine zutreffende Wiedergabe der Verfassungsrealität des Reiches dar, wie sie sich i m Laufe des 17. Jahrhunderts ergeben und m i t dem Westfälischen Frieden reichsgrundgesetzlich stabilisiert hatte. Doch war die Frage nach dem eigentlichen Bau- und Organisationsprinzip des Reiches m i t seiner Qualifizierung als einer irgendwie beschränkten Monarchie noch keineswegs i n befriedigender A r t und Weise gelöst. Insbesondere bedurfte die Problematik einer Klärung, wie angesichts der Tatsache, daß die Reichsstände selbst Landesherren (domini terrae) 159 waren, das Verhältnis von Reich und Territorien rechtlich zu qualifizieren sei. 154 Georg Frantzke, De statu reipublicae mixto. [Resp.:] Georg von Sack, i n : Arumaeus, Discursus, vol. I I I , Nr. 27, S. 1028—1036. iss v g l Limnaeus, I u r i s publici I m p e r i i Romano-Germanici, 1.1, cap. 10, Nr. 20 ff. Dazu Hoke , Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus, S. 171 ff. 156 Limnaeus , I u r i s p u b l i c i I m p e r i i Romano-Germanici, t. I V = A d d i t i o n u m ad priores I, ad lib. I, cap. 10, Nr. 11, S. 96. 157 Ders., Iuris publici I m p e r i i Romano-Germanici, 1.1, cap. 10, Nr. 12. iss v g l . ebd., Nr. 28, w o Limnaeus darauf hinweist, daß „secundum ordinationes I m p e r i i apud Imperatorem suprema et libera potestas non residet, neque is j u r a omnia maiestatis solus habet, aut per se exercere potest, sine Procerum assensu." 159 Die Bezeichnung datiert bereits aus dem 13. Jahrhundert, w o sie i m Reichsspruch über die Rechte der Landstände von 1231 (vgl. M G H Constitu-
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II. 2. Kap.: Das deutsche Reichsstaatsrecht im 17. Jahrhundert
Schon vor dem Westfälischen Frieden waren von der Reichsstaatsrechtslehre hierzu einschlägige Lösungsvorschläge vorgelegt worden. I n gewissem Anschluß an die genossenschaftliche Staatslehre des A l t h u sius und seines Schülers Philipp Hoenonius hatte Christoph Besold (1577 bis 1638) das Modell eines zusammengesetzten Gemeinwesens i n Vorschlag gebracht und auf das Reich übertragen, welches er auf dieser Grundlage als respublica composita 160 begriff. Ludolph Hugo (1630 bis 1704), Schüler Hermann Conrings, geht i m Jahre 1661 i n seiner vielbeachteten Dissertation unter dem Titel „De statu regionum Germaniae" 1 6 1 der Problematik weiter nach und kommt zu dem Schluß, daß man unter den gegebenen Umständen das Reich als Ganzes (Imperium universum) und die einzelnen Regionen, aus denen es zusammengesetzt sei (singulae regiones, ex quibus componitur) voneinander unterscheiden müsse 162 . Der hierin enthaltene bundesstaatliche Denk- und Erklärungsansatz w i r d zwar noch nicht näher ausgeführt, doch erkennt Hugo immerhin, daß die staatliche Herrschaft i m Reich grundsätzlich unter zwei Aspekten betrachtet werden könne: einmal unter dem des Reichs, zum anderen unter dem der Territorien. Er deutet damit die Reichsverfassung nach dem Modell einer doppelten Herrschaft (duplex regimen) 163 . Auch das öffentliche Recht des Reiches ist danach ein doppeltes: eines, das den Status des Reiches selbst (ipsius Imperii status), ein anderes, das die einzelnen Regionen (singulae regiones) betrifft 1 6 4 . Hiermit ist die Frage nach den territorialen Herrschaftsstrukturen und ihrer reichsstaatsrechtlichen Bewertung gestellt. Hugo weiß natürlich, daß es i n Anbetracht der Verschiedenartigkeit der regionalen Strukturen des Reichs außerordentlich schwierig ist, über diese etwas Allgemeinverbindliches zu sagen (generaliter de iis aliquid tradere) 165 . Man müsse sich nur die Unterschiedlichkeit der Fürstenstaaten und der Reichsstädte vor Augen führen, u m zu erkennen, daß beide durch tiones I I , Nr. 305, S. 420) verwendet w i r d . Z u den rechtlichen Grundlagen der Landesherrschaft siehe Willow eit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, S. 17 ff. 160 Vgl. Besold, Discursus politici, Argentorati 1641, disc. V, S. 182—207 (195). Ebenso Hoenonius, Disputationum politicarum liber unus, ed. 3, Herbornae Nassoviorum 1615, disp. 12, S. 531—548. Z u m denkgeschichtlichen Zusammenhang siehe Otto von Gierke , Johannes Althusius, S. 226 ff. (245 f.). 161 Unter dem Präsidium des Heinrich Binnius. Hier benutzt i n der von Ahasver Fritsch besorgten Ausgabe (Exercitationes j u r i s publici, pars I I I , Rudolstadii 1670, Nr. 1, S. 1—144). 102 Ebd., praef., Nr. 1, S. 1. 163 Ebd. 164 Ebd., cap. I I I , Nr. 19, S. 40: „Jus aliud est publicum, aliud privatum. P u b l i c u m autem i n nostro Imperio duplex est; aliud, quod ad ipsius I m perii statum, aliud, quod ad singularum Regionum administrationem spectat." 165 Hugo, De statu regionum, praef., Nr. 2, S. 2.
§ 13 Reichsstaatsrecht und Territorialstaatsrecht
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einen himmelweiten Gegensatz getrennt seien (inter sese toto coelo distant) 166 . U m so mehr verdient die Tatsache Beachtung, daß Hugo es gleichwohl unternimmt, einige allgemeine Lehren herauszuarbeiten, die für alle Regionen von Belang sind. Das hatten vor i h m schon Andreas von Knicken (1560—1621) für die fürstlichen Territorien 1 6 7 und Philipp Knipschild (1595—1657) für die Reichsstädte 168 versucht, ohne jedoch über ihre jeweils begrenzte Thematik wesentlich hinauszukommen. Erst Ludolph Hugo macht sich m i t einigem Erfolg daran, die territoriale Herrschaftsgewalt umfassend rechtlich zu erörtern und i n ihrem Verhältnis zur Reichsgewalt zu bestimmen. Die Territorialhoheit w i r d von i h m modellhaft als eine der höchsten Gewalt analoge Herrschaftsbefugnis begriffen (potestas summae potestatis genus quoddam analogum) 169 . Sie soll zwar keine völlig freie Gewalt, aber doch derart allgemein und umfassend sein, daß sie, wie Hugo unterstreicht, etwas von der höchsten Gewalt anzunehmen scheine (adeo universalis et ampia est, u t trahere aliquid e summa potestate videatur) 1 7 0 . Weder der Kaiser noch die Reichsstände verfügen demnach über eine absolute Herrschaftsgewalt i m Sinne der von Bodin gegebenen Begriffsbestimmung: der Kaiser nicht, w e i l er durch die Reichsstände i n seinen Befugnissen beschränkt w i r d ; diese nicht, w e i l sie sich ungeachtet der ihnen zukommenden superioritas territorialis i m Rahmen der durch die Reichsgesetze gezogenen Grenzen zu halten haben 171 . Darüber hinaus unterliegen die jeweiligen Territorialherren ihrerseits einer gewissen Kontrolle durch die Provinzial- oder Landstände 172 , die — je nach den 166
Ebd. De sublimi et regio t e r r i t o r i i j u r e synoptica tractatio, i n qua p r i n c i p u m Germaniae regalia territorio subnixa, vulgo Landes — Obrigkeit explicantur, Francofurti 1600. Danach w i r d der Begriff der Landesobrigkeit gebraucht „pro universali et superiori t e r r i t o r i i jure, imperio et jurisdictione, cum omnimoda subiectione indigenarum". Es gebe keinen Herrscher i n Deutschland, der sie nicht besitze: „Nemo enim reperitur Princeps i n Germania, q u i d u x v e l Princeps dicatur, destituens realitate territorii, u t ditio ab ipso non possideatur, vel saltern a maioribus non fuerit possessa." Vgl. cap. I, Nr. 24 f., S. 33. 168 Vgl. seinen: Tractatus politico — historico — juridicus de juribus de privilegiis c i v i t a t u u m imperialium, tarn i n generalibus, quam i n specialibus, et de earundem magistratuum officio, i n sex libros divisus, Ulmae Suevorum 1657, insbes. lib. I, cap. I, Nr. 7, S. 3, w o auf die beispielhafte Bedeutung der Städte für das Gemeinwesen hingewiesen w i r d , w e i l „materialiter et i n latissima significatione, ci vitas universum Reipublicae corpus complectitur." 189 Hugo, De statu regionum, cap. I I , Nr. 9, S. 19. 170 Ebd. 171 Vgl. ebd., cap. I I I , Nr. 19, S. 40: „Quae i g i t u r ad publicum I m p e r i i statum, salutemve communem pertinent, ea non ab Ordinibus singulis, sed ab Imperatore, totoque Imperio legibus definienda. Si quid autem de his rebus i n ditionibus suis Ordines statuant, legibus I m p e r i i conforme esse oportet." 172 Dazu ebd., cap. I V , Nr. 12 ff., S. 79 ff. (Nr. 12, S. 79) m i t Hinweis darauf, daß die Provinzialstände eine den Reichsständen vergleichbare F u n k t i o n 167
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unterschiedlichen regionalen Verhältnissen — ein mehr oder minder starkes Beratungs- und Mitentscheidungsrecht geltend zu machen vermögen. Vergleichbares g i l t für die Reichsstädte 173 , i n denen sich äquivalente Steuerungs- und Regelungsmechanismen ausgebildet haben. Die doppelt-ständestaatliche Verfassungsrealität des Reiches ließ sich begreiflicherweise nur schwer i n ein staatsrechtliches System einfügen. Tatsächlich war die Verfassung des Reiches, gemessen an anderen staatlichen Gemeinwesen der Zeit, besonders komplex und schwierig. Bekanntlich hat Pufendorf i n seiner Reichsverfassungsschrift aus dieser überaus komplizierten Rechts- und Verfassungslage den Schluß gezogen, das Reich sei ein unregelmäßiger und einem Monstrum ähnlicher Staatskörper (irreguläre aliquod corpus et monstro simile) 174 , der sich einer rechtlichen Einordnung überhaupt entziehe. Pufendorf erkennt zwar die föderativen Elemente der Reichsverfassung, vermag diese aber nicht konstruktiv einzuordnen, da i n seinem, der Tradition von Bodin und Hobbes verpflichteten, gleichwohl unzureichenden Klassifikationsschema als reguläre nur die ,reinen 4 Staatsformen akzeptiert werden, Mischtypen demnach keinen Platz finden 1 7 5 . Man mag Pufendorf zugute halten, daß es i h m weniger u m eine Beschreibung der Verfassungsrealität des Reiches als u m die K r i t i k bestehender reichsstaatsrechtlicher Auffassungen zu t u n war, deren Mängel und Schwächen von i h m einer scharfsichtigen Analyse unterzogen werden. Er kam jedenfalls nicht haben (Ordinibus I m p e r i i Ordines provinciales respondere). Das gilt, w i e Hugo ebd., Nr. 28, S. 94 ausführt, entsprechend f ü r die Landtage i m V e r hältnis zum Reichstag. Es sei nämlich i n Deutschland alter Brauch, „ u t P r i n cipes de rebus, quae totius Regionis salutem spectant, una cum Ordinibus provincialibus Conventu publico quandoque deliberent." Z u den rechtlichen u n d politischen Grundlagen der landständischen Verfassung siehe nach w i e vor von Below , System u n d Bedeutung der landständischen Verfassung, i n : ders., T e r r i t o r i u m u n d Stadt, 2. Aufl., München 1923, S. 53—160 (54), der m i t Recht darauf hinweist, daß die „Erforschung der Landtagsverfassung m a n chen neuen Gesichtspunkt f ü r die Erkenntnis der Formen u n d der Bedeutung des staatlichen Lebens eröffnet". Vgl. ferner Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, i n : Dietrich Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen i n Europa i m 17. u n d 18. Jahrhundert, Göttingen 1969, S. 32—55. 173 Deren Landeshoheit zunächst bestritten w i r d , dann aber allmählich A n erkennung findet. Vgl. hierzu Knipschild, Tractatus de juribus et privilegiis c i v i t a t u u m imperialium, lib. I I , cap. 5, S. 268 ff. Vorsichtiger Hugo, De statu regionum, S. 109 ff. Z u r Stellung der Reichsstädte siehe Hermann Conrad, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Reichsstädte i m Deutschen Reich, i n : Studium Generale 16 (1963), S. 493—500. 174 De Statu I m p e r i i Germanici, hg. von F. Salomon, Weimar 1910, cap. V I , § 9, S. 126 (zuerst 1667 unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano). 175 v g l . De j u r e naturae et gentium l i b r i octo, ed. G. Mascovius, Francof u r t i 1759, t. 2 (zuerst 1672), lib. V I I , cap. 5, § 2, S. 182 f., w o die regulären Staatsformen dahingehend definiert werden, „ u t summum i m p e r i u m i n d i v i sum et inconvulsum ab una voluntate per omnes civitatis partes, atque negotia exerceatur."
