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German Pages 230 [228] Year 2014
Jens Petersen Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts
Jens Petersen
Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts
DE GRUYTER
Prof. Dr. iur. Jens Petersen, Universität Potsdam
ISBN 978-3-11-035982-4 e-ISBN 978-3-11-036014-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Abhandlung knüpft an meine Bücher über ‚Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn‘ und ‚Adam Smith als Rechtstheoretiker‘ an und ergänzt sie um eine Arbeit über den französischen Beitrag zu den europäischen Wurzeln der juristischen Geistesgeschichte. Die Grundidee dieses Vorhabens ist, wie ich bekennen muss, aus einem Irrtum geboren: Ich hatte mich schon seit längerem gefragt, welcher europäische Denker gerade im Hinblick auf die rechtlichen Herausforderungen die rund drei Jahrhunderte ausmachende Zeitspanne zwischen Dante als Repräsentant des Hochmittelalters und Adam Smith als dem für Kant und viele Andere wegweisenden Denker der Schottischen Aufklärung paradigmatisch veranschaulicht und womöglich geistesgeschichtlich überbrückt. Dabei hatte ich zunächst an Montesquieu gedacht, weil sich bei ihm zentrale Einsichten Adam Smiths – man denke nur an die unsichtbare Hand – bereits andeutungsweise finden, und er zur Überwindung des Naturrechts scheinbar ganz neue Betrachtungen anstellte, indem er die Sitten der Völker stärker beobachtete, ja sogar die klimatischen Voraussetzungen der Länder für das Recht in Betracht zog und auf diese Weise den ‚Geist der Gesetze‘ herausarbeitete. In der Tat glaubte ich mit ihm einen Rechtsdenker ausgemacht zu haben, der die gesamten Grundlagen des Rechts erstmals in ihrer Totalität erkannt hatte. Je gründlicher ich jedoch die Essais des rund eineinhalb Jahrhunderte zuvor geborenen Michel de Montaigne studierte, desto deutlicher wurde mir, dass sich für fast alles, was Montesquieus universellen Blick auf das Recht ausmacht und wofür er – bis hin zur Gewaltenteilung – bekannt wurde, im Werk Montaignes maßgebliche Spuren finden. Vieles ist bei Montaigne natürlich nur rudimentär erfasst und nicht bis in die Einzelheiten vorweggenommen, wie die von ihm geprägte Form der Essais nahelegt. Aber gerade deswegen erschien es mir immer interessanter und lohnender, diesen Spuren nachzugehen und sie weiter zu verfolgen, um die spezifisch neuzeitliche Perspektive, die sich in der Gesamtschau ergibt, zu begreifen und auf das Recht zu beziehen. Zugleich könnte damit das Augenmerk auf die in der juristischen Ausbildung immer stärker in den Hintergrund tretenden, vom Wissenschaftsrat hingegen ausdrücklich zu einem Desiderat der Forschung und Lehre erhobenen Grundlagen des Rechts gelenkt werden. Potsdam im Oktober 2014
Jens Petersen
Inhalt Einleitung
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§ Relativität der Gesetzesgeltung 16 I. Unvordenklichkeit der Gesetzesgeltung 16 . Zeitlicher Zusammenhang und Dauer 17 18 . Unkenntnis des Gesetzesanlasses II. Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch 19 19 . Relativismus und Konservativismus 20 . Kontingenz der Gesetze III. Gerechtigkeit und Ordnung 21 . Rechtszustand vor der Gewaltenteilung und 21 Ordnungsdenken 23 . Historische, nicht göttliche Gerechtigkeit 24 IV. Begreifbarkeit der Gesetze 25 . Verständlichkeit des Rechts . Weichenstellung für die Rechtssoziologie 26 V. „Das Hauptgesetz aller Gesetze“ 28 28 . Einhaltung der Landesgesetze a) Rechtsphilosophische und rechtssoziologische Einsicht 29 b) Einhaltung der Gesetze des jeweiligen Landes 30 . Öffentliche Gesetze und private Vernunft 30 a) Gesetze und Sitten b) Limitierte Reichweite der Vernunft 31 . Öffentliche Einrichtungen und Skepsis des Einzelnen 34 34 VI. Anhänglichkeit gegenüber der Rechtsordnung . Einschränkung der Testierfreiheit 35 . Paternalismus 36 . Anhänglichkeit gegenüber der bestehenden Rechtsordnung VII. Gesetzesänderung und Gesetzesgehorsam 37 38 . Gesetzesentstehung als organischer Prozess . Anpassung der Gesetze an die Lebensverhältnisse 39 40 . Gesetzesänderung als ultima ratio § ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze 42 I. Individuelles Gerechtigkeitsgefühl 42 . Mäßigung als Kennzeichen der Gerechtigkeit . Geringschätzung der Jurisprudenz 43
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Inhalt
II. Verteidiger der gesetzmäßigen alten Ordnung 44 . Gesetze als Orientierungsmaßstab 45 45 . Naturrecht und übergeordnete Rechtswerte? 46 . Paradoxien III. Grundsätze der Gerechtigkeit 47 47 . Funktionierende Rechtspflege in der Monarchie . Freiheit im Rahmen der Gesetze 48 50 . Recht als Verwirklichung der inneren Freiheit . Montaignes Erbe 50 IV. Kontingenz der menschlichen Verhältnisse 51 52 . Eitelkeit als Triebfeder . Vollständige Gesetzesbefolgung als Utopie 53 . Zweifel an der menschenmöglichen Gerechtigkeit 54 55 V. Äußeres Recht und innere Freiheit . Unmöglichkeit alternativer Auslegung 56 56 a) Alternativlose Gesetzesgeltung 56 b) Selbstentfremdung durch Gesetze 57 . Freiheit vom Recht . Falschheit des Menschen und Verfälschung des Rechts 58 VI. Nachsicht gegenüber der Rechtspflege 59 59 . Daseinsweise der Gesetzesgeltung a) Quietistische Gesetzestreue 60 b) Opfer prozeduraler und generalpräventiver 61 Gerechtigkeitsvorstellungen 62 . Gesetz und Erfahrung . Kritik an inflationärer Gesetzgebung 64 65 a) Unzahl von Gesetzen als Skandalon b) Inkommensurabilität der Gesetze 66 67 c) Folgerung 68 VII. Beziehungslosigkeit zwischen Faktizität und Normativität . Sprache und Verständlichkeit des Rechts 69 70 a) Misstrauen gegenüber dem Juristenstand b) Gleichheit vor dem Gesetz als Illusion 71 . Kritik an der ubiquitären Verrechtlichung 72 73 a) Pathologie des Rechtswesens b) Pessimismus gegenüber der Gerechtigkeit 75 76 VIII. ‚Le fondement mystique de leur authorité‘ . Gesetze als fragiles Menschenwerk 76 a) Derridas Deutung der mystischen Autorität 77 77 b) Ergänzungen und Bedenken
Inhalt
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c) Unbehelflichkeit der Dekonstruktion 78 d) Derridas anfechtbare Interpretation der mystischen Autorität des Gesetzes 79 80 . Gesetzestreue als Illusion der Gerechtigkeit 82 § Rechtsfindung und Wahrheitsfindung I. Individuum und Bürgersinn 83 83 . Bürgerkrieg als Inbegriff der Rechtlosigkeit . Motive des Handelns und rechtliche Ordnung 85 II. Rechtswidrigkeit als Bedingung des Wohlergehens 86 87 III. Richterliche Urteile als dogmatische und apodiktische Rede . Hinwendung zur praktischen Jurisprudenz 88 89 . Anwendung auf die juristische Dogmatik 90 . Akzeptanz juristischer Spruchkörper 90 . Dezisionistisches Moment der Urteilsbegründung a) Richterliche Rechtsfindung 91 b) Biegsamkeit des Rechts 92 92 IV. Wahrheitssuche oder Utilitarismus? . Relativität des Nutzens 93 93 . Gesetz als Maßstab 95 V. Inkommensurabilität Gottes und menschliche Auslegung 95 . Grenzen des Menschen . Rechtsstreitigkeiten als Folge sprachlicher Undeutlichkeit 97 97 a) Mehrdeutigkeit von Rechtstexten und Wissen vom Recht b) Strafrechtspraxis der Menschen und Strafe Gottes 98 c) Widerhall bei Schopenhauer 99 VI. Strafrechtsbegründung außerhalb der Apologie 100 101 . Rückgriff auf heidnisches Rechtsdenken 102 . Ablehnung der Folter a) Ungewissheit der Beweise 103 b) Gewissen als internes Folterwerkzeug 104 104 c) Paradigma neuzeitlichen Rechtsdenkens d) Unredlichkeit über den Tod hinaus 105 106 e) Ungerechte und gerichtete Richter 107 . Strafbarkeit des Selbstmordes? a) Individualistische Rechtsauffassung 107 108 b) Dispositionsbefugnis über das eigene Leben c) Metapher des Wehrpflichtigen 109 109 d) Suizid um des Gemeinwesens willen? e) Genehmigung durch das Staatswesen? 110
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Inhalt
. Folgerung für Montaignes Geschichts- und Gesetzesverständnis 111 111 VII. Falscher Schein des Rechtswesens 113 . Brüchigkeit des gesetzlichen Fundaments . Wahrheitsanspruch der Jurisprudenz? 113 § Befangenheit in der conditio humana 115 115 I. Der Mensch als Repräsentant der Menschheit II. Montaigne „nicht als Rechtsgelehrter“ 116 III. Gesetze aus der Rechtsgeschichte 117 118 . Perspektiven des Geschichtsverständnisses . Wiedererlangung juristischer Unbefangenheit 119 120 IV. Gesetze als Fesseln des Geistes 120 . Gesetzliche Regulierung der Begehrlichkeiten 122 . Vergleich mit animalischen Regungen . Montaignes Gesetzesverständnis als stoizistisches Erbe 123 V. Empiristisches Gesetzesverständnis 124 125 . Evolutionäres Rechtsdenken . Rechtsempirismus 125 126 . Richterpsychologie 127 a) Rechtssoziologie avant la lettre 128 b) Evidenzurteil eines Skeptikers c) Richterideal und Gleichheit vor dem Gesetz 129 130 . Korruption der Urteilskraft a) Descartes’ Zweifel 131 b) Montaignes Erkenntniskritik und Kants „Ding an sich“ 131 aa) Von Montaigne über Hume zu Kant 132 bb) Einbeziehung des Beobachters in den 133 Erkenntnisvorgang cc) Richterliche Selbstbeschränkung 134 VI. Rechtsberatung und Interessentenjurisprudenz 135 136 . Gleichgültigkeit und Eigennutz . Wertwidriges und Rechtswidriges 137 138 VII. Recht und Rhetorik 139 . Rechts- und Diskurstheorie . Wissenschaftstheoretische Reichweite 139 § Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht 143 I. Relativität der gesetzlichen Wahrheit . Recht und Wahrheit 143
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Inhalt
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
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. Objektive Bedingungen des Naturrechts 144 a) Beispiel aus dem chinesischen Rechtskreis 144 145 b) Zufälligkeit des Gesetzesvorrangs 145 . Neuzeitlicher Begründungsansatz gegen das Naturrecht Wankelmütigkeit der Gesetzgebung 146 147 . Autobiographisches Tatsachen- und Werturteil . Religionsgesetze und Staatsgesetze 147 148 Gefahr der Rückwirkung von Gesetzen . Unzuverlässigkeit der Gesetzesgeltung 149 . Recht oder Ordnung? 150 151 . Widersprüchliches Gesetzesverständnis Montaignes Beliebigkeit juristischer Streitentscheidung? 151 . Amfortaswunde der Jurisprudenz 152 153 a) Theorie und Praxis der Jurisprudenz b) Folgerung 153 154 . Vorurteile gegen die Rechtswissenschaft 155 . Autobiographisches Versteckspiel des Juristen 156 . Pfahl im Fleische der Jurisprudenz Ursprung der Geltung der Gesetze 157 . Wechsel der Blickrichtung auf die Gesetze 158 158 . Strom der Gesetzesgeltung . Naturrechtliche Geltung und Dazwischentreten der Vernunft 159 160 . Territoriale Relativität des Rechts 160 a) Gleichzeitigkeit des Rechts 161 b) Naturmäßige Grenzen der Rechtsgeltung c) Eröffnung der Rechtsvergleichung 162 163 . Wahrheitsanspruch des geltenden Rechts . Naturrecht und Naturgesetze 164 165 . Religiöses und weltliches Recht 165 Universelle und ubiquitäre Akzeptanz von Rechtsnormen? . Empirische Rechtstatsachenanalyse 166 167 . Erschließung für Pascals Rechtsverständnis Bedingungen der Naturrechtsgeltung 168 . Hypothetische Notwehrprobe 168 169 . Grenzen der Vernunft . Anthropologische Gesetzmäßigkeit der condition humaine 170
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Inhalt
§ Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz 172 I. Der Kannibalen-Essay als Paradigma der Rechtskulturvergleichung 173 173 . Empirische Feldforschung aus zweiter Hand . Montaigne als Vordenker Montesquieus 175 177 . Die „beste Staatsverfassung“ als Zustand der Unordnung . Befolgung der natürlichen Gesetze 178 179 . Empirisches Wissen über die Gesellschaft II. Erschließung der Rechtsanthropologie 180 . Erschließende Skepsis durch Hypothesenbildung 181 182 . Rechtssoziologische Begründung des Moralkodex . Vergleich des Kannibalismus mit der Todesstrafe 183 . Sensualistische Bestandsaufnahme 184 185 . Anthropozentrik statt Ratiozentrik . Anthropologie des Völkerrechts 186 187 . Ökonomie der Genügsamkeit 188 . Anthropologische Grundeinsicht 189 . Kommunistische Güterordnung . Zwischenbefund 190 III. Umgekehrte Rechtsanthropologie durch Fremdvergleich 192 192 . Unbefangenheit gegenüber den Rechtsverhältnissen . Soziale Gerechtigkeit 194 195 . Montaignes Befund aus Sicht der Rechtsanthropologie 196 IV. Von der Rechtsphilosophie zur Rechtsanthropologie . Relativität des Rechts in Abhängigkeit der 196 Machtverhältnisse 197 . Rudimentäre Form der Rechtsanthropologie V. Historische Völkervergleichung und ökonomische 198 Auswirkungen 199 . Eigeninteresse als beherrschendes Prinzip des Handels . Werturteilsfreie Betrachtung des rechtshistorischen 200 Befundes a) Kriminelles Handeln zugunsten der Allgemeinheit? 201 b) Rechts- und verhaltensökonomische Ansätze 201 203 . Folgerung § Erschließung der Grundlagen des Rechts Literaturverzeichnis Personenregister
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Einleitung Kaum ein Denker hat seine Geistesverwandtschaft mit Michel de Montaigne so freimütig – wenn auch nur unter einer bezeichnenden Bedingung – bekannt wie Friedrich Nietzsche: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. (…) Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.“¹ Neben Montaignes Ehrlichkeit rühmt er an der gleichen Stelle „eine wirkliche erheiternde Heiterkeit“. Ebenso wie bei Nietzsche hat der ausgeprägte Individualismus in Montaignes Werk Spuren hinterlassen. Montaigne, der sich mit nicht einmal vierzig Jahren von seiner juristischen Tätigkeit am Steuergerichtshof von Bordeaux zurückzog und gleichsam in Klausur begab, indem er sich von seiner Familie weitestmöglich in einem Turm seines Anwesens abschottete, wo er den Menschen Montaigne beschreibend beobachtete, nahm gleichwohl Anteil am Gemeinwesen.² Nach zehn Jahren selbstgewählter Einsamkeit stand er auf verbindlichen Wunsch seines Königs als Bürgermeister der Stadt Bordeaux zur Verfügung, die er so erfolgreich führte, dass er wiedergewählt wurde (Essais III 10). Recht und Gemeinwesen, Gesetze und Gerechtigkeit waren für den studierten Juristen zentrale Themen, die alle drei Bücher seiner Essais durchziehen. Er reflektiert die gewonnene Welterfahrung,³ in die nicht zuletzt seine praktische Erfahrung mit der Jurisprudenz und ihre theoretische Durchdringung eingegangen sind.⁴ Seine konservative Grundeinstellung macht den Blick auf Staat und Gemeinwesen interessant; seine allgegenwärtige Skepsis enthüllt eine kritische Sicht auf den Gerechtigkeitsgehalt der Gesetze, ihre Relativität und immanenten Ungerechtigkeiten. Die schonungslos ehrliche Sicht auf sich selbst führte zu Ein-
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, III 2. Zu dieser Stelle Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 284. Etwas freihändig interpretierend Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 164: „Im Hinblick auf die Misslichkeiten der Epoche scheint ihm seine Einsamkeit schwer vertretbar. Er richtet sein Denken auf die ‚Staatsgeschäfte‘ (…). Das freie Leben, das otium cum litteris, die Träumereien im Turmzimmer und die studienbeflissene Sammlung in sich selbst (…) erwecken in ihm, nun er davon gekostet hat, das Gefühl einer Fahnenflucht“. Dazu Bernhard Groethuysen, Montaignes Weltanschauung, Festschrift für Eduard Wechssler, 1929, S. 219; Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Kurt Flasch, Philosophie hat Geschichte, 2003, S. 335 f.: „Er findet in sich die Welt, die Welt der antiken Bücher, der eigenen politischen, juristischen und körperlich-medizinischen Erfahrungen“.
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Einleitung
sichten, die sich aus den menschlichen Abgründen ergeben⁵ und prägend für die französischen Moralisten wurden.⁶ Seine Erkenntnis der guten und der wahren Gründe menschlicher Handlungen strahlt aus auf seine seziererische Beurteilung der mitunter ungerechten Geltungsgründe menschlicher Gesetze. Rechtsvorschriften, die von so unvollkommenen Wesen geschaffen und erlassen wurden, wie es Menschen sind, können aus sich heraus keine unbedingte Geltung beanspruchen oder – wenn sie es kraft Zeitablaufs dennoch tun – zumindest nur einen beschränkten Gerechtigkeitsgehalt aufweisen. Montaignes Skepsis richtet sich also nicht nur gegen die Gesetze und das Recht, sondern letztlich gegen den Menschen selbst, der als kontingentes, unzulängliches Wesen keiner absoluten Gerechtigkeit fähig ist, weil er immer in der Relativität seiner persönlichen Beziehungen und Obliegenheiten gefangen ist. Wenn sich Montaigne den Gesetzen zuwendet, ist daher immer der Mensch und in seiner Person die Menschheit sein eigentliches Ziel. Schon diese kurze Skizze der Themen macht deutlich, wie viel insbesondere der eingangs genannte Nietzsche ihm für sein Verständnis des Rechts und der Gerechtigkeit verdankte. Gerade in seiner skeptischen Phase ist die Nähe zu Montaigne unübersehbar, und bereits der programmatische Titel Menschliches, Allzumenschliches verrät dieselbe Anthropozentrik, die Montaignes Essais durchgängig zu eigen ist. Es ist für einen Zeitgenossen des sechzehnten Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich festzustellen, dass die Gleichheit die Hauptstütze der Billigkeit ist⁷ (« L’equalité est la premiere pièce de l’equité ».⁸). Alle eingangs erwähnte und von ihm selbst bekannte Geistesverwandtschaft vermag nämlich nicht darüber hinwegsehen zu lassen, dass Nietzsche diese zentrale Prämisse unseres heutigen Rechtsdenkens nicht teilte.⁹ Nicht zuletzt daran zeigt sich, dass uns Montaigne näher ist und womöglich mehr über die Gerechtigkeit sagen kann als mancher spätere Denker.¹⁰ Umso aufschlussreicher
Eugen Biser, Glaubenserweckung. Das Christentum an der Jahrtausendwende, 2000, S. 87, bezeichnet Montaigne als „schonungslosen Selbstanalytiker“. Hugo Friedrich, Die Suche nach der Wirklichkeit als Thema der französischen Literatur, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 11 (1935) 260 ff.; Fritz Schalk, Die französischen Moralisten, 1938; Karlheinz Stierle, Was heißt Moralistik?, in: Moralistik. Explorationen und Perspektiven (Hg. R. Behrens/M. Moog-Grünewald) 2010, 1, 14. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 122. Michel de Montaigne, Les Essais, I 19, S. 95; hier und im Folgenden zitiert nach der PléiadeAusgabe. Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 203. Weiterführend Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, S. 185 ff.; zu seiner Nietzsche-Kritik im Hinblick auf das (Natur‐)Recht auch Jens Petersen, ARSP 99 (2013) 434, 436.
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ist daher eine Stelle aus dem erwähnten Werk Nietzsches, in der Montaigne neben anderen erwähnt wird: „Es waren vier Paare, die sich mir, dem Opfernden, nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer.“¹¹ Interessanterweise fasst Nietzsche nicht Montaigne und Pascal zu einem Paar zusammen, obwohl Montaigne Pascal nachhaltig geprägt hat.¹² Der epikureische Ursprung Montaignes war Nietzsche also ungleich wichtiger als dessen inspirierende Wirkung auf Pascal. Die von ihm apostrophierte „erheiternde Heiterkeit“ Montaignes dürfte damit zusammenhängen – ebenso wie umgekehrt Pascals spätere Leibfeindlichkeit und Schopenhauers Pessimismus. Wie sehr aber gerade Pascal Montaigne verpflichtet ist,¹³ auch wenn er dies mitunter in ironische Wendungen kleidete und sich noch so sehr von ihm zu distanzieren suchte,¹⁴ wird kaum irgendwo so deutlich wie bei seinem Verständnis der Gesetze.¹⁵ Pascals Gedanken über das Recht sind ohne Montaigne nicht denkbar.¹⁶ Seine diesbezüglichen Äußerungen scheinen mitunter fast wörtliche Übernahmen aus Montaignes Essais zu sein, auch wenn sich bei näherer Betrachtung zeigt, dass hier ein genialer Geist durch den anderen inspiriert wurde und dem Ganzen eine durchaus eigentümliche Sicht der juristischen Verhältnisse verliehen hat.¹⁷ Eine der aufschlussreichsten Äußerungen Pascals über Montaigne, die auch für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, rührt aus dem Gespräch mit Monsieur de Sacy her. Pascal thematisiert zunächst die Skepsis Montaignes, die für ihn in einen infiniten Regress führt: „Er stellte alle Dinge in einen so universellen und so allgemeinen Zweifel, dass dieser Zweifel sich selbst aufhebt; das heißt, er zweifelt daran, ob er zweifelt, und indem er selbst an dieser letzten Voraussetzung noch zweifelt, dreht seine Ungewissheit sich in einem Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II 2, 407. Treffend Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Französische Klassik (Hg. F. Nies/Ders.), 1985, S. 81, 85: „Er knüpft dabei an Montaigne an und geht über diesen doch in einem entscheidenden Schritt hinaus“. Ferner Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne, 1944. Hugo Friedrich, Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform, Zeitschrift für Romanische Philologie 56 (1936) 322; zuvor bereits wegweisend Gerhard Hess, La Rochefoucauld. Die Maximen, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Zeitgeschichte 13 (1935) 456. Siehe nur Eugen Biser, Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modalanthropologie, 2. Auflage 1996, S. 64 f., der Pascals Fragment 358 als „Vorgriff auf Pascals Wort von der Tragik des Menschen“ deutet. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 294. Jens Petersen, Pascals Gedanken über das Recht, Festschrift für Werner Merle, 2010, S. 289. Einen würdigen Vergleich zieht Albert Brimo, Pascal et le droit, 1942, S. 97, 99: « Montaigne reste en ce domaine (…) la source principale de Pascal. (…) Pascal s’est servi de Montaigne comme l’architecte gothique (…) se servait du talent du sculpteur pour incruster son chefd’oeuvre de la richesse du talent d’autrui ».
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ewigen und ruhelosen Zirkel um sich selbst.“ (« Il met toutes choses dans un doute universel, et si général que ce doute s’emporte soi-même, c’est-à-dire qu’il doute s’il doute, et doutant même de cette dernière proposition, son incertidude roule sur elle-même dans un cercle perpétuel et sans repos »).¹⁸ Montaigne ist für Pascal ein Geist, der stets verneint. Darin schwingt der Vorwurf mit, dass Montaigne zu keinem positiven Gedanken fähig sei, weil sein zerstörerischer Zweifel vor nichts halt macht:¹⁹ „In diesem Zweifel, der an sich selbst zweifelt und in dieser Unwissenheit, die sich selbst nicht kennt, und die er seine denkbestimmende Form nennt, liegt das Wesen seiner Weltanschauung, die er durch keinen bejahenden Begriff hat ausdrücken können.“ (« C’est dans ce doute qui doute de soi, et dans cette ignorance qui s’ignore, et qu’il appelle sa maîtresse forme, qu’est l’essence de son opinion, qu’il n’a pu exprimer par aucuns termes positifs »).²⁰ Dass dies zu einseitig ist, weil es die erschließende Dimension des Zweifels Montaignes nicht berücksichtigt und wohl auch aus einer grundlegenden Abneigung Pascals gegen Montaignes Haltung zum Christentum gespeist ist, hat vor allem Hugo Friedrich in seinem bahnbrechenden Werk herausgearbeitet.²¹ Der erkenntnistheoretische Zweifel, den Pascal hier vorderhand kritisiert, wird wohl in seiner Vorstellung übertüncht durch den für Pascal ungleich gravierenderen religiösen Zweifel Montaignes. Gerade in dieser Hinsicht enervieren ihn die offenen Widersprüche Montaignes. So notiert er in den Pensées: « Montaigne contre les miracles. Montaigne pour les miracles ».²² Daher darf diese Einschätzung auch nicht verabsolutiert werden. Ungleich interessanter für den vorliegenden Zusammenhang ist ein vergiftetes Lob, das Pascal Montaigne zollt:²³ „Montaigne versteht es unvergleichlich, den Stolz derer zu erschüttern, die sich außerhalb des Blaise Pascal, Entretien de Pascal avec M. de Sacy (in: Pascal Œuvre complètes, Édition Bibliothèque de la Pléiade, hier und im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von Hans Peter Schmidt des Werks von Jacques Attali, Blaise Pascal. Biografie eines Genies, 2. Auflage 2007). Treffend demgegenüber Kurt Flasch, Philosophie hat Geschichte, 2003, S. 336: „Skepsis ohne dogmatischen Skeptizismus“. Blaise Pascal, Entretien de Pascal avec M. de Sacy, ebenda. Hugo Friedrich, Montaigne, 1949 (3. Auflage 1993, S. 180 und öfter), allerdings ohne spezifischen Bezug auf Pascal, sondern nur Montaigne selbst zugewandt. Vorbildlich würdigend Karlheinz Stierle, Hugo Friedrich, lecteur de Montaigne, Bulletin des amis de Montaigne, VIIe Série, No. 19 – 20, janvier-juin 1990, S. 51; Heinz Gockel, Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, 2005, S. 167. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 814; dazu Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal Lecteurs de Montaigne, 1944, S. 77, 97; Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs. Ein Versuch mit Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik 11 (Hg. Ders./R. Warning) 1984. Siehe zum Verhältnis beider Denker zueinander auch Bernard Croquette, Pascal et Montaigne, 1974.
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Glaubens einer wahren Gerechtigkeit rühmen; und wenn er jenen die Augen öffnet, die an ihren Meinungen kleben und in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten gefunden zu haben glauben.“ (« Montaigne est incomparable pour confondre l’orgueil de ceux qui hors la foi se piquent d’une véritable justice; pour désabuser ceux qui s’attachent à leurs opinions, et qui croient trouver dans les sciences des vérités inébranlables »).²⁴ Hier schwingt mit, dass für Pascal außerhalb des Glaubens keine wahre Gerechtigkeit möglich ist; diejenigen, die sich derer gleichwohl rühmen, sind für Pascal ohnehin nicht schutzwürdig. Dass Montaigne ihren – für Pascal: falschen – Stolz mit seinem allgegenwärtigen Zweifel erschüttert, spricht für ihn. Diese Aussage ist zugleich ein Beispiel für Pascals unnachahmliche Fähigkeit, seine Gegner gegeneinander auszuspielen und auf rhetorisch höchstem Niveau die Ansichten derer, die unrettbar irren, durch die Ansichten jener zu widerlegen, die nur teilweise irren.²⁵ Rechnet man aber diesen immanenten theologischen Gehalt der Aussage heraus, so bleibt es bei einer beeindruckenden Charakterisierung – nicht zuletzt übrigens auch, was den Faktor des erschütterten Stolzes betrifft, weil gerade der Überwindung der persönlichen Eitelkeit Montaignes Augenmerk galt. Denn die Eitelkeit steht der Verwirklichung der Gerechtigkeit entgegen; sie trübt die richterliche Urteilskraft und verstärkt das Hochgefühl der Bedeutung des Urteilenden: „Nichts ist so leer und hat so viele Bedürfnisse als du, der du das ganze Weltall umfassen willst. Du bist der Forscher ohne Kenntnis, der Richter ohne Gerichtssprengel, und endlich der bunte Mann im Possenspiel!“ ²⁶ (« Il n’en est une seule si vuide et necessiteuse que toy, qui embrasses l’univers : Tu es le scrutateur sans cognoissance: le magistrat sans jurisdiction : et après tout, le badin de la farce ».²⁷). Die Justizmetapher dürfte Montaigne nicht von ungefähr gewählt haben. Das von Menschen geschaffene Recht steht hier nur pars pro toto.²⁸ Wenn man also die Aussage auf die Jurisprudenz bezieht, was sich schon dadurch rechtfertigt, dass er nicht von ungefähr den Richter einbezieht – freilich ohne Gerichtsbarkeit und damit wirkungslos ins Leere urteilend – , dann fasst sie bündig das zusammen, was Montaigne im Sinne hatte: Gerechtigkeit kann nur Blaise Pascal, Entretien de Pascal avec M. de Sacy, ebenda. Jens Petersen, Pascals Gedanken über das Recht, Festschrift für Werner Merle, 2010, S. 289, unter Hinweis auf Blaise Pascal, De l’art de persuader. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 47. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1047. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179: „Er wollte am Sonderfall des Rechtslebens exemplifizieren, was er allenthalben exemplifizieren wollte, die Unfasslichkeit des fließend-widersprüchlichen Menschenwesens durch normative Allgemeinsätze, und er wollte den Menschen aus dem Gespinst der Rechtssatzungen freilegen, um ihn seiner individuell und fallweise verschiedenen Wirklichkeit zurückzugeben“.
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durch Überwindung persönlicher Eitelkeit annäherungsweise verwirklicht werden. Jeglicher Verabsolutierung der Gerechtigkeit oder ihre Ausstattung mit einem universellen Wahrheitsanspruch steht die condition humaine unweigerlich entgegen. Die menschliche Urteilskraft ist fortwährender Veränderung unterworfen, weil auch die Gegenstände, über die geurteilt wird, im Fluss sind. So entsprechen Sachverhalt und Norm einander niemals vollständig und lückenlos. Montaigne hat denjenigen, die im Recht und in den Gesetzen ewige Wahrheiten verbrieft sehen, den Spiegel vorgehalten; Wahrheit und Gesetz entsprechen einander nur zuweilen und unter bestimmten Bedingungen: „Denn die Wahrheit hat kein Vorrecht, zu jeder Zeit und bei allen Gelegenheiten gesagt zu werden. Ihre Anwendung, so edel sie ist, hat ihre Einschränkung und Grenzen. Wie die Welt beschaffen ist, ergibt sichs oft, dass man solche vors Ohr der Fürsten bringt, nicht nur ohne Nutzen, sondern auch mit Schaden, und zwar von Rechts wegen.“²⁹ (« Car le verité mesme, n’a pas ce privilege, d’estre employée à toute heure, et en toute sorte : son usage tout noble qu’il est, a ses circonscriptions, et limites. Il advient souvent, comme le monde est, qu’on la lasche à l’oreille du Prince, non seulement sans fruict, mais dommageablement, et encore injustement ».³⁰). Seinem eigenem Urteil vertraut er mehr als dem anderer, doch ist er klug genug, es zugunsten der Rechtspflege in Zweifel zu ziehen, wenn angesichts der Rechtsfolgen zuviel davon abhängt: „Gerechtigkeitspflege hat ihre eigenen Heilmittel gegen solche Krankheiten. Die Gegengründe und Beweise, welche mir sehr ehrliche Leute sowohl dort als auch anderwärts oftmals anführten, haben mich niemals überzeugt und immer fand ich eine wahrscheinlichere Auflösung als die ihrige. Freilich ist es wahr, dass ich die Beweise und andere Rechtsgründe, welche auf Erfahrungen und Tatsachen beruhen, nicht entwickeln mag. Auch haben sie kein Ende, wobei man sie angreifen könnte. Oft zerhaue ich sie, wie Alexander seinen Knoten. Mit einem Wort gesagt, es heißt seine Vermutungen hoch veranschlagen, wenn man um ihretwillen einen Menschen lebendig braten lässt.“³¹ (« La justice a ses propres corrections pour telles maladies. Quant aux oppositions et arguments, que des honnestes hommes m’ont faict, et là, et souvent ailleurs : je n’en ay point senty, qui m’attachent : et qui ne souffrent solution tousjours plus vray-semblable, que leurs conclusions. Bien est vray que les preuves et raisons qui se fondent sur l’experience et sur le faict : celles-là, je ne les desnoue point ; aussi n’ont-elles point de bout : je les tranche souvent, comme Alexandre son nœud.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 183. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1125. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 102.
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Après tout c’est mettre ses conjectures à bien haut prix, que d’en faire cuire un homme tout vif ».³²). Montaigne soll in der vorliegenden Darstellung möglichst zusammenhängend selbst zu Wort kommen, weil seine auf das Recht bezogenen Gedanken in so eigentümlicher Weise argumentieren, dass sie nur dort gekürzt wurden, wo sich weitschweifige Exkurse finden.³³ Für jede Kürzung des Gedankenganges, für jedes Auseinanderreißen gilt das, was Ralph Waldo Emerson so treffend bemerkte, dessen eigene Essays Montaigne in Form und Inhalt verpflichtet sind: „Zerschneide diese Worte und sie werden bluten, denn sie sind gefäßreich und lebendig.“³⁴ Unausgesprochen kontrastieren die blutarmen Rechtsstudien Montaignes und die Steuerrechtsbescheide, die er am Steuergerichtshof in Bordeaux zu fertigen hatte,³⁵ mit der auf die Blutgefäße gemünzten ingeniösen Formulierung Emersons, durch die er Montaignes Sinn für das Lebendige charakterisiert.Wer mit einer solchen Beobachtungsgabe gesegnet war wie Montaigne, der darf auch der Rechtsphilosophie nicht gleichgültig sein.³⁶ Was er aus Erfahrung, Selbstbeobachtung und eigener Anschauung vom Recht wusste – oder besser, nämlich in sokratischer Tradition gesagt, nicht wusste -, hat weit in die neuzeitliche Rechtsphilosophie gewirkt, auch wenn sich ihre Protagonisten und Lehrer dies nicht immer gleichermaßen eingestehen wollen. Der große Romanist Erich Auerbach, der auch promovierter Jurist war,³⁷ stellte über den Schriftsteller Montaigne fest, was in der vorliegenden Abhandlung zumindest in der Folgerung in Abrede gestellt wird: „Gelernt hat er Rechtswissenschaft, aber er war ein gleichgültiger Jurist, und seine Äußerungen über die Grundlagen des Rechts, obgleich in anderem Zusammenhang bedeutend, haben Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S. 1079. Montaignes Essais werden hier und im Folgenden zitiert in der klassischen Übersetzung von Johann Joachim Bode, ‚Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Ins Teutsche übersetzt‘ (1793 – 1797), 7 Bände (Hg. Otto Flake/Wilhelm Weigand, 1908). Diese Übertragung ist gerade im Hinblick auf die rechtsrelevanten Stellen weit besser als ihr Ruf, zumal da sie auch die für das Verständnis wichtigen Einschübe der lateinischen Klassiker in den Fußnoten wiedergibt und im Text angemessen übersetzt. Die andere deutschsprachige Gesamtübersetzung stammt von Hans Stilett (Die Andere Bibliothek, Hg. Hans Magnus Enzensberger, 1998), der auch eine diesbezügliche Anthologie („Justitias Macht und Ohnmacht. Montaigne für Juristen“, 2000) herausgegeben hat. Ralph Waldo Emerson, Representative Men: Montaigne; or, The Skeptic, 1850; hier in der Übersetzung von Oskar Dähnert aus der früheren Reclam-Ausgabe. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 19, zeichnet mit weiteren Nachweisen Geschichte und Aufgabe des Gerichts nach. Aus dem französischen Schrifttum Louis Cons, Montaigne et l’idée de justice, in: Mélanges à l’honneur de Paul Laumonier, 1935, 347. Erich Auerbach, Die Teilnahme in den Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch, 1913.
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keinen fachlichen Wert“.³⁸ Zwar war Montaigne in der Tat ein gleichgültiger, wenn auch pflichtgetreuer, Jurist – nicht zuletzt in jenem wörtlichen Sinne, dass ihm in den zu schlichtenden Rechtsstreitigkeiten die unterschiedlichen Rechtsstandpunkte gleich viel galten, und er, wie jeder gute Richter, danach trachtete, sie vergleichsweise und gütlich beizulegen. Auch lässt sich Auerbachs Aussage insoweit halten, als er damit meinte, dass Montaigne keine weiterführenden Erkenntnisse zum Recht seiner Zeit zutage förderte. Aber wenn man die Grundlagen im weiten, heute verbreiteten Sinne als historische, philosophische, soziologische, theoretische, ökonomische und anthropologische begreift, dann war er geradezu prägend, weil er als Erster alle diese Aspekte erkannte. Wie so vieles Andere, erscheint es bei ihm jedoch ungeordnet und den augenblicklichen Eingebungen geschuldet, so dass die Aufgabe des Interpreten nicht zuletzt darin besteht, alle diese zerstreuten Bemerkungen unter allgemeinen Prinzipien zu sichten, einem erkennntisleitenden Interesse zuzuordnen und auf diese Weise den jeweiligen Forschungsrichtungen zuzuweisen, ohne dabei Montaigne in unzulässigerweise gewaltsam in das Korsett eines Systems zu zwängen, dem er sich in jeder Hinsicht widersetzt. Merkwürdigerweise ist im bisherigen Schrifttum noch kein Versuch in diese Richtung unternommen worden. In der Tat gibt es bis auf den heutigen Tag im deutschsprachigen Raum noch kaum eine zusammenhängende monographische Erörterung der rechtsrelevanten Stellen der Essais. ³⁹ Wenn man bedenkt, wie prägend Montaignes Einfluss auf Montesquieu war – um nur einen der meistbehandelten Rechtsphilosophen zu nennen -, ist diese wissenschaftliche Zurückhaltung nicht nachvollziehbar. Das gilt umso mehr, als sich im Verlauf der Erörterung ergeben soll, dass Montaigne regelrecht disziplinprägend wirkte, was die juristischen Grundlagenfächer – um es in moderner Terminologie auszudrücken – betrifft. Es ist zudem noch nicht hinreichend wahrgenommen worden, dass sich bei ihm nicht nur rechtssoziologische und rechtsökonomische, sondern vor allem auch rechtsanthropologische Ansätze finden, ja dass man ihn als einen maßgeblichen Wegbereiter der Rechtsanthropologie ansehen kann, die sich bislang
Erich Auerbach, Der Schriftsteller Montaigne, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie (Hg. Fritz Schalk) 1967, S. 184, 189 (Hervorhebung nur hier; ursprünglich abgedruckt in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 20, 1932, 34 ff.). Siehe auch dens., Mimesis, 3. Auflage 1964. Zur Erschließung der Grundlagen des Rechts in der Antike Aldo Schiavone, The Invention of Law in the West, 2012. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 9, dessen Abhandlung zugleich die Ausnahme bildet; lange zuvor war und seither ist, soweit ersichtlich, keine rechtsphilosophische Monographie mehr über Montaigne erschienen.
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eher auf Montesquieu berief.⁴⁰ Immerhin hatte bereits Ernst Cassirer Montaigne als „Schöpfer der modernen philosophischen Anthropologie“ bezeichnet,⁴¹ und auch die literarische Anthropologie hat ihn seit langem entdeckt,⁴² doch steht der Bezug zum Juristischen noch aus. Dabei darf man freilich nicht vordergründig assoziativ vorgehen und lediglich Anklänge an moderne Forschungsrichtungen bei Montaigne suchen, sondern man muss zunächst herausarbeiten, wie sein allgegenwärtiger, alle Geltungsgründe des Rechts scheinbar zersetzender Zweifel einen Boden schuf, auf dem dasjenige in Ansätzen gedeihen konnte, was wir heute als Rechtssoziologie und Rechtsanthropologie begreifen. Es ist also womöglich eher eine unbeabsichtigte Folge seiner polyhistorisch gebildeten, fremde Kulturen bei rechtlichen Verhaltensweisen in Rechnung stellenden Vorgehensweise, die den Blick auf ein völlig neues Feld der rechtlichen Grundlagen freigelegt hat.⁴³ Im bisherigen Schrifttum ist dies erst annäherungsweise gesehen worden, wenn Montaigne mit Recht „als Begründer einer sozialen Anthropologie“ gewürdigt wird,⁴⁴ womit jedoch nur das vordergründig faktische Element herausgearbeitet wurde, das durch eine spezifisch normative, zum Recht führende Durchdringung angereichert werden muss, die dann ihrerseits die Interdependenz von Rechtssoziologie und Rechtsanthropologie aufzuzeigen hätte. Auch wenn Montaigne die mannigfaltigen Beispiele aus der Geschichte und die überlieferten Verfahrensformen andersartiger Rechtskulturen oft nur vergegenwärtigte, um zu zeigen, dass es gerade kein einheitliches Naturrecht, keinen unverfügbaren Bestand von Rechtspositionen, keine unverbrüchlichen Gesetze gebe, hat er damit ein fortdauerndes Erkenntnisinteresse eröffnet. Man würde den außergewöhnlichen Horizont Montaignes daher unzulässig verengen, wenn man seine auf das Recht bezogenen Gedanken nur als rechtsphilosophische bezeich-
Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982, S. 173 ff. Ernst Cassirer, Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Band 6 der Meiner-Ausgabe (Hg. Gerald Hartung/Jutta Faendrich) 2005, S. 144; siehe auch Bernard Grotehuysen, Anthropologie philosopique, 1952. Allgemein zu dieser Richtung Kuno Lorenz, Einführung in die philosophische Anthropologie, 2. Auflage 1992. Cordula Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771), 2003, S. 324, spricht von Montaignes Konzeption der „Anthropologie als relativistische(r) Moralistik“. Helmut Pfeiffer, Das Ich als Haushalt. Montaignes ökonomische Politik, in: Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft (Hg. Rudolf Behrens/Roland Galle), 1995, S. 69, untersucht Montaigne vor dem Hintergrund der historischen Anthropologie. Erik Wolf, Festschrift für Fritz von Hippel, 1967, S. 631, 633; Hervorhebung auch dort.
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nen würde.⁴⁵ Vielmehr hat er im entsprechenden Sinne zu Cassirers Wort vom Schöpfer der philosophischen Anthropologie⁴⁶ juristische Anthropologie betrieben, weil alle seine Gedanken über das Recht vom Menschen – Montaigne – ausgingen und dabei die gesamte Menschheit im Blick hatten, also nicht nur die Menschheit früherer Zeiten – das ist der rechtsgeschichtliche Aspekt seines Rechtsdenkens -, sondern auch und gerade die Menschheit seiner Zeit an völlig unterschiedlichen Orten. Ihn interessierten die Sitten der Menschen an den entlegensten Orten der seinerzeit bekannten Welt nicht minder als die französischen. Er verglich sie miteinander und leitete daraus Erkenntnisse für die jeweiligen Gesetze ab, ebenso wie er aus diesen Rückschlüsse auf die Sitten und sogar die klimatischen Einflüsse zog, die solche Gesetze oder Gebräuche hervorbrachten: „Ich spintisierte bei dieser fröstelnden Jahreszeit darüber, ob die Mode, ganz nackt zu gehen, die wir bei den neulich entdeckten Völkern antreffen, eine Mode sei, wozu sie die heiße Witterung ihrer Gegend zwingt (…).Verständige Menschen sind in Fällen, die sich auf diese Betrachtung beziehen, wo man unter den Gesetzen der Natur und den Gesetzen der Konvention unterscheiden muss, umso mehr bereit, auf die Einrichtung der Welt im Allgemeinen Rücksicht zu nehmen“⁴⁷ (« Je devisoy en cette saison frilleuse, si la façon d’aller tout nud de ces nations dernierement trouvées, est une façon forcée par la chaude temperature de l’air (…). Les gens d’entendement d’autant que tout ce qui est soubs le ciel, comme dit la saincte Parole, est subject à mesmes loix, ont accoustumé en pareilles considerations à celles icy, où il faut distinguer les loix naturelles des controuvées, de recourir à la generale police du monde».⁴⁸). Hieran sieht man im Übrigen beispielhaft, dass die Berücksichtigung klimatischer Einflüsse auf das Recht nicht allein Montesquieus Entdeckung ist, als welche sie im bisherigen Schrifttum gilt,⁴⁹ sondern wie so Vieles bereits bei Montaigne angelegt ist. Diese unvoreingenommene Neugier war ein fruchtbarer Boden für rechtssoziologische und rechtsanthropologische Reflexionen, noch bevor es diese Disziplinen gab. Viele dieser Einsichten und Vorgehensweisen hat man bis in unsere Tage Montesquieu zugeschrieben,⁵⁰ doch wird sich zeigen, dass Ernst-Joachim Lampe, Rechtsanthropologie. Eine Strukturanalyse des Menschen im Recht, 1970, versteht unter diesem Begriff eher das, was die herkömmlichen Darstellungen der Rechtsphilosophie zuordnen; seine Darstellung berücksichtigt aber Montaigne ohnehin nicht. Siehe dazu auch die Groninger Antrittsvorlesung von Helmuth Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1979, S. 133. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 94. Michel de Montaigne, Les Essais, I 35, S. 230. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band I, 1975, S. 429. Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982, S. 173 ff.
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das Meiste in nuce und teilweise auch weitergehend ausgeführt bereits bei Montaigne angelegt war, dessen eifriger Leser Montesquieu war.⁵¹ Ebenso wird sich daher erweisen, dass Montaigne – und eben nicht erst Montesquieu⁵² – als einer der ersten Begründer der Rechtssoziologie gelten kann. Da ihn aber bis auf wenige Ausnahmen nicht so sehr die Gesellschaft als solche, sondern immer der einzelne Mensch als Repräsentant der Menschheit interessierte,⁵³ kann man ihn eben auch als Vorläufer und Wegbereiter der Rechtsanthropologie ansehen, die ihn bisher, soweit ersichtlich, noch nicht als solchen erkannt hat. Auch Arthur Kaufmann nennt Montaigne in diesem Zusammenhang nicht, sondern neben Spinoza, Locke und Rousseau als angeblich frühesten Vordenker Thomas Hobbes, der aber erst vier Jahre vor Montaignes Tod zur Welt kam. Kaufmanns ausschließendes Kriterium, wonach auch den als Vorläufern der Rechtsanthropologie genannten Denkern noch „keine Herauslösbarkeit des Menschen aus der vorgegebenen Weltordnung“ bekannt gewesen sei,⁵⁴ trifft jedenfalls auf Montaigne nicht zu: Bei ihm ist der Mensch ablösbar von der ihn umgebenden Ordnung, er ist nicht zufällig oder notwendig Mitwirkender im Kosmos,⁵⁵ sondern Montaignes alleiniges Erkenntnisinteresse: „Ich studiere mich selbst mehr als jeden anderen Gegenstand“⁵⁶ (« Je me’estudie plus qu’autre subject ».⁵⁷). Die Ordnung ist die vom Menschen geschaffene, ist sie recht, dann leistet sie mehr als das Recht leisten kann, weil es die Unordnung bannen soll. Auch im Hinblick auf die Natur existiert der Mensch für Montaigne durch sein Denken und Zweifeln losgelöst, doch tut er besser daran, ihr zu vertrauen, als der Illusion nachzujagen, er könne den unabänderlichen Lauf der Welt beeinflussen oder ihre Gesetzmäßigkeit durchschauen:⁵⁸ „Auf dieser Universität lasse ich mich als ein unwissender und un Werner Stark, Montesquieu. Pioneer of the Sociology of Knowledge, 1960, S. 44, 167. Zu seinem prägenden Einfluss auf die Rechtssoziologie Horst Dreier, Einleitung, in: Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, Gedächtnissymposium für E. M. Wenz (Hg. Ders.), 2000, S. 1 f. unter Verweis auf Hubert Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, 1987, S. 7; Paul-Ludwig Weinacht, Montesquieu und die doppelte Rechtskultur im alten Frankreich, Der Staat 36 (1997), 118. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 192: „Vom römischen, griechischen, französischen Staat ist nicht die Rede, immer nur von einzelnen Römern, Griechen, Franzosen“. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (Hg. ders./Winfried Hassemer/Ulfried Neumann), 8. Auflage 2010, S. 97. Zu diesem Gesichtspunkt der philosophischen Anthropologie Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 173. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Französische Klassik (Hg. F. Nies/Ders.), 1985, S. 81, 86 : „Das Vertrauen in
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widerstrebender Mensch für das allgemeine Gesetz der Welt zuziehen. Ich erkenne solches hinlänglich, wenn ich es fühle. Mein Wissen kann seinen Weg nicht verändern. Es wird sich aus Liebe zu mir nicht vervielfachen. Torheit wäre es, das zu hoffen, und noch größere, sich darüber zu kümmern. Denn es muss notwendigerweise gleich, öffentlich und allgemein sein“.⁵⁹ (« En ceste université, je me laisse ignoramment et negligemment manier à la loy generale du monde. Je la sçauray assez, quand je la sentiray. Ma science ne luy peut faire changer de routte. Elle ne se diversifiera pas pour moy : c’est folie de l’esperer. Et plus grande folie, de s’en mettre en peine : puis qu’elle est necessairement semblable, publique, et commune ».⁶⁰). Es ist bemerkenswert, dass er auf das Natur- und Weltengesetz die Merkmale der Gleichheit, Öffentlichkeit und Allgemeinheit anwendet, die erst sehr viel später als unabdingbare Erfordernisse menschlicher Gesetzgebung erkannt wurden. Die Natur dient ihm also eher zur Veranschaulichung, wenn er einem vorgeblich vorgegebenen universellen Recht den Umstand entgegenhält, dass das positive Recht merkwürdigerweise an einem bestimmten Bergzug ende (Essais II 12). Auf diese vielzitierte Einsicht zur raumzeitlichen Relativität des Rechts beschränkt sich übrigens die bisherige juristische Montaigne-Rezeption weitgehend.⁶¹ Montaigne interessiert sich für das Recht – wie im Übrigen für alle anderen Dinge – nur, soweit es den Menschen angeht, die Beziehungen der Menschen untereinander zu ordnen hilft und soweit seine Ausgestaltung in bestimmten Zeiten oder bei bestimmten Völkern Rückschlüsse auf deren Denkweise zulässt. Daher behandelt er Gesetze nicht so sehr als Instrument der Regelung bestimmter Sachverhalte. Dass dies möglich ist, bezweifelt er ohnehin, woraus sich das eminente und bisher noch nicht hinlänglich gewürdigte Interesse für die juristische Methodenlehre ergibt. Vielmehr würdigt er die Gesetze in einer bislang unbekannten und vom Schrifttum noch nicht genügend erkannten Weise als empirische Zeugnisse bestimmter auf das Recht bezogener Denkweisen. Nicht zuletzt das wird aber für einen wesentlichen Gegenstand der Rechtsanthropologie gedie Vernünftigkeit der menschlichen Natur oder vielmehr in die Möglichkeit, sich aller bedrängenden Gedankenprobleme durch einen einfachen Akt der Hingabe an eine sinnvolle, vorsorgende, wissende Natur entledigen zu können, ist immer wieder Montaignes letztes Wort. Dieses Vertrauen auch ist es, das seinen Gedanken jene heitere Gelassenheit gibt, die bis heute der Zauber der Essais geblieben ist“. Die hiesige Hervorgehobung dieser zentralen Einsicht stimmt nicht von ungefähr überein mit der eingangs zitierten von Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, III 2. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 174. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1120. Vgl. nur Jens Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, S. 4 mit Fußnote 6.
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halten,⁶² so dass man auch unter diesem Gesichtspunkt von der Rechtsanthropologie Montaignes sprechen kann, auch wenn es mangels empirischer Feldforschung über weite Strecken keine Rechtsanthropologie im technischen Sinne ist. Allerdings kommt der ausführlich zu behandelnde „Kannibalen-Essay“ dem sehr nahe, weil er auf Augenzeugenberichte derer zurückgreift, welche die fremden Völker zuerst entdeckt hatten. Das allein genügt zwar vom Standpunkt der modernen Rechtsanthropologie noch nicht, weil es keine eigene Feldforschung ist; Montaigne würde lediglich als „armchair anthropologist“ gelten.⁶³ Aber dessen ungeachtet kann er als Pionier und Wegbereiter dieser Disziplin angesehen werden.⁶⁴ Montaigne gilt zwar als Klassiker der Kulturanthropologie,⁶⁵ wurde aber von der Rechtsanthropologie merkwürdigerweise übersehen, obwohl er wie kein anderer Exponent der Geistesgeschichte das Recht vom Menschen her beurteilte und die Erkenntnisse auf die Menschheit hochrechnete. Die Vertreter der Rechtsanthropologie und der Rechtssoziologie sollten sich jenes Denkers annehmen, der sich mehr für die lebendige Rechts- und Kulturvergleichung interessierte als für das Naturrecht, dem die Sitten der verschiedenen Zeiten und Länder mehr bedeuteten als der tote Buchstabe des Gesetzes, der gleichwohl als im Grunde Konservativer hinsichtlich der Gesetze ein Positivist und Skeptiker zugleich war, der aber eine anthropologische Gleichung aufgestellt hat, die allein ihn schon für die Rechtsanthropologie interessant machen dürfte: « Chaque homme porte la forme entiere, de l’humaine condition. » ⁶⁶ Bevor jedoch diese verallgemeinernde Projektion auf die Rechtswelt übertragen werden kann, muss die ‚skeptische Anthropologie‘ Montaignes ausgeführt werden, die interessanterweise Hans Blumenberg in die Nähe des Montaigne-Lesers und Pascal-Antipoden Descartes rückt.⁶⁷ Möglicherweise erschließt sich jedoch auch in rechts-
Wolfgang Fikentscher, Modes of Thought, 1995. So bereits der Vorwurf etwa gegenüber Edward Tylor, Primitive Culture, 1871; ders., Anthropology: an introduction to the study of man and civilisation, 1881. David S. Clark, Comparative Law and Society, 2012, S. 15 sub 5.1 (‚Anthropology of Law‘), bemerkt in diesem Sinne im Hinblick auf andere, die desselben Vorwurfs geziehen wurden, etwas, das mutatis mutandis auch für Montaigne gelten kann: „Although modern anthropologists find most of this research inadequate due to its armchair methods, the emphasis on cultural and historical context remains important“. Wolfgang Marschall (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Magaret Mead, 1990, S. 7 ff.; darin insbesondere Mario Erdheim, Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts: Oviedo (1478 – 1557), Las Casas (1475 – 1566), Sahagun (1499 – 1540), Montaigne (1533 – 1592), S. 19 ff. Michel de Montaigne, Les Essais, III 2, S. 845. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, 1979, S. 19: „Längst bevor sie sich der Sicherheit ihres Weltverhältnisses entäußert, hat die skeptische An-
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philosophischer Hinsicht das, was letztlich der Mensch ist, in Anlehnung an wegweisende Vorarbeiten Karlheinz Stierles erst und nur durch eine „negative Anthropologie“,⁶⁸ die Montaignes Skepsis gegenüber der Jurisprudenz dahingehend ausleuchtet, was das Recht nicht für den Menschen bedeuten kann und erst von daher – im Einklang mit Hugo Friedrichs „erschließender“ Skepsis als „blicköffnender Weisheit“⁶⁹ – zu einer Zusammenschau der Rechtsanthropologie, Rechtssoziologie und Rechtstheorie gelangt. Das hier ins Werk gesetzte Vorhaben sieht sich einem zentralen Einwand ausgesetzt, der die Sinnhaftigkeit aller Beschäftigung mit der juristischen Geistesgeschichte berührt: Angenommen, es stellte sich im hier angenommenen Sinne heraus, dass Montaigne als Erster rudimentär Rechtssoziologie und Rechtsanthropologie betrieben, Nutzen und Grenzen rechtsökonomischer Argumente bedacht, die mögliche Beschränktheit einer rein auf die Beantwortung dogmatischer Fragen sinnenden Methodenlehre erkannt und in diesem Sinne die genannten Grundlagen des Rechts ans Licht gebracht habe – was folgt dann daraus? Die Antwort könnte nicht zuletzt in einer Selbstvergewisserung im Hinblick auf die Juristenausbildung liegen, und zwar in einem doppelten Sinn: zunächst in dem Sinne, dass die moderne Juristenausbildung die Grundlagen des Rechts faktisch in immer stärkerem Maße zurückdrängt, dass die historischen, anthropologischen und soziologischen Voraussetzungen des Rechts in scheinbaren Pflichtveranstaltungen gelehrt werden, deren Vernachlässigung aber den Prüfungserfolg nicht spürbar schmälert. Darüber hinaus legt Montaignes aus der eigenen Erfahrung gewachsener Zweifel gegenüber einer Juristenausbildung, die sich in endlosen Distinktionen verliert und in dieser Weise verleugnet, dass die Rechtswissenschaft eben auch Wirklichkeitswissenschaft ist,⁷⁰ die Annahme nahe, dass sich die Juristenausbildung dieser Herausforderung stärker stellen könnte. Das schließt mitnichten aus, dass sie zugleich Normwissenschaft ist und als solche sogar
thropologie sich zudefiniert, was sie als ungefährdete und unverlierbare Substanz gelten lassen kann. Dem von innen unerreichbaren Außen entspricht – darin rückt Montaigne schon ganz in die Nähe des Descartes – das von außen unerreichbare Innen“. Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Die französische Klassik (Hg. F. Nies/K. Stierle), 1985, S. 81, 86: „Wenn Montaignes Reflexionen schon den Möglichkeitsraum einer negativen Anthropologie vorzeichnen, so sind sie doch noch immer auf den Fixpunkt der unwandelbaren Positivität bezogen, die Idee der Natur selbst“. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 180 f. und öfter. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 90. Siehe auch Erik Wolf, Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne, Festschrift für Fritz von Hippel, 1967, S. 631.
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vordringlich gelehrt wird.⁷¹ Doch hat Montaigne nicht zuletzt und womöglich als Erster in dieser Radikalität der Jurisprudenz im Allgemeinen und der Juristenausbildung im Besonderen zu bedenken gegeben, wie schwer es ist, den konkreten Fall dem Gesetz zu subsumieren, wenn man vor den historischen, philosophischen, ökonomischen, soziologischen und anthropologischen Grundlagen, Gegebenheiten und Grenzen die Augen verschließt.
Dazu Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014, S. 269 ff.
§ 1 Relativität der Gesetzesgeltung Das Problem des positiven Rechts ist nicht zuletzt die Relativität seiner Geltung.⁷² Niemand hat das im Hinblick auf die territorialen Grenzen der Rechtsgeltung deutlicher gesehen als Montaigne. Davon wird später noch ausführlich die Rede sein. Aber auch die zeitliche Geltung wird von ihm berücksichtigt;Vorschriften, die außer Kraft gesetzt sind und nur noch rechtsgeschichtliches Interesse zu verdienen scheinen, werden von ihm allenthalben mitberücksichtigt. Sie sind Teil des menschlichen Erfahrungsschatzes, so dass sie auch dort, wo sie normativ nicht mehr wirken können, zumindest faktisch von Belang sind, da sie zumindest zeitweise gültige Rechtsvorstellungen verkörpern und Erfahrungswissen enthalten, dass den Nachgeborenen etwas über die vordem Lebenden sagt, vor allem aber weil es Menschenwerk ist.⁷³ Es ist umso erstaunlicher, dass die Rechtsgeschichte Montaigne bislang nur ansatzweise gewürdigt hat, obwohl sie in ihm einen zentralen Denker der neuzeitlichen Rechtsgeschichte finden könnte.⁷⁴
I. Unvordenklichkeit der Gesetzesgeltung Montaigne hat nämlich nicht nur erkannt, dass Gesetz und Geltung miteinander zuinnerst zusammenhängen, sondern dass der Geltung ein zeitliches Moment anhaftet, das mehr bedeutet als ein einmaliges In-Geltung-setzen der Rechtsnorm: „Und keine Gesetze stehen in ihrem wahren Ansehen, als diejenigen, denen Gott schon eine lange Dauer von alters her gegeben hat: so dass niemand ihren Ursprung weiß, noch ausfindig machen kann, ob sie jemals anders gewesen sind“⁷⁵ (« Et nulles loix ne sont en leur vray credit, que celles ausquelles Dieu a donné quelque ancienne durée: de mode, que personne ne sçache leur naissance, ny qu’elles ayent jamais esté autres ».⁷⁶). In diesem Satz kommt beinahe das ganze Rechts- und vor allem Gesetzesverständnis Montaignes zum Ausdruck. Die Gesetzesgeltung bestimmt sich nach der Dauer und der Unvordenklichkeit. Zudem zeigt sich hier ein positivistischer Grundzug seines Rechtsdenkens: Es sind die Zur raumzeitlichen Relativierung Hasso Hofmann, Juristenzeitung, 2009, 1. Allgemein dazu Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Eine wichtige Ausnahme bildet aber die Arbeit von Mathias Schmoeckel, Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, 2000. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 205. Michel de Montaigne, Les Essais, I 43, S. 292.
I. Unvordenklichkeit der Gesetzesgeltung
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geschichtlich gewachsenen und ohne ihre historische Genese unverständlichen positiven Gesetze, die das Recht ausmachen.⁷⁷
1. Zeitlicher Zusammenhang und Dauer Für die Gesetze ist kennzeichnend, dass sie nicht erst seit Kurzem, auf ganz bestimmte Einzelfälle hingeordnet in Geltung stehen, sondern dass sie schon immer da zu sein schienen, ja dass sie im Wortsinne gottgegeben erscheinen. Gleichwohl will Montaigne Gott nicht als Gesetzgeber verstanden wissen, so dass auch die Annahme einer naturrechtlichen Begründung, wie sich weiter unten noch zeigen wird, nur mit äußerster Vorsicht bestehen kann. Denn Gott hat aus Montaignes Sicht eben nicht die Gesetze gegeben, sondern er hat ihnen Dauer, also zeitliche Geltung,verschafft. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied, sind doch bei dieser Betrachtung die Gesetze nicht mehr als bloßes Menschenwerk. Nur der zeitliche Zusammenhang der Gesetzesgeltung steht außerhalb des menschlichen Vermögens. Gott gibt nach diesem Verständnis nur die Zeit, in der sich die Gesetze bewähren können, also die Möglichkeit ihrer Geltung. Damit ist er oder sein gleichwie gearteter Wille aber nicht konstitutiv für das Gesetz, sondern allenfalls bestimmend für dessen Geltung.⁷⁸ Es kommt in dieser Bestimmung der Gesetzesgeltung nicht auf Gott an, es hängt für Montaigne nichts davon ab.⁷⁹ Hierin liegt ein markanter Unterschied zum mittelalterlichen Rechtsdenken und zugleich ein Beleg für Montaignes spezifisch neuzeitliche Rechtsauffassung.⁸⁰
Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180: „Das Recht besteht für Montaigne durchweg aus positiven Rechtssätzen, die er historisch auffasst und nicht als Entfaltungen einer geschichtslosen Rechtsidee“. Bündig Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 40: „Gott wird von Montaigne immer weiter aus der Philosophie wie aus den Problemen des Staates und des Rechts verdrängt“. Insoweit, aber nicht kategorisch, gilt das Wort von Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 62 f.: „Gott ist für ihn niemals ein Anliegen, sondern nur ein Wort, ein Begriff, der nur für die Philosophen gut ist. Wenn er von Gott spricht, so tut er es immer als Moralist und um das Verhalten der anderen zu beurteilen“. Zum hochmittelalterlichen Paradigma Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011.
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§ 1 Relativität der Gesetzesgeltung
2. Unkenntnis des Gesetzesanlasses Wichtig ist aber auch die zweite Aussage, welche die Dauer präzisiert. Auch wenn die Gesetze nämlich Menschenwerk sind, so werden sie erst dadurch geheiligt, dass kein Mensch mehr lebt, der sie mitbestimmt oder gar erlassen hätte. Der Ursprung, von dem Montaigne spricht, kann nämlich auch als Anlass verstanden werden, so dass gerade die Unkenntnis des Anlasses, der zum Gesetzeserlass geführt hatte, ein Gerechtigkeitsmerkmal darstellt, weil der Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung jetzt nicht mehr an diesem Anlass gemessen wird. Wer weiß, warum ein bestimmtes Gesetz erlassen wurde, kann in der Auslegung und im Gesetzesvollzug voreingenommen sein, weil er die bestimmenden Gründe kennt. Wichtiger noch ist aber die umgekehrte Perspektive: Durch diese historische Bedingung der Heiligung des Gesetzes wird nämlich zugleich gewährleistet, dass der Gesetzgeber die möglichen Einzelfälle nicht kennt, auf die das Gesetz zutreffen wird und besonders die Personen, die ihm unterfallen. Dieser bei Montaigne – wenn auch einstweilen noch dunkel – angelegte Gesichtspunkt wird später in der englischen und Schottischen Aufklärung Bedeutung gewinnen.⁸¹ Auch das zweite Untermerkmal verdient vor diesem Hintergrund Hervorhebung, weil darin zum Ausdruck kommt, dass auch der Umstand möglicher Gesetzesänderungen im Laufe der Zeit der Kenntnis der Menschen entzogen sein sollte, wenn es sich um „wahre Gesetze“ handeln soll. Gesetze, die sich immerfort geändert haben, von denen bekannt ist, wann und unter welchen Umständen sie modifiziert wurden, haben für Montaigne geringere Glaubwürdigkeit.⁸² Wie alles Menschenwerk sind Gesetze mehr oder weniger zufälliges Flickwerk, das bald so, bald anders erstellt werden kann, aber nicht notwendigerweise so besteht, wie es einmal angeordnet wurde. Erst wenn das Gesetz unabhängig vom Kenntnisstand und Beurteilungsmaßstab des möglichen Anwenders ist, steht es „in seinem wahren Ansehen“, gilt es mithin wahrhaft.
William Paley, The Priciples of Moral and Political Philosophy, 1785; am deutlichsten herausgearbeitet später von Friedrich August von Hayek (Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideales, in: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie, A5 der Gesammelten Schriften in deutscher Sprache, Hg. Viktor Vanberg, 2002, S. 39, 46; Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, B4 der Gesammelten Schriften in deutscher Sprache, Hg. Viktor Vanberg, 2003, S. 328); dazu Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz, Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014, S. 75. Zutreffend Biancamaria Fontana, Montaigne’s Politics: Authority and Governance in the Essais, 2008, S. 26: “The nature of the laws – both in the sense of customaryhuman norms and of positive, written codes – is a central theme in Montaigne’s Essais”.
II. Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch
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II. Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch Damit liegt die Pointe im zunächst unverfänglich erscheinenden Wort des wahren Ansehens, der wahren Glaubwürdigkeit (‚vray credit‘). Denn die Wahrheit, die etwas Unveränderliches und Unbeeinflussbares sein sollte, steht bei den Gesetzen als Menschenwerk in Abhängigkeit zur Kenntnis und Unkenntnis der Rechtsunterworfenen. Sie ist also nichts einmal für allemal Bestehendes, sondern steht unter der Bedingung menschlicher Unzulänglichkeit und ist damit selbst Gegenstand und Spielball der condition humaine. ⁸³ Nicht von ungefähr postuliert Montaigne auch einen Wahrheits- und Gerechtigkeitsanspruch im Verhältnis zu sich selbst: „Wenn man sich von mir unterhalten soll, so will ich, dass es der Wahrheit und Gerechtigkeit gemäß sei“⁸⁴ (« Si on doit s’en entretenir, je veux que ce soit veritablement et justement ».⁸⁵).
1. Relativismus und Konservativismus Darin kommt ein charakteristischer Relativismus zum Ausdruck.⁸⁶ Die Gesetze selbst sind nicht wahr, ihnen kommt kein objektiver Wahrheitsanspruch zu, sondern lediglich ihre Geltung hängt von bestimmten zeitlichen und räumlichen Umständen sowie davon ab, wie sie den Rechtsfrieden zu gewährleisten imstande sind.⁸⁷ Diese Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch von Gesetzen als notwendigem Menschenwerk steht freilich bei Montaigne in einem auffallenden und
Treffend Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Französische Klassik (Hg. F. Nies/Ders.), 1985, S. 81, 85: „Schon Montaignes Essais folgen der Bewegung eines Nachdenkens, das, an der Konkretheit eigener Lebensumstände und subtiler Selbstbefragung ansetzend, unablässig nach der Natur der condition humaine fragt, ohne jedoch je zu einer Antwort zu kommen, die sich als seine Lehre vom Menschen vergegenständlichen ließe“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 13. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1029. Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 48: „Man kann kaum bestreiten, dass Montaigne wirklich seinen eigenen ‚Relativismus‘ gelebt hat. Für uns ist interessant, dass er sich in diesem Relativismus erfüllen konnte, ohne das tiefe Gefühl zu verleugnen, das er allem Menschlichen entgegenbrachte“. – Man kann vielleicht noch deutlicher sagen: Gerade weil ihn nur das Menschliche interessierte, stehen alle seine Urteile, auch die im Hinblick auf die Gerechtigkeit, in Abhängigkeit zu dem Befund, den die Beobachtung des Menschlichen für ihn ergibt. Insofern trifft die folgende, auf den ersten Blick verwundernde Aussage zu: Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180: „Er ist reiner Rechtspositivist im Sinne des späteren Satzes von Hobbes: Auctoritas, non veritas facit legem (Leviathan, Ausgabe 1670, cap. 26)“.
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für ihn charakteristischen Spannungsverhältnis zu seinem Konservativismus:⁸⁸ „In allen Dingen, keine andere als schädliche ausgenommen, ist die Veränderung zu fürchten. Die Veränderung der Jahreszeiten, der Winde, der Lebensmittel, der Gemütsarten“⁸⁹ (« En toutes choses, sauf simplement aux mauvaises, la mutation est à craindre: la mutation des saisons, des vents, des vivres, des humeurs ».⁹⁰). Jeglichem Wechsel, der nicht evidente und erfahrungsmäßig abgesicherte Missstände beseitigt, ist zu misstrauen: Ihm wohnt die Gefahr inne, dass es nur noch schlechter und ein Übel gegen ein schlimmeres eingetauscht wird. Sogar das Unabänderliche, der Wechsel der Jahreszeiten, birgt immer von Neuem Gefahren, deren Rückbesinnung darauf zur Wachsamkeit anleitet. Um wieviel weniger ist neuen Gesetzen zu trauen, die neben den vorgestellten ungewisse Lebenssachverhalte regeln und damit Gesetze verdrängen, die immerhin aufgrund ihrer schieren Anciennität ein Mindestmaß an Rechtssicherheit versprachen. Das Moment der Altehrwürdigkeit, der Unvordenklichkeit schafft daher eine gewisse – mehr jedoch nicht – Bestandsgarantie, die es ermöglicht, mit den notwendigerweise zufälligen Gesetzen umzugehen, sie anzuwenden und ihnen unterworfen zu sein. Gesetze sind aufgrund ihrer raum-zeitlichen Relativität notwendigerweise begrenzt. Gerade diesen Gesichtspunkt der raum-zeitlichen Relativität wird später Pascal im Anschluss an Montaigne polemisch vertiefen und gegen die Jurisprudenz ins Feld führen. Angelegt ist er freilich im skeptischen Denken Montaignes, das ungeachtet dessen einen konservativen Grundzug aufweist, der einzelne Leser überrascht hat,⁹¹ obwohl er gerade typisch für den Skeptiker ist.⁹²
2. Kontingenz der Gesetze Wenn es also schon Gesetze geben muss, dann hängt ihr Geltungsgrund zumindest von der Anciennität ab, so dass das, was seit alters besteht, auch wahrhaft gilt. Das stimmt mit dem genannten Konservativismus Montaignes überein, der
Allgemein dazu Frieda S. Brown, Religious and political conservativism in the “Essais” of Montaigne, 1963. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 205. Michel de Montaigne, Les Essais, I 43, S. 292. Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 49: „Denn dieser phantastische Geist, der manchmal freiwillig auf Ordnung verzichtet, der keine Illusionen, keine Idole und keine Tabus kennt, offenbart ein überraschendes Bedürfnis nach sozialer Ordnung und einen ganz extremen Konservativismus“. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 240 ff.
III. Gerechtigkeit und Ordnung
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immer auch Stilmittel und Wesenszug zugleich ist.⁹³ In einer Zeit, in der durch Religionskriege, Zerwürfnisse, Fehden und Streitigkeiten aller Art alles Bestehende gefährdet ist, verleiht nur dasjenige legislatorische Stabilität, was gleichsam außerhalb der Zeit steht, was schon immer da war und was nicht im Verdacht steht, temporär zu einem bestimmten Zweck konstituiert worden zu sein. Dieser Gesichtspunkt des Bestandes ist freilich nur ein Rettungsanker, etwas, das die Gesetze nicht von vornherein illusorisch macht, und nichts, das sie in Montaignes Sicht heiligen könnte. Gesetze fallen unter diesen zeitlichen Umständen anders aus als unter anderen; wenn sie diese überdauern und auch in jenen noch gelten: umso besser für sie, weil sie dann zwar auch noch keine Richtigkeitsgewähr bieten, aber immerhin ein Mindestmaß an Rechtssicherheit in einer Zeit verheißen, die bald schon durch eine andere Gefährdungslage abgelöst wird und damit die Gesetzesgeltung auf eine neue Probe stellt.
III. Gerechtigkeit und Ordnung Ähnlich wie später Montesquieu verfährt auch Montaigne so, dass immer wieder einzelne Gesetze genannt und ihr Inhalt wiedergegeben werden, um auf diese Weise eine allgemeine Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Rechtsordnung zu gewinnen oder – zumeist wichtiger noch – eine anthropologische Grundgegebenheit zu erkennen: „Unter den Gesetzen, welche die Verstorbenen betreffen, scheint mir jenes wohlbegründet, das nach dem Tod der Fürsten die Überprüfung der von ihnen begangenen Taten verlangt – sind Monarchen doch die Blutsbrüder, wenn nicht die Herren der Gesetze“⁹⁴ (« Entre les loix qui regardent les trespassez, celle icy me semble autant solide, qui oblige les actions des Princes à estre examinées après leur mort: Ils sont compagnons, sinon maistres des loix ».⁹⁵).
1. Rechtszustand vor der Gewaltenteilung und Ordnungsdenken Das Verständnis der Regierenden als Herren der Gesetze beschreibt den Zustand, wie er vor aller Gewaltenteilung bestanden hat und von Montaigne im Kern auch
Herbert Lüthy, Einleitung, S. 37, der bei Manesse 1953 erschienen Sammlung der Essais (6. Auflage 1985): „Er stellt keine Postulate und keine Staatslehre auf: er bestimmt seine eigene, persönliche Haltung zu einer Zeit, und er hat gegenüber dieser Zeit, in der alles im Umsturz und aus den Fugen war, zweifellos die konservative Seite seines Denkens polemisch überbetont“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 16. Michel de Montaigne, Les Essais, I 3, S. 39
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nicht angezweifelt wird. Montaignes Konservativismus versagt es ihm, sich gegen die Obrigkeit (zu der er nicht zuletzt selbst auch gehört) aufzulehnen;⁹⁶ dies freilich weniger im eigenen Interesse als vielmehr um der Gerechtigkeit willen, obwohl gerade diese damit der Sache nach infrage gestellt wird: „Das Recht des Anklägers geht über die Gerechtigkeit hinaus“⁹⁷ (« L’offence a ses droicts outre la justice ».⁹⁸). Denn er ist sich nur zu bewusst, dass die Ungerechtigkeiten seiner Zeit auch mit der bestehenden Ordnung zu tun haben und durch sie nicht aufgehoben werden.⁹⁹ Montaigne sieht mit seinem altrömisch geprägten Sinn für die historischen Dimensionen auch, dass jeder sozialen Größe und jedem noch so autoritativen Regierungshandeln eine historische Verantwortung entspricht, die durch das Urteil der Nachwelt ausgeglichen wird. Auch wer zu Lebzeiten noch so mächtig war, kann wegen seiner Willkür der damnatio memoriae verfallen. Montaigne erkennt, dass es ein gerechtigkeitsstiftendes Korrektiv sein kann, wenn die Taten post mortem aufgearbeitet werden. Er erinnert gerade seine hochrangigen Zeitgenossen daran, dass irdische Macht immer nur bis zum Tod reicht; wird sie bis dahin missbraucht, verliert ihr Träger das Recht und die Möglichkeit auf das Urteil der Nachwelt einzuwirken. Die Regierenden können noch so große Vorkehrungen für ihr postumes Bild treffen: Sie können sich naturgemäß niemals sicher sein, dass ihre Rechnung aufgeht. Diese Ungewissheit kann einen verhaltenssteuernden Anreiz für gerechtes Verhalten bieten – mehr freilich auch nicht. Es ist einerseits Ausdruck eines pragmatischen Realismus, der eine Aburteilung der Herrschenden erst dann ermöglicht, wenn sie naturgemäß nicht mehr im Amt
Zum Verhältnis dieses Konservativismus zur Religion Frieda S. Brown, Religios and Political Conservativism in the Essais of Montaigne, 1963. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 7. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1025. Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 51 hat dieses Dilemma im Ausgangspunkt treffend herausgearbeitet: „So musste er dazu kommen, die etablierte Ordnung höher zu schätzen, als sie es faktisch verdiente. Auf eine realistische und keineswegs auf eine utopische Wahrheit bedacht, hat er im Namen seiner Ordnungssehnsucht die Wirklichkeit verfälscht. Er kam dazu, die Ungerechtigkeiten, die schon in der früheren ‚Ordnung‘ enthalten waren, mit der Unordnung zu verwechseln, die gerade aus diesen Ungerechtigkeiten hervorgingen. Je skandalöser er seine Zeit fand, desto mehr protestierte er gegen jede Veränderung. Da er sich von Anfang an auf einen ganz formalen Begriff der sozialen Ordnung festgelegt hatte, konnte er die Unordnung nur als Aufhebung der Ordnung betrachten, und jede Neuerung musste ihm als Urheberin einer größeren Unordnung erscheinen.“ – So richtig das damit von Montaigne zusammengefasste und auf die Gerechtigkeitsbeurteilung ausstrahlende Paradoxon beobachtet ist, darf doch die eigentümliche Legitimation dieser Ordnung sub specie aeternitatis nicht aus den Augen verloren werden.
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sind, ist doch dieser Zustand unter den gegebenen monarchistischen Prinzipien erst mit dem Tod erreicht.
2. Historische, nicht göttliche Gerechtigkeit Andererseits ist es aber auch die Verwirklichung einer Gerechtigkeitsidee, deren Verständnis davon geprägt ist, dass nach dem Tod nicht die für Montaigne keine Rolle spielende göttliche Gerechtigkeit herrscht. Insofern ist er ähnlich wie Montesquieu und im Unterschied zu spätmittelalterlichen Vorstellungen immer auch dort irdisch geprägt, auch wo er Gott einfließen lässt.¹⁰⁰ Er vertraut auf keine göttliche Gerechtigkeit, die hienieden begangene Untaten aburteilt und ausgleicht, sondern allein darauf, dass dort, wo angesichts der sozialen Ordnung keine horizontale Gerechtigkeit besteht, wenigstens eine gleichsam vertikale Gerechtigkeit über die Zeiten hinaus hergestellt wird. Es ist somit die historische Gerechtigkeit, die den Herrschenden immer vor Augen stehen muss und auf diese Weise geeignet ist, ihr Verhalten zu Lebzeiten zu beeinflussen: „Es ist billig, dass die Gerechtigkeit über ihren Nachruhm und Nachlass (Dinge, die wir oft höher schätzen, als das Leben) das vermöge, was sie über ihre lebenden Besitzer nicht vermocht hat“¹⁰¹ (« Ce que la Justice n’a peu sur leurs testes, c’est raison qu’elle l’ayt sur leur reputation, et biens de leurs successeurs: choses que souvent nous preferons à la vie ».¹⁰²). Das im Hintergrund stehende Korrektiv ist hier wiederum die anthropologische Grundgegebenheit der Eitelkeit. Die eitle Aussicht auf dem Nachruhm kann das Verhalten derer prägen, die zu Lebzeiten keiner Rechtsaufsicht unterlagen. Montaigne hat erkannt, dass Eitelkeit eine bestimmendere verhaltenssteuernde Wirkung entfaltet als ökonomische Effizienz, auch wenn dabei aus heutiger Sicht nicht übersehen wird, dass Leidenschaften und (ökonomische) Interessen dadurch langfristig in Übereinstimmung geraten können.¹⁰³ Dazu passt, dass Montaigne in anderem Zusammenhang mit einem gewissen Befremden notiert: „Hierauf gründet es sich, warum die Gesetzesfabrikanten, um die Ehe mit einiger eingebildeten Ähnlichkeit mit dieser göttlichen Einigkeit zu
Zu dem gänzlich anderen Welt- und Ewigkeitsbild Dantes als Paradigma des spätmittelalterlichen Denkens nochmals Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011. Siehe aber auch Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, 1929. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 16. Michel de Montaigne, Les Essais, I 3, S. 39. Grundlegend Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, 1977 (deutsch: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987).
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beehren, die Schenkungen zwischen Ehemann und Ehefrau verboten haben. Sie wollten dadurch zu verstehen geben, dass unter ihnen alles gemeinschaftlich sein sollte und dass unter ihnen nichts geteiltes oder zu verteilendes stattfinde“¹⁰⁴ (« Voilà pourquoy les faiseurs de loix, pour honnorer le mariage de quelque imaginaire ressemblance de cette divine liaison, defendent les donations entre le mary et la femme. Voulans inferer par là, que tout doit estre à chacun d’eux, et qu’ils n’ont rien à diviser et partir ensemble ».¹⁰⁵). So nachvollziehbar dies erscheint, wenn man den gesetzgeberischen Beweggrund kennt, so befremdlich muss dieser Paternalismus den Rechtsunterworfenen vorkommen – das wollte wohl auch Montaigne sagen -, wenn sie einander nichts schenken dürfen. Es ist letztlich ein weiteres Beispiel für Montaignes Einsicht, dass sich der Gesetzgeber mit einer ratio legis dem Normadressaten gegenüber nicht verständlich machen kann, und daher Gesetzesumgehungen Vorschub geleistet werden, wo die Regelung als sinnwidrig empfunden wird. Ein weniger streng religiös gebundenes Familienrecht bedarf einer solchen Bevormundung nicht, weil es privatautonomen Freiraum für jede Art von Schenkungen oder ehebezogenen Zuwendungen schaffen kann.¹⁰⁶
IV. Begreifbarkeit der Gesetze Ausgehend von dem weiter oben Festgestellten fragt sich Montaigne, ob und inwieweit die Befolgung der Gesetze auch nur möglich ist, wo ihr Verständnis so dunkel erscheint: „Zum Beispiel, ich würde ihn in jener Lage fragen: was wohl befremdlicher sein könne, als zu sehn, daß ein Volk genötigt sei, sich nach Gesetzen richten zu lassen, die es nicht einmal versteht; das in allen seinen häuslichen Geschäften, Eheverbindungen, Vermächtnissen, Testamenten, Kauf und Verkauf an Vorschriften gebunden ist, die es nicht wissen kann, weil sie in seiner Landessprache weder abgefaßt noch bekannt gemacht worden, und die es also genötigt ist, sich für Geld, um nicht dagegen zu sündigen, bekannt machen und erklären zu lassen?“¹⁰⁷ (« Pour exemple, je luy demanderay lors, quelle chose peut estre plus estrange, que de voir un peuple obligé à suivre des loix qu’il n’entendit oncques: attaché en tous ses affaires domesticques, mariages, donations, testaments, ventes, et achapts, à des regles qu’il ne peut sçavoir, n’estans escrites ny
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 20. Michel de Montaigne, Les Essais, I 27, S. 197. Dazu aus rechtsdogmatischer Sicht Manfred Lieb, Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsrecht und Familienrecht, 1970. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 167.
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publiées en sa langue, et desquelles par necessité il luy faille acheter l’interpretation et l’usage ».¹⁰⁸).
1. Verständlichkeit des Rechts Das schlichte Verständnis der Gesetze durch die Rechtsunterworfenen ist für ihn eine elementare Gerechtigkeitsbedingung. Recht und Sprache müssen einander buchstäblich entsprechen.¹⁰⁹ Das Recht muss ebenso fasslich und organisch gewachsen sein wie die Sprache. Die Rechts- und Gerichtssprache muss notwendigerweise die jeweilige Landessprache sein. Das Recht muss sich zumindest im Hinblick auf den engsten Lebenskreis derart von selbst erschließen, dass nicht erst teurer Rechtsrat eingeholt werden muss – noch heute freilich utopisch, wenn man bedenkt, dass ein ‚Bürgerliches Gesetzbuch‘ entgegen der Absicht seiner Verfasser dem Laien schlechterdings, mitunter auch schlicht sprachlich, nicht zugänglich ist. Montaignes erschließender Zweifel, von dem noch oft die Rede sein wird,¹¹⁰ wirkt sich hier im Hinblick auf die elementare rechtssoziologische Frage aus: Welche Akzeptanz kann ein Recht erwarten, das Verhaltenserwartungen konstituiert, die von den Adressaten schon im Ausgangspunkt nicht erfasst werden ? In rechtskultureller Hinsicht einher geht damit die Frage, welche sprachlichen Maßnahmen im Sinne der Verständlichkeit des Rechts und der Möglichkeit der Rechtsbefolgung zugunsten derjenigen ergriffen werden müssen, die aus anderen Ländern stammen, aber dauerhaft in einem Land bleiben wollen, dessen Recht sie nicht kennen. Gesetze können daher nur befolgt werden, wenn sie auch verstanden werden; die Sprache vermittelt das Verständnis des Rechts; wo sie, aus welchen Gründen auch immer, eine Barriere schafft, versperrt sie dem Rechtsgenossen den Zugang zum Recht. Auch insoweit ist Montaignes Zugriff anthropozentrisch: „Wir sind nur Menschen durch die Sprache und halten uns nur einer zum andern durchs Wort. Wenn wir die Wichtigkeit und Scheußlichkeit dieses Lasters (sc.: des Lügens) ganz einsähen, wir würden es mit Feuer und Schwert
Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 121. Wichtig die Feststellung von Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in : Französische Klassik (Hg. F. Nies/Ders.), 1985, S. 81, 85: „Für Montaigne ist dabei die Sache selbst, die Frage nach der Natur des Menschen, schon unauflösbar mit einem immer neu reflektierten Darstellungs- und Sprachproblem verknüpft“; Hervorhebung nur hier. In Anlehnung an Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 180 und öfter.
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verfolgen, mit mehr Gerechtigkeit als andere Verbrechen“.¹¹¹ (« Nous ne sommes hommes, et ne nous tenons les uns aux autres que par la parole. Si nous en connoissions l’horreur et le poids, nous le poursuivrions à feu, plus justement que d’autres crimes ».¹¹²)
2. Weichenstellung für die Rechtssoziologie Der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Sprache besteht also nicht zuletzt in der dadurch vermittelten Möglichkeit zur Wahrheit. Der Wahrheit wiederum entsprechen auf der Ebene der Gesetze die Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit. Das Dilemma ältester oder in anderer Sprache verfasster Gesetze besteht also in ihrer Unverständlichkeit, durch die dem Rechtssuchenden aus dem Volk zugemutet wird, entweder unerschwinglichen Rechtsrat einzuholen oder auf andere Weise kommerziell zu versuchen, die Barriere der Unverständlichkeit zu überwinden und wenigstens keinen Rechtsverlust daraus zu erleiden. Wenn das „Gesetz als Ware“ angeboten wird, dann ist Korruption und Verlust jeglicher Rechtskultur die naheliegende und unausweichliche Folge: „Findet man etwas wilderes, als eine Nation, bei der nach wohl hergebrachter Gewohnheit das Richteramt gekauft wird und die Urteile mit barem Gelde bezahlt werden und wo es gesetzlich ist, daß demjenigen die Gerechtigkeit versagt werde, der nicht vermögend ist, sie zu bezahlen? Und daß dieser Handel in solchem Ansehen stehe, daß er von den Leuten, welche die Prozesse handhaben, eine vierte Ordnung im Staat mache, um solche den drei alten der Kirche, des Adels und des Volks anzuschließen? Und daß diese Ordnung, weil sie über die Anwendung der Gesetze gesetzt ist und die höchste Macht über Eigentum und Leben ausübt, einen verschiedenen Stand von Adel ausmache?“¹¹³ (« Qu’est-il plus farouche que de voir une nation, où par legitime coustume la charge de juger se vende; et les jugemens soyent payez à purs deniers contans; et où legitimement la justice soit refusée à qui n’a dequoy la payer: et aye cette marchandise si grand credit, qu’il se face en une police un quatrième estat, de gens manians les procès, pour le joindre aux trois anciens, de l’Église, de la Noblesse, et du Peuple: lequel estat ayant la charge des loix et souveraine authorité des biens et des vies, face un corps à part de celuy de la noblesse ».¹¹⁴).
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 53. Michel de Montaigne, Les Essais, I 9, S. 58. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 168. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 121.
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Hier wird interessanterweise nicht nur das System der drei Stände des Ancien Régime zugrunde gelegt, sondern auch die Möglichkeit eines eigenen Juristenstandes, der vor aller Gewaltenteilung unumschränkte Befugnisse besaß. Man kann hier mit Fug das von Montaigne erkannte Desiderat einer Gewaltenteilung avant la lettre aufscheinen sehen.¹¹⁵ Auch sieht Montaigne vor Kant die Unterscheidung zwischen Recht und Moral, die gleichlaufen können, aber kategorisch getrennt beurteilt werden sollten: „Woraus erfolgt, daß es zweierlei Gesetze gibt, Gesetze der Ehre und Gesetze der Gerechtigkeit, die sich in verschiedenen Dingen einander widersprechen“¹¹⁶ (« D’où il advienne qu’il y ayt doubles loix, celles de l’honneur, et celles de la justice, en plusieurs choses fort contraires ».¹¹⁷). An anderer Stelle postuliert er einen Vorrang der Moral für den Fall eines solchen Widerspruchs: „In einem einzigen Punkte hat das persönliche Interesse das Gesetz für sich, und wir können uns mit gutem Gewissen berechtigt halten, unsere Zusage zu brechen, wenn wir nämlich etwas, das an sich unrecht und schädlich ist, versprochen haben. Denn das Recht der Tugend geht dem Rechte unserer Verbindlichkeit vor“¹¹⁸ (« En cecy seulement a loy, l’interest privé, de nous excuser de faillir à nostre promesse, si nous avons promis chose meschante, et inique de soy. Car le droit de la vertu doibt prevaloir le droit de nostre obligation ».¹¹⁹). Wichtiger als die Andeutung der von Kant später ausgearbeiteten Trennung ist einstweilen aber der rechtssoziologische Aspekt, wonach es ‚zweierlei Gesetze‘ gibt, da hier der Geltungsbegriff in normativer Hinsicht nicht nur rechtliches, sondern auch moralisches Verhalten betrifft. Das entspricht der rechtssoziologischen Einsicht, wonach die Unterscheidung rechtlicher und moralischer Normbereiche gerade das Resultat neuzeitlichen Rechtsdenkens ist.¹²⁰ Innerhalb dessen aber kann gerade Montaigne als Pionier angesehen werden, der schon um dessentwillen unter die Begründer der Rechtssoziologie gezählt zu werden verdient.
Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 30 mit Fußnote 44, wirft die Frage interessanterweise am Beispiel einer anderen Stelle (Essais III 7) auf: „Sollten hier die Wurzeln der Gewaltenteilungslehre Montesquieus liegen, der die Essais kannte?“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 168. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 122. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 24. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 842. Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Auflage 2013, S. 191; zum Verhältnis ders., Recht und Moral: soziologisch betrachtet, in: Beiträge zur Rechtssoziologie, 2011, S. 67.
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V. „Das Hauptgesetz aller Gesetze“ Wie lautet aber nun das Gebot des Rechts? Während bisher eher formal, wenngleich mit Auswirkungen und Ausstrahlung auf die materiale Gerechtigkeit, festgelegt wurde, wie und unter welchen Bedingungen Rechtssätze ihre Adressaten erreichen können und welche institutionellen Vorkehrungen idealerweise dafür getroffen werden, wendet sich Montaigne nunmehr dem Rechtsgebot selbst zu, das auf den ersten Blick überraschend simpel ausfällt.
1. Einhaltung der Landesgesetze Geradezu beiläufig,wenngleich jedoch bei näherem Hinsehen nicht unvorbereitet, weil in demselben Abschnitt von dem „Geist der Freiheit des Weisen“ die Rede ist, folgt eine Einsicht, welche die Grundfeste des Gesetzesverständnisses Montaignes betrifft: „Denn, das ist die Regel aller Regeln und das Hauptgesetz aller Gesetze, daß ein jeglicher sich denen unterwerfe, die in dem Lande gelten, wo er sich befindet“¹²¹ (« Car c’est la regle des regles, et generale loy des loix, que chacun observe celles du lieu où il est ».¹²²). Dass der an den lateinischen Klassikern geschulte Montaigne hier zu einem Hendidyoin greift, indem er die Zentralität der Regel wortreich verdoppelt, unterstreicht die Wichtigkeit dieser Verhaltensregel besonders wichtig ist. Es ist gewissermaßen sein kategorischer Imperativ.
a) Rechtsphilosophische und rechtssoziologische Einsicht Die scheinbare Trivialität dieser Aussage verblasst, wenn man sich die tiefe rechtsphilosophische und rechtssoziologische Einsicht vergegenwärtigt, welche diese Sentenz diktiert.¹²³ Es ist nicht zuletzt die später noch zu behandelnde mystische Autorität des Gesetzes, die letztlich von einem einfachen Rechtsprinzip ausgeht. Die rechtssoziologisch aufschlussreiche und wiederum spätere Einsichten Montesquieus vorwegnehmende Erkenntnis besteht darin, dass die territoriale Gebundenheit nicht nur eine rein faktische – und insoweit selbstverständliche -, sondern darüber hinaus eine normative darstellt, als aus der
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 170. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 123. Monographisch Andreas Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen. Empirische Untersuchungen zur einer rechtssoziologischen Theorie, 1980, S. 22 ff.; speziell dazu auch Karl Berthold Baum, Leon Petrazycki und seine Schüler. Der Weg von der psychologischen zur soziologischen Rechtstheorie in der Petrazycki-Gruppe, 1967, S. 63.
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örtlichen Gebundenheit in das eigene Gemeinwesen die unbedingte Rechtspflicht der Befolgung derjenigen Gesetze gefolgert wird, die dort – aus welchen Gründen auch immer und seit wann auch immer – herrschen. Auch dies ist Ausdruck eines gewissen Konservativismus: Die scheinbar unreflektierte – nämlich den Gesetzen nicht auf den Grund gehende und nach ihrer Geltungskraft und Legitimation fragende – Befolgung der Gesetze ist der risikoärmste Ausweg, der dem Einzelnen den Aufenthalt im Gemeinwesen garantiert und dieses letztlich auch in sich zusammenhält. Es ist also ein Erfahrungssatz, der aber nicht nur empirisch aufgestellt, sondern von Montaigne regelrecht kognitiv verinnerlicht wird. Er findet sich im Übrigen auch in seiner Würdigung des von ihm hochgeschätzten La Boëtie, über den er sagte, dass „er einen (…) Grundsatz unauslöschlich in seine Seele geprägt hatte: sich den Gesetzen des Landes, wo er geboren worden, zu unterwerfen und ihnen getreulich zu gehorchen“¹²⁴ (« Mais il avoit un‘ autre maxime souverainement empreinte en son ame, d’obeyr et de se soubmettre très-religieusement aux loix, sous lesquelles il estoit nay ».¹²⁵).
b) Einhaltung der Gesetze des jeweiligen Landes Es sind dies aber nicht nur die Gesetze des Vaterlandes, sondern durchaus auch die jeweiligen Gesetze, in der sich Reisende aufhalten. Was bis heute noch einen ständigen Stein des Anstoßes und eine Kollision der Rechtsordnungen ausmacht, nämlich dass etwa Urlauber im Ausland an gravierende rechtliche Grenzen stoßen, wenn sie den Gesetzen ihres Heimatlandes folgen, ist hier bereits bedacht. Die Ambivalenz in Montaignes Lebensführung besteht ja nicht zuletzt darin, dass er nicht nur ein Jahrzehnt in der Abgeschiedenheit seiner Turmklause lebt, sondern davor und danach leidenschaftlich Reisender war,¹²⁶ der immer auf der Suche schien, gerade die fremdesten Gepflogenheiten und Gesetze aufzuspüren. Er wusste daher aus eigener Erfahrung, was auch heute noch gilt: Ein Verhalten, das im eigenen Land normadäquat wäre, kann den schlimmstmöglichen Verstoß gegen alle Gesetze des anderen Landes bedeuten, in dem man sich gerade aufhält. Die Kenntnis der Sitten und Gesetze des jeweiligen Landes, durch das Montaigne zog, war für ihn also nicht nur ein Gebot der Klugheit, sondern schlechterdings überlebenswichtig. Auch hier wird eine Einsicht mitgedacht, die an späterer Stelle noch aufscheint, wo sie die Pascal vorwegnehmende Einsicht formuliert, dass die
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 27 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 27, S. 201. Er beschreibt und begründet seine „Reiselustigkeit“ (Übersetzung J.J. Bode, III 9, Band 6, S. 2). Siehe auch Karlheinz Stierle, Vom Gehen, Reiten und Fahren. Der Reflexionszusammenhang in Montaignes „Des coches“, Poetica 14 (1982) 195.
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Geltungskraft und Legitimation des Rechts eine Frage der territorialen und geografischen Breitengrade sein kann.¹²⁷ Zugleich lässt sich hieran ersehen, wie Montaigne auch insoweit Montesquieu beeinflusst hat bzw. mit seinen späteren und ausgefeilten Exkursen über die das Recht prägenden jeweiligen Landessitten übereinstimmt. Montaigne gibt hier also eine durchaus auch pragmatische, die Zeiten überdauernde und sinnvolle Handlungsanleitung, die weniger nach dem Sinn der Gesetze fragt, als vielmehr ihre Geltung feststellt.
2. Öffentliche Gesetze und private Vernunft Montaigne führt jedoch noch ein weiterführendes Argument für seinen Standpunkt an, wonach ein jeder die Gesetze seines Landes einzuhalten habe. Es betrifft die Legitimation zur Veränderung: „Die Sache desjenigen, der den Gewohnheiten und Gesetzen seines Landes folgt, ist von der Sache desjenigen sehr unterschieden, der solche zu meistern und abzuändern sich erkühnt. Jener führt Einfalt, Gehorsam und Beispiel zu seiner Entschuldigung an (…). Dieser andere wandelt einen viel höckerigeren Weg. Denn, wer sichs anmaßt zu wählen und zu ändern, greift nach dem Ansehn des Richteramtes und muß beweisen, daß er das Fehlerhafte dessen, was er verdrängen will, erkennt, so wie das Bessere in dem, was er einführt“¹²⁸ (« Il y a grand à dire entre la cause de celuy qui suit les formes et les loix de son païs, et celuy qui entreprend de les regenter et changer. Celuy là allegue pour son excuse, la simplicité, l’obeissance et l’exemple: (…) L’autre est en bien plus rude party. Car qui se mesle de choisir et de changer, usurpe l’authorité de juger: et se doit faire fort, de voir la faute de ce qu’il chasse, et le bien de ce qu’il introduit ».¹²⁹).
a) Gesetze und Sitten Montaigne ordnet auch hier neben den Gesetzen des jeweiligen Landes dessen Gewohnheiten an. Der Begriff (‚formes‘) ist nicht leicht zu übersetzen, gleichwohl aber ein Zentralbegriff seines (Rechts‐)Denkens.¹³⁰ Gemeint ist wohl der Inbegriff der Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten. Man könnte vielleicht auch von ‚Le-
Allgemein dazu Abraham C. Keller, Historical and geographical Perspectives in ihe Essays of Montaigne, Modern Philology, Vol. LIV (1957) 145 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 175. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 125. Siehe auch Philippe Desan, Montaigne: les formes du monde et de l’esprit, 2008.
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bensformen‘ sprechen.¹³¹ Gesetze und Gewohnheiten bzw. Sitten werden jedenfalls kumulativ aufgeführt. Hierbei geht es freilich weniger um die kategorische Trennung von Recht und Moral, von der bereits die Rede war. Vielmehr scheint auch hier ein Verständnis auf, das sich bei Montesquieu vertieft findet, in dem die Gesetze und Sitten eines Landes der Gestalt für prägend erachtet werden, dass die Gesetze nicht selten den Sitten folgen.¹³² Die Sitten und Gepflogenheiten imprägnieren gleichsam die Gesetze. Diese unscheinbare Kumulierung und Unterscheidung ist für das Argument Montaignes wichtig. Denn daraus ergibt sich, warum dem Einzelnen die Legitimation fehlt, Gesetze ändern zu wollen. Die Einhaltung der Gesetze und Gepflogenheiten des Landes bedarf nämlich keiner solchen Legitimation, weil sie auf gehorsamer Nachahmung und Befolgung beruht. Wie so oft bei Montaigne überwiegt das Bestandsinteresse das Bewegungsinteresse.¹³³ Demzufolge trifft denjenigen die Argumentationslast, der Bestehendes und Überkommenes ändern möchte.Von ihm wird ein Wissen verlangt, das ein Einzelner an sich gar nicht haben kann. Er muss die gesamte Tradition kennen und ihre Nachteile im Hinblick auf die Gesetzesbefolgung darlegen, um ermessen zu können, was anstelle des Bestehenden besser angeordnet werden könnte.
b) Limitierte Reichweite der Vernunft Auch hieran zeigt sich eine zutiefst konservative Grundeinstellung. So individualistisch Montaigne sonst argumentiert, so sehr er sonst auf seine Vernunft vertraut, erkennt er hier eine immanente Grenze: „Mich deucht es Verwegenheit, In Anlehnung an Arno Borst, Lebensformen des Mittelalters, 4. Auflage 2004. Dazu – auch im Hinblick auf Montaigne – weiterführend Arno Borst. Meine Geschichte (Hg. Gustav Seibt) 2009, S. 41: „Die Lebensformen, die ich beschrieb, bändigen mehr die Launen der großen Herren, als dass sie die Mühen der kleinen Leute spiegelten; sie erklärten Geschichte weniger von oben noch von unten, sondern aus einer anthropologischen Mitte.“ Hervorhebung nur hier. Durchaus im Sinne Montaignes, der am Ende seiner Essais das menschliche Maß postulierte, sind auch die folgenden, auf Johan Huizinga bezogenen Desiderata von Borst, ebenda, S. 103: „Dann trüge es (sc.: das nächste Menschenalter) seine momentanen Streitigkeiten ohne Lagerkoller aus, mit dem schmalen Blickfeld von vorläufig Verschonten, der niedrigen Augenhöhe von Zeitgenossen, der Zimmerlautstärke von Mutmaßungen, kurzum: mit Maßen.“ Siehe dazu auch Abraham C. Keller, Optimism in the Essays of Montaigne, Studies in Philology 54 (1957) 408, 413, zur Frage, inwieweit die von Montaigne vorgeschlagene Befolgung der natürlichen Gesetze sich zu seiner konservativen Einstellung verhält. Er meint, dass sich die Natur selbst in Gesetzen und Sitten ausdrücke; skeptisch Susanne Schmarje, Das sprichwörtliche Material in den „Essais“ von Montaigne, Band 1, 1973, S. 223. Zu einem rechtsdogmatischen Anwendungsfall dieser Regel Jens Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, S. 76 ff.
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wenn man öffentlich eingeführte und eingewurzelte Gewohnheiten und Verfassungen der schwankenden Phantasie eines einzelnen Menschen unterwerfen will. Eine eingeschränkte Vernunft kann nur eine eingeschränkte Gerichtsbarkeit haben: so, wie keiner Herrscher über seinesgleichen ist und es sich herausnehmen darf, über göttliche Gesetze zu richten, welches nicht einmal bei bürgerlichen Gesetzen verstattet wird, obgleich letztere bei alledem, daß die menschliche Vernunft dabei viel mehr mitwirkt, doch allemal entscheidende Richter über ihre Richter sind: und die äußerste Anmaßung es nur wagt, sie zu erklären und ihre Anwendung zu bestimmen, nicht aber ihnen auszuweichen, oder sie zu ändern“¹³⁴ (« Me semblant très-inique, de vouloir sousmettre les constitutions, et observances publiques et immobiles, à l’instabilité d’une privée fantasie (la raison privée n’a qu’une juridiction privée) et entreprendre sur les loix divines, ce que nulle police ne supporteroit aux civiles. Ausquelles, encore que l’humaine raison aye beaucoup plus de commerce, si sont elles souverainement juges de leurs juges: et l’extreme suffisance, sert à expliquer et estendre l’usage, qui en est recue, non à le destourner et innover ».¹³⁵).
aa) Beschränkte Urteilsbefugnis Die zentrale Prämisse findet sich in dem erklärenden Klammerzusatz, wonach die beschränkte Vernunft auch nur beschränkte Urteilsbefugnis hat.¹³⁶ Der Individualist Montaigne wäre gewiss der Letzte, der bestreiten wollte, dass die beschränkte eigene Urteilskraft ihr entsprechendes Recht hat: „Die Urteilskraft hat bei mir ihren obrigkeitlichen Stuhl, wenigstens strebt sie sorgfältig danach“¹³⁷ (« Le jugement tient chez moy un siege magistral, au moins il s’en efforce soigneusement ».¹³⁸). Jedoch erkennt er auch die Grenzen seiner Vernunft. Er nimmt also in rechtstheoretischer Hinsicht gerade keinen solipsistischen Standpunkt ein.¹³⁹ Die Gesetze und Gepflogenheiten entziehen sich der menschlichen Vernunft insofern, als sie Ausdruck einer langen Überlieferung und Entwicklung sind; in sie sind so viele Erfahrungen und Kenntnisse eingegangen, die ein Einzelner gar nicht wissen
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 175 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 125 f. Siehe auch Raymond La Charité, The Concept of Judgement in Montaigne, 1968. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 177. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1121. Wie beispielsweise Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844.
V. „Das Hauptgesetz aller Gesetze“
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kann.¹⁴⁰ Nur scheinbar bedeutet dieser komplexe Gedanke Montaignes also eine Abkehr von seinem individualistischen Denken, wie man annehmen könnte, wenn man das Gegensatzpaar ‚publique- privée‘ betont und daraus auf einen prinzipiellen Vorrang des Öffentlichen vor dem Privaten schließt. Montaigne gibt vielmehr zu bedenken, dass es eine Anmaßung der Vernunft bedeuten würde, Gesetze und Sitten infrage zu stellen, die nicht zur Disposition des Individuums stehen.
bb) Vernunft und Sitte Die zitierte Stelle betrifft zugleich die geltungstheoretische Legitimation der Gesetze. Sie und die Bräuche legitimieren sich allein durch ihr Bestehen über die Zeit hinaus. Im Übrigen stehen Vernunft und Sitte einander nicht beziehungslos gegenüber. Vielmehr sind die Sitten bis zu einem gewissen Grade von der Vernunft durchtränkt: „Die menschliche Vernunft ist eine Färberlauge, die ungefähr in gleichem Maße allen unseren Meinungen und Sitten beigemischt ist, von welcher Art solche auch sein mögen. Unendlich in der Materie, unendlich in der Abweichung“¹⁴¹ (« La raison humaine est une teinture infuse environ de pareil pois à toutes nos opinions et mœurs, de quelque forme qu’elles soient: infinie en matiere, infinie en diversité ».¹⁴²). Die Diffusion ist also das Ergebnis wechselseitiger Beeinflussung. An dieser buchstäblichen Mischung sieht man beispielhaft, wie Montaigne den Rationalismus Descartes’ prägen konnte, ohne dass dieser ihn für sich vereinnahmen konnte.¹⁴³ So hoch Montaigne die menschliche Vernunft als inneren Gerichtshof schätzte, so sehr war er sich ihrer Grenzen bewusst. Nur soweit sie sich selbst bewusst ist, dass sie nicht aus sich heraus urteilt, sondern unter dem Einfluss der Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen, die auf sie einwirken, reicht auch ihre Urteilskraft über die öffentlichen Angelegenheiten hinaus.
Dieser Gedanke wurde später am gründlichsten ausgearbeitet durch den Montaigne-Bewunderer Friedrich August von Hayek; vgl. auch Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz, Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 156. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 115. Siehe zum geistesgeschichtlichen Hintergrund insbesondere Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal Lecteurs de Montaigne, 1944.
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3. Öffentliche Einrichtungen und Skepsis des Einzelnen Was die öffentlichen Einrichtungen, die das Staatswesen ausmachen, betrifft, so ist dies mehr, als der Skepsis des Einzelnen zugänglich ist.¹⁴⁴ So skeptisch Montaigne gegenüber bestimmten Gesetzen immer wieder ist, sieht er doch selbst, dass die eigenmächtige Derogation oder die private Annahme ihrer Falschheit noch sehr viel weniger Konstanz verspricht. Wichtig an dem weiter oben zitierten Satz sind daher auch die beiden Antithesen: Montaigne kontrastiert die beständigen Bräuche mit der unbeständigen privaten Vernunft. Die Beständigkeit der längst erprobten Sitten verallgemeinert den zu regelnden Sachverhalt in den über das Individuelle reichenden Bezirk. Sie bietet damit zwar noch keine Richtigkeitsgewähr, wohl aber kraft ihrer zeitlichen Dauer einen Halt, welcher der unbeständigen privaten Vernunft fehlt, die vielfältigen Anfechtungen ausgesetzt ist. Die zweite Antithese kontrastiert interessanterweise die bürgerlichen Gesetze mit den göttlichen. Auch hier dürfte es sich weniger um eine religionstheoretische oder gar eschatologische Begründung handeln, als vielmehr um eine Verdeutlichung der Heiligung von Gesetzen kraft ihrer unvordenklichen Konstanz. Montaigne kleidet dies in das Paradoxon, dass die göttlichen Gesetze als „oberste Richter über ihren Richtern stehen“. Wer die überkommenen Gesetze eigenmächtig abändern möchte, spielt sich zum Richter über etwas auf, das seiner Urteilsbefugnis entzogen ist. Das rhetorische Stilmittel Montaignes besteht darin, dass er diese göttlichen Gesetze gleichsam personifiziert, indem er sie als oberste Richter einsetzt. Daraus erschließt sich die nachfolgende Begründung, wonach gerade die besten Juristen um die guten, wahren und verborgenen Gründe der Gesetze ringen, sie nicht aber derogieren wollen. Montaigne setzt der Rechtsfortbildung eine interessante Grenze, indem die Gesetze zwar ausgelegt und – wir würden wohl heute sagen: im Wege der Analogie – erweitert werden können, dagegen nicht contra legem judiziert werden darf.¹⁴⁵
VI. Anhänglichkeit gegenüber der Rechtsordnung Gerechtigkeit ist für Montaigne nichts Gottgegebenes, sondern durchaus auch der innerweltlichen Kontingenz geschuldet,¹⁴⁶ die eine Güterzuteilung vorgibt, an der
Vgl. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 185 f.: „Auch das Staatsgefüge ist, wie das Naturgefüge, so gebaut, dass kein menschlicher Eingriff möglich wird, ohne es zu zerstören“. Dazu Jörg Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Auflage 2005. Auf die Faktizität bezogen Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 38: „So bestätigt jedes neue Ereignis, auf das man sich als Zeugen beruft, umso
VI. Anhänglichkeit gegenüber der Rechtsordnung
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nichts an und für sich gerecht sein muss: „Dieser Glücksstreich übertrifft in seinem Gange alle Regeln der menschlichen Klugheit“¹⁴⁷ (« Cette fortune surpasse en reglement, les regles de l’humaine prudence ».¹⁴⁸).
1. Einschränkung der Testierfreiheit Die Laune des Schicksals ist der rationalen Durchdringung des Gesetzeswerks mitunter übergeordnet, weil die menschliche Vernunft ihrerseits als Ausfluss der conditio humana begrenzt ist und nur ihren Wirkungskreis überschauen kann. Langjährige und geübte Sitten wissen hier oft mehr, als der Einzelne in seiner beschränkten Vernunft erkennen kann. Das überträgt Montaigne auch auf das Erbrecht: „Überhaupt scheint mir die vernünftigste Verteilung der Güter diese zu sein, wenn sie nach den Gewohnheiten des Landes geschieht. Die Gesetze haben dafür besser gesorgt, als wir tun können. Es ist immer besser, dass diese in der Wahl der Erben irren, als wenn wir hierin den Irrtum auf unsere eigenen Hörner nehmen. Diese Güter sind nicht so eigentlich unser Eigentum, weil sie durch eine bürgerliche alte Einrichtung und ohne unser Zutun für eine gewisse Erbfolge bestimmt sind“¹⁴⁹ (« En general, la plus saine distribution de noz biens en mourant, me semble estre, les laisser distribuer à l’usage du païs. Les loix y ont mieux pensé que nous: et vaut mieux les laisser faillir en leur eslection, que de nous hazarder de faillir temerairement en la nostre. Ils ne sont pas proprement nostres, puis que d’une prescription civile et sans nous, ils sont destinez à certains successeurs ».¹⁵⁰). Die von Montaigne geratene und anempfohlene Einschränkung der Testierfreiheit entsprechend den Sitten des jeweiligen Landes folgt auch hier wieder dem bereits erkannten Grundgedanken: Der Einzelne kann sich kraft und vermöge seiner beschränkten Vernunft irren, kennt nicht alle Umstände und ist von anthropologischen Grundbedingungen abhängig, die sein Urteil trüben können. Die Gesetze und Sitten dagegen haben über die Zeiten Regelungen und Verfahrensweisen gefunden, die sich für alle Fälle eigenen.
nachhaltiger die buntscheckige Gestalt einer der Heterogenität, dem Übergang und dem Widerspruch preisgegebenen Welt. Es ist ein weiterer ‚Brocken‘ in einem Haufen von Brocken, ein ‚Zug des menschlichen Wesens‘ – kontingent, aller normativen Autorität entkleidet“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 91. Michel de Montaigne, Les Essais, I 33, S. 228. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 188. Michel de Montaigne, Les Essais, II 8, S. 417.
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2. Paternalismus Montaignes Begründung ist hier insofern paradox, als dass sie – und dies ist natürlich gewollt – gerade mit der Freiheit des Einzelnen argumentiert, um diese in bestimmten Fällen zu begrenzen:¹⁵¹ „Und wenn uns auch große Freiheiten darüber hinaus vorbehalten werden, so halte ich doch dafür, man müsse wichtige und in die Augen fallende Ursachen haben, wenn man einem das nehmen will, worauf ihm das Glück ein Recht gab und das gemeine Recht Anspruch verlieh, und dass es einen großen Missbrauch von dieser Freiheit machen heißt, wenn man solche zu unsern besonderen unbegründeten, leichtsinnigen Grillen dienen lässt“¹⁵² (« Et encore que nous ayons quelque liberté audelà, je tien qu’il faut une grande cause et bien apparente pour nous faire oster à un, ce que sa fortune luy avoit acquis, et à quoy la justice commune l’appelloit: et que c’est abuser contre raison de cette liberté, d’en servir noz fantasies frivoles et privées ».¹⁵³). Hier wird deutlich, dass sich Montaigne mitnichten gegen die Vernunft wendet, sondern diese gerade mit der Freiheit in der Weise zusammenführt, dass auch von der Freiheit in vernünftiger Weise Gebrauch gemacht werden muss. Freiheit in diesem Sinne besteht eben nicht darin, alles zu tun was man will, sondern eingedenk der Grenzen des eigenen Willens darauf dort zu verzichten, wo die Rechtsordnung bereits eine Regelung getroffen hat, die weiter reicht und denkt, als der Einzelne in der Beschränktheit seiner Interessen überblicken kann.¹⁵⁴
In anderem Zusammenhang zum entsprechenden Problem Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 160: „Die Bindung ist folglich keine Fessel mehr: sie ist eine Freiheitsgarantie“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 118. Michel de Montaigne, Les Essais, II 8, S. 417 f. Auf das Individuum bezogen hellsichtig Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, S. 158: „Montaigne fordert zunächst seine Freiheit, er möchte der Entfremdung ‚entrinnen‘; zu diesem Zweck muss er die ‚Verpflichtungen‘ aufkündigen, mit denen er sich ‚belastet‘ hat, und mit den vielgestaltigen Bindungen brechen – die Gespinste aus Brauch, öffentlicher Meinung, eingesetzten Autoritäten usw. -, in denen sich das Bewusstsein gefangen fühlt, bevor es zur Reflexion geboren wird; in der Bemühung aber, wieder von sich selbst Besitz zu ergreifen, sich zu definieren und seine ‚wahre Natur‘ zu denken, postuliert Montaigne sogar in seiner freiesten Sprache neue Bindungen, appelliert er an andere Bewusstseinsträger, die diesmal in den Rang von Gesprächspartnern, Lesern, Publikum aufsteigen; und damit gelingt es ihm, die relative Legitimität der ersten Abhängigkeit anzuerkennen – der Mensch lässt sich nicht außerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft vorstellen -, und fortan kann er jenen ‚künstlichen Banden‘, jenen ‚Bräuchen‘ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, von denen er sich anfangs wie aus einer Art Knechtschaft gelöst hatte“.
VII. Gesetzesänderung und Gesetzesgehorsam
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3. Anhänglichkeit gegenüber der bestehenden Rechtsordnung Montaignes Weisheit besteht hier also nicht zuletzt darin, die Grenzen der menschlichen Einsichtsfähigkeit abzuschätzen und danach die Ausübung seiner Freiheit zu ermessen und auf die an sich mögliche Willkür im eigenen Interesse zu verzichten, wenn die Gesetze und Sitten seines Landes womöglich klüger waren als er selbst. Auch solche Einsichten sind ihm persönlich diktiert, und er weiß dies, weil er immer erkennt, dass ein unglückliches Los und ein härteres persönliches Schicksal als das seine auch zu gegenteiligen Einsichten hätte führen können: „Mein eigenes Schicksal hat mir die Prüfung erspart, mich in solche Lagen zu versetzen, wo ich hätte in die Versuchung geraten können, meine Neigungen gegen die gewöhnlichen und gesetzmäßigen Verordnungen zu befriedigen“¹⁵⁵ (« Mon sort m’a faict grace, de ne m’avoir presenté des occasions qui me peussent tenter, et diverter mon affection de la commune et legitime ordonnance ».¹⁵⁶). Die Anhänglichkeit gegenüber der gemeinen Rechtsordnung ist ein autobiographischer Zentralbegriff seines Rechtsdenkens, weil er seine Skepsis gegenüber den Gesetzen nicht unterdrückt, die eigene Urteilskraft aber im Zweifel noch geringer einschätzt, als die in der Rechtsordnung verkörperte geronnene Erfahrung von Jahrzehnten und Jahrhunderten.
VII. Gesetzesänderung und Gesetzesgehorsam Montaignes konservative Grundeinstellung zeigt sich auch daran, dass er Gesetzesänderungen gegenüber skeptisch eingestellt ist: „Es ist äußerst zweifelhaft, ob sich ein so großer und reiner Gewinn dabei findet, irgend ein eingeführtes Gesetz zu verändern, sei es beschaffen wie es wolle, als Nachteil aus seiner Veränderung entsteht: um so mehr, da es mit einer Landesverfassung ist wie mit einem Gebäude, das aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt worden und in so genauer Verbindung steht, daß es unmöglich ist, eins zu verrücken, ohne daß es das Ganze empfinde“¹⁵⁷ (« Il y a grand doute, s’il se peut trouver si evident profit au changement d’une loy receue telle qu’elle soit, qu’il y a de mal à la remuer: d’autant qu’une police, c’est comme un bastiment de diverses pieces joinctes ensemble d’une telle liaison, qu’il est impossible d’en esbranler une que tout le corps ne s’en sente ».¹⁵⁸).
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 118. Michel de Montaigne, Les Essais, II 8, S. 418. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 170. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 123.
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1. Gesetzesentstehung als organischer Prozess In dieser vielschichtigen Äußerung zeugt sich ein bemerkenswerter Sinn für die Systematik einer jeden Rechtsordnung, und zwar gleich welcher Rechtskultur, sondern für den Stellenwert der Systematik des Gesetzes insgesamt, auch wenn Montaigne an sich nichts weniger ist als ein Systematiker.¹⁵⁹ Allenfalls eine topisch-problemorientierte Betrachtung, wie sie bereits einmal im Schrifttum zur Einordnung von Montaignes Rechtsverständnis erwogen wurde,¹⁶⁰ scheint dem gerecht zu werden, zumal da sie seinem pyrrhonistischen Zugriff zu entsprechen scheint.¹⁶¹ Doch ist selbst mit dieser Maßgabe Vorsicht geboten. Zu sehr entzieht sich gerade die von Montaigne geprägte Form des Essays, die allein seinem Zugriff auf die Dinge gemäß ist, gerade seinem schweifenden Verstand und seiner die Erscheinungen wieder und wieder reflektierenden, dabei Widersprüche nicht scheuenden Sicht eignet. Die Gesetzesentstehung ist für Montaigne offensichtlich ein so organischer Prozess, dass eines mit dem anderen zusammenhängt und nichts ohne Grund verändert werden kann, ohne dass die Statik gefährdet wird. Ein überkommenes Gesetz hat immer noch den Vorteil, zum Rechtssystem als Ganzen zu passen. Denn auch als überkommenes Gesetz ist es einem gewissen Herkommen verpflichtet und somit aus sich heraus, wo nicht gerecht so doch zu Recht verbindlich: „Wer auf meine Träumereien zum Nachteil des geringsten Gesetzes seines Dorfes oder dessen Meinung, Gebrauch und Herkommen, Rücksicht nehmen wollte, der täte sich selbst sehr unrecht und mir ebensoviel“¹⁶² (« Qui mettroit mes resveries en conte, au prejudice de la plus chetive loy de son village, ou opinion, ou coustume, il se feroit grand tort, et encore autant à moy ».¹⁶³). Montaigne zweifelt eher an der Allgemeingültigkeit seines Urteils als an der Verbindlichkeit der durch ihr Herkommen entstanden Gebräuche und Gesetze. Diese Beziehung zwischen Gesetz und Herkommen ist typisch für die skeptische Tradition, in der Montaigne steht.¹⁶⁴
Allgemein dazu Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 66: „Das ist kein Stoizismus, das ist auch kein Skeptizismus, das hat gar keine Ähnlichkeit mit einem System: das ist die Frucht einer geduldigen Selbsterfahrung, bei der offensichtlich der Glaube keine Bedeutung hat“. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 9. Michael Walter Hebeisen, Recht und Staat als Objektivationen in der Geschichte. Eine Grundlage von Jurisprudenz und Staatslehre als Geisteswissenschaften, Teil 3, 2004, S. 258 mit Fußnote 23. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 102. Michel de Montaigne, Les Essais, S. 1079. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 243: „Unmittelbare Wahrnehmung und Reflexion, natürliches
VII. Gesetzesänderung und Gesetzesgehorsam
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Bemerkenswert ist auch, dass die Rechtsordnung sowie die Geltung der einzelnen Normen zu dem Staatswesen, das sie regeln, in Beziehung gesetzt wird: Die Begründung folgt nämlich aus dem durch das Ineinandergreifen der verschiedenen Vorschriften bestandskräftigen Staatswesen, das durch tektonische Verschiebungen im Gesetzeserlass einzelner Vorschriften berührt werden kann. Schließlich verdient Hervorhebung, dass Montaigne eine, wenn auch allgemein gehaltene Kalkulation von Nutzen und Nachteilen anstellt, indem er in Betracht zieht, dass jedem erdenklichen Vorteil immer auch mögliche Nachteile gegenüber stehen können, die typischerweise noch unbekannt sind. Es ist ein durchaus konservatives Argument, das sich aus einer erfahrungsgesättigten Vorsicht heraus damit begnügt, Nachteile für möglich zu halten und aus diesem potenziellen Charakter der Gegengründe Bedenken formuliert.
2. Anpassung der Gesetze an die Lebensverhältnisse Der Konservativismus Montaignes macht allerdings vor allfälligen Reformen der Gesetze nicht halt, wenn die Umstände dies erfordern: „Der gesetzmäßige Gang ist kalt, bedächtig und abgemessen, und verträgt sich nicht mit dem ausgelassenen Gang der Zügellosigkeit“¹⁶⁵ (« L’aller legitime, est un aller froid, poisant et contraint: et n’est pas pour tenir bon, à un aller licencieux et effrené ».¹⁶⁶). Denn gerade weil Montaigne in den Gesetzen ein gewisses Spiegelbild zu sich selbst, seinem Konservativismus, seiner Orientierung an Althergebrachtem, andererseits aber auch an der tiefgreifenden Skepsis gegenüber allem Bestehenden, das er um sich herum weiß, zu eigen ist, sieht er die Möglichkeit, dass angesichts der anthropologischen Grundbedingungen und einer dem Menschen innewohnenden Schlechtigkeit Vorsorge getroffen werden muss, um die Gesetze, wo es möglich ist, den Lebensverhältnissen anzupassen: „Und daß, wenn man einer überhandnehmenden Neuerung widersteht, die sich mit Gewalt uns aufdrängen will, man in allen Stücken und durchaus gegen diejenigen gerade und behutsam verfahren müsse, welche die Gewalt in Hände haben und denen alles das erlaubt ist, was ihr Vorhaben befördern kann; die keine anderen Gesetze oder Verordnungen haben als ihren Vorteil nachzujagen. Es wäre eine gefährliche Pflicht und eine große Ungleichheit“¹⁶⁷ (« Et quand on resiste à l’accroissance d’une innovation qui vient
Bedürfnis, Gesetze und Herkommen, eingeschliffene Geschicklichkeit und hergebrachtes Wissen werden als die Normen des Handelns genannt“; Hervorhebung nur hier. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 178. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 127. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 177.
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par violence à s’introduire, de se tenir en tout et par tout en bride et en regle contre ceux qui ont la clef des champs, ausquels tout cela est loisible qui peut avancer leur dessein, qui n’on ny loy ny ordre que de suivre leur advantage, c’est une dangereuse obligation et inequalité ».¹⁶⁸). In den Zeiten gewalttätiger Umstürze und Revolutionen versagen die Gesetze, die auf Statik und ruhige Zeitalter hingeordnet waren. Die äußere Unsicherheit nährt daher auch die Zweifel an den Gesetzen überhaupt.¹⁶⁹
3. Gesetzesänderung als ultima ratio Andererseits darf gerade in diesen unruhigen Zeiten keine hektische Betriebsamkeit im Gesetzgebungswesen Einzug halten und kein vordergründiger Aktionismus denen in die Hände arbeiten, die die bestehende Ordnung auflösen wollen. Montaigne sieht diese Ambivalenz, indem er hier von einer gefährlichen Pflicht spricht. Und dennoch geht diese dahin, auch in solchen Zeiten die Gesetze zu beachten, weil dies die effektivste Entgegensetzung ist, die der Rechtsstaat zu bieten hat. Er sieht zwar, dass „die gewöhnliche Verfassung eines Staates, in seiner Gesundheit, keine Vorkehrungen gegen solche außerordentliche Zufälle zu machen pflegt“¹⁷⁰ (« D‘autant que la discipline ordinaire d’un estat qui est en sa santé, ne pourvoit pas à ces accidens extraordinaires ».¹⁷¹), will dies jedoch nicht als Freibrief verstanden wissen, die Gesetze bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aushebeln zu lassen. Nur in äußersten Notlagen ist eine Gesetzesreform angezeigt, die Montaigne geradezu aphoristisch begründet: „Und wäre es doch auch wohl besser, die Gesetze das wollen zu lassen, was sie können, weil sie nicht können, was sie wollen“¹⁷² (« Et vaudroit mieux faire vouloir aux loix ce qu’elles peuvent, puis qu’elles ne peuvent ce qu’elles veulent ».¹⁷³). Montaigne schreibt diese Einsicht der Sache nach Plutarch zu, der über jemanden sagte: „daß er zum Regieren geboren gewesen und nicht nur nach den Gesetzen, sondern wenn es die Not des Gemeinwesens erfordert, selbst die Gesetze zu regieren verstanden habe“¹⁷⁴ (« Il sçavoit non seulement commander selon les loix, mais aux loix mesmes quand la
Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 126. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 14. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 178. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 127. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 178. Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 127. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 179 a. E.
VII. Gesetzesänderung und Gesetzesgehorsam
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necessité publique le requeroit ».¹⁷⁵). In äußersten Notzeiten muss also auch den Gesetzen befohlen werden können. Doch ist dies die ultima ratio, bewähren sich doch Gesetze gerade kraft ihres althergebrachten und unvordenklichen Charakters in schweren Zeiten der Anfeindung von außen.
Michel de Montaigne, Les Essais, I 22, S. 127.
§ 2 ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze Im dritten Buch der Essais kommt Montaigne auf sein Verhältnis zu den Gesetzen und zum Recht zu sprechen, so dass das, was sein gesamtes Werk ausmacht, nämlich der unverstellte autobiographische Zugang nun auch im Hinblick auf das Recht und Montaignes Gesetzesverständnis noch deutlicher zu Tage tritt.¹⁷⁶
I. Individuelles Gerechtigkeitsgefühl Ausgangspunkt aller rechtlichen Betrachtung ist auch hier das individuelle Gerechtigkeitsgefühl, die Empathie: „Ich habe oft meinen Ärger darüber gehabt, wenn ich so gesehen, dass Richter durch List oder vorgespiegelte Hoffnung von Gnade und Verzeihung den Verbrecher verleiteten, seine Tat zu bekennen, und dabei allerlei unverschämte Tücke anwendeten. Es würde der Gerechtigkeitspflege zum Vorteil gereichen, und selbst dem Plato, der dessen Gebrauch begünstigte, wenn sie mir andere Mittel, die mehr nach meinem Sinne wären, an die Hand geben wollten. Es ist eine hämische Gerechtigkeit, und nach meiner Meinung wird sie durch sich selbst ebensowohl beleidigt als durch andere“¹⁷⁷ (« Certes j’ay eu souvent despit, de voir des juges, attirer par fraude et fauces esperances de faveur ou pardon, le criminel à descouvrir son fait, et y employer la piperie et l’impudence: Il serviroit bien à la justice, et à Platon mesme, qui favorise cet usage, de me fournir d’autres moyens plus selon moy. C’est une justice malicieuse: et ne l’estime pas moins blessée par soy-mesme, que par autruy ».¹⁷⁸).
1. Mäßigung als Kennzeichen der Gerechtigkeit Verstellung und Arglist sind eines Rechtsstaats unwürdig. Es ist ein Verstoß gegen die Würde des Gemeinwesens und kompromittiert die Rechtsordnung, indem es das Rechtsbewusstsein zu Fall bringt.¹⁷⁹ Montaignes stoische Grundhaltung
Zum Gesichtspunkt des Autobiographischen Karlheinz Stierle, Cura sui? – Montaigne und die Autobiographie, in: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge (Hg. M. Moog-Grünwald), 2004, S. 127. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 3. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 830. Einen ähnlich gelagerten Gedanken hat später W. v. Humboldt im Hinblick auf die Folter formuliert, die er als einen Verstoß gegen die Würde des Staates deutete; näher Jens Petersen,
I. Individuelles Gerechtigkeitsgefühl
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kommt auch in seinem Verhältnis zum Recht zur Geltung, indem er auch dort nach Wegen der Mäßigung sucht: „Wut und Hass liegen nicht in den Pflichten der Gerechtigkeit, und sind Leidenschaften, welche bloß denjenigen dienen, welche nicht aus bloßen Vernunftgründen an ihren Pflichten hangen (…) Alle rechtmäßigen Vorsätze sind an und für sich gemäßigt; wo nicht, so werden sie unrechtmäßig und empörend“¹⁸⁰ (« La colere et la hayne sont au delà du devoir de la justice: et sont passions servans seulement à ceux, qui ne tiennent pas assez à leur devoir, par la raison simple (…) Toutes intentions legitimes sont d’elles mesmes temperées: sinon, elles s’alterent en seditieuses et illegitimes ».¹⁸¹). Mäßigung ist also auch vornehmstes Kennzeichen der Gerechtigkeit: „Diejenigen, welche ihren Zorn und ihren Hass weiter erstrecken, als der Zank reicht, wie die meisten zu tun pflegen, zeigen, dass solche aus anderen Quellen und besonderen Ursachen entspringen. (…) Das ist die Ursache, weswegen sie sich besonders entrüsten und über Gerechtigkeit und öffentliches Recht hinausgehen“¹⁸² (« Ceux qui allongent leur cholere, et leur haine au delà des affaires, comme faict la plus part, montrent qu’elle leur part d’ailleurs, et de cause particuliere. (…) Voylà pourcuoy, ils s’en picquent de passion particuliere, et au-delà de la justice, et de la raison publique ».¹⁸³). Alles darüber hinaus Gehende stößt ihn ab, wie er überhaupt Rechtsfragen mit einiger Distanz beurteilt: „Auch die allgemeine und gerechte Sache zieht mich nur mäßig und ohne Fieberhitze an sich“¹⁸⁴ (« La cause generale et juste ne m’attache non plus, que moderément et sans fièvre ».¹⁸⁵).