§ 13 Reichsstaatsrecht und Territorialstaatsrecht
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mehr dazu, den notwendigen, weiteren Schritt zu t u n und, wie andere Staatsrechtslehrer seiner Zeit wenigstens dem Ansatz nach, das Reich als ein Gemeinwesen zu erweisen, dessen Charakteristikum darin zu erblicken ist, auf mehreren Ebenen zugleich staatlich organisiert 176 zu sein. Es kann bei dieser prekären verfassungsrechtlichen Struktur nicht überraschen, daß auch die rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung bei dem Versuch einer staatsrechtlichen Beurteilung des Reiches alsbald i n Schwierigkeiten geriet. So meinte man zu Unrecht bis weit i n das 20. Jahrhundert hinein, der moderne Staat müsse sich entweder auf der Ebene des Reichs oder der der Territorien ausgebildet haben 177 . Man übersah hierbei die Komplexität des auf mehreren Ebenen zugleich ablaufenden vielschichtigen Verstaatungsprozesses, der sich i n Reich, Territorium und Stadt 1 7 8 gleichermaßen vollzieht und i n der allmählichen Ausdifferenzierung politischer und rechtlicher Institutionen manifest wird. Naturgemäß treten bei der bekannten Vielfalt territorialer Gewalten i m einzelnen große Unterschiede hervor; denn die das Reich kennzeichnende Spannweite staatlicher Herrschaftsbildungen 1 7 9 reicht von ständischen und genossenschaftlichen Formen bis h i n zu absolutistisch-zentralistischen Organisationsstrukturen, die am Vorbild absoluter Staatlichkeit französischer Prägung orientiert sind. Es wäre deshalb falsch, einem zu engen Staatsverständnis folgend, das 176 Vgl. Liermann, Die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation i m Lichte moderner Staatsrechts- u n d Völkerrechtslehre, i n : Rüdinger (Hg.), Unser Geschichtsbild. Der Sinn i n der Geschichte, München 1955, S. 51—63 (60), der das Reich als ersten A n l a u f zum Bundesstaat betrachtet. Anders Randelzhof er, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen R ö m i schen Reiches nach 1648, B e r l i n 1967, S. 297 ff., der i m Reich zwar auch „ b u n desstaatliche Züge" erblickt, gleichwohl aber zu dem Ergebnis kommt, daß es sich u m einen „atypischen Staatenbund" handle. 177 Daß die ,Entweder-Oder-Position' auch heute noch vertreten w i r d , läßt Wilhelm Janssen erkennen, der von der problematischen Prämisse ausgeht, daß der „Prozeß der Verstaatung i n Deutschland ausschließlich i m Rahmen der Territorien u n d nicht des Reiches historisch möglich w a r " (Der deutsche Territorialstaat i m 14. Jahrhundert, i n : Der Staat 13 [1974], S.415—426 [417]. F ü r die ältere Auffassung siehe oben Abschnitt I, Kap. 2, § 4, Nr. 1, S. 80. Differenzierender seinerzeit schon Keutgen, Der deutsche Staat des M i t t e l alters, S. 118 ff., der das Verhältnis v o n Reich u n d Territorien als „ I n e i n anderschachtelung von Staaten" begreift (S. 127). Vgl. neuerdings Karl-Friedrieh Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige i m Spätmittelalter (ca. 1200—1437), Aalen 1979, S . 4 f f . (5), der m i t G r u n d hervorhebt, daß es sich „bei der verfassungsgeschichtlichen E n t w i c k l u n g v o n Reich u n d Territorien nicht u m zwei voneinander isolierte Vorgänge, sondern u m einen einzigen, sich wechselseitig bedingenden Entwicklungsprozeß handelt". 178 Daß letztere den Territorien i n der E n t w i c k l u n g staatlichen Lebens v o r angegangen sind, betont Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., S. 19, indem er darauf hinweist, daß die „Anfänge moderner Staatlichkeit zuerst i n den Städten hervorgetreten sind". 179 Vgl. dazu Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie i n Deutschland v o m 16. bis 18. Jahrhundert, S. 268 ff.
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Werden frühmoderner Staatlichkeit ausschließlich m i t der Durchsetzung absolut-monarchischer staatlicher Strukturen zu identifizieren. Zweifellos stellt die Ausbildung des straff organisierten M i l i t ä r - und Beamtenstaates 180 , zumal i n Preußen, einen wesentlichen Aspekt frühmoderner Staatwerdung dar. Es geht aber zugleich u m anderes und u m mehr. Einerseits hat sich der absolute Staat, wie von der neueren verfassungsgeschichtlichen Forschung herausgearbeitet worden ist, nirgends völlig durchsetzen können 181 . Andererseits sind die ständischen und lokalen Kräfte keineswegs nur als rückwärts gewandte beharrende Elemente i n Erscheinung getreten, sondern haben, worauf insbesondere der Verfassungshistoriker Gerhard Oestreich 182 aufmerksam gemacht hat, am Prozeß frühmoderner Staatwerdung entscheidenden positiven und aufbauenden Anteil. Die Gesamtheit der die Ausbildung des frühmodernen Staates kennzeichnenden vielfältigen Ansätze einer organisatorischen Binnendifferenzierung auf unterschiedlichen Ebenen ist überdies zu komplex und zu umfassend, als daß sie sich auf nur eine Ebene reduzieren ließe. Es handelt sich vielmehr u m auf verschiedenen Ebenen zugleich ablaufende, mehrschichtige Vorgänge, die i m einzelnen ein durchaus unterschiedliches B i l d bieten, von ihrer Funktion her jedoch als äquivalent anzusehen sind, w e i l sie i m Zusammenhang jenes gemeineuropäischen Prozesses politisch-sozialer und rechtlicher Institutionalisierung 1 8 8 stehen, der für die Herausbildung des modernen Staates charakteristisch ist und nach und nach alle Lebensbereiche ergreift. I m territorialen Staatsrecht läßt sich der Prozeß der Staatwerdung als Vorgang der Ausbildung von Rechtsstrukturen erfassen, die sich auf die Institutionalisierung der Landeshoheit beziehen und i n der Zeit nach dem Westfälischen Frieden, der die superioritas territorialis ausdrücklich bestätigt 184 , zusehends verdichten. Die Diskussion folgt i m 180 v g l . otto Hintze, Der österreichische u n d der preußische Beamtenstaat i m 17. u n d 18. Jahrhundert (1901), i n : ders., Staat u n d Verfassung. Gesammelte Abhandlungen, 2. Aufl., hg. von G. Oestreich, Göttingen 1962, S. 321— 358; ders., Der preußische M i l i t ä r - u n d Beamtenstaat i m 18. Jahrhundert (1908), i n : ders., Regierung u n d Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen, 2. Aufl., hg. von G. Oestreich, ebd. 1967, S.419—428. Ferner Fritz Härtung, Die Ausbildung des absoluten Staates i n Österreich u n d Preußen, i n : ders. (u. a.), Das Reich u n d Europa, Leipzig 1941, S. 64—78. 181 Vgl. Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit (1958), i n : H . H . Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 173—199 (183); Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 182 ff. 182 Ständetum u n d Staatsbildung i n Deutschland, S. 277 ff. Siehe auch oben Kap. 1, § 9, Nr. 3, S. 125. 183 Z u den Grundlagen dieses Prozesses i m späteren M i t t e l a l t e r siehe oben Abschnitt I, Kap. 1, § 1, Nr. 1, S. 31 ff.; Kap. 2, § 3, Nr. 1. 184 Als ius t e r r i t o r i i et superioritatis. Dazu näher oben S. 169.
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allgemeinen den schon von Ludolph Hugo vorgezeichneten Bahnen. Hierbei schält sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts allmählich die A u f fassung heraus, daß die Landeshoheit ebenso wie die oberste Reichsgewalt keine souveräne Herrschaftsgewalt i m Sinne Bodins ist, sondern eine Rechtsmacht darstellt, die den Reichsständen, wie Gottlieb Gerhard Titius (1661—1714) deutlich gemacht hat, aufgrund der Fundamentalgesetze zusteht (potestas Statibus Imperii legibus fundamentalibus tributa) 1 8 5 . Von dieser Einsicht führt der Weg unmittelbar zur positivrechtlichen Aufarbeitung der territorialen Rechtsstrukturen, wie sie i m Laufe des 18. Jahrhunderts ganz allgemein i n Angriff genommen und namentlich durch Johann Jakob Moser i n einer Reihe territorialstaatlicher Untersuchungen 186 entscheidend vorangebracht wird. Damit zeichnen sich zugleich die für die weitere staatliche Entwicklung Deutschlands grundlegenden Rechtspositionen ab, die nachhaltig von dem stets prekären Verhältnis zwischen zentraler Gewalt und territorialen Gliederungen bestimmt sind und auch i n unseren Tagen i m Bundes- wie i m Landesverfassungsrecht nach wie vor thematisch bleiben.
185 G. G. Titius, Disputatio de h a b i t u t e r r i t o r i o r u m Germanicorum et inde veniente totius reipublicae forma (1704), i n : ders., Disputationes juridicae v a r i i argumenti, Lipsiae 1729, Nr. 8, S. 350—398 (§ 36, S. 366). 186 Vgl. etwa: Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden u n d Zusammenkünften, F r a n k f u r t 1769 (Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 13), und: V o n der Landeshoheit derer Teutschen Reichs-Stände überhaupt, ebd. 1773 (Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 14). Hierzu Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, S. 351, der m i t Recht betont, daß es i m Territorialstaatsrecht von n u n an entscheidend auf das „historisch nachweisbare positive Recht" ankommt. Z u Johann Jakob Moser siehe näher unten Kap. 3.
12 Wyduckel
Drittes Kapitel
Das System des lus publicum im Zeitalter des Vernunftrechts § 14 öffentliches Recht i m naturrechtlichen Rationalismus 1. Ansätze einer Rationalisierung des öffentlichen Redits
öffentliches Recht, das sich als Fachdisziplin versteht, bedarf nicht nur eines bestimmten Gegenstandsbereichs und darauf bezogener Rechtsregeln, sondern muß Auskunft auch darüber geben können, wie es seinen Gegenstand i m Hinblick auf andere Fachperspektiven zu behandeln gedenkt. Die Reichsstaatsrechtslehre des 17. Jahrhunderts hatte eine A n t w o r t auf die erste Frage zu geben gesucht und das Imperium Romano-Germanicum einschließlich der zugehörigen leges publicae i n den Mittelpunkt der rechtlichen Überlegungen gerückt. Aber auch die zweite Frage war i n den Blick genommen und von unterschiedlichen Standpunkten her wenn nicht beantwortet, so doch reflektiert worden. Als eine der möglichen Grundlagenpositionen reichsstaatsrechtlicher Betrachtung hatte sich schon früh der politische Aristotelismus erwiesen. Bereits i n der scholastischen Philosophie des 13. Jahrhunderts w a r dank der Glaube und Wissen vereinender Synthese des Thomas von Aquin das Gemeinwesen i m Anschluß an und i n Auseinandersetzung mit Aristoteles als ein der Welt inhärenter Gegenstand neu entdeckt und ins Bewußtsein gehoben worden 1 . Seither gerieten die politischen A n schauungen des Aristoteles nicht mehr i n Vergessenheit und wurden schließlich zur Grundlage auch der nachreformatorischen frühmodernen Politiklehre, wie sie besonders konsequent von Henning Arnisaeus (ca. 1575—1636) i n Helmstedt vertreten worden ist 2 und sich alsbald i n ganz 1
Hierzu de hagarde , L a naissance de l'esprit laïque au déclin d u moyen âge, vol. 2: Secteur social de la scolastique, 2e éd., L o u v a i n 1958, S. 15 ff. Vgl. ferner Post , Philosophy and Citizenship i n the 13th Century. Laïcisation, the T w o Laws and Aristotle, i n : Order and Innovation i n the M i d d l e Ages. Essays i n Honor of Joseph R. Strayer, ed. b y W. C. Jordan, Princeton, N. J. 1976, S. 401—408. Siehe auch oben Kap. 1, § 9, Nr. 1, S. 112 ff. 2 Vgl. etwa seine: Doctrina politica i n genuinam methodum quae est A r i s t o telis reducta, Francofurti 1606. Hierzu Horst Dreitzel, Protestantischer A r i s t o telismus u n d absoluter Staat. Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575—1636), Wiesbaden 1970, S. 260 ff.
§ 14 Öffentliches Recht im naturrechtlichen Rationalismus
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Europa verbreitete. War der politische A r i s t o t e l i s m i zunächst eine progressive und i n seiner säkularen Ausrichtung durchaus häretische Lehre gewesen, so n i m m t er seit der Reformation, übrigens i n beiden konfessionellen Lagern 8 , zunehmend orthodoxe Züge an, die sich i m Laufe des 17. Jahrhunderts bis zur Erstarrung steigern. Sowohl eine sehr eng verstandene, mit den ursprünglichen Intentionen des Aristoteles i n dieser Weise nicht vereinbare Staatsformenlehre 4 als auch eine ausgeprägte Neigung, den frühmodernen Staat einseitig von seiner Bestands- und Ordnungsfunktion her zu sehen, lassen die Neuaristoteliker alsbald an Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten stoßen, die i m begrifflichen Instrumentarium ebenso wie i n der A r t der Betrachtungsweise begründet sind. Wie dargelegt, hatte Dietrich Reinking 5 versucht, auf dieser Basis ein öffentliches Recht zu entwickeln m i t der Folge, daß die Erfassung der rechtlichen Strukturen des Römisch-Deutschen Reiches eher erschwert als erleichtert wurde und nur partiell gelang. Der Aristotelismus stellte indessen nicht die einzige Möglichkeit einer Fundierung des öffentlichen Rechts dar. Auch der vor allem die römisch-taciteische Tradition fortsetzende und bei dem Niederländer Justus Lipsius (1547—1606) kulminierende politische Neustoizismus 8 mußte aufgrund seines Bemühens, ethische und pragmatische Aspekte staatlichen Handelns miteinander zu vereinen, nicht nur als praktische Regierungshilfe, sondern auch i m Hinblick auf die rechtliche Erfassung frühmoderner Staatsstrukturen von Belang sein, weil es i h m wesentlich 3 Vgl. f ü r die protestantische Seite das klassische Werk von Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie i m protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, Neudr. Stuttgart 1964. Eine entsprechende Darstellung f ü r das katholische Deutschland fehlt. Siehe einstweilen Düring, V o n A r i s t o teles bis Leibniz. Einige H a u p t l i n i e n i n der Geschichte des Aristotelismus (1954), i n : M o r a u x (Hg.), Aristoteles i n der neueren Forschung, Darmstadt 1969, S. 250—313. 4 Z u r neuaristotelischen Lehre von den Staatsformen siehe Dreitzel, P r o testantischer Aristotelismus, S. 260 ff., wonach als Grundtypen n u r M o n a r chie, Aristokratie u n d Demokratie unterschieden werden. Der von Aristoteles entwickelten Staatsformenlehre ist dieser Schematismus fremd. Hierzu Weber-Schäfer, E i n f ü h r u n g i n die antike politische Theorie, Darmstadt 1976, Bd. 2, S. 53 f. Siehe auch Erich Küchenhoff, Möglichkeiten u n d Grenzen begrifflicher K l a r h e i t i n der Staatsformenlehre, B e r l i n 1967, S. 51 ff. 5 Dazu oben Kap. 2, § 12, Nr. 1, S. 154 ff. 6 Siehe vor allem seine beiden Hauptwerke: Politicorum sive civilis doctrinae l i b r i sex, L u d g u n i Batavorum 1589, sowie: De constantia l i b r i duo, Antverpiae 1584. Vgl. hierzu die grundlegenden Untersuchungen von Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates (1956), i n : ders., Geist u n d Gestalt des frühmodernen Staates, S. 35—79; ders., Politischer Neustoizismus u n d Niederländische Bewegung i n Europa u n d besonders i n Brandenburg-Preußen, ebd., S. 101—156; ders., Justus Lipsius als Universalgelehrter zwischen Renaissance u n d Barock (1975), i n : ders., S t r u k turprobleme der frühen Neuzeit, S. 318—357. Vgl. ferner Siedschlag, Der E i n fluß der niederländisch-neustoischen E t h i k i n der politischen Theorie zur Zeit Sullys u n d Richelieus, B e r l i n 1978, S. 89 ff.
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u m den Aufbau einer festen öffentlichen Ordnung inmitten säkularer Umwälzungen zu t u n war. Tatsächlich hat die neustoizistische Bewegung für die politische Grundlegung des ius publicum eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, doch kam man schließlich auch hier über eine Machtethik i m Sinne eines politisch-technischen Humanismus 7 nicht wesentlich hinaus, so daß bei aller Unterschiedlichkeit i n Ansatz und Begründung der Gegensatz zum politischen Aristotelismus bei weitem geringer zu veranschlagen ist, als es i m ersten Zugriff scheint. Weitaus zukunftsträchtiger sollte ein anderer, ebenfalls i m Mittelalter wurzelnder Ansatz politisch-theoretischer Grundlegung des öffentlichen Rechts werden. Schon i n der spätmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption hatten sich bezeichnende Unterschiede i n der Ausdeutung der aristotelischen Lehren ergeben. Folgte man nämlich nicht der durch Thomas von A q u i n vorgegebenen, gemäßigten Aristoteles-Deutung, sondern schloß sich der mehr individualistisch-rationalistischen, i n der Tradition des arabischen Universalgelehrten Averroes stehenden Interpretation der Werke des Aristoteles an, wie sie u m die Wende zum 14. Jahrhundert etwa von Siger von Brabant 8 vertreten wurde, so gelangte man auch für Staat und Recht zu charakteristisch veränderten Schlußfolgerungen. Derartige Überlegungen trafen i m übrigen mit dem vom aristotelischen Thomismus sich absetzenden, die augustinisch-voluntaristische Überlieferung erneuernden philosophischen Nominalismus 9 zusammen, der i n der Fassung, die i h m Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham nur wenige Jahrzehnte nach dem Tode des Aquinaten gaben, den mittelalterlichen Ideenrealismus und damit die Grundfesten des mittelalterlichen Weltbildes überhaupt infrage stellte. Das politische Werk des Aristoteles w i r d i n diesem gedanklichen Zusammenhang nurmehr zum Ausgangspunkt und Anlaß darüber hinausweisender Überlegungen, die letztlich auf eine rationale Konstruktion des Gemeinwesens hinauslaufen. Bei Marsilius von Padua treten erste Ansätze eines solchen zugleich rationalistischen und voluntaristischen politischen Denkens hervor und schlagen sich i n einer rein innerweltlichen, vertragsmäßig begründeten Gemeinwesenkonzeption 10 nieder. Der die nachthomistische Phase kennzeichnende rationale Denkansatz w i r d insbesondere i n der philosophisch-averroistischen Schule von 7
Dazu Oestreich, Politischer Neustoizismus, S. 119. Vgl. hierzu Kuksewicz, De Siger de Brabant à Jacques de Plaisance. L a théorie de l'intellect chez les averroistes latins de 13 e et 14 e siècles, Wroclaw 1968, S. 19 ff. 9 Hierzu Courtenay , Nominalism and Late Medieval Thought, S. 716 ff. Siehe auch oben Kap. 1, § 9, Nr. 1, S. 114 f. 10 Vgl. Grignaschi, Le problème du contrat social et de l'origine de la „ c i vitas" dans la scolastique, S. 65 ff. Siehe hierzu auch Kap. 1, § 9, Nr. 1, S. 114 f.; Nr. 3, S. 128. 8
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Padua, aber auch i n Paris weitergeführt 1 1 und mündet schließlich aufgrund der i h m eigenen weitgehenden Trennung von Glauben und Wissen i n die allgemeinen Bemühungen der Renaissance ein, gegen die übermächtige aristotelische Tradition ein neues, vernunftgeleitetes Weltverständnis zu setzen. Es ist nicht zuletzt die Wendung gegen Autorität und Herkommen schlechthin, die die Brisanz dieses intellektuellen Neuansatzes ausmacht, der zu den herrschenden theologischen Lehrmeinungen der Zeit vor allem deshalb i n einen unüberbrückbaren Gegensatz geriet, w e i l er der bislang dominierenden Theologie die Philosophie als weltliche Führungs- und Orientierungsgröße 12 konfrontierte. M i t dem Auseinanderbrechen der respublica Christiana i m Reformationszeitalter w i r d endgültig offenbar, daß künftig nicht mehr von einer vorgegebenen, für alle verbindlichen Ausrichtung des Denkens und Handelns ausgegangen werden kann, sondern daß i m Gegenteil nunmehr durchaus verschiedenartige Auffassungen zueinander i n Konkurrenz treten. Hierbei zeichnen sich schon frühzeitig auch innerhalb des Protestantismus unterschiedliche Positionen ab. Während i m Luthertum, nicht anders als i m Katholizismus, die fortdauernde Anlehnung an Aristoteles den Weg i n eine neue Orthodoxie 13 eröffnet, geht man i m Bereich calvinistisch-reformierter Anschauungen, die mehr an der reinen christlich-augustinischen Lehre orientiert sind, konsequent antiaristotelischen Bahnen nach und kommt so zu neuartigen Konzeptionen des Denkens. Bei dem hugenottischen Philosophen Petrus Ramus (1515—1572) konzentrieren sich die einschlägigen Überlegungen zu einer neuen Denkmethode 14 , die i n gewissem Anschluß an Plato und den italienischen Piatonismus dem aristotelischen Syllogismus eine Absage erteilt und an dessen Stelle eine dichotomisch-dialektische, d. h. zweistufige Logik setzt. Abgesehen von den hier i m einzelnen nicht weiter zu verfolgenden logischen Implikationen kommt i m dargelegten Zusammenhang vor allem dem Umstand Bedeutung zu, daß dem logischen Aristotelismus i n der ramistischen Lehre eine Alternative erwuchs, von 11 Hierzu Nardi , Saggi sul aristotelismo padovano dal secolo X I V al X V I I , Firenze 1958; Poppi , Introduzione all' aristotelismo padovano, Padova 1970, S. 15 ff.; de Lagarde , L a naissance de l'esprit laïque, vol. 2, S. 28 ff. 12 Vgl. dazu Oberman, The Harvest of Medieval Theology, rev. ed., Grand Rapids 1967, deutsche Übers, unter dem T i t e l : Spätscholastik u n d Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965. 13 Dazu oben S. 178 f. 14 Vgl. Petrus Ramus, Dialecticae institutiones. Aristotelicae animadversiones, Faksimileneudr. der Ausgaben Paris 1543 m i t Einleitung von W. Risse, Stuttgart 1964. Hierzu Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue, Cambridge, Mass. 1958. Ferner Krawietz , Juristische Logik, i n : Historisches W ö r terbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter u n d K . Gründer, Bd. 5, Basel 1980, Sp. 423—434 (431).