2. Geringschätzung der Jurisprudenz Hier kommen autobiographische Gesichtspunkte noch stärker in den Blick, als dies bei Montaigne ohnehin der Fall ist: „Die Schriftsteller teilen sich dem Volke mit durch irgendeinen besonderen und ausgezeichneten Stempel. So ich, der erste unter allen, durch mein universelles Wesen als Michel von Montaigne; nicht als Grammatiker oder Poet oder Rechtsgelehrter“¹⁸⁶ (« Les autheurs se communiquent
Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie, 2. Auflage 2007; zustimmend Christian Jäger, Das Verbot der Folter als Ausdruck der Würde des Staates, Festschrift für Rolf Herzberg, 2008, S. 539. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 5 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 831 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 65 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1058. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 5. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 831. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 29.
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§ 2 ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze
au peuple par quelque marque speciale et estrangere: moy le premier, par mon estre universel: comme, Michel de Montaigne: non comme Grammairien ou Poëte, ou Jurisconsulte ».¹⁸⁷). Wir können dies als Anhaltspunkt dafür nehmen, dass Montaigne ursprünglich zum Studium der Jurisprudenz angehalten wurde, das er in Toulouse und Paris absolviert haben soll.¹⁸⁸ Eine gewisse Parallele zu dieser Stelle findet sich in einer weiter entfernten über die Gelehrten, über die er abwertend sagt: „Wenn ich sie so sich mit der Ästhetik, mit der Logik, mit der Astrologie und dergleichen Klexereien abgeben sehe, die ihrem Bedürfnis so eitel und so entbehrlich sind, so wandelt mich die Furcht an, dass die Mannspersonen, welche es ihnen anraten, dabei den Zweck haben, unter diesem Vorwande sich ihrer zu bemeistern. Denn was für eine andere Ursache soll ich mir davon erdenken?“¹⁸⁹ (« Quand je les voy attachées à la rhetorique, à la judiciaire, à la logique, et semblables drogueries, si vaines et inutiles à leur besoing: j’entre en crainte, que les hommes qui le leur conseillent, le facent pour avoir loy de les regenter soubs ce tiltre. Car quelle autre excuse leur trouverois-je? »¹⁹⁰). Die Jurisprudenz erscheint hier also als eitle Wissenschaft, die neben der Rhetorik oder Logik nur dem äußeren Schein nach wissenschaftlich verfährt. Die Beschäftigung mit ihr kann dem Menschen nichts über sich selbst Hinausgehendes vermitteln und ihn auch nicht zu seinen wahren Grundlagen finden lassen. Es spiegelt Montaignes Geringschätzung aller Äußerlichkeiten, die den Menschen von seiner Selbsterkenntnis entfernen und seinem Zweck entfremden.
II. Verteidiger der gesetzmäßigen alten Ordnung Auch im dritten Buch seiner Essais bleibt Montaigne seinem Konservativismus treu: „Und vorzüglicherweise hat die Sache der Gesetze und die Verteidigung der alten Verfassung dies immer für sich, dass selbst diejenigen,welche aus besondern Nebenabsichten dagegen streiten, deren Verteidiger wenigstens entschuldigen, wenn sie dieselben auch nicht ehren“¹⁹¹ (« Et notamment la cause des loix, et defence de l‘ancien estat, a tousjours cela, que ceux mesmes qui pour leur dessein particulier le troublent, en excusent les defenseurs, s’ils ne les honorent ».¹⁹²).
Michel de Montaigne, Les Essais, III 2, S. 845. Stefan Zweig, Montaigne, S. 35. Die Einzelheiten sind umstritten; einige sagen, er habe nur in Toulouse, andere dagegen meinen, er habe ausschließlich in Paris studiert. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 62. Michel de Montaigne, Les Essais, III 3, S. 863 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 8. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 833.
II. Verteidiger der gesetzmäßigen alten Ordnung
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1. Gesetze als Orientierungsmaßstab Montaigne bekennt sich hier zwar nicht selbst ausdrücklich zu den Verteidigern der gesetzmäßigen alten Ordnung. Doch tritt auch hierin der Grundgedanke zu Tage, dass die seit alters geltenden Gesetze Vorgaben enthalten, die den Rechtsunterworfenen nicht nur binden, sondern ihm auch Orientierung geben, weil er sich nicht für etwas entscheiden muss, sondern auf sie bauen kann: „Die Gesetze haben mich einer großen Mühe überhoben; sie haben mir einen Herrn gegeben und eine Partei für mich gewählt“¹⁹³ (« Les loix m’ont osté de grand peine, elles m’ont choisi party, et donné un maistre ».¹⁹⁴). Partei und Herr in diesem Sinne ist wohl nicht zuletzt das Gemeinwesen selbst, das auf der Grundlage der gesetzmäßigen alten Ordnung lebt: „Der Wille und das Verlangen sind sich selbst Gesetz; die Handlungen aber sind den öffentlichen Gesetzen unterworfen“¹⁹⁵ (« La volonté et les desirs se font loy eux mesmes, les actions ont à la recevoir de l’ordonnance publique ».¹⁹⁶). Diese etwas kryptische Sentenz stellt wiederum das lebendige Gemeinwesen, das auf den Gesetzen gründet, in den Mittelpunkt. Das Gegenteil der Gerechtigkeit bieten für Montaigne die Bürgerkriege.¹⁹⁷ Hier ist die bestehende alte und gesetzmäßige Ordnung aufgeweicht, in Frage gestellt und hinfällig geworden. Sie sind für ihn ein „entsetzliches Bild der Gerechtigkeit“¹⁹⁸ (« horrible image de justice ».¹⁹⁹).
2. Naturrecht und übergeordnete Rechtswerte? Gerade im Hinblick auf diese Unbeständigkeit, die bestehenden Anfeindungen gegenüber dem Rechtswesen und der bestehenden Ordnung treten für Montaigne die übergeordneten Rechtswerte und Normen in den Blickpunkt: „Die an sich natürliche und allgemeine Gerechtigkeit hat an und für sich bessere und edlere Regeln als die andere spezielle und Nationalgerechtigkeit, welche unter dem Zwange der Staatseinrichtung steht“²⁰⁰ (« La justice en soy, naturelle et univer-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 10. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 834. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 10. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 834. Hierzu Isida Cremona, La pensée politique de Montaigne et les guerres civiles, Studi Francesi 69 (1979), 432, 448. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 23. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 841 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 13.
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selle, est autrement reglée, et plus noblement, que n’est cette autre justice speciale, nationale, contrainte au besoing de nos polices ».²⁰¹). Hier findet sich eine Andeutung an das Bestehen eines Naturrechts, das den genannten gesellschaftlichen Voraussetzungen des jeweiligen Landes enthoben ist. Die Gesetze sind also auf landesspezifische Herausforderungen hingeordnet, während es scheinbar darüber noch ein übergeordnetes Recht gibt. Man würde jedoch Montaigne im Grundsätzlichen missverstehen, wenn man annähme, dass er naturrechtlich argumentiert²⁰² – im Gegenteil: er weiß nichts von einem natürlichen Recht, leugnet seine Existenz und sieht allein auf das, was den Menschen mit all seinen Bedingtheiten und Verstrickungen umgibt. Das wird weiter unten noch anhand anderer Stellen vertieft. Montaigne hält sich gerade nicht mit vorgeblich naturrechtlichen Normen auf, deren Existenz er bestreitet, sondern ihn interessiert das wirkliche Leben, die Gerechtigkeit, wie sie sich in den Wirrnissen und schicksalhaften Entwicklungen eines Landes Bahn bricht. Er nennt dies interessanterweise den „Pfad der Wahrheit“²⁰³ (« La voye de la verité ».²⁰⁴), der sich auch und gerade von den schlechten Seiten der Menschen her verstehen lässt: „Ich will der Betrügerei ihre Würde nicht nehmen, das hieße sich sehr schlecht auf die Welt verstehen; ich weiß, dass sie sehr oft sehr nützliche Dienste geleistet hat, und dass sie die meisten Stände der Menschen ernährt und erhält. Es gibt Untaten, die als gesetzlich erlaubt im Schwange gehen, sowie viele Handlungen, die entweder gut oder zu entschuldigen sind, von den Gesetzen bestraft werden“²⁰⁵ (« Je ne veux pas priver la tromperie de son rang, ce seroit mal entendre le monde: je sçay qu’elle a servy souvent profitablement, et qu’elle maintient et nourrit la plus part des vacations des hommes. Il y a des vices legitimes, comme plusieurs actions, ou bonnes, ou excusables, illegitimes ».²⁰⁶).
3. Paradoxien Diese Stelle darf man nicht nur einfach als Heiligung des Zwecks durch die Mittel missverstehen oder deren Gegenteil daraus ableiten, sondern darin zeigt sich eine später von Mandeville und Adam Smith beobachtete Gesetzmäßigkeit, wonach auch aus den schlechten Regungen des Menschen wohlgefällige Resultate ent-
Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 836. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 179 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 12. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 835. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 12 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 835 f.
III. Grundsätze der Gerechtigkeit
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stehen können.²⁰⁷ Es ist zumindest eine Andeutung des Gedankens, der auch Bernhard Mandevilles Bienenfabel zugrunde liegt (‚Private Vices-Public Benefits‘).²⁰⁸ Auf diesen Ansatz, der für die Geistesgeschichte prägend wurde, wird noch verschiedentlich zurückzukommen sein, sodass hier ein kurzer Hinweis genügt. Montaigne erkennt, dass Gesetze Missstände nicht nur verhindern, sondern auch befördern können, „weil verschiedene Schlechtigkeiten nicht nur durch ihr Erlaubnis, sondern durch ihre Verfügung stattfänden“²⁰⁹ (« Non seulement par leur permission, plusieurs actions vitieuses ont lieu, mais encores à leur suasion ».²¹⁰). Hieran sieht man exemplarisch, dass Montaigne die Gesetze niemals einseitig beurteilt. Sein Respekt vor althergebrachten Vorschriften kontrastiert in eigentümlicher Weise gegenüber der Skepsis im Hinblick auf Regelungen, die umgehungsanfällig oder missbrauchsanfällig erscheinen. Paradoxerweise wächst gerade mit seiner Achtung vor den althergebrachten Gesetzen auch die Skepsis gegenüber dem Wesen der Gesetzgebung. Wie alles Menschenwerk ist es veränderlich, unbeständig und Änderungen unterworfen. Wenn es trotz dieser Anfechtungen über die Zeiten Bestand hat, erntet es seinen Respekt, ohne dass dies seiner Grundskepsis Abbruch tut, weil die Gesetze als Menschenwerk eben letztlich kontingent und unverlässlich sind.
III. Grundsätze der Gerechtigkeit Montaigne verhilft der Idee der Gerechtigkeit zur Geltung, indem er die Menschen, die sie verwirklichen sollen, stets an ihre Bestimmung erinnert und ihnen ihren Zweck vor Augen hält: „Die richterliche Gewalt verleiht man nicht zugunsten des Richters, sondern zugunsten desjenigen, der Recht nehmen soll“²¹¹ (« La jurisdiction ne se donne point en faveur de juridiciant: c’est en faveur du juridicié ».²¹²).
1. Funktionierende Rechtspflege in der Monarchie Eine funktionierende Rechtspflege gründet nicht auf der Selbstherrlichkeit der Richter, sondern darauf, wie sie dem Rechtsunterworfenen gegenübertreten und
Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180 („Montaignes Lieblingsparadoxie“). Näher dazu Bernhard Mandeville, The Fable of the Bees, 1705. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 13. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 836. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 210. Michel de Montaigne, Les Essais, III 6, S. 946.
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zum Rechtsfrieden beitragen. Auch Montaignes monarchistisches Weltbild gründet dergestalt auf Gerechtigkeit, dass den Regierenden die Verwirklichung der Gerechtigkeit zur Pflicht gemacht wird:²¹³ „Die königliche Tugend scheint eigentlich in Gerechtigkeit zu bestehen, und zwar in Gerechtigkeit nach allen ihren Teilen; und von allen Teilen der Gerechtigkeit zeigt derjenige das meiste Königliche, der die Freigiebigkeit begleitet. Denn die Ausübung dieser Gerechtigkeit haben die Könige ganz besonders sich selbst vorbehalten, wo hingegen sie alle übrige Gerechtigkeit gerne durch Zwischenpersonen ausüben lassen“²¹⁴ (« La vertu Royalle semble consister le plus en la justice: Et de toutes les parties de la justice, celle là remerque mieux les Roys, qui accompagne la liberalité: Car ils l’ont particulierement reservée à leur charge: là où toute autre justice, ils l’exercent volontiers par l’entremise d’autruy ».²¹⁵). Die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch die Regierenden ist also eine ihnen obliegende Pflicht, die keiner Stellvertretung fähig ist. Montaigne ist hier allerdings noch ganz in den höfischen Formen und Zwängen befangen, die selbst vor seinem freigeistigen Wesen nicht Halt machen: „Der Gerechtigkeit nach sind wir hinlänglich bezahlt, wenn die Vergeltung dem Dienste gleich ist. Sind wir dem Könige nicht auch natürliche Pflichten schuldig?“²¹⁶ (« Nous sommes surpayez selon justice, quand la recompence esgalle nostre service: car n’en devons nous rien à nos princes d’obligation naturelle? »²¹⁷).
2. Freiheit im Rahmen der Gesetze Zwischen Regierenden und Untertanen besteht also ein wechselseitiges Pflichtenverhältnis, dessen jeweilige Erfüllung der Verwirklichung der Gerechtigkeit dient. Allerdings darf man diese Stelle nicht dahingehend missverstehen, dass Montaigne von einem regelrechten Untertanengeist beseelt wäre: „Ich bin des Befehlens und Gehorchens müde“²¹⁸ (« Je suis desgousté de maistrise, et active et
Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 244: „Montaigne (…) sieht einen Absolutismus heraufziehen, mit dem er sich identifizieren kann, weil er die Konservierung bürgerlichen Eigentums garantiert. Bei aller Schrecklichkeit der Bürgerkriege weiß er, dass das Leben weitergeht und auch diese Schwierigkeiten überwunden werden“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 211. Michel de Montaigne, Les Essais, III 6, S. 947. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 212. Michel de Montaigne, Les Essais, III 6, S. 948. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 236.
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passive ».²¹⁹). Vielmehr ist er sich des brüchigen Fundaments einer nur auf Befehl und Gehorsam gründenden Herrschaft bewusst: „Wer seine Meinung durch Befehl und Gebot durchsetzen will, beweist dadurch, dass sie auf schwachen Gründen beruhen müsse“²²⁰ (« Qui establit son discours par braverie et commandement, montre que la raison y est foible ».²²¹).Was er letztlich sagen will, ist, dass Freiheit auch in seinem Jahrhundert so verwirklicht und gelebt werden kann, dass ein jeder möglichst unbehelligt leben können soll, wenn er weder bevormundet wird noch sich unterordnen muss, „ausgenommen gegen die alten Gesetze“²²² (« sauf celle des loix antiques ».²²³). Auch hier ist also wieder die Einhaltung der althergebrachten Gesetze die Konstante, die das Rechtsdenken Montaignes prägt: „Dies sage ich als ein Mensch, der kein Richter oder Rat der Könige ist, auch sich dessen bei weitem nicht würdig hält, sondern als ein gemeiner Mensch, der zum Gehorsam gegen die öffentlichen Gesetze geboren und verpflichtet ist, sowohl in seinen Taten als in seinen Worten“²²⁴ (« Ce que je dis, comme celuy qui n’est pas juge ny conseiller des Roys; ny s’en estime de bien loing digne : ains homme du commun: nay et voué à l’obeïssance de la raison publique, et en ses faicts, et en ses dicts ».²²⁵). Zu den althergebrachten Gesetzen gehören aber eben auch die höfischen und monarchischen Regierungsformen. Montaigne, der über zehn Jahre lang in seinem Turm in völliger Freiheit lebte und schrieb, wusste, dass er in seinen späteren Jahren einem Befehl des Königs zu folgen hatte, der ihn anwies, das Bürgermeisteramt seiner Heimatstadt Bordeaux anzunehmen:²²⁶ „Ich verbat es. Man belehrte mich aber, dass ich unrecht habe, und der Befehl des Königs kam hinzu“²²⁷ (« Je m’en excusay. Mais on m’apprint que j’avois tort ; le commandement du Roy s’y interposant aussi ».²²⁸). So kann er auch in einem Atemzug „Frömmigkeit, Beobachtung der Gesetze, Güte, Freigiebigkeit, Treue, Offenherzigkeit“ nennen²²⁹ (« Mais quant à la devotion, observance des loix, bonté, liberalité, loyauté,
Michel de Montaigne, Les Essais, III 7, S. 962. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 99. Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S. 1077. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 237. Michel de Montaigne, Les Essais, III 7, S. 962. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 102. Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S. 1079. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 186: „Er hat in seinen Amtsjahren als Parlamentsrat und dann als Bürgermeister von Bordeaux sowie später bei seinen diplomatischen Missionen den königstreuen Konservativismus ohne Schwanken zur Linie seines Handelns gemacht“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 51. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1050. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 222.
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franchise, il nous a bien servy, de n’en avoir pas tant qu’eux ».²³⁰). Denn – wie er in anderem Zusammenhang sagt – „Freigiebigkeit zeigt schon an, dass es eine Sache des freien Willens sei“²³¹ (« Car le nom mesme de la liberalité sonne liberté ».²³²).
3. Recht als Verwirklichung der inneren Freiheit So ist jedoch bei allen Konzessionen, die er der Monarchie seiner Zeit gegenüber macht und welcher er auch aufgrund seiner Herkunft aufrichtig gegenüber steht, Freiheit und Freigeistigkeit der Grundimpuls seines Denkens. Auch für ihn dient das Recht letztlich der Verwirklichung der Freiheit. Allerdings ist es eine eher nach innen gewandte Freiheit, ein Zugewinn an innerer Freiheit, die nicht auf äußere Umstürze und Revolutionen aus ist, sieht er doch in Bürgerkriegen das größtmögliche Übel und die schlimmste Gefährdung für die Gerechtigkeit.²³³ Die Befolgung der althergebrachten Gesetze verleiht Orientierung und immunisiert den Einzelnen auch gegen die Gefahren einer solipsistisch gelebten Freiheit – für Montaigne durchaus eine reale Gefährdung, weil seine Form der gelebten Freiheit während der Niederschrift seiner Essais etwas Monasterisches hatte, das nur er sich erlauben konnte, aber schwerlich verallgemeinert werden durfte. So ist Montaigne zwangsläufig einer der großen Individualisten in der Geistesgeschichte, was auch vor seinem Rechtsdenken nicht Halt macht.²³⁴
4. Montaignes Erbe Montaigne war sich allerdings jederzeit darüber im Klaren, dass der Preis, den er für diese Freiheit zu entrichten hatte, die unbedingte Befolgung der altherge-
Michel de Montaigne, Les Essais, III 6, S. 953. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 212. Michel de Montaigne, Les Essais, III 6, S. 948. Zu einer kühnen gedanklichen Synthese zusammengestellt von Hugo Friedrich, Montaigne, S. 185: „Wer, wie Montaigne, nicht naturrechtlich denkt, kann noch weniger revolutionär denken. Revolutionäres Denken setzt die Überzeugung einer naturrechtlich begründeten Rechtsrealität voraus, sowie den Begriff einer historischen Rechtsverderbnis“. – Dass aber alle Revolutionäre Naturrechtler gewesen seien, kann füglich bezweifelt werden. Friedrich August von Hayek, Die überschätzte Vernunft, in: Wirtschaftstheorie und Wissen. Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre (A1 der Gesammelten Schriften in deutscher Sprache, Hg. Viktor Vanberg), 2007, S. 109, hebt dies mit Recht hervor. Beide dürften in dieser Hinsicht einander geistesverwandt gewesen sein; vgl. Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014.
IV. Kontingenz der menschlichen Verhältnisse
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brachten Gesetze war. Auf ihnen gründete sein Hausstand, und aus ihnen ergab sich die Verpflichtung seinen Vorfahren gegenüber.Wenn er sich ihnen und seinen Mitmenschen gegenüber intellektuell überlegen fühlte, war ihm zugleich auch bewusst, dass er nur kraft dieser Anerkennung der althergebrachten Gesetze diejenige moralische Autorität hatte, die ihn auch zu einem großen Verwalter des öffentlichen Wohls machen konnte, wie seine erfolgreiche Zeit als Bürgermeister der Stadt Bordeaux bewies.²³⁵ Die Konstante der althergebrachten Gesetze war ihm immer auch eine Richtschnur, die zu seinen Vorfahren zurückreichte. Was sie ihm aufgebaut und zurückgelassen hatten, nahm er im doppelten Sinne als sein Erbe an.²³⁶ Sein womöglich noch wichtigeres Erbe war aber die ihm durch väterliche Erziehung gegebene erste Sprache, die er noch vor der französischen fließend sprach, nämlich das Lateinische. Denn die eingestreuten Sentenzen, die sich nicht selten auf die rechtlichen Verhältnisse bezogen, zeigen das reiche lateinische Erbe der Klassiker, auf das sich Montaigne stützen konnte und das er nicht nur aus Bildungsbeflissenheit zitierte. Das taciteische plurimae leges corruptissima res publica war ihm stete Mahnung.²³⁷ Es ist gerade nicht die Menge der Gesetze, sondern ihre Qualität, die sie durch Anciennität erhalten haben und über die Zeiten gültig machen.
IV. Kontingenz der menschlichen Verhältnisse Der Konstanz der althergebrachten Gesetze steht allerdings eine Kontingenz der menschlichen Verhältnisse gegenüber, aus denen wiederum unbeständige Gesetze erwachsen: „So sind die Menschen! Man lässt die Gesetze und Vorschriften den einen Weg hingehen, und wir halten uns auf einem andern; nicht bloß aus Sittenlosigkeit, sonder oft aus entgegenstehender Meinung und widrigem Urteile“²³⁸ (« Les hommes vont ainsin. On laisse les loix, et preceptes suivre leur voye, nous en tenons une autre: Non par desreiglement de mœurs seulement, mais par opinion souvent, et par jugement contraire ».²³⁹). Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 241: „Als Bürgermeister von Bordeaux war er mustergültig objektiv“. Siehe aber Helmut Pfeiffer, Montaignes Enteignungen, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität (Hg. Reto Luzius Fetz/ Roland Hagenbüchle/Peter Schulz), 1998, S. 641, 659: „Alles, was ihm seine Vorfahren hinterlassen haben, bleibt ihm fremd. Nicht umsonst zögert der Vater, dem Sohn das Erbe zu überlassen“. Publius Cornelius Tacitus, Annales III, 35. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 25. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1035.
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1. Eitelkeit als Triebfeder Diese Stelle steht nicht von ungefähr in dem Abschnitt über die Eitelkeit. Dieses Kernthema der französischen Moralisten – man denke an La Rochefoulcauld oder Chamfort²⁴⁰ – prägt auch Montaignes Rechtsverständnis, weil es zur conditio humana gehört.²⁴¹ Auch hier findet sich im Ausgangspunkt die beständige Bemerkung Montaignes, dass die Menschen eher ihren Neigungen folgen, die sie als Urteilskraft oder Vernunft ausgeben, als den Gesetzen, die andere für sie gemacht und die weiterreichende Erfahrungen berücksichtigt haben. Dass aber die jeweils eigene Urteilskraft auch immer nur relativ und befangen urteilen kann,während in die Gesetze mehr Weisheit aus unterschiedlichen Zeiten eingeflossen ist, bildet ein Grundprinzip des Montaignischen Gesetzverständnisses. Er dogmatisiert dies jedoch nicht, weil er die Fehlbarkeit und Beschränktheit menschlichen Urteilens – nicht zuletzt seines eigenen – kennt: „Die Urteilskraft hat bei mir ihren obrigkeitlichen Stuhl, wenigstens strebt sie sorgfältig danach“²⁴² (« Le jugement tient chez moy un siege magistral, au moins il s’en efforce soigneusement ».²⁴³). Er ist kein Lehrmeister, sondern auch hier nur Selbstbeobachter. Montaigne sieht die inneren Beweggründe und Abgründe, die jeden Menschen unterschiedslos zum potenziellen Verbrecher werden lassen können, oder ihn zumindest als solchen erscheinen lassen könnten: „Auch der ehrlichste Mensch, wenn er alle seine Handlungen und Gedanken nach den Gesetzen genau untersucht, wird finden, dass er in seinem Leben wenigstens zehnmal den Galgen verdient hat. Ja sogar solche Menschen, um die es äußerst schade und äußerst ungerecht wäre, wenn sie diese Strafe erleiden sollten“²⁴⁴ (« Il n’est si homme de bien, qu’il mette à l’examen des loix toutes ses actions et pensées, qui ne soit pendable dix fois en sa vie. Voire tel, qu’il seroit très-grand dommage, et très-injuste de punir et de perdre ».²⁴⁵). Auch hier ist das zu beobachten und auf Montaigne anzuwenden, was
Friedrich Nietzsche hat dies unter Berufung auf die im Text genannten zu einem Maßstab seiner Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit erhoben; näher Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 36, 55, 69. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 253, hebt Montaignes Bedeutung „für den Ursprung der großen französischen Psychologie“ hervor. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 177. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1121. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 27. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1036.
IV. Kontingenz der menschlichen Verhältnisse
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Nietzsche später über La Rochefoucauld sagen wird, dass er immer „ins Schwarze trifft – nämlich letztlich ins Schwarze der menschlichen Natur“.²⁴⁶
2. Vollständige Gesetzesbefolgung als Utopie Vollständige Gesetzesbefolgung ist also eine Utopie und als solche letztlich gar nicht wünschbar: Die Gesamtheit der Gesetze überfordern den Menschen angesichts seiner Willensschwäche. Gesetze vermitteln den Anschein von Beständigkeit, garantieren aber keine Gerechtigkeit. An sie kann und soll man sich halten, darf aber, da sie Menschenwerk sind, nicht darauf vertrauen, dass sie Gerechtigkeit garantieren: „Wogegen andere kein Gesetz beleidigen und deswegen doch von keinem tugendhaften Manne das geringste Lob verdienen, so dass ihnen die Philosophie mit allem Recht die Staupe geben lassen könnte. So ungleich und verschroben ist dieses Verhältnis. Wir sind bei weitem noch keine rechtschaffenden Menschen in den Augen Gottes. Wir können es nicht einmal in unsern eigenen sein“²⁴⁷ (« Et tel pourroit n’offencer point les loix, qui n’en meriteroit point la louange d’homme de vertu: et que la Philosophie feroit très-justement foiter: Tante ceste relation est trouble et inegale. Nous n’avons garde d’estre gens de bien selon Dieu: nous ne le sçaurions estre selon nous ».²⁴⁸). Für Montaigne ist auch die Gerechtigkeit vor Gott eine Utopie, weil sich der Mensch immer schon selbst im Wege steht, wenn er gerecht sein möchte:²⁴⁹ „Gott ist allerdings allein unser einziger Beschützer und kann alles, um uns Hilfe zu verleihen; allein, so gütig und gnädig er ist (…): so ist er doch ebenso gerecht als gnädig und mächtig und übt weit öfter seine Gerechtigkeit als seine Macht und verleiht uns seine Gaben mehr nach dieser als nach unserem Begehren. (…) Gottes Gerechtigkeit und Allmacht sind unzertrennlich“²⁵⁰ (« Il est bien nostre seul et unique protecteur, et peut toutes choses à nous ayder: (…) il est pourtant autant juste, comme il est bon, et comme il est puissant: mais il use bien plus souvent de sa justice, que de son pouvoir, et nous favorise selon la raison d’icelle, non selon noz demandes (…). Sa justice et sa puissance sont inseparables ».²⁵¹). Wie weit ist
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, I 38. Zu dieser Stelle grundlegend Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Die französische Klassik (Hg. F. Nies/K. Stierle), 1985, S. 81 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 28. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1036. Francis Jeanson, Montaigne, 1958, S. 62. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 282. Michel de Montaigne, Les Essais, I 56, S. 336.
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der Mensch davon in seiner Unzulänglichkeit und Gebundenheit in die condition humaine verschieden: Die Befangenheit in den eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, die Unerfüllbarkeit der gesetzlichen Gebote, vor allem aber die stets drohende Selbstwidersprüchlichkeit menschlichen Verhaltens entfernen den Menschen von jeglicher Idee der Gerechtigkeit. So kann es nicht verwundern, dass gerade Nietzsche Montaigne so viel verdankte und auch sein Gerechtigkeitsdenken demjenigen Montaignes in vielerlei Hinsicht ähnlich ist.²⁵² Auch für Montaigne sind Ideale eher Wünschbarkeiten als real erfüllbare Perspektiven.²⁵³ Ihnen auch nur nah zu kommen, geschweige denn entsprechen zu wollen, hat etwas Utopisches. Den Maßstäben göttlicher Gerechtigkeit entsprechen zu wollen, ist deswegen aussichtslos, weil die menschliche Verwirrung sich nicht zuletzt in den Gesetzen spiegelt, deren älteste und am längsten bestehende immerhin den Schein der Verlässlichkeit und Legitimation bieten.
3. Zweifel an der menschenmöglichen Gerechtigkeit So ist Montaignes Skepsis gegenüber den Gesetzen letztlich auch ein durchgängiger Zweifel an der menschenmöglichen Gerechtigkeit. Da sich die Menschen nicht einmal den selbstgesetzten Regeln beständig unterwerfen können wollen, ohne zu ihren Gunsten immer wieder davon abzuweichen oder einer anderweitigen Willensrichtung zu unterliegen, vermag Montaigne auch – immer zu sich selbst beobachtend – nicht anzunehmen, dass die Gesetze Gerechtigkeit herzustellen vermögen, sind sie doch von eben jenen Menschen geschaffen, die unter Umständen leben, deren Beliebigkeit sich in ihren Anordnungen spiegelt: „Der Mensch macht sich selbst solche Vorschriften, nach welchen er notwendigerweise in Vergehungen fallen muss. Es ist eben nicht sehr klüglich gehandelt, seine Verbindlichkeiten nach dem Maße eines andern und nicht nach seinem eigenen auszumessen. Warum gibt er Gesetze, von welchen er vorher weiß, dass niemand sie halten wird? Deucht es ihm ungerecht, wenn einer das nicht tut, was ihm unmöglich ist zu tun? Die Gesetze, welche uns zu Dingen verbinden, die wir nicht vermögen, bestrafen uns über unser Unvermögen“²⁵⁴ (« L’homme s’ordonne à soy mesme, d’estre necessairement en faute. Il n’est guere fin, de tailler son obligation,
Eingehend Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, 36, 55. Zu den moralischen Konsequenzen und dem Bezug zur humaine condition hellsichtig Hugo Friedrich, Montaigne, S. 175: „Die Unvermeidlichkeit amoralischer Entscheidungen im Praktischen ergibt sich für Montaigne indessen weniger aus politischer Gesinnung als aus seiner Grundeinsicht in die Brüchigkeit des Menschentums, das keiner Idealität fähig ist“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 28.
V. Äußeres Recht und innere Freiheit
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à la raison d’un autre estre, que le sien. À qui prescript-il ce, qu’il s’attend que personne ne face? Luy est-il injuste de ne faire point ce qu’il luy est impossible de faire? Les loix qui nous condamnent, à ne pouvoir pas, nous condamnent de ce que nous ne pouvons pas ».²⁵⁵). Gesetzeserlass, Gesetzesvollzug und Gesetzesbefolgung erscheinen auf diese Weise als Paradoxa. Es ist eine immanente Widersprüchlichkeit in ihnen, die letztlich immer auf dieselbe – später Kantisch gestellte – Frage zurückweist: Was ist der Mensch?²⁵⁶ Bei Montaigne ist sie freilich subjektiv gestellt: Wer ist der Mensch Montaigne?²⁵⁷
V. Äußeres Recht und innere Freiheit Montaignes Konstante sind also die alteingeführten Gesetze und althergebrachten Bräuche, die seinem Leben und Rechtsdenken Stabilität verleihen. Zugleich dient er seinem König treu und baut regelrecht auf dieses Wechselspiel von etablierter Ordnung und gesetzlichem Fundament: „Solange noch das Bild der alten und angenommenen Gesetze dieser Monarchie in irgendeinem Winkel derselben sichtbar ist, bleibe ich darin gepflanzt. Sollten sie unglücklicherweise dahin geraten, dass sie sich einander widersprächen und hinderten und zwei Parteien hervorbrächten, worunter die Wahl zweifelhaft und schwer wäre, so würde meine Wahl gern dahingehen, zu entweichen und mich diesem Sturme zu entziehen. Gleichwohl kann die Natur mir dabei die Hand reichen oder auch der Zufall des Krieges“²⁵⁸ (« Autant que l’image des loix receues, et anciennes de ceste monarchie, reluyra en quelque coin, m’y violà planté. Si elles viennent par malheur, à se contredire, et empescher entr’elles, et produire deux parts, de chois doubteux, et difficile: mon election sera volontiers, d’eschapper, et me desrober à ceste tempeste: Nature m’y pourra prester ce pendant la main: ou les hazards de la guerre ».²⁵⁹).
Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1036 f. Immanuel Kant, Akademieausgabe, Band IX, S. 25. Präziser Hugo Friedrich, Montaigne, S. 196: „Montaigne hat die Frage, was der Mensch sei, durch die genauere ersetzt: was sind die Menschen? Aber dabei bleibt es nicht. Er wird noch genauer: was bin ich? Der verlässlichste Weg zur menschlichen Wirklichkeit, die umso ursprünglicher hervortritt, je individueller sie ist, führt durch das eigene Sosein“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 34. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1040.
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§ 2 ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze
1. Unmöglichkeit alternativer Auslegung Das größtmögliche Unglück, das hinter diesen Zeilen steht, ist für Montaigne auch hier wieder der Bürgerkrieg. Er destruiert die öffentliche Ordnung, kündet Unheil und zerstört alles, was Montaigne lieb und teuer ist. Interessanter als diese politische Folgerung ist allerdings die immanente rechtstheoretische Prämisse, die darin besteht, dass die Geltung alteingesessener und eingeführter Gesetze im Wege konträrer Auslegung in Frage gestellt werden könnte. Offenbar gehört es für ihn zum Charakteristikum der althergebrachten Gesetze, dass sie im Grundsatz keiner Auslegung fähig sind, die etwas von ihrer Grundtendenz Abweichendes nahelegt. Gerade darin erschöpft sich der Sinn dieser althergebrachten Formen hinsichtlich des Rechts und der Landessitte. Die Alternativlosigkeit, mit der das Leben seinen Gang geht und das Recht dieses Leben formt, ist für Montaigne gleichsam der Kompass.
a) Alternativlose Gesetzesgeltung Aber es ist in dieser Aussage noch etwas anderes enthalten, das zum Ausgangspunkt zurückführt, nämlich Montaignes Verständnis der Gesetzesgeltung. Denn nicht von ungefähr spricht er hier davon, dass die Geltung der alteingeführten Gesetze durch widersprüchliche Auslegung behindert werden könnte. Diese Aussage steht in einem inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang zu der eingangs zitierten Stelle, die da lautet: „Und keine Gesetze stehen in ihrem wahren Ansehen, als diejenigen, denen Gott schon eine lange Dauer von alters her gegeben hat: so, dass niemand ihren Ursprung weiß, noch ausfindig machen kann, ob sie jemals anders gewesen sind“²⁶⁰ (« Et nulles loix ne sont en leur vray credit, que celles ausquelles Dieu a donné quelque ancienne durée: de mode, que personne ne sçache leur naissance, ny qu’elles ayent jamais esté autres ».²⁶¹). Die wahre Geltung der alten und seit unvordenklicher Zeit bestehenden Gesetze zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass sie alternativlos gelten, dass sie keinen Raum für Umstürze schaffen und dass sie im Kern konservativ konzipiert sind.
b) Selbstentfremdung durch Gesetze Vor allem Konservativismus steht allerdings bei Montaigne sein Blick auf sich selbst. Vorschriften und Sitten, welche die Ordnung aufrechterhalten, sind ein
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 205. Michel de Montaigne, Les Essais, I 43, S. 292.
V. Äußeres Recht und innere Freiheit
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Mittel zum Zweck, allerdings kein Selbstzweck. Hugo Friedrich bemerkt jedoch im Hinblick auf den Konservativismus treffend, „dass er bei Montaigne genau so eine überpolitische Bedeutung hat wie die Kritik am Rechtsleben eine überjuristische. Er begründet von anderer Seite her den Grundgedanken, dass der Mensch in einem Geflecht antinomischer Verhältnisse steht, deren Geheimnis nicht gestört werden darf. Ungerechtigkeit ist immer noch besser denn Unordnung“.²⁶² Jegliche von außen gesetzte Norm birgt freilich immer auch das Risiko, den Menschen von sich selbst zu entfernen: „Der größte Teil aller Regeln und Vorschriften der Welt nimmt diese Wendung, um uns aus unserer Ruhe, auf öffentliche Stellen, zum Dienst der bürgerlichen Gesellschaft zu treiben. Sie meinen, was Rechtes getan zu haben, wenn sie uns von uns selbst abwendig machen und zerstreuen, in der Voraussetzung, dass wir nur zu fest an uns selbst hielten, durch ein zu natürliches Band, und haben nichts versäumt, was zu diesem Behufe gesagt werden konnte“²⁶³ (« La plus part des regles et preceptes du monde prennent ce train, de nous pousser hors de nous, et chasser en la place, à l’usage de la societé publique. Ils ont pensé faire un bel effect, de nous destourner et distraire de nous, presupposans que nous n’y tinsions que trop, et d’une attache trop naturelle; et n’ont espargné rien à dire pour cette fin ».²⁶⁴). Hier kommt immer wieder jene scheinbar solipsistische Grundtendenz zum Zuge, die bei Montaigne zwar nie offen ausgelebt wird, aber immer dann in Erinnerung gerufen wird, wenn die von außen gesetzten Normen erdrückend werden. Die innere Freiheit geht ihm über alles: „Die wahre Freiheit besteht darin, dass man alles über sich selbst vermag: Potentissmus est, qui se habet in potestate“²⁶⁵ (« La vraye liberté c’est pouvoir toute chose sur soy. Potentissimus est qui se habet in potestate ».²⁶⁶).
2. Freiheit vom Recht Zu dieser Freiheit gehört für Montaigne auch eine Freiheit vom Recht. Da er weiß, dass „unsere größten Beunruhigungen aus lächerlichen Gründen entstehen und von ebensolchen Triebfedern kommen“²⁶⁷ (« Noz plus grande agitations, ont des ressorts et causes ridicules ».²⁶⁸), hat er die Konsequenz gezogen, sich von allen
Hugo Friedrich, Montaigne, S. 186. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 53. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1051. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 124. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1092. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 75. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1064.
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Zwistigkeiten dergestalt frei zu machen, dass er ihnen aus dem Weg geht: „Mit einem Wort: ich habe auf meiner Lebensreise dahin gestrebt, zur guten Stunde sei es gesagt, dass ich bis diesen Augenblick in Ansehung aller Prozesse noch Jungfrau bin, ob ich gleich oft sehr lockenden Anlass gehabt hätte, sehr gerechte Prozesse anzufangen, wenn es mir beliebt hätte dazu meine Ohren zu leihen. Ebenso jungfräulich bin ich in Rücksicht auf allen Zank und habe bald ein hübsches langes Leben hingebracht, ohne zu schelten oder gescholten zu werden und ohne mich anders als bei meinem Namen nennen zu hören.“²⁶⁹ (« En fin j’ay tant fait par mes journées, à la bonne heure le puissé-je dire, que me voicy encore vierge de procès, qui n’ont pas laissé de se convier plusieurs fois à mon service, par bien juste tiltre, s’il m’eust pleu d’y entendre. Et vierge de querelles : J’ay sans offence de poix, passive ou active, escoulé tantost une longue vie : et sans avoir ouy pis que mon nom ».²⁷⁰). Es ist dies Ausdruck seiner stoischen Grundhaltung, nach der jeglicher Aufruhr der tranquilitas animi zu vermeiden ist.²⁷¹ Emotionaler Aufwand und Ertrag stehen immer in einem Missverhältnis, wenn kleinteilige Querelen vor Gericht ausgefochten werden: „Solche elende Behelfe und Ausflüchte lasst uns der juristischen Schikane überlassen“²⁷² (« Laissons ces vils moyens, et ces expediens, à la chicane du palais ».²⁷³).
3. Falschheit des Menschen und Verfälschung des Rechts Hier kommt erneut die Geringschätzung gegenüber der Jurisprudenz und ihren Vertretern zum Ausdruck. Von der wahren Philosophie sind sie denkbar weit entfernt. Doch liegt der Ursprung wiederum in der Verwirrung und Ungerechtigkeit der Menschen selbst: „Die meisten Verträge nach unsern heutigen Streitigkeiten sind schimpflich und lügenhaft. Wir suchen nur den Dingen einen hübschen Anstrich zu geben und verraten gleichwohl unsere wahren Absichten, deren wir nicht Wort haben wollen. Wir verkleistern die Tatsache. Wir wissen wohl, wie wir es gesagt und gemeint haben, das wissen auch die, die dabei stehen und unsere Freunde, denen wir unsern Vorteil haben zu verstehen geben wollen. Es geschieht auf Kosten unserer Freimütigkeit und auf Kosten der Ehre unserer Tapferkeit, dass wir unsre Meinung ableugnen, und in der Falschheit Kaninchenlöcher suchen, um uns zu vertragen.Wir strafen uns selbst Lügen um uns aus
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 75. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1063 f. Lucius Annaeus Seneca, De tranquilitate animi. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1065.
VI. Nachsicht gegenüber der Rechtspflege
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dem Handel zu ziehen, wenn wir andere Lügen gestraft haben“²⁷⁴ (« La plus part des accords de noz querelles du jourd‘huy, sont honteux et menteurs: Nous ne cherchons qu’à sauver les apparences, et trahissons cependant, et desadvouons noz vrayes intentions. Nous plastrons le faict. Nous sçavons comment nous l’avons dict, et en quel sens, et les assistans le sçavent, et noz amis à qui nous avons voulu faire sentir nostre advantage. C’est aux despens de nostre franchise, et de l’honneur de nostre courage, que nous desadvouons, nostre pensées, et cherchons des conillieres en la fauceté, pour nous accorder. Nous nous desmentons nous mesmes, pour sauver un desmentir que nous avons donné à un autre ».²⁷⁵). Diese schonungslose Analyse der eigenen Triebfedern des Handelns, der verborgenen Motive und der Unaufrichtigkeiten sind der eigentliche Grund für die Eitelkeit der gerichtlichen Auseinandersetzung. Äußeres Recht, wie es zugesprochen oder zuerkannt wird, ist für Montaigne immer nur eine Frage des Scheins: Wer obsiegt, kann sich selbst noch darüber täuschen, dass er in Wahrheit moralisch verloren hat, weil er den günstigen Prozesserfolg nur seinen Fähigkeiten zu verdanken hat, die ihm ermöglichten, scheinbar aufrichtiger vorzuspiegeln, was ihm günstig ist.
VI. Nachsicht gegenüber der Rechtspflege Aus dieser Haltung entsteht eine Nachsicht gegenüber jenen, denen die Rechtspflege obliegt: „Ich tadle keine Obrigkeit, welche schläft, wenn nur diejenigen, die unter ihrer Aufsicht stehen, ebensogut schlafen als sie. Die Gesetze schlafen auch“²⁷⁶ (« Je n’accuse pas un magistrat qui dorme, pourveu que ceux qui sont soubs sa main, dorment quand et luy. Les loix dorment de mesme ».²⁷⁷).
1. Daseinsweise der Gesetzesgeltung Was auf den ersten Blick sarkastisch anmutet, enthüllt bei näherer Betrachtung eine Einsicht Montaignes über die Gesetze: Wenn er sagt, dass sie schlafen, so ist dies unter Zugrundelegung seines Gesetzesverständnisses der eigentliche und spezifische Zustand der Geltung. Denn wahre Geltung kommt wie gesagt den Gesetzen zu, die schon so lange in Kraft sind, dass niemand mehr weiß, ob es jemals einen anderen Rechtszustand gegeben hat. Diese Gesetze sind einfach da,
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1065. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 82. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1068.
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§ 2 ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze
sie stehen in Geltung, regieren aber nicht aktiv in die Angelegenheiten der Rechtsunterworfenen hinein. Mit dem Bild des Schlafens hat Montaigne also deutlich gemacht, dass gerade den ältesten und ehrwürdigsten Gesetzen eine gewisse Passivität zu Eigen ist. Sie gewähren dem Einzelnen Freiraum, weil sie zwar die alte Ordnung stützen und aufrechterhalten, aber mit Bedacht keinen aktiv gestaltenden Charakter haben.
a) Quietistische Gesetzestreue In dieser Grundhaltung tritt ein gewisser Quietismus Montaignes zutage,²⁷⁸ den er auch ganz ausdrücklich kenntlich macht: „Ich setze nie die Gesetze aus den Augen“ (« Je ne desempare jamais les loix ».²⁷⁹). Die Gesetzestreue ist für ihn zunächst eine Garantie für ein bequemes Leben. Darüber hinaus aber entspricht sie seinem moralischen Verständnis: „Solche Sachen, die ich für bös erkenne, als die sind, seinen Nächsten Schaden zufügen, den Obern ungehorsam sein, es sei nun Gott oder es seien Menschen, die vermeide ich aufs sorgfältigste“²⁸⁰ (« Les choses que je sçay estre mauvaises, comme d’offencer son prochain, et desobeir au superieur, soit Dieu, soit homme, je les evite soigneusement ».²⁸¹). Was selbstgerecht und philisterhaft wirkt, gründet auf der Einsicht, dass das ruhige und auf sich selbst fixierte Leben nur ermöglicht werden kann, wenn der Handelnde auch die Willkürsphären der anderen achtet und zu beinträchtigen sich enthält. Es geht ihm nicht darum, eine neue Ordnung zu errichten, sondern die Bestandsgarantie der alten zu erhalten: „Ich liebe solche, wenn sie durch Gesetze und Religion nicht erschaffen, sondern vervollkommnet und erhöht ist; wenn sie sich fühlt, dass sie ohne fremde Beihilfe aufrecht stehen kann; wenn sie aus ihrer eigenen Wurzel gewachsen, aus dem Samen der allgemeinen Vernunft emporkeimt, welcher jedem nicht ausgearteten Menschen eingedrückt ist“²⁸² (« Je l’aime telle que loix et religions, non facent, mais parfacent, et authorisent: qui se sente dequoy se soustenir sans aide: née en nous de ses propres racines, par la semence de la raison universelle, empreinte en tout homme non desnaturé ».²⁸³). Wo Montaigne gezwungen war, Recht zu sprechen, hat er Nachsicht walten lassen: „Auch hasse ich keinen Menschen auf der Welt und bin so weichmütig, jemanden
Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 261, unter Verweis auf Pascal. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1090. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 138. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1099 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 151. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1106 f.
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zu beleidigen, dass ich solches nicht einmal zum Dienste der Wahrheit tun kann. Als mein Amt es erforderte, Missetäter zu verurteilen, habe ich lieber gegen die strenge Gerechtigkeit anstoßen wollen“²⁸⁴ (« Aussi ne hay-je personne. Et suis si lasche à offencer, que pour le service de la raison mesme, je ne le puis faire. Et lors que l’occasion m’a convié aux condemnations criminelles, j’ay plustost manqué à la justice ».²⁸⁵).
b) Opfer prozeduraler und generalpräventiver Gerechtigkeitsvorstellungen Spezial- und Generalprävention sind für Montaigne keine tauglichen Kategorien;²⁸⁶ ihm geht es um die Wirkung der Tat und ihre Vergeltung auf ihn, Montaigne selbst. Sein Erfolg bei seinen Mitbürgern im Rahmen der Verwaltung gab ihm Recht, so dass man nicht sagen kann, er habe die Gerechtigkeit im Gemeinwesen der eigenen Bequemlichkeit geopfert. Die Absurdität eines in formeller Starre verhafteten generalpräventiven Prinzipienfanatismus’ zeigte ihm seine Erfahrung:²⁸⁷ „Folgendes geschah zu meiner Zeit. Gewisse Menschen wurden wegen eines Mordes zum Tode verdammt. Das Urteil ward, wo nicht gesprochen, doch wenigstens beschlossen und angegeben. Gerade um diese Zeit erfuhren die Richter, von einer andern benachbarten niederen Gerichtsbarkeit, dass solche einige Verbrecher eingezogen habe, welche sich zu jenem Morde frei bekannten und über die ganze Sache ein unbezweifelbares Licht verbreiteten. Man ging darauf zu Rate, ob man gleichwohl die Vollziehung des Urteils über die ersten aufschieben dürfte? Man erwog die Neuheit des Beispiels und was es für Folgen haben könne, künftige Urteilssprüche zu verzögern; die Verurteilung sei doch nach aller Form Rechtens geschehen und die Richter hätten sich nichts vorzuwerfen. Kurz, jene armen Schlucker wurden den Formeln der Rechtspflege aufgeopfert“²⁸⁸ (« „Cecy est advenu de mon temps. Certains sont condamnez à la mort pour un homicide; l’arrest sinon prononcé, au moins conclud et arresté. Sur ce poinct, les juges sont advertis par les officiers d’une cour subalterne,voisine, qu’ils tiennent quelques prisonniers, lesquels advouent disertement cet homicide, et apportent à tout ce faict, une lumiere indubitable. On delibere, si pourtant on doit interrompre et differer l’execution de l’arrest donné contre les premiers. On considere la nouvelleté de l’exemple, et sa consequence, pour accrocher les ju-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 157. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1110. Etwas anders Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 43. Siehe auch Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 169 f.
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gemens : Que la condemnation est juridiquement passée ; les juges privez de repentance. Somme, ces pauvres diables sont consacrez aux formules de la justice ».²⁸⁹). Eine Zeit, in der die Wiederaufnahme des Verfahrens noch ein Fremdwort war, ließ es zu, dass der Einzelne zum Objekt des Strafverfahrens herabgewürdigt wurde. Montaigne hingegen war intuitiv klar, dass eine rein prozedurale Gerechtigkeitsvorstellung diesen Namen nicht verdiente,wenn sie der materialen evident zuwiderliefe. Die historische Völkervergleichung lehrt Montaigne immerhin, dass zumindest in zivilrechtlich gelagerten Fällen, in denen es nicht um Leben und Tod geht, ein angemessener Ausgleich durch Maßnahmen distributiver Gerechtigkeit hergestellt werden kann: „Philipp oder ein anderer beugte dergleichen Unfällen folgendermaßen vor. Er hatte durch einen gefällten Spruch einen Menschen verurteilt, einem anderen eine große Geldbuße zu bezahlen. Einige Zeit nachher entdeckte sich die Wahrheit, dass er ungerecht gerichtet hatte. Auf einer Seite stand die gute Sache, auf der anderen die gerichtliche Form. Er befriedigte allerdings beide, indem er den Spruch gültig bleiben ließ und aus seinem Beutel den Verurteilten schadlos hielt. Aber in diesem Fall war Ersatz möglich. Meine armen Teufel hingegen wurden unwiderruflich gehängt.Wie viele Urteile habe ich erlebt, die weit sträflicher waren als das Verbrechen!“ ²⁹⁰ (« Philippus, ou quelque autre, prouveut à un pareil inconvenient, en cette maniere. Il avoit condamné en grosses amendes, un homme envers un autre, par un jugement resolu. La verité se descouvrant quelque temps après, il se trouva qu’il avoit iniquement jugé : D’un costé estoit la raison de la cause : de l’autre costé la raiso des formes judiciaires. Il satisfit aucunement à toutes les deux, laissant en son estat la sentence, et recompensant de sa bourse, l’interest du condamné ».²⁹¹) Die Wurzel des Übels liegt offenbar nicht zuletzt in einem autoritativen Rechtsverständnis, das Ansehensverluste der Rechtspflege mehr fürchtet als Einbußen materialer Gerechtigkeit. Da es aber auch bei striktester Einhaltung formaler Kautelen letztlich immer Menschen sind, die urteilen, sind für Montaigne Ungerechtigkeiten vorprogrammiert.
2. Gesetz und Erfahrung Der für das Rechts- und Gesetzesverständnis ergiebigste und wichtigste Teil der Essais findet sich nicht von ungefähr in dem Abschnitt über die Erfahrung. Auch Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1117. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 170, der darauf verweist, dass es sich nach Plutarch um Philipp von Mazedonien handelt. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1117 f.
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wenn man den sonst oft eher verwirrenden als erhellenden Überschriften Montaignes schwerlich trauen kann, wird hier bereits äußerlich deutlich, dass Montaigne einem empiristischen Gesetzesverständnis zuneigt. Gesetze sind für ihn immer auch Erfahrungswerte. Ob sie sich bewähren, hängt von der Erfahrung ab. Welche Gesetze am längsten währen und kraft ihrer Ehrwürdigkeit in Geltung bleiben – also mit seinen Worten: wahre Geltung erlangen -, hängt davon ab, wie lange sie in Geltung stehen sowie von der Dauer der Geltung wiederum ihre Altehrwürdigkeit bestimmt ist. Erfahrung und Geltungsdauer sind somit ein Eckpfeiler der Rechtsordnung, so wie umgekehrt die wahre Geltung sich nach der positiven Empirie bemisst. Zum empirischen Bestand gehören für Montaigne freilich auch die Gesetze selbst, die er mitunter zwischen tatsächlichen Begebenheiten aufzählt: „Man liest beim Xenophon das Gesetz, welches manniglich verbietet zu Fuße zu reisen, wenn er ein Pferd hat“²⁹² (« On lit en Xenophon la loy deffendant de voyager à pied, à homme qui eust cheval ».²⁹³). Faktizität und Normativität gehen ineinander über.²⁹⁴ Die Gesetze geben Zeugnis von bestimmten menschlichen Verhaltensweisen, sonst wären sie nicht erlassen worden. Ob das, was sie ge- oder verbieten, gut oder schlecht ist, lässt sich nicht mit letzter Gültigkeit ermessen: „Wirklich findet man etwas Ähnliches in den Gesetzen der Griechen, nach welchen derjenige, welcher vom Feind den Leichnam eines Erschlagenen begehrte, um ihn zu beerdigen, dem Sieg entsagte, und es ihm nicht mehr gestattet war, Waffen und Siegeszeichen aufzuhängen“²⁹⁵ (« De vray, en chose voisine, par les loix Grecques, celuy qui demandoit à l’ennemy un corps pour l’inhumer, renonçoit à la victoire, et ne luy estoit plus loisible d’en dresser trophée ».²⁹⁶). Es gibt, wie das Beispiel zeigt, ohnehin deren zu viele, als dass sie alle richtig oder auch nur sinnvoll sein könnten, ihre zeitweise Existenz jedenfalls spiegelt ein bestimmtes Verhalten. Ein Gesetz ist insofern ein anthropologisches Indiz ohne jede Richtigkeitsgewähr. Die Vielzahl von Gesetzen ist für Montaigne eher ein Ausschlusskriterium für eine effektive und gute Rechtsordnung, wie er anhand einer kritischen Überprüfung des klassischen Römischen Rechts ermittelt: „Daher bin ich mit der Meinung desjenigen nicht zufrieden, welcher durch die Menge der Gesetze die Willkür der Richter zu binden trachtete, indem er ihnen jeden Bissen vorschnitt. Er bedachte
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 236. Michel de Montaigne, Les Essais, I 48, S. 309. Bildhaft Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 14: Die Welt, die Montaigne anklagt, ist ein Labyrinth, in dem die Täuschungen sozusagen Gesetzeskraft haben“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 20. Michel de Montaigne, Les Essais, I 3, S. 41.
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nicht, dass das Feld der Auslegung ebenso frei und weitläufig ist als das Feld der Gesetzgebung“²⁹⁷ (« Pourtant, l’opinion de celuy-là ne me plaist guere, qui pensoit par la multitude des loix, brider l’authorité des juges, en leur taillant leurs morceaux. Il ne sentoit point, qu’il y a autant de liberté et d’estendue à l’interpretation des loix, qu’à leur façon ».²⁹⁸).
3. Kritik an inflationärer Gesetzgebung Montaignes tendenziell abwehrende Haltung gegenüber dem Römischen Recht gründet wohl ungeachtet seiner juristischen Studien weniger auf profunder Kenntnis als vielmehr auf instinktiver Skepsis.²⁹⁹ Allerdings findet sich bei Montaigne eine aufschlussreiche Begründung des Rechtssatzes ultra posse nemo obligatur: „Wir können zu nichts, das unser Vermögen und unsere Kräfte übersteigt, verpflichtet sein; und das zwar deswegen, weil die Wirkung und Erfüllung ganz und gar nicht in unserer Macht stehen; und weil, genau betrachtet nichts in unserer Macht steht, als der Wille: in diesem gründen sich notwendigerweise alle Regeln für die Pflichten des Menschen“³⁰⁰ (« Nous ne pouvons estre tenus au delà de nos forces et de nos moyens. À cette cause, par ce que les effects et executions ne sont aucunement en nostre puissance, et qu’il n’y a rien en bon escient en nostre puissance, que la volonté: en celle là se fondent par necessité et s’establissent toutes les reigles du devoir de l’homme ».³⁰¹). Der zuletzt genannte Teil der Begründung scheint Kants Moraltheorie vorwegzunehmen. Zugleich enthält die vorangehende Prämisse, wonach wir letztlich nur über den eigenen Willen und die eigenen Begierden gebieten können, einen Anklang an Epiktet.³⁰² Bezüglich des
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 159. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1111 f. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 16 f., erklärt dies in anderem Zusammenhang unter Hinweis auf I, 23 der Essais mit der mangelnden Rezeption des Römischen Rechts in Frankreich, sodass auch „Montaignes Kritik daran nur als Teil einer schon zur Tradition gewordenen Abwehrreaktion zu verstehen ist“. – Bedenken bestehen freilich bezüglich der Ausschließlichkeit dieser Begründung („nur“), weil die Originalität der eigentümlichen Begründung Montaignes gerade keinem Stereotyp folgt. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 44. Biographisch aufschlussreich zu dem genannten Rechtssatz ultra posse nemo obligatur Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, 2014, S. 426 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 7, S. 53. Epiktet, Handbüchlein der Moral (Reclam, übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann, 1992) 1, S. 5: „Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser
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Letzteren ist von Interesse, dass er – Epiktet – neben Montaigne Gegenstand des eingangs zitierten Gesprächs mit M. de Saci war, in dem er die beiden Denker einander gegenüber gestellt hat.³⁰³
a) Unzahl von Gesetzen als Skandalon Montaigne konnte noch nicht wissen, dass das Allgemeine Preußische Landrecht Jahrhunderte später versuchte, in einer Unzahl von Vorschriften eine möglichst lückenlose Rechtsordnung zu kodifizieren. Sein untrügliches Judiz sagte ihm jedoch, dass dies nicht der richtige Weg sein könne. Er hat dies in einer rechtstheoretisch zeitlosen Einsicht verdeutlicht, indem er die Auslegung selbst zum Skandalon machte. Seine religiöse Erziehung gab ihm die hermeneutische Vieldeutigkeit der Bibel als mahnendes Beispiel ein, deren mannigfaltige Auslegungsmöglichkeiten zu allen möglichen Ergebnissen gelangen konnten. Es ist bezeichnend für Montaignes Gesetzesverständnis, dass er gerade diejenigen Unklarheiten in den Vordergrund stellt, die sich im Laufe der Zeit ergeben können, je nach unterschiedlichen Anschauungen und Wertvorstellungen. Montaignes empirisches Vorgehen zeigt sich aber auch daran, dass er die Missstände seiner Zeit erfahrungsgemäß auf die Rechtskultur bezieht: „Die Auslegung gewährt ebensoviel Bitterkeit und Feindseligkeit als die Erfindung.Wir sehen deutlich, wie sehr ein solcher Gesetzhaufen sich betrügt. Denn wir haben in Frankreich mehr Gesetze als die ganze übrige Welt zusammengenommen, und mehr als für alle übrigen Welten des Epicurus hinreichend wäre: ut olim flagitiis, sic nunc legibus laboramus. ³⁰⁴ Dennoch bleibt unsern Richtern so vieles zu überlegen und zu entscheiden, dass kein anderer so viele Freiheit und Willkür genießt. Was haben denn unsere Gesetzgeber dadurch gewonnen, dass sie hunderttausend Arten von besonderen Tatsachen ausgewählt und darauf hunderttausend Gesetze angewendet haben? Diese Zahl hat nicht das geringste Verhältnis mit der unendlichen Verschiedenheit menschlicher Handlungen. Die Vervielfältigung unserer Erfindungen wird niemals an die Verschiedenheit der Beispiele reichen“³⁰⁵ (« Nous voyons, combien il se trompoit. Car nous avons en France, plus de loix que tout le reste du monde ensemble ; et plus qu’il n’en faudroit à reigler tous les mondes d’Epicurus: Ut olim flagitiis, sic nunc legibus laboramus: et si avons tant laissé à opiner et
Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht“. Siehe auch Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs. Ein Versuch mit Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik 11 (Hg. Ders./R. Warning) 1984. Publius Cornelius Tacitus, Annales, III 25. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 160.
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decider à nos juges, qu’il ne fut jamais liberté si puissante et si licencieuse. Qu’ont gaigné nos legislateurs à choisir cent mille especes et faicts particuliers, et y attacher cent mille loix ? Ce nombre n’a aucune proportion, avec l’infinie diversité des actions humaines. La multiplication de nos inventions, n’arrivera pas à la variation des exemples ».³⁰⁶).
b) Inkommensurabilität der Gesetze Diese Stelle ist nicht beliebig herausgegriffen, sondern veranschaulicht Montaignes Denken im Allgemeinen und sein Rechtsdenken im Besonderen, wie Hugo Friedrich in einer musterhaften Auslegung vorgeführt hat, die deshalb ungekürzt wiedergegeben zu werden verdient, weil sie den Bogen zum gesamten Verständnis Montaignes spannt: „Die Stelle ist klassisch für Montaigne, für moralistisches Denken überhaupt. Scharf zeigt sie das Missverhältnis zwischen dem Gegebenen auf der einen Seite (der unendlichen Verschiedenheit menschlichen Verhaltens) und dem Ausgewählten und Fixierten auf der anderen (hunderttausend in Gesetzen vorbedachte Fälle). Selbst die differenzierteste Verästelung der Gesetzgebung kommt der unendlichen Verästelung des Faktischen nicht nach. Immer bleibt ein Rest, der nicht aufgeht, eine Tat, die anders gelagert ist als das schon Dagewesene und gesetzlich Registrierte. Eben an diesem Rest und Andersartigen entzündet sich das kritische Bewusstsein und verneint die Auffangbarkeit des Fließenden im Starren. Das unvorwegnehmende Besondere erhält also auch hier seine Überlegenheit über das Allgemeine zurück, von dem es unterjocht werden sollte. Die problematischen Erfahrungen des Rechtslebens zeigen, dass der Mensch auch rechtlich seiner eigenen konkreten Tatsächlichkeit nicht Herr wird.“³⁰⁷ Die Gesetze sind für Montaigne inkommensurabel und damit letztlich als Richtmaß ungeeignet. Da es ihrer aber nun einmal bedarf, muss man sich zumindest ihrer Unzulänglichkeit bewusst sein und darf nicht der Fehleinschätzung aufsitzen, es gebe jemals eine vollständige Entsprechung von Sachverhalt und Norm. Es bedarf vielleicht gerade des weiten Horizonts eines nicht fachjuristisch geschulten Philologen, der von der besonderen Problematik des Rechts auf die allgemeine Herausforderung des Menschen schließt, ohne die aus juristischer Sicht auf der Hand liegenden möglichen Gegenargumente eines jeden von Montaigne ins Feld geführten Arguments umständlich aufzuzählen und womöglich,
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1112. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 181 f.
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wenigstens scheinbar, die Oberhand gewinnen zu lassen. Hier erweist sich Hugo Friedrich einmal mehr als Rechtsphilosoph von Rang.³⁰⁸
c) Folgerung Es ist angesichts der zitierten Passage aus den Essais erstaunlich, dass sich in der späteren Rechtskultur und Rechtsgeschichte noch die Anschauung breit machen konnte, man könne alle möglichen Fälle einzelfallweise regeln.Was Montaigne vor diesem Missverständnis feit, ist abermals seine anthropologische Beobachtung, die auf Erfahrung gründet und ihn erneut als Menschenkenner sondergleichen ausweist, auch wenn seine Schlussfolgerungen überspitzt sein mögen. Die Unzahl menschlicher Interaktionen und Willensbetätigungen lassen sich nicht erschöpfend reglementieren. Der Gesetzgeber kommt per definitionem nie auf die Zahl möglicher menschlicher Handlungsweisen, weil er ihre unzähligen Gründe und Antriebe nicht kennt.³⁰⁹ Je mehr Fälle der Gesetzgeber aber erfasst, desto größer wird der Kreis möglicher Auslegungsweisen und desto freier die richterliche Würdigung, die bis zur Willkür reichen kann. Hinzu kommt ein Gesichtspunkt, der bereits an früherer Stelle angeklungen ist, nämlich dass es äußerlich rechtmäßige, ja wohlgefällige Handlungen gibt, deren innere Beweggründe alles andere als ehrenhaft waren.³¹⁰ Die Gesetze sind insofern inkommensurabel, als sie den Wert oder Unwert der menschlichen Handlungen nie ganz auszumessen oder auch nur ansatzweise zu ermessen vermögen.
Grundlegend bereits Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, 1942; dazu Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 80, betrachtet das Problem aus einer anderen Perspektive, aber nichtsdestoweniger zutreffend, wenn er feststellt, dass Montaigne „der Einzelfallgerechtigkeit großes Gewicht zukommen lässt (…), andererseits weiß, dass der Gesetzgeber von der Typisierung des gegebenen Erfahrungsmaterials beherrscht ist, um Ordnung und Überschaubarkeit in die Vielfalt zu bekommen“. – Daran anschließt sich die interessante Frage, ob nicht auch auf der Ebene der systematisierenden Ordnung des Rechtsstoffs, also der Dogmatik, der Typusbegriff eine Rolle in Montaignes Denken spielen könnte, zumal der Typus dabei helfen kann, die für Montaigne scheinbar unüberwindliche Kluft zwischen Gesetz und Anwendungsfall zu überwinden; siehe in diesem Zusammenhang auch Detlef Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971; Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2014, S. 129 ff. Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 11: „Man zerfleischt sich unter dem Vorwand hochedler Motive, die niedrige Interessen bemänteln“.