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der aus auch die übrigen aristotelischen Positionen grundsätzlich i n Zweifel gezogen werden konnten. Zwar laufen logischer und philosophisch-politischer Aristotelismus durchaus nicht immer parallel, doch lag i n der Aufgabe der aristotelischen Denkprämissen zugleich eine Prädisposition i m Sinne der Offenheit auch für veränderte materiale Gehalte, die tatsächlich alsbald eine Verbindung m i t der neuen Logik eingingen. Die wohl folgenreichste Synthese von anti-aristotelischer Logik und neuen politisch-sozialen Inhalten stellt das Werk des Johannes Althusius dar. Auch Althusius ist, darin Marsilius von Padua nicht unähnlich, Aristoteles insoweit verpflichtet, als es i h m wie diesem zentral u m das befriedigende Zusammenleben der Menschen i m Gemeinwesen 15 geht. Diese Übereinstimmung ist aber eine nur vordergründige, w e i l A l t h u sius bereits i m Ansatz eine auf dreifache Weise neue Richtung einschlägt. Seine Gemeinwesenkonzeption1® ist nämlich nicht statisch auf die Erfassung dessen, was ist, ausgerichtet; i h r liegt vielmehr ein normatives, auf der calvinistischen Soziallehre zum einen, genossenschaftlich-vertragsmäßigen Elementen zum anderen aufbauendes Denkmodell zugrunde, das methodisch konsequent auf dichotomischer Grundlage 17 entwickelt w i r d und dadurch eine ungewöhnlich rationale Färbung erhält. Althusius gelangt nicht zuletzt aufgrund der i h m eigenen A b straktions- und Generalisierungsfähigkeit i n seiner Rechts- wie i n seiner Politiklehre zu neuen, für seine Zeit durchaus nicht selbstverständlichen Erkenntnissen i m Hinblick auf die Strukturen von Recht und Staat, wie sie i n dieser Weise vom Boden des tradierten Aristotelismus aus nicht zu gewinnen waren. Trotz des hohen Grades an rationaler Verarbeitung und Durchdringung, der das Werk des Althusius auszeichnet, werden die vollen Konsequenzen seines gedanklichen Ansatzes von i h m selbst nicht gezogen. Sowohl die theologisch-religiöse Komponente seines Denkens wie die Einbindung seiner Lehre i n ein material verstandenes Naturrecht tragen dazu bei, die vorhandene rationale Orientierung nicht v o l l durchschlagen zu lassen m i t der Folge, daß hergebrachte Positionen i n Recht und Staat zwar aufgeweicht, aber nicht wirklich i n Bewegung gebracht werden. Es bedurfte des radikalen Zweifels seines jüngeren Zeitgenossen Descartes, u m jener vernunftgemäßen Denk- und Lehrmethode den 15 Vgl. hierzu seine Begriffsbestimmung der P o l i t i k : „Politica est ars homines ad v i t a m socialem inter se constituendam, colendam et conservandam consociando (Politica, cap. I, Nr. 1, S. 2). 16 Dazu auch oben Kap. 1, § 9, Nr. 3, S. 129 ff. 17 Siehe dazu das seiner Politica vorangestellte ,Schema P o l i t i c a i , aus dem die das ganze W e r k bestimmende dichotomische Anordnung des Stoffes ersichtlich w i r d .
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Weg zu ebnen, die wegen ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Demonstrationsart auch als mos geometricus 18 bezeichnet w i r d und den Boden nicht nur für eine rationale Erfassung des öffentlichen Rechts, sondern des Rechts überhaupt bereitet. Descartes unternimmt es indessen noch nicht, die Grundlagen von Recht und Staat anhand rationaler Kriterien selbst zu entwickeln. Das geschieht i n grundlegender Weise erst bei Thomas Hobbes (1588—1679), der Recht, Staat und Gesellschaft i n ein rational aufgebautes, umfassendes Beziehungssystem 10 einfügt. Hobbes durchdenkt die gesamte gesellschaftliche Ordnung völlig neu. Die menschliche Gesellschaft w i r d hierbei nicht als schon immer bestehend vorausgesetzt, sondern aus einem als Naturzustand begriffenen, gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung logisch voraufgehenden U r stadium heraus entfaltet. Ins Zentrum der Betrachtung rücken damit die ursprünglich i m natürlichen, d. h. vorstaatlichen Zustand lebenden Individuen, aus deren willentlichem Vertragsschluß 20 die Gesellschaft und, als deren Regulator, der Staat hervorgehen. Ansätze zu einem derartigen, rationalen Vertragsdenken finden sich bereits bei Marsilius von Padua 21 , doch überwiegen i m Defensor Pacis noch die korporativständischen Elemente. Erst m i t Hobbes werden Gesellschaft und Staat radikal vom Individuum her begründet und damit auf eine neue Basis gestellt. So anfechtbar die Prämissen des Hobbesschen Denkgebäudes 22 sind, so problematisch die Sozialvertragslehre 23 sein mag, es w i r d immerhin 18 Vgl. Rod, Geometrischer Geist u n d Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie i m 17. u n d 18. Jahrhundert, München 1970, S. 10 ff. 19 Dazu Dießelhorst, Ursprünge des modernen Systemdenkens bei Hobbes, Stuttgart 1968, S. 28 ff. Ferner Dennert, Die ontologisch-aristotelische P o l i t i k wissenschaft u n d der Rationalismus, B e r l i n 1970, S. 167 ff. Z u den anthropologischen u n d politischen I m p l i k a t i o n e n der Hobbes'schen Rechts- u n d Staatsphilosophie siehe Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berl i n 1981, S. 140 ff., 321 ff. 20 Vgl. Hobbes, Leviathan sive de materia, forma, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis (1668, zuerst englisch 1651), i n : ders., Opera p h i l o sophica, ed. Molesworth, vol. 3, cap. X V I I I , S. 132: „ I n s t i t u i t u r civitas quando homines, sponte sua convenientes, singuli cum singulis paciscuntur . . . " Siehe auch die Begriffsbestimmungen der civitas i n : De Cive (1642), ebd., vol. 2, cap. V, Nr. 9, S. 214: „ U n i o autem sie facta appellatur civitas sive societas civilis, atque etiam persona civilis". Z u m individualistischen Denkansatz bei Hobbes siehe Kodalle, S u b j e k t i v i t ä t u n d Staatskonstitution, i n : Schnur (Hg.), Staatsräson, S. 301.—323 (304 ff.). 21 Dazu oben Kap. 1, § 9, Nr. 3, S. 128. 22 Vgl. hierzu Fetscher, Der gesellschaftliche „Naturzustand" u n d das M e n schenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland u n d Rousseau, i n : Schmollers Jahrbuch 80 (1960), S. 641—685 (642 ff.), auch i n : ders., Rousseaus politische Philosophie, 2. Aufl., B e r l i n 1968, S. 296—342 (297 ff.). Z u r systembildenden Bedeutung des frühmodernen Naturzustandsbegriffs siehe Hasso Hofmann,
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der Versuch gemacht, Recht und Staat nicht einfach als auf irgendeine Weise vorgegeben hinzunehmen, auch nicht bloß theologisch zu legitimieren, sondern i n ihrer tatsächlichen Existenz m i t rationalen M i t t e l n zu begründen. Die Berufung auf eine wie auch immer geartete Natur des Menschen oder der Sache24 ist hierbei weit weniger bedeutsam als die i n der Naturrechtslehre seit ihren Anfängen sich abzeichnende Möglichkeit, die bestehenden rechtlichen und staatlichen Strukturen auf einer diese selbst transzendierenden Ebene rational zu reflektieren. Die damit anvisierte Reflexionsebene weist insoweit notwendig über den einzelnen Staat und sein Recht hinaus, w e i l Aussagen über die gesellschaftliche und staatliche Ordnung als solche angestrebt werden. Für das öffentliche Recht mußte die rationalistische Vertragslehre schon deshalb von Bedeutung sein, w e i l sie seinen zentralen Gegenstand, den Staat, neu definierte. Wenn es zutraf, daß der Staat i n seiner Existenz erst zu begründen war, bevor man sich i h m i n rechtlicher A b sicht zuwandte, dann wurde es unumgänglich, die überlieferten öffentlichrechtlichen Positionen von Grund auf zu überdenken und i m H i n blick auf die Vernunftrechtslehre neu zu formulieren. Es konnte für diesen Fall nicht mehr ausreichen, sich politisch irgendeiner der streitenden Parteien, sei es der kaiserlichen oder der reichsständischen anzuschließen, u m allein von daher rechtlich Stellung zu beziehen. Es wurde vielmehr erforderlich, die jeweilige Rechtsauffassung auch vom Standpunkt der neuen Lehren über Gesellschaft und Staat zu begründen und damit i n einen größeren Gesamtrahmen einzuordnen. Das Ganze erschien u m so drängender, als die rationalistische Naturrechtsdoktrin sich auch i m Reich rasch ausbreitete 25 und die Reichsstaatsrechtslehre unter Begründungsdruck setzte. Es w i r d i m folgenden der Frage nachzugehen sein, wie letztere auf die damit geschaffene neue Lage reagiert.
Z u r Lehre v o m Naturzustand i n der Rechtsphilosophie der Aufklärung, i n : Rechtstheorie 13 (1982), S. 226—252 (233 ff.). 23 Siehe hierzu Kummerow, Vertrag u n d Vertragstreue als Bedingungen der L e g i t i m i t ä t des Staates. Die staatsphilosophischen Vertragstheorien u n d ihre naturrechtliche Grundlage, i n : Rechtstheorie 10 (1979), S. 462—501 (501), der die Problematik der Vertragstheorie darin erblickt, das „individuelle Interesse an, bzw. die Neigung zur Gemeinschaft m i t dem kritischen Räsonnement über sie so zu verbinden, daß aus dem Räsonnement die Bereitschaft zum Gehorsam folgt u n d jede solche Bereitschaft an das Räsonnement gebunden bleibt". 24 Dazu Neusüß, Gesunde Vernunft u n d N a t u r der Sache. Studien zur j u ristischen Argumentation i m 18. Jahrhundert, B e r l i n 1970, S. 24 ff. 25 Vgl. Othmer, B e r l i n u n d die Verbreitung des Naturrechts i n Europa, B e r l i n 1970. Hierzu Luig, Z u r Verbreitung des Naturrechts i n Europa, i n : T R G 40 (1972), S. 539—557.
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2. Die Grundlegung des lus publicum im lus publicum universale
Die Reichsstaatsrechtslehre des 17. Jahrhunderts hatte insofern zwei an sich unterschiedliche Problemkreise miteinander verbunden, als sie sowohl die rechtlichen Strukturen des Heiligen Römischen Reiches, d. h. eines bestimmten Gemeinwesens, als auch solche Fragen thematisierte, die alle politischen Gemeinwesen betreffen. Es ergaben sich hieraus zwangsläufig Überschneidungen zur Lehre von der Politik, für die von Beginn an das befriedigende Zusammenleben der Menschen i m Gemeinwesen schlechthin den Kernpunkt aller einschlägigen Überlegungen bildete. M i t dem Aufkommen der philosophischen Natur- und Vernunftrechtsdoktrin erwuchs ein neuer Problemzusammenhang, der die Reichsstaatsrechtslehre vor allem deshalb nicht unberührt lassen konnte, weil i n i h m Grundlagenfragen von Recht und Staat zur Sprache kamen, die von der Schuljurisprudenz nicht oder nur unzureichend reflektiert wurden. Ließen sich die allgemeinen, Recht und Staat betreffenden Fragen i n der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch einigermaßen i n die Reichsstaatsrechtslehre integrieren, so erwies sich ein solches Vorgehen angesichts des schnellen Vordringens der rationalistischen Naturrechtslehre bereits seit der Jahrhundertmitte nicht mehr ohne weiteres als durchführbar. Samuel Pufendorf (1632—1694) zieht als einer der ersten aus den veränderten Umständen unmittelbare Konsequenzen, indem er Reichsstaatsrecht und Naturrecht voneinander trennt, d. h. jeweils für sich darstellt. Während seine Reichsverfassungsschrift 26 sich ausschließlich den spezifischen Rechtsproblemen des Reichs und der Territorien zuwendet, ist sein naturrechtliches Werk 2 7 ganz den allgemeinen Fragen von Gesellschaft, Recht und Staat gewidmet. Geht es i m ersteren Fall u m den Status Imperii Germanici, d.h. eine Frage geltenden Staatsrechts, so handelt es sich i m letzteren darum, die innere Struktur von Staaten (interna civitatum structura) 28 überhaupt zu erfassen. Pufendorf geht diese Frage i n systematischer Weise vom status naturalis her an, wobei er sich zunächst weitgehend Hobbes anschließt. Er schreitet ausgehend von den i m Naturzustand lebenden Einzelmenschen fort erst zum häuslich-familiären, dann zum bürgerlichgesellschaftlichen Status, u m schließlich zum Staat als der für ihn voll26
Dazu näher oben Kap. 2, § 13, S. 174. Vgl.: De j u r e naturae et gentium l i b r i octo, L o n d i n i Scanorum 1672 (hier benutzt i n der A u f l . F r a n k f u r t 1759), sowie: De officio hominis et civis j u x t a legem naturalem l i b r i duo, L o n d i n i Scanorum 1673 (zitiert nach dem Neudruck der Ausg. von 1682, New Y o r k 1927). Dazu Denzer, Moralphilosophie u n d Naturrecht bei Samuel Pufendorf, München 1972. 28 Vgl. Pufendorf, De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 6, S. 118 ff. 27
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kommensten Gemeinschaft (perfectissima societas)20 zu gelangen. Der Staat w i r d damit i n einen größeren Bezugsrahmen gestellt. Er erweist sich von daher rational als ebenso begründungsfähig wie begründungsbedürftig, kann also nicht einfach als faktisch bestehend vorausgesetzt werden. Das konstruktive Mittel, m i t dem der Übergang vom natürlichen zum staatlichen Zustand bewältigt wird, ist für Pufendorf wie für die Naturund Vernunftrechtslehrer ganz allgemein der Vertrag. Die Berufung auf die Kategorie des Vertrages allein bedeutete für sich genommen freilich wenig, wenn man nicht präzisierte, welcher A r t der Vertrag sei und welchen Inhalt er habe. I n der staatsphilosophischen und staatsrechtlichen Tradition waren hierzu verschiedene Lösungsansätze entwickelt worden. Man konnte den Vertrag zum einen i m Sinne eines zwischen Herrscher und Beherrschten geschlossenen, die A r t und Weise der Herrschaftsausübung regelnden Herrschaftsvertrages 30 deuten. Man konnte zum anderen auf die weitergehende Konstruktion des Gesellschaftsvertrages 81 rekurrieren, u m von daher die Existenz staatlicher Herrschaft aufgrund eines freiwilligen gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Menschen zu erklären. Es war jedoch weder gelungen, beide Vertragsarten konstruktiv aufeinander zu beziehen noch ihre Relevanz i m Rahmen einer beide übergreifenden Rechts- und Staatslehre zu verdeutlichen. Hobbes unternimmt den Versuch einer grundsätzlichen Klärung, indem er das gesamte politische Ordnungsgefüge systematisch durchdenkt und anhand der Vertragslehre neu begründet. Er läßt hierbei jedoch den das soziale Zusammenleben der Menschen konstituierenden Gesellschaftsvertrag m i t dem die Ausübung staatlicher Herrschaftsgewalt begründenden Herrschaftsvertrag zusammenfallen 32 , so daß schließlich seine Rechts- und Staatskonzeption weit weniger differenziert ausfällt, als man zunächst annehmen könnte. Überdies w i r d der von i h m zugrunde gelegte Vertrag als ein Unterwerfungsvertrag 3 3 begriffen m i t der 29 Ders., De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 1, § 1, ed. Mascov, t. 2, S. 109. Dazu Denzer, Moralphilosophie u n d Naturrecht bei Pufendorf, S. 160 ff. 80 Siehe hierzu Alfred Voigt (Hg.), Der Herrschaftsvertrag, Neuwied 1965, Einl., bes. S. 14 ff. 31 Z u r Unterscheidung von Herrschafts- u n d Gesellschaftsvertrag siehe Gough, The Social Contract. A Critical Study of Its Development, 2. ed., Oxford 1957, S. 2 f., sowie Lieberwirth, Die historische Entwicklung der Theorie v o m vertraglichen Ursprung des Staates u n d der Staatsgewalt, B e r l i n 1977 (Sb. der Sächs. A k a d . der Wiss., Phil.-hist. Kl., Bd. 118, H. 2), S. 2. 32 Hobbes kennt demnach n u r eine, v o n i h m als unio bezeichnete Vereinbarung, aus der Staat u n d Gesellschaft hervorgehen. Vgl. De Cive, cap. V, Nr. 7 ff., S. 214. 33 Es handelt sich demzufolge u m eine vertraglich vereinbarte submissio. Vgl. Hobbes, De Cive, cap. V, Nr. 7, S. 213 f.: „Voluntatem haec submissio
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Folge, daß die vertragschließenden Individuen, ist der Staat erst einmal begründet, zwar nicht völlig rechtlos sind, i n ihrer Freiheit aber außerordentlich eingeschränkt werden. Wenn auch der Staat bei Hobbes kein totaler Staat i n dem Sinne ist, daß die Staatsgewalt völlig unbegrenzt 34 wäre, so zielt seine Lehre doch auf ein Staatsbild ab, das von der Befehl-Gehorsam-Struktur bestimmt w i r d und infolgedessen die Individuen vornehmlich i n ihrer Eigenschaft als Untertanen 8 5 erfaßt. Hobbes knüpft damit an die absolutistische Staatslehre Bodins an, deren Grundpositionen von i h m rationalisiert werden, ohne daß er inhaltlich entscheidend über diese hinausgelangt. Weil Hobbes die Inhalte seines Souveränitätsbegriffs ebenso wie die seiner Staatsformenlehre der absolutistischen Tradition entnahm, mußte seine Konzeption von Recht und Staat, wenn man die gedankliche Bewältigung der äußerst vielgestaltigen staatlichen Realität der Zeit i n Betracht zog, zu ähnlichen Schwierigkeiten führen, wie sie sich zuvor Bodin gestellt hatten. Es ist deshalb begreiflich, wenn alsbald versucht wurde, diesem Mangel abzuhelfen und die Hobbessche Lehre m i t dem Ziel zu modifizieren, ihre Anwendbarkeit nicht nur auf den absoluten, sondern den frühmodernen Staat i n seiner ganzen Spannweite zu gewährleisten. Pufendorf gebührt das Verdienst, m i t seiner K r i t i k hier angesetzt und bei grundsätzlicher Anlehnung an die vorgegebenen Prämissen die Rechts- und Staatslehre Hobbes' gleichwohl fortentwickelt und rechtspraktisch nutzbar gemacht zu haben. Pufendorf erblickt wie Hobbes i m Staat ein auf vertraglichem Zusammenschluß beruhendes Gebilde, gesteht den Individuen aber anders als dieser das Recht zu, einen bestimmten Staat 36 zu wollen. Es geht Pufendorf demnach nicht nur u m die Tatsache, daß der Staat existiert, sondern auch darum, wie er existiert. Er kommt deshalb m i t der Annahme nur eines einzigen Vertrages nicht aus, sondern ist gezwungen, den von Hobbes als einheitlich vorgestellten Unterwerfungsvertrag weiter aufzugliedern. Dao m n i u m illorum, unius hominis voluntati, vel unius concilii tunc fit, quando unusquisque eorum unicuique caeterorum se pacto obligat ad non resistendum v o l u n t a t i illius hominis v e l illius concilii, cui se submiserit . . 34 Vgl. Villey, L e D r o i t de l ' I n d i v i d u chez Hobbes, i n : Koselleck / Schnur (Hg.), Hobbes-Forschungen, B e r l i n 1969, S. 173—197 (189), der betont, daß es letztlich freie u n d vernünftige Einzelwillen sind, auf die der Leviathan sich stützt. 35 Vgl. De Cive, cap. V, Nr. 11, S. 215: „ C i v i u m unusquisque, sicut etiam omnis persona civilis subordinata, ejus, q u i summum i m p e r i u m habet, subditus a p p e l l a t o . " 36 W e i l Pufendorf freistellt, welche Staats- u n d Regierungsform zu wählen sei (qualis forma regiminis sit introducenda). Vgl. De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 2, § 7, t. 2, S. 134; De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 6, § 8, S. 120.
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nach w i r d zuerst der Gesellschaftsvertrag geschlossen. Er hat zum Inhalt, daß jeder m i t jedem einen auf beständige Gemeinschaft gerichteten Vertrag eingeht 97 . Darauf folgt eine Entscheidung über die Staatsund Regierungsform 38 . Der Vertragsschluß ist demnach kein bedingungsloser, sondern von Beginn an davon abhängig, daß eine bestimmte Form staatlicher Herrschaft tatsächlich gewählt werden kann. Erst daran schließt sich der eigentliche Herrschaftsvertrag 39 , i n dem die Modalitäten der Herrschaftsausübung festgelegt und die Regierenden bestimmt werden. Pufendorf begreift letzteren Vertrag ebenso wie Hobbes als einen Unterwerfungsvertrag, doch ist seine Begründungskonstruktion ungleich flexibler, w e i l die Unterwerfung nur die Endstufe vorausgehender rechtlicher Fixierungen darstellt und auch f ü i die Regierenden ζ. T. erhebliche Pflichtbindungen begründet werden 40 . Wenngleich Pufendorf sowohl an der Vorstellung einer dem Herrscher ungeteilt zustehenden souveränen Herrschaftsgewalt (summum imperium) 4 1 als auch an der überkommenen, Mischtypen ausschließenden Staatsformenlehre 42 festhielt, so zeigte er doch eine Richtung an, i n der die Lösung zahlreicher, bislang unaufgeklärter Probleme von Recht und Staat zu suchen sein mußte. Christian Wolff (1679—1756) verfolgt i m 18. Jahrhundert diesen Weg weiter und dringt dabei zur entscheiden37 Vgl. De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 6, § 7, S. 120: „ P r i m o enim o m n i u m i l l i m u l t i , q u i i n libertate n a t u r a l i constituti intelliguntur, u b i ad civitatem faciendam congregantur, inter se singuli cum singulis pactum ineunt, quod i n u n u m et perpetuum coetum coire velint . . . " . Siehe auch De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 2, § 7, t. 2, S. 133 f. 88 Diese ergeht i n F o r m eines von Pufendorf nicht näher erläuterten Dekretes (decretum), stellt also keinen Vertrag dar. Vgl. De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 2, § 7, S. 134; De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 6, § 8, S. 120. 39 Vgl. De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 6, § 9, S. 121 : „Post decretum circa formam regiminis altero pacto opus est, quando constituuntur ille vel i l l i , i n quem v e l quos regimen nascentis civitatis confertur." 40 Vgl. hierzu De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 9, t. 2, S. 271 ff., sowie De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 11, S. 135 f f., w o die Pflichten der Regierenden i m einzelnen dargelegt sind (De Officio summorum I m perantium). Dazu Link, Herrschaftsordnung u n d bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt i n der älteren deutschen Staatslehre, Wien 1979, S. 40, der i n der Unterscheidung des Herrschafts- v o m Gesellschaftsvertrag „nichts anderes als das Absetzen des Verfassungsstaates v o m totalen Staat" erblickt. Vgl. auch ders., Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens i n der deutschen Staatsrechtslehre des 17. u n d 18. Jahrhunderts, i n : D. M a y e r - M a l y / P. M. Simons (Hg.), Das Naturrechtsdenken heute u n d morgen. Gedächtnisschrift f ü r René Marcie, B e r l i n 1983, S. 77—95 (94), m i t Hinweis darauf, daß sich „aus dem Staatszweck immanente Grenzen der Machtausübung ergeben, die dem Herrscher nicht ein schrankenloses Verfügungsrecht über die n a t ü r liche' Sozialordnung einräumen". 41 Vgl. De j u r e naturae et gentium, lib. V I I , cap. 4, § 1, t. 2, S. 167. 42 Vgl. ebd., cap. 5, S. 181 ff.; De officio hominis et civis, lib. I I , cap. 8, S. 126 ff.