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VII. Beziehungslosigkeit zwischen Faktizität und Normativität Noch ernüchternder ist eine geradezu zeitlose Beobachtung Montaignes: „Unter unsern Handlungen gibt es wenige, welche einander ähnlich wären, weil sie in unaufhörlichen Abweichungen von den beständigen und unabänderlichen Gesetzen bestehen“³¹¹ (« Il y a peut de relation de nos actions, qui sont en perpetuelle mutation, avec les loix fixes et immobiles ».³¹²). Auch wenn Friedrich sie in seiner zuletzt wiedergegebenen Reflexion mit erfasst, ist diese Sentenz im bisherigen juristischen Schrifttum soweit ersichtlich noch kaum je bedacht worden.³¹³ Dabei enthält sie ein Skandalon, das jede Rechtsordnung und jegliche dogmatische Jurisprudenz förmlich elektrisieren muss. Die These der Beziehungslosigkeit zwischen der Faktizität und Normativität geht über das später von David Hume herausgearbeitete Sein-Sollen-Schema hinaus und scheint die Gesetzesanwendung regelrecht ad absurdum zu führen, ja den Sinn einer jeglichen Rechtsordnung zu durchkreuzen. Dass Montaigne dies abschwächt, tröstet nur wenig. So überspitzt diese Beobachtung anmutet, so treffend ist ihr Kern. Es ist nämlich durchaus ein Dilemma der juristischen Methodenlehre, dass die auf Faktizität gründenden Kriterien hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit hinter denen zurückfallen, die auf normative – und das heißt prinzipiengerechte – Gesichtspunkte gründen.³¹⁴ Einen Ausweg aus diesem Dilemma verspricht nur eine wertungsgerechte Prinzipienjurisprudenz.³¹⁵ Der Sache nach hat dies auch Montaigne vorweg genommen, wenn er folgenden Ausweg weist: „Die beste Gesetzgebung ist die kürzeste, einfachste und die allgemein umfassendste. Und noch glaube ich, wären wir besser dran, lieber keine Gesetze zu haben, als deren so viele zu besitzen wie wir. Die Natur gibt uns immer bessere Gesetze als wir erfinden“³¹⁶ (« Les plus
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 161. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1112. Auf sie passen bereits die einleitenden Fragen von Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 181: „Wieweit ist menschliches Tun überhaupt rubrizierbar unter Gesetze? Wieweit ist ein Rechtsfall zu lösen durch schulgerechte Rechtsfindung?“ – Diese Fragen müssten sich gerade Studierende (aber nicht minder Lehrende) der Rechtswissenschaften immer von Neuem stellen, zumal wenn man Friedrichs im Sinne Montaignes gegebene Antwort bedenkt: „Die Antwort ist negativ. Sie führt dazu, die Rechtsgestaltungen noch mehr zu entwerten, als es schon die positivistische Auslegung getan hat“. Näher Jens Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, passim. Dazu Peter Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Juristische Theoriebildung und rechtliche Einheit, Rättshistorika Studier (Hg. C. Pettersson), Band IXI, 1993. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 161.
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desirables, ce sont les plus rares, plus simples, et generales : Et encore crois-je, qu’il vaudroit mieux n’en avoir point du tout, que de les avoir en tel nombre que nous avons. Nature les donne tousjours plus heureuses, que ne sont celles que nous nous donnons ».³¹⁷). Gewiss lässt sich dies heute nicht mehr passgenau umsetzen, so wie es schon zu Montaignes Zeit utopisch war. Eine auf wenige Regeln gestützte Naturrechtsjurisprudenz, die mit einer goldenen Regel, einem Dekalog oder wenigen Imperativen auskommen soll, hatte schon seinerzeit keine Zukunft. Und doch ist in dieser Überspitzung wieder ein wichtiger Kern freigelegt, der zurück zur Einfachheit weist: Klare prinzipiengerechte Regelungen, die in der Weise operationalisierbar sind, dass sie den mannigfaltigen Erscheinungsweisen des täglichen Lebens gerecht werden können.
1. Sprache und Verständlichkeit des Rechts Die übertriebene Spezifizierung und fallgruppenweise Ausarbeitung mit ihren vielen Unterfällen und neuen Regelungen führt aber auch noch zu einem weiteren Missstand, der den Juristen Macht gibt, das Alltagsgeschehen zu verdunkeln: „Woher kommt es, daß unsere Muttersprache, die zu allem übrigen Gebrauch so leicht und klar ist, bei Kontrakten und Testamenten dunkel und unverständlich wird, und daß derjenige, der sich am klarsten ausdrückt, er mag sagen und schreiben was er will, sich niemals hierin so verständlich machen kann, daß nicht Zweifel und Widersprüche darüber entstehen sollten, wenn es nicht daran liegt, daß die Fürsten dieser Kunst sich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit darauf legen, feierliche Ausbrüche zu gebrauchen und künstliche Klauseln zu schmieden, zu diesem Behufe aber jede Silbe auf der Goldwaage wägen, jede Naht und Zusammenfügung so genau besichtigen, daß sie sich unter einer solchen Unendlichkeit von bildlichen Ausdrücken und herrschenden Distinktionen dergestalt verwirren und verwickeln, daß man eines Leitfadens, einer Vorschrift und einer gewissen Kunde bedarf, um sich herauszufinden“³¹⁸ (« Pourquoy est-ce, que nostre langage commun, si aisé à tout autre usage, devient obscur et non intelligible, en contract et testament : Et que celuy qui s‘exprime si clairement, quoy qu’il die et escrive, ne trouve en cela, aucune maniere de se declarer, qui ne tombe en doute et contradiction? Si ce n’est, que les Princes de cet art s’appliquans d’une peculiere attention, à trier des mots solemnes, et former des clauses artistes, ont tant poisé chasque syllabe, espluché si primement chasque espece de cousture,
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1112. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 161 f.
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que les voilà enfrasquez et embrouillez en l’infinité des figures, et si menues partitions : qu’elles ne peuvent plus tomber soubs aucun reiglement et prescription, ny aucune certaine intelligence ».³¹⁹).
a) Misstrauen gegenüber dem Juristenstand Hier tritt erneut das abgrundtiefe Misstrauen zutage, das Montaigne – wohl nicht zuletzt aus leidvoller Erfahrung – den Juristen und dem Juristenstand gegenüber bringt. Seine Skepsis gegenüber den Gesetzen ist auch die Skepsis gegenüber denen, die sie formulieren und auslegen. Er hebt anerkennend einen früheren König hervor, der aus gutem Grund befohlen habe, „daß kein Rechtsgelehrter mit hingehen durfte, weil er besorgte, daß sie auch die Prozesse in dieser neuen Welt vermehren möchten, indem diese Wissenschaft ihrer Natur nach eine Mutter des Zanks und der Uneinigkeit ist“³²⁰ (« Qu’on n’y menast aucuns escholiers de la jurisprudence : de crainte, que les procès ne peuplassent en ce nouveau monde ».³²¹). Schon hier kündigt sich an, was Montaigne von der Rechtswissenschaft hält, welche tiefgreifenden Zweifel er gegenüber ihrem Wissenschaftsanspruch hegt. Montaignes Zweifel an den Gesetzen beschreibt hier wiederum nur seine Zweifel gegenüber den Menschen, die die Gesetze schaffen und deuten: „So mit den Gesetzen. Je mehr man ihre Spitzfindigkeit verfeinert, desto mehr lehrt man die Menschen ihre Zweifel zu häufen“³²² (« C’est de mesme ; car en subdivisant ces subtilitez, on apprend aux hommes d’accroistre les doubtes ».³²³). Die fallgruppenweise Unterteilung, die Menge an Distinktionen, die Unterteilungen und Abstufungen der Dogmatik stoßen ihn an der Jurisprudenz ab, wie er sie gelernt hat: „Wir zweifelten über den Ulpian, und zweifeln abermals über den Bartolus und Baldus. Man hätte die Spur aller dieser unzähligen Meinungen und Auslegungen vertilgen sollen, anstatt sich damit zu brüsten oder der Nachwelt den Kopf damit anzufüllen“³²⁴ („Nous doutions sur Ulpian, et redoutons encore sur Bartolus et Baldus. Il falloit effacer la trace de cette diversité innumerable d’opinions: non point s’en parer, et en entester la posterité“.³²⁵). Montaigne hat hier wohl den Jurastudierenden aller Zeiten aus der Seele gesprochen. Denn was Montaigne über
Michel de Montaigne, Les Essais, III Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 161. Michel de Montaigne, Les Essais, III Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 162. Michel de Montaigne, Les Essais, III Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 163. Michel de Montaigne, Les Essais, III
13, S. 1113. 13, S. 1113. 13, S. 1113. 13, S. 1113.
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die Kommentare sagte,³²⁶ und was aber nicht auf die juristischen Kommentare gemünzt war, obwohl es auf sie ebenfalls zutrifft, findet seine Fortsetzung in der rhetorischen Frage: „Wer sollte nicht sagen, daß durch die Glossen Zweifel und Unwissenheit vermehrt werden“³²⁷ (« Qui ne diroit que les gloses augmentent les doubtes et l’ignorance, puis qu’il ne se voit aucun livre, soit humain, soit divin, sur qui le monde s’embesongne, duquel l’interpretation face tarir la difficulté? »³²⁸). Gerade die Glossen-Skepsis entspricht freilich einem Topos der Zeit.³²⁹
b) Gleichheit vor dem Gesetz als Illusion Die Absurdität des Verfahrens folgt für ihn wiederum aus der Erfahrung:³³⁰ „Ich weiß nicht, was ich davon sagen soll; so viel ergibt die Erfahrung, daß so viele Auslegungen die Wahrheit zerstreuen und auflösen“³³¹ (« Je ne sçay qu’en dire: mais il se sent par experience, que tant d’interpretations dissipent la verité, et la rompent ».³³²). Montaigne misst die Jurisprudenz als Wissenschaft am Wahrheitsanspruch – und lässt sie daran scheitern. Das ist umso gravierender, als er im ersten Buch seiner Essais beiläufig bemerkt, dass die Gleichheit „eine Hauptstütze der Billigkeit“ ist.³³³ (« L’equalité est la premiere piece de l’equité ».³³⁴) Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit in der Einschätzung unterschiedlicher Fallgestaltungen ist für ihn dessen ungeachtet in der realen Rechtspraxis seiner Zeit und wohl auch über die Zeiten hinaus eine Illusion: „Noch niemals haben zwei Menschen über eine Sache völlig gleich geurteilt, und es ist unmöglich, zwei völlig ähnliche Meinungen zu finden, nicht nur bei zwei verschiedenen Menschen, sondern bei einem und demselben Menschen, nur zu verschiedenen Stunden. Gewöhnlicherweise finde ich Zweifel, welche der Kommentar nicht beliebt hat zu berühren“³³⁵ (« Jamais deux hommes ne jugerent pareillement de mesme chose. Et est impossible de voir deux opinions semblables exactement: non seulement en
Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 77. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 164. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1114. John M. Bomer, The Presence of Montaigne In the Lettres Persanes, 1988, S. 56 f. Allgemein dazu Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 163. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1113. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 122. Michel de Montaigne, Les Essais, I 19, S. 95. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 163.
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divers hommes, mais en mesme homme, à diverses heures. Ordinairement je trouve à doubter, en ce que le commentaire n’a daigné toucher ».³³⁶). Gerade die letztgenannte Erfahrung hat wohl jeder Rechtsdogmatiker schon gemacht, der in juristischen Kommentaren nach ähnlichen Fallgestaltungen sucht. Der einleitende Satz erinnert an Gustav Radbruchs Bonmot, wonach alle Fallgestaltungen einander „so ungleich wie ein Ei dem anderen sind“.³³⁷ Virulenter ist das Problem der Unmöglichkeit gleicher Beurteilung der – scheinbar – gleichen Sache. Dieses Verdikt dürfte ebenfalls zusammenhängen mit Montaignes bereits erwähnter Wertschätzung des Heraklit-Fragments (B 12), wonach man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Da auch bei den scheinbar gleichgelagerten Fallgestaltungen schon deswegen alles im Flusse ist, weil sie sich nicht notwendigerweise zur gleichen Zeit ereignen, also kein einheitlicher zeitlicher Horizont besteht, und zudem noch unterschiedliche Individuen vor einem jeweils anderen empirischen Horizont her urteilen, kann es Gleichheit niemals realiter, allenfalls in dem Sinne idealiter geben, den Montaigne zugrunde legt, wenn er feststellt, dass die Gleichheit das erste Stück der Gerechtigkeit darstellt (I 19). In der Unerfüllbarkeit dieses Postulats scheint zwar im Hinblick auf das zuletzt Bedachte ein performativer Selbstwiderspruch angelegt zu sein, doch kann man die Stelle I 19 als Optimierungsgebot verstehen, wobei das Optimum selbst für Montaigne unerreichbar ist wie jedes Ideal. Es ist eher eine ‚Wünschbarkeit‘ im Sinne seines Geistesverwandten Friedrich Nietzsche.
2. Kritik an der ubiquitären Verrechtlichung Was in der Jurisprudenz nachvollziehbar ist, wird von ihr abgesetzt, indem es dort umso klarer zum Ausdruck kommen: „Noch auffallender findet sich dieses bei Rechtsstreitigkeiten. Einer unendlichen Menge Rechtslehrer räumt man das Ansehen der Gesetze ein, desgleichen einer unendlichen Menge Rechtssprüche und Auslegungen. Finden wir deswegen des Bedürfnisses des Auslegens wohl ein Ende? Kommen wir dadurch dem ruhigen Einverständnisse etwas näher? Ist die Anzahl unserer Advokaten und Richter geringer, und kann sie es sein, als damals, da die Waffe des Rechts noch in ihrer Kindheit war? Es hat sich wohl. Wir verfinstern und begraben vielmehr das Verständnis.Wir können solches nicht finden, als hinter einer Menge von Pfählungen und Schlagbäumen“³³⁸ (« Cecy se voit
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1114. Gustav Radbruch, Kleine Vorschule der Rechtsphilosophie, 1959, S. 26. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 164.
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mieux en la chicane. On donne authorité de loy à infinis docteurs, infinis arrests, et à autant d’interpretations. Trouvons nous pourtant quelque fin au besoin d’interpreter? s’y voit-il quelque progrez et advancement vers la tranquillité? nous faut-il moins d’advocats et de juges, que lors que cette masse de droict, estoit encore en sa premiere enfance? Au contraire, nous obsurcissons et ensevelissons l’intelligence. Nous ne la descouvrons plus, qu’à la mercy de tant de clostures et barrieres ».³³⁹). Das liest sich wie eine moderne Klage über die Verrechtlichung aller Lebensbereiche. Die moderne Rechtssoziologie müsste ihre Freude an Montaigne haben, wenn sie ihn denn gebührend zur Kenntnis nehmen würde. Aber auch die juristische Methodenlehre kann Montaignes Skepsis an überbordenden Auslegungen einiges abgewinnen, wenn sie sich selbst in Frage zu stellen bereit ist. Analogieschlüsse sind oft weniger schlagend als es den Anschein hat:³⁴⁰ „Alle Dinge halten durch irgendeine Ähnlichkeit aneinander. Jedes Gleichnis hinkt. Und die Beziehung, welche man aus der Erfahrung herleitet, ist immer schwach und unvollkommen. Indessen knüpft immer die Vergleichung dieses oder jenes Ende zusammen. So macht man es mit den Gesetzen. Man wendet sie auf jede Sache an, durch irgendeine weithergesuchte, gezwungene und gedrehte Erklärung“³⁴¹ (« Toutes choses se tiennent par quelque similitude: Tout exemple cloche. Et la relation qui se tire de l’experience, est tousjours defaillante et imparfaicte: On joincte toutesfois le comparaisons par quelque bout. Ainsi servent les loix; et s’assortissent ainsin, à chacun de nos affaires, par quelque interpretation destournée, contrainte et biaise ».³⁴²).
a) Pathologie des Rechtswesens Auch hier sind es wieder die aus der Erfahrung abgeleiteten Entsprechungen, die den empiristischen Zugriff verdeutlichen. Wir können nur erfahrungsgemäß Ähnlichkeiten herleiten und vergleichbare Fallgestaltungen einander annähern. Montaignes tiefes Misstrauen gegenüber dem Recht und seiner Methode wurzelt immer wieder in den Gesetzen, „nach welchen sich so viele gegen einander richten sollen (…). Man betrachte nur die Form der Gerechtigkeit, welche über uns waltet. Ist sie nicht ein klarer Beweis von der menschlichen Verstandesschwäche? So viel Widerspruch und Irrtümer findet man darin! Alles,was wir Günstiges und Strenges
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1114. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 102, macht dessen ungeachtet darauf aufmerksam, dass „man in den Essais allenthalben Analogieschlüsse findet“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 168. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1116.
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in unserer Rechtspflege finden (und dessen findet sich darin so viel, daß ich nicht weiß, ob sich ebenso oft ein Mittelweg zwischen beiden findet), das sind kranke Teile und ungerechte Gliedmaßen des wirklichen Körpers und Wesens der Gerechtigkeit“³⁴³ (« Ce n’est pas merveille, si celles qui gouvernent tant de particuliers, le sont d’avantage. Considerez la forme de cette justice qui nous regit; c’est un vray tesmoignage de l’humaine imbecillité: tant il y a de contradiction et d’erreur. Ce que nous trouvons faveur et rigueur en la justice: et y en trouvons tant, que je ne sçay si l’entre-deux s’y trouve si souvent: ce sont parties maladives, et membres injustes, du corps mesmes et essence de la justice ».³⁴⁴). Die Pathologie der Rechtsordnung ist ein Abbild der Fehlbarkeit menschlichen Urteilens. Da wir im nicht-juridischen Bereich nicht gerecht urteilen können, vermögen wir es erst recht nicht, wenn wir daraus Rechtsakte machen. Auf diese Einsichten konnte Nietzsche später zurückgreifen, dessen Gerechtigkeitsvorstellung in vielem aus Montaignes Essais gespeist ist.³⁴⁵ So hätte auch er sagen können: „Wenn man im Ganzen recht verfahren, und im Kleinen Unrecht zu begehen, wenn man das Recht im Großen handhaben wolle“³⁴⁶ (« Qu’il est force de faire tort en detail, qui veut faire droict en gros; et injustice en petites choses, qui veut venir à chef de faire justice ès grandes ».³⁴⁷). Das tiefgreifende Paradoxon, wonach im Ringen um Gerechtigkeit immer auch Ungerechtigkeit begangen werden muss und der Versuch, eine gerechte Beurteilung der Sachlage herbeizuführen, stets scheitern muss, weil wir selbst zutiefst ungerecht und fehlbar sind,³⁴⁸ gehört zu den Prämissen Nietzsches, die er nicht zuletzt von Montaigne übernommen hatte.³⁴⁹ Montaigne hat es aber insofern noch radikaler gedacht, als nach seiner von der antiken Rechtsauffassung ausgehenden Prämisse nicht nur ursprünglich erfahrbar, sondern geradezu notwendigerweise Rechtlosigkeit bestand, um einen rechtmäßigen Zustand herzustellen.³⁵⁰ Die Pathologie des Rechtswesens bringt es mit sich, dass Montaigne es mit der Medizin vergleicht: „Die menschliche Justizpflege sei nach dem Muster der Arzneikunde
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 168 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1116 f. Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 36, 55. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S.170. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1118. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 185, wonach Montaigne „jeden Rechtsgedanken verschlungen mit dem Unrecht sieht“. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 285: „Nietzsche ist widerspruchsvoll wie Montaigne selbst“. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180 („dass Unrecht geschehen muss, damit Recht wird“).
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gebildet, vermöge dessen alles, was nützlich ist, auch gerecht und billig wird“³⁵¹ (« Que l’humaine justice est formée au modelle de la medecine, selon laquelle, tout ce qui est utile est aussi juste et honeste ».³⁵²). Hier kommen zusätzlich zu allem bisher Monierten auch noch Zweifel im Hinblick auf den Utilitarismus der Jurisprudenz zum Tragen. Nützlichkeitserwägungen und interessengebundenes Denken werden verabsolutiert, weil diejenigen, die urteilen, ihren Vorteil im Blick haben.
b) Pessimismus gegenüber der Gerechtigkeit Montaignes Skepsis steigert sich zu einem abgrundtiefen Pessimismus: „Unsere Gerechtigkeitspflege reicht uns nur eine von ihren Händen dar und obendrein die linke. Man sei, wer man wolle, ohne Verlust kommt man von ihr nicht ab“³⁵³ (« Nostre justice ne nous presente que l’une de ses mains; et encore la gauche: Quiconque il soit, il en sort avecques perte ».³⁵⁴). Es ist kein Wunder, dass Montaigne in der Ahnenreihe der konstruktiven Rechtsdenker keinen Ehrenplatz einnimmt. Umso wichtiger ist es aber, seine tiefgreifende Skepsis nachzuverfolgen, auf ihren Kern zurückzuführen und ihre innere Berechtigung dort herauszustellen, wo sie von zeitloser Gültigkeit ist. Francis Jeanson hat die Grundhaltung, aus der die Essais entstanden sind, in einer auch für das Verhältnis von Moral und Gerechtigkeit treffenden Weise zusammengefasst: „Die Moral, die sich in den Essais enthüllt, ist also nicht eigentlich negativ, sondern vielmehr ‚defensiv‘. (…) Allerdings, die Weigerung, zwischen verschiedenen Arten der Ungerechtigkeit zu wählen, bedeutet noch keine Wahl zu Gunsten der Gerechtigkeit“.³⁵⁵ Gerechtigkeit kann immer nur als status negativus ausgeschlossen, nie als status positivus bestimmt oder gar auf Dauer hergestellt werden. Ähnlich wie später Schopenhauer, dem Nietzsche nicht von ungefähr in einem Atemzug mit Montaigne huldigte,³⁵⁶ sieht er das Recht nicht als positive Größe, sondern geht vom Unrecht aus.³⁵⁷ Wir erkennen das Unrecht, wo es uns auf Schritt und Tritt – vor allem im Bürgerkrieg – begegnet. Doch folgt daraus noch nicht, dass wir Recht
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 170. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1118. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 171. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1118. Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 66. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, III 2 („Schopenhauer als Erzieher“). Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I, § 64.
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und Gerechtigkeit erkennen oder Bedingungen schaffen könnten, unter denen sie auf Dauer bestehen könnten, weil die menschliche Natur es nicht zulässt.
VIII. ‚Le fondement mystique de leur authorité‘ Eine der rätselhaftesten und meistzitierten Stellen über die Gesetze findet sich gegen Ende des Exkurses über die Erfahrung, wo es heißt: „Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind. Das ist der mystische Grund ihres Ansehens. Einen andern haben wir nicht, worauf sie ruhten. Sehr oft rühren sie her von Dummköpfen; öfters von Leuten, die, weil sie die Gleichheit hassen, auch keine Billigkeit kennen; aber immer von Menschen, welche eitel und unzuverlässig sind“³⁵⁸ (« Or les loix se maintiennent en credit, non par ce qu’elles sont justes, mais par ce qu’elles sont loix. C’est le fondement mystique de leur authorité: elles n’en ont point d’autre. Qui bien leur sert. Elles sont souvent faictes par des sots. Plus souvent par des gens, qui en haine d’equalité ont faute d’equité: Mais tousjours par des hommes, autheurs vains irresolus ».³⁵⁹).
1. Gesetze als fragiles Menschenwerk Faktizität und Normativität kreuzen sich in der Existenz und Geltung der Gesetze:³⁶⁰ Weil sie sind und als solche gebieten, gelten sie ohne Ansehen ihrer Gerechtigkeit; die Begründung der Gesetzeskraft mit ihrer bloßen Entität, die gerade beim Gesetz besonders fragil und gefährdet ist, hat etwas Unerhörtes, weil sie affirmativ und tautologisch erscheint; es ist ein roher Positivismus, von dem man annehmen sollte, dass er dem Zweifel noch viel stärker ausgesetzt ist als alles andere. Aber diese ungeschlacht wirkende Einsicht ist gerade das lamentable Resultat des durchgreifenden Zweifels an der gerechtigkeitsstiftenden Kraft des Rechts. Dieses mystische Fundament der Geltung hat das französische Rechtsdenken nachhaltig geprägt.³⁶¹ Pascal hat es in seinen Pensées ausgiebig, wenn-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 172 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 181: „Rechtssätze sind normativ nicht kraft ihrer Rechtlichkeit, sondern kraft ihres normativen Vorhandenseins“. Nicht ganz klar ist der Begriff des „Mythosvorwurfs“, den Stephan Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 27, Montaigne zuschreibt, weil dieser – jedenfalls im Hinblick auf die hier behandelte Stelle, die gemeint sein könnte – im Original wegen des Akzents im mittel-
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gleich womöglich nicht frei von Ironie, zitiert.³⁶² Später hat Jacques Derrida darauf seine, freilich sehr angreifbare Rechtstheorie aufgebaut.³⁶³
a) Derridas Deutung der mystischen Autorität Es lohnt sich, Derridas Überlegungen nachzugehen, die er speziell im Hinblick auf Montaigne anstellt: „Es stimmt, dass Montaigne einen interessanten Ausdruck gebraucht, den Pascal dann übernimmt; auch ihn möchte ich neu interpretieren, um ihn der konventionellsten und konventionalistischsten aller Lesarten zu entziehen. Der Ausdruck lautet: ‚Der mystische Grund (oder die mystische Begründung: fondement mystique) der Autorität‘. In dem Pascalschen Gedanken, der die Nummer 293 trägt, wird Montaigne zitiert, aber nicht genannt. (…) Montaigne redet in der Tat von einem ‚mystischen Grund‘ der Autorität, also des Ansehens und der Anerkennung der Gesetze (…). Offenbar unterscheidet Montaigne hier die Gesetze, das heißt das Recht, von der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit des Rechts, die Rechtsprechung, die Gerechtigkeit als Recht ist nicht (dasselbe wie) die Gerechtigkeit. Als Gesetze sind die Gesetze nicht gerecht und angemessen. Man folgt und gehorcht ihnen nicht, weil sie gerecht und angemessen sind, sondern weil sie über Ansehen und Anerkennung verfügen, weil ihnen Autorität innewohnt.“³⁶⁴
b) Ergänzungen und Bedenken Dunkel ist insbesondere der Neuansatz der Deutung des zentralen Begriffs, „um ihn der konventionellsten und konventionalistischsten aller Lesarten zu entziehen“. Was damit gemeint ist, wird wohl nicht einmal annäherungsweise deutlich: „Schritt für Schritt werde ich erläutern, was ich unter dem Ausdruck ‚der mystische Grund der Autorität‘ verstehe. Montaigne hat auch folgende Sätze geschrieben, die man ebenfalls so deuten muss, dass man weiterblickt als bloß auf die konventionelle und konventionalistische Oberfläche, die sie uns zukehren: ‚(man sagt, dass unser Recht selber legitime Fiktionen beinhaltet, auf denen es die Wahrheit französischen Original nicht ‚mytique‘, sondern ‚mystique‘ meint (unrichtig übersetzt in der Übertragung von Hans Stilett). Zutreffend geht aber auch Kirste, ebenda, im Hinblick auf Montaigne von der „Irrationalität (….) der Wertentscheidungen“ aus. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 294 (ed. Brunschvicg): « et c’est le plus sur: rien, suivant la seule raison, n’est juste de soi; tout branle avec le temps. La coutume fait toute l’équité, par cette seule raison qu’elle est reçue; c’est le fondement mystique de son autorité ». Hervorhebung nur hier. Kritisch dazu Jens Petersen, Blaise Pascales Gedanken über das Recht, Festschrift für Werner Merle, 2010, S. 289 ff. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, 1991, S. 24 f.
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seiner Gerechtigkeit – seiner Rechtsprechung [justice] – gründet)‘. (…) Was ist eine legitime Fiktion? Was heißt: Die Wahrheit der Gerechtigkeit – der Rechtsprechung – begründen? Diese beiden Fragen gehören zu jenen, die uns erwarten. Montaigne stellt zwischen der legitimen Fiktion (zwischen der Fiktion, deren es zwangsläufig bedarf, um die Wahrheit der Gerechtigkeit – der Rechtsprechung – zu begründen) und dem zusätzlichen Kunstgriff, den ein Mangel der Natur erforderlich macht, eine Analogie her: So, als würde die Abwesenheit eines Naturrechts den Zusatz an historischem oder positivem, das heißt fiktionalem Recht herbeirufen; in diesem Sinne – es handelt sich um Montaignes eigene Analogie – ‚gebrauchen die Frauen an jenen Stellen,wo sie keine natürlichen Zähne mehr haben, Zähne aus Elfenbein und benützen fremde Stoffe, um ihren wahren Teint durch einen anderen, von ihnen hergestellten zu ersetzen (…)‘“.³⁶⁵
c) Unbehelflichkeit der Dekonstruktion Was Derrida damit im Sinn hat, bleibt im Verborgenen. Inwiefern man mit den genannten Stellen Montaignes „weiterblickt als bloß auf die konventionelle und konventionalistische Oberfläche, die sie uns zukehren“, erschließt sich nicht. Das vorgebliche Verfahren der Dekonstruktion kommt nicht recht von der Stelle. Es ist zweifelhaft, ob Montaigne hier wirklich eine Analogie zwischen legitimer Fiktion und dem „Mangel der Natur“ macht. Selbst wenn Letzterer die „Abwesenheit eines Naturrechts“ bedeutet, wie man das in der Tat im Sinne Montaignes verstehen kann, wird die vorausgesetzte Entsprechung nicht vollends klar. Gemeint ist wohl, dass die legitime Fiktion die Lücke schließt, die das von einer unkontrolliert fragenden Vernunft verdrängte Naturrecht gelassen hat.³⁶⁶ Eine interessante Überlegung findet sich bei Derrida allerdings, die hier ihrer Komplexität wegen wörtlich gegeben sei: „Wenn man jedoch die funktionale Schicht und Spannkraft von Pascals Kritik isoliert, wenn man sie von ihrem christlichen Pessimismus dissoziiert, was durchaus möglich ist, dann kann man, wie übrigens auch bei Montaigne, auf die Prämissen einer modernen kritischen Philosophie stoßen, ja auf eine Kritik der rechtlichen Ideologie: Eine Freilegung, eine Loslösung, eine Abtragung der Segmente des rechtlichen Überbaus, dessen Strukturen die ökonomischen und politischen Interessen der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte verbergen und zugleich spiegeln, wäre nicht nur möglich,
Jaques Derrida, ebenda, S. 25 f. Siehe dazu auch Enrico Pattaro, The Law and the Right. A Reappraisal of the Reality that Ought to Be, 2005, S. 147. Vgl. auch Sascha Bischof, Gerechtigkeit – Verantwortung – Gastfreundschaft. Ethik-Ansätze nach Jacques Derrida, 2004, S. 160.
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sondern immer auch nützlich.“³⁶⁷ Insbesondere Montaigne hätte demnach etwas vorweg genommen, das in letzter Konsequenz bis hin zu Marx reicht. Auch wenn Derrida seinen Namen nicht ausspricht, kann es sich der Wortwahl mit ihrem Basis-Überbau-Schema nach wohl letztlich nur um eine rudimentäre Vorwegnahme marxistischen Rechtsdenkens handeln – jedenfalls wenn man gerade auch Pascal von seinem „christlichen Pessimismus“ überhaupt „dissoziieren“ kann. Ob das wirklich möglich ist, wie Derrida voraussetzt, ist freilich die Frage. Gewiss lässt sich bei Montaigne beobachten, dass er die ökonomischen und politischen Interessen freilegt und dasjenige an juristischen Verbrämungen brandmarkt, was im Laufe der Zeit die wahren Gründe der Gesetze verschleiert hat.
d) Derridas anfechtbare Interpretation der mystischen Autorität des Gesetzes Allerdings muss man sich davor hüten, in Montaignes Text einen sozialkritischen Zug erkennen zu wollen. Dem steht Montaignes eingefleischter Konservativismus entgegen. Dass er vorgeschobene Gründe als solche erkennt, bedeutet für ihn nicht notwendigerweise, die auf ihnen beruhenden Gesetze ablehnen zu wollen – sie können im Laufe der Zeit andere Gründe für sich haben, um derentwillen sie Bestand verdienen. Das Gesetz kann sich im Nachhinein als klüger denn der Gesetzgeber erweisen.³⁶⁸ Diese Möglichkeiten in Rechnung gestellt zu haben, zeugt auch im Hinblick auf die juristische Methodenlehre vom Weitblick Montaignes. So ist wohl auch zu erklären, dass er zu dem für seine Verhältnisse vieldeutigen, auf den ersten Blick unklaren und die Problematik zu verdunkeln scheinenden Topos des „mystischen Grundes der Autorität“ Zuflucht genommen hat. Man muss vor diesem Hintergrund nochmals zu der bereits im Zusammenhang mit Pascal teilweise zitierten Stelle zurückkommen,welche die Erklärung des Mystischen bei Derrida betrifft, weil dies jetzt auch auf Montaigne bezogen werden kann: „An diesem Punkt stößt der Diskurs auf seine Grenze: In sich selbst, in seinem eigenen performativen Vermögen, in seiner performativen Kraft oder Macht. Ich schlage vor, dass man dies hier das Mystische nennt. Die gewaltsame Struktur der stiftenden Tat birgt ein Schweigen: Ein Schweigen ist darin eingeschlossen oder vermauert. Vermauert, von Mauern umgeben, weil dieses Schweigen der Sprache nicht äußerlich bleibt. Ich wäre versucht, jenes, was Montaigne und Pascal den mystischen Grund der Autorität nennen, in diese
Jacques Derrida, Gesetzeskraft, S. 27; Hervorhebung nur hier. Zutreffend Claus-Wilhelm Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, Juristenzeitung 1993, 377.
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Richtung, in diesem Sinne zu interpretieren. Stets wird man das, was ich hier sage oder tue, auf das zurückbeziehen oder gegen das kehren können, was ich eben sage (was ebenso geschieht, am oder im Ursprung aller Institutionen). Das Wort ‚mystisch‘ würde ich also so gebrauchen, dass es ein wittgensteinischen Anklang erhält (ich riskiere es, auf diese Weise die Richtung anzugeben, in die ich es wenden würde). Die fraglichen Texte Montaignes und Pascals, die Tradition, der sie angehören, wie auch die ein wenig aktive Interpretation, die ich vorschlage, könnten in die Auseinandersetzung einbezogen werden, auf die sich Stanley Fish in seinem Aufsatz Force einlässt (…).“³⁶⁹ Was Derrida hier mit dem vermauerten Schweigen sagen will, ist rational nicht recht nachvollziehbar. Es wird einfach nicht klar, in welche Richtung Derrida das Wort Montaignes mit dieser „ein wenig aktiven Interpretation“ deuten möchte. Dass ein so luzider Geist wie Montaigne eine derart enigmatische Rückführung vorschlägt, ist gewiss bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Doch trägt die von Derrida vorgeschlagene Interpretation nicht zu Erhellung bei, sondern gibt vielmehr zusätzliche Rätsel auf. Mit dem Wittgensteinischen Anklang, den Derrida dem Wort „mystisch“ geben möchte, meint er möglicherweise Wittgensteins Satz: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“³⁷⁰ Gleichwohl kann man dieser Deutung Derridas entgegenhalten, dass sie letztlich ins freie und beliebige Assoziieren übergeht und somit selbst zu einem Anwendungsfall des berühmten Schlusssatzes von Wittgensteins Tractatus gerät.
2. Gesetzestreue als Illusion der Gerechtigkeit Folgen wir stattdessen Montaigne selbst, so sehen wir, dass es wiederum letztlich der Gesichtspunkt des Menschenwerks ist, das die Gesetze so fragwürdig macht.³⁷¹ Gerechtigkeit ist keine notwendige Eigenschaft der Gesetze, sondern allenfalls, dass sie fortdauernd gelten. Wenn sie dies erreichen, ist schon viel gewonnen. Sie haben dann zumindest einen erfahrungsmäßigen Bestand für sich, der sie gegen den Lauf der Zeiten abhärtet. Dass sie darüber hinaus gerecht sind, ist für ihn utopisch: „Schwerlich wird man etwas so Gröbliches und schwer Fehlerhaftes sehen, als die Gesetze gewöhnlich sind. Wer ihnen nur darum gehorchen wollte,
Jaques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, 1991, S. 28 f. unter Hinweis auf Stanley Fish, Doing What Comes Naturally, 1989, S. 503 ff. Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logisch-philosophische Abhandlung, Satz 6. 44, Annalen der Naturphilosophie (14) 1921, S. 262. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 181 („kein Bedauern mehr über die kreatürliche Brüchigkeit, warum das so gekommen sein könnte“).
VIII. ‚Le fondement mystique de leur authorité‘
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weil sie gerecht wären, würde ihnen nicht wegen seiner Pflicht gehorchen. Unsere französischen Gesetze bieten gewissermaßen der Unordnung und der Bestechung, welche bei der Anwendung und Ausübung stattfinden, die Hand.³⁷² Ihre Gebote sind so dunkel und unsicher, daß sie einigermaßen den Ungehorsam und die fehlerhafte Auslegung, Anwendung und Ausübung entschuldigen“³⁷³ (« Il n’est rien si lourdement, et largement fautier, que les loix: ny si ordinairement. Quiconque leur obeit par ce qu’elles sont justes, ne leur obeyt pas justement par où il doit. Les nostres Françoises, present aucunement la main, par leur desreiglement et deformité, au desordre et corruption, qui se voit en leur dispensation, et execution. Le commandement est si trouble, et inconstant, qu’il excuse aucunement, et la desobeissance, et le vice de l’interpretation, de l’administration, et de l’observation ».³⁷⁴). Auch dies muss man im Zusammenhang mit dem weiter oben Bedachten lesen: Wie Montaigne für sich in Anspruch nimmt und praktiziert, ist die Befolgung der Gesetze gut und richtig. Nur diese Konvergenz kann rechtstreues Verhalten begründen, doch darf man daraus nicht folgern, oder auch nur verlangen, dass man es um ihrer Gerechtigkeit willen macht. Gesetzestreue hält allenfalls die Illusion der Gerechtigkeit aufrecht. Es ist ein auf den ersten Blick zynisch anmutendes Gesetzesverständnis, das jedoch nicht als nihilistisch missverstanden werden darf. Montaigne würde niemals zu verstehen geben, dass es besser wäre, wenn es keine Gesetze gäbe. Auch kann man nicht notwendigerweise folgern, dass ein schlechtes besser sei als gar kein Gesetz. Zwar mag dies angesichts der Gesetzesflut seiner Zeit typischerweise stimmen, aber eben nicht notwendigerweise. Was hier wie weiter oben sarkastisch oder zynisch klingt, ist aber in Wahrheit eher Ausprägung des Willens, sich nichts vorzumachen, wenn es um die Gerechtigkeit der Gesetze zu tun ist. Auch insoweit wird später Nietzsche in Montaigne ebenso wie in Machiavelli einen gewichtigen Kronzeugen seines Rechtsdenkens erblicken können.³⁷⁵
Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Auflage 2005, S. 261, nennt es aus Montaignes Sicht treffend den „eitlen Versuch, per Gesetz die unzähligen verschiedenen menschlichen Verhältnisse zu regeln“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 173. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Zu Montaignes Machiavelli-Verständnis Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 27 f.; Hugo Friedrich, Montaigne, S. 174 f. Susanne Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, 2011, § 2, S. 21, hebt mit Recht hervor, dass Machiavelli insofern für die disziplinäre Begründung der Rechtssoziologie relevant war, als er „Herrschaft nicht nur beschreiben, sondern tatsächlich verstehen wollte“.
§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung Ein im Wortsinne wie im übertragenen Sinne zentraler Teil der Gedanken über Recht und Gerechtigkeit innerhalb der Essays findet sich in der im zweiten Buch angesiedelten Apologie für Raymond Sebond.³⁷⁶ Montaigne hatte auf Wunsch seines Vaters die „Theologia naturalis“ des katalanischen Theologen und 1436 gestorbenen Toulouser Professors übersetzt und diese Übersetzung 1569 veröffentlicht. Es ist keine echte Verteidigungsrede.³⁷⁷ Die Apologie ist der längste der Essays und das Herzstück ihres zweiten Buchs.³⁷⁸ Auch innerhalb der Apologie für Raymond Sebond finden sich die wichtigsten Passagen über die Gerechtigkeit so angeordnet, dass sie in der Gesamtschau praktisch exakt in der Mitte der Essays verankert sind. Dieses Zeichen äußerlicher Systematik ist bei Montaigne – nicht anders als bei anderen Denkern, die, wie beispielsweise Nietzsche,³⁷⁹ dem System nicht viel abgewinnen können – nicht inhaltlich weiterführend. Er veranschaulicht aber, dass Montaigne den Themenbereich von Recht und Gerechtigkeit nicht lediglich beiläufig abgehandelt hat, sondern auch einzelne Abschnitte gesucht und teilweise auch unausgesprochen miteinander verbunden hat, die er zwar nicht so überschrieb, aber inhaltlich schwerpunktmäßig der Problematik des Rechts, der Gerechtigkeit und der Rechtsfindung vorbehielt.³⁸⁰ Das zeigt sich zu Beginn des dritten Buchs der Essays noch einmal ganz deutlich. Das Recht wird also nicht nur permanent beispielhaft, sondern auch buchstäblich inmitten der Essais abgehandelt. Unter diesem Blickwinkel ist eben doch nicht ausgeschlossen,
Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 127, nennt sie „diese gefährliche, der positiven Theologie des Liber Creaturarum hinzugefügte Ergänzung in negativer Theologie“. Pointiert Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 247: „Sein Verteidiger aber spricht ihr jeden Wert ab, nicht nur in der Theologie, sondern auch auf dem Gebiet der Wissenschaft“. Zu ihr aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Hinblick auf Montaignes skeptische Grundhaltung Andreas Kablitz, Montaignes Skeptizismus. Zur ‚Apologie de Raymond Sebond‘, in: Poststrukturalismus. Herausforderungen an die Literaturwissenschaft (Hg. Gerhard Neumann), 1995, 504. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1889, Sprüche und Pfeile 26. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 1936, S. 11, spricht gleichwohl mit gutem Grund von einem „System in Aphorismen“; dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 16 f. – Dieser Gedanke einer gewissen inneren Systematik kann auf Montaigne schwerlich angewendet werden. Ebenso Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 11: „Nicht gebändigt durch ein System, das seinerseits seine Kraft aus einer Kernidee schöpft“, aber doch verbunden durch „ein einheitliches Interesse“.
I. Individuum und Bürgersinn
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dass die äußere Anordnung etwas über die innere Komposition der Stellung des Rechts in den Essais aussagt.
I. Individuum und Bürgersinn Montaignes Hinführung zum Recht ist innerhalb der Apologie durch eine zunehmende Verdichtung der rechtsrelevanten Stellen gekennzeichnet. Während sich zunächst kaum Anklänge finden, werden nach vergleichsweise langen Passagen ohne rechtlichen Gehalt eher beiläufig einige wichtige Voraussetzungen geschaffen, auf deren Grundlage dann eine regelrechte Philippika gegen Recht und Gerechtigkeit aufbauen kann.
1. Bürgerkrieg als Inbegriff der Rechtlosigkeit Es geschieht wohl nicht zufällig, dass sich im Ausgangspunkt ein betont individualistischer, um nicht zu sagen nahezu anarchistischer Punkt findet, der an sich für Montaignes konservative Gesinnung untypisch ist, sich aber bei näherem Hinsehen daraus erklärt, dass ihm nichts so zuwider ist wie der Zustand des Bürgerkriegs. Der Bürgerkrieg ist für ihn der rechtlose Zustand schlechthin: „Er ist von einer so bösartigen und verheerenden Natur, dass er sich selbst mit allen übrigen aufreibt und durch seine Wut zerfleischt. Wir sehen ihn öfter durch sich selbst zerstört als durch den Mangel an irgendeinem notwendigen Bedürfnis oder durch die Stärke des Feindes. Alle Manneszucht ist daraus verbannt. Er soll den Aufruhr dämpfen und ist selbst voller Aufruhr; will den Ungehorsam strafen, und gibt davon das Beispiel; wird zur Verteidigung der Gesetze geführt und ist offenbare Rebellion gegen seine eigenen“³⁸¹ . (« Elle est de nature si maligne et ruineuse, qu’elle se ruine quand et quand le reste : et se deschire et despece de rage. Nous la voyons plus souvent, se dissoudre par elle mesme, que par disette d’aucune chose necessaire, ou par la force ennemie. Toute discipline la fuit. Elle vient guerir la sedition, et en est pleine. Veut chastir la desobeissance, et en monstre l’exemple: et employée à la deffence des loix, faict sa part de rebellion à l’encontre des siennes propres. ».³⁸²). Der Bürgerkrieg gefährdet nicht nur die Ruhe des Staatswesens, sondern greift unvermeidlich auf die Seelenruhe des Individuums über, weil er Misstrauen sät. Niemand kann sich seiner wahren Interessen
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 116. Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S. 1087.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
vergewissern, wenn er sich permanent um Leib, Leben und Eigentum sorgen muss. Mit dem Bürgerkrieg gehen folglich Amoralität, Lügenhaftigkeit und Perversion der Gerechtigkeit einher: „Die bürgerlichen Kriege erzeugen oft solche schändlichen Beispiele, dass wir die Menschen bestrafen, weil sie uns für ehrlich gehalten haben, wenn wir es nicht waren, und dass ein und derselbe Richter uns die Folgen seiner Sinnesänderungen fühlen lässt, wofür wir nichts konnten. (…) Entsetzliches Bild der Gerechtigkeit“³⁸³ . (« Les guerres civiles produisent souvent ces vilains exemples: Que nous punissons les privez, de ce qu’ils nous ont creu, quand nous estions autres. Et un mesme magistrat fait porter la peine de son changement, à qui n’en peut mais. (…) Horrible image de justice ».³⁸⁴). Nicht zuletzt aus diesem Grund betrachtet Montaigne alle bewaffneten Konflikte skeptisch, und war vielleicht auch deswegen ein so hervorragender Diplomat.³⁸⁵ Montaignes Aversion gegen Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnliche Zustände zielte allerdings immer zugleich auf das Individuum. Dessen Rechtskreis ist durch jede Form äußerer Unruhe gefährdet. Kriegs- und Militärpflicht sind die größten Gefährdungen seiner Seelenruhe. Daher verwundert es nicht, wenn er – für seine Zeit gewiss unüblich – Reflexion darüber anstellt, wie viele Freiwillige sich finden würden, wenn derartige Pflichten nicht bestünden: „Lasst uns doch die Wahrheit bekennen! Wer aus der, selbst gesetzmäßigen, Armee diejenigen nur heraushübe, welche bei derselben mitgehen aus freiem Eifer und Entschlossenheit für ihre Religion, und dazu noch diejenigen, welche bloß in Rücksicht auf den Schutz der Gesetze ihres Landes und zum Dienste ihres Fürsten da sind, der würde kaum so viel zusammenbringen als zu einem vollzähligen Fähnlein gehören“³⁸⁶ (« Confessions la verité, qui trieroit de l’armée mesme legitime, ceux qui y mar Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 23. Michel de Montaigne, Les Essais, III 1, S. 841. Hier drängt sich – bei allen fundamentalen Unterschieden, – eine Parallele zu Charles Maurice Talleyrand auf. Auch diesem, im Übrigen an der Französischen Essayistik und Moralistik geschulten Geist und Diplomaten lässt sich bei der Betrachtung seines Lebenswegs durchgängig erkennen, dass ihm alle bewaffneten Konflikte ein Gräuel waren – nicht allein aus pazifistischer Grundgesinnung, sondern nicht zuletzt auch aus der Einsicht heraus, dass bewaffnete Konflikte und ihre Austragung auch ihm das Leben schwer und unbequem machten, der infolge seiner körperlichen Gebrechen am wenigsten dazu im Stande war; näher Jean Orieux, Talleyrand ou le Sphinx incompris, 1970 (hier zitiert nach der 6. Auflage 1989 aus dem SozietätsVerlag 1972), S. 148: „Was aber den Schüler Montaignes, La Fontaines und Voltaires interessierte, war das Menschliche, die Gesellschaft, die Gesetze, das Geld“. Siehe auch, wenngleich insoweit weniger deutlich, die Biographien von Duff Cooper, Talleyrand, 1950; Johannes Willms, Talleyrand. Virtuose der Macht 1754– 1838. Eine Biografie, 2011; ferner Henry A. Kissinger, Das Gleichgewicht der Großmächte, Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas, 1812– 1822, 1986, S. 254 ff., 283 ff, 288 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 195.
I. Individuum und Bürgersinn
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chent par le seul zele d’une affection religieuse, et encore ceux qui regardent seulement a protection des loix de leur pays, ou service du Prince, il n’en sçauroit bastir une compagnie de gens-darmes complete ».³⁸⁷). Hier ist immerhin der Schutz der Gesetze als mögliches Objekt der Verteidigung mit aufgezählt, wenngleich eher halbherzig, wie sich leicht daraus erklären lässt, dass Montaigne, der den Gesetzen so vergleichsweise wenig abgewinnen konnte, für ihren Schutz keinen Krieg zu führen geneigt wäre. Die Gesetze des Landes sind ihm ein hehres Gut, aber nur solange und soweit sie seinen Rechtskreis schützen und ihm, der sie erfüllt, möglichst wenig behelligen. Ihretwegen Krieg zu führen oder einen Bürgerkrieg zu riskieren erschiene ihm zuviel des Guten.
2. Motive des Handelns und rechtliche Ordnung Er nimmt diese Reflexion allerdings noch zum Anlass für eine zunächst in die Gestalt einer rhetorischen Frage gekleidete weitere Überlegung, die noch etwas Tieferdringendes über die Motive menschlichen Handelns und ihre äußere rechtliche Ordnung aussagt:³⁸⁸ „Woher kommt das, dass sich so wenige finden, die von einem Willen beseelt und von einer Gesinnung und Neigung über unsere öffentliche Lage geleitet werden, und dass wir sie bald mit langsamen Schritten gehen, bald im vollen Laufen ohne Zügel rennen sehen? Dass wir sehen, wie eben dieselben Menschen unsre Sachen bald durch ihre Kälte, Nachlässigkeit und Schwerfälligkeit verderben? Wenn es nicht daher kommt, dass sie von selbstsüchtigen Absichten getrieben werden, die zufällig nach der Verschiedenheit der Umstände, die sie in Tätigkeit setzen!“³⁸⁹ (« D’où vient cela, qu’il s’en trouve si peu, qui ayent maintenu mesme volonte et mesme progrez en nos mouvemens publiques, et que nous les voyons tantost n’aller que le pas, tantost y courir à bride avalée? et mesmes hommes, tantost gaster nos affaires par leur violence et aspreté, tantost par leur froideur, mollesse et pesanteur; si ce n’est qu’ils y sont poussez par des considerations particulieres et casuelles, selon la diversité desquelles ils se remuent? »³⁹⁰). Hier sind nicht nur die Ursachen für alle Rechtsstreitigkeiten und Gesetzesbrüche vorausgesetzt – Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit -, sondern es wird, gleichsam kontrastierend, von den „privaten Beweggründen“ gesagt,
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 464. In der Kategorienbildung weitsichtig Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 250 „Nach ihm hat niemand recht, es gibt kein Recht, sondern Ordnung und Unordnung“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 195 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 464.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
dass sie in keiner Weise mit den obrigkeitsstaatlich veranlassten Gewalttaten im Zusammenhang stehen. Der Einzelne hat nichts von den Kriegen der Fürsten, sie bringen ihm nichts als Unruhe und Gefährdung seines Besitzstandes, vor allem aber seiner Seelenruhe ein. Die Pflichterfüllung, hier zum Kriegsdienst, ist sich nicht selbst genug. Sie wird nur solange und soweit geleistet, wie dies einen Bezug zu privaten Regungen und eigenen Wünschen aufweist.
II. Rechtswidrigkeit als Bedingung des Wohlergehens Die unmittelbar anknüpfende nachfolgende Betrachtung enthüllt nämlich den eigentlichen Beweggrund: „Mir ist es klar und deutlich, dass wir den Pflichten der Religion nicht gerne andre Dienste darbringen, als solche, die unsern Leidenschaften schmeicheln (…) Unsre Religion ist dazu gemacht, die Untugenden auszurotten, und sie bedeckt, nährt und reizt sie“³⁹¹ (« Je voy cela envidemment, que nous ne prestons volontiers à la devotion que les offices, qui flattent noz passions. Il n’est point d’hostilité excellente comme la Chrestienne. Nostre zele fait merveilles, quand al va secondant nostre pente vers la haine, la cruauté, l’ambition, l’avarice, la detraction, la rebellion. À contrepoil, vers la bonté, la benignité, la temperance, si, comme par miracle, quelque rare complexion ne l’y porte, il ne va ny de pied, ny d’aile. Nostre religion est faicte pour extirper les vices: elle les couvre, les nourrit, les incite ».³⁹²). Am Beispiel dieser Reflexion zeigt sich etwas Grundlegendes für Montaignes Denken, das aber nicht von ungefähr vom Gegensatz zwischen Recht und Rechtlosigkeit ausgeht. Es ist die die gesamte französische Moralistik bewegende Frage, wie sich auch im vordergründig Guten, Erhaltenswürdigen und die Gesellschaft Konstituierenden diejenigen Leidenschaften und Laster finden, die rechtszerstörerisch wirken würden, wenn sie ungebremst und ungehemmt wären.³⁹³ Hugo Friedrich spricht treffend von der „Lieblingsparadoxie“ Montaignes, dass „Wertwidriges (hier Rechtswidriges) die Voraussetzung für die ‚Gesundheit‘ eines Gebildes (hier der Gesellschaft) sein kann.³⁹⁴ Auch wenn Friedrich dies am Beispiel einer anderen Stelle, von der noch die Rede sein wird, feststellt, trifft es mit etwas anderer Akzentsetzung aber unter den gleichen Voraussetzungen auch
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 196. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 464. Zur Sprache und menschlichen Natur in der klassischen französischen Moralistik siehe den gleichnamigen Vortrag zum Gedächtnis an Gerhard Hess von Karlheinz Stierle, Konstanzer Universitätsreden 151, 1985, S. 27. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180.
III. Richterliche Urteile als dogmatische und apodiktische Rede
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hier zu. Die Paradoxie kleidet Montaigne hier in die Überspitzung, wonach die Christen alle anderen an Feindeshass übertreffen, obwohl es gerade das akkurate Gegenteil der christlichen Lehre ist. Normen, die ein rechtliches oder moralisches Sollen gebieten, werden eher widerstrebend eingehalten und nur, sobald sich das rechtliche oder moralische Postulat mit dem eigenen Bestreben deckt oder seine Erfüllung sogar dazu verhilft, die selbstgesetzten Ziele und eigenen Motive zur effektiveren Durchsetzung bringen zu können. Diese durch und durch individualistische Moral- und Rechtsauffassung steht unweigerlich und auf alle Lebensbereiche bezogen in einem Spannungsverhältnis zu den vorgeblichen Interessen der Allgemeinheit. Er erkennt die Notwendigkeit bestimmter Konstanten, zu denen für ihn neben dem Christentum auch das althergebrachte monarchisch geprägte Rechtssystem zählt. Dieses verspricht für ihn freilich ebenso wenig Gerechtigkeit wie jenes, das er idealiter hochschätzt, realiter hingegen an menschlichen Unzulänglichkeiten kranken sieht.³⁹⁵
III. Richterliche Urteile als dogmatische und apodiktische Rede Eine rechtstheoretisch hochinteressante und im bisherigen Schrifttum soweit ersichtlich noch gar nicht als solche gewürdigte Einsicht Montaignes besteht in seinen Gedanken über die Urteile als Ausdrucksmittel dogmatischer und apodiktischer Rede. Ausgehend von einem Diktum Ciceros stellt er dogmatische und apodiktische Rede einander gegenüber: „Cicero macht einigen seiner Freunde den Vorwurf, sie widmeten der Astrologie, der Rechtswissenschaft, der Dialektik und der Geometrie mehr Zeit als diese Künste wert wären, und das hielte sie von den nützlichern Geschäften des Lebens ab“³⁹⁶ (« Cicero reprend aucuns de ses amis d’avoir accoustumé de mettre à l’astrologie, au droit, à la dialectique, et à la geometrie, plus de temps, que ne meritoyent ces arts: et que cela les divertissoit des devoirs de la vie, plus utiles et honestes ».³⁹⁷). Dass Cicero als Jurist, als glanzvoller
Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180 mit Fußnote 2: „sein Blick wendet sich zu den realen Verhältnissen, in denen Gerechtigkeit nicht mehr ist als ‚das Gemengsel der ersten besten Gesetze, die uns in die Hände fallen, ihre oft recht unfähige und unbillige Anwendung‘ (…). Das ist die gleiche Blickwendung wie in seiner Beurteilung des Christentums: als eine große Idee vermag er es anzuerkennen, aber in der Wirklichkeit ist es ihm eine milieubedingte, durch menschliche Ungenügen verdorbene Gewohnheit“. – Hierin dürfte ein fundamentaler Unterschied zwischen Montaigne und Pascal liegen. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 317. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 536.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
Anwalt und Rechtsphilosoph, ja passionierter Rechtsdenker dies auch über die Rechtskunde sagt, verdient Hervorhebung, beschäftigte er selbst sich doch mit ihr so viel und so lange, dass man schon im Hinblick darauf diesen Vorwurf als eine Selbstmahnung begreifen kann, sich den nützlicheren und ehrenvolleren Pflichten des Lebens zu widmen.
1. Hinwendung zur praktischen Jurisprudenz Für eine solche, wenn auch implizit vorgetragene Selbsterkenntnis war Montaigne immer empfänglich. Er nimmt dies zum Ausgangspunkt, den Gedanken weiter aufzugreifen, der schon das Vorangehende beherrschte, nämlich inwieweit die großen Philosophen der Antike Dogmatiker waren. Am platonischen Dialog rühmt er, dass er alle möglichen und auch einander widerstrebende Gedanken durch die damit ermöglichte und eigentümliche Rollenprosa zum Ausdruck bringen konnte und die Dinge ganz unterschiedlich abhandeln konnte – auch dies gewiss etwas, dem er in seinen Essays, für die nicht zuletzt Montaigne stilbildend und gattungsprägend war, nacheifern konnte. Es fällt auf, dass Montaigne von dort auch unversehens zu einem aktuellen Beispiel übergeht, das bei näherem Zusehen jedoch mehr ist als das, sondern viel mehr – und vielleicht nicht ganz zufällig, wenn man auf die eingangs referierte Mahnung Ciceros sieht, zur praktischen Jurisprudenz: „Wir wollen uns selbst zum Beispiel annehmen. Die Schlüsse sind der letzte Punkt der Reden der Dogmatiker oder derer, welche eine beurteilende Philosophie annehmen. So finden wir bei denen, die unsre Parlamente dem Volke vorlegen, welche eigentlich darauf abzielen, bei demselben die Ehrerbietung zu unterhalten, die es diesen Gerichtshöfen schuldig ist, wegen der Würde, die solche Personen verdienen,woraus sie bestehen“³⁹⁸ (« Les arrests sont le point extreme du parler dogmatiste et resolutif: Si est ce que ceux que noz parlements presentent au peuple, les plus exemplaires, propres à nourrir en luy la reverence qu’il doit à ceste dignité, principalement par la suffisance des personnes qui l’exercent, prennent leur beauté, non de la conclusion, qui est à eux quotidienne, et qui est commune à tout juge, tant comme de la disceptation et agitation des diverses et contraires ratiocinations, que la matiere du droit souffre ».³⁹⁹). Hier wird in kondensierter Form eine tiefgründige Einsicht über die Gerichtsurteile zum Ausdruck gebracht. Die Ausgangsfeststellung, wonach richterliche Urteile die ausgeprägteste Form dogmatischer und apodiktischer Rede seien, ist ihrerseits gleichsam selbst leit-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 320. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 537.
III. Richterliche Urteile als dogmatische und apodiktische Rede
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satzartig formuliert. Die Feststellung der Apodiktizität richterlicher Urteile wird ihrerseits apodiktisch vorgetragen. Form und Inhalt, Stil und Gegenstand stimmen vollständig miteinander überein. Der gewählte Superlativ bringt die Prägnanz des Beispiels zum Ausdruck.
2. Anwendung auf die juristische Dogmatik In diesem Diktum kommt darüber hinaus etwas zum Ausdruck, das nicht nur die Dogmatik der Philosophie betrifft, sondern sie mit der dogmatischen Jurisprudenz in Verbindung bringt. Dogma in der Philosophie und Jurisprudenz ist, ebenso wie in der Theologie, mehr als bloßes Meinen, sondern darüber hinaus verstandesmäßiges Urteilen. Auch dort, wo die Ergebnisse dieses Urteilens apodiktisch formuliert werden, sind sie zuvor in einem Prozess der Argumentation und Rechtsgewinnung ermittelt worden. Doch muss man dies sogleich mit einer Einschränkung versehen, die Montaignes grundstürzender Skepsis gegenüber jeder Scheinrationalität juristischer Beweisführung Rechnung trägt, weil sie jegliche Form übersteigerter Rationalität argwöhnisch betrachtet. Denn nur erfahrungsmäßig gewonnene Urteile verringern die Gefahr einer scheinrationalen Verbrämung vorgeblich rechtlich hergeleiteter, in Wahrheit aber Machtverhältnisse verschleiernder Begründungen.⁴⁰⁰ Insofern ist schon für sich betrachtet weiterführend, dass Montaigne das dogmatische und das apodiktische Moment der Rede in einem Atemzug nennt. Die Apodiktizität der Form kann freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass die Ergebnisse dieser Art der Rechtsgewinnung und durch das Urteil zum Ausdruck gebrachter Rechtschöpfung mitnichten unbezweifelbar sind. Da der Urteilsspruch viele Gründe und Gegengründe reflektiert – dies ist der zweite Teil der Aussage Montaignes – muss es folglich auch tragfähige Gegengründe geben, die sich im Urteilsspruch nicht durchsetzen konnten. Bereits ihre Existenz aber veranschaulicht, dass das Urteil der apodiktischen Rede, mit der es begründet wird, niemals unanzweifelbar ist, sondern immer auch anders hätte ausfallen können. Die auf die Spitze getriebene Dogmatik und Apodiktizität übertüncht gleichsam die Existenz möglicher Gegengründe. Die formale Entschiedenheit der Begründung im Urteilsspruch erweist sich vor diesem Hintergrund als Stilmittel, die allgegenwärtigen Zweifel pragmatisch zu beseitigen.
Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180: „Er zeigt, wie die Rationalisten (…) eben diesen empirischen Rechtsursprung im Rechtlosen einer einstigen Machtsituation oder bloßen Gewohnheit verkennen“.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
3. Akzeptanz juristischer Spruchkörper Unter diesen Vorzeichen erklärt sich auch die nachfolgende Aussage. Es ist nicht das Urteil selbst, das mit seinem scheinbar unbezweifelbaren Richtspruch Beachtung heischt, sondern es ist vielmehr die Art und Weise der Begründung. Die Akzeptanz durch das Volk, im Namen dessen die Entscheidung verkündet wird, rührt nicht zuletzt daher, dass die Richter die widerstreitenden Standpunkte, ihre Gründe und Gegengründe in das Urteil aufgenommen haben und sich auf dieser Grundlage für einen Standpunkt entschieden und auf ihn festgelegt haben. Diese Textstelle ist geradezu gemünzt auf die hohe Akzeptanz bestimmter Gerichte wie des amerikanischen Supreme Court oder des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Denn hier wie dort ist es der in Montaignes Klammerzusatz zum Ausdruck gebrachte Erwägungsgrund, dass nicht zuletzt die Kompetenz der die Rechtsprechung ausübenden Persönlichkeiten aus Sicht des Volkes achtungsgebietend ist.⁴⁰¹ Gerade die neuere Diskussion zeigt, dass die mitunter fragwürdigen Verfahren von Richterernennungen und Berufungen die Akzeptanz der obersten Gerichte nicht in Frage stellen,wenn ein Grundvertrauen in die Abgewogenheit der Entscheidungen in der Bevölkerung herrscht.
4. Dezisionistisches Moment der Urteilsbegründung Auch wenn die Rechtsunterworfenen nicht alle Gründe und Gegengründe kennen, juristisch würdigen oder auch nur im weitesten Sinne verstehen können, ist allein die Tatsache, dass sie im Urteil abgewogen werden und Niederschlag finden, vertrauensbegründend. Das Abwägen der Gründe im Urteil reflektiert auf diese Weise sichtbar, dass sich die Gerichte mit den möglichen Gegengründen auseinandergesetzt haben. Dass das Ergebnis selbst apodiktisch und dogmatisch ausfällt, wird schon deswegen hingenommen, weil es naturgemäß nicht anders sein kann. Dieses dezisionistische Moment der Urteilsbegründung lässt den Entscheid gleichwohl als frei von Willkür erscheinen, weil und sofern alle Argumente zuvor sichtbar bedacht wurden. Unausgesprochen im Hintergrund stehen zwei weitere Gesichtspunkte:
In der personalisierten Form, mit der Montaigne dies zum Ausdruck bringt, mag neben der verbrieften Sachkomptenz als Grundlage der Akzeptanz auch noch ein charismatisches Moment hinzutreten; vgl. auch Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2014, S. 6 ff. Den Essais kann man entnehmen, dass Montaigne die Wirkung seines Auftretens, die er mit seinem Äußeren abglich, nicht unwichtig war.
III. Richterliche Urteile als dogmatische und apodiktische Rede
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a) Richterliche Rechtsfindung Zum einen ist es das Verhältnis zwischen Recht und Rhetorik, weil das formale Verfahren, das Montaigne im Ausgangspunkt hervorhebt, auf einem rhetorischen Argument gründet. Die Art und Weise, wie Rechtsstandpunkte dargestellt und schließlich verbeschieden werden, ist rhetorisch geprägt: „Die feinen und gelehrten Redner sind ganz gut für die Stadt (sc.: Rom); es sind gute Prätoren, die Gerechtigkeit handzuhaben“⁴⁰² (« Les subtils, eloquents et sçavants, sont bons pour la ville, Preteurs à faire justice, dit-il ».⁴⁰³). Es geht hier, wie überall in Montaignes Werk, nicht um die Darstellung einer letztgültigen Wahrheit, die im richterlichen Urteil ihren Niederschlag erfährt, sondern ein Produkt dessen, was rational begründet und formal verständlich nach den Regeln der Kunst zum Ausdruck gebracht wird. In dieser prozeduralen Frage richterlicher Rechtsgewinnung reflektiert sich zugleich Montaignes Skepsis gegenüber jeglicher juristischer Wahrheitsfindung.⁴⁰⁴ Entscheidungen können so oder anders ausfallen, je nachdem wie sie begründet werden. Zur Herstellung eines gewissen Grundvertrauens der Rechtsunterworfenen ist es allerdings unabdingbar, dass sie letztlich in einer apodiktischen und dogmatisch widerspruchsfrei hergeleiteten Form erfolgen. Der rechtsanthropologische Blick legt übrigens für Montaigne noch die folgende Feststellung nahe: „Die Mohammedaner verbieten, ihre Kinder darin (sc.: in der Redekunst) zu unterrichten, weil sie unnütz sei“⁴⁰⁵ (« Les Mahometans en defendent l’instruction à leurs enfants, pour son inutilité ».⁴⁰⁶). Es gehört zur Bestandsaufnahme dessen, was auf der Welt anzutreffen ist; fremde Kulturen können durch ihre Gesetze Erfahrungen über Nutzen und Nachteil vermitteln, die zumindest einen Abwägungsgesichtspunkt für die Beurteilung darstellen. Man lernt daraus zumindest etwas über die Grenzen der Leistungsfähigkeit vermeintlich absolut geschätzter Fertigkeiten: „Die Beredsamkeit, welche uns auf sich selbst zieht, tut den Sachen Gewalt und Unrecht“⁴⁰⁷ (« L’eloquence faict injure aux choses, qui nous destourne à soy ».⁴⁰⁸). Je redegewandter über die Dinge gesprochen wird, desto unschärfer werden sie. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 263. Michel de Montaigne, Les Essais, I 51, S. 325. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 240, paraphrasiert Montaignes diesbezügliche Skepsis erkenntnistheoretisch aufschlussreich: „Niemand kann zu Gericht sitzen und bestimmen, wer von den Herrschaften, die ihrer Sache alle so sicher sind, im Recht ist. Im Grunde sind sie bloß ungebildet. Schon die Sinne sind unsicher, erst recht die Begriffe“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S 262. Michel de Montaigne, Les Essais, I 51, S. 325. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 271. Michel de Montaigne, Les Essais, I 25, S. 179.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
b) Biegsamkeit des Rechts Der andere Punkt hängt mit dem Bedachten zusammen: Es ist die von Montaigne vorausgesetzte Biegsamkeit des Rechts. Denn für Montaigne ist es ein Kennzeichen des Rechts, dass es nicht unbedingt so und nur so ausfallen kann und demzufolge auch nur eine ganz bestimmte Entscheidung ermöglicht, sondern dass das Recht gerade mehrere Auslegungsweisen zulässt. Kehrseite der Dehnbarkeit des Rechts ist seine Manipulierbarkeit. Gerade deswegen ist Montaignes Argwohn so groß, dass bezahlte oder anderswie korrumpierte Rechtskundige Standpunkte zugunsten derer ausloten, die ihnen Vergünstigungen versprechen. Und weil dies so ist, gilt Montaignes Sorge der Rechtssicherheit durch Rechtsprechung. Nur wenn richterliche Urteile auch die Gegengründe dingfest machen und entkräften, lässt sich ein Vertrauen rechtfertigen und begründen, das ungeachtet der Flexibilität des Rechts zumindest den Rechtsunterworfenen die Illusion verschafft, gerecht beurteilt zu werden, wobei man zur Vermeidung von Missverständnissen immer hinzufügen muss, dass für Montaigne – im Übrigen nicht anders als später für Proust⁴⁰⁹ – die Illusion auch etwas Gutes hat. Nicht zuletzt deswegen ist es so wichtig, dass Montaigne im Klammerzusatz die Kompetenz der entscheidenden Richter erwähnt. Ihr Urteil muss so ausfallen und begründet sein, dass es gerade nicht als Resultat einer Routinearbeit verstanden werden kann. Eingedenk der Unverlässlichkeit allen menschlichen Rechts muss es auf dieser unsicheren Grundlage so abgefasst sein, dass wenigstens der Schein der Verlässlichkeit erweckt wird, weil alle in Betracht kommenden Standpunkte darin aufgenommen sind. Indem Montaigne hier das Recht eher als rhetorische Leistung würdigt, macht er zugleich deutlich, wie hoch er den wissenschaftstheoretischen Stellenwert der Jurisprudenz ansiedelt – oder besser gesagt: wie niedrig. Das Recht in seiner manipulierbaren Biegsamkeit ist für ihn eher Rhetorik als Gegenstand der Wissenschaft.
IV. Wahrheitssuche oder Utilitarismus? Montaigne sucht nach der Wahrheit, jedoch nicht in dem Sinne, dass er absolute Wahrheiten zu erkennen beanspruchen wollte, sondern er sucht die Wahrheit über den Menschen, das heißt nicht zuletzt den Menschen Michel de Montaigne.
Meindert Evers, Proust und die ästhetische Perspektive. Eine Studie über ‚A la Recherche du Temps Perdu‘, 2004, S. 142: „Ebenso sehr wie Montaigne ist Proust fasziniert von der Größe der menschlichen Illusion“; Hervorhebung auch dort.
IV. Wahrheitssuche oder Utilitarismus?
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1. Relativität des Nutzens Diese trivial anmutende Überlegung muss vorangestellt werden, um begreiflich zu machen, wie er den antiken Philosophenschulen gegenüber steht: „Es ist leicht ausfindig gemacht, welche von den besagten Sekten am meisten der Wahrheit, welche am meisten der Nützlichkeit gefolgt, und wodurch sie sich in Aufnahme gebracht haben. Es ist nun einmal das Traurige bei unserm Zustande, dass sehr oft dasjenige, was sich unserm Gemüte als das Wahrste darstellt, nicht auch zugleich für das Nützlichste für unser Leben befunden wird. Die kühnsten Sekten, die Epikuräer, die Skeptiker und die neuen Akademiker sind gleichwohl alle genötigt, sich am Ende des Liedes unter die bürgerlichen Gesetze zu schmiegen“⁴¹⁰ (« Il est aisé à distinguer, les unes sectes avoir plus suivy la verité, les autres l’utilité, par où celles cy ont gaigné credit. C’est la misere de nostre condition, que souvent ce qui se presente à nostre imagination pour le plus vray, ne s’y presente, pas pour le plus utile à nostre vie. Les plus hardies sectes, Epicurienne, Pyrrhonienne, nouvelle Academique, encore sont elles contrainctes de se plier à la loy civile, au bout du compte ».⁴¹¹). Eine rein utilitaristische Betrachtung lehnt Montaigne also ab. Den Nutzen begreift er als ein Lockmittel, das den Menschen sich selbst letztlich entfremdet. Allein über die Betrachtung und Maximierung des Nutzens wird der Mensch nie mehr über sich erfahren, sondern im Gegenteil der Wahrheit ferner stehen als vor dem. Denn mit der Erwägung und Vermehrung des Nutzens tut sich eine weitere Größe auf, deren Berücksichtigung den Menschen unweigerlich von dem abbringt, was er sucht, wenn er die Wahrheit über sich herausfinden möchte. Auch dieses Gesetz gehört zur conditio humana. So ist es zu verstehen, wenn er sagt, dass das Elend des menschlichen Daseins sich nicht zuletzt darin äußert, dass das Nützliche dem Menschen mehr verspricht als das Wahre.
2. Gesetz als Maßstab Rätselhaft ist der für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreiche Nachsatz, dass alle Philosophischen Schulen letztlich das Bürgerliche Gesetz als entscheidenden Maßstab anerkennen mussten. Bei näherem Hinsehen ist diese Stelle aber insofern bezeichnend für Montaigne, als sich darin sein allgemeines Vorgehen spiegelt, den Leser auch bei den scheinbar lebensfremden philosophischen Spekulationen immer an sein irdisches Los zu erinnern, das nicht zuletzt durch die
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 324 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 540.
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§ 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
Grenzen bestimmt ist, die das Gesetz dem Menschen setzt. Alle noch so radikalen Lehren, die dem Menschen Wahrheit und Nutzen versprechen, haben letztlich dem Gesetz zu gehorchen. Die gewonnene innere Freiheit entbindet den Menschen nicht von der Befolgung der äußeren Gesetze. Philosophische Lehren, die innere Freiheit in Aussicht stellen, bewähren sich nicht zuletzt daran, wie ihre Befolgung mit dem gesetzten Recht vereinbar ist. Umgekehrt gewährleistet die peinliche Befolgung der Gesetze, die Montaigne an anderer Stelle auch zu seiner Selbstverpflichtung macht, auch innere und äußere Freiheit, die Montaigne über alles geht:⁴¹² „Mir ist meine Freiheit so notwendig, dass, wenn mir jemand verböte, ich sollte mich irgendeinem kleinen Winkel in Ostindien nicht nahen, ich dadurch gewissermaßen ein trauriges Leben führen würde“⁴¹³ (« Je suis si affady après la liberté, que qui me deffendroit l’accez de quelque coin des Indes, j’en vivrois aucunement plus mal à mon aise ».⁴¹⁴). Paradoxerweise ist die Maxime unbedingten Gesetzesgehorsams Ausprägung seines Individualismus’. Denn er weiß, dass ihm der Gehorsam gegenüber dem Gesetz am ehesten Freiheit von staatlichen Eingriffsakten verspricht und ihn im Übrigen in Ruhe lässt.⁴¹⁵ Diese Freiheit unter dem Gesetz als Kehrseite seines Gesetzesgehorsam ist allerdings für ihn auch conditio sine qua non:⁴¹⁶ „Wenn diejenigen Gesetze, unter denen ich lebe, mir nur mit der Spitze des kleinen Fingers drohten, den Augenblick ging ich hin, um unter anderen zu stehen, es möchte auch sein, wo es wollte.“⁴¹⁷ (« Si celles que je sers, me menassoient
Felicity Green, Montaigne and the Life of Freedom, 1984, S. 99: “There is no doubt that Montaigne takes the fact of being fettered or forced to be an infringement of his freedom. Images of confinement and chains abound in the Essais. His polemic against the jurisprudence of his times, in On Experience, lads him to reflect that the mere sight of a prison, even from the outside, is intolerable for him”. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 172. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Vgl. auch Sylvie Delacroix, Montaigne’s Inquiry of the Sources of Normativity, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 16 (2003) 271: „In order to reconstruct the authority of law despite the dangerous darbitrariness from which it flows, Montaigne decides to avoid any inquiry regarding the original law-creating practices by positing a law of pure obedience”. Hierin liegt eine Parallele zu Hayek, der Montaigne gerade um seines Individualismus’ willen verschiedentlich zitiert; Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, 4. Auflage 2004, S. 16: „Nicht nur den Liberalismus des 18. und des 19. Jahrhunderts geben wir schrittweise auf, sondern auch die Grundlagen der individualistischen Philosophie, die wir als Vermächtnis von Erasmus und Montaigne, von Cicero und Tacitus, von Perikles und Thukydides empfangen haben.“ Ferner ders., Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus (B7 der Gesammelten Schriften in deutscher Sprache, Hg. Viktor Vanberg), 2011, S. 9; näher Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 172.
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seulement le bout du doigt, je m’en irois incontinent en trouver d’autres, qù que ce fust ».⁴¹⁸). Die räumliche Relativität des Rechts verspricht also zumindest dort einen Freiheitsgewinn in Gestalt einer Wahlmöglichkeit, wo zumindest Freizügigkeit herrscht.
V. Inkommensurabilität Gottes und menschliche Auslegung Stoßen die verschiedenen philosophischen Lehren schon an die Grenzen menschlicher Gesetze, so widersteht ihnen eines in noch stärkerem Maße, als sie es sich eingestehen wollen; Gottes Allmacht entzieht sich für Montaigne jeder vernünftigen Begreiflichkeit, weil die menschlichen Denkgesetze – und erst recht natürlich die von Menschen gesetzten Gesetze – seiner nicht Herr werden können: „Und wenn dem nicht also wäre, womit wollten wir eine so große Unbeständigkeit, Veränderlichkeit und Richtigkeit der Meinungen bemänteln, die wir von so großen und bewunderungswürdigen Seelen hervorgebracht sehen? Denn zum Beispiele, was kann Richtigeres erdacht werden, als Gott nach unserm eigenen Maßstabe und unsern Mutmaßungen zu messen und erraten zu wollen? Ihn und die Welt nach unsern Fähigkeiten, nach unsern Gesetzen richten? Uns auf Kosten der Gottheit des winzigen Schnitzels von Denkkraft zu bedienen, das ihm gefallen hat, uns für unsre Umstände zukommen zu lassen? Und weil wir mit unserm Blick nicht bis zum Sitze seiner Herrlichkeit reichen können, ihn bis zu ins herab, der Wohnung der Verderbtheit und des Jammers, ziehen zu wollen?“⁴¹⁹ (« Et si on ne le prenoit ainsi, comme couvririons nous une si grande inconstance, varieté, et vanité d’opinions, que nous voyons avoir este produites par ces ames excellentes et admirables? Car pour exemple, qu’est-il plus vain, que de vouloir deviner Dieu par nos analogies et conjectures: le regler, et le monde, à nostre capacité et à nos loix? et nous servir aux despens de la divinité, de ce petit eschantillion de suffisance qu’il luy a pleu despartir à nostre naturelle condition? ».⁴²⁰).
1. Grenzen des Menschen Die damit angesprochene Inkommensurabilität Gottes gibt dem Menschen natürliche Grenzen auf. Es ist – gerade auch im Hinblick auf das Ende der Apologie –
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 325 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 541.
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sehr zweifelhaft, ob Gott für ihn wirklich nur ein Begriff ist, wie im Schrifttum geltend gemacht wurde.⁴²¹ Rationalistische Gottesbeweise, wie sie seit alters erbracht wurden und auch von Montaignes Leser Descartes⁴²² noch geschaffen werden sollten,⁴²³ sind daher für Montaigne von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nichts anderes dürfte aber auch für solche Gottesbeweise gelten, die aus der reinen Faktizität, also etwa dem futurum exactum schöpfen und sich – auch im Hinblick auf Montaigne interessant – als „nietzschefest“ gerieren.⁴²⁴ Denn gerade die Faktizität besagt nichts über sie Hinausgehendes; die Einsicht in die schiere Faktizität genügt sich selbst und erlaubt keine weiteren Schlüsse, sondern nur ein Arrangement mit der Wirklichkeit.⁴²⁵ Analogieschlüsse mögen bei der dogmatischen Arbeit im Rahmen der Auslegung menschlicher Gesetze tunlich und angezeigt sein; vor Gott versagen sie. Man muss die zuletzt betrachtete Stelle wohl im Zusammenhang mit einer späteren lesen: „Mir ist es immer so vorgekommen, als ob für einen Christenmenschen diese Redensarten voller Torheit und Unehrerbietigkeit wären: Gott kann nicht sterben; Gott kann nichts reuen; Gott kann dies nicht tun, das nicht tun. Ich finde es nicht gut, die göttliche Macht solchergestalt unter die Gesetze unsrer Sprache einzuschließen! Und sollte man das, was in diesen Sätzen Wahres zu liegen scheint, ehrerbietiger und mit dem Anstand der Religion ausdrücken!“⁴²⁶ (« Il m’a tousjours semblé qu’à un homme Chrestien cette sorte de parler est pleine d’indiscretion et d’irreverence: Dieu ne peut mourir, Dieu ne se peut desdire, Dieu ne peut faire cecy, ou cela. Je ne trouve pas bon d’enfermer ainsi la puissance divine soubs les loix de nostre parolle. Et l’apparence qui s’offre à nous, en ces propositions, il la faudroit representer plus reveremment et plus religieusement ».⁴²⁷). Diese Stelle setzt in einer für Montaigne typischen Weise den begonnenen Gedanken nach einer längeren Inversion fort.
Francis Jeanson, Montaigne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Übersetzung von Paul Mayer), 1958, S. 62 f. Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal Lecteurs de Montaigne, 1944, S. 19 ff., 113 ff.; Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie, 4. Auflage 1966, S. 93; Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs. Ein Versuch mit Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik 11 (Hg. Ders./R. Warning) 1984. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Dritte Meditation (Meiner-Ausgabe, Hg. Lüder Gäbe, 1960, S. 30 ff.). Robert Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 2007. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 181: „Der Mensch ist nicht korrigierbar, so wie er nun einmal ist; nehmen wir ihn daher, wie er ist in der alten Welt, die nun einmal unsere Welt ist (…). Wiederum hat die Gesinnung der Faktizität die anfängliche Erniedrigung in eine Einwilligung umgewandelt“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 351. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 556.
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2. Rechtsstreitigkeiten als Folge sprachlicher Undeutlichkeit Ebenso typisch ist aber das, was folgt, weil hier der Anschein der Beiläufigkeit erzeugt wird, indem scheinbar nur eine Assoziation aufgegriffen wird,⁴²⁸ die von den sprachlichen Gesetzen ausgeht: „Unsre Sprache hat ihre Schwächen und Gebrechen, wie alles übrige. Die meisten Irrungen in der Welt werden durch grammatikalische Fehler veranlasst. Unsere Prozesse entstehen meistens aus der strittigen Auslegung der Gesetze, und unsre meisten Kriege aus dem Unvermögen, die Traktate und Friedensschlüsse der Fürsten deutlich und ohne Zweideutigkeiten abzufassen“⁴²⁹ (« Nostre parler a ses foiblesses et ses deffaults, comme tout le reste. La plus part des occasions des troubles du monde sont Grammariens. Noz procez ne naissent que du debat de l’interpretation des loix; et la plus part des guerres, de cette impuissance de n’avoir sceu clairement exprimer les conventions et traictez d’accord des Princes ».⁴³⁰). Wiederum wird von den allgemeinen methodischen Fragen der Wahrheitsfindung im Bereich der Philosophie oder gar der Religion unversehens übergeleitet zur Jurisprudenz. Vermittelndes Glied ist auch hier die Sprache. Erneut begegnet hier nämlich der Zusammenhang, dass die Sprache zwar philosophische und theologische Einsichten verständlich und damit begreifbar macht, andererseits aber dadurch, dass sie von Menschen gesprochen wird, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten Vorschub leistet.⁴³¹ Das Dilemma besteht also darin, dass empfangene Wahrheiten einerseits nur über die Sprache zum Ausdruck gebracht werden können, dadurch aber notwendigerweise zugleich verdunkelt werden, weil die Sprache keine eindeutige Festlegung erlaubt.
a) Mehrdeutigkeit von Rechtstexten und Wissen vom Recht Es ist von rechtstheoretisch großer Bedeutung, dass Montaigne auch diesen Zusammenhang wieder am Beispiel der Rechtspraxis exemplifiziert. In der Tat gehen die meisten Prozesse auf Auslegungsschwierigkeiten und Mehrdeutigkeiten in Rechtstexten zurück. Die Mehrdeutigkeiten, also das, was letztlich von Montaigne
Vgl. zu diesem mitunter assoziativen Zugriff Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 9: „In der Fülle der Assoziationen scheint uns das Denken und Wollen Montaignes auf dem Gebiet von Recht und Macht, Individuum und Gesellschaft verloren gegangen zu sein.“ – Sein Versuch, Montaignes Rechtsdenken „als Einheit“ zu zeigen, ist daher verdienstvoll. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 351. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 556. Zum einer metaphysischen Konstellation im Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Sprache Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011, S. 86 ff.
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als Biegsamkeit des Rechts bezeichnet wurde, geben den Juristen Arbeit, ohne dass sie die Rechtssuchenden weiterbringen würden. Auch hier steht im Hintergrund die zuletzt betrachtete Stelle, wonach der Nutzen und seine Maximierung den Menschen – hier den Rechtssuchenden – unweigerlich von sich entfernt und entfremdet. Im Streit um mehrdeutige Gesetze gewinnen für Montaigne letztlich die Juristen, die die Parteien beraten und ihren juristischen Scharfsinn kommerzialisieren – auch und gerade dem Nutzen verpflichtet, aber in demselben Maße sich von der rechtlichen Wahrheit entfernend. Nicht von ungefähr fasst Montaigne die Einsicht bald darauf zusammen: „Diese Art sich eine Sache vorzustellen, lässt sich deutlicher begreifen durch die Frage: ⁴³² Was weiß ich? Wie ich solche als Überschrift einer Waagschale führe“⁴³³ (« Cette fantasie est plus seurement conceue par interrogation: Que sçay-je? comme je la porte à la devise d’une balance ».⁴³⁴). Hier ist die später von Kant ins Epistemologische gewendete Frage: „Was können wir wissen?“ auch und gerade auf das Recht bezogen,⁴³⁵ jedenfalls, wenn man das Zeichen der Waage als Sinnbild der Gerechtigkeit deutet. Jedenfalls steht die Frage, was wir über das Recht wahrhaftig wissen können, für Descartes immer im Hintergrund, weil das Recht gerade der Inbegriff der Unsicherheit ist.⁴³⁶
b) Strafrechtspraxis der Menschen und Strafe Gottes Der Zusammenhang zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit zeigt sich auch am Beispiel des Strafrechts: „Hinzugenommen, dass es nicht die Sache des Missetäters ist, sich nach selbstbeliebiger Waffe und Zeit züchtigen zu lassen, sondern des Richters , die Strafe zu verordnen; und dass man das gar nicht für Strafe halten kann, was der Leidende sich nach freiem Willen auferlegt. Göttliche Rache setzt unsre gänzliche Missbilligung voraus, sowohl ihrer Gerechtigkeit als unsres Leidens“⁴³⁷ (« Joint que ce n’est pas au criminel de se faire foueter à sa mesure, et à son heure: c’est au juge, qui ne met en compte de chastiment, que la
Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 129, spricht von „einer Sprache, die nichts behauptete, die sich selbst negierte, ohne ihre eigene Negation zu formulieren: Was weiß ich?“ – Und weiter: „Der Zweifel in seiner Frageform erwächst aus dem Zusammentreffen einer unmöglichen Behauptung und einer unmöglichen Negation“. Hervorhebungen auch dort. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 352. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 557. Siehe dazu auch Alexander Somek, Rechtliches Wissen, 2006. Treffend Karlheinz Stierle, Pascals Reflexion über den ‚ordre’ er Pensées, Poetica 4 (1971) 167, 192: „Die Fundierung von Descartes’ neuem Begriff (sc. des ‚ordre’) zeigt, wie tief der Montaignesche Skeptizismus gewirkt hat“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 343.
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peine qu’il ordonne: et ne peut attribuer à punition ce qui vient à gré à celuy qui le souffre. La vengeance Divine presuppose nostre dissentiment entier, pour sa justice, et pour nostre peine ».⁴³⁸). Es ist auf den ersten Blick befremdlich und widersinnig, dass Montaigne, der doch am Anfang neuzeitlichen Rechtsdenkens und Philosophierens steht, hier auf die göttliche Gerechtigkeit rekurriert. Das hätte man eher bei Dante erwartet, um nur einen rechtsphilosophischen Repräsentanten des Hochmittelalters zu nennen.⁴³⁹ Es fällt auf, dass Montaigne die Selbstverständlichkeit, wonach es dem Richter obliegt, die Strafe zuzumessen, nicht aber dem Täter, für würdig hält, mit einem religiösen Annex begründet zu werden. Für den mittelalterlichen Menschen war klar, dass die göttliche Gerechtigkeit auch insofern inkommensurabel ist, als ihr Strafmaß dem menschlichen Denken entgegengesetzt ist. Der eschatologische Gleichlauf der Bestrafung hätte nicht eigens hervorgehoben werden müssen. Möglicherweise erklärt sich diese affirmative Begründung der göttlichen Gerechtigkeit damit, dass kurz zuvor von einem heidnischen Brauch die Rede war, der Menschenopfer voraussetzte: „Eine feine Gerechtigkeit, die nach dem Blute der Unschuld dürstet!“⁴⁴⁰ (« Justice affamée du sang de l‘innocence ».⁴⁴¹). Hinzuzufügen wären sinngemäß die Worte: Welch sinnlose Gerechtigkeit, die solches verlangt. Montaigne geht es also nicht zuletzt darum, festzustellen, dass er sein Rechtsgebäude auf dem Boden des Christentums und der christlichen Überlieferung errichtet – wenn man von einem solchen Rechtsgebäude überhaupt sprechen darf. Außerdem dürfte die nachgeschobene Begründung mit der göttlichen Gerechtigkeit auch dem Gegenstand selbst geschuldet sein: der Apologie für Raimundus Sebundus, dessen Hauptschrift ein theologischer Traktat war. Anders als in seinen beiden anderen Büchern und dem Rest des zweiten Buchs gleicht sich hier Montaigne unausgesprochen der Begründungsweise dessen an, den er verteidigt.
c) Widerhall bei Schopenhauer Die zuletzt zitierten Stellen sind von ihrem systematischen Standort her noch in anderer Hinsicht aufschlussreich, weil sie einen späten Widerhall in der Philosophie Schopenhauers finden. Denn hier wie dort geht es thematisch um die Rache. Bei Schopenhauer heißt es im ersten Teil seines philosophischen Hauptwerks: „Wir sehn bisweilen einen Menschen über ein großes Unbild, das er erfahren, ja vielleicht nur als Zeuge erlebt hat, so tief empört werden, dass er sein
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 551. Eingehend Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 341. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 550.
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eigenes Leben, mit Ueberlegung und ohne Rettung, daran setzt, um Rache an dem Ausüber jenes Frevels zu nehmen. Wir sehn ihn etwan einen mächtigen Unterdrücker Jahre lang aufsuchen, endlich ihn morden und dann selbst auf dem Schafott sterben, wie er vorhergesehn, ja oft gar nicht zu vermeiden suchte, indem sein Leben nur noch als Mittel zur Rache Werth für ihn behalten hatte. – Besonders unter den Spaniern finden sich solche Beispiele.“⁴⁴² In der zugehörigen Fußnote wird interessanterweise nicht nur auf einen konkreten Fall Bezug genommen, sondern dort heißt es verweisend: „Auch findet man Beispiele im Montaigne, Buch 2, Kap. 12.“ Das ist nicht von ungefähr derjenige Essay, von dem die vorstehende Überlegung zur (göttlichen) Rache ausgeht. Aufschlussreich ist ferner, dass es sich um eine Stelle handelt, in der die Völkervergleichung zum Zuge kommt. Schließlich erklärt die Passage Schopenhauer den Traditionszusammenhang, von dem auch die vorliegende Arbeit ausging, als sie mit Nietzsches Bewunderung für Montaigne anhob. Denn Nietzsches Hochachtung für Montaigne hat innerhalb seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen nicht von ungefähr in jener seinen Platz, die mit Schopenhauer als Erzieher überschrieben ist.⁴⁴³ Und Nietzsche wiederum war es, der die historische Rechts- und Völkervergleichung zum Desiderat der Rechtsphilosophie erhob.⁴⁴⁴ Das Bindeglied zwischen Montaignes und Nietzsches rechtsphilosophischen Gedanken ist bezeichnenderweise Schopenhauer. Die zuletzt zitierte Passage ist auch – mitnichten zufälligerweise – thematisch einschlägig, findet sie sich dort in jenem Paragraphen seines Hauptwerks, welcher der ewigen Gerechtigkeit gewidmet ist.⁴⁴⁵
VI. Strafrechtsbegründung außerhalb der Apologie Aber auch in den übrigen Teilen der Essais, das heißt außerhalb der Apologie, finden sich mitunter Stellen über grundlegende Fragen der Bestrafung. Programmatisch heißt es bereits im ersten Buch: „Die Buße will Last auflegen!“⁴⁴⁶ (« La penitence demande à charger ».⁴⁴⁷). Eine gleichsam nach innen gewendete
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band 1, § 64. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, III 2. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, 261, 744; dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 1, 80 ff. Mit guten Gründen skeptisch gegenüber dieser Lehre von der ‚ewigen Gerechtigkeit‘ Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, S. 161 („groteske Parodie traditioneller Theodizeevorstellungen“). Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 45. Michel de Montaigne, Les Essais, I 7, S. 53.
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Form der Sühne, die der äußeren Gerechtigkeit, die durch den Staat geübt wird, vorangeht, findet sich im Abschnitt über das Gewissen: „Hesiod berichtigt einen Spruch des Plato, dass die Strafe dem Verbrechen hart auf der Ferse folge. Denn, sagte er, sie entsteht mit ihm in einem und demselben Moment. Jeder Mensch, der eine Strafe erwartet, leidet sie, und ein jeglicher, der sie verdient hat, erwartet sie. Die Bosheit zimmert und schmiedet für sich selbst die Peinbank“⁴⁴⁸ (« Hesiode corrige le dire de Platon, que la peine suit de bien près le peché: car il dit qu’elle naist en l’instant et quant et quant le peché. Quiconque attend la peine, il la souffre, et quiconque l’a meritée, l’attend. La meschanceté fabrique des tourmens contre soy »“.⁴⁴⁹). Im Unterschied zur zuletzt behandelten Stelle, die in der Apologie angesiedelt war, begründet Montaigne den Strafmechanismus nicht theologisch, etwa indem er das Gewissen als Stimme beziehungsweise Echo der Stimme Gottes interpretiert, wie es christlichem Denken entspricht.⁴⁵⁰ Die Argumentation ist hier eher heidnisch und irdisch geprägt, indem sie die Gewissensbisse als eine Art der Folter darstellt.
1. Rückgriff auf heidnisches Rechtsdenken Dieser Rückgriff auf heidnisches Denken mit seinen völlig anders gearteten, aber für Montaigne nichtsdestoweniger weiterführenden Gerechtigkeitsvorstellungen findet sich auch zu Beginn des dritten Buchs ausgedrückt, wo er eine aus dem alten Ägypten tradierte Gerechtigkeitsvorstellung behandelt, die man wohl am wenigsten den Pharaonen zugetraut hätte: „Jedermann muss sich selbst zugeschworen haben, was die ägyptischen Könige die Richter ihres Landes aufs feierlichste beschwören ließen, dass sie niemals ihrem Gewissen entgegenhandeln wollten, die Könige möchten ihnen auch noch so sehr das Gegenteil befehlen. Bei solchen Aufträgen liegt immer offenbar Schimpf und Schande zugrunde, und wer Euch solche gibt, ist Euer Ankläger, und gibt sie Euch, wenn Ihr es recht begreift, als Bestrafung. So viel die öffentlichen Angelegenheiten durch eine solche Verrichtung sich bessern, ebenso verschlimmern sich die Eurigen. Je besser Ihr einen solchen Auftrag ausrichtet, je größer ist der Schimpf, den er Euch zuzieht, und es wird eben nichts Neues sein, auch vielleicht nicht ohne scheinbare Gerechtigkeit,
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 62. Michel de Montaigne, Les Essais, II 5, S. 385. Vgl. nur John Henry Newman, Entwurf einer Zustimmungslehre (Übersetzung Theodor Häcker, 1961), S. 83; dazu Joseph Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen, 2. Auflage 1988, S. 266 ff.
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dass Euch derjenige selbst bestraft, der Euch dazu angestellt hat“⁴⁵¹ (« Chacun doit avoir juré à soy mesme, ce que les Roys d’Ægypte faisoient solennellement jurer à leurs juges, qu’ils ne se desvoyeroient de leur conscience, pour quelque commandement qu’eux mesmes leur en fissent. À telles commissions il y a note evidente d’ignominie, et de condemnation. Et qui vous la donne, vous accuse, et vous la donne, si vous l’entendez bien, en charge et en peine. Autant que les affaires publiques s’amendent de vostre exploict, autant s’en empirent les vostres : vous y faictes d’autant pis, que mieux vous y faites. Et ne sera pas nouveau, ny à l’avanture sans quelque air de justice, que celuy mesmes vous ruine, qui vous aura mis en besongne ».⁴⁵²). Diese für Montaignes historische Rechts- und Kulturvergleichung bezeichnende Stelle veranschaulicht nicht nur den Gedanken scheinbarer – nämlich buchstäblich ‚gewissenloser‘ – Gerechtigkeit mit ihrem kontraintuitiven Wirkungsmechanismus, sondern erschließt ihn nicht von ungefähr aus zeitlich und räumlich entferntesten Gerechtigkeitsvorstellungen. Der skeptische Blick auf die staatsrechtlichen und moralischen Vorstellungen einer untergegangenen Kultur enthüllt Montaignes Scharfblick die Einsicht eines möglichen Zugewinns an Rechtskultur.
2. Ablehnung der Folter Es ist typisch für Montaignes mitunter assoziierendes Vorgehen, dass wenig später nach der zuvorletzt zitierten Stelle aus der Apologie die Folter thematisiert wird: „Es ist eine gefährliche Erfindung um die Tortur; sie scheint mehr eine Prüfung der Geduld als der Wahrheit zu sein. Und derjenige, der sie aushalten kann, verbirgt die Wahrheit so gut wie der, welcher solche nicht auszuhalten vermag. Denn, warum sollte der Schmerz mich eher dahin bringen, zu bekennen, was an der Sache ist, als mich zwingen, zu sagen, was nicht wahr ist? Und wenn hingegen derjenige, welcher das nicht getan hat, dessen man ihn beschuldigt, geduldig genug ist, die Pein auszuhalten, warum sollt’s denn der nicht sein können, der es getan hat, da ihm dafür ein so wichtiger Lohn bevorsteht, als das Leben ist?“⁴⁵³ (« C’est une dangereuse invention que celle des gehennes, et semble que ce soit plustost un essay de patience que de verité. Et celuy qui les peut souffrir, cache la verité, et celuy qui ne les peut souffrir. Car pourquoy la douleur me fera elle plustost confesser ce qui en est, qu’elle ne me forcera de dire ce qui n’est pas? Et au
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 15. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 837. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 65 f.
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rebours, si celuy qui n’a pas faict ce dequoy on l’accuse, est assez patient pour supporter ces tourments, pourquoy ne le sera celuy qui l’a faict, un si beau guerdon, que de la vie, luy estant proposé? »⁴⁵⁴). Montaigne wendet sich also in einer durchaus modern erscheinenden Begründung gegen die Geeignetheit der Folter.⁴⁵⁵ Er geißelt sie als ein vornherein untaugliches Mittel, weil sie die Wahrheitsfindung nicht verlässlich garantiert.⁴⁵⁶ Mit dieser pragmatischen Begründung Montaignes wird Vieles widerlegt, was heute unter dem unschönen Begriff der Rettungsfolter diskutiert wird.⁴⁵⁷
a) Ungewissheit der Beweise Die Argumentation ist aber auch insofern bezeichnend für Montaignes Rechtsdenken, als sie dort ansetzt, wo die Folter letztlich wirkt, nämlich bei der conditio humana. Nur ist es hier nicht die menschliche Bedingtheit, die alle gleichermaßen umfängt, sondern die jeweilige und spezifische des einzelnen gefolterten Menschen, der unterschiedlich viele Schmerzen aushält oder der unterschiedlich taktiert und die Ungewissheit des Folternden einkalkuliert. Nicht minder interessant ist die zweite Reflexionsebene Montaignes, die den Mechanismus auf die Macht des Gewissens zurückführt: „Ich glaube, der Grund, worauf diese Erfindung erbaut ist, sei die bekannte Regung des Gewissens. Denn dem Schuldigen scheint es die Qual zu vergrößern, um ihn zum Geständnis seines Verbrechens zu bringen und auch seinen Starrsinn zu schwächen und auf der andern Seite den Unschuldigen gegen die Martern zu stärken. Die Wahrheit aber zu bekennen, so ist es ein sehr unsicheres und gefährliches Auskunftsmittel. Was sollte man nicht tun, was sollte man nicht sagen, um so heftigen Martern zu entfliehen?“⁴⁵⁸ (« Je pense que le fondement de cette invention, vient de la consideration de l’effort de la conscience. Car au coulpable il semble qu’elle aide à la torture pour luy faire confesser sa faute, et qu’elle l’affoiblisse: et de l’autre part qu’elle fortifie l’in-
Michel de Montaigne, Les Essais, II 5, S. 387. Weiterführend Maryanne Cline Horowitz, Seeds of Virtue and Knowledge, 1988, S. 206; Mathias Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung: 2000 Jahre Recht in Europa, 2005, S. 271; Anja Katarina Weilert, Grundlagen und Grenzen des Folterverbotes in verschiedenen Rechtskreisen, 2009, S. 100. Siehe auch zu neueren Begründungsmustern Jan Philipp Reemtsma, Folter im Rechtsstaat?, 2005; Jens Petersen, Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie. 2. Auflage 2007; zustimmend Christian Jäger, Das Verbot der Folter als Ausdruck der Würde des Staates, Festschrift für Rolf Herzberg, 2008, S. 539. Winfried Brugger, Einschränkungen des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 36/2006. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 66.
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nocent contre la torture. Pour dire vray, c’est un moyen plein d’incertitude et de danger. Que ne diroit on, que ne feroit on pour fuyr à si griefves douleurs? ».⁴⁵⁹).
b) Gewissen als internes Folterwerkzeug An dieser Stelle – gleichsam der Pointe des Vorangehenden – erweist sich, dass der Übergang zur Folter eben doch keinem freien Assoziieren entsprang, sondern einer systematischen Schlüssigkeit entspricht, die sich vom Ausgangspunkt her ableiten lässt: Denn die Eingangs am Beispiel von Hesiods und Platos erwähnte nach innen gerichtete Form der Bestrafung durch den Gewissensbiss wird hier immanent aufgegriffen und auf die Probe gestellt. Diese ergibt für Montaigne, dass die zuvor im übertragenen Sinne verwendete Folter durch das Gewissen eben doch etwas fundamental anderes ist, als die tatsächliche Folter durch Folterwerkzeuge, die dem Menschen wirkliche Schmerzen zufügt.⁴⁶⁰ Die Macht des Gewissens als gleichsam internes Folterwerkzeug mag für Montaigne noch so wesentlich sein, sie reicht aber in der Art und Weise, Leiden zuzufügen, nicht an den tatsächlichen körperlichen Schmerz heran. Der Gefolterte wird gestehen, und zwar unabhängig vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage, was ihm vorgeworfen wird.
c) Paradigma neuzeitlichen Rechtsdenkens Hieran zeigt sich Montaignes neuzeitliches Denken sehr deutlich: Er gibt sich nicht zufrieden mit dem Topos der Macht des Gewissens, die angeblich die schlimmsten Höllenqualen zufügt, sondern wendet diese Hypothese auf die Zu Michel de Montaigne, Les Essais, II 5, S. 387. Siehe dazu auch Mathias Schmoeckel, Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, 2000, S. 573: „Die Bedeutung Montaignes reicht jedoch wesentlich weiter, indem er auf der Basis seiner Erkenntnislehre die Ansätze einer anderen Politik und Jurisprudenz entwickelte. Seine Skepsis gegenüber etablierten Wahrheiten führte ihn dazu, der individuellen Perzeption größere Beachtung zu schenken. Die Pflege des Körpers diente damit der von Schmerzen ungestörten Erkenntnis und der Relativierung eigener Sinneswahrnehmungen. Der Mensch, der seine Empfindungen und letztlich seine Natur zu beachten lernte, handelte zugleich natürlicher, d. h. menschlicher. Die anthropologischen Beobachtungen sollten den Staat zugleich auf eine dem Naturrecht verpflichtete ethische Politik festlegen. Eine humane Staatspolitik würde wiederum das Volk Menschlichkeit lehren und zum Rückgang der Kriminalität führen. Diese in nuce entwickelten revolutionären Gedanken Montaignes wurden vor allem dadurch wirksam, dass sein Modell eines der Menschlichkeit verpflichteten Edelmannes, des ‚honnête homme‘, durch die Vermittlung der Essais für fast zwei Jahrhunderte zum europäischen Erziehungsideal wurde. Jeder einzelne Ansatz Montaignes findet sich in entwickelter Form bei Friedrich wieder und trug dazu bei, die Grundsätze einer neuen Politik zu verwirklichen“.
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fügung wirklicher Qualen an. Für ihn ergibt sich zweifelfrei, dass der von seiner Unwahrhaftigkeit gepeinigte Mensch weniger geschlagen ist, als der körperlich leidende. Hier besteht zugleich ein immanenter systematischer Zusammenhang zu denjenigen Stellen, an denen er seine Körperlichkeit in allen Einzelheiten darstellt, die Schmerzen, die ihm seine Nierensteine bereiten und alles Übrige, das er in einer extremen Form der Selbstbeobachtung für würdig hält, niedergeschrieben und veröffentlicht zu werden. Ebenfalls typisch für Montaignes Rechtsdenken ist die Anekdote, mit der er seine Betrachtung über das Gewissen abschließt: Ein unaufrichtiger Soldat wird durch den fanatischen Gerechtigkeitssinn seines Vorgesetzten getötet, damit die Obduktion ergeben kann, ob er ein ihm vorgeworfenes Verbrechen begangen habe. Montaignes lakonischer Kommentar lautet: „Ein sehr lehrreicher Urteilsspruch“⁴⁶¹ (« Condemnation instructive ».⁴⁶²).
d) Unredlichkeit über den Tod hinaus An anderer Stelle setzt sich Montaigne mit den eigentümlichen Gewissensskrupeln derer auseinander, die zwar wissen, dass sie etwas widerrechtlich besitzen, die Restitution zu Lebzeiten aber scheuen, weil sie sich so lange noch im bequemen Besitz der Sache halten wollen. Die darin zum Ausdruck kommende pharisäerhafte Gesinnung geißelt er als besonders verwerflich und scheinheilig: „Ich habe verschiedene meiner Zeitgenossen gekannt, die in ihrem Gewissen überzeugt waren, dass sie fremdes Gut besäßen, und welche Anstalten machten zur Wiedererstattung, durch Testament und nach ihrem Tode. Das taugt gar nichts. Wozu das Aufschieben einer so dringenden Sache? Was soll das für ein Ersatz für ein Unrecht sein, der ihnen weder Mühe noch Kosten macht? Sie sind schuldig, selbst zu vergüten; und je schwerer und saurer ihnen die Bezahlung fällt, je gerechter und verdienstlicher ist ihre Erstattung“⁴⁶³ (« J’ay veu plusieurs de mon temps convaincus par leur conscience retenir de l’autruy, se disposer à y satisfaire par leur testament, et après leur decès. Ils ne font rien qui vaille. Ny de prendre terme à chose si pressante, ny de vouloir restablir une injure avec si peu de leur ressentiment et interest. Ils doivent du plus leur. Et d’autant en est leur satisfaction plus juste et meritoire ».⁴⁶⁴). Recht und Moral entsprechen in Montaignes Vorstellung einander ebenso, wie Unrecht und Immoralität der Delinquenten korrespondieren. Der amoralische Utilitarismus der bösgläubigen Besitzer, der nie
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 67. Michel de Montaigne, Les Essais, II 5, S. 388. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 45. Michel de Montaigne, Les Essais, I 7, S. 53.
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mandem zu schaden scheint, solange der Berechtigte nicht um sein Recht weiß, ist durch nichts gerechtfertigt. Im Unterschied zur mittelalterlichen Auffassung, die in solchen Fällen ein eschatologisches Moment jenseitiger Gerechtigkeit in Betracht ziehen würde,⁴⁶⁵ argumentiert Montaigne innerweltlich: Hienieden ist Unrecht verübt worden, hier fordert Gerechtigkeit Vergeltung. Der Tod setzt dafür nur eine Frist, die nach Montaignes stetiger Mahnung kürzer ist, als man glaubt.
e) Ungerechte und gerichtete Richter Wie kurz die Frist ist, die der Tod dem Menschen setzt und innerhalb derer er womöglich gerecht handeln soll, veranschaulicht sein Essay über das Philosophieren als Lernen des Sterbens: „Der arme Bebius, ein Richter, während er einer Partei eine achttägige Frist bewilligt, wird (sc.: vom Tod) ergriffen und seine Lebensfrist war verstrichen“⁴⁶⁶ (« Le pauvre Bebius, Juge, cependant qu’il donne delay de huictaine à une partie, le voylà saisi, le sien de vivre estant expiré ».⁴⁶⁷). Der Parallelismus des gerichteten Richters, der den Ablauf der von ihm gesetzten Frist nicht mehr erlebt: Was wie die vordergründige Pointe eines typischen Juristen erscheint, der Montaigne in seinen Essais gerade nicht sein möchte, verleiht in rhetorischer Überspitzung einer grundlegenden Einsicht Geltung. Der Tod setzt der Verwirklichung der Gerechtigkeit eine unausweichliche Frist; wann sie verstreicht, weiß niemand, und daher muss jeder jederzeit damit rechnen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die rhetorische Frage in Montaignes Gedanken über den bösgläubigen Besitzer: „Wozu das Aufschieben einer so dringenden Sache?“ Die einem Jeden anzusinnende und zumutbare Herstellung der Gerechtigkeit durch Aufhebung ihm bekannter Ungerechtigkeiten, von denen er kleinmütig profitiert, duldet keinen Aufschub. Wer darüber zu Tode kommt, stirbt unwiderruflich in Schande: „Sie zeigen, dass sie um ihre eigene Ehre wenig besorgt sind, indem sie den Beleidigten reizen, ihr Andenken nicht zu verschönen; und noch weniger sind sie besorgt für ihr Gewissen, indem sie, selbst in Hinsicht auf den Tod, nicht einmal ihren Groll töten können, sondern solchen noch weit über ihr Leben hinaus wirksam erhalten wollen. Es sind ungerechte Richter, welche das Urteil so lange verschieben, bis sie nichts mehr von der Sache wissen“⁴⁶⁸ (« Et monstrent avoir peu de soin du propre honneur, irritans l’offencé à l’encontre de leur memoire: et moins de leur conscience, n’ayants pour le respect de la mort mesme, sceu faire mourir leur maltalent: et en estendant la vie outre la
Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011, S. 11 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S 105. Michel de Montaigne, Les Essais, I 19, S. 87. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S.45.
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leur. Iniques juges, qui remettent à juger alors qu’ils n’ont plus cognoissance de cause ».⁴⁶⁹).
3. Strafbarkeit des Selbstmordes? Eine andere Grundlagenproblematik, die zwar nicht in der Apologie verhandelt wird, aber dem systematischen Zusammenhang nach zum Strafrecht gehört und ihrer theologischen Einleitung nach auch in der Apologie stehen könnte, betrifft die Frage der Strafbarkeit des Selbstmordes:⁴⁷⁰ „Gott gibt uns Urlaub genug, wenn er uns in solchen Zustand versetzt, worin leben ärger ist als sterben. Es ist Schwachheit, den Qualen zu unterliegen, aber Torheit wärs, sie noch zu erküren“⁴⁷¹ (« Dieu nous donne assez de congé, quand il nous met en tel estat, que le vivre nous est pire que le mourir. C’est foiblesse de ceder aux maux, mais c’est folie de les nourrir ».⁴⁷²).
a) Individualistische Rechtsauffassung Die dogmatische Begründung, die Montaigne für die Straflosigkeit des Selbstmords gibt, verdient Beachtung, weil sie sein Gesetzesverständnis verdeutlicht: „So, wie ich die Gesetze nicht übertrete, die gegen die Gaudiebe gemacht sind, wenn ich das Meinige wegtrage oder meinen Geldbeutel abschneide; noch für einen Mordbrenner gehalten werden kann, wenn ich mein Holz verbrenne, so bin ich auch nie den Strafen des Totschlägers unterworfen, wenn ich mir mein eigenes Leben nehme!“⁴⁷³ (« Comme je n’offense les loix, qui sont faictes contre le larrons, quand j’emporte le mien, et que je coupe ma bourse: ny des boutefeuz, quand je brusle mon bois: Aussi ne suis-je tenu aux loix faictes contre meurtriers, pour m’avoir osté ma vie ».⁴⁷⁴). So sinnfällig diese Ansicht auf den ersten Blick erscheint, so sehr erweist sie sich als Zeugnis einer extrem individualistischen Rechtsauffassung, die unabhängig von der Beantwortung der Ausgangsfrage bei den gewählten Beispielen und Delikten auch an ihre Grenzen gerät. Was bei der Straflosigkeit des Diebstahls noch ohne Weiteres erklärlich ist – es handelt sich
Michel de Montaigne, Les Essais, I 7, S. 53 f. Speziell zu Montaignes Haltung Peter Mösgen, Selbstmord oder Freitod?: Das Phänomen des Suzides aus christlich- philosophischer Sicht, 199, S. 47 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 34. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 369. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 34. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 370.
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dann nicht um eine fremde bewegliche Sache, die „gestohlen“ wird, ist bei der Brandstiftung weit weniger klar: Wer eigenes Holz verbrennt, vernichtet dadurch zwar nicht unmittelbar einen fremden Vermögenswert, gefährdet aber unter Umständen Andere. Was also bei reinen Vermögensdelikten nachvollziehbar ist, kann bei Gefährdungsdelikten mit Fug bezweifelt werden. Das Verbrennen eigener Sachen kann unkalkulierbare Folgeschäden in der Nachbarschaft verursachen; Feuer können übergreifen und in der Folge fremde Rechtsgüter beeinträchtigen. Für diese Möglichkeit hat Montaignes individualistische Rechtsauffassung keinen Blick.
b) Dispositionsbefugnis über das eigene Leben Seine individualistische Begründung stieß seinerzeit naturgemäß nicht so sehr wegen dieser dem dogmatischen Fortschritt der Strafrechtswissenschaft zu verdankenden Einsichten auf Widerstand, sondern vielmehr wegen der theologischen Gegenargumente, die dem Menschen die Dispositionsbefugnis über das gottgegebene Leben versagten: „Aber mit dieser Meinung kommt man nicht durch ohne großen Widerspruch, denn viele sind des Dafürhaltens: wir könnten die Garnison dieser Welt nicht ohne ausdrücklichen Befehl desjenigen verlassen, der uns hineingesetzt hat, denn es sei Gott selbst, der uns hineinverlegt, und nicht nur für uns allein, sonder zu seiner Ehre und Herrlichkeit und zum Dienste unseres Nebenmenschen, der uns ablösen könne, wenn es ihm gefalle; nicht aber dürfen wir den Abschied nehmen, weil wir nicht für uns allein geboren wären, sondern auch für unser Vaterland. Deshalb dann die Gesetze von uns selbst und wegen unsres Selbstmordes, für ihr Interesse, Rechenschaft zu fordern befugt wären und wir wegen Verlassen unseres Postens in der andern Welt unsre Strafe finden würden“⁴⁷⁵ (« Mais cecy ne s’en va pas sans contraste: Car plusieurs tiennent, que nous ne pouvons abandonner cette garnison du monde, sans le commandement exprès de celuy, qui nous y a mis; et que c’est à Dieu, qui nous a icy envoyez, non pour nous seulement, ains pour sa gloire et service d’autruy, de nous donner congé, quand il luy plaira, non à nous de le prendre: Que nous ne sommes pas nays pour nous, ains aussi pour nostre païs: les loix nous redemandent compte de nous, pour leur interest, et on action d’homicide contre nous. Autrement comme deserteurs de nostre charge, nous sommes punis en l’autre monde ».⁴⁷⁶).
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 35. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 370.
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c) Metapher des Wehrpflichtigen Montaigne kleidet die Wiedergabe dieser Gegenauffassung bewusst in die Metaphorik des von oben eingesetzten Soldaten, der die ihm zugewiesene Stellung nicht ohne entsprechendes Kommando aufgeben darf, andernfalls er als Deserteur haftbar gemacht wird. Wenn man bedenkt, wie widerwillig er soldatischem Gehorsam gegenüber steht und wie sehr er bereits im bisherigen Verlauf der Erörterung in Abrede gestellt hat, dass die Wehrpflichtigen ihr Land aus eigenen Stücken und innerer Überzeugung verteidigten, dann wird auch in diesem Bild deutlich, wie sehr er das Verbot der Selbsttötung als unrechtmäßigen Eingriff in die persönliche Freiheit erachtet. Die Abkehr von der tradierten christlichen Lehre wird immanent auch dadurch deutlich, dass er seinen Standpunkt in der Weise beispielhaft erklärlich zu machen sucht, dass er die Standhaftigkeit Catos vergleichsweise geringschätzt, während selbst der gestrenge Richter Dante ihm ungeachtet seines Selbstmordes noch einen Platz im Purgatorio zuweist.⁴⁷⁷
d) Suizid um des Gemeinwesens willen? Mit einer Mischung aus Staunen und Verwunderung berichtet Montaigne, was ein bedeutender römischer Jurist „Cocceius Nerva für sein Vaterland tat, mit weniger Wirkung zwar, aber mit ebensovieler Liebe. Dieser große Rechtskonsulent, dem es weder an Gesundheit, noch Reichtümern, noch Ruhm, noch an Einfluss beim Kaiser gebrach, hatte keine andere Ursache, sich das Leben zu nehmen, als das Mitleiden mit dem traurigen Zustande, worin sich das Gemeinwesen der römischen Republik befand“⁴⁷⁸ (« Ce qu’elles firent pour leurs maris, Cocceius Nerva le fit pour sa patrie, moins utilement, mais de pareil amour. Ce grand Jurisconsulte, fleurissant en santé, en richesses, en reputation, en credit, près de l’Empereur, n’eut autre cause de se tuer, que la compassion du miserable estat de la chose publique Romaine ».⁴⁷⁹). Der einführende Nachsatz kann als Kommentar Montaignes gelten: der Suizid dessen, der nur an der Verdorbenheit des Gemeinwesens leidet – ein Umstand, mit dem auch Montaigne seinerzeit zu kämpfen hatte – , erscheint ihm nicht hinreichend, zumal da die Tat aus Montaignes Sicht schlechterdings ineffizient ist. Typisch für Montaigne ist, dass er unter vielen historischen Beispielen, Anekdoten und tatsächlichen Begebenheiten auch gesetzliche Bestimmungen erwähnt, die zumindest ein gesellschaftlicher Reflex auf bestimmte Probleme – hier das des Freitods – darstellen. Auch wenn dies bei
Zu den Gründen näher Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011, S. 21 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 48 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 377.
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Montaigne stets nur einen untergeordneten Gesichtspunkt betrifft, erweist er sich hier als gedanklicher Vorläufer Montesquieus, der die gesetzlichen Regeln und den Geist,von dem sie getragen sind, primär in den Blick nimmt. Montesquieu, der Montaigne nachweislich gelesen hat,⁴⁸⁰ konnte in dieser Hinsicht auf seiner Darstellungsweise und Methode aufbauen.
e) Genehmigung durch das Staatswesen? Im Hinblick auf die Strafbarkeit des Suizids erwähnt Montaigne Folgendes: „Es gibt bürgerliche Verfassungen, wo man sich darauf eingelassen hat, über den Selbstmord und dessen Schicklichkeit gerichtlich zu entscheiden. In unserm Marseille verwahrte man in vorigen Zeiten einen auf öffentliche Kosten zubereiteten Gift- oder Cicutatrank für diejenigen, welche ihr Ende befördern wollten. Nur mussten solche vorher den sechshundert Männern, welches ihr Magistrat war, die Ursache ihres Entschlusses anzeigen. Es war aber nicht erlaubt, ohne Einwilligung des Magistrats und ohne ehrenhafte Ursachen seinem Leben ein freiwilliges Ziel zu setzen“⁴⁸¹ (« Il y a des polices qui se sont meslées de regler la justice et opportunité des morts volontaires. En nostre Marseille il se gardoit au temps passé du venin preparé à tout de la ciguë, aux despens publics, pour ceux qui voudroient haster leurs jours; ayants premierement approuvé aux six cens, qui estoit leur Senat, les raisons de leur entreprinse: et n’estoit loisible autrement que par congé du magistrat, et par occasions legitimes, de mettre la main sur soy. Cette loy estoit encor’ ailleurs ».⁴⁸²). Montaigne sagt nicht, was er von diesen Gesetzen hält; der Gesamttendenz nach, die sich auch in seinem abschließenden Wort entnehmen lässt, kann er solchen Gesetzen nichts abgewinnen. Sie erscheinen ihm paternalistisch, die individuelle Freiheit bevormundend und weder von der Sache noch von der christlichen Tradition her hinreichend legitimiert. Eine obrigkeitsstaatliche Regulierung des Suizids erachtet er allem Anschein nach als Kuriosum, das die Freiheit des Einzelnen geringschätzt. Sein Resümee kann als respektvolle und bekenntnishafte Betonung eines möglichen Ausnahmetatbestandes – zumindest auf der Entschuldigungsebene – vom theologischen Verdikt aufgefasst werden: „Schmerz und Pein und ein schlimmer Tod dünken mich die Anreizungen zu sein, die am meisten zu entschuldigen sind“⁴⁸³ (« La douleur, et une pire mort, me semblent les plus excusables incitations ».⁴⁸⁴).
John M. Bomer, The Presence of Montaigne in the Lettres Persanes, 1988, S. 121 und passim. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 54 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 380 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 56. Michel de Montaigne, Les Essais, II 3, S. 381.
VII. Falscher Schein des Rechtswesens
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4. Folgerung für Montaignes Geschichts- und Gesetzesverständnis Der soeben skizzierte Gedanke ist paradigmatisch für Montaignes Gesetzesverständnis. Er erwähnt mitunter Gesetze scheinbar beiläufig, ohne sie im Einzelnen zu würdigen, doch nie ohne Absicht. Das Bestehen gesetzlicher Regelungen in der Gegenwart oder Vergangenheit ist für ihn ein Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen der Entscheidung grundlegender Fragen. Die Existenz einer gesetzlichen Bestimmung streitet dafür, dass der betreffende Sachverhalt in einem Gemeinwesen regelungsbedürftig zu sein scheint; mehr sagt sie für sich betrachtet nicht aus. Wenn es in der Rechtsgeschichte, die für Montaigne als Hort historischen Anschauungsmaterials besonders aussagekräftig ist, eine Vielzahl entsprechender Regelungen im Laufe der Zeit gab, spricht dies für die Sinnhaftigkeit einer solchen Bestimmung, ohne sie deshalb als zwingend erscheinen zu lassen. Bestehen gesetzliche Regelungen über eine lange Zeit, so sind sie kraft der Dauer ihrer Geltung mit einer höheren Autorität ausgestattet. Zwar verbrieft dies noch keinen Wahrheitsanspruch, doch kann man entsprechend dem eingangs dieser Abhandlung Gesagten dann zumindest von einer wahren Gesetzesgeltung sprechen. Auch dann bezieht sich das Wahre aber nur auf die Geltung und nicht auf das Gesetz. Montaigne vollzieht noch nicht den epochalen Schritt, den Geist der Gesetze zu ergründen; dies zum Bestimmungsgrund zu erheben, war Montesquieu vorbehalten, der aber womöglich nicht so weit vorgedrungen wäre, wenn er nicht seinerseits auf den Schultern des Riesen Montaigne gestanden hätte.
VII. Falscher Schein des Rechtswesens Dem gerichtserfahrenen Gutsherrn Montaigne gab zu denken, wie allein der böse Schein Minderprivilegierte zugrunde richten konnte und sie allein um dieser Möglichkeit willen so misstrauisch gegenüber der Gerichtsbarkeit werden ließ, dass sie die gebotene Hilfeleistung unterließen, um nicht selbst verurteilt zu werden: „Da kommen Bauern, mir in aller Eile zu berichten, dass sie in einem Walde, der mir gehört, einen Menschen liegen gefunden, dem man hundert Stiche gegeben, der noch lebt und der sie um aller Barmherzigkeit willen gebeten hat, ihm etwas Wasser zu reichen und ihm zu helfen, sich aufzurichten. Sie sagen dabei, sie hätten gefürchtet sich ihm zu nähern und seien davongelaufen, damit sie nicht von Gerichtsdienern überrascht werden möchten, und, wenn sie bei einem erschlagenen Menschen angetroffen würden, wie zu geschehen pflegt, in Verhaft und zur Antwort gezogen würden, welches ihr größtes Unglück gewesen wäre, weil sie weder Geschicklichkeit noch Geld hätten, ihre Unschuld zu verteidigen. Was sollte ich ihnen sagen? So viel ist gewiss, diese Pflicht der
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Menschlichkeit hätte sie in große Verlegenheit gesetzt“ ⁴⁸⁵ (« Des païsans,viennent de m’advertir en haste, qu’ils ont laissé presentement en une forest qui est à moy, un homme meurtry de cent coups, qui respire encores, et qui leur a demandé de l’eau par pitié, et du secours pour le souslever. Disent qu’ils n’ont osé l’approcher, et s’en sont fuis, de peur que les gens de la justice ne les y attrapassent : et comme il se faict de ceux qu’on rencontre près d’un homme tué, ils n’eussent à rendre conte de cet accident, à leur totale ruyne : n’ayans ny suffisance, ny argent, pour deffendre leur innocence. Que leur eussé-je dict ? Il est certain, que cet office d’humanité ».⁴⁸⁶). Montaigne macht sich im Hinblick auf das Rechtswesen keine Illusionen, sondern geht vielmehr eher seinerseits davon aus, dass die Rechtsordnung ein Trugbild darstellt, das dem Rechtsunterworfenen etwas vorspiegelt, was nicht der Wirklichkeit entspricht: „Geradeso wie die Weiber sich elfenbeinerne Zähne einsetzen lassen, wo ihnen die natürlichen fehlen, und anstatt ihrer wahren Gesichtsfarbe sich eine falsche mit fremden Schminken geben, wie sie sich die Hüften mit Tuch und Drell runden und das Leibchen mit Baumwolle polstern und sich, ohn‘ es einmal Hehl haben zu wollen, mit falscher und erborgter Schönheit herausputzen: ebenso macht es die Wissenschaft. (Und sogar ist es nicht anders mit unserm Rechte, das, so sagt man, seine wohlhergebrachten Erdichtungen hat, worauf es die Wahrheit seiner Entscheidungen gründet.) Sie gibt uns Hypothesen für bare Münze in Sachen, wo sie nicht einmal leugnet, dass es Erfindungen sind“⁴⁸⁷ (« Tout ainsi que les femmes employent des dents d’yvoire, où les leurs naturelles leur manquent, et au lieu de leur vray teint, en forgent un de quelque matiere estrangere: comme elles font des cuisses de drap et de feutre, et de l’embonpoinct de coton: et au veu et sceu d’un chacun s’embellissent d’une beauté fauce et empruntée: ainsi fait la science (et nostre droict mesme a, dit-on, des fictions legitimes sur lesquelles il fonde la verité de sa justice) elle nous donne en payement et en presupposition, les choses qu’elle mesmes nous apprend estre inventées ».⁴⁸⁸).
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 169. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S 1117. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 370 f. Hervorhebung nur hier. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 567.
VII. Falscher Schein des Rechtswesens
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1. Brüchigkeit des gesetzlichen Fundaments Dieser Gedanke ist ersichtlich primär der Wissenschaft gewidmet,⁴⁸⁹ so dass es für den vorliegenden Zusammenhang vor allem auf den Klammerzusatz ankommt. Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke ist auffälligerweise a fortiori vorgetragen: Wenn schon nach dem Urteil maßgeblicher Stimmen das Rechtswesen „auf falschen Gesetzesschein“ zurückgeht und darauf gründet, dann umso mehr die Wissenschaft. Auch wenn dies kein Erst-recht-Schluss im strengen Sinne ist, kommt darin ein Rangverhältnis erkenntnistheoretischer Gewissheit zum Ausdruck. Die Rechtsordnung gilt als etwas Verlässliches, weil Gerichtsentscheidungen ihrerseits auf Gesetzen gründen. Gesetze aber basieren auf dem mystischen Grund der Autorität, wie Montaigne im dritten Buch seiner Essais noch weiter ausführen wird. So sind Gesetze selbst in einer unbeständigen und zu Bürgerkriegen und Religionskriegen Anlass gebenden Zeit etwas, auf das man sich als abstrakte Größe verlassen zu können scheint. Selbst diese Verlässlichkeit ist aber erschüttert, wie Montaigne zu erkennen gibt. Rhetorisches Stilmittel ist für ihn nicht nur die genannte Steigerung, sondern auch das auf den ersten Blick unscheinbar anmutende „on dit“: Indem er es als allgemeine Ansicht, als Gerücht gewissermaßen, erscheinen lässt, deren Berichterstattung ihm die Chronistenpflicht auferlegt, verschleiert Montaigne bewusst, dass es sich um seine ureigene Ansicht handelt. Diese gerüchteweise überlieferte Meinung mag er mit vielen seiner Zeit teilen; es ist aber zu förderst gleichwohl sein Credo, das er hier in einem unscheinbaren Klammerzusatz so sichtbar verbirgt, dass es den Leser umso deutlicher erreicht: Gesetze gründen auf Schein. Das scheinbar festgefügte Fundament der Gesetze ist in Wahrheit brüchig; darunter droht Treibsand der Ungewissheit.
2. Wahrheitsanspruch der Jurisprudenz? Gesetze, die in so ungewissen Zeiten gelten, wie derjenigen, in der Montaigne lebt, und die aus noch unsichereren Epochen herrühren, können für ihn keine zureichende Basis für eine verlässliche Entscheidungsfindung darstellen. Zumindest vermögen Entscheidungen, die auf solcher Grundlage von so unsicheren Krea-
Wichtig allerdings insoweit und auch für den vorliegenden Zusammenhang weiterführend Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 250: „Beide (sc.: Montaigne und die Protestanten) verwerfen freilich das Denken nur, soweit es zum rechtmäßig Bestehenden, zur gegebenen Ordnung in Gegensatz tritt, nicht die Wissenschaft als solche“.
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turen wie Richtern erlassen werden, keinen Wahrheitsanspruch zu erheben. Unter dieser Annahme erweist sich Montaignes rhetorischer Kunstgriff als Paradoxon: Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft wird nicht etwa deswegen in Abrede gestellt, weil selbst das Rechtswesen mit seinen Gesetzen unverlässlich ist. Dieses ist vielmehr das Unsicherste von allen Erscheinungen überhaupt,vergleichbar nur mit den eingangs geschilderten ästhetischen Hilfsmitteln, die den Schein der Schönheit und Harmonie erzeugen. Die Wissenschaft und – wie wir jetzt sinngemäß und den scheinbaren Sinn umkehrend hinzufügen können – die Jurisprudenz begleichen ihre Rechnungen in einer nicht hinreichend harten Währung. Sie gehen von Bedingungen aus, die nicht mehr sind, als uneingelöste Versprechungen. Sie zehren von Voraussetzungen, die sie selbst nicht erfüllen, aber erfüllt zu haben vorgeben.Von allen Bedingungen, deren Nichtvorhandensein durch den Schein der Wahrheit und Verlässlichkeit übertüncht wird, ist jedoch eine deswegen unerfüllbar, weil sie im Menschen selbst angelegt ist, der getäuscht werden möchte: Es ist letztlich seine Unvollkommenheit als Ausdruck der conditio humana.