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den Frage einer vertragsmäßigen Begrenzung aller Regierungsgewalt vor. Der auf dem Gesellschaftsvertrag beruhende Herrschaftsvertrag stellt danach nichts anderes als die lex fundamentalis des Gemeinwesens dar, aus der die Regeln über Umfang und Grenzen staatlicher Herrschaftsgewalt 43 i m einzelnen zu entnehmen sind. Der auf eine vernunftrechtliche Konstruktion des Gemeinwesens abzielende Gedankenkreis führt damit auf spezifisch öffentlichrechtliche Überlegungen zurück, wie sie auch von der zeitgenössischen Reichsstaatsrechtslehre angestellt wurden. Das vernunftrechtliche Denken macht sich hier anfänglich nur zögernd geltend, dringt jedoch seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sichtlich vor. Es äußert sich zunächst darin, daß den reichsstaatsrechtlichen Ausführungen allgemeine Lehren vorangestellt werden, i n denen, wie ζ. B. i n der von Gabriel Schweder (1648—1735) i m Jahre 1681 vorgelegten ,Introducilo i n Jus publicum Imperii Romano-Germania' 44 , das Reich betreffende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Sprache kommen. Angesichts der sich stark ausweitenden, nach und nach alle Bereiche ergreifenden Vernunftrechtsdiskussion war dieses Vorgehen wegen der i h m eigenen Blickrichtung auf Fragestellungen eines bestimmten Gemeinwesens nur begrenzt geeignet, die anstehenden grundsätzlichen Probleme von Recht und Staat angemessen zu erörtern. Das u m so mehr, als Hugo Grotius (1583 bis 1645) inzwischen seine Lehre von der die ganze Menschheit umfassenden Staatengemeinschaft 45 vorgelegt hatte, die dazu nötigte, auch die Beziehungen der Staaten untereinander i n den Kreis der vernunftrechtlich zu diskutierenden Fragen aufzunehmen. Nachdem man ursprünglich versucht hatte, die für alle Staaten bedeutsamen öffentlichrechtlichen Probleme gelegentlich einer mehr philosophischen Kommentierung der Schriften von Grotius 46 , Hobbes und Pufendorf zu erörtern, erwies sich dieser Weg auf Dauer rechtssystematisch als so wenig befriedigend, daß man schließlich zur fachspezifischen 43 Der „modus administrandi i m p e r i i " w i r d i n der nach A r t eines Vertrages begriffenen lex fundamentalis festgelegt m i t dem Ziel, die Herrschaftsgewalt zu begrenzen (limitandi i m p e r i i causa). Vgl. Wolff, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, t. V I I I , Halae Magdeburgicae 1748, §§ 122 ff., S. 84 f. Hierzu Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, B e r l i n 1977, S. 73 ff. 44 Hier benutzt i n der Edition Tübingen 1733. 45 Vgl. seine 1625 erschienenen: De Jure B e l l i ac Pacis l i b r i très, i n denen, wie der U n t e r t i t e l erläutert, „jus naturae et gentium i t e m j u r i s publici praecipua explicantur". Z u r Bedeutung des Hugo Grotius als Vater des modernen N a t u r - u n d Völkerrechts siehe Hasso Hof mann, Hugo Grotius, i n : Stolleis (Hg.), Staatsdenker i m 17. u n d 18. Jahrhundert, S. 51—77 (58 ff.), sowie Christoph hink, Hugo Grotius als Staatsdenker, Tübingen 1983, S. 10 ff. 46 Siehe hierzu Reibstein, Deutsche Grotius-Kommentatoren bis zu C h r i stian Wolff, i n : ZaöRV 15 (1953/54), S. 76—102.
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Darstellung der allgemein interessierenden Fragen öffentlichen Rechts i n gesonderten Werken überging. Der erste bedeutende Ansatz einer systematischen Aufarbeitung der einschlägigen Probleme geht auf den niederländischen Juristen Ulrich Huber (1636—1694) zurück, der dem öffentlichen Recht i n seinen 1674 erschienenen ,De Jure civitatis l i b r i très' 47 eine allgemeine Grundlage zu geben gesucht hat, indem er Perspektiven aufzeigte, welche die Grenzen einer nur auf einen einzigen Staat bezogenen, positivrechtlichen Sichtweise i m Sinne einer universellrechtlichen Fundierung transzendieren. Huber verstand sein Werk ausdrücklich als einen Beitrag zum Allgemeinen öffentlichen Recht (ius publicum universale) 48 und behandelte darin infolgedessen ausschließlich solche Fragen, die sich auf die Staatsordnung (ordo civitatis) 4 9 ganz allgemein beziehen. Die neue Lehre vermochte sich auch i m Reich alsbald durchzusetzen, wo bereits u m die Wende zum 18. Jahrhundert eine Reihe einschlägiger Darstellungen vorliegt, unter denen die von Justus Henning Böhmer (1674—1749) verfaßte ,Introductio i n ius publicum universale' 50 die bedeutendste ist. Böhmer geht von der Überlegung aus, daß der status publicus eines Gemeinwesens rechtlich prinzipiell unter zwei Aspekten betrachtet werden kann: einmal i n spezieller, zum anderen i n genereller Hinsicht. Während das spezielle öffentliche Recht (ius publicum particulare) bei den einzelnen Völkern variiere, erstrecke sich das Allgemeine öffentliche Recht (ius publicum universale) auf alle Staaten 51 . Es ist einleuchtend, wenn er vor diesem Problemhintergrund die Überzeugung gewinnt, daß die Basis aller einschlägigen Fragen (fundamentum omnium quaestionum, quae hue spectant) i m Allgemeinen öffentlichen Recht zu suchen sei 52 . Erst von dort aus erschließe sich dann auch das spezielle öffentliche Recht einer zureichenden Betrachtung. Z u den wesentlichen Grundlagen des i n der Herausbildung befindlichen ius publicum universale zählt nach allgemeiner Auffassung die 47
Z i t i e r t nach der 4. Aufl., F r a n k f u r t 1708. Das geht bereits aus dem U n t e r t i t e l hervor. Vgl. auch die praefatio, S. 1. Siehe ebd., lib. I, sect. 1, cap. 1, Nr. 15 ff., S. 3 f., wo der — n u r teilweise geglückte — Versuch unternommen w i r d , die Eigenständigkeit des ius p u b l i c u m universale gegenüber der P o l i t i k nachzuweisen. Dazu näher Theo J. Veen, Recht en nut. Studiën over en naar aanleiding v a n U l r i k Huber (1636—1694), Zwolle 1976, S. 77 ff. 49 Vgl. Huber, De Jure civitatis, lib. I, sect. 1, cap. 1, Nr. 22, S. 4. 50 Zuerst Halle 1710, hier benutzt i n der 3. Aufl., ebd. 1755. Siehe hierzu Rütten, Das zivilrechtliche Werk Justus Henning Böhmers, Tübingen 1982, S. 15 ff. 51 Böhmer, Introductio, praef., Bl. 1 r. Siehe auch ebd., pars gen., cap. I I I , § 19, S. 90: „Denique a iure publico particulari haec differentia superest, quod universale ad omnes civitates se extendat, particulare vero i n singulis populis variet, ac succinctius alibi, a l i b i diffusius sit". 52 Ebd. 48
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überkommene, jedoch rational begründete Vertragslehre. Die Vereinigung mehrerer Willen zu einem gemeinsamen Zweck w i r d demnach als das verbindende Element (nexus seu vinculum) 5 3 jeder societas angesehen. Die hierauf konstruktiv aufbauenden Herrschaftsverträge bestimmen i n der Form von leges fundamentales 54 das öffentliche Recht jedes einzelnen Staates inhaltlich und sind deshalb als solche dem ius publicum particulare zuzuordnen. Wenngleich derartige Überlegungen mitunter als aus einer bestimmten Natur des Menschen m i t Notwendigkeit folgend dargestellt werden, so sind sie gleichwohl vernunftgemäße Deutungen sozialer wie politischer Realität, i n denen die bürgerliche Gesellschaft sich auf rationale Weise ihrer selbst bewußt wird 5 5 . Vergleichbare Erwägungen sind schon dem späteren Mittelalter durchaus nicht ungeläufig. Tatsächlich haben sich bereits damals die Wurzeln moderner gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung ebenso ausgebildet wie die Anfänge einer diesbezüglichen rationalen politischen und rechtlichen Reflexion 56 . Gedanklich neu ist lediglich die Intensität intellektueller Durchdringung. Das läßt sich etwa an der modifizierten Vertragskonzeption ablesen, aus der das Bemühen spricht, mittels der analytischen Unterscheidung von Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag 5 7 den voranschreitenden Prozeß der Ausdifferenzierung eines vom Gesellschaftssystem sich abhebenden staatlich organisierten Rechtssystems gedanklich adäquat zu erfassen. Parallel zu diesem überaus komplexen Vorgang sozialer und politischer Differenzierung vollzieht sich die weitere Verselbständigung öffentlicher Jurisprudenz als Fachdisziplin. Sie dokumentiert sich zunächst i n der Einsicht, daß Allgemeines öffentliches Recht und Politiklehre unterschiedlichen Erkenntnisinteressen dienen. Zwar w i r d 53 Vgl. ebd., pars spec., lib. I, cap. 2, § 1 f., S. 154 f.: „ I n o m n i societate nexus quidem seu v i n c u l u m occurrit, per quod corpus i l l u d morale continetur, cons e r v a t o , et ad finem propositum deducitur. Nexus hic consistit i n unione p l u r i u m v o l u n t a t u m ad finem communem . . . " 54 Vgl. ebd., cap. 5, § 31 ff., S. 300 f. 55 Vgl. hierzu Röhrich, Sozialvertrag u n d bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Hegel, Darmstadt 1972, S. 5 ff. Ferner Klippel, Politische Freiheit u n d Freiheitsrechte i m deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 31 ff. (46), jedoch m i t zu starker Akzentuierung der absolutistischen Elemente der Sozialvertragslehre. 56 Vgl. dazu das oben unter Abschnitt I, Kap. 1, § 1, Ausgeführte. 57 Siehe hierzu Luhmann, Gesellschaft, S. 140, der auf die i n der Trennung von Gesellschaftsvertrag u n d Herrschaftsvertrag liegende Differenzierung hinweist, i n der die gedankliche Trennung von Gesellschaftssystem u n d politischem System am direktesten zum Ausdruck komme. Staat u n d Gesellschaft dürfen freilich nicht i m Sinne des 19. Jahrhunderts getrennt werden. Dazu Scupin, Untrennbarkeit von Staat u n d Gesellschaft i n der Frühneuzeit. A l t husius u n d Bodin, i n : Recht u n d Gesellschaft. Festschrift H e l m u t Schelsky zum 65. Geburtstag, hg. von F. Kaulbach u n d W. Krawietz, B e r l i n 1978, S. 637—657.
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beiden m i t Grund das gemeinsame Interesse am Staat 58 attestiert, die A r t der Betrachtungsweise indessen für wesentlich verschieden erachtet. Während es der Politik u m den Staat vor allem i m Hinblick auf seine tatsächliche Beschaffenheit (notitia status reipublicae) oder unter dem Aspekt der Nützlichkeit (sub ratione utilis) gehe, habe es das Allgemeine öffentliche Recht m i t dem staatlichen Gemeinwesen vornehmlich unter dem Gesichtspunkt dessen zu tun, was rechtens sei (sub ratione iusti) 5 9 . Man weiß zwar, daß die Regeln der Politik darüber nicht vernachlässigt werden dürfen, möchte diese aber nicht ins Zentrum öffentlicher Jurisprudenz gerückt sehen. Die Ausbildung eines ius publicum universale trägt aber nicht nur dazu bei, das öffentliche Recht als eine eigenständige Fachdisziplin auszuweisen und von seinen Nachbardisziplinen abzugrenzen, sondern fördert zugleich den Prozeß fachlicher Differenzierung innerhalb der Jurisprudenz selbst. Das gilt insbesondere für die Ausgrenzung eines vom öffentlichen Recht verschiedenen Privatrechts. Letzteres w i r d auf zweierlei Weise vom öffentlichen Recht abgehoben: einmal negativ als solches Recht, das keinerlei Bezug auf den status publicus des Gemeinwesens i m Sinne seiner staatlichen Organisation aufweist 60 , zum anderen positiv als Inbegriff derjenigen Rechtsbeziehungen, welche die Bürger nicht i n ihrer Eigenschaft als Glieder des Staates (membra reipublicae), sondern als einzelne Menschen (ut singuli) unter sich eingehen 61 . Darin liegt insofern ein Fortschritt gegenüber dem herkömmlichen, i m A n schluß an Ulpian ausformulierten Denkansatz, als für beide Bereiche die Individuen den Anknüpfungspunkt der rechtlichen Überlegungen bilden m i t der Folge, daß Mehrfachzuordnungen i n Betracht gezogen und als unvermeidlich erkannt werden. Aber auch innerhalb des öffentlichen Rechts läßt sich der Prozeß einer weiteren fachlichen Differenzierung und Spezialisierung verfolgen. Er äußert sich einmal i n der Herausbildung eines speziellen öffentlichen Rechts, das als Staatsrecht 62 begriffen w i r d ; zum anderen i n der 58
Vgl. Böhmer, Introductio, pars gen., cap. I I I , § 11, S. 84: „ I n eo omnino conveniunt, quod utraque circa civitatem occupata sit, et optime inter se conspirare possit". 59 Siehe ebd., § 5 ff. (8), S.76ff. (80); § 12, S.84f. I n ähnlicher Weise hatte sich zuvor Althusius geäußert, indem er bemerkte, daß die Politiklehre erkläre, was die Jurisprudenz bewerte. Vgl. Politica, praef., Bl. 3 r. 60 W e i l es n u r solche Handlungen der Bürger betrifft, „quae n u l l u m respectum habent ad publicum statum, seu administrationem reipublicae". Vgl. Böhmer, Introductio, pars gen., cap. I I , § 9, S. 54. 61 Siehe hierzu die ebd., FN, gegebene Begründung: „Quamvis omnes cives alicuius reipublicae sint membra eiusdem civitatis, non tarnen omnia, quae faciunt, expediunt, quatenus sunt membra reipublicae, sed plura adhuc et i n f i n i t a sunt negotia, quae inter se ut singuli peragunt . . . " . 62 Dazu oben S. 190.