§ 4 Befangenheit in der conditio humana Mit der conditio humana ist einer der Schlüsselbegriffe genannt, der seit alters die Relativität menschlicher Möglichkeiten bezeichnet, die notwendige Bedingtheit all dessen, was Menschen unternehmen und verantworten, die Verstrickung in vergängliche Unvollkommenheit menschlichen Handelns. Cicero setzt die conditio humana in seinem Werk über das pflichtgemäße Handeln voraus.⁴⁹⁰ Auch für den mittelalterlichen Menschen war die conditio humana prägend.⁴⁹¹
I. Der Mensch als Repräsentant der Menschheit Montaigne hat diesen Topos in französischer Übersetzung an einer berühmten Stelle des dritten Buchs seiner Essais bekenntnishaft verortet: „Ich lege ein niedriges, glanzloses Leben vor. Das ist einerlei. Man heftet die ganze philosophische Moral ebensogut an ein gemeines, niedriges Leben, als an ein Leben vom reichsten Gehalt. Jeder Mensch trägt die ganze Form des Standes der Menschheit an sich“⁴⁹² (« Je propose une vie basse, et sans lustre: C’est tout un. On attache aussi bien toute la philosophie morale, à une vie populaire et privée, qu’à une vie de plus riche estoffe: Chaque homme porte la forme entiere, de l’humaine condition ».⁴⁹³). Der Schlüsselbegriff muss im Original betrachtet werden: Es ist die condition humaine. Der Gedanke, dass jeder einzelne Mensch im gewissen Sinne die Menschheit selbst verkörpert, aber auch die menschliche Bedingtheit repräsentiert, ist nicht nur für die gesamten Essais und ihr philosophisches Verständnis von grundlegender Bedeutung, sondern verwirklicht unmittelbar den philosophischen Anspruch selbst: Nur weil in jedem beliebigen und in der conditio humana befangenen Menschen ungeachtet aller Unterschiede, die zwischen den Menschen bestehen, die ganze Menschheit in der Weise repräsentiert ist, dass wenigstens zentrale Bestimmungsgründe gleichsam auf einen Nenner gebracht werden können – wenn auch dem kleinsten gemeinsamen Nenner -, nur dieser Gedanke erlaubt die Verallgemeinerung des von Montaigne beobachteten Menschen Michel de Montaigne auf alle anderen Exemplare der Gattung Mensch.
Marcus Tullius Cicero, De officiis, I 11 f. Arno Borst, Lebensformen des Mittelalters, 4. Auflage 2004, S. 29 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 29. Michel de Montaigne, Les Essais, III 2, S. 845.
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§ 4 Befangenheit in der conditio humana
II. Montaigne „nicht als Rechtsgelehrter“ Der für die pilosophische Skepsis typische Subjektivismus,⁴⁹⁴ die kompromisslose Selbstbezogenheit, mit der Montaigne alles vom Menschen Montaigne abzieht, das die Accidentalia des Menschseins betrifft,⁴⁹⁵ also insbesondere die berufliche Bestimmung und fachjuristische Bildung, führt zum Eigentlichen, das Montaigne auf diese Weise freilegt:⁴⁹⁶ „Ich studiere mich selbst mehr als jeden anderen Gegenstand“⁴⁹⁷ (« Je m’estudie plus qu’autre subject ».⁴⁹⁸). Schon an früherer Stelle gibt er zu bedenken: „Warum würdigt man nicht ebenso einen Menschen nach demjenigen, was sein ist? Er hat ein zahlreiches Gesinde, einen schönen Palast, großen Kredit, große Einkünfte; alles das ist um ihn, nicht in ihm“⁴⁹⁹ (« Pourquoy de mesmes n’estimons nous un homme par ce qui est sien? Il a un grand train, un beau palais, tant de credit, tant de rente: tout cela est autour de luy, non en luy ».⁵⁰⁰). In gleicher Weise wie er hier das Eigentum des Menschen wortwörtlich begreift und die Äußerlichkeiten abstreift und sich den Essentialia zuwendet, hat er es später mit seinem ganzen Dasein gehalten: „Die Schriftsteller teilen sich dem Volke mit durch irgendeinen besondern und ausgezeichneten Stempel. So ich, der erste unter allen, durch mein universelles Wesen als Michel von Montaigne; nicht als Grammatiker oder Poet oder Rechtsgelehrter“⁵⁰¹ (« Les autheurs se communiquent au peuple par quelque marque speciale et estrangere: moy le premier, par mon estre universel: comme, Michel de Montaigne: non comme Grammairien ou Poëte, ou Jurisconsulte ».⁵⁰²). Montaigne wendet sich gegen jede Form der prädikativen Existenz, die ihn festlegen und seine Totalität einschränken würde. Es ist interessant, dass er hervorhebt, dass er insbesondere nicht als Rechtsgelehrter bzw. als Jurist spricht,
Bündig Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 253, 255: „Der positive Gehalt der Skepsis ist das Individuum“. Allgemein auch Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie und seine Überwindung, Band I, 1904. In diese Richtung auch der schöne Chiasmus von Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Auflage 2011, S. 81: „Montaigne baut sein Ich nicht von der Welt her, sondern die Welt vom Ich her auf“. Siehe dazu auch Georges Hubrecht, Montaigne juriste, in: IV. Centenaire de la naissance de Montaigne, 1933, S. 239 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 173. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 185. Michel de Montaigne, Les Essais, I 42, S. 281. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 29. Michel de Montaigne, Les Essais, III 2, S. 845.
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der er auch war. Er ist bemüht, diese juristische Provenienz geradezu zu verleugnen; nur so viel teilt er mit, wie er um der historischen Aufrichtigkeit dem Leser zu schulden glaubt. Dieses negatorische Selbstbekenntnis ist von größter systematischer Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang. Auch wenn er sich mitunter als Jurist zu erkennen gibt, ist ihm wichtig, dass er nicht als solcher schreibt – und zwar gerade auch an denjenigen Stellen, die das Recht, die Gesetze und die Gerechtigkeit betreffen. Auch vor diesem Hintergrund ist erklärlich, warum Montaigne in der zuletzt behandelten Stelle den Klammerzusatz durch ein „on dit“ begründet: „Und sogar ist es nicht anders mit unserm Rechte, das, so sagt man, seine wohlhergebrachten Erdichtungen hat, worauf es die Wahrheit seiner Entscheidungen gründet“⁵⁰³ (« Et nostre droict mesme a, dit-on, des fictions legitimes sur lesquelles il fonde la verité de sa justice ».⁵⁰⁴). Gerade das „dit-on“ macht deutlich, dass er auch hier nicht als Jurist spricht.
III. Gesetze aus der Rechtsgeschichte Es ist nicht die fachliche Autorität des Juristen, die er sich anmaßt oder mit der er auch nur zitiert werden möchte.⁵⁰⁵ Denn zum Einen weiß er, wie wenig damit gesagt ist, behandelt er die Rechtsgelehrten doch durchgängig als eine Species, die wohlgefällige Rechtsansichten gegen Entgelt vertritt. Zum Anderen möchte er aber die Gesetze selbst zum Sprechen bringen. So ist zu erklären, dass er immer wieder bestimmte gesetzliche Vorschriften aus der Antike, der mittelalterlichen Rechtsgeschichte und seiner zeitgenössischen Rechtspraxis erwähnt, ohne sich aber veranlasst zu sehen, diese zugleich auch zu kommentieren. Ihre bloße Existenz ist ein Verständnisparameter, notwendigerweise eingeschränkt, niemals geeignet, alles zu erklären, und allenfalls ein Abwägungsgesichtspunkt im Gemenge der Interessenlagen. Recht und Gesetz sagen etwas über die ihnen unterworfenen Menschen aus und sind daher Aspekte seiner polyhistorischen Interessen.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 3, S. 371. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 567. Einen etwas anderen Akzent setzt Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 178 f.: „Was er sagt, ist so unspezialistisch, dass es auch von einem Nichtjuristen stammen könnte. Nirgendwo mehr als auf dem Gebiet der Rechtsgelehrtheit drohte für dieses Jahrhundert das Gespenst der Pedanterie. (…) Sorgfältig vermeidet daher Montaigne, den weltmännischen Ton seiner Essais mit juristischer Fachbildung zu stören, obwohl sie ihm von seinem Berufe her zu Gebote stand“.
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1. Perspektiven des Geschichtsverständnisses Die Geschichte selbst folgt für ihn keiner Teleologie.⁵⁰⁶ Sie kann daher auch nur insofern als magistra vitae begriffen werden,⁵⁰⁷ als sie den Menschen nicht etwas Bestimmtes lehrt, weil ihr Sinn eben nicht gewiss ist.⁵⁰⁸ Die Geschichte kann folglich auch kein verbindliches und verallgemeinerungsfähiges Beispiel geben.⁵⁰⁹ Die Geschichte interessiert ihn folgerichtig von der jeweiligen Perspektive her, die der Mensch, der darüber geschrieben hat, eingenommen hat:⁵¹⁰ „Bei dieser Gelegenheit muss ich noch anführen, dass ich, wenn ich Geschichte lese, welches Fach für alle Welt ist, die Gewohnheit habe, darauf zu merken, von wem sie geschrieben ist: Sind es Personen, die nichts anderes treiben als Literatur, so lerne ich von ihnen hauptsächlich Stil und Sprache (…); sind es Juristen, so nimmt man von ihnen die Rechtsstreitigkeiten, die Gesetze, die Einrichtungen der Polizei und dergleichen“⁵¹¹ (« Et à ce propos, à la lecture des histoire, qui est le subject de toutes gens, j’ay accoustumé de considerer qui en sont les escrivains: Si ce sont personnes, qui ne facent autre profession que de lettres, j’en apren principalement le stile et le langage (…): si Jurisconsultes, il en faut prendre les controverses des droicts, les loix, l’establissement des polices, et choses pareilles ».⁵¹²). Montaigne nimmt sich das jeweils Beste, er ist aber nicht nur Eklektiker, sondern auch insoweit Relativist, als er sogar einen Gegenstand, der „für alle“ ist, gerade um dessentwillen nicht verabsolutiert, sondern ihn in Beziehung zu dem setzt, der ihn darüber kompetent belehrt. Auch hier gibt sich Montaigne ganz bewusst nicht als Jurist zu erkennen, wie er es im dritten Buch der Essais noch einmal ganz aus-
Hugo Friedrich, Montaigne, S. 191: „Es gibt in den Essais keinen konstruktiven Begriff der Geschichte. Sie ist eigentlich nicht viel mehr als der wirbelnde Jahrmarkt des Menschlichen“; dementsprechend der lakonische Befund ebenda, S. 190: „die anhand des historischen Stoffes zustande gekommene Diagnose lautet: es ist keine Prognose möglich“. Vgl. Marcus Tullius Cicero, De oratore, II 9; dazu etwa Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1989, S. 38 ff. Karlheinz Stierle, L’Histoire comme Exemple, l’Exemple comme Histoire, Poetique 10 (1972) 176, 194 ff.; weitergehend Dorothea B. Heitsch, Practising Reforms in Montaigne’s Essais, 2000, S. 167 Fußnote 8. Zutreffend Karlheinz Stierle, Three Moments in the Crisis of Exemplarity: Boccaccio-Petrarch, Montaigne, and Cervantes, Journal of the History of Ideas 59 (1998), 581; anderer Ansicht Peter von Moos, Geschichte als Topic. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Polycraticus“ Johanns von Salisbury, 2. Auflage 1996. Siehe dazu auch Elaine M. Ancekewicz, The Critical Connection: The Question and the Essays of Michel de Montaigne, 2002. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 83. Hervorhebung nur hier. Michel de Montaigne, Les Essais, I 16, S. 75.
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drücklich hervorhebt. Denn es geht ihm gerade nicht um eine prädikative Existenz („Montaigne als Jurist“), sondern den ganzen Menschen.
2. Wiedererlangung juristischer Unbefangenheit Was das Recht betrifft, so verfügt Montaigne weniger aufgrund seiner Studien als vielmehr wegen seiner eminenten Beobachtungsgabe und Belesenheit über ein profundes Wissen, dessen Herkunft und Reichweite er gleichwohl bewusst verschleiert. Er stellt sich, was die Fragen der Gesetzesauslegung und Gerechtigkeit betrifft, unbefangen und mitunter unkundig dar, jedenfalls niemals iuris peritus. ⁵¹³ Hier mag ein Adelsdünkel mitschwingen, weil es bei Angehörigen seines Standes verpönt war, Fachkenntnisse zur Schau zu tragen, die eher einfachen Menschen anstanden, wohingegen es den Adel, wenn überhaupt Bücher geschrieben wurden, auszeichnete, mit souveräner Beiläufigkeit und ohne pedantische Exaktheit zu formulieren.⁵¹⁴ Aber dieser in Montaignes Werk selten anzutreffende Anflug von Eitelkeit kann nicht der einzige Grund für seine Zurückhaltung gewesen sein. Nur in der bewussten Wiedererlangung der juristischen Unbefangenheit kann er die Gesetze als das betrachten, was sie sind, vorzugeben scheinen und doch nicht leisten können. So erklärt sich auch, dass ihm die historische Betrachtung juristischer Zusammenhänge aussichtsreicher und verlässlicher erscheint als die fachjuristische. Der Mensch in seiner Geschichte repräsentiert ihm die Geschichte der Menschheit und verallgemeinert so aus einer historisch-vertikalen Perspektive das, was horizontal der einzelne Mensch im Verhältnis zur Menschheit ist: Dieser Zustand, in dem sich die geschichtliche und die präsentische Betrachtung des Menschseins treffen, ist die condition humaine. Als anthropologische Grundgegebenheit determiniert sie alle Lebensbereiche und damit auch das Recht, die Unverlässlichkeit der Gesetze und die Unmöglichkeit, Gerechtigkeit dauerhaft herzustellen.
Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 31: „Obwohl Montaigne die Essais weder als Jurist noch für Juristen geschrieben hat, er wohl bewusst Anspielungen auf seine lange Praxis als Jurist vermeidet, durchzieht diese Frage die gesamten Kapitel des Werkes“. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 178.
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IV. Gesetze als Fesseln des Geistes Die Unbeständigkeit und Unverlässlichkeit der Beurteilung auf dem Gebiet des Rechts geht letztlich auf die Unbeständigkeit des menschlichen Geistes zurück: „Wahrlich, der Mensch ist ein unbegreiflich eitles, wandelbares und unbeständiges Ding. Schwer, sehr schwer ist es, ihn unter eine sichere und einförmige Regel zu bringen“⁵¹⁵ (« Certes c’est un subject merveilleusement vain, divers, et ondoyant, que l’homme: il est malaisé d’y fonder jugement constant et uniforme ».⁵¹⁶). Diese omnipräsente Rede in den Essais wird in der Apologie interessanterweise durch eine allgemeine Betrachtung der Gesetze eingeleitet: „Epikurus sagt über die Gesetze: Auch die schlechtesten seien uns unumgänglich nötig, weil, ohne alle Gesetze, die Menschen sich einander auffressen würden. Und Plato behauptet, wir würden ohne Gesetze wie das Vieh leben“⁵¹⁷ (« Epicurus disoit des loix, que les pires nous estoyent si necessaires, que sans elles, les hommes s’entremangeroient les uns les autres. Et Platon verifie que sans loix, nous vivrions comme bestes ».⁵¹⁸).
1. Gesetzliche Regulierung der Begehrlichkeiten In dieser rechtsphilosophischen Tradition hat der gerne zitierte Satz seine Wurzel, wonach ein schlechtes Gesetz besser ist als gar kein Gesetz. Montaigne ergeht sich nun nicht in einer rechtsphilosophischen Spekulation über die Sinnhaftigkeit dieses Wortes, sondern schweift – scheinbar übergangslos – zu einer noch viel allgemeineren Prämisse über, die auf den ersten Blick nichts mit den Standpunkten Epikurs und Platos zu tun hat: „Unser Verstand ist ein gefährliches, scharfes Allermannswerkzeug. Es lässt sich nicht gut in feste Ordnung und Maß stellen und einrichten“⁵¹⁹ (« Nostre esprit est un util vagabond, dangereux et temeraire: il est malaisé d’y joindre l’ordre et la mesure ».⁵²⁰). Was wie ein bloßes ceterum censeo anmutet, bereitet in Wahrheit eine auf das Vorangehende bezogene Einsicht vor, die Montaignes ureigene Sicht auf die Gesetze offenbart. Gesetze sind nämlich auch Zügel, welche die Unstetigkeit des menschlichen Geistes im Zaum halten: „Man hat recht, wenn man dem menschlichen Verstande Schlag-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 5. Michel de Montaigne, Les Essais, I 1, S. 33. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 1. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 591. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 1. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 591.
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bäume setzt. Die so unübersteiglich sind als nur immer möglich. Im Studieren sowohl als in allem übrigen muss man ihm seine Schritte abmessen und vorschreiben. Man muss durch Kunst das Revier verhauen, worüber hinaus er nicht jagen soll. Man zäume und binde ihn durch Religion, durch Gesetze, durch Gewohnheiten, durch Wissenschaften, durch Vorschriften, durch zeitliche und ewige Strafen und Belohnungen: dennoch wird man sehen, dass er wegen seiner flüchtigen unbändigen Natur alle diese Halfter abstreift und durchgeht. Es ist ein Luftkörper, den man bei keiner Handhabe, in keiner Schlinge fassen kann“⁵²¹ (« On a raison de donner à l’esprit humain les barrieres les plus contraintes qu’on peut. En l’estude, comme au reste, il luy faut compter et regler ses marches: il luy faut tailler par art les limites de sa chasse. On le bride et garrotte de religions, de loix, de coustumes, de science, de preceptes, de peines, et recompenses mortelles et immortelles: encores voit-on que par sa volubilité et dissolution, il eschappe à toutes ces liaisons. C’est un corps vain, qui n’a par où estre saisi et assené: un corps divers et difforme, auquel on ne peut asseoir nœud ny prise. Certes il est peu d’ames si reglées, si fortes et bien nées, à qui on se puisse fier de leur propre conduicte ».⁵²²). Gesetze sind also neben den Sitten und religiösen Gebräuchen ein wesentliches Instrument, der unsteten Wendigkeit des menschlichen Geistes Grenzen zu ziehen. Die Unsumme menschlicher Begehrlichkeiten, die Inkonstanz der Wünsche, die Wankelmütigkeit der menschlichen Seele bedürfen eines Regulativs: „Unsre Wünsche sind unbestimmt und schwankend, sie wissen nichts festzuhalten und gehörig zu genießen“⁵²³ (« Nostre appetit est irresolu et incertain: il ne sçait rien tenir, ny rien jouyr de bonne façon ».⁵²⁴). Bei denjenigen Gesetzen, die den Luxus eindämmen sollen, zeigt Montaigne sein vielgerühmtes psychologisches Einfühlungsvermögen: „Die Art und Weise, wie unsere Gesetze streben, die Torheit und den eitlen Aufwand in der Tafel und Kleidung einzuschränken, scheint ihrem Zweck entgegenzulaufen. Das wahre Mittel wäre, den Menschen Verachtung des Goldes und der Seide als nichtswürdiger, unnützer Dinge einzuflößen“⁵²⁵ (« La façon deqouy nos loix essayent à regler les foles et vaines despences des tables, et vestemens, semble estre contraire à sa fin. Le vray moyen, ce seroit d’engendrer aux hommes le mespris de l’or et de la soye, comme de choses vaines et inutiles ».⁵²⁶). Er regt stattdessen an, dem Gesetz scheinbar eine andere Zielrichtung zu geben, indem Luxusgüter vorderhand nur noch denen erlaubt sein
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 2. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 591 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 270. Michel de Montaigne, Les Essais, I 53, S. 329. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 202. Michel de Montaigne, Les Essais, I 43, S. 290.
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sollen, die von der Gesellschaft geächtet sind. Dieses vergleichsweise durchsichtige Manöver veranschaulicht, für wie manipulierbar er den Menschen hält; seine Eitelkeit bietet hinreichende Gewähr, ihn zu täuschen, zu konditionieren und regelrecht abzurichten. Gesetze sind dazu willkommene Instrumente.
2. Vergleich mit animalischen Regungen Es geht den Gesetzen also nicht darum, ein bestimmtes Verhalten zu regeln, bestimmte Zwecke zu verwirklichen oder konkrete Zuwiderhandlungen in Grenzen zu halten, sondern die Gesetze sind in ihrer möglichen Zwecksetzung indefinit. Weil die Zahl menschlicher Willensbetätigungen immer größer ist als die Menge der Gesetze, können sie niemals alles erfassen, was zu regeln wäre. Über diesen scheinbar eklektischen, in Wirklichkeit ganz eigenständigen Umweg gelangt Montaigne letztlich zu einer originellen Begründung dessen, was er zuvor mit Blick auf Plato und Epikur nur referiert hat: „Und kein Pferd hat der Augenleder mehr nötig, um seine Augen zu lenken, damit es vor die Füße sehe und nicht hin und her gaffe und die Spur verliere, die Gewohnheit und Gesetze ihm vorzeichnen“⁵²⁷ (« Et n’y a point de beste, à qui il faille plus justement donner des orbieres, pour tenir sa veue subjecte, et contrainte devant ses pas; et la garder d’extravaguer ny çà ny là, hors les ornieres que l’usage et les loix luy tracent ».⁵²⁸). Es handelt sich hier wiederum nur scheinbar um ein misanthropisches Weltbild. Montaigne bekennt sich nicht zu einer später von Hobbes vertretenen Auffassung, wonach der Mensch dem Menschen Wolf wäre. Wenn Tiervergleiche statthaft sind, dann eher mit den Entsprechungen und Nuancen, wie sie La Fontaine in seinen Fabeln voraussetzt.⁵²⁹ Nicht der Mensch ist dem Menschen Wolf, sondern der Mächtige tritt dem Ohnmächtigen gegenüber wie der Wolf dem Lamm: « La raison du plus fort est toujours la meilleure ».⁵³⁰ Im Austausch willkürlicher Begründungen, im beliebigen Wechsel einer niemals ergebnisoffen geführten Argumentation zeigt sich die Zügellosigkeit des Menschen, der regulierende Grenzen gesetzt werden müssen.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 2. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 592. Siehe dazu Karlheinz Stierle, Poesie des Unpoetischen. Über Lafontaines Umgang mit der Fabel, Poetica 1 (1967) 508. Jean de La Fontaine, Fables, livre premier, 10; dazu Jens Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Festschrift für Otmar Seul, 2014, S. 384. Zu La Fontaine siehe auch Marc Fumaroli, Le poète et le roi. Jean de La Fontaine en son siècle, 1997.
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3. Montaignes Gesetzesverständnis als stoizistisches Erbe Montaigne geht es weniger um das Miteinander – insofern setzt er sich von Epikur ab –, als vielmehr darum, wie der Mensch in seiner Haltlosigkeit veranlasst werden soll, Schritt für Schritt zu denken und zu urteilen. Insofern ist der animalische Vergleich gerechtfertigt, den Montaigne Plato entlehnt; Montaigne geht aber auch insofern einen Schritt weiter, als er die Irrationalität menschlichen Verhaltens gerade mit dem menschlichen Geist begründet. Gerade weil dieser ohne Maß und Mitte urteilt, weil er sich über die Begierden neue Zwecke einreden und keine konstante Vernunft erkennen lässt, muss er gebändigt werden – freilich nicht durch physische Einschränkungen, die Montaigne prinzipiell fremd sind, sondern eher durch eine Zucht des unsteten Geistes. In seiner stoischen Grundausrichtung, die er sich bei aller Skepsis bewahrt hat,⁵³¹ war ihm immer gegenwärtig, dass die Erfüllung jedes über das Notwendige hinausreichenden Wunsches indefinite neue Begehrlichkeiten weckt. Spiegelbildlich verhält es sich dazu mit der Sitte, die den Menschen ebenfalls Schranken auferlegt. Der Sache nach wird hier etwas vorweg genommen, das Nietzsche später als die „Sittlichkeit der Sitte“ bezeichnen wird,⁵³² nämlich den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Althergebrachten.⁵³³ Gesetze halten also nach diesem Verständnis nicht einfach nur die gegenseitigen Begierden der Menschen in der Weise in Schach, dass sie sich gleichsam neutralisieren und unschädlich werden, sondern sie erweisen sich als heilsam, indem sie dem Menschen Halt geben. Es ist für Montaigne eher ein Weg, die Ausgeglichenheit der Seele zu erreichen, als das menschliche Miteinander sozial zu ordnen. So ist Montaignes Gesetzesverständnis auch insoweit eher stoizistisches Erbe als platonischen Ursprungs.⁵³⁴ Er weiß, wie schwer dem menschlichen Geist Grenzen gesetzt werden können und wie unvollkommen gerade Gesetze zu diesem Zweck sind, da sie selbst von ihrerseits irrational urteilenden Menschen erlassen wurden. Gesetze sind daher hier wie auch sonst in Montaignes Essais nur ein – immer als potenziell untauglich vorausgesetztes – Mittel, das seinen Zweck notwendigerweise verfehlen muss, weil der vielgestaltige und unberechenbare menschliche
Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 256: „Zwischen Stoa und Skepsis macht er keinen großen Unterschied“; an anderer Stelle, S. 245, spricht Horkheimer im Hinblick auf Montaigne von einem „Stoizismus der reichen Leute“. Friedrich Nietzsche, Morgenröte, I 9. Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 107, 120. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 39, macht die Grenzen von Montaignes Plato-Rezeption besonders deutlich.
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Geist ihnen immer voraus ist: „Es ist eine gemäßigte und sanfte Meinung, dass unser Wissen uns bis zur anschaulichen Erkenntnis einiger Dinge führen könne und dass sie ein gewisses Maß von Kraft habe, über welche hinaus solche anzuwenden es Verwegenheit sein würde. Diese Meinung ist wahrscheinlich und von Menschen eingeführt, die mit sich handeln ließen: es ist aber nicht so leicht, unserm Geiste Schranken zu setzen.“⁵³⁵ (« C’est une opinion moyenne et douce; que nostre suffisance nous peut conduire jusques à la cognoissance d’aucunes choses, et qu’elle a certaines mesures de puissance, outre lesquelles c’est temerité de l’employer. Cette opinion est plausible, et introduicte par gens de composition: mais il est malaisé de donner bornes à nostre esprit ».⁵³⁶).
V. Empiristisches Gesetzesverständnis Das erkenntnistheoretische Mittel dieser Einsichten ist ihm immer die Erfahrung.⁵³⁷ Sein Vorgehen ist gerade im Hinblick auf die Entstehung des Rechts durchaus empiristisch. Gesetze können zur Erreichung eines bestimmten Zweckes zeitweilig probate Mittel sein, erweisen sich später jedoch als untauglich. Je länger sie bestehen, desto besser ist das Zeugnis, das ihnen die Zeit ausstellt. Denn dann haben sie über ihren Ausgangspunkt und Anlass hinaus unwillkürlich eine Mehrzahl von Fällen geregelt, die ihnen von vornherein nicht unbedingt zugedacht war. Je vielgestaltiger und offener sie sind, desto gleichartiger werden sie dem menschlichen Geist, den sie bändigen sollen. In eben diesem Maße stimmen sie dann mit der condition humaine überein. Auch wenn sie diese nie erreichen, bilden sie sie zumindest teil- und annäherungsweise ab. Auch hierin offenbart sich wiederum die Tiefe des eingangs zitierten Wortes über die wahre Gesetzesgeltung, wonach Gesetze vor allem dann wahrhaft gelten, wenn sie nicht mehr auf ihren Ursprung zurückverfolgbar sind.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 4. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 593. Interessant insoweit Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 269: „der Rückzug aufs Ich selbst ist ein Vorgang in der empirischen Welt“.
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1. Evolutionäres Rechtsdenken Diesem empiristischen Ansatz immanent ist ein evolutionäres Rechtsdenken.⁵³⁸ Ebenso wie die Sitten formen sich Gesetze im Laufe der Zeit. Sie sind niemals voraussetzungslos ein für alle Mal da, sondern entwickeln sich allmählich, indem sie teilweise ihre Geltung verlieren, andernteils aufrecht erhalten, weil in ihnen, wenn auch in anderer Form als zunächst angenommen, etwas zum Ausdruck kommt, das sich zur Bewältigung künftiger Fallgestaltungen eignet. So kann man auch im Hinblick auf das evolutionäre Gesetzesverständnis das anwenden, was Montaigne allgemein über seinen empiristischen Weg der Erkenntnisgewinnung sagt: „Wenn er aus Erfahrung weiß, dass dem einen etwa misslang, so weiß er auch, dass eben dasselbe einem andern gelungen sei; und dass das, was in diesem Jahrhundert unbekannt war, in dem folgenden ans Licht gebracht worden ist; und dass die Wissenschaften und Künste nicht in Formen gegossen werden, sondern sich nach und nach bilden, so wie sie wiederholterweise geglättet und geschliffen werden (…) Was ich mit meiner eigenen Kraft nicht entdecken kann, das kann ich doch versuchen zu entdecken, und wenn ich eine neue Materie oft in die Hand nehme und durchknete, sie erwärme und in verschiedene Gestalten drücke, so erleichtere ich demjenigen, der sie nach mir in die Hände nimmt, die Behandlung derselben und mache sie ihm geschmeidiger und fügsamer“⁵³⁹ (« Ayant essayé par experience, que ce à quoy l’un s’estoit failly, l’autre y est arrivé: et que ce qui estoit incogneu à un siecle, le siecle suyvant l’a esclaircy: et que les sciences et les arts ne se jettent pas en moule, ains se forment et figurent peu à peu, en les maniant et pollissant à plusieurs fois, comme les ours façonnent leurs petits en les leschant à loisir: ce que ma force ne peut descouvrir, je ne laisse pas de le sonder et essayer: et en retastant et pestrissant cette nouvelle matiere, la remuant et l’eschauffant, j’ouvre à celuy qui me suit, quelque facilité pour en jouyr plus à son ayse, et la luy rends plus soupple, et plus maniable ».⁵⁴⁰).
2. Rechtsempirismus Man kann dies durchaus als ein methodisches Vermächtnis Montaignes an die späteren Philosophen lesen. Er weiß sich als unmaßgeblichen Teil einer Bewusstseinsentwicklung, die ihm schon von daher endgültige Gewissheiten und Dazu auch Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014, § 3. Das Rechtsdenken Hayeks und Montaignes ähnelt einander in mancher Hinsicht. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 4. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 593.
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Erkenntnisse versagt. Letztgültige Weisheiten, Antworten auf alle offenen Fragen der Geschichte sind ihm suspekt. Ausgangspunkt auch dieser Betrachtung ist der unstete, niemals in unwiderruflicher Weise festgelegte Geist – also auch sein Geist, der der Orientierung durch Gesetze und Bräuche bedarf, weil er aus sich heraus irrational verfährt und Irrwegen erliegt. Auf das Recht und die Gerechtigkeit übertragen, bedeutet diese Einsicht einen umfassenden Rechtsempirismus, der die Allmählichkeit der Rechtsentwicklung in den Vordergrund stellt. Wenn Montaigne voraussetzt, dass die Wissenschaften „nicht rund und fertig aus Gussformen kommen“, dann bedeutet dies auf das Recht bezogen, dass sich eine gute Rechtsordnung niemals von Grund auf neu erfindet, sondern immer aus den Quellen dessen schöpfen muss, was ihr vorangegangen ist, was sich als haltbar erwiesen hat und nicht von neuem geregelt, sondern nur angeglichen werden muss. Auch wenn Montaigne bestrebt ist, seine eigene juristische Erfahrung in der Rechtspraxis möglichst wenig in sein Werk einfließen zu lassen, spiegelt es bestimmte Erfahrungen wieder, die über eine alltagstheoretische Plausibilität hinausgehen und sich am besten erklären lassen, wenn man ihnen einen gewissen autobiographischen Kern unterstellt.
3. Richterpsychologie Aufschlussreich ist eine Bemerkung, welche die Richterpsychologie seiner Zeit kennzeichnet und möglicherweise auch heute noch Bestand hat:⁵⁴¹ „In der Zungenbrechersprache unserer Gerichtshöfe ist die Redensart bekannt, wenn von Verbrechern gesprochen wird, die einem Richter von gutmütiger, sanfter und leutseliger Laune in die Hände fallen: er kam zur glücklichen Stunde. Denn es ist eine ausgemachte Sache, dass die Urteilssprüche zuweilen strenger, härter, verdammender, dagegen zuweilen milder, sanfter und entschuldigender ausfallen. Der Referent, der aus seinem Hause Gichtschmerzen, Eifersucht oder Ärger über einen diebischen Bedienten mit zum Schöppenstuhle bringt und die ganze Seele voller Zorn und Unwillen hat, der lässt uns nicht zweifeln, dass sein Urteil nach seinen Empfindungen ausfallen werde.“⁵⁴² (« En la chicane de nos palais, ce mot est en usage, qui se dit des criminels qui rencontrent les juges en quelque bonne
Zum Begriff der Richterpsychologie Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik juristischer Dogmatik, 1973; Christian Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 10 ff.; siehe ferner zu besonderen Ausprägungen Karl Peters, Beiträge zum Wiederaufnahmerecht, Tübinger Festschrift für Eduard Kern, 1968, S. 335 f.; Ursula BrandtJanczyk, Richterliche Befangenheit durch Vorbefassung im Wiederaufnahmerecht, 1978, S. 63. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 12.
V. Empiristisches Gesetzesverständnis
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trampe, douce et debonnaire, gaudeat de bona fortuna. Car il est certain que les jugemens se rencontrent par fois plus tendus à la condemnation, plus espineux et aspres, tantost plus faciles, aysez, et enclins à l’excuse. Tel qui rapporte de sa maison la douleur de la goutte, la jalousie, ou le larrecin de son valet, ayant toute l’ame teinte et abbreuvée de colere, il ne faut pas doubter que son jugement ne s’en altere vers cette part là ».⁵⁴³).
a) Rechtssoziologie avant la lettre Auch wenn sich kein Richter dieser Welt eingestehen würde, dass private Leidenschaften unmittelbar Eingang ins Urteil finden würden, dürfte die Realität anders aussehen – nämlich so, wie es Montaigne, zugegebenermaßen etwas überspitzt und grell kontrastierend, zeichnet.⁵⁴⁴ Den Standpunkt einer dogmatisch gefestigten Jurisprudenz vermögen solche Erkenntnisse nicht zu erschüttern, wie etwa Wieackers Einschätzung verdeutlicht: „So wichtig eine methodische Untersuchung der Urteilsbedingungen für die Selbstkontrolle der Justiz sein mag, sie wird niemals objektivierbare Prinzipien methodischer Urteilsfindung ausgeben können.“⁵⁴⁵ Montaigne hätte dem womöglich entgegengehalten, dies sei weniger eine Lösung als vielmehr Teil des zugrundeliegenden Problems. Jedenfalls veranschaulicht dieses moderne Forschungsinteresse, dass Montaigne zu seiner Zeit schon rudimentäre rechtssoziologische Überlegungen angestellt hat, wenngleich nicht nach Art der modernen Rechtstatsachenforschung als vielmehr im Wege schlichten Erfahrungswissens.⁵⁴⁶ Im Schrifttum ist ansatzweise erkannt worden, dass Montaigne mitunter eine „soziologische Betrachtungsweise“ anstellt.⁵⁴⁷ Wie sehr hier Montaigne von der einschlägigen Forschung übersehen wurde,⁵⁴⁸ veranschaulicht ausgerechnet eine Würdigung Montesquieus – ebenfalls eines Lesers von Montaigne!⁵⁴⁹ – in einem
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 598. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 19, sieht in anderem Zusammenhang den „Rechtsunsicherheit stiftende(n) Subjektivismus des Richters“. Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 9; noch dezidierter Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 99: „Welche psychischen Faktoren im Richter wirksam sind, ist ein Problem, das den Psychologen angeht; ein Kriterium der Richtigkeit kann keine psychologische Analyse liefern“. Siehe dazu auch den gleichnamig überschriebenen Abschnitt von Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 91. Eine Ausnahme macht aber Barna Horváth, Probleme der Rechtssoziologie, 1971, S. 200 ff. Werner Stark, Montesquieu. Pioneer of the Sociology of Knowledge, 1960, S. 44: „He belongs to the School of Montesquieu“. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974,
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wichtigen Werk über die Anthropologie des Rechts, die daher ungeachtet ihrer Länge wörtlich wiedergegeben werden muss, weil alles darin Gesagte in besonderer Weise schon auf Montaigne zutrifft: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Montesquieu als erster die scheinbar wohl abgesicherte, westliche Naturrechtstheorie in Frage stellte, die die Erscheinungsformen des Rechtslebens unter absolute Begriffe eingeordnet hatte, wobei diese Formen als statisch und konstant sowohl im Raum als auch in der Zeit angesehen worden waren. Man hat geglaubt, die Prinzipien der Naturrechtstheorie durch rein philosophische Spekulation und Kontemplation in Bezug auf das, was man die ‚menschliche Natur‘ nannte, entdecken zu können. Mit seinen Gedanken der Relativität des Rechts in Raum und Zeit (Kulturabhängigkeit) und aufgrund seiner Betonung des (notwendig) konkreten Chrakters von Forschungsgegenständen und seiner Betonung des Empirismus kann Montesquieu als Begründer der modernen Rechtssoziologie ganz allgemein und insbesondere der die Dynamik der Rechtsentwicklung behandelnden Forschungsrichtung angesehen werden.“⁵⁵⁰ Ersetzt man Montesquieu durch Montaigne, dann kann man diesen nicht schöner würdigen und jenen kaum besser als Vollender dessen erkennen, was er durch seine Lektüre bei Montaigne zuerst erfahren haben dürfte.⁵⁵¹
b) Evidenzurteil eines Skeptikers Gewiss lässt sich Montaignes Schlussfolgerung wissenschaftstheoretisch als schlichte und womöglich unhaltbare Evidenzbehauptung geißeln, weil er ohne Umschweife feststellt, dass seine Hypothese keinen Zweifeln unterliegt – für einen Skeptiker vom Range Montaignes eigentlich verwunderlich. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber, warum gerade diese Grundannahme für ihn unan-
S. 64 Fußnote 14, spricht sogar aus gutem Grund von einem „aufmerksamen“ Leser, weil, wie er vergleichend nachweist, bei Montaigne schon die Auswirkungen klimatischer Besonderheiten auf die Sitten und Rechte angelehnt sind – eine Entdeckung, die man für gewöhnlich Montesquieu zuschreibt. Vgl. auch Andreas Heyer, Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, 2009, S. 588: „1721 erschienen die Lettres persannes, in denen Montesquieu die Methode des Kulturvergleiches nutzte und im Anschluss an Montaigne seine Zeit einer expliziten und teilweise stark polemischen Kritik unterzog“. Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982, S. 183; Hervorhebung nur hier. Ebenso wohl auch, wenngleich ohne Einbeziehung Montaignes, Émile Durkheim, Montesquieu et Rousseau. Prècurseurs de la sociologie, 1953. Auch insoweit gilt die in anderem Zusammenhang ausgesprochene Mahnung von Werner Stark, Montesquieu. Pioneer of the Sociology of Knowledge, 1960, S. 167: „Montesquieu, let us not forget, was a disciple of Montaigne“.
V. Empiristisches Gesetzesverständnis
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zweifelbar ist.⁵⁵² Denn sie betrifft die Mitwirkung menschlicher Leidenschaften an der Urteilsfindung, ein scheinbar irrationales Moment, das aber für Montaigne eine besser berechenbare Größe darstellt als alle wissenschaftstheoretische Verbrämung für sich hat. Er legt stillschweigend zugrunde, dass jeder Richter sein Urteil durchaus rational begründen könnte, die etwaigen Leidenschaften also im Urteil keinerlei Niederschlag gefunden haben könnten. Eben deswegen aber erinnert er die Urteilenden an solche Affekte, die sie – selbst wenn sie sie sich eingestehen würden – so vehement ausblenden müssten, dass das Urteil wiederum von ihnen geprägt ist, wenn auch im entgegengesetzten Sinne durch eine gewisse Überkompensation. Objektive Urteile sind für Montaigne ein Ding der Unmöglichkeit, weil es eine objektiv urteilende Instanz schlechterdings nicht gibt. Auch hier ist es eine Ausprägung der condition humaine, die dies a limine verhindert.
c) Richterideal und Gleichheit vor dem Gesetz An späterer Stelle wird deutlich, dass vom Richter schier Unmögliches verlangt wird: „Wir müssten einen haben, der frei von allen diesen Eigenschaften wäre, damit er ohne alle Vorurteile über diese Fälle richten könne, als ihm völlig gleichgültig, und sonach bedürfen wir eines Richters, der nicht zu finden ist“⁵⁵³ (« Il nous faudroit quelqu’un exempt de toutes ces qualitez, afin que sans præoccupation de jugement, il jugeast de ces propositions, comme à luy indifferentes: et à ce compte il nous faudroit un juge qui ne fust pas ».⁵⁵⁴). Es wäre gleichsam jener juristische Herkules, den Ronald Dworkin voraussetzte, um seine ‚One right Answer-Thesis‘ zu begründen.⁵⁵⁵ Dass die zuletzt zitierte Stelle nicht unmittelbar anschließt an die zuvor behandelte, aber gleichwohl ersichtlich in einem inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang mit ihr steht, lässt sich damit begründen, dass hier die erkenntnistheoretische Dimension dessen erörtert wird, was zuvor rechtssoziologisch dargestellt wurde.
Der Zielrichtung nach ähnlich, wenngleich in anderem Zusammenhang. Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 155: „Es gibt jedoch eine Evidenz, die sich ihm im sinnlich wahrnehmbaren Universum und in der Erfahrung seiner eigenen Existenz enthüllt: die Wahrheit wird von der fragilen Beziehung zu den anderen gestützt, wobei diese Mitlebenden ebenso schwankend-unsicher sind wie er selbst“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 80. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 638. Ronald Dworkin, Laws Empire, 1986; ähnlich wie Montaignes Desiderat die Gestalt des Gerechten bei Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, II 6; dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, passim.
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Die rechtssoziologische Beobachtung wird, wie für Montaigne typisch ist und von Montesquieu später übernommen wird, rechtsgeschichtlich abgesichert, indem ein historisches Beispiel die Behauptung untermauert: „Der so ehrwürdige Senat des Areopagus sprach seine Urteile bei dunkler Nacht, weil er besorgte, der Anblick der Kläger möchte seine Gerechtigkeit bestechen“⁵⁵⁶ (« Ce venerable Senat d’Areopage, jugeoit de nuict, de peur que la veue des poursuivans corrompist sa justice ».⁵⁵⁷). Gleichheit vor dem Gesetz ist also für Montaigne eine Fiktion, die nur annäherungsweise dadurch hergestellt und verwirklicht werden kann, dass entweder künstlich Bedingungen geschaffen werden oder die Gunst der Stunde genutzt wird, um einen Zustand zu simulieren, in dem durch eine partielle Ausschaltung der Sinneswahrnehmung der Anschein approximativer Gleichheit besteht.⁵⁵⁸ Denn die Ungleichheit ist erfahrungsgemäß unweigerlich allgegenwärtig, wo Menschen sind: „Die Ungleichheit mischt sich von selbst in unsere Werke“⁵⁵⁹ (« La dissimilitude s’ingere d’elle-mesme en nos ouverages »⁵⁶⁰).
4. Korruption der Urteilskraft Die damit vorausgesetzte Korruption der Urteilskraft durch die sinnliche Wahrnehmung führt Montaigne an späterer Stelle zu einem epistemologischen Grundproblem, das zu einem zentralen Problem der neuzeitlichen Erkenntnistheorie führt: „Da nun aber unser Zustand die Dinge nach sich selbst bildet und nach seinen Verhältnissen verschiedentlich verwandelt, so wissen wir nicht mehr, was die Gegenstände der Wahrheit gemäß sind. Denn nichts gelangt zu uns, als was durch unsere Sinne verändert und verfälscht ist (…) Die Ungewissheit unserer Sinne macht daher auch alle ihre Erzeugnisse ungewiss“⁵⁶¹ (« Or nostre estat accommodant les choses à soy, et les transformant selon soy, nous ne sçavons plus quelles sont les choses en verité, car rien ne vient à nous que falsifié et alteré par noz sens (…). L’incertitude de noz sens rend incertain tout ce qu’ils produisent ».⁵⁶²). Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 12. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 598. Montaignes Nachsatz, wonach „selbst frische Luft oder ein aufheiternder Himmel Veränderungen in uns hervorrufen“, nimmt bereits etwas von dem vorweg, was später in Montesquieus De l’esprit des lois über klimatische Unterscheidungen und ihren Einfluss auf die Gesetze niedergelegt werden wird. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 159. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1111. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 79. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 637.
V. Empiristisches Gesetzesverständnis
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a) Descartes’ Zweifel Da unsere gesamte Erkenntnis durch die Sinne vermittelt wird, diese aber das Urteil über den Gegenstand unweigerlich trüben und beeinflussen, ist objektive Erkenntnis für Montaigne eine Illusion. Der Mensch ist aber nicht in dem Maße Herr seiner Sinne, wie er es sich mitunter vorspiegelt.⁵⁶³ Dieser grundstürzende Zweifel wird später auch Descartes befallen, den Leser Montaignes,⁵⁶⁴ der zu Beginn seiner Meditationen über die Grundlagen der Philosophie bekennt: „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahinter gekommen, dass diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben“.⁵⁶⁵ Dieser fundamentale Zweifel Descartes’ dürfte nicht zuletzt auf seine Montaigne-Lektüre zurückgehen,⁵⁶⁶ wie insbesondere Karlheinz Stierle in einer für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Weise herausgearbeitet hat: „In der Auseinandersetzung mit Montaignes Skeptizismus gewinnt Descartes einen neuen Begriff des ‚ordre’, der in Discours de la méthode, wie zuvor schon in den Regulae ad directionem ingenii ausdrücklich wird.“⁵⁶⁷
b) Montaignes Erkenntniskritik und Kants „Ding an sich“ Im bisherigen Schrifttum wohl noch nicht hinreichend gesehen wurde jedoch eine nachfolgende Begründung Montaignes, die zwar in dieselbe Richtung zielt, aber ansatzweise schon Kants große Einsicht vorwegzunehmen scheint:⁵⁶⁸ „Unsere
Verallgemeinernd und doch gerade mit Blick auf Montaigne passend Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 242: „Seiner ganzen Art nach lässt der Skeptiker jedoch Erfahrung walten und den gesunden sensualistischen Menschenverstand. Unsere Sinne sind zwar ein armseliger Leitfaden, zumal selbst Tiere schärfere und vielleicht zahlreichere haben als wir. Die Wissenschaft, mit der es freilich nicht weit her ist, beginnt und endigt gleichwohl bei den Sinnen“. Léon Brunschvicg, Pascal et Descartes. Lecteurs de Montaigne, 1944; Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs. Ein Versuch mit Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik 11 (Hg. Ders./R. Warning) 1984. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 1. Meditation 3., S. 15 der bei Felix Meiner erschienenen Ausgabe (1960). Übersetzung A. Buchenau. Vgl. nur Hassan Melehy, Writing Cogito. Montaigne, Descartes, and the Institution of the Modern Subject, 1997. Siehe auch Ruth Spiertz, Eine skeptische Überwindung des Zweifels? Humes Kritik an Rationalismus und Skeptizismus, 2001, S. 8. Karlheinz Stierle, Pascals Reflexion über den ‚ordre’ der Pensées, Poetica 4 (1971) 167, 191. Unter Verweis auf eine andere Passage auch Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 253: „Manche Stellen der Essais scheinen auf Kant zu weisen“.
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Phantasie heftet sich nicht an fremde Dinge, sondern entsteht durch Vermittelung der Sinne, und die Sinne erkennen keine fremden Gegenstände, sondern nur ihre eigene Empfänglichkeit: also liegen Phantasie und Schein nicht im Gegenstande, sondern bloß in der leidenden Empfänglichkeit des Sinnes, und dieses Leiden und diese Empfänglichkeit sind zwei verschiedene Dinge. Wer also nach dem Scheine urteilt, beurteilt einen Gegenstand nicht nach ihm selbst“⁵⁶⁹ (« Nostre fantasie ne s’applique pas aux choses estrangeres, ains elle est conceue par l’entremise des sens, et les sens ne comprennent pas le subject estranger, ains seulement leurs propres passions: et par ainsi la fantasie et apparence n’est pas du subject, ains seulement de la passion et souffrance du sens; laquelle passion, et subject, sont choses diverses: parquoy qui juge par les apparences, juge par chose autre que le subject ».⁵⁷⁰).
aa) Von Montaigne über Hume zu Kant Hier wird die kantische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung zumindest annäherungsweise vorausgesetzt. Ebenso wie später Kant geht Montaigne davon aus, dass wir das Ding an sich nicht erkennen können, sondern nur die Erscheinungen, wie sie sich unseren Sinnen darbieten.⁵⁷¹ Natürlich darf man diese Einsicht nicht von ihren gedanklichen Voraussetzungen trennen, die Kant und Montaigne in denkbar unterschiedlichen Lagern verorten: Während es Kant um die Erkenntnis a priori, also vor aller sinnlichen Wahrnehmung geht, ist Montaigne Empirist. Er steht insofern David Hume entschieden näher, dessen erkenntnistheoretische Arbeiten jedoch nicht von ungefähr Kant maßgeblich beeinflussten und den entgegengesetzten Standpunkt einnehmen ließen. Aber ungeachtet aller Unterschiede kann nicht übersehen werden, dass eine erkennt-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 80 f. Michel de Montaigne, Les Essais, La Pléiade II 12, S. 638. Interessant vor dem Hintergrund dieser Stelle Jean de La Fontaine, Fables, Livre septième, 17, Un animal dans la lune: « Pendant qu’une Philosophe assure,/Que toujours par leurs sens les hommes sont doupés,/Un autre Philosophe jure,/Qu’ils ne nous ont jamais trompés./Tous les deux ont raison ». Allgemein dazu Marc Fumaroli, La diplomatie de l’esprit. De Montaigne à La Fontaine, 2001; ders., Le poète et le roi. Jean de La Fontaine en son siècle, 1997; Jens Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Festschrift für Otmar Seul, 2014, S. 384. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 243: „Wenngleich es völlig eitel, ja sinnlos ist, von so etwas wie dem Wesen einer Sache auch nur zu reden, so lassen sich doch Erscheinungen beobachten und verknüpfen, und man kann zu Vermutungen gelangen darüber, ob sie sich wiederholen“.
V. Empiristisches Gesetzesverständnis
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nistheoretische Linie von Montaigne über Hume zu Kant führt, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des neuzeitlichen Liberalismus steht.⁵⁷²
bb) Einbeziehung des Beobachters in den Erkenntnisvorgang Man darf aber ebenfalls nicht übersehen – und hierin liegt dann doch wieder eine strukturelle Gemeinsamkeit -, dass Montaigne gerade deswegen Empirist ist, weil er schon vorausgesetzt und vorausgesehen zu haben glaubt, dass man die Dinge ohnehin nie anders als durch Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung erkennen kann. Für ihn ist der Beobachter immer schon in den Erkenntnisvorgang unablösbar einbezogen, so dass sich schon von daher keine Möglichkeit objektiver Erkenntnis bietet.⁵⁷³ Jedenfalls hat Montaigne die erkenntnistheoretische Dimension gerechten Urteilens – oder vielmehr das Dilemma – erkannt, wie die weiter oben betrachtete Stelle nun auch vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund verdeutlicht: „Wer wird aber übrigens der geschickte Richter über diese Zwistigkeit sein? (…)Wir müssten einen haben, der frei von allen diesen Eigenschaften wäre, damit er ohne alle Vorurteile über diese Fälle richten könne, als ihm völlig gleichgültig“⁵⁷⁴ (« Au demeurant, qui sera propre à juger de ces differences? (…) Il nous faudroit quelqu’un exempt de toutes ces qualitez, afin que sans præoccupation de jugement, il jugeast de ces propositions, comme à luy indifferentes ».⁵⁷⁵).
Vgl. auch John Christian Laursen, The Politics of Scepticism in the Ancients, Montaigne, Hume, and Kant, 1992. Dazu auch Jens Petersen, Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ – kritisches Spätwerk oder „Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohnes“?, Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, 2007, S. 1243, 1259. Zu den auch philosophisch hochinteressanten Implikationen, die sich aus der Quantentheorie im Hinblick auf die kantische Philosophie ergeben, siehe Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, 1973 (hier zitiert in der 13. Auflage 1993, S. 144 f.), wo der Autor von einem Gespräch mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Grete Hermann berichtet: „Carl Friedrich fing nun an, die Voraussetzungen der Kant‘schen Philosophie etwas genauer zu analysieren. (…) Schon bei Kant ist das ‚Ding an sich‘ ja ein problematischer Begriff. Kant weiß, dass man vom ‚Ding an sich‘ nichts aussagen kann; gegeben sind uns nur Objekte der Wahrnehmung. Aber Kant nimmt an, dass man diese Objekte der Wahrnehmung sozusagen nach dem Modell eines ‚Dinges an sich‘ verknüpfen oder ordnen kann. Er setzt also eigentlich jede Struktur der Erfahrung als a priori gegeben voraus, an die wir uns im täglichen Leben gewöhnt haben und die in präziser Form die Grundlage der klassischen Physik bildet“. Siehe ferner Carl Friedrich von Weizsäcker, Zeit und Wissen, 1992, S. 1113 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 80. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 638.
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cc) Richterliche Selbstbeschränkung Da aber eine solche Richterpersönlichkeit angesichts der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur in der Rechtswelt nicht vorfindbar und eine derartige Instanz ein Ding der Unmöglichkeit ist, dünkt es Montaigne, wie er an anderer Stelle erwägt, das Gerechteste, sich in die Einsicht beschränkter Urteilsfähigkeit zu fügen, um sich nicht dort ein Urteil anzumaßen, wo seine Vollstreckung ebenso folgenreich wie ungerecht sein würde. Einmal mehr ist es die Erfahrung, die ihm diesen unkonventionellen Weg weist: „Ich sah in meiner Kindheit einen Rechtshandel über einen sonderbaren Vorfall, welchen Corras, Parlamentsrat von Toulouse, drucken ließ. Zwei Menschen nämlich machten Anspruch darauf, eine Person zu sein. Ich erinnere mich noch (weiter erinnere ich mich auch nicht mehr), dass es mir damals so vorkam, derjenige, welcher für strafbar erklärt wurde, habe seinen Betrug so wunderbar, so weit über unsere Einsicht und die Einsicht dessen, welcher Richter war, getrieben, dass ich den Ausspruch sehr gewagt fand, der ihn zum Strang verurteilte. Lasst uns doch eine Urteilsformel einführen, welche sagt: Der Gerichtshof sieht die Sache nicht ein. Alsdann verfahren wir freimütiger und offenherziger als Areopagiten, welche, da man in sie drang, über eine Sache abzuurteilen, die sie nicht zu entwickeln vermochten, den Bescheid gaben, die Parteien sollten nach hundert Jahren wieder vorsprechen“⁵⁷⁶ (« Je vy en mon enfance, un procez que Corras Conseiller de Thoulouse fit imprimer, d’un accident estrange; de deux hommes, qui se presentoient l’un pour l’autre: il me souvient (et ne me souvient aussi d’autre chose) qu’il me sembla avoir rendu l’imposture de celuy qu’il jugea coulpable, si merveilleuse et excedant de si loing nostre cognoissance, et la sienne, qui estoit juge, que je trouvay pendu. Recevons quelque forme d’arrest qui die: La Cour n’y entend rien; Plus librement et ingenuement, que ne firent les Areopagites: lesquels se trouvans pressez d’une cause, qu’ils ne pouvoient desvelopper, ordonnerent que les parties en viendroient à cent ans ».⁵⁷⁷). So wenig praxisgerecht Montaignes Vorschlag anmutet, so ehrlich bekennt er sich zur Beschränkung der eigenen Urteilskraft. Er gibt gerade nicht vor, auf methodisch gesichertem Weg das gesetzlich vorgegebene Ergebnis zu finden. Rechtsfindung erscheint ihm als Illusion, weil sie voraussetzt, dass es ein gleichsam absolutes Recht gibt, wo Montaigne lediglich Entscheidungsmöglichkeiten auszumachen vermag, die sich in Abhängigkeit von ihren zeitlichen Verhältnissen eröffnen, aber sich zu einer davon abgelösten Gerechtigkeit äquidistant verhalten. Seine Methode besteht in der Verbindung persönlicher Erfahrung mit rechtshistorischen Vorbildern.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 97 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S.1076 f.
VI. Rechtsberatung und Interessentenjurisprudenz
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Den zynisch wirkenden, dilatorischen Bescheid des Areopag, in hundert Jahren erneut vorzusprechen, hält er der Sache nach für weise, der Form nach für unaufrichtig, weil er die Endgültigkeit der eigenen Ratlosigkeit unzureichend bedeutet. Bezeichnend hieran ist zudem Montaignes Eingeständnis seiner Jugend und der damit einhergehenden partiellen Erinnerung. Er nimmt implizit den Einwand vorweg, dass er die tatsächlichen und erst recht die rechtlichen Dimensionen des Falles als Kind gar nicht habe ermessen können, weil er weiß, dass er bestimmte Fälle auch später – selbst in hundert Jahren – nicht besser hätte beurteilen können, und gerade diese sokratische Selbsterkenntnis die wahre Weisheit ausmacht: „Ja, es gibt eine tapfre, edelmütige Unwissenheit, welche an Ehre und Kühnheit der Gelehrsamkeit nichts nachgibt, eine Unwissenheit, welche an sich zu erkennen, nicht wenig Gelehrsamkeit erfordert, als die Erkenntnis der Gelehrsamkeit“⁵⁷⁸ (« Voire dea, il y a quelque ignorance forte et genereuse, qui ne doit rien en honneur et en courage à la science : Ignorance pour laquelle concevoir, il n’y a pas moins de science, qu’à concevoir la science »⁵⁷⁹).
VI. Rechtsberatung und Interessentenjurisprudenz Ist schon das Recht so unzuverlässig wie unser Rechtsgefühl, und sind die Gesetze nur Werke bedingt urteilender Menschen, so sind die Rechtsanwälte für Montaigne geradezu die personifizierte Unzuverlässigkeit, weil sie interessentengebunden agieren, dabei aber letztlich aber nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind: „Man erzähle einem Advokaten seine Sache; er wird schwankend und zweideutig darauf antworten. Man fühlt, dass es ihm gleichgültig sei, diese oder jene Partei zu unterstützen. Ist das pro Arrha wichtig genug welches man ihm gibt, so dass er anbeißt? Fängt er an, warmen Anteil an eurer Sache zu nehmen? Erhitzt sich sein Wille? Seine Vernunft und seine Rechtskunde werden sich alsdann auch bald genug erhitzen. Nun stellt sich ihm die Sache in einem hellen Lichte dar, und sein Verstand fasst die unleugbare Wahrheit, er entdeckt darinnen ganz neue Gesichtspunkte und glaubt auch treuherzigerweise, wessen er sich überredet“⁵⁸⁰ (« Vous recitez simplement une cause à l’advocat, il vous y respond chancellant et doubteux: vous sentez qu’il luy est indifferent de prendre à soustenir l’un ou l’autre party: l’avez-vous bien payé pour y mordre, et pour s’en formaliser, commence-il d’en estre interessé, y a-il eschauffé sa volonté? sa raison et sa sci-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 97. Michel de Montaigne, Les Essais, III 11, S. 1076 . Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 16.
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§ 4 Befangenheit in der conditio humana
ence s’y eschauffent quant et quant: voylà une apparente et indubitable verité, qui se presente à son entendement: il y descouvre une toute nouvelle lumiere, et le croit à bon escient, et se le persuade ainsi ».⁵⁸¹).
1. Gleichgültigkeit und Eigennutz Was wie eine populistische Anwaltsschelte anmutet, erweist sich, wie so oft bei Montaigne, als doppelbödig. Vordergründig ist es nur die Korrumpierbarkeit des Interessenvertreters, der (erst) für Geld alles unternimmt und jedem Standpunkt etwas abgewinnen kann. Darüber hinaus ist es aber eine Parabel über Gleichgültigkeit und Eigennutz. Der Mensch ist von Natur aus gleichgültig gegenüber den Problemen der Mitmenschen. Erst der unmittelbare eigene Vorteil entfacht leidenschaftliches Interesse für die Probleme des anderen – und kann dann durchaus wohltätig wirken. Dass diese Vorteile auch immaterieller Art sein können, veranschaulicht Montaigne wenig später, wenn er ausruft: „Und wie viel edle Handlungen geschehen nicht aus Antrieb der Ruhmsucht? Wie viele aus Eigendünkel? Kurz, keine vorzüglich große Tugend besteht ohne alle fehlerhafte Leidenschaften“⁵⁸² (« Et combien de belles actions par l’ambition? combien par la presomption? Aucune eminente et gaillarde vertu en fin, n’est sans quelque agitation desreglée ».⁵⁸³). Wenn Montaigne eine sinnfällige Beobachtung wie die soeben dargestellte macht und diese wiederum Anlass für eine scheinbar banal anmutende Einsicht wie die zuletzt vorgetragene bietet, dann kann man sicher sein, dass dies eine allgemeine und tiefere Wahrheit zutage fördert. Hier ist es eine in Ansätzen Bernhard Mandevilles berühmte Doktrin („private vices – public benefits“) vorweg nehmende Sicht, wonach die lasterhaften Eigenschaften des Menschen zum Wohl der anderen geraten können.⁵⁸⁴
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 600. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 18. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 601. Friedrich August von Hayek, Dr. Bernhard Mandeville, Freiburger Studien, 1994, S. 126 (englische Erstfassung in: Proceedings of the British Academy 52, 1966, 125); dazu Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2012, S. 217 ff., 221 ff. Siehe auch Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987, S. 26 f.
VI. Rechtsberatung und Interessentenjurisprudenz
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2. Wertwidriges und Rechtswidriges Vor allem aber bestätigt diese Stelle Hugo Friedrichs Bemerkung, wonach es die „Lieblingsparadoxie“ Montaignes ist, „dass Wertwidriges (…) die Voraussetzung für die ‚Gesundheit‘ eines Gebildes (…) sein kann“.⁵⁸⁵ Dieses Wertwidrige muss – anders als von Hugo Friedrich im konkreten Zusammenhang vorausgesetzt – nicht notwendigerweise rechtswidrig sein; es ist im Gegenteil das gute Recht eines Advokaten, seine Dienstleistung erst gegen gutes Geld zu erbringen. Beängstigend ist nur der durch den Zahlungsfluss entstehende Übereifer. Denn Montaigne lässt durchaus bewusst offen, ob nicht die vom Anwalt zunächst eingenommene und juristentypische Haltung, sich nicht festlegen zu wollen, ihr Gutes haben kann. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war der Anwalt zwar innerlich gleichgültig, aber immerhin unparteiisch und damit als Ratgeber vielleicht sogar hilfreich. Montaigne gibt eine regelrechte Unschärferelation an: Je mehr der Anwalt am Fall verdient, desto dezidierter wird sein Standpunkt, obwohl seine Urteilsfähigkeit bereits entscheidend getrübt war. Montaigne setzt hier implizit etwas voraus, das von Albert Hirschman später „Annehmlichkeit und Unschuld des Gelderwerbs und des Handelns“ genannt wird,⁵⁸⁶ allerdings bedauerlicherweise ohne Montaigne einzubeziehen, der gerade im Hinblick auf den für Hirschmans Theorie zentralen Montesquieu weiter- und vorangehende Einsichten gehabt hatte.⁵⁸⁷ Das belegt nicht zuletzt folgende Stelle der Essais, die sich wie eine Vorwegnahme von Hirschmans Untersuchung über die ‚Leidenschaften und Interessen‘ liest: „Man muss aber nicht, wie wir täglich zu tun pflegen, eine innere Bitterkeit, die aus persönlichem Vorteil und Leidenschaft entspringt, Pflicht nennen; noch ein verräterisches, heimtückisches Betragen Mut und Tapferkeit. Auch nennen die Menschen ihren Hang zur Grausamkeit gerne Eifer. Es ist nicht die vermeintlich gerechte Sache, welche sie erhitzt, es ist ihr Interesse; sie zetteln den Krieg an, nicht weil der Krieg gerecht ist, sondern weil es Krieg ist“⁵⁸⁸ (« Mais il ne faut pas appeller devoir, comme nous faisons tous les jours, une aigreur et une intestine aspreté, qui naist de l’interest et passion privée, ny courage, une conduitte traistresse et malitieuse. Ils nomment zele, leur propension vers la malignité, et violence : Ce n’est pas la cause qui les eschauffe, c’est leur interest : Ils attisent la guerre, non par ce qu’elle est juste, mais par ce que c’est guerre ».⁵⁸⁹). Es ist einmal
Hugo Friedrich, Montaigne, S. 180. Zu ihm Jeremy Adelman, Worldly Philosopher. The Odessey of Albert O. Hirschman, 2013. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987, S. 65 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 5, S. 8. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 833.
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öfter aufschlussreich, dass Hirschman für seine wirtschaftswissenschaftlich bedeutsame Theorie neben Montesquieu Blaise Pascal ins Feld führt, die beide von Montaigne maßgeblich beeinflusst wurden. Insbesondere dürfte die dort vorausgesetzte Einsicht Pascals gleichfalls aus Montaignes Gedankenreichtum geschöpft worden sein.⁵⁹⁰ Jedenfalls veranschaulicht diese Affinität Montaignes gegenüber dem von Hirschman für die Stichhaltigkeit seiner Theorie über den Kapitalismus einbezogenen Denken, dass man bereits bei Montaigne Ansätze eines rechtsökonomischen Denkens finden kann. Montaigne darf mit Fug und Recht als geisteswissenschaftlicher Vorläufer und Ideengeber genannt werden.
VII. Recht und Rhetorik Montaigne verdeutlicht, wie bereits weiter oben gesehen, allgemeine Einsichten, die nicht von ungefähr Probleme der Rhetorik betreffen, mit juristischen Beispielen. Hieran lässt sich der Zusammenhang zwischen Recht und Rhetorik verdeutlichen, der für Montaigne unausgesprochen bedeutsamer ist, als es den Anschein hat: „Wenn man mir mit einem neuen Argumente zusetzt, so steht es bei mir zu denken, dass, was ich darinnen nicht auflösen kann, ein anderer vermöge; denn es ist eine große Einfalt, alles Scheinbare zu glauben, das wir nicht von uns zurückweisen können. Denn daraus würde entstehen, dass der gemeine Mann, und zum gemeinen Mann gehören wir alle, einen Glauben hätte, er sich nach jedem Wind drehte, wie eine Wetterfahne: denn, da seine Seele weich, und ohne Federkraft ist, so wäre sie gezwungen, ohne Unterlass einen andern und abermals andern Eindruck anzunehmen; indem der letzte beständig die Spur des vorhergehenden auslöschte. Derjenige, welcher sich schwach fühlt, muss nach der Gewohnheit antworten: ich will darüber mit meinem Rate sprechen; oder er muss sich auf weise Männer verlassen,von denen er seinen ersten Unterricht empfangen hat“⁵⁹¹ (« Quand on me presse d’un nouvel argument, c’est à moy à estimer que ce, à quoy je ne puis satisfaire, un autre y satisfera: Car de croire toutes les apparences, desquelles nous ne pouvons nous deffaire, c’est une grande simplesse: Il en adviendroit par là, que tout le vulgaire, et nous sommes tous du vulgaire, auroit sa creance contournable, comme une girouette: car son ame estant molle et sans resistance, seroit forcée de recevoir sans cesse, autres et autres impressions, la derniere effaçant tousjours la trace de la precedente. Celuy qui se trouve foible, il
Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987, S. 25 mit Fn. b). Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 24.
VII. Recht und Rhetorik
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doit respondre suivant la pratique, qu’il en parlera à son conseil, ou s’en rapporter aux plus sages, desquels il a receu son apprentissage ».⁵⁹²).