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allmählichen Ausgrenzung eines dem Staatsrecht gegenübertretenden, zunächst als ius gentium publicum 6 3 verstandenen Völkerrechts, welches die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten (inter diversas civitates) regelt und konstruktiv aus der Übertragung des vernunftrechtlichindividuellen Denkansatzes auch auf diese gewonnen wird. Es zeichnet sich hiermit ein öffentlichrechtliches Beziehungsgefüge ab, das auf ein rationales Gesamtmodell von Recht, Staat und Gesellschaft gestützt ist und vom Individuum über den Staat bis h i n zur Staatengemeinschaft reicht. Der Ort dieser Überlegungen ist das seit dem 18. Jahrhundert auch als Allgemeines Staatsrecht 64 , später als Allgemeine Staatslehre bezeichnete ius publicum universale, das anfänglich nahezu ausschließlich i n der Philosophischen Fakultät gelehrt und betrieben wird, sich jedoch bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, offenbar zuerst i n Kiel 6 5 , auch als juristisches Lehrfach zu etablieren vermag. Dem Öffentlichen Recht erwächst damit eine Reflexionsebene, die nicht außerhalb, sondern innerhalb der Jurisprudenz angesiedelt ist und die Möglichkeit eröffnet, grundlegende Fragen und Probleme von Recht und Staat m i t den M i t t e l n der vernunftrechtlichen Methode, jedoch i n der Fachperspektive des Rechts, zu thematisieren. Wenngleich viele der zugrunde liegenden Annahmen über Natur und Naturrecht inzwischen m i t Grund als überholt gelten, so bedeutet die Institutionalisierung eines das ius publicum particulare reflektierenden und transzendierenden ius publicum universale gleichwohl den Beginn einer allgemeinen Rationalisierung und Theoretisierung des Rechts insgesamt, über dessen Voraussetzungen hinsichtlich Gegenstand, Methode und Standort man sich mittels vernunftgemäßer Schlußfolgerungen klarzuwerden sucht. Man kann deshalb i n der rationalistischen Vernunftrechtslehre und ihrem Bemühen u m die Grundlagen von Recht, Staat und Gesellschaft den Anfang einer Verwissenschaftlichung nicht nur des Öffentlichen Rechts, sondern des Rechts überhaupt sehen.
83 Vgl. Huber, De Jure civitatis, lib. I, sect. 1, cap. 1, Nr. 8 ff., S. 3, dem die Abgrenzung zwischen ius publicum universale u n d ius gentium publicum aber noch nicht befriedigend gelungen ist, w e i l er Außen- u n d Innenbeziehungen der Staaten nicht hinreichend unterscheidet. Siehe hierzu auch Reibstein, Deutsche Grotius-Kommentatoren, S. 88 f. 64 Vgl. etwa Johann Salomon Brunnquell, Eröffnete Gedanken von dem Allgemeinen Staatsrechte, Jena 1721. Siehe zur allgemeinen Entwicklung Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts i n Deutschland von der M i t t e des 18. bis zur M i t t e des 19. Jahrhunderts, i n : AöR 99 (1974), S. 556—585. 65 Wo Samuel Rachelius seit 1666 i n der juristischen Fakultät als Professor juris naturalis et gentium lehrte. Vgl. hierzu Denzer, Moralphilosophie u n d Naturrecht, S. 304, 318; Döhring, Geschichte der juristischen Fakultät K i e l 1665—1965, Neumünster 1965, S. 27, 30.
13 Wyduckel
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II. 3. Kap.: Das lus publicum im Z e i l t e r des Vernunftrechts § 15 D e r Positivismus i m Teutschen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts 1. Der historische Positivismus Johann Jakob Mosers
I m Zeitalter des rationalistischen Naturrechts t r i t t die öffentliche Jurisprudenz i n eine neue Phase ihrer Entwicklung ein. Diese bringt nicht nur eine Aus- und Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen m i t sich, sondern trägt m i t der Ausdifferenzierung einer auf den Staat und seine Organisationsstrukturen bezogenen allgemeinen Lehre zugleich dazu bei, die öffentlichrechtliche Argumentation von solchen Erwägungen zu entlasten, die sich auf alle Staaten erstrecken, d. h. nicht unmittelbar auf das positiv geltende Staatsrecht eines bestimmten Gemeinwesens gerichtet sind. I n der Folge dieser Entwicklung wendet man sich nunmehr, was das geltende Reichsstaatsrecht angeht, verstärkt den zugrunde liegenden Rechtsquellen zu. Dabei wurde ein diese betreffendes Problem unübersehbar, das zwar schon des längeren als solches erkannt, aber bislang nicht zureichend gelöst war. Obwohl seit den Zeiten Conrings weitgehende Einigkeit darüber bestand, daß jedenfalls das römische Recht eine quellenmäßige Basis für das Reichsstaatsrecht nicht abgeben könne 68 , sondern auf die einheimische Rechtsüberlieferung abgestellt werden müsse, war doch ungeklärt, welche der zahlreichen infragekommenden rechtlichen Dokumente und Urkunden dem Jus Publicum Romano-Germanicum tatsächlich als geltend zugrunde zu legen seien. Eine Lösung der vielfältigen, hiermit aufgeworfenen Probleme war nur dann zu erwarten, wenn man sich die Frage nach dem Ursprung allen Rechts, d. h. nach seiner Geschichtlichkeit vorlegte. Überlegungen i n dieser Richtung waren seit dem Aufkommen einer allgemeinhistorischen Betrachtungsweise 67 i m Zeitalter von Humanismus, Renaissance und Reformation durchaus angestellt und i n der humanistischen Jurisprudenz 68 erstmals auch i n ihrer rechtlichen Relevanz zum Bewußtsein gebracht worden. Es fehlte jedoch an einer universalhistorischen Ortsbestimmung des Rechts wie an einer Klärung der Frage, welcher Stellenwert geschichtlichen Erwägungen i m Rahmen rechtlicher Argumentationszusammenhänge überhaupt zukomme. ββ Z u Conrings Abweisung des römischen Rechts als Quellengrundlage siehe oben Kap. 2, § 11, Nr. 2. 67 Hierzu Hans Baron, Das Erwachen des historischen Denkens i m H u m a nismus des Quattrocento, i n : H Z 147 (1932), S. 5—20 (15 ff.). Ferner Landfester, Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts, Genève 1972, S. 131 ff. 68 Insbesondere durch Jacobus Cujacius. Dazu oben Kap. 1, § 10, Nr. 1, S. 133.
§ 15 Der Positivismus im Teutschen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts
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Erst u m die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert dringt ein das Recht i n seiner Zeitbezogenheit erschließendes geschichtliches Bewußtsein 69 wirklich durch. Besonders günstige Voraussetzungen für die Erfassung des Rechts als eines historischen Phänomens ergeben sich i n den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts an der Universität Halle 7 0 , wo sämtliche vertretenen Disziplinen, vorbildhaft für andere Hochschulen, i n Abweisung theologischer Bevormundung ganz auf die Notwendigkeiten des frühmodernen Staates und seines vermehrten Bedarfs an Staatsdienern 71 ausgerichtet sind. Für das positive Recht bedeutete eine derartige Orientierung die Ablehnung der göttlichen Offenbarung als Geltungsgrund ebenso wie etwa der Vernunft oder der Natur, w e i l unter den gegebenen Voraussetzungen die Beantwortung der Frage, welches Recht gelte, ausschließlich davon abhängen mußte, ob die betreffende Norm staatlich i n K r a f t gesetzt sei oder nicht. Der Nachweis der geschichtlichen Faktizität von Recht und Staat rückt damit i n der Vordergrund des juristischen Interesses. Für die öffentliche Jurisprudenz war diese Problematik von ganz besonderer Relevanz, weil sie auf die strukturellen Rahmenbedingungen staatlicher Rechtsetzung und Rechtsgeltung abzielte, die seit jeher zum Bereich des ius publicum zählten. Christian Thomasius (1655—1728), führender Kopf und Mitbegründer der Hallenser Universität 7 2 , kommt vor diesem Hintergrund zu der Überzeugung, das öffentliche Recht bedürfe nicht nur einer vernunftrechtlichen, sondern überdies einer historischen Fundierung 7 3 . Thomasius nimmt die hiermit verbundene umfangreiche Arbeit quellenmäßig-historischer A r t gleichwohl nicht selbst auf, sondern begnügt 69
Dazu grundlegend: Hammerstein, Jus u n d Historie. E i n Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten i m späten 17. u n d i m 18. Jahrhundert, Göttingen 1972. 70 Hierzu G. Langer, V o n A r b e i t u n d Ansehen der hallischen Juristenfakultät i n zweiundhalb Jahrhunderten, i n : 250 Jahre Universität Halle. Streifzüge durch ihre Geschichte i n Forschung u n d Lehre, Halle 1944, S. 132—149. 71 Es handelt sich hierbei nicht u m ein n u r speziell preußisches Problem. Vielmehr verlangt die zunehmende Rationalisierung u n d Institutionalisierung der Territorien allenthalben nach qualifizierten, d . h . entsprechend vorgebildeten Beamten. Dazu Hammerstein, Jus u n d Historie, S. 148 ff. (154). 72 Vgl. Schubart-Fikentscher, Christian Thomasius u n d die Hochschule seiner Zeit, i n : Wissenschaftliche Zeitschrift der M a r t i n - L u t h e r - U n i v e r s i t ä t Halle-Wittenberg, Gesellschafts- u n d sprachwissenschaftliche Reihe 6 (1956/ 57), S. 11—18 (12). 73 Vgl. seinen ,Bericht von einem zweyj ährigen Cursu Juris so w o h l i n öffentlichen als Privat-Lectionen u n d Collegiis', Halle 1714, S. 38, w o er darauf hinweist, das Jus p u b l i c u m könne „ m i t gutem Success nicht tractiret werden, w e n n m a n nicht vorhero der Römischen u n d Teutschen Historie w o h l k u n d i g ist". Z u r Verbindung v o n historischer u n d vernunftrechtlicher Methode i m öffentlichen Recht siehe unten S. 202.
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sich damit, ein dementsprechendes Programm 7 4 zu skizzieren. Erste Schritte i n der angezeigten Richtung unternimmt hingegen sein Zeitgenosse und Hallenser Kollege Johann Peter von Ludewig (1668—1743), der i m Anschluß an seinerzeit bereits von Conring erzielte Einsichten die Auffassung erneut bekräftigt, daß die deutsche Jurisprudenz bislang zu sehr „auf fremden Römischen Sand gebauet" habe 75 . Es sei infolgedessen dahin gekommen, daß „Teutschland sich, noch zur Zeit, selbsten nicht kenne" 76 . Ludewig fordert zur Behebung des von i h m diagnostizierten Mißstandes eine Reichshistorie „aus untrüglichen Urkunden" m i t dem Ziel, ein quellenmäßig abgesichertes öffentliches Recht (jus publicum diplomaticum) zu gewinnen 77 . Wenngleich Ludewig dazu ansetzte, diesen Plan auch auszuführen, so gelangte er schließlich doch über Einzelstudien 78 nicht hinaus. Als überaus prekär erwies sich zudem der Umstand, daß er seine rechtshistorische Arbeit allzusehr i n den Dienst der Interessen seines brandenburgisch-preußischen Landesherrn stellte und damit die Urkunden und Dokumente nicht, wie er vorgab, allein i m Sinne der „Gerechtigkeit der Sache" 79 , sondern vor allem i m Hinblick auf bestimmte politische Ziele 8 0 einsetzte. Strengere Maßstäbe legt sein wissenschaftlicher Gegner und Fakultätskollege Nikolaus Hieronymus Gundling (1671—1729) an. Auch er ist von der hohen Bedeutung der Geschichte für das Recht überzeugt. Das gelte insbesondere für die jurisprudentia publica; denn diese könne nicht ohne Historie betrieben werden 81 . Gundling fordert aber anders als Ludewig, daß man i n historischen Dingen „unpartheyisch" zu sein habe 82 . Er bemüht sich zugleich, dieser Forderung selbst nachzukom74 Vor allem i n seinen Vorlesungsankündigungen. Dazu Hammerstein, Jus u n d Historie, S. 113 ff. 75 Vgl. Ludewig, Gelehrte Anzeigen i n alle Wissenschaften, Bd. 1, Halle 1743, 213. Stück, S. 927. Hierzu Hammerstein, Jus u n d Historie, S. 169 ff. (176 ff.). Z u Conring siehe oben Kap. 2, § 11, Nr. 2. 76 Ludewig, Historie der Friedrichs-Universität Halle, i n : ders., Consilia Hallensium Jureconsultorum, t. 2, Halle 1734, S. 1—96 (96). 77 Vgl. ders., Gelehrte Anzeigen, Bd. 1, 213. Stück, S. 927. 78 Siehe etwa seinen: E n t w u r f der Reichs-Historie, Halle 1710 oder seine: Rechtliche Erläuterung der Reichs-Historie v o m ersten Ursprung bis 1734, ebd. 1735. 70 So die Vorrede zu der von i h m verfaßten, unter dem Pseudonym Peter von Hohenhard erschienenen Abhandlung: Preußisches Neuburg u n d dessen Gerechtsame, Teutschenthal [d. i. Halle] 1708, S. 4. 80 Vgl. etwa die Rechtfertigung preußischer Ansprüche auf Teile Schlesiens 1740 (Rechtsgegründetes Eigenthum des Königlichen Chur-Hauses Preußen u n d Brandenburg auf die Herzogthümer u n d Fürstenthümer Jägerndorf, Liegnitz, Brieg, Wohlau u n d zugehörige Herrschaften i n Schlesien). Dazu Hammerstein, Jus u n d Historie, S. 199 ff. 81 Vgl. Gundling, Vorbericht zu den Winter-Lectionen 1710, i n : ders., Sammlung kleiner teutscher Schriften, Halle 1737, S. 94—142 (114 f.).
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men 83 und bahnt damit einem historisch reflektierten Rechts- und Staatsverständnis den Weg, das die Geschichte nicht nur instrumentell i n den Dienst punktueller politischer Zielsetzungen stellt, sondern i n ihrer Bedeutung für eine Erhellung der Gegenwart von Recht und Staat überhaupt erkennt. Es war jedoch trotz allem auch i n der Halleschen staatsrechtlichhistorischen Schule letztlich offen geblieben, i n welcher Weise die gewonnenen geschichtlichen Erkenntnisse i m Rahmen einer öffentlichrechtlichen Betrachtungsweise sinnvoll einzusetzen seien. Denn sowohl Ludewig als auch Gundling hatten zwar für eine historische Grundlegung von Recht und Staat entschieden plädiert, ein dementsprechend fundiertes lus publicum indessen nicht vorgelegt. Der erste größere Versuch eines solchen w i r d i m ausgehenden 17. Jahrhundert von dem Tübinger Rechtslehrer Gabriel Schweder unternommen, der das Staatsrecht des Reiches allein aus den positiven Rechtsquellen selbst (ex ipsis fontibus) entwickelt 8 4 . Er legt damit das erste geschlossene Lehrbuch des lus publicum auf der Grundlage einheimischer Rechtsquellen überhaupt vor, das sich rasch verbreitete 85 und vor allem deshalb geschätzt wurde, weil es wegen seiner quellenbezogenen Darstellungsweise dem Universitätsunterricht i n ganz Deutschland, d. h. sowohl an evangelischen als auch an katholischen Universitäten, zugrunde gelegt werden konnte 86 . Doch ließ auch Schweders Werk zu wünschen übrig. Zum einen, weil es sich lediglich um eine Einleitung (Introductio) handelte, eine umfassende Gesamtdarstellung des Staatsrechts demnach nicht beabsichtigt war und weiterhin Desiderat blieb; zum anderen, weil es i h m an einer tragfähigen Quellenbasis fehlte, die seinerzeit allenfalls i n Anfangsgründen vorlag und erst noch erarbeitet werden mußte. I m Zuge des allgemeinen Aufschwungs historischer Forschungen, wie er für das 18. Jahrhundert charakteristisch ist, w i r d auch diese Aufgabe 82
Ders., Otia, Bd. 3, F r a n k f u r t 1707, cap. V I , S. 325. Vgl. z.B. seinen: Abriß zu einer rechten Reichs-Historie, Halle 1708.Vgl. ferner: Ausführlicher u n d vollständiger Discours über dessen A b r i ß einer rechten Reichs-Historie, F r a n k f u r t 1732, insbes. die S. 1 gegebene Begriffsbestimmung: „Die Reichs-Historie ist eine pragmatische Erzehlung dessen, was sich i n Teutschland bisher zugetragen, 1. quoad iura Caesaris, 2. quoad iura statuum, wie es gewesen, sich verändert, u n d w i e es jetzo ist." 84 Vgl. den U n t e r t i t e l seiner 1681 zuerst erschienenen .Introductio i n jus publicum' (hier benutzt i n der Ausgabe Tübingen 1733). 85 Nach Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 1. H a l b band, Noten, S. 22, erlebte die ,Introductio 4 i m ersten halben Jahrhundert seit ihrem Erscheinen insgesamt neun Auflagen. 86 Vgl. Johann Jakob Moser, Bibliotheca j u r i s publici Sacri Romani Germanici Imperii, 1.1, Stuttgart 1729, S. 144 ff. (146, 147 f.). 83
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i n Angriff genommen. Männer wie der Leipziger Stadtschreiber Johann Christian hünig (1662—1740)87 oder der Hannoversche Archivar Johann Gottfried von Meiern (1692—1744)88 verhelfen m i t ihren umfangreichen, staatsrechtlich relevantes Material zusammentragenden Sammlungen einer an den Rechtsquellen orientierten juristischen Betrachtungsweise zum Durchbruch, die m i t Grund nur das gelten läßt, was urkundenoder aktenmäßig beweisbar ist. Auch dem Universitätsunterricht werden i n zunehmendem Maße öffentlichrechtliches Material enthaltende Quellensammlungen zugrunde gelegt, wie das zuerst 1722 erschienene, i n zahlreichen Auflagen verbreitete »Corpus juris publici Sacri Romani Imperli academicum' des Göttinger Rechtslehrers Johann Jakob Schmauss (1690—1757)89 ebenso belegt wie das vier Jahre später edierte, jedoch weniger bekannte gleichnamige Werk seines Jenaer Kollegen Burkhard Gotthelf Struve (1671—1738). Ging man vor diesem Hintergrund davon aus, daß jede einzelne, das staatliche Leben des Reiches betreffende rechtliche Regelung nach aktenmäßigen Belegen verlangte, dann wurde es unumgänglich, das gesamte öffentliche Recht des Reiches durchgängig auf einen gesicherten Zusammenhang nachweisbarer Rechtsquellen zu gründen. Dieser umfassenden, mühevollen Aufgabe unterzog sich der württembergische Staatsrechtler Johann Jakob Moser (1701—1785)90, der i n der Absicht, das öffentliche Recht des Reiches zu fundieren, i n langjähriger Arbeit ein voluminöses, auf die einschlägigen Quellen gestütztes »Teutsches Staatsrecht' 91 herausbrachte, welches er später, u m den inzwischen eingetretenen Veränderungen Rechnung zu tragen, durch ein ähnlich umfangreiches ,Neues Teutsches Staatsrecht' 92 ergänzte. 87 Siehe das v o n i h m herausgegebene: ,Teutsche Reichs-Archiv 4 , Leipzig 1710—1722, 24 Bde. 88 Vgl. seine grundlegenden Quellenausgaben: Acta Pacis Westphalicae publica, Hannover 1734—1736, 3 Bde., u n d : Acta comitialia Ratisbonensia publica oder Regensburgische Reichstagshandlungen u n d -Geschichte von den Jahren 1653 u n d 54, Leipzig 1738—1740, 2 Bde. 89 Das Werk blieb auch nach dem Tode des Bearbeiters i n Gebrauch. Vgl. die 1774 i n Leipzig erschienene posthume Ausgabe v o n H. G. Francke u n d G. Schumann (Neudr. nach der Ausgabe Leipzig 1794, Hildesheim 1973). 90 Moser lehrte zunächst an der Universität Tübingen (1720/21), n a h m später das A m t eines Universitätsdirektors i n F r a n k f u r t a. d. Oder w a h r (1736— 1739), u m hernach verschiedene praktische Tätigkeiten auszuüben. Z u Leben u n d Werk siehe Rürup, Johann Jakob Moser. Pietismus u n d Reform, Wiesbaden 1965; Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers (1701—1785), B e r l i n 1968, sowie Mack Walker, Johann Jakob Moser and the H o l y Roman Empire of the German Nation, Chapel H i l l 1981. 91 I n fünfzig Teilen nebst Zusätzen u n d Hauptregister, Nürnberg 1737— 1754. 92 I n zwanzig Teilen nebst Zusätzen u n d Register über das A l t e u n d Neue Teutsche Staatsrecht, Stuttgart 1766—1782.
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Es geht Moser i n seinem staatsrechtlichen Werk vor allem u m eine Abkehr von der unkritischen Verwendung rechtlich relevanter geschichtlicher Zeugnisse, Daten und Fakten, wie sie seinerzeit weitgehend geübt wurde und bei Ludewig i n einer Weise i n Erscheinung getreten war, welche die einseitige Parteinahme zur Richtschnur juristischer Arbeit erhob. Er stellt diesem rein instrumentellen Umgang m i t den Rechtsquellen die von i h m geforderte, als „ars critica" bezeichnete quellenkritische Methode 98 entgegen, die auf der Basis historisch-philologischer Untersuchungen etwa durch Sprach-, Stil- und Schriftvergleiche unechte oder verfälschte Dokumente oder Urkunden ausscheidet, u m darauf den authentischen, geltenden Text zu gewinnen. Erst auf dieser gesicherten Textgrundlage lasse sich sinnvollerweise ein zureichendes öffentliches Recht aufbauen. Der Festlegung des jeweils geltenden Rechtsquellenbestandes w i r d damit der erste Rang öffentlichrechtlicher Arbeit überhaupt zugebilligt. Moser empfiehlt deshalb nachdrücklich, die Reichsgrundgesetze, Verträge und Acta publica unmittelbar zu Rate zu ziehen 94 , u m erst darauf zu rechtlichen Aussagen und Schlußfolgerungen zu kommen. Die voraufgegangene Sichtung der einschlägigen Materialien ist i h m hierbei nicht Selbstzweck, sondern unerläßliche Voraussetzung 95 einer jeden, auf das öffentliche Recht gerichteten Bemühung. Moser beurteilt die Geschichte demzufolge vor allem nach ihrem praktischen Nutzwert i m Hinblick auf die Schaffung einer tragfähigen Rechtsquellengrundlage. Diese Einschätzung w i r d verständlich, wenn man bedenkt, daß seinerzeit die Quellen des öffentlichen Rechts nicht i n systematisch geordneten und für verbindlich erklärten Gesetzessammlungen vorlagen, sondern weit verstreut und zum Teil schwer zugänglich waren. Sie ist jedoch nicht das einzige Beurteilungskriterium für den rechtlichen Stellenwert geschichtlicher Fakten und Zusammenhänge. Moser kennt vielmehr neben der auf die Erstellung einer fehlerfreien Textgrundlage gerichteten engen historischen Perspektive einen 93 Vgl. hierzu die programmatische Tübinger Antrittsrede: De n e x u studii critici cum prudentia j u r i s publici, Tubingae 1720, S. 13, w o er erläutert: „ A r s critica . . . est i l i a scientia, quae circa linguas, verba stylumque versatur, ita, u t de illis, non vero de re ipsa illiusve veritate iudicet." Dazu Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers, S. 147 ff. 94 Vgl. Compendium j u r i s p u b l i c i regni moderni Germanici, Tübingen 1731, S. 12, w o der Vorrang der unmittelbaren A r b e i t an den Rechtsquellen betont w i r d . 95 Siehe seine ,Betrachtungen über das Sammlen u n d Dencken i n dem Teutschen Staatsrecht', i n : ders., A b h a n d l u n g verschiedener Rechtsmaterien, 18. Stück, U l m 1776, S. 305—364 (318), m i t dem Hinweis darauf, daß m a n zunächst die Materialien zu sammeln habe, die den „Stoff zum Denken darreichen" sollen. Erst darauf könne m a n „über die Sache urteilen u n d Schlüsse daraus ziehen".
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weiteren Begriff der Geschichte, der nicht auf den schriftgelegten Text reduziert, sondern der staatlichen Vergangenheit des Gemeinwesens i n seinen strukturellen Besonderheiten insgesamt zugewandt ist. Er bezeichnet diese Disziplin als ,Staatsgeschichte