1. Rechts- und Diskurstheorie Wiederum veranschaulicht Montaigne eine scheinbar alltägliche, bei näherer Betrachtung aber wissenschaftstheoretisch und rhetorisch bedeutsame Einsicht anhand eines Beispiels aus der Jurisprudenz. Die moderne Diskurstheorie hat diese Stelle soweit ersichtlich noch nicht aufgegriffen – oder nicht aufgreifen wollen, weil sie der Wahrheitsfindung durch die Kraft des besseren Arguments nicht eben förderlich ist. So unsouverän Montaignes Maxime auf den ersten Blick scheint, so sehr entspricht sie seinem eingefleischten Konservativismus: „Alle Veränderung, sie bestehe, worin sie wolle, greift an und tut weh“⁵⁹³ (« Le changement, quel qu’il soit, estonne et blesse ».⁵⁹⁴). Neue Auffassungen, die den eigenen alten widersprechen, werden argwöhnisch betrachtet und scheinbar irrational zurückgewiesen. Lieb gewonnene Einsichten werden ungern verabschiedet. Dabei könnte auch die Diskurstheorie von dieser grundehrlichen Einschätzung Montaignes lernen. Denn sie setzt nicht voraus, dass der von ihm eingenommene Standpunkt durch das relativ bessere Argument unvertretbar geworden wäre, sondern nur dass ihm, der damit konfrontiert wird, spontan kein Gegenargument einfällt. Es kann also durchaus das scheinbar bessere Argument noch entkräftet werden, wenn auch vielleicht nicht gerade durch den damit konkret Konfrontierten.
2. Wissenschaftstheoretische Reichweite Wissenschaftstheoretisch gesehen ist Montaignes Einsicht von höchstem Interesse und wird durch ein Bekenntnis Max Plancks bestätigt, der in seiner wissenschaftlichen Selbstbiographie eine überraschende Erfahrung preisgibt: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwach-
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 605. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 197. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1133.
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§ 4 Befangenheit in der conditio humana
sende Generation von Vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist“.⁵⁹⁵ Rechthaberei, Verbohrtheit in den eigenen Standpunkt sind also nicht einmal bei den bedeutendsten Wissenschaftlern – womöglich sogar am wenigsten bei diesen – mitnichten außergewöhnlich. Es ist interessant, wie Thomas Kuhn die zitierte Stelle Plancks in seinen wissenschaftstheoretischen Ansatz eingliedert:⁵⁹⁶ „Und doch, dass Widerstand unvermeidlich und legitim sei, ein Paradigmenwechsel nicht durch Beweise gerechtfertigt werden könne, heißt nicht, dass Argumente nicht von Bedeutung seien oder dass Wissenschaftler nicht bewogen werden könnten, ihre Meinung zu ändern. Obwohl es manchmal einer ganzen Generation bedarf, bis ein Wechsel vollzogen ist, sind wissenschaftliche Gemeinschaften doch immer wieder zu neuen Paradigmata übergegangen. Außerdem geschehen diese Konversionen nicht trotz der Tatsache, dass Wissenschaftler Menschen sind, sondern gerade weil sie es sind.“⁵⁹⁷ Diese Erklärung würde Montaigne wohl gefallen haben. Es ist gerade die Einbeziehung des Menschlichen in Fragen von scheinbar höchster Objektivität, die ihn fasziniert. Wenn man sich vor diesem wissenschaftstheoretischen Hintergrund fragt, was Montaignes Exemplifizierung durch das Beispiel der Rechtspraxis bedeutet, so kann man daraus die Folgerung ziehen, dass er, wie dies schon weiter oben verschiedentlich aufschien, die Jurisprudenz eher der Rhetorik zuordnete, denn als eigene Wissenschaft begriff. Im Übrigen lässt sich das, was Montaigne freimütig einräumt, mitunter auch an fachwissenschaftlichen – nicht zuletzt juristischen – Diskursen erkennen: Eingefahrene, über Auflagen hinweg vertretene Auffassungen werden ungern unter dem Eindruck eines starken, womöglich stärkeren Arguments aufgegeben, sondern häufig unter Zuhilfenahme eines tendenziell schwächeren, nicht selten formalen Arguments aufrecht erhalten, um nicht als wetterwendisch zu gelten. Was dabei verstockt und rechthaberisch anmutet, kann nicht selten durchaus als in dem Sinne ratsuchend verstanden werden, wie es auch Montaigne voraussetzt. Denn im wissenschaftlichen Diskurs kann das bessere Argument zwischenzeitlich von dritter Seite kommen, sodass es im Ergebnis vielleicht wirklich nicht angezeigt wäre, den für richtig gehaltenen Standpunkt zwischenzeitlich zu räumen. Freilich ist es, um ein Wort
Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, 1928, S. 22. Planck musste dies übrigens später auch im Hinblick auf eigene Theorien erfahren, wie sein Biograf Armin Hermann, Planck, 6. Auflage 1995, S. 72, bemerkt. Zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der juristischen Methodenlehre in diesem Sinne Jens Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 12. Auflage 1993, S. 163.
VII. Recht und Rhetorik
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Nietzsches aufzugreifen, ein Gebot der „intellektuellen Rechtschaffenheit“,⁵⁹⁸ das als besser erkannte Argument als solches zu würdigen und nicht durch formale Scheinargumente abzuqualifizieren. Mitunter kann es der Rechtsfindung förderlich sein – wie es übrigens auch der Gesetzgeber in den Gesetzesbegründungen mitunter macht -, eine Problematik der weiteren rechtsdogmatischen Diskussion zu beantworten. So erschließt Montaignes Zweifel an der Möglichkeit endgültiger wissenschaftlicher Wahrheiten gerade am Beispiel der Jurisprudenz denjenigen Bereichen der juristischen Grundlagenfächer neue Horizonte, die mit ihrem Wissenschaftsanspruch zumindest zusammenhängen, namentlich der juristischen Methodenlehre und der Rechtstheorie.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, 445. Siehe zu dem von ihm sogenannten Kampf um das „Rechtbehalten“ auch Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, I, 634; zum Ganzen Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 12 ff.
§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht Alle bisherigen Stellen der Apologie, die auf das Recht bezogen sind, können als Präliminarien für dasjenige gelten, was Montaigne im Folgenden über Recht, Gerechtigkeit und vor allem die wankelmütigen Gesetze sagt. Es ist nicht nur ein Kernstück seiner Rechtslehre, sondern hat vor allem Blaise Pascal maßgeblich beeinflusst.⁵⁹⁹ Ausgangspunkt der Betrachtung ist wie so oft bei Montaigne die Frage, welchen Prinzipien, Regeln und Maximen der Einzelne sein Leben in der Weise unterordnen sollte, dass es als gelungenes anzusehen ist: „Im übrigen aber würden wir uns nicht in eine große Verwirrung stürzen, wenn wir die Vorschrift unserer Sitten aus uns selbst nehmen wollten! Denn, was unsere Vernunft uns dabei als das wahrscheinlichste anrät, ist, dass jedermann den Gesetzen seines Landes zu gehorchen habe, wie es die Meinung des Sokrates mit sich bringt, die ihm, wie er sagte, von seinem Dämon eingegeben worden. Und was will er damit wohl anders sagen, als dass Pflichten nur zufällige Vorschriften haben“⁶⁰⁰ (« Au demeurant, si c’est de nous que nous tirons le reglement de nos mœurs, à quelle confusion nous rejettons nous? Car ce que nostre raison nous y conseille de plus vray-semblable, c’est generalement à chacun d’obeyr aux loix de son pays, comme est l’advis de Socrates inspiré (dit-il) d’un conseil divin. Et par là que veut elle dire, sinon que nostre devoir n’a autre regle que fortuite? »⁶⁰¹). Montaignes Maxime, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen, deren Urheber er hier zudem angibt, scheint ihm also selbst nicht so verlässlich zu sein, wie er an früherer Stelle vorausgesetzt hatte. Dieser vernunftmäßige Ratschlag stößt nämlich dort auf Grenzen, wo die Grundlage, auf die sich die Vernunft bezieht, ihrerseits brüchig und kontingent ist.⁶⁰²
Tiefschürfend Karlheinz Stierle, Pascals Reflexion über den ‚ordre’ der Pensées, Poetica 4 (1971) 167, 191: „Für Pascal als Schüler Montaignes ist jeder Satz, jede Einsicht, die sich in ihm fixiert, von unausschöpfbarer Vieldimensionalität. Es reicht nicht, einen Satz verstanden zu haben, man muss die Perspektive erkennen, in der er steht (…)“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 39. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 614. Siehe dazu auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Christian Moser, Angewandte Kontingenz, Kleist-Jahrbuch 2000, S. 3 ff.; Martina Maierhofer, Zur Genealogie des Imaginären: Montaigne, Pascal, Rousseau, 2003, S. 20 f.; Tanja Zeeb, Die Dynamik der Freundschaft. Eine philosophische Untersuchung der Konzeptionen Montaignes, La Rochefoucaulds, Chamforts und Foucaults, 2011, S. 50; aus philosophischer Sicht Jürgen Goldstein, Kontingenz und Rationalität bei Descartes, 2007, S. 296 f., wo wiederum Descartes als Leser Montaignes sichtbar wird.
I. Relativität der gesetzlichen Wahrheit
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I. Relativität der gesetzlichen Wahrheit Gesetze sind für Montaigne nämlich letztlich nichts anderes als ein Zufallsprodukt: „Die Wahrheit muss immer und allenthalben einerlei unveränderliche Gestalt haben. Recht und Gerechtigkeit, wenn der Mensch dergleichen kennte, die wesentlich und beständig wären, würde er solche nicht an die zufälligen Gewohnheiten eines Landes mehr als des andern Landes binden. Die Tugend würde nicht ihre Form von den Einbildungen der Perser und Hindus entlehnen“⁶⁰³ (« La verité doit avoir un visage pareil et universel. La droiture et la justice, si l’homme en cognoissoit, qui eust corps et veritable essence, il ne l’attacheroit pas à la condition des coustumes de ceste contrée, ou de celle là: ce ne seroit pas de la fantasie des Perses ou des Indes, que la vertu prendroit sa forme ».⁶⁰⁴).
1. Recht und Wahrheit Montaigne verklammert hier Recht und Wahrheit in der Weise miteinander, dass aus der Irrationalität des Rechts und seiner gesetzlichen Grundlagen auch ein negatives Urteil über den Wahrheitsanspruch der Jurisprudenz angeleitet werden kann. Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist die Absolutheit der Wahrheit; Relativität im Hinblick auf die Wahrheit erscheint ausgeschlossen. Die Frage ist also, wie der Mensch in seiner Befangenheit und Bedingtheit rechtlicher Wahrheit überhaupt teilhaftig werden kann. Allein das Faktum, dass sich die Menschen nicht nach allgültigen Gesetzen richten, sondern in erster Linie nach Sitten und Gebräuchen des jeweiligen Landes, ist Montaigne Beleg dafür, dass es die unmittelbare Einsicht in ein überall gültiges und zeitlos richtiges Naturrecht nicht geben kann. So muss man jedenfalls den Konditionalsatz verstehen, wonach der Mensch in der Umkehrung gerade keinen Gerechtigkeitssinn für eine naturrechtlich geoffenbarte Wahrheit hat. Die überall unterschiedlichen Sitten und Gebräuche und danach regional verschieden erlassenen Gesetze gelten ihm geradezu als Beleg dafür, dass es einen naturrechtlich fundierten Wahrheitsanspruch mit territorialer und temporaler Gültigkeit nicht geben kann.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 39. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 614.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
2. Objektive Bedingungen des Naturrechts So ist auch zu verstehen, dass er die Vorstellungen der Perser und Inder – also aus seiner Vorstellungswelt extrem weit entfernt lebender Völker – zur Bekräftigung dafür ins Feld führt, dass deren Sitten und Gebräuche ganz andersartige Gesetze hervorbringen, die ihre eigene Zweckmäßigkeit aufweisen.
a) Beispiel aus dem chinesischen Rechtskreis Das zeigt ihm ein seines Erachtens gleichermaßen gerechtes wie effizientes Beispiel der chinesischen Rechts- und Verwaltungspraxis: „In China, einem Reich, dessen Einrichtungen und Künste, ohne dass es Umgang mit uns hätte und ohne dass es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen, und dessen Geschichte mich belehrt, wie viel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben, schickt der Kaiser Reichsbediente in die Provinzen, um den Zustand derselben zu untersuchen. Diese Beamten, wie sie diejenigen strafen, welche sich in ihren Stellen schlecht betragen, belohnen sie auch freigebig diejenigen, welche sich gut betragen und mehr geleistet haben, als sie nach ihren Zwangspflichten schuldig sind. Vor diese Depurtierten stellt man sich, nicht bloß um sich zu verteidigen, sondern um zu gewinnen, nicht bloß um bezahlt, sondern auch von ihnen beschenkt zu werden“⁶⁰⁵ (« En la Chine, duquel Royaume la police et les arts, sans commerce et cognoissance des nostres, surpassent nos exemples, en plusieurs parties d’excellence :et duquel l’histoire m’apprend, combien le monde est plus ample et plus divers, que ny les anciens, ny nous, ne penetrons : les officiers deputez par le Prince, pour visiter l’estat de ses provinces, comme ils punissent ceux, qui malversent en leur charge, il remunerent aussi de pure liberalité, ceux qui s’y sont bien portez outre la commune sorte, et outre la necessité de leur devoir : on s’y presente, non pour se garantir seulement, mais pour y acquerir : ny simplement pour estre payé, mais pour y estre estrené ».⁶⁰⁶). Diese Stelle belegt nicht nur, dass Montaigne jeglicher Chauvinismus gegenüber dem Andersartigen fremd, sondern ihm das betreffende Land nicht zuletzt deswegen wichtig ist, weil seine Einrichtungen einem anderen Rechtskreis mit fundamental unterschiedlichen Sitten und Gebräuchen zugehört. Hier leuchtet beispielhaft bereits das auf, was im letzten Kapitel noch zu vertiefen ist, nämlich, dass eine kultur- und rechtsanthropologische Betrachtung ihm gleich-
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 171 f. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1118.
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sam als Surrogat für ein abhandengekommenes Naturrecht dient. Es handelt sich im Übrigen neben der Vergleichung der Rechtskulturen abermals um einen jener Fälle, in denen Montaigne rudimentäre rechtsökonomische Überlegungen angestellt, hier in Gestalt eines effizienten Anreizsystems mit potentiell verhaltenssteuernder Wirkung.⁶⁰⁷
b) Zufälligkeit des Gesetzesvorrangs Wenn wir also nicht nur aus rein pragmatischen Gründen – etwa weil wir uns in dem jeweiligen Land befinden -, sondern auch aus innerer Überzeugung nach den Gesetzen eines bestimmten Landstrichs richten, die wiederum den dort konstituierten Sitten folgen, dann wird es in der Tat letztlich vom Zufall abhängig, welchen Gesetzen der Vorzug gebührt. Richtig im Sinne eines absoluten Wahrheitsanspruches können sie ebenso wenig sein wie alle anderen Gesetze, die in anderen Landstrichen gelten. Gäbe es dagegen ein immer und überall gültiges und ewiges Naturrecht, dann könnte es durch die regionalen Sitten und Gesetze allenfalls modifiziert sein. Montaigne unternimmt hier noch nicht den Versuch, das Naturrecht gleichsam more geometrico zu widerlegen, sondern macht zunächst nur Anstalten, die Geltung des Naturrechts bestimmten Bedingungen unterzuordnen. Dagegen ließe sich zwar vorbringen, dass es gerade für das Naturrecht eben nicht so sein dürfe, weil dieses eben bedingungslos gelte, doch will Montaigne diesem Einwand offensichtlich entgehen. Der Sache nach begegnet er freilich einem normativen Argument, der Frage, ob es ein Naturrecht gibt, mit einem faktischen Einwand, nämlich dem Hinweis darauf, dass es so viele Gesetze wie es Länder gibt und diese schwerlich alle in ihrer extremen Unterschiedlichkeit einem einheitlichen Naturrecht zu subsumieren wären.
3. Neuzeitlicher Begründungsansatz gegen das Naturrecht Die von Montaigne ins Feld geführte Argumentation gegen die Geltung der Gesetze und das Naturrecht gehört zu den wirkungsmächtigsten und einschneidenden neuzeitlichen Begründungsversuchen. Man kann sogar sagen, dass gerade hierin erstmals ein spezifisch neuzeitlicher Begründungsansatz aufleuchtet, der für das Verständnis der Rechtswissenschaft, der Rechtsphilosophie und der Rechts-
Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, 2008, diskutieren eine Reihe solcher Verhaltenssteuerungen, die von einem vorausschauend gesetzten Impuls (‚nudge‘) angestoßen werden.
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theorie von größter Bedeutung ist. Gerade in dieser Frage geht Montaigne als einer der ersten und wegweisenden neuzeitlichen Denker einen gegenüber der Rechtsauffassung des Hochmittelalters fundamental unterschiedlichen Weg, auf dem ihn, wie weiter unten zu zeigen sein wird, sein kritischer Leser Pascal nur scheinbar und eher durch Anspielungen ironischer Art begleitet, sich in Wirklichkeit aber von ihm in die entgegengesetzte Richtung abwenden wird.⁶⁰⁸ Wenn man sich an die eingangs zitierte Bemerkung Nietzsches von den vier Paaren erinnert,⁶⁰⁹ unter denen jeweils auch Montaigne und Pascal waren, freilich bezeichnender Weise nicht als eines dieser Paare vereint, dann dürfte nicht zuletzt die sich in dieser zentralen Problematik des Naturrechts aufscheinende Frage und ihre unterschiedliche Beantwortung durch Montaigne und Pascal dafür mit ursächlich sein, dass Nietzsche Pascal als eines der „lehrreichsten Opfer des Christentums“ bezeichnen wird.⁶¹⁰ Denn für Nietzsche gibt es „weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht“.⁶¹¹ Diese möglichen geistesgeschichtlichen Auswirkungen mögen veranschaulichen, dass es hier um eine zentrale Weichenstellung für das Rechtsdenken der Neuzeit geht.
II. Wankelmütigkeit der Gesetzgebung Zum Beweis der Tatsache, dass die Gesetzgebung letztlich dem Zufall überlassen ist und sich dementsprechend unberechenbar bald hierhin, bald dorthin entwickelt, rekurriert er auf die englische Gesetzgebung: „Nichts ist mehr beständigeren Veränderungen unterworfen als die Gesetze. Seitdem ich denken kann, habe ich drei- oder viermal gesehen, dass die Engländer, unsere Nachbarn, die ihrigen verändert haben: nicht nur in Anlehnung der Politik, die eben nirgends für so fest und beständig gehalten wird, sondern in Rücksicht auf das wichtigste, was wir nur haben können, nämlich die Religion“⁶¹² (« Il n’est rien subject à plus continuelle agitation que les loix. Depuis que je suis nay, j’ay veu trois et quatre fois, rechanger celles des Anglois noz voisins, non seulement en subject politique, qui est celuy qu’on veut dispenser de constance, mais au plus important subject qui puisse estre, à sçavoir de la religion ».⁶¹³).
Jens Petersen, Pascals Gedanken über das Recht, Festschrift für Werner Merle, 2010, S. 289. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II 2, 407. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, warum ich so klug bin, 3. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II 2, 31 a. E. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 39. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 614.
II. Wankelmütigkeit der Gesetzgebung
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1. Autobiographisches Tatsachen- und Werturteil An dieser Stelle ist zweierlei bedeutsam: Zum Ersten ist es bezeichnend für Montaignes Methode, dass er gleichsam autobiographisch-induktiv verfährt, indem er ein bestimmtes Land herausgreift, und dessen Rechtszustand mit seiner eigenen Geburt verknüpft. Auf diesen genetischen Ursprung kommt er sogar in einer besonders subjektiv gefärbten Äußerung noch zurück: „Dessen ich mich ebensosehr schäme als mich darüber ärgere; um so mehr, da es eine Nation ist, mit welcher wir in unserer Gegend ehedem eine so genaue Bekanntschaft gehabt haben, dass noch in meiner Familie verschiede Spuren unserer alten Vetternschaft übriggeblieben sind“⁶¹⁴ (« Dequoy j’ay honte et despit, d’autant plus que c’est une nation, à laquelle ceux de mon quartier ont eu autrefois une si privée accointance, qu’il reste encore en ma maison aucunes traces de nostre ancien cousinage ».⁶¹⁵). Stellen wie diese verdeutlichen, warum es sich bei den Essais um eines der am persönlichsten gefärbten Bücher der Weltliteratur handelt, noch vor den Confessiones des Augustinus. Es ist immer Montaigne selbst, der urteilt, aus seiner Zeit heraus spricht und mit allen persönlichen und gegenständlichen Verbindlichkeiten behaftet, so dass schon rein formal kein anderer Anspruch erhoben wird, als der des Autors, aus seiner persönlichen Perspektive heraus zu urteilen. Tatsachen- und Werturteil gehen ineinander über; es wird erst gar nicht der Versuch gemacht, einen unbefangen und objektiv urteilenden Betrachter zu simulieren, den es für Montaigne ohnehin nicht gibt – so wie es eben auch keine vollkommen unparteiischen Richter gibt.
2. Religionsgesetze und Staatsgesetze Zum Zweiten ist diese Stelle aber auch deswegen bedeutsam, weil Montaigne hier die Religionsgesetze von den auf das Staatswesen bezogenen Gesetzen unterscheidet und jenen größere Wichtigkeit zuspricht als diesen. Diese Wertschätzung ist in einer von Religionskrisen zermürbten Zeit verständlich.⁶¹⁶ Überdies kommt darin zum Ausdruck, dass die Religionsausübung und die durch Gesetze entstehende legislatorische Bevormundung in diesem persönlichsten und die eigene
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 40. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 614. Siehe aber auch Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 239: „Ebenso wenig wie die Skeptiker der antiken Verfallsperioden flieht Montaigne unter den Schrecknissen des Übergangs zur Neuzeit in einen starken Glauben“.
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Glaubensrichtung berührenden Bereich von besonderer Brisanz ist. Gerade in der Religionsgesetzgebung ist, wie der Umkehrschluss im Verhältnis zur staatlichen Gesetzgebung ergibt, Konstanz für Montaigne ein besonderes Desiderat. Gesetzgebung bezüglich der religiösen Praxis berührt den inneren Kern der Gewissensfreiheit, der aus Montaignes individualistischer Rechtsauffassung heraus besonders sensibel gegenüber jeglichem legislatorischen Paternalismus ist.⁶¹⁷ Bezüglich der Wandelbarkeit der staatlichen Gesetze macht sich Montaigne von Vornherein keine Illusion: Hier entscheidet politische Macht, die okkasionistisch ausgeübt wird, bald hierhin, bald dorthin fällt und im Augenblick, da sie gegeben wurde, auch rechtlich genutzt wird, weil sie ebenso schnell wieder verfallen kann.⁶¹⁸ Hier spielen Überzeugungen eine nachrangige Rolle, so dass auch die Dauerhaftigkeit der gesetzlichen Regelungen nebensächlich ist. Sie gilt, solange die Machtverhältnisse dies zulassen; eine Nachfolgeregierung wird andere Gesetze erlassen.
III. Gefahr der Rückwirkung von Gesetzen Kreist Montaigne das Problem der Relativität der Gesetzesgeltung zunächst vom benachbarten England aus ein, so nähert er sich jetzt dem Zentrum, das zugleich Ort blutiger Religionskriege geworden war: „Und hier bei uns habe ich Dinge gesetzmäßig werden gesehen, die vormals unter die Kapitalverbrechen gerechnet wurden. Und wir, die wir von andern zu Lehn gehen, sind in dem Falle, dass wir, der Ungewissheit des Kriegsglücks zufolge, heute des Verbrechens der beleidigten Majestät, göttlicher sowohl als weltlicher, schuldig werden können, wenn unser Recht in die Gewalt der Ungerechtigkeit fällt: und nach einigen Besitzjahren wieder für sehr gesetzmäßig erkannt werden“⁶¹⁹ (« Et chez nous icy, j’ay veu telle chose qui nous estoit capitale, devenir legitime: et nous qui en tenons d’autres, sommes à mesmes, selon l’incertitude de la fortune guerriere, d’estre un jour criminels de læse majesté humaine et divine, nostre justice tombant à la mercy de l’injustice: et en l’espace de peu d’années de possession, prenant une essence contraire ».⁶²⁰).
Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Auflage 2005, S. 260. Treffend Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 13 „Zeigte sich seinem Problembewusstsein Macht als unbestreitbare Größe, so war das Recht fragwürdig und umstritten“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 40. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 614.
III. Gefahr der Rückwirkung von Gesetzen
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1. Unzuverlässigkeit der Gesetzesgeltung Die Variabilität der Gesetzesgeltung wird somit für den Rechtsunterworfenen zur realen Gefahr. Der elementare Vertrauensschutz, den die Gesetze in ihrer Beständigkeit verkörpern, gerät ins Gegenteil und bedroht diejenigen, die auf die Geltung der Gesetze vertrauten. Die damit mögliche Rückbewirkung von Rechtsfolgen kann diejenigen, die guten Glaubens auf ihr Recht vertrauen, rechtlos stellen. Was wir heute als rechtsstaatswidrige Rückwirkung bezeichnen würden, war zu Montaignes Zeiten noch gänzlich unbekannt.⁶²¹ Die Gesetzesgeltung war ebenso zufällig und unsicher, wie das Glück des Krieges; wer diesen gewann, konnte die Gesetze umgestalten. Es ist verständlich, dass Montaigne von diesem zeitgeschichtlichen Ausgangspunkt her nicht mehr ohne Weiteres an die Kraft des Naturrechts glauben konnte. In einer Zeit, in der gerade im Namen der Religion Bürgerkriege geführt und die heiligsten Normen des Naturrechts mit Füßen getreten wurden, ohne dass dies zwangsläufig sanktioniert worden wäre, war eine oberste Norm abhanden gekommen. Auch hier ist es wiederum die Kürze der Geltung der Gesetze, angesichts derer Montaigne die Verlässlichkeit des Rechts bezweifelt. Wenn sich Gesetze binnen Kurzem so grundlegend wandeln können, dass eine Wohltat bei nachträglicher rechtlicher Würdigung in ein Verbrechen umgedeutet werden kann, dann ist die Rechtswelt vollends aus den Fugen geraten. Allerdings hält sich Montaigne mit einer ausdrücklichen Abkehr vom Naturrecht zurück. Das ist auch aus heutiger Sicht noch nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass gerade nach der schrecklichsten Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus eine Naturrechtsrenaissance in der Nachkriegszeit einsetzte.⁶²² Gerade Zeiten extremer Umbrüche und Rechtswandel können so zu einem Nährboden für den Glauben an ein Naturrecht werden, das die Zeiten überdauert und auch rückwirkend einen Beurteilungsmaßstab für evidentes Unrecht bereit hält.
Zur Rechtsstaatsidee bei Montaigne Biancamaria Fontana, The Rule of Law and the Problem of Legal Reform in Michel de Montaigne’s Essais, in: Demcracy and the Rule of Law (Hg. J. M. Maravall/A. Przeworski) 2003, S. 302. Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist, Festschrift für Sten Gagner, 1991, S. 105 ff.; wichtig ferner Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 183.
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2. Recht oder Ordnung? In solchen Zeiten der Aufarbeitung von Unrecht kommen rechtsphilosophische Grundlagenfragen zu ihrem Recht.Von daher erklärt sich auch, dass Montaigne in dieser Grundlagenungewissheit die Philosophie konsultiert: „Was wird uns also die Philosophie über dieses hohe Bedürfnis sagen? Dass wir den Gesetzen unseres Landes folgen? D. h. dem wogenden Meere von Meinungen eines Volkes oder eines Fürsten, die mir die Gerechtigkeit mit ebensoviel Gestalten reformieren werden, als in ihnen Veränderungen der Leidenschaften vorgehen. So wackelhaft ist mein Urteil nicht“⁶²³ (« Que nous dira donc en ceste necessité la philosophie? que nous suyvions les loix de nostre pays? c’est à dire ceste mer flottante des opinions d’un peuple, ou d’un Prince, qui me peindront la justice d’autant de couleurs, et la reformeront en autant de visages, qu’il y aura en eux de changemens de passion. Je ne puis pas avoir le jugement si flexible ».⁶²⁴). Montaignes rechtsphilosophische Sichtweise wirkt auf den ersten Blick ratiozentrisch, so dass diese Perspektive einen ersten Schritt zu einem aufgeklärten Vernunftrecht zu unternehmen scheint. Doch muss man sich vor dem Missverständnis hüten, Montaigne gehe es um ein Primat der Vernunft.⁶²⁵ Eher ist es ihm um die Aufrechterhaltung der Ordnung zu tun; Ordnung und Unordnung sind ihm verlässlichere Kategorien als Recht und Unrecht. Hugo Friedrich hat es auf den Punkt gebracht: „Das Bestehende ist gut, sofern es sich nur notdürftig bewährt hat und zur Gewohnheit geworden ist. Die Unterscheidungsbegriffe für das Taugliche in Staat, Gesellschaft, Familie, Sitten lauten nicht: Gerecht-Ungerecht, sondern: Ordnung-Unordnung. Dabei kommt der Ordnung keine andere Rolle zu als die, eine Spielregel zu sein, ein Notbehelf in einem Dasein, wo sich alles als Notbehelf herausgestellt hat – eine organisierte Zufälligkeit. Sie ist wertindifferent, aber lebenserhaltend.“⁶²⁶ Es geht also weniger um Recht und Ordnung als vielmehr um die Alternative Recht oder Ordnung, bei der die Ordnung den Vorrang vor dem Recht hat, weil sie sichtbar und verlässlich, jenes aber unergründbar und unsicher ist. Dass sich Montaigne nach dem Vorbild der antiken Autoren ratsuchend an die
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 41. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 615. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 248: „Menschliche Vernunft ist (sc.: für Montaigne) nicht bloß schwach, sie ist auch schädlich und gefährlich“. Er exemplifiziert diese Einsicht Montaignes im Folgenden nicht von ungefähr anhand einer das Recht betreffenden Stelle der Apologie. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 184.
IV. Beliebigkeit juristischer Streitentscheidung?
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Philosophie wendet, entspricht der Konvention, kann aber die abgrundtiefe Skepsis nicht verbergen.⁶²⁷
3. Widersprüchliches Gesetzesverständnis Montaignes An die Gesetze des eigenen Landes, denen er weiter oben noch gehorchen wollte, weil sie wenigstens ein Mindestmaß an Verlässlichkeit versprachen und durch althergebrachte Sitten gestützt waren, vermag er nicht mehr uneingeschränkt zu glauben, weil sie in Folge ihrer Wandelbarkeit kein Richtmaß mehr zu sein versprechen.⁶²⁸ Hieran sieht man anschaulich, dass sich Montaigne mitunter offen widerspricht, dass er den Zwang des Systems nicht aushält, weil seine Gedanken je nach Zeit und Umständen in unterschiedliche Richtungen drängen. Was ihm im ersten Buch seiner Essais vielversprechend erschien, Rechtssicherheit gewährleistete und seinem eingefleischten Konservativismus entgegen kam, kommt ihm im zweiten Buch schal vor, weil er die wahren Beweggründe zu kennen glaubt: Auch die Gesetze des eigenen Landes folgen den Launen derer, die sie erlassen, die wiederum von ihren Leidenschaften dazu bewegt werden. Der tiefere Grund der Unsicherheit und Unbeständigkeit der Gesetze sind wiederum die menschlichen Leidenschaften. Daher handelt es sich hier auch nicht so sehr um eine Sozialkritik als vielmehr wiederum um eine Betrachtung der condition humaine: Die Herrschenden, welche die Gesetze erlassen, sind ihrerseits von den menschlichen Begierden und Bestrebungen beherrscht; die Gesetze spiegeln nur die Unsicherheit der menschlichen Grundverfassung.
IV. Beliebigkeit juristischer Streitentscheidung? Zeichen der Beliebigkeit juristischer Standpunkte und Gerichtsentscheidungen sind für Montaigne die seit jeher im juristischen Fachschrifttum geführten Meinungsstreitigkeiten, die dokumentieren, wie arbiträr letztlich juristische Entscheidungen sind: „Ich habe von einem Richter erzählen gehört, der, wenn er eine Stelle fand, wo ein barer Widerspruch zwischen Bartolus und Baldus obwaltete, oder eine Materie, die aus verschiedenen strittigen Gesichtspunkten behandelt
Auch insoweit prägnant Hugo Friedrich, Montaigne, S. 180: „Da das Recht nicht aus der Vernunft geboren wird, kann die Vernunft es auch nicht begründen“. Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Auflage 2005, S. 261, spricht im Hinblick auf Montaignes Gesetzesverständnis von den „wandelbaren und immer relativen positiven Gesetzen“.
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worden, auf den Rand seines Buchs dabei schrieb: casus pro amico, d. h. die Wahrheit sei so verworren und verwickelt, dass er in einer ähnlichen Sache dadurch diejenige Partei begünstigen könne, die seine Vorliebe hätte. Es lag nur an seinem Mangel des Verstandes und der Gelehrsamkeit, wenn er nicht bei jedem Falle casus pro amico schreiben konnte“⁶²⁹ (« J’ay ouy parler d’un juge, lequel où il rencontroit un aspre conflit entre Bartolus et Baldus, et quelque matiere agitée de plusieurs contrarietez, mettoit en marge de son livre, Question pour l’amy, c’est à dire que la verité estoit si embrouillée et debatue, qu’en pareille cause, il pourroit favoriser celle des parties, que bon luy sembleroit. Il ne tenoit qu’à faute d’esprit et de suffisance, qu’il ne peust mettre par tout, Question pour l’amy ».⁶³⁰).
1. Amfortaswunde der Jurisprudenz Der offen zur Schau getragene Zynismus bringt zum Ausdruck, wie willkürlich juristische Streitentscheidungen, die immerhin über den Ausgang von Prozessen entscheiden können, für ihn sind, zumal da allein schon die Zahl der vertretenen Rechtsansichten zu bestimmten Problemen selbst zu seiner Zeit unüberschaubar geworden ist und eine methodisch gelenkte Urteilsfindung ad absurdum führt: „Ein Gerichtspräsident rühmte sich in meiner Gegenwart, dass er in einer seiner Entscheidungen mehr als zweihundert fremde Meinungen vorweisen lasse. Indem er dies ausplapperte, wischte er allen Ruhm weg, der ihm dadurch zuteil war“⁶³¹ (« Un President se ventoit où j’estois, d’avoir amoncelé deux cens tant de lieux estrangers, en un sien arrest presidental : En le preschant, il effaçoit la gloire qu’on luy en donnoit ».⁶³²). Der Richter kann eher einen juristischen Laien zu Rate ziehen, als die fachjuristischen Autoritäten, für die Bartolus und Baldus hier stehen.⁶³³ Dann könnte in der Tat bar aller Zuständigkeit der im Text genannte Freund des Richters judizieren; eine unbefriedigende Alternative, welche die
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 46. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 618. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 145. Michel de Montaigne, Les Essais, III 12, S. 1103. Hierzu passt die in anderem Zusammenhang formulierte Einsicht mitsamt ihrer Einordnung in Montaignes Gesamtwerk von Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 182: “Die Folgerung, die Montaigne daraus zieht, lautet: Rechtsfindung und Rechtsprechung sind am besten dem jeweiligen Augenblick und dem gesunden Menschenverstand zu überlassen. (…) Denn jeder Fall hat seine eigene Problematik und seine eigene Lösung. (…) Dahinter steht der Grundgedanke der ganzen Essais: da der Geist, der in die flutende Masse des Tatsächlichen seine Ordnungsversuche projiziert, sich immer wieder gezwungen sieht, zu kapitulieren vor dem Neuen und Überraschenden, ist es weise, die flutende Tatsächlichkeit zu akzeptieren“.
IV. Beliebigkeit juristischer Streitentscheidung?
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praktischen Grenzen veranschaulicht, die der konsequenten Umsetzung von Montaignes Gedanken gesetzt sind.
a) Theorie und Praxis der Jurisprudenz Doch würde man Montaigne missverstehen, wenn man ihm ansinnen wollte, er habe der Rechtspraxis diesen banalen Ausweg weisen wollen: Wenn juristische Entscheidungen ohnehin arbiträr sind, letztlich willkürlich ausfallen und dem Zufall anheimgestellt sind, dann können sie auch von jedem Beliebigen gefällt werden. Das hieße, Montaignes eigentümliche Sichtweise zu verkennen, die zwischen skeptischer Spekulation und pragmatischer Handhabbarkeit der Rechtordnung durchaus zu unterscheiden weiß, wie abermals Hugo Friedrich am klarsten herausgearbeitet hat: „Das ist nun freilich keine juristische Folgerung mehr, sondern eine philosophische. Montaigne hütet sich sehr wohl, sie ins Rechtsleben einzuführen. Er kennt zu gut den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Die Praxis mag, mit ein paar Verbesserungen und mit einer gewissen Vereinfachung des juristischen Verfahrens, bleiben wie sie ist. Die theoretische Erkenntnis tut sich selbst Genüge, wenn sie weiß, wie der Mensch beschaffen ist, wie infolge seiner ‚Wesenskrankheit‘ auch die Jurisprudenz ‚krank‘ sein muss, eine ‚Krankheit‘, aus der aber Ordnung und ‚Gesundheit‘ möglich ist.“⁶³⁴ Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, welche produktiven Folgerungen für die Herstellung dieser Ordnung möglich sind. Methodologisch betrachtet ist Montaignes Standpunkt das akkurate Gegenteil von Ronald Dworkins sogenannter „One Right Answer-Thesis“.⁶³⁵ Dass es auf juristische Streitfragen, auf dogmatische Kontroversen nur eine richtige Antwort geben könne, diese Auffassung wäre Montaigne seltsam vorgekommen.⁶³⁶ Der einzelne Rechtsanwender mit seinen von Montaigne immer mitbedachten Interessen, seinem individuellen Vorverständnis, seiner Bedingtheit und Befangenheit unterscheidet sich in jeder erdenklichen Hinsicht vom „juristischen Herkules“, den der Schöpfer dieser Theorie im Sinne hat.
b) Folgerung Angesichts solcher Stellen und derart scharf vorgebrachter Kritik an der juristischen Dogmatik und Entscheidungsfindung, wie sie Montaigne in der zuletzt Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 182. Ronald Dworkin, Laws Empire, 1986. Für diese Möglichkeit jedoch mit guten Gründen Claus-Wilhelm Canaris, Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, Grazer Universitätsreden 1993, S. 23.
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behandelten Passage vornimmt, darf es nicht verwundern, dass Montaigne in den rechtsphilosophischen, rechtstheoretischen oder gar der juristischen Methodenlehre gewidmeten Werken keinen rechten Platz einnimmt. Jedoch ist, sofern sie nicht einfach aus schlichter Unkenntnis erfolgt, diese damnatio memoriae ihrerseits nicht gerechtfertigt, weil Montaigne den Finger in die Amfortas-Wunde der Jurisprudenz gelegt hat. Denn er gibt nicht nur das wieder, was viele juristische Laien ohnehin denken, sondern was auch viele Vertreter anderer, vermeintlich „exakter“ Wissenschaften von der Jurisprudenz halten. Die mangelnde experimentelle Überprüfbarkeit ihrer Resultate ist zwar nur nach einem überkommenen Wissenschaftsbegriff Indiz für die Unwissenschaftlichkeit.⁶³⁷ Immerhin ist die Systematik und Rationalität der Entscheidungsbegründung durchaus ein für die Einlösung des Wissenschaftsanspruchs zentraler Gesichtspunkt, der es rechtfertigt, auch die Jurisprudenz in den Rang einer Wissenschaft zu erheben.⁶³⁸
2. Vorurteile gegen die Rechtswissenschaft Diese auf dem Rechtssystem basierenden Argumente würden Montaigne wohl am allerwenigsten überzeugt haben. Sein pragmatisches Gegenargument klingt wohlfeil und populistisch: „Die Advokaten und Richter zu unserer Zeit finden an allen Streitsachen der Handhaben genug, woran sie solche fassen und nach Wohlgefallen drehen können. Bei einer so grenzenlosen Wissenschaft, welche von dem Ansehen so vieler Meinungen abhängt und so viel Willkürliches hat, kann es nicht anders sein, sie muss zu manchem verworrenen Urteile Stoff und Anlass geben. Auch gibt es schwerlich einen so klaren Prozess, über den die Gutachten nicht schieden wären. Was ein Schöppenstuhl so gerichtet hat, das richtet ein anderer umgekehrt und derselbe ein andermal ebenso. Davon sehen wir ganz gewöhnliche Beispiele bei dieser Freiheit, welche das feierliche Ansehen und den hellen Glanz unserer Justizpfleger gar artig bemakelt, die uns erlaubt, uns bei einem Urteil nicht aufzuhalten, sondern von einem Richter zum anderen zu laufen, um über eine Sache zu entscheiden“⁶³⁹ (« Les advocats et les juges de nostre temps, trouvent à toutes causes, assez de biais pour les accommoder où bon leur
Wichtig zur juristischen Theoriebildung und dem Wissenschaftsanspruch der Jurisprudenz Claus-Wilhelm Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, Juristenzeitung 1993, S. 377. Vgl. nur Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2014, S. 137 ff.; siehe aber zu deutlich höheren Anforderungen aus der Sicht der Nachbarwissenschaften Niklas Luhmann, Rechtsdogmatik und Rechtssystem, 1974. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 46 f.
IV. Beliebigkeit juristischer Streitentscheidung?
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semble. À une science si infinie, dépendant de l’authorité de tant d’opinions, et d’un subject si arbitraire, il ne peut estre, qu’il n’en naisse une confusion extreme de jugemens. Aussi n’est-il guere si clair procès, auquel les advis ne se trouvent divers: ce qu’une compaignie a jugé, l’autre le juge au contraire, et elle mesmes au contraire une autre fois. Dequoy nous voyons des exemples ordinaires, par ceste licence, qui tache merveilleusement la cerimonieuse authorité et lustre de nostre justice, de ne s’arrester aux arrests, et courir des uns aux autres juges, pour decider d’une mesme cause ».⁶⁴⁰). Diese heißblütige Tirade ist ersichtlich pragmatisch und empiristisch gefärbt. Allein der Umstand, dass man die skizzierten Missstände – die ja, was die Aufhebung unterinstanzlicher Gerichtsentscheidungen betrifft, gar keine solchen sind – von jedermann beobachtbar seien, wird zum Beweis der Unwissenschaftlichkeit des Rechts angeführt. Der zuvor noch immanent vorgetragene Vorwurf der Willkür wird hier unverblümt ausgesprochen. Rechtspraxis und Rechtswissenschaft gehen für ihn ineinander über, keine ist besser als die andere. Kaum ein Vorurteil über die Jurisprudenz fehlt, und doch darf sich die Rechtswissenschaft dieser Philippika gegenüber nicht unberührt zeigen. Immerhin spricht Montaigne, auch wenn er dies geflissentlich verbrämt, als studierter Jurist und Mitglied eines Kollegialorgans juristischer Praxis.
3. Autobiographisches Versteckspiel des Juristen Man darf in diesen wiederkehrenden Anwürfen also durchaus ein autobiographisches Moment wähnen. Damit relativiert sich freilich der Vorwurf vordergründiger Evidenzbegründung. Denn vor diesem Hintergrund hat die empiristische Begründung Montaignes durchaus etwas Realgeschichtliches: Ihm wird es während seines Studiums in Toulouse beziehungsweise Paris – der genaue Ort ist umstritten⁶⁴¹ – nicht selten so vorgekommen sein wie dem erwähnten Richter, der bei Bartolus und Baldus nachlas. Denn gerade das weiter oben behandelte Bekenntnis ist bewusst autobiographisch gefärbt („Ich habe über einen Richter erzählen hören“). Montaigne ist klug genug, sich nicht selbst als Juristen auszugeben. Das Ich der Essais ist eben nicht der Jurist Michel de Montaigne; und doch ist diese zur Schau getragene Bonhommie verräterisch, denn welcher unvoreingenommene juristische Laie, der so sprechen könnte, kennt schon Bartolus und Baldus?
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 618. Hans Stilett, Justitias Macht und Ohnmacht. Montaigne für Juristen, 2000, S. 10.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
Es ist durchaus Teil eines intrikaten Versteckspiels und einer ausgebufften Rollenprosa, die Montaignes harte Rede gegen die Jurisprudenz gerade dort kennzeichnet, wo er sich vordergründig nur alltagstheoretische und populistische Parolen zu Eigen macht. Diese Stellen sind einerseits Zeugnisse eines tief eingewurzelten Zweifels, womöglich sogar der autobiographisch fundierte Anlass einer umfassenden Skepsis, darüber hinaus aber bohrende Fragen an eine in der Praxis buchstäblich entscheidende Wissenschaft, die diesen Namen für Montaigne nicht verdient. Im Schrifttum ist mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, dass damit inzidenter auch die Qualität der Juristenausbildung seiner Zeit infrage gestellt wurde, „die lediglich zu abstraktem Denken erziehe, jedoch unbeachtet lasse, dass die Jurisprudenz eine Wirklichkeitswissenschaft ist“.⁶⁴² Die damit aufgeworfene und bis heute nicht abschließend beantwortete Frage, ob und inwieweit die Rechtswissenschaft Normwissenschaft oder Realwissenschaft ist,⁶⁴³ veranschaulicht, wie vorausschauend Montaigne urteilte, indem er frühzeitig nicht nur die Rechtswissenschaft in Zweifel zog, sondern gleichsam radikal ansetzte, indem er die Wurzel aller Anleitung zur rechtswissenschaftlichen Arbeit – die Ausbildung künftiger Juristen – zum Anwendungsfeld seiner Skepsis machte. Seine Parteinahme für eine eher realwissenschaftliche Perspektive zeigt ihn einmal mehr als einen Wegbereiter der Rechtssoziologie.
4. Pfahl im Fleische der Jurisprudenz Man kann für seinen Standpunkt, wenn man ebenso empiristisch urteilen möchte wie er selbst, ins Feld führen, dass die Fragen und Vorwürfe, die er an die Jurisprudenz richtet, mitnichten überkommen sind. Keine geschichtliche Entwicklung, keine fachwissenschaftliche Publikation der vergangenen 400 Jahre hat zweifelsfrei ergeben, dass Montaignes Gründe als widerlegt angesehen werden könnten. Die zwischenzeitlichen geschichtlichen Entwicklungen geben ihm eher recht, und die juristischen Streitigkeiten haben sich nicht gerade vermindert. Die Jurisprudenz wäre nach wie vor schlecht beraten, wenn sie diese Einwände als
Treffend Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 90; in rechtssoziologischer Hinsicht beachtenswert auch ebenda, S. 92: „Mit der Wendung zum autonomen Einzelnen will Montaigne nicht leugnen, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, dass er einer bestimmten sozialen Klasse, einer Familie, einem Beruf usw. angehört. Er ist Träger gesellschaftlich vorgeprägter Attribute, sie geben ihm Profil. Er ist Richter, Jugendlicher, Angeklagter, Greis und erst wenn er diese Position bejaht, gewinnt er Beziehung zur Gesellschaft“. Für letzteres dazu Horst Eidenmüller, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, Juristenzeitung, 1999, 53; Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz, 2014, S. 269 ff.
V. Ursprung der Geltung der Gesetze
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primitive Vorurteile einer dumpfen Masse abqualifizieren würde. Montaigne erinnert die Rechtswissenschaft daran, dass sie ihren Wissenschaftsanspruch nicht als ein für alle Mal eingelöst verstanden wissen darf, sondern immerfort aufs Neue durch die Rationalität ihrer Argumentation, die Systemgerechtigkeit ihrer Entscheidungspraxis und die historisch-philosophisch fundierte Verschränkung mit den Nachbarwissenschaften einlösen muss.⁶⁴⁴ Gerade nach Zeiten einer Willkürund Unrechtsherrschaft ist einerseits die Rechtswissenschaft eines Landes gehalten, in selbstkritischer Reflexion von vorne zu beginnen, und ist andererseits die Rechtspraxis genötigt, eine Erneuerung an Haupt und Gliedern durchzusetzen und den überkommenen Bestand vermeintlich zeitlos gültiger Einsichten von Neuem zu überdenken. Die Geringschätzung von Montaignes Skepsis gegenüber der Jurisprudenz mag ihre Gründe haben, disqualifiziert sich jedoch, wenn sie unreflektiert weitergetragen wird, durch ihre Selbstgerechtigkeit.
V. Ursprung der Geltung der Gesetze Die vehemente Rede über die Auswüchse der Rechtsprechung wird temperiert durch eine abgewogene Reflexion, die wiederum der Geltung der Gesetze gilt, von der eingangs schon die Rede war: „Die Gesetze erhalten ihren Nachdruck durch die Verjährung und beständige Übung. Es ist gefährlich, solche bis auf ihren ersten Ursprung zurückzuführen. Sie wachsen an Stärke und Ansehen und durch ihren weitern Lauf wie unsere Flüsse. Verfolgt man sie gegen den Strom bis zu ihrer Quelle, so ist es ein kleiner fast unmerklicher Wasserstrahl, welcher so stolz anschwillt und sich verstärkt, wie er älter wird. Man bemerke nur die alten Ursachen, welche diesem berühmten Strom die erste Ergießung verschafften, der jetzt voller Würde, Ehre und Majestät ist. Man wird solche so leicht und zart gesponnen finden, dass es kein Wunder ist, wenn solche Leute, welche alles abwägen und auf vernünftige Grundsätze bringen und nichts auf Machtsprüche und ohne Untersuchung annehmen, sehr oft ihrem Urteile von dem Urteile der übrigen Welt sehr verschieden sind“⁶⁴⁵ (« Les loix prennent leur authorité de la possession et de l’usage: il est dangereux de les ramener à leur naissance: elles grossissent et s’annoblissent en roulant, comme nos rivieres: suyvez les contremont jusques à leur source, ce n’est qu’un petit surjon d’eau à peine recognoissable, qui s’enorgueillit ainsin, et se fortifie, en vieillissant. Voyez les anciennes considerations,
Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2014, S. 138 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 47 f.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
qui ont donné le premier branle à ce fameux torrent, plein de dignité, d’horreur et de reverence: vous les trouverez si legeres et si delicates, que ces gens icy qui poisent tout, et le ramenent à la raison, et qui ne reçoivent rien par authorité et à credit, il n’est pas merveille s’ils ont leurs jugements souvent très-esloignez des jugemens publiques. Gens qui prennent pour patron l’image premiere de nature, il n’est pas merveille, si en la pluspart de leurs opinions, ils gauchissent la voye commune ».⁶⁴⁶).
1. Wechsel der Blickrichtung auf die Gesetze Das Bild des Flusses ist für Montaignes Denken bezeichnend,⁶⁴⁷ es findet sich auch an anderer Stelle bei Montaigne, wo er Heraklits berühmtes Fragment (B 12) zitiert, wonach man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Hier dagegen geht es ihm primär um den Modus der Geltung. Er wird ihn an einer späteren Stelle als Schlaf bezeichnen, weil auch die Gesetze schlafen (III 10), während er jetzt auf die fluktuierende Essenz der Gesetze abstellt. Es ist dies, wie so oft bei Montaigne, weniger ein Widerspruch als vielmehr ein Wechsel der Blickrichtung. Montaigne ist sich der Tautologie seines Urteils durchaus bewusst, wenn er die Geltung der Gesetze darauf zurückführt, dass sie gelten. Daher ist die Präzisierung so wichtig, wonach sie eben auch in Gebrauch stehen, als wären sie ein Werkzeug, dessen man sich bedienen könnte. Von daher erklärt sich seine Warnung: Würde man jedes Gesetz vor der Anwendung auf seinen historischen Ausgangspunkt zurückverfolgen, wäre die Rechtssicherheit und Stabilität des Gemeinwesens gefährdet. Immer ließen sich historische Gegengründe anführen, niemals wäre die zu regelnde Situation mit der Ausgangssituation identisch.
2. Strom der Gesetzesgeltung Nicht ganz unähnlich verfährt die juristische Methodenlehre im Hinblick auf den Satz cessante ratione legis cessat lex ipsa: Wenn der Grund eines Gesetzes nicht mehr besteht, soll auch das Gesetz weichen. Denn diesen Satz lehnt die über-
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 619. Die rechtsphilosophische Folgerung zieht Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 24: „Montaignes Auffassung vom Fließen des ‚Seins‘ macht von Anfang an jede Hoffnung, die Lösung des Verhältnisses von Macht und Recht aufdecken zu können, zunichte“.
V. Ursprung der Geltung der Gesetze
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wiegende Auffassung heute mit Recht ab.⁶⁴⁸ Doch wird jetzt klar, warum Montaigne in der eingangs zitierten Stelle (I 43) gerade die Dauer und Unvordenklichkeit der Geltung zu einem konstitutiven Merkmal wahrer Gesetzesgeltung erhoben hat. Je länger ein Gesetz gilt und je schwerer man es auf seinen Ursprung zurückführen kann, desto größer ist seine Geltungskraft. Es ist erhaben über den Hader und die Zweideutigkeiten, die bei seinem Inkrafttreten mitgewirkt haben mochten. Es hat sich in der Praxis bewährt und Versuchen seiner Derogierung widerstanden. Die Kommentarliteratur zu ihm ist angeschwollen wie der Fluss, von dem Montaigne spricht. Aber gerade das Bild des Flusses trägt auch den Keim des Zweifels in sich. Der Ausgangspunkt ist nicht nur weniger majestätisch, sondern deutet auf eine faktische Beliebigkeit hin. Der poetische Duktus dieses Bildes darf nicht vom Eigentlichen ablenken: Montaigne greift hier wiederum ein Thema auf, das ihn bei der Behandlung des Naturrechts umgetrieben hat. Nicht von ungefähr entnimmt er sein Bild für die Gesetzesgeltung der Natur. Diese bricht sich selbst Bahn und weicht von der Einschätzung der Philosophen ab.
3. Naturrechtliche Geltung und Dazwischentreten der Vernunft Dass Montaigne hier nämlich unversehens die Argumentationsebene wechselt, indem er von der Gesetzesgeltung zur Praxis der Philosophen überwechselt, liegt nicht an der Sprunghaftigkeit seiner Gedanken, sondern eher daran, dass er einen inneren Zusammenhang zwischen naturrechtlicher Geltung und dem Dazwischentreten der Vernunft sieht, wobei letzteres für ihn nicht die Lösung, sondern eher einen Teil des Problems der Naturrechtsgeltung darstellt.⁶⁴⁹ Diese Stelle ist ein Echo auf die weiter oben behandelte: „Es ist unglaublich, dass es Naturgesetze gebe, wie man ihrer bei andern Geschöpfen wahrnimmt: bei uns aber sind sie verloren gegangen. Diese liebe menschliche Vernunft nimmt sich allenthalben heraus, zu herrschen und zu befehlen, wirft nach ihrer Eitelkeit und Unbeständigkeit die Gestalten der Dinge durcheinander und verwirrt sie!“⁶⁵⁰ (« Il est croyable qu’il y a des loix naturelles: comme il se voit ès autres creatures: mais en
Eingehend dazu Wolfgang Löwer, Cessante ratione legis cessat lex ipsa. Wandlung einer gemeinrechtlichen Auslegungsregel zum Verfassungsgebot?, 1989; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 350 f. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179: „Wenige Jahrzehnte bevor Hugo Grotius die moderne rationalistische Begründung des Naturrechts schafft und im Recht die Existenz der Vernunft schlechthin sieht, fasst Montaigne noch einmal die ganze, seit der antiken Skepsis geläufige und in seinem Jahrhundert oft wiederholte Beweisführung gegen die Naturrechtsidee zusammen“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 43.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
nous elles sont perdues, ceste belle raison humaine s’ingerant par tout de maistriser et commander, brouillant et confondant le visage des choses, selon sa vanité et inconstance ».⁶⁵¹). Diese Stelle wiederum findet ihre unmittelbare, ebenfalls echoartige Entsprechung bei Pascal: « Il y a sans doute des lois naturelles; mais cette belle raison corrompue a tut corrompu ».⁶⁵² Hieran sieht man, dass die Naturrechts-Skepsis denselben Ursprung hat.⁶⁵³ Wenn man diesen Zusammenhang zwischen den beiden Textstellen berücksichtigt, erklärt sich auch, warum Montaigne scheinbar unversehens von der stromförmigen Gesetzesgeltung, die dem Lauf der Natur folgt, zur Vernunft der Philosophen überleitet, deren Anschauungen dem einfachen Volk nicht mehr vermittelbar sind. Diese Divergenz zwischen bodenständigem Gerechtigkeitssinn und vernunftrechtlicher Begründung erscheint ihm als eine naturwidrige Kanalisierung, die althergebrachten Gesetzen Gewalt antut.
4. Territoriale Relativität des Rechts Der wohl meist zitierte Einwand Montaignes gegen jegliche Form rechtlicher Wahrheit und universelle Gültigkeit des Rechts besteht aus zwei rhetorischen Fragen: „Was ist das für eine Güte, die ich gestern in gepriesenem Ansehen fand und am Morgen nicht mehr darin finden werden! Macht der Lauf eines Flusses Verbrechen? Was ist das für eine Wahrheit, welcher Berge Grenzen setzen und welche jenseits derselben zur Lüge wird?“⁶⁵⁴ (« Quelle bonté est-ce, que je voyois hyer en credit, et demain ne l’estre plus: et que le traject d’une riviere fait crime? Quelle verité est-ce que ces montaignes bornent, mensonge au monde qui se tient au delà? »⁶⁵⁵).
a) Gleichzeitigkeit des Rechts Ausgangspunkt dieser Stigmatisierung der territorialen Relativität des Rechts ist bei näherer Betrachtung zunächst die raum-zeitliche Relativität: Montaigne geht von der zeitlichen Relativität aus, indem er die Frage aufwirft, wie sich hochgeschätztes Verhalten je nach der Zeit, in der es geübt wird, aus dem Blick der Moral-
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 616. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 294. Ewald Wasmuth, Der unbekannte Pascal, 1962, S. 160 ff., sieht darin durchaus einen Anklang an ein göttliches Naturrecht. Vgl. auch Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 47. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 41. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 615.
V. Ursprung der Geltung der Gesetze
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und Rechtsordnung von Grund auf anders darstellen kann. Die zeitgeschichtlichen Umstände und machtpolitischen Verhältnisse erweisen sich letztlich als stärker denn jegliche Form normativer Geltung. Damit einher geht ein fundamentaler Vertrauensverlust: Wer sich im Vertrauen auf die Geltung bestimmter Normen rechtskonform verhält, muss gleichwohl fürchten, dass er dafür zu späterer Zeit oder auch schon gegenwärtig in Anspruch genommen wird. Die Wandelbarkeit der Umstände entfaltet auf diese Weise eine faktische Rückwirkung im oben genannten Sinne. Ethische Werte sind ebenso wenig verlässlich wie Rechtsnormen, die auf ihnen gründen. Während also das erste Gegenargument Montaignes in der weiter oben zugrunde gelegten Klassifizierung gleichsam vertikal ausgerichtet ist, also den zeitlichen Verlauf in den Blick nimmt und die temporale Relativität des Rechts betont, veranschaulicht das zweite Argument die Relativität des Rechts auf einer gleichsam horizontalen Ebene, nämlich im Moment der Gleichzeitigkeit.⁶⁵⁶ Denn wie die rhetorische Steigerung erkennen lässt, erscheint es Montaigne als noch größeres Skandalon, dass ein- und dasselbe Verhalten je nach dem Ort, wo es ausgeübt wird, als verdienstvoll oder strafwürdig gilt.⁶⁵⁷
b) Naturmäßige Grenzen der Rechtsgeltung Es ist ein Beispielsfall meisterhafter Stilistik und rhetorischer Zuspitzung, dass Montaigne dies am Beispiel der territorialen Grenzlinien versinnbildlicht, die darüber entscheiden, welches Recht wo gilt. Im bisherigen Schrifttum ist noch nicht deutlich genug gesehen worden, dass Montaigne als Beispiele dieser Grenzlinien ganz bewusst solche auswählt, die von der Natur vorgegeben sind. Handelte es sich um Grenzen, die auf der Grundlage von Friedensschlüssen und völkerrechtlichen Verträgen an einer ganz bestimmten Stelle auf dem Land gezogen worden wären, so könnte man einwenden, dass diese selbst normativen Ursprungs sind, weil sie nach dem jeweiligen Ungleichgewicht der obwaltenden Machtverhältnisse festgelegt wurden. Die natürlichen Grenzen der Flüsse und Bergzüge dagegen bezeichnen hierin eine scheinbar unterschiedslose Faktizität, der man unvoreingenommen nicht ansehen oder entnehmen kann, welches Recht auf welcher Seite gilt. Sie sind von Natur aus da, so dass man geneigt sein könnte
Zur Veranschaulichung dieses Schemas hilft vielleicht annäherungsweise der Schlusssatz von Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. Auflage 1963, S. 437: „Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“; Hervorhebungen auch dort. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179, spricht treffend vom „empirische(n) Relativismus“ Montaignes.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
anzunehmen, dass es auch auf beiden Seiten ein naturgegebenes Recht gibt, das überall gilt, gleichviel wo man sich konkret befindet.
c) Eröffnung der Rechtsvergleichung Darüber hinaus bedeutet die Feststellung Montaignes über das an einem Bergzug endende Recht (Essais II 12) auch eine elementare Form der Rechtsvergleichung. Montaignes – einmal mehr mit den Worten Hugo Friedrichs – erschließender Zweifel eröffnet der Jurisprudenz aus Sicht der Grundlagenbetrachtung also nicht nur die Rechtssoziologie und die Rechtsanthropologie, wie an anderer Stelle noch eingehend gezeigt wird, sondern auch die Rechtsvergleichung und mit ihr eines ihrer prägenden Strukturprobleme.⁶⁵⁸ Die Gemeinsamkeit zwischen Rechts- und Kulturvergleichung wird im einschlägigen Schrifttum nicht von ungefähr betont.⁶⁵⁹ Das genannte Strukturproblem der Rechtsvergleichung besteht nicht zuletzt darin, dass die Rechte anderer Länder auf anderen Sitten – und eben nicht notwendigerweise auf einem einheitlichen, von allen anerkannten Naturrecht – gründen; eine heute banal klingende Prämisse, die aber Montaigne als Erster konsequent durchdacht hat, bevor man sie, weitgehend bis auf den heutigen Tag, für eine Entdeckung Montesquieus hielt.⁶⁶⁰ Seine Skepsis gegenüber der eigenen Rechtskultur geht dabei so weit, dass er bei der Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten dem Richterideal seiner Zeit das der Naturvölker entgegenstellt. Dass nämlich die Natur der bessere Gesetzgeber gegenüber unseren Eingebungen ist, veranschaulicht er so: „Das beweist (…) der Zustand der Völker, die keine andere gesetzliche Verfassung kennen. Es gibt deren, welche keinen Richter zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten haben, als den ersten besten Fremden, der ihr Gebirge entlang reist; und andere erwählen an Markttagen jemanden unter sich, der auf der Stelle über ihre Rechtshändel entscheidet. Was für Gefahr wäre dabei, wenn die Weisesten unter uns ebenso die unsrigen, nach dem Augenmaß, ohne an Vorgänge und Folgerungen gebunden zu sein, abmachten?“⁶⁶¹ (« Tesmoing (…) l’estat où nous voyons vivre les nations, qui n’en ont point d’autres. En voilà, qui pour tous juges, employent en leurs causes, le
Maryanne Cline Horowitz, Seeds of Virtue and Knowledge, 1988, S. 206: “His insights place him at the beginning of the modern field of international law and in keeping with modern conceptions of natural and human rights”. Wolfgang Fikentscher, Rechtsanthropologie, Jura 1998, 182, 184. Speziell zur sogenannten Kulturanthropologie Ina-Maria Greverus, Kultur und Alltagswelt. Einführung in Fragen der Kulturanthropologie, 2. Auflage 1987; Marvin Harris, Kulturanthropologie, 1987. Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982, S. 173 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 161.
V. Ursprung der Geltung der Gesetze
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premier passant, qui voyage le long de leurs montaignes: Et ces autres, eslisent le jour du marché, quelqu’un d’entr’eux, qui sur le champ decide tous leurs procès. Quel danger y auroit-il, que les plus sages vuidassent ainsi les nostres, selon les occurrences, et à l’œil; sans obligation d’exemple, et de consequence ? »)⁶⁶² Wenn es kein verlässliches Wissen vom Recht gibt, erweist sich der Dünkel kultureller Überlegenheit für Montaigne erst recht als trügerisch. Der ursprüngliche Rechtsentscheid im Wege des Fremdvergleichs oder der spontanen Wahl des unbefangenen Richters ist aus Montaignes Sicht kein Zeichen von Primitivität,weil er aus eigener Erfahrung die Unzulänglichkeiten der studierten Richter kennt, die in einer für ihn nicht anerkennungswürdigen Wissenschaft unterwiesen wurden.
5. Wahrheitsanspruch des geltenden Rechts Montaignes Argumentation changiert also in einer rhetorischen Kunstfertigkeit, indem sie einmal die Fernperspektive einnimmt – der Rekurs auf die Vorstellungen der Perser und Inder -, ein anderes Mal die Nahaufnahme bevorzugt, um die besondere Absurdität der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu kennzeichnen. Auffallend ist des Weiteren, dass sich in den rhetorischen Fragen (II 12) ein Parallelismus offenbart, der in der ersten Frage moralischen Wert und Unwert, in der zweiten Wahrheit und Lüge zur Geltung bringt. Auf diese Weise werden Immoralität und Unwahrhaftigkeit auf der einen Seite sowie Wahrheit und Recht auf der anderen Seite miteinander verbunden. Somit münden die beiden rhetorischen Fragen in die bohrende Grundfrage: Können wir angesichts der raumzeitlichen Relativität des Rechts, der territorialen Zufälligkeiten und der Beliebigkeit historischer Grenzziehungen einen Wahrheitsanspruch im Hinblick auf das Recht formulieren? Es wäre ersichtlich zu billig, das territoriale Argument Montaignes damit zu überspielen, dass sich im Laufe der Zeit supranationales Recht, also Völker- und Europarecht herauskristallisiert hat. Denn auch supranationales Recht wird nie verhindern, dass die unterschiedlichen regionalen Sitten immer wieder zum Vorschein kommen. Gerade die allgegenwärtige Virulenz der Gewohnheiten und Gebräuche des jeweiligen Landes ist nicht von ungefähr ein zentrales Gegenargument Montesquieus gegen das Naturrecht, das dieser in der Nachfolge Montaignes ausgearbeitet hat, und das auch nicht aufgehoben wird durch ein vorgeblich supranationales Recht, das diesseits wie jenseits einer bestimmten Bergkette oder eines Flusses gilt.
Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1112.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
6. Naturrecht und Naturgesetze Blaise Pascal hat dieses Argument Montaignes aufgegriffen und territorial konkretisiert.⁶⁶³ Die hinter beiden Auffassungen zutage tretende Grundfrage, die sich wie gesagt nicht unter Rekurs auf völkerrechtliche Gepflogenheiten beantworten oder lösen lässt, zielt auf das Naturrecht und seine Existenz. Hier divergieren die Auffassungen Montaignes und Pascals. Montaigne führt die Geltung naturrechtlicher Normen auf der Grundlage seiner territorialen Betrachtung ad absurdum,⁶⁶⁴ wobei man auch hier unterscheiden muss zwischen dem, was herkömmliche Lehre und Kritik ist, und dem, was Montaigne vom Naturrecht bei allen Abweichungen im Einzelnen grundsätzlich gelten lässt:⁶⁶⁵ „Aber sehr spaßhaft sind sie, wenn sie, um einigen Gesetzen Gewissheit zu geben, sagen: es gäbe darunter einige feste, ewige, unveränderliche, welche sie Naturgesetze nennen, welche dem menschlichen Geschlechte vermöge seines eigenen, innern Wesens eingedruckt sind und von denen der eine drei, der andere vier, dieser mehr, jener weniger aufzählt: ein Zeichen, dass sie ebenso schwer zu erkennen sind als die übrigen“⁶⁶⁶ („Mais ils sont plaisans, quand pour donner quelque certitude aux loix, ils disent qu’il y en a aucunes fermes, perpetuelles et immuables, qu’ils nomment naturelles, qui sont empreintes en l’humaine genre par la condition de leur propre essence: et de celles là, qui en fait le nombre de trois, qui de quatre, qui plus, qui moins: signe, que c’est une marque aussi douteuse que le reste“.⁶⁶⁷). Das zuletzt genannte Verdikt spielt mit dem Evidenzcharakter des Arguments: Wäre das Naturrecht so unmittelbar einsichtig, wie behauptet wird und es sich den Anschein gibt, dann müsste es sich zumindest quantitativ beziffern lassen. Der Dekalog etwa hat immerhin den Vorteil, dass er sich begrifflich aus der Zahl seiner Gebote erklären lässt.
Vgl. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179: „Er (sc. der empirische Relativismus Montaignes) veranlasste ihn, den Satz zu schreiben, den später Pascal zu einer berühmt werdenden Formel zu spitzen sollte“. – Gemeint ist Blaise Pascal, Pensées, 294: „Plaisante justice qu’une rivière borne! Vérité au deçà des Pyrénées, erreurs au delà.“ Dazu Jens Petersen, Blaise Pascals Gedanken über das Recht, Festschrift für Merle, 2010, S. 289, 292. Zutreffend Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 32: „Dieser ‚Essai‘ lässt auch erkennen, dass ihm die spätscholastischen Naturrechtslehren nicht unbekannt waren“. In diesem Sinne kommentiert die folgenden Sätze Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179: „Die Stelle enthält eine einfache Formulierung der Naturrechtsidee (vielleicht nach Cicero), aber auch der Momente, die Montaigne ablehnen musste: Gewissheit und Unveränderlichkeit einiger fundamentaler Rechtssätze sowie ihre Allgemeingültigkeit, die sich natürlicherweise ergeben soll aus dem als identisch angenommenen Menschenwesen“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 41. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 615.
VI. Universelle und ubiquitäre Akzeptanz von Rechtsnormen?
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7. Religiöses und weltliches Recht Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zwischen der Rechtsauffassung des Hochmittelalters, die an ein gottgegebenes, geoffenbartes Naturrecht glaubte und der Heiligen Schrift entnahm,⁶⁶⁸ und Montaignes neuzeitlichem Sinn, der das innerweltliche Recht zugrunde legte, bezweifelte und auf seiner Grundlage auch an der Existenz eines höchstrangigen Rechts Zweifel hegte. Auch wenn man nicht übersehen darf, dass der Schluss der Apologie durchaus religiös gestimmt ist, ganz bewusst und ausdrücklich über stoisches Denken hinausgeht und sich selbst von Seneca absetzt, dem manche frühchristliche Interpreten christliches Gedankengut zuschreiben wollten, ist die bohrende Frage innerhalb der rechtsrelevanten Stellen der Apologie auf die Existenz beziehungsweise Inexistenz des Naturrechts gerichtet.⁶⁶⁹ Montaigne spricht hier zwar durchgängig von „den Philosophen“, doch sind natürlich und gerade die Gedankengebäude der großen Theologen des Mittelalters mit gemeint. Sie sind es, die nach Montaignes Diktion bestimmten Normen allgegenwärtige Gültigkeit geben – ganz bewusst formuliert Montaigne so, dass es die Philosophen beziehungsweise Theologen waren – und nicht etwa Gott selbst -, die bestimmten Normen permanente und ubiquitäre Gültigkeit eingestiftet hatten. Für Montaigne ist es also ein Resultat interpretatorischer Zuweisung, dass einzelnen Regelungen diese hehre Form der Geltung zuerkannt wurde. Wiederum ergibt sich für ihn der Befund der Beliebigkeit, den das Recht abbildet. Die Abstufung der Rechtssätze ist genauso arbiträr wie ihre unergründliche Herkunft.
VI. Universelle und ubiquitäre Akzeptanz von Rechtsnormen? Montaigne verdeutlicht dieses Argument im Folgenden durch eine noch weiter gehende Reduktion. Während er zuvor aufgedeckt hat, dass sich die Philosophen und Theologen schon darin uneinig sind, ob es drei oder gar vier naturrechtliche Normen gibt, brandmarkt er nun den Umstand, dass man sich über die Landes-
Siehe nur Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2011, S. 2 ff. Zur Einordnung in den historischen Zusammenhang hilfreich Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 32: „Im 15. und 16. Jahrhundert war die Verbindung von Religion und Recht, Monarch und Gott, göttlichem und staatlichem Gesetz noch so eng, dass über Religion nicht ohne die in ihrem Beziehungsfeld liegenden Gegenstände des Rechts und des Staates geschrieben werden konnte. Nach dieser Klarstellung kann es nicht verwundern, dass Montaigne in der ‚Apologie des Raimond Sebond‘ alle genannten Gegenstände zur Sprache bringt“.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
grenzen nicht einmal auf eine einzige Norm einigen konnte: „Dabei aber sind sie so unglücklich (denn wie kann ich dies anders als unglücklich nennen, dass unter einer so unendlichen Anzahl von Gesetzen sich wenigstens nicht eins befindet, dem das Glück oder das eigensinnige Geschick erlaubt habe, mit Bestimmung aller Nationen ganz allgemein angenommen zu werden?), sie sind so elend, sage ich, dass unter den drei oder vier ausgewählten Gesetzen nicht ein einziges ist, dem nicht widersprochen, das nicht verworfen würde, nicht bloß von einer Nation, sondern von vielen“⁶⁷⁰ (« Or ils sont si defortunez (car comment puis je nommer cela, sinon defortune, que d’un nombre de loix si infiny, il ne s’en rencontre aumoins une que la fortune et temerité du sort ait permis estre universellement receue par le consentement de toutes les nations?) ils sont, dis-je, si miserables, que de ces trois ou quatre loix choisies, il n’en y a une seule, qui ne soit contredite et desadvouée, non par une nation, mais par plusieurs ».⁶⁷¹).
1. Empirische Rechtstatsachenanalyse Montaigne nimmt dem weiter oben angedeuteten Argument, dass es doch supranationales Recht geben könne, den Wind aus den Segeln, indem er auch insoweit keinerlei hinreichende Übereinstimmung diagnostiziert. Er verknüpft die Argumentationslinien, indem er nun die zuvor infrage stehenden drei beziehungsweise vier vorgeblich naturrechtlich fundierten Rechtsnormen daraufhin überprüft, ob sich nicht wenigstens insoweit eine allgemeine Auffassung von der Richtigkeit dieser Bestimmungen aufzeigen ließe. Sein Vorgehen ist auch hier empiristisch gefärbt: Es bedarf keiner umfassenden Rechtstatsachenanalyse, um auf einen Blick festzustellen, dass auch bezüglich dieser drei oder vier fundamentalen Rechtsgrundsätze keine Einmütigkeit durch alle Völker hindurch festgestellt werden könnte. Auch hier kokettiert er mit den Zahlenverhältnissen, indem er nicht einmal Einstimmigkeit verlangt, sondern zu bedenken gibt, dass sich in Bezug auf jeden der drei oder vier scheinbar fundamentalen Rechtsgrundsätze gleich eine Vielzahl von Nationen finden werde, bei denen das als irrelevant oder gar verwerflich gelte, was den meisten als naturrechtlich gegeben erschiene. Montaigne wendet sich erneut mit einem faktischen Gegenargument wider eine normative Argumentation. Er vergleicht die abstrakte Rechtsnorm mit dem Lauf der Welt und findet immer mehr Widersprüchlichkeiten, als er selbst ursprünglich
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, 41 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 615.
VI. Universelle und ubiquitäre Akzeptanz von Rechtsnormen?
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angenommen hatte. Je dezidierter die Befürworter einer allgemeinen Norm argumentieren, desto mehr Zweifel keimen in ihm auf.
2. Erschließung für Pascals Rechtsverständnis Und doch würde man es sich zu einfach machen, wenn man in diesen scharfen Einwendungen, rhetorischen Fragen, Abwandlungen der Argumente und Entkräftungen durch Gegenargumente einen das Naturrecht und die Gebote der Rechtlichkeit zersetzenden Zweifel erblicken würde. Auch in diesem so zentralen Bereich bewahrheitet sich Hugo Friedrichs wichtige Einsicht,⁶⁷² dass es bei Montaigne letztlich kein zersetzender, sondern ein erschließender Zweifel ist.⁶⁷³ Denn auch wenn es so scheint, als bleibe hier und im Folgenden vom Recht oder gar einem übergeordneten Recht nicht mehr das mindeste übrig, darf doch nicht übersehen werden, dass erst und gerade Montaignes Zweifel seinem Leser Pascal die Möglichkeit erschlossen hat, dass es auch ganz anders sein kann. Deshalb ist es so wichtig, Pascal zu Wort kommen zu lassen, der nicht einfach reaktionär und gleichsam mittelalterlich zurück zum Naturrecht strebte, sondern auf dem nicht zuletzt von Montaigne gewonnenen Terrain des neuzeitlichen Menschenbildes die Möglichkeiten auslotete, die sich auch nach dessen bohrenden Zweifeln für die Existenz eines Naturrechts noch ergeben konnten. So erklärt sich auch, dass Pascal gerade auf bestimmte Wendungen Montaignes überdeutlich anspielt, um ihm jeweils dort das entgegenzusetzen, was dessen Argumentation nicht nur offen gelassen, sondern geradezu erschlossen hatte.
Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 180, 182 und öfter. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 47, greift diesen Gedanken Friedrichs zwar auch auf, macht ihn aber in ganz andersartiger Weise – vor dem Hintergrund seiner spezifischen Themenstellung folgerichtig – fruchtbar, wenn er über Montaignes Skepsis sagt: „Sie öffnet den Blick dafür, dass Macht nicht durch Recht begrenzt wird, wenn die zur Machtbegrenzung aufgestellte Regel allein an einem abstrakt gedachten, metaphysisch verankerten Prinzip ausgerichtet worden ist“.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
VII. Bedingungen der Naturrechtsgeltung Montaignes sardonisch anmutende Rede gegen diejenigen Philosophen und Theologen, die ein Naturrecht propagieren, wird in ihrer vermeintlichen Destruktivität dadurch relativiert,⁶⁷⁴ dass er zumindest die Bedingung angibt, unter der er ein Naturrecht gelten lassen könnte: „Nun ist es aber das einzige Merkmal, an welchem sich irgend ein Naturgesetz erkennen lässt, dass es allgemeinen Beifall habe. Denn dem, was uns die Natur wirklich geboten hätte, würden wir ohne Zweifel mit allgemeiner Zustimmung gehorchen, und nicht allein jede Nation, sondern jeder einzelne Mensch würde die Gewalttätigkeit ahnden, welche ihm derjenige antäte, der ihn zwingen wollte, gegen dieses Gesetz zu handeln. Mögen sie mir doch nur eine von diesen Bedingungen aufweisen.“⁶⁷⁵ (« Or c’est la seule enseigne vray-semblable, par laquelle ils puissent argumenter aucunes loix naturelles, que l’université de l’approbation: car ce que nature nous auroit veritablement ordonné, nous l’ensuyvrions sans doubte d’un commun consentement: et non seulement toute nation, mais tout homme particulier, resentiroit la force et la violence, que luy feroit celuy, qui le voudroit pousser au contraire de ceste loy. Qu’ils m’en montrent pour voir, une de ceste condition ».⁶⁷⁶). Der zuletzt zitierte Ausruf macht jedoch deutlich, dass Montaigne ungeachtet des von ihm angegebenen Kriteriums der Universalität nichts von der Impulsivität eingebüßt hat, mit der er gegen das Naturrecht zu Felde zieht.
1. Hypothetische Notwehrprobe Rechtstheoretisch und rechtssoziologisch interessant an Montaignes Skepsis im Hinblick auf das Naturrecht ist die notwendige Bedingung der Geltung eines solchen Rechts. Die allgemeine und vorbehaltslose, das heißt auch auf jeden einzelnen Menschen bezogene Anerkennung eines solchen Naturrechts erscheint in der Tat unerfüllbar. Auffallend an dieser Beweisführung ist vor allem, dass Montaigne zwar von der Anerkennung solcher Rechtsgrundsätze durch die Völker ausgeht, dann aber wiederum unversehens zum Einzelnen überleitet. Die Akzeptanz durch die Völker ist ihm nicht mehr als ein Mehrheitsvotum, das indizielle Bedeutung haben mag, aber noch nicht alleinentscheidend ist. Es kommt ihm hier
Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 243: „Die philosophische Skepsis ist der genaue Gegensatz zur Destruktion, als welche sie zuweilen ihren eigenen Anhängern und Gegnern erscheint“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 42. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 615 f.
VII. Bedingungen der Naturrechtsgeltung
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wie auch sonst auf den einzelnen Menschen an: Nur wenn dieser – und das heißt jeder beliebige – eine vom Naturrecht unterschiedliche gesetzliche Anordnung gleichsam als Notwehrlage erkennen würde, durch die er gehalten wäre, gegen das Gesetz aufzubegehren, würde Montaigne es als naturrechtlich begründet anerkennen. Hieran ist zweierlei bemerkenswert: Zum Ersten vergleicht Montaigne naturrechtlich gegebene Rechtssätze unausgesprochen mit Naturgesetzen. Nur wenn sie immer und überall gelten, verdienen sie Anerkennung. Zu dieser empiristischen Grundhaltung gehört auch, dass sie immer aufs Neue überprüft werden können müssen, um ihnen universelle Geltung beimessen zu können. Deswegen ist die von Montaigne vorausgesetzte Notwehrprobe von Bedeutung: Der einzelne Mensch mit seinen jeweils spezifischen Wünschen, Begierden und Eigenheiten, der aber zugleich Repräsentant der Menschheit ist, muss die Divergenz eines unrechtmäßigen Gesetzes zum Naturrecht dergestalt als gewaltsamen Zwang empfinden, dass er dagegen aufbegehren würde.⁶⁷⁷ Diese gedachte Notwehrsituation weist einen experimentellen Charakter auf, mit dessen hypothetischer Betrachtung Rechtssetzungsakte auf die Probe gestellt werden können. Darin spiegelt sich Montaignes neuzeitliches Denken, das den strukturellen Gleichlauf mit dem Naturgesetz ermittelt – und daran zugleich den Glauben an ein gottgegebenes Naturrecht von zeitloser Gültigkeit verliert. Neben Pascal und Descartes wird gerade in diesem Punkt auch Montesquieu Montaignes interessierter und gelehrter Leser werden.⁶⁷⁸
2. Grenzen der Vernunft Diesen hypothetischen Gleichlauf mit dem Naturgesetz – und das ist der zweite Punkt – bestätigt eine spätere Stelle bei Montaigne: „Es ist unglaublich, dass es Naturgesetze gebe, wie man ihrer bei andern Geschöpfen wahrnimmt: bei uns aber sind sie verloren gegangen. Diese liebe menschliche Vernunft nimmt sich allenthalben heraus, zu herrschen und zu befehlen, wirft nach ihrer Eitelkeit und
Man denkt unwillkürlich an die sogenannte Radbruchsche Formel, wonach ein grundlegenden rechtsethischen Prinzipien widerstrebendes positives Gesetz, das von diktatorischen Regimen erlassen wurde, keine Geltung beanspruchen kann; vgl. den Aufsatz aus dem Jahre 1946 von Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (abgedruckt in der 1999 von H. Dreier und St. Paulsen herausgegebenen Studienausgabe seiner ‚Rechtsphilosophie‘, Anhang S. 216). Werner Stark, Montesquieu. Pioneer of the Sociology of Knowledge, 1960, S. 44, 168.
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§ 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
Unbeständigkeit die Gestalten der Dinge durcheinander und verwirrt sie!“⁶⁷⁹ (« Il est croyable qu’il y a des loix naturelles: comme il se voit ès autres creatures: mais en nous elles sont perdues, ceste belle raison humaine s’ingerant par tout de maistriser et commander, brouillant et confondant le visage des choses, selon sa vanité et inconstance ».⁶⁸⁰). Diese wichtige Stelle, die Pascal später aufgreifen wird, verdeutlicht nicht nur den naturgesetzlichen Bezugspunkt, sondern bestätigt ihn auch dadurch, dass Montaigne die Gesetzmäßigkeiten gleichsam von der anorganischen Welt auf die organische überträgt. Insbesondere das Tierreich scheint ihm die Vorstellung nahezulegen, dass es auch dort noch bestimmte Gesetzmäßigkeiten gibt, die menschlichen Herrschaftsverhältnissen nicht unähnlich sind. Übrigens findet die Anthropozentrik eines gedachten Tierlebens mit in Wirklichkeit allzu menschlichen Verhaltensweisen nicht von ungefähr in La Fontaines Fabeln eine geistesgeschichtliche Auswirkung, die gleichfalls in einem gewissen Zusammenhang mit Montaignes Gedanken steht.⁶⁸¹ Montaigne wendet sich also nicht etwa pauschal gegen das Naturrecht, sondern vielmehr gegen einen Rationalismus,⁶⁸² der nicht sieht, dass er seinerseits irrational gesteuert ist und stattdessen seine vermeintliche Überwindung der natürlichen Gerechtigkeit in überhöhten rechtlichen Kategorien verbrämt.⁶⁸³ Was das einstmals womöglich geltende Naturrecht also erodiert und in letzter Konsequenz zerstört hat, ist die zersetzende menschliche Vernunft.⁶⁸⁴
3. Anthropologische Gesetzmäßigkeit der condition humaine Dieser Gedanke – ebenfalls mit einem höhnischen und ironisch gemeinten Adjektiv, das Hochschätzung der Vernunft nahezulegen scheint, in Wirklichkeit aber ebenso im Wortsinne ätzend gemeint ist, wie die Vernunft das Naturrecht zersetzt
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 43. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 616. Vgl. Jens Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Festschrift für Otmar Seul, 2014, S. 384; ders., Anthropozentrik versus Ökozentrik im Umweltrecht, ARSP 1997, 361. Zu den geistesgeschichtlichen Quellen Henri Busson, Les sources et le développement du rationalisme dans la littérature française de la Renaissance, 2. Auflage 1957. Etwas gewunden Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 47: „Nur wenn man diese einschränkenden Bemerkungen zu Montaignes Ablehnung der abstrakt-transzendentalen Rechtstheorien berücksichtigt, kann man dem Fehlschluss entgehen, er lehne jedes Naturrecht ab“. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179, sieht ebenfalls in der Zusammenfassung der Beweisführung gegen das Naturrecht „erneut, und von einer anderen Seite her, seinen Abstand zum Rationalismus beleuchtet“.
VII. Bedingungen der Naturrechtsgeltung
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hat – findet sich in ganz ähnlicher Form bei Pascal. Für den vorliegenden Fall interessant, und das ist wiederum ganz und gar bezeichnend für Montaigne, ist die mit der Kraft der Vernunft einhergehende Vervielfältigung irrationaler Bestrebungen und Begierden, die zu ihr an sich schon begrifflich im Gegensatz stehen. Montaigne hat hier eine eigentümliche anthropologische Gesetzmäßigkeit festgestellt, indem die fortschreitende Vernunft unweigerlich immer von den im gleichen Takt sich entwickelnden Begierden überwunden und übertrumpft wird. Wo scheinbar positiv der menschliche Verstand die Lebenswelt durchmisst und das mittelalterliche Denken überwindet, waltet notwendigerweise immer zugleich auch die menschliche Eitelkeit, welche die Scheinerfolge zunichte macht und aller Rationalität ein Moment der Irrationalität entgegensetzt, das rechtliche Gesetzmäßigkeiten ad absurdum führt. Das Naturrecht widerstrebt für ihn des condition humaine. ⁶⁸⁵ Montaignes Skepsis führt nicht zu einer Auflösung der herkömmlichen Jurisprudenz. Vielmehr vermag der Grund des Zweifels ebenso wie die bohrende Frage nach der Sinnhaftigkeit alles Bestehenden vollkommen neuartige Verständniszusammenhänge zu erschließen, die sich als disziplinprägend erweisen. Die skeptische Vernunft hat den Glauben an ein universelles Naturrecht erschüttert, an dessen Stelle ein neuer Blick auf die Grundlagen des Rechts tritt. So gelangt er zu ganz neuen Perspektiven, die zwar in der Tat nicht mehr naturrechtlich geprägt oder auch nur erklärlich sind, dafür aber rechtssoziologisch und, wie noch zu zeigen sein wird, rechtsanthropologisch sowie rechtsökonomisch eine genuin neue Perspektive eröffnen.
Man kann es nicht besser sagen als Hugo Friedrich, Montaigne, S. 179 f.: „Die Naturrechtsidee ist ihm eine Hypothese, die das Vielartige identifiziert und sich damit am Wesensgefüge des Menschen vergreift. Daß dessen Untauglichkeit zu einem Naturrecht kreatürlicher Missstand sei, klingt auch hier wohl noch mit“.
§ 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz Für die Rechtsanthropologie als vergleichsweise junge Disziplin wird zumeist Montesquieu als einer der geistigen Väter und Vorläufer zitiert.⁶⁸⁶ Aber auch in dieser Hinsicht dürfte sich Montaigne als eine seiner wichtigsten Quellen erweisen. Denn die Völkervergleichung, die Erwähnung abstrusester Sitten und Gesetze, die hingebungsvolle Schilderung von barbarisch anmutenden Gebräuchen und drakonischen Gesetzen sind seit jeher Montaignes Domäne. Er kommentiert die ungewöhnlichsten Gebräuche fremder Völker vorurteilsfrei, nüchtern und mitunter sogar überraschend verständnisvoll: „Daher hielten es die Indianer in einer gewissen Provinz für recht, demjenigen, der in eine solche Not geraten war, das Leben zu nehmen; in einer andern ihrer Provinzen überließen sie ihn sich selbst und allein, damit er sich so gut helfen möchte wie er könnte. Wem werden solche Menschen am Ende nicht lästig und unausstehlich?“⁶⁸⁷ (« Pourtant les Indois en certaine province, estimoient juste de tuer celuy, qui seroit tombé en telle necessité : En une autre de leurs provinces, ils l’abandonnoient seul à se sauver, comme il pourroit. À qui ne se rendent-ils en fin ennuyeux et insupportables? »⁶⁸⁸) Montaigne sammelt die sich in den verschiedenen Völkern spiegelnden unterschiedlichen Rechtsanschauungen, um daraus gemeinsame Rechtsstandpunkte herauszudestillieren. Was er jedoch immer wieder findet, ist, dass sich nichts Gemeinsames aufzeigen lässt. Es gibt schier kein gemeinsames Substrat, keinen kleinsten gemeinsamen Nenner der Rechtsansichten und moralischen Anschauungen. Die historische und gegenwärtige Völkervergleichung zeigt ihm, dass es, auf das Recht bezogen, schlechterdings nichts gibt, das immer und überall zu allen Zeiten und unter allen Umständen verboten ist: „In Summa: jede Nation hat verschiedene Gewohnheiten und Gebräuche, welche einer anderen Nation nicht nur unbekannt, sondern unerhört und barbarisch scheinen“⁶⁸⁹ (« En somme, chasque nation a plusieurs coustumes et usances, qui sont non seulement incognues, mais farouches et miraculeuses à quelque autre nation“.⁶⁹⁰). Die Todsünden im Sinne der Bibel, die Unwerturteile des Dekalogs, alle diese Maßstäbe, die für den mittelalterlichen Menschen noch unverrückbar waren, sind aus seinem neuzeitlich geprägten Sinn relativ:⁶⁹¹ Die Annahme, dass insoweit ein minimum
Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982, S. 173 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 10. Michel de Montaigne, Les Essais, III 9, S. 1027. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 189. Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1128. Bernhard Groethuysen, Philosophische Anthropologie, 1931, S. 194 ff.
I. Der Kannibalen-Essay als Paradigma der Rechtskulturvergleichung
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morale feststellbar wäre, erweist sich für ihn als kontrafaktisch, weil sich, je weiter man forscht, desto sicherer eine Rechtskultur finden wird, die ein scheinbar ausnahmslos verabscheutes Verhalten toleriert, ja sogar belohnt. Montaigne kann mit seinem intensiven kulturvergleichenden Interesse, seinen darauf gründenden Reflexionen im Hinblick auf das Recht und den Schlussfolgerungen daraus bezüglich dessen, was dem Menschen, eingedenk seiner kulturellen Verschiedenheit, gemäß sein könnte, als Wegbereiter der Rechtsanthropologie gelten.
I. Der Kannibalen-Essay als Paradigma der Rechtskulturvergleichung Ein Beispiel für die Ansätze zu einer ansatzweise rechtsanthropologisch ausgerichteten Kulturvergleichung bietet der Kannibalen-Essay.⁶⁹² Hugo Friedrich hat ihn bereits als „Zeugnis der erschließenden Skepsis“ gedeutet, die in einen kosmopolitisch weiten Horizont hinausblickt“ und in dem eine „Kulturkritik“ zum Vorschein komme.⁶⁹³ Aber auch dieser berühmte Abschnitt der Essais ist noch nicht unter dem Blickwinkel der Rechtsanthropologie gewürdigt worden. Gewiss beruht er nicht im strengen Sinne auf empirischer Feldforschung, zumal nicht durch den Autor selbst. Vielmehr hat sich Montaigne auf das verlassen, was insbesondere nach der aus seiner zeitlichen Sicht unlängst vollzogenen Entdeckung Amerikas über die dortigen Ureinwohner berichtet wurde.
1. Empirische Feldforschung aus zweiter Hand Montaignes Essay „Von den Menschenfressern“ bezieht sich auf die brasilianischen Ureinwohner,⁶⁹⁴ und interessanterweise schöpft er seine Kenntnis aus einer
Norris Brock Johnson, Cannibals and culture: The Anthropoloy of Michel de Montaigne, Dialectical Anthropology 18 (1993) 153, allerdings nur auf die Anthopologie bezogen. Ferner Richard Handler, Of Cannibals and Custom. Montaigne’s cultural relativism, Anthropology Today 2 (1986) 12; Roger Celestin, Montaigne and the Cannibals : Toward a Redefinition of Exoticism, Cultural Anthropology 5 (1990) 292 ; Carlo Ginzburg, Montaigne, cannibals nd grottoes, History and Anthropology 6 (1993) 125. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 194 f. Etwas anders in der Akzentsetzung, aber ebenfalls unter Berücksichtigung der rechtskulturellen Dimension Maryanne Cline Horowitz, Seeds of Virtue and Knowledge, 1988, S. 206: “Histories of natural-law theory generally ignore the essayst Michel de Montaigne (1533 – 1592), yet in his description of peasants dying on his estate and of the Topinabama tribes of Brazil
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§ 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz
authentischen Quelle, so dass man wohl ohne Übertreibung von einer empirischen Feldforschung aus zweiter Hand sprechen kann: „Ich habe lange Zeit her einen Menschen bei mir gehabt, der sich zehn bis zwölf Jahre in der anderen Welt aufgehalten hat, welche zu unserer Zeit entdeckt worden ist; an dem Orte, wo Villegaignon landete und dem er den Namen Südlands-Frankreich gab“⁶⁹⁵ (« J’ay eu long temps avec moy un homme qui avoit demeuré dix ou douze ans en cet autre monde, qui a esté descouvert en nostre siecle, en l’endroit ou Vilegaignon print terre, qu’il surnomma la France Antartique ».⁶⁹⁶). Montaigne berichtet hier also im Unterschied zu den bisher betrachteten Stellen nicht etwas Geschichtliches, sondern wird zum Chronisten seiner Zeit. Er verknüpft die Ortsangabe präzise mit einer Person der Zeitgeschichte, nämlich Nicolas Durand de Villegaignon.⁶⁹⁷ Auch im weiteren Verlauf der Erörterung schildert er seine Quelle mit der ihm eigenen Menschenkenntnis eindrücklich, bevor er die im engeren Sinne kulturvergleichenden Beobachtungen wiedergibt: „Es erfordert entweder einen sehr zuverlässigen Mann, oder einen so einfältigen, der nicht imstande ist, eine falsche Angabe zu schmieden oder ihr Wahrscheinlichkeit zu geben, auch von keiner Sache vorhin eingenommen zu sein. Mein Mann war von dieser Beschaffenheit“⁶⁹⁸ (« Ou il faut un homme très-fidelle, ou si simple, qu’il n’ait pas dequoy bastir et donner de la vraysemblance à des inventions fauces; et qui n’ait rien espousé. Le mien estoit tel ».⁶⁹⁹). Wichtig ist Montaigne also die Betonung der Unvoreingenommenheit seines Gewährsmannes, weil nur sie es ermöglicht, unvoreingenommen und werturteilsfrei die kulturellen Eigenheiten der beobachteten Völker zu berichten.⁷⁰⁰ Montaigne war intuitiv klar, was die Rechtsanthropologie zu einer Bedingung ihrer Wissenschaftlichkeit machen würde, nämlich die Unerlässlichkeit einer möglichst vorurteilsfreien Bestandsaufnahme des empirischen Tatsachenmate-
Montaigne claims that there is a natural law, born within human nature, which is a source of their human nature”. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 56. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 208. Stefan Zweig, Brasilien. Ein Land der Zukunft, 1941, schreibt über ihn, was auch auf Montaigne (den er ja einfühlsam porträtierte) mutatis mutandis passen würde: „Jede regelmäßige Beschäftigung hassend, beneidenswerte Posten und höchste Ehren verachtend, zieht sein sprunghafter Geist es vor, frei zu sein, sich ungehindert seinen fantastischen Launen hinzugeben“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 60. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 211. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, 2004, S. 129 Fußnote 303, geht davon aus, dass Montaigne die Quelle „aus Kalkül nicht nennt“, diese aber inzwischen weitgehend namhaft gemacht worden sei.
I. Der Kannibalen-Essay als Paradigma der Rechtskulturvergleichung
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rials ohne freihändige rechtsphilosophische Spekulationen.⁷⁰¹ Allerdings ist dies paradoxerweise zugleich auch das, was ihn von der Rechtsanthropologie im technischen Sinne trennt, weil er – darin nicht anders als später Montesquieu und diesen wohl auch prägend – alle (rechts‐)kulturvergleichenden Beobachtungen immer zugleich auch zum Gegenstand seines philosophischen Spekulierens machte.⁷⁰² Moderne Anthropologen würden Montaigne also allenfalls als „armchair anthropologist“ gelten lassen, ein Vorwurf, den sich bereits Edward Tylor als Pionier der Sozialanthropologie gefallen lassen musste, weil er sich gleichfalls auf die Berichte derer verließ, welche die betreffenden Gebiete bereist hatten.⁷⁰³ Aber auch das macht Montaignes Einschätzungen nicht wertlos,⁷⁰⁴ zumal da sie für die Geschichte der Anthropologie nach wie vor unentbehrlich sind.⁷⁰⁵
2. Montaigne als Vordenker Montesquieus Montaigne wäre allerdings nicht er selbst, wenn er auch diese Schilderung nicht als kulturvergleichende Reflexion gestalten würde. Die Unvoreingenommenheit kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass er sich den beobachteten Bräuchen möglichst werturteilsfrei nähert, während die Sitten seines Herkunftslandes nach wie vor Gegenstand seiner Skepsis sind: „Nun finde ich aber, um wieder auf meine Materien einzulenken, dass nach dem, was mir berichtet ist, man bei der Nation
Wolfgang Fikentscher, Rechtsanthropologie, Jura 1998, 182, 184. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band I, 1975, S. 429, bemerkt über Montesquieu auch im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang weiterführend: „Er bedient sich der ramistischen Darstellung und des kritischen Vermögens Montaignes. Weit in die Zukunft weisend ist der Versuch, in seiner Klimatheorie zugleich rechtshistorisch wie auch rechtsvergleichend, wenn auch mit unzulänglichen Mitteln und häufig störender Spekulation, Gründe für die Bedingtheiten des Rechtsverständnisses in verschiedenen Zeiten und Gegenden der Welt aufzudecken“. Edward Tylor, Primitive Culture, 1871; ders., Anthropology: an introduction to the study of man and civilisation, 1881. David S. Clark, Comparative Law and Society, 2012, S. 15 sub 5.1 (‚Anthropology of Law‘), bemerkt in diesem Sinne im Hinblick auf andere, die desselben Vorwurfs geziehen wurden: „Although modern anthropologists find most of this research inadequate due to its armchair methods, the emphasis on cultural and historical context remains important“. Siehe aber Norris Brock Johnson, Cannibals and culture: The Anthropoloy of Michel de Montaigne, Dialectical Anthropology 18 (1993) 153: “Cultural relativism, for example, is a concept important for anthropology as a discipline. As such, historians of anthropology invariably focus on the essayist Michel de Montaigne as a Renaissance purveyor of the concept of cultural relativism”.
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§ 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz
nichts Wildes oder Barbarisches antrifft und weiter nichts daran ist, als dass jedermann dasjenige barbarisch nennt, was nicht Sitte in seiner Heimat ist; wie wir dann wirklich auch keinen andern Maßstab für Wahrheit und Vernunft haben als Beispiele und Ideen von den Meinungen und Gewohnheiten, die wir täglich um uns herum hören und sehen: da ist beständig die vollkommne Religion, die beste Staatsverfassung, der vernünftigste und edelste Sittenzustand aller Dinge“⁷⁰⁶ (« Or je trouve, pour revenir à mon propos, qu’il n’y a rien de barbare et de sauvage en cette nation, à ce qu’on m’en a rapporté: sinon que chacun appelle barbarie, ce qui n’est pas de son usage. Comme de vray nous n’avons autre mire de la verité, et de la raison, que l’exemple et idée des opinions et usances du païs où nous sommes. Là est tousjours la parfaicte religion, la parfaicte police, parfaict et accomply usage de toutes choses ».⁷⁰⁷). Montaigne zeigt sich um eine Relativierung der eigenen (rechts‐)kulturellen Errungenschaften bemüht, indem er sie als vorgeblich beste karikiert. Er erhebt sich aus der ihn umgebenden provinziellen Engstirnigkeit, indem er den fremden Sitten das Verdikt des Barbarischen versagt. Montaignes Reizworte sind hier „Wahrheit und Vernunft“, die sich selbst ad absurdum führen,wenn aus ihnen nur das eigene Sittengemälde als maßgebliches zum Vorschein kommen kann. Hier leuchtet bereits die Vernunftkritik auf, die in der Apologie noch ausgeformt und auf das Recht übertragen wird. Vernunft und Wahrheit sind aber aus seiner Sicht gerade kein rechter Maßstab für die Bewertung fremder Sitten. Es ist letztlich die Macht der Gewohnheiten, „die wir täglich um uns herum hören und sehen“, welche die Oberhand behält. Dass aus dieser chauvinistischen Perspektive die vermeintlich „beste Staatsverfassung“ resultiert, ist ebenso konsequent wie fragwürdig:⁷⁰⁸ Montaigne erweist sich auch hier als Vordenker Montesquieus, weil er beständig den Sitten des jeweiligen Landes auf den Grund geht und daraus Folgerungen für die Staatsverfassung ableitet.⁷⁰⁹
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 61. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 211. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1987, S. 63: „Montaigne belässt es bei einer empirischen Beschreibung. Jedes Volk soll seiner eigenen Entwicklung gemäß leben können. Ein Sendungsbewusstsein, basierend auf einer als für alle verbindlich erklärten Gesellschaftsform, lehnt Montaigne scharf ab“. Zum Verhältnis der im Zitat ebenfalls genannten Religion Rudolf Fränkel, Montaignes Verhältnis zum Staat und zur Kirche, 1908.
I. Der Kannibalen-Essay als Paradigma der Rechtskulturvergleichung
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3. Die „beste Staatsverfassung“ als Zustand der Unordnung Ähnlich wie später bei Montesquieu lässt sich bei Montaigne eine gewisse Idealisierung der Kreatürlichkeit feststellen, die einer von Bürgerkriegswirren zerfahrenen vorgeblichen Zivilisation – um es bewusst in Anlehnung an den Begriff von Nobert Elias zu sagen⁷¹⁰ -, den Spiegel vorhält: „Die Menschen in der neuen Welt sind wild, in eben dem Verhältnisse, wie wir die Früchte wild nennen, welche die Natur von selbst und nach ihrem eigenen Fortschritte hervorgebracht hat, unterdessen es im Grunde diejenigen eigentlich sind, die wir durch unsere Künstelei verstellt und aus der gewöhnlichen Ordnung herausgerissen haben, welche wir so nennen sollten“⁷¹¹ (« Ils sont sauvages de mesmes, que nous appellons sauvages les fruicts, que nature de soy et de son progrez ordinaire a produicts: là où à la verité ce sont ceux que nous avons alterez par nostre artifice, et destournez de l’ordre commun, que nous devrions appeller plustost sauvages ».⁷¹²). Hier tritt abermals ein Zentralbegriff seines Denkens zutage, der auch das Rechtsdenken betrifft: der Begriff der Ordnung. Montaigne vertraut bei den ursprünglichen Völkern auf eine spontane Ordnung, die geistesgeschichtlich übrigens auch nicht erst Adam Smith,⁷¹³ sondern wiederum bezeichnenderweise schon Montesquieu vorgedacht hatte⁷¹⁴ und dessen Vorläufer auch hier in Ansätzen Montaigne gewesen sein könnte. Dieser unterscheidet aber weniger zwischen Recht und Unrecht als vielmehr zwischen Ordnung und Unordnung.⁷¹⁵ In seiner von Religionskriegen heimgesuchten Zeit haben aber die vorgeblich „vollkommne Religion, die beste Staatsverfassung, der vernünftigste und edelste Sittenzustand aller Dinge“ auch aus Sicht des eingefleischten Konservativen, der Montaigne zeitlebens war, nicht Ordnung, sondern Unordnung gebracht.
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 1939. Siehe aber auch Edoardo Costadura, Der Edelmann am Schreibpult, 2006, S. 48 Fußnote 75: „Es ist anzunehmen, dass sich Montaigne nur schwerlich mit Norbert Elias’ These vom ‹Prozeß der Zivilisation› hätte anfreunden können. Die Verfeinerung der Sitten zeitigt in seinen Augen alles andere als eine Zivilisierung der Politik (…) – im Gegenteil: Sie ist oft genug ein Symptom für Dekadenz und Barbarei“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 61. Michel de Montaigne, Les Essais, La Pléiade I 30, S. 211. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (Übersetzung Recktenwald, 10. Auflage 2003, S. 371); dort im Hinblick auf die berühmte unsichtbare Hand; näher dazu Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2012, S. 180 ff. Ferner ders., Freiheit unter dem Gesetz, 2014, S. 201 ff. zu Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken. Charles de Secondat de Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748, Livre III Chapitre 7; Livre XIII Chapitre 15. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 184.
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§ 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz
4. Befolgung der natürlichen Gesetze Diese Grundhaltung Montaignes gegenüber den ursprünglichen Völkern und ihrer scheinbaren Barbarei und Primitivität zeigt sich dann auch konsequenterweise im Hinblick auf das Recht: „Diese Völker scheinen mir also nur insofern barbarisch, als sie noch sehr wenig Bildung von menschlichem Witze empfangen haben und noch sehr nahe an die Unbefangenheit des rohen Urstandes der Natur grenzen. Sie befolgen noch die natürlichen Gesetze und sind durch die unsrigen noch wenig verderbt; sondern in solcher Reinheit, dass mich es zuweilen unwillig macht, dass ihre Kenntnis nicht früher zu uns gelangt sei, zu einer Zeit, da noch Menschen lebten, die besser darüber zu urteilen gewusst hätten als wir“⁷¹⁶ (« Ces nations me semblent donc ainsi barbares, pour avoir receu fort peu de façon de l’esprit humain, et estre encore fort voisines de leur naïfveté originelle. Les loix naturelles leur commandent encores, fort peu abbastardies par les nostres: Mais c’est en telle pureté, qu’il me prend quelque fois desplaisir, dequoy la cognoissance n’en soit venue plustost, du temps qu’il y avoit des hommes qui en eussent sceu mieux juger que nous ».⁷¹⁷). Der Nachsatz illustriert, dass sich Montaigne nicht ausnimmt von der Menge der Zeitgenossen, die infolge ihrer vernunftmäßig verbildeten Verblendung die ursprüngliche Urteilskraft eingebüßt haben. Ihn interessiert jedoch auch im Hinblick auf die rechtlichen Gewohnheiten das Natürliche und Unverstellte der naiven Völker.⁷¹⁸ Anders als viele Rechtsphilosophen geht Montaigne nicht vom Naturzustand aus; seinem skeptisch prüfenden Verstand wäre ein solcher Naturzustand wohl auch, wie Nietzsche es später ausdrücken sollte, als „Schwärmerei“ vorgekommen.⁷¹⁹ Anstelle einer solchen normativen Konstruktion interessiert ihn die empirisch nachprüfbare Schilderung von den zu seiner Zeit so genannten „Wilden“. Er mokiert sich nicht über die vorgeblich kulturlose Andersartigkeit, sondern erblickt in ihren Sitten und Bräuchen einen status quo, der dem Naturzustand
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 62 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 212. Biancamaria Fontana, Montaigne’s Politics: Authority and Governance in the Essais, 2008, S. 39: In some cases the exercise of looking back toward nature may be turned into a powerful critical device to expose the flaws of modern civilization: Montaigne famously resorted to this strategy in his provocative Essay ‘Of Cannibals’ (I 31), but there the notion of nature was employed as a philosophical ideal or methodological device, not as the description of a historical reality to which mankind could return”. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II 17; dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 150.
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möglichst nahe ist;⁷²⁰ die Vorstellung eines reinen Naturzustandes wäre für ihn eine ertraglose Spekulation, die keinem Beweis zugänglich wäre und aus der nichts folgen würde. Ihn interessiert der Vergleich zwischen dem unverbildet Primitiven und dem durch falsche Gesetze Korrumpierten.Was Montaigne hier als die natürlichen Gesetze bezeichnet, welche die betreffenden Völker noch befolgen, kommt dem Naturrecht so nahe wie der Zustand, in dem sie sich befinden, dem Naturzustand annäherungsweise, aber eben nicht ganz, entspricht.⁷²¹ Die beobachteten rechtlichen Verhaltensweisen der primitiven Völker gelten ihm als Naturrechtskorrelat, so wie ihr Dasein dem Naturzustand nahekommt. Man kann in diesem spezifischen Erkenntnisinteresse Montaignes eine Hinwendung zur Rechtsanthropologie sehen, weil sie auf empirischer Grundlage eine Vergleichung der Rechtskulturen vornimmt. Vermittelt über das Referat eines unbefangenen Informanten basiert sie sogar ansatzweise auf einer empirischen Feldforschung.
5. Empirisches Wissen über die Gesellschaft Wie sehr sich Montaigne zu dem empirischen Erwerb seines Wissens über die fremden Völker bekennt, räumt er freimütig ein, zumal er sich damit eines sichereren Wissens gewiss ist, als es philosophische Spekulation allein verheißen kann:⁷²² „Es tut mir leid, dass Lycurg und Plato keine Kenntnis davon hatten; denn mich deucht, dass dasjenige, was wir durch die Erfahrung von jenen Völkern wissen, nicht nur alle Malereien übertreffe, womit die Dichtkunst das goldene Zeitalter ausgeschmückt hat, nebst allen den Erfindungen, um einen glücklichen Zustand der Menschen zu erdichten; sondern selbst die spekulativen Begriffe der Philosophie und sogar ihre Wünsche. Die Philosophen haben sich keinen so reinen und so einfachen Natursinn vorstellen können, als wir aus der Erfahrung ersehen, und haben nicht glauben können, dass unsere Gesellschaft mit so wenig menschlicher Kunst und Flickwerk bestehen könne“⁷²³ (« Il me desplaist que Lycurgus et Platon ne l‘ayent eue: car il me semble que ce que nous voyons par experience en ces
Prägnant Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1987, S. 62 f.: „Der Naturzustand als ‚logischer Mythos‘ ist zum greifen nahe. (…) Für Montaigne sind die Wilden nicht so perfekt, wie es anhand der obigen Zitate zuerst scheinen mag. Sie sind nur weniger korrupt“. Anders wohl Neal Dow, The Concept and Term ‘Nature’ in Montaigne’s Essays, 1940, S. 52 („the positive proof for Montaigne of natural laws“); wie hier Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1987, S. 63 Fußnote 13. Wichtig Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 63, Hervorhebungen nur hier.
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nations là, surpasse non seulement toutes les peintures dequoy la poësie a embelly l’aage doré, et toutes ses inventions à feindre une heureuse condition d’hommes: mais encore la conception et le desir mesme de la philosophie. Ils n’ont peu imaginer une naïfveté si pure et simple, comme nous la voyons par experience: ny n’ont peu croire que nostre societé se peust maintenir avec si peu d’artifice, et de soudeure humaine ».⁷²⁴). Auch wenn diese Stelle prima vista nichts mit dem Recht zu tun hat, ist sie doch für das Verständnis Montaignes als maßgeblichem Mitbegründer der Rechtssoziologie von Bedeutung, weil sie seine empirische Methode im Hinblick auf ein Wissen von der und über die Gesellschaft verdeutlicht. Er hätte Plato und Lycurg nicht zuletzt deshalb an seinem neu gewonnen Wissen teilhaben lassen wollen, weil ihm die Bedeutung dieser Quelle so klar vor Augen stand: Die ursprünglichen und naturnahen Völker haben sich einen ebenso schlichten wie effektiven Sinn für das Natürliche bewahrt, der aber im Ergebnis demonstriert, dass die artifizielle, vermeintlich hochkomplexe und ausdifferenzierte Gesellschaft seiner Zeit sich demgegenüber übertrieben ausnimmt, weil es viel geringerer Mittel als angenommen bedarf, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten. Es ist überhaupt bemerkenswert, dass Montaigne ‚die Gesellschaft‘ überhaupt voraussetzt. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass er durchaus als einer der Begründer der Rechtssoziologie gelten kann, auch wenn in diesem Zusammenhang stets nur sein Leser Montesquieu genannt wird.⁷²⁵
II. Erschließung der Rechtsanthropologie Man kann an der zuletzt zitierten Stelle nicht nur ersehen, wie wichtig Plato für Montaigne war,⁷²⁶ sondern wie nahe er sich auch Lycurg wusste, der den Blick auf das zutiefst Menschliche hatte, wie wir weiter unten bei der Erörterung rechtsökonomischer und rechtsanthropologischer Ansätze Montaignes noch erkennen werden.
Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 212. Vgl. nur Klaus Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 6; siehe aber Werner Stark, Montesquieu. Pioneer of the Sociology of Knowledge, 1960, S. 167: „Montesquieu, let us not forget, was a disciple of Montaigne“. Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1987, S. 39; richtig auch ebenda, S. 51: „Erfahrung ist für Montaigne aber auch ein ‚Lernprozess‘, dem jeder unterliegt, indem er sich Bräuche, Gewohnheiten und vorherrschende Meinungen aneignet“.
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1. Erschließende Skepsis durch Hypothesenbildung Was Plato betrifft, so tritt er mit ihm im Folgenden in einen fiktiven Dialog ein: „Es ist eine Nation, würde ich zu Plato sagen, unter der es keine Hoffnung zum Handelsgewinn gibt, keine Bekanntschaft mit der Gelehrsamkeit, keine Lehre von den Zahlen; keinen Namen für bürgerliche Obrigkeit oder für Häupter des Staats; keine eingeführte Knechtschaft; keinen Reichtum und keine Armut; keine Kontrakte; keine Erbfolge; keine Teilung; keine andre Beschäftigung als der Muße (…). Selbst solche Worte, welche Lügen andeuten, oder Verrat, Falschheit, Geiz, Missgunst, Verleumdung, Verzeihung, sind bei ihnen unerhört. Wie weit entfernt von dieser Vollkommenheit würde er die Republik finden, welche er nach seiner Einbildung entwarf?“⁷²⁷ (« C’est une nation, diroy-je à Platon, en laquelle il n’y a aucune espece de trafique; nulle cognoissance de lettres; nulle science de nombres; nul nom de magistrat, ny de superiorité politique; nul usage de service, de richesse, ou de pauvreté; nuls contrats; nulles successions; nuls partages; nulles occupations, qu’oysives (…). Les paroles mesmes, qui signifient la mensonge, la trahison, la dissimulation, l’avarice, l’envie, la detraction, le pardon, inouyes. Combien trouveroit il la republique qu‘il a imaginée, esloignée de cette perfection? »⁷²⁸). Alle vermeintlichen rechtlichen Errungenschaften, die für das geordnete Zusammenleben – gerade dem an Ordnung besonders gelegenen Montaigne – unerlässlich schienen, fehlen hier, ohne dass ein gedeihliches Miteinander darunter Schaden nahm. Für solche Hypothesen war der nicht nur stoizistisch, sondern nichtsdestoweniger auch epikureisch geprägte Montaigne seit jeher offen: Welche vermeintlich unentbehrlichen Institute des Rechts und der Wirtschaft kann man dem Menschen nehmen, kann man von der Menschheit abziehen, ohne dass er sie als nicht hinnehmbaren Mangel seines Wohlergehens auffasst? Seine Skepsis gegenüber dem Recht jedenfalls musste in gleichem Maße zunehmen, wie er sah, dass eine große Gruppe von Menschen ohne Privateigentum und demnach ohne Verträge und Erbrecht auskommen konnte. Gerade dieses aus dem Zweifel geborene Factum aber erschloss ihm den Blick auf die Rechtsethnologie.⁷²⁹
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 63, Hervorhebungen nur hier. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 212 f. Siehe dazu allgemein Franz und Keebet von Benda-Beckmann, Gesellschaftliche Wirkung von Recht. Rechtsethnologische Perspektiven, 2007.
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2. Rechtssoziologische Begründung des Moralkodex Auf dieser Grundlage beobachtet Montaigne nun die einzelnen Verhaltensweisen. Das Augenmerk liegt im Folgenden auf denjenigen Stellen, die Recht und Moral betreffen. Die Pflichten werden von einem der Ältesten der Männer auferlegt, ein gerontokratisches Moment, das Max Weber in anderem Zusammenhang rational damit begründete, dass sie die heiligen Bräuche am längsten kennen:⁷³⁰ „Er legt ihnen nur zwei Pflichten vor: die Tapferkeit gegen die Feinde und die Freundschaft gegen die Weiber. Er unterlässt niemals den Hauptsatz oft zu wiederholen, dass man den Weibern diese Liebe schuldig sei, weil solche ihnen ihren Trank schmackhaft zubereiten und lauwarm halten“⁷³¹ (« Il ne leur recommande que deux choses, la vaillance contre les ennemis, et l’amitié à leurs femmes. Et ne faillent jamais de remarquer cette obligation, pour leur refrein, que ce sont elles qui leur maintiennent leur boisson tiede et assaisonnée ».⁷³²). Das hätte mutatis mutandis auch von Max Weber stammen können, insbesondere was die Begründung betrifft, die weniger das caritative oder emotionale Moment in den Vordergrund rückt, als vielmehr die Daseinsvorsorge.⁷³³ Dem entspricht der moralische Kodex: „Allein ihre ganze Wissenschaft der Moral enthält nur die beiden Artikel: Entschlossenheit im Kriege und Liebe zu den Weibern“⁷³⁴ (« Mais toute leur science ethique ne contient que ces deux articles de la resolution à la guerre, et affection à leurs femmes ».⁷³⁵). Ähnlich ist der Kausalnexus bei vorgespiegelter Wahrsagerei, die unter Strafe steht: „Der Geist der Weissagung ist eine Gabe Gottes; daher ihr Missbrauch eine öffentliche Betrügerei ist, die bestraft zu werden verdient“⁷³⁶ (« C’est don de Dieu, que la divination: voylà pourquoy ce devroit estre une imposture punissable d’en abuser ».⁷³⁷). Montaigne mokiert sich nicht herablassend darüber, dass sie an Wahrsagerei glauben, sondern versetzt sich in die Angehörigen der ursprünglichen Völker und vergegenwärtigt sich den Geltungsgrund der Regeln, indem er sich ihre innere Teleologie erschließt.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 133, 547 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 66. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 214. Vgl. auch Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2014, S. 10 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 67. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 214. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 67. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 215.
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3. Vergleich des Kannibalismus mit der Todesstrafe Die berühmteste Stelle des Kannibalen-Essays, die ihm diesen Namen gegeben hat,⁷³⁸ beruht auf einer eigentümlichen Wertung. Nachdem Montaigne zunächst darstellt, wie die moribunden Opfer mit vereinten Kräften auf die Hinrichtung vorbereitet werden, heißt es lapidar: „und diese beiden richten ihn in Gegenwart der gesamten Versammlung mit ihren Schwertern hin. Ist das geschehen, so rösten sie ihn und essen ihn in Gemeinschaft und schicken ihren abwesenden Freunden davon ihre Portionen. Dies tun sie nicht, wie man denkt, aus Hunger, (…), sondern es geschieht, um eine heftige Rache anzudeuten“⁷³⁹ (« Et eux deux en presence de toute l’assemblée l’assomment à coups d’espée. Cela faict ils le rostissent, et en mangent en commun, et en envoyent des loppins à ceux de leurs amis, qui sont absens. Ce n’est pas comme on pense, pour s’en nourrir, (…), c’est pour representer une extreme vengeance ».⁷⁴⁰). Der nüchterne und betont werturteilsfreie Bericht gibt sodann Anlass zu einer kulturvergleichenden Reflexion. Montaigne macht zwar aus seinem Befremden keinen Hehl, hält jedoch seiner Mitwelt auch den Spiegel vor: „Es tut mir nicht leid, dass wir die barbarischen Greuel bemerken, die bei einem solchen Verfahren verübt werden, wohl aber ärgert es mich, dass, da wir so richtig über ihre Fehler urteilen, wir über die unsrigen so blind sind. Ich denke, es sei weit ärgere Barbarei dabei, einen Menschen lebendig zu fressen als tot zu fressen; einen Körper durch Qualen und Martern zu zerfleischen, der noch alle seine Gefühle hat, ihn bei langsamem Feuer zu braten, durch Hunde und Schweine zerreißen lassen (wie wir dergleichen nicht bloß gelesen, sondern noch erst kürzlich gesehen haben, und das dazu nicht etwa unter alten Erbfeinden, sondern unter Nachbarn und Bürgern eines und desselben Staates; und was das Ärgste ist, unter dem Vorwand der Religion und der Rechtgläubigkeit!) als ihn zu braten und zu verzehren, wenn er des Lebens beraubt ist“⁷⁴¹ (« Je ne suis pas marry que nous remerquons l’horreur barbaresque qu’il y a en une telle action, mais ouy bien dequoy jugeans à point de leurs fautes, nous soyons si aveuglez aux nostres. Je pense qu’il y a plus de barbarie à manger un homme vivant, qu’à le manger mort, à deschirer par tourmens et par gehennes, un corps encore plein de sentiment, le faire rostir par le menu, le faire mordre et meurtrir aux chiens, et aux pourceaux (comme nous l’avons non seulement leu, mais veu de fresche memoire, non entre des ennemis anciens, mais entre des voisins et concitoyens, et qui pis est, sous pretexte de pieté et de religion) que le rostir et manger après qu’il est trespas
Vgl. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 194 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 68 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 215. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 69.
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sé ».⁷⁴²). Die eigentliche Begründung, die wie so oft bei Montaigne mit einer subjektiven Erfahrung angereichert ist, wird in der Klammer gegeben.⁷⁴³
4. Sensualistische Bestandsaufnahme Das Argument mutet auf den ersten Blick befremdlich und makaber an; es ist eine nüchtern-sensualistische Bestandsaufnahme: grausamer und daher letztlich barbarischer ist die Hinrichtungsart, die in der Summe die meisten physischen Schmerzen verursacht. Die im Klammerzusatz zugespitzte Steigerung treibt auch die Barbarei auf die Spitze: Was unter Erbfeinden allenfalls noch unter dem Gesichtspunkt der Rache – das vorgenannte Motiv der Kannibalen!⁷⁴⁴ – allenfalls im Ergebnis, aber schon nicht mehr in der Summe des körperlichen Leids zeitbedingt nachvollziehbar wäre, ist für Montaigne unter keinen Umständen in einem vorgeblich gesitteten Gemeinwesen zu rechtfertigen, umso viel weniger aber unter dem Deckmantel der Religion, deren elementarer Botschaft es am meisten zuwider ist. Das erste Skandalon ist also die vermeintlich auf Recht gründende Staatsverfassung, die solche barbarischen Auswüchse legitimiert. Das noch größere ist die Rechtfertigung einer Hinrichtung durch die Religion, die in einer durch Religionskriege zerrütteten Welt den Inbegriff der Kulturlosigkeit manifestiert und auf den unbefangenen Betrachter ungleich abschreckender wirken müsste. Montaignes einfache Quintessenz läuft darauf hinaus, dass die Todesstrafe, zumal in der von Montaigne berichteten Hinrichtungsweise, barbarischer ist als das Gebaren der Kannibalen.⁷⁴⁵ So seltsam es in diesem unmenschlichen Zusammenhang erscheint, zeugt Montaignes Ablehnung der Todesstrafe und seine Bewertung in einer inhumanen Zeit paradoxerweise von einem eigentümlichen Humanismus.
Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 216. Wegweisend Karlheinz Stierle, Montaigne und die Erfahrung der Vielfalt, in: Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania (Hg. W. D. Stempel/Ders.) 1987, S. 417. Maryanne Cline Horowitz, Seeds of Virtue and Knowledge, 1988, S.219: “Montaigne supports that trend by his view that positive law is necessary for the establishment of justice. Montaigne’s rhetorical claims that the Topinamba people live in accordance with nature’s laws and yet are cannibals (not for natural reasons of hunger but for vengeance) plays with the natural-law tradition in satiric and ironic ways”. Vgl. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 194 („ein Hieb gegen die europäische Todesstrafe und Menschenmarter“).
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5. Anthropozentrik statt Ratiozentrik Montaigne geht mit den Rechts- und Kulturanschauungen seiner und unserer Zeit schonungslos ins Gericht: „Wir mögen also jene Völker wohl, in Rücksicht auf die Vorschriften der Vernunft, Barbaren nennen, aber keineswegs in Rücksicht auf uns selbst, da wir sie in allen Arten von Barbarei übertreffen“⁷⁴⁶ („Nous le pouvons donc bien appeller barbares, eu esgard aux regles de la raison, mais non pas eu esgard à nous, qui les surpassons en toute sorte de barbarie“.⁷⁴⁷). Die Vernunft erscheint hier als neuzeitliche Maßgabe und Scheidelinie, die zwar Zivilisation verheißt, den Menschen aber in Wahrheit sich selbst entfremdet.⁷⁴⁸ Montaignes Standpunkt ist nicht ratiozentrisch, sondern vielmehr anthropozentrisch. Hier deutet sich bereits an, was weiter unten noch ausgeführt wird, nämlich dass die Vernunft bei Montaigne mitnichten so positiv besetzt ist, wie man bei einem so scharfsinnigen, humanistisch gebildeten Denker annehmen könnte. Doch ist die mit dem Primat der Vernunft einhergehende Entfremdung des Menschen mit sich selbst, seine Abkehr vom ursprünglichen (Natur‐)Rechtdenken und den daraus resultierenden moralischen Anschauungen gerade der Stein des Anstoßes für Montaigne. Was bei diesem zu einer Hinwendung zum Christentum führen wird, erscheint bei Montaigne als Idealisierung der ursprünglichen Völker, deren Fehler er zwar auch sieht, aber nichtsdestoweniger aus ihren inneren Beweggründen und ihrer ökonomischen Lage zu entschuldigen weiß.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 70. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 216. Vgl. auch Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen, 3. Auflage 2004, S. 232 f.: „In den ‚Essais‘ des Franzosen, diesen sowohl der Erkundung der eigenen Persönlichkeit als dem kritischen Verständnis der Zeitereignisse zugedachten Lebensaufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, wurde erstmals die Befürchtung laut, dass der selbstgewisse europäische Konquistador in Bereiche menschlicher Kultur vorstoßen könnte, deren Tiefe und Reichtum zu verarbeiten er geistig außerstande sein könnte. (…) Mit solchem Zweifel an der geistigen Aufnahmefähigkeit verband sich bei Montaigne die Kritik am sittlichen Verhalten der Konquistadoren und die Infragestellung der eigenen kulturellen Position. Berechtigte die Tatsache der militärischen Überlegenheit zur Unterwerfung von Völkern, die durch die Schönheit ihrer äußeren Erscheinung, die Tugenden ihres Charakters oder die Weisheit ihrer Gesetze den europäischen Angreifern möglicherweise weit überlegen waren?“.
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6. Anthropologie des Völkerrechts Das gilt auch dort, wo wir es am wenigsten erwarten würden, nämlich bei der Kriegsführung, die Montaigne zu einem Exkurs über gerechte Kriege macht, bei näherer Betrachtung aber wiederum zu einer Ausprägung des Menschseins in seiner aggressiven Form: „Ihr Krieg ist edel und großmütig, ist ebensosehr zu entschuldigen und enthält ebensoviel Schönes, als diese Krankheit des Menschengeschlechts nur zulassen kann. Er entsteht bei ihnen aus keiner anderen Begierde als tapfer zu sein. Sie führen keine Kriege, um neue Länder zu erobern, denn sie genießen noch der natürlichen Fruchtbarkeit des Landes, welche ihnen, ohne Arbeit, alles in solchem Überfluss darreicht, dass ihnen an Erweiterung ihrer Grenzen gar nichts gelegen ist. Sie stehen auf dem glücklichen Punkte, wo sie nichts weiter begehren als was die Natur unumgänglich erfordert; alles, was darüber hinausgeht, halten sie für unnütz“⁷⁴⁹ (« Leur guerre est toute noble et genereuse, et a autant d’excuse et de beauté que cette maladie humaine en peut recevoir: elle n’a autre fondement parmy eux, que la seule jalousie de la vertu. Ils ne sont pas en debat de la conqueste de nouvelles terres: car ils jouyssent encore de cette uberté naturelle, qui les fournit sans travail et sans peine, de toutes choses necessaires, en telle abondance, qu’ils n’ont que faire d’agrandir leurs limites. Ils sont encore en cet heureux point, de ne desirer qu’autant que leurs necessitez naturelles leur ordonnent: tout ce qui est au delà, est superflu pour eux ».⁷⁵⁰). Diese Haltung kommt Montaignes stoischer Einstellung entgegen: Alles, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, stillt keine Begierde, sondern entfacht bis ins Unendliche neue Wünsche, womit auch die Gerechtigkeitsidee des suum cuique eine selbstbeschränkende Seite gewinnt: „Ich sage also, dass ein jeder von uns Schwächlingen zu entschuldigen ist, wenn er dasjenige, was unter dieses Maß fällt, für das Seinige erachtet. Aber über dieses Maß hinaus ist auch nichts als Verwirrung. Es ist die weiteste Ausdehnung, die wir unsern Rechten erteilen können“⁷⁵¹ (« Je dis donc, que chacun d’entre nous foiblets, est excusable d’estimer sien, ce qui est compris soubs cette mesure. Mais aussi au delà de ces limites, ce n’est plus que confusion : C’est la plus large estandue que nous puissions octroyer à noz droicts ».⁷⁵²).
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 70 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 216 f. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 6, S. 62. Michel de Montaigne, Les Essais, III 10, S. 1056.
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7. Ökonomie der Genügsamkeit Es ist eine Ökonomie der Genügsamkeit, die er bei den ursprünglichen Völkern in Reinkultur verwirklicht sieht, und die der territorialen Maßlosigkeit seiner Zeit den Spiegel vorhält. Es ist zugleich eine Ethik der Tapferkeit, die sich selbst genug ist und keiner weiteren ökonomischen Anreize bedarf, die mit der Landnahme verbunden sind: „Wenn ihre Nachbarn über die Gebirge kommen, um sie anzufallen, und sie über solche den Sieg davontragen, so ist der Überwinderpreis der Ruhm und der Vorzug, dass sie an Kraft und Tapferkeit Meister geblieben sind. Denn mit den Gütern der Besiegten haben sie weiter nichts zu schaffen, die Überwundenen kehren heim in ihr Land wo sie keinen Mangeln an den Dingen haben, deren sie bedürfen, auch keinen Mangel an der großen Glückseligkeit, ihrer gemächlichen Lage mit Zufriedenheit zu genießen. Die Sieger machen es ebenso: Von ihren Gefangenen fordern sie kein anderes Lösegeld als das Geständnis, dass sie überwunden sind“⁷⁵³ (« Si leurs voisins passent les montagnes pour les venir assaillir, et qu’ils emportent la victoire sur eux, l’acquest du victorieux, c’est la gloire, et l’avantage d’estre demeuré maistre en valeur et en vertu: car autrement ils n’ont que faire des biens des vaincus, et s’en retournent à leurs pays, où ils n’ont faute d’aucune chose necessaire; ny faute encore de cette grande partie, de sçavoir heureusement jouir de leur condition, et s’en contenter. Autant en font ceux-cy à leur tour. Ils ne demandent à leurs prisonniers, autre rançon que la confession et recognoissance d’estre vaincus ».⁷⁵⁴). Montaigne ist ersichtlich kein Verfechter des homo oeconomicus, der von Nützlichkeitserwägungen regiert wird. Expansion um der Ausbeutung willen ist ihm so fremd wie den ursprünglichen Völkern, über die er schreibt. Er lässt den Beweggrund der Tapferkeit gelten, die für ihn eine Ausprägung der Eitelkeit sein dürfte und die solange unschädlich ist, wie sie die Möglichkeit eröffnet, dass aus ihr eine Förderung des Gemeinwohls hervorgehen kann.⁷⁵⁵ Diese liegt hier gleichsam in einem Unterlassen: Wenn die Eitelkeit sich in der Ruhmsucht erschöpft und weiter keinen Schaden anrichtet, rechtfertigt sie das Grundübel des Krieges zwar nicht, hält es aber buchstäblich in Grenzen.
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 71. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 217. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1993, S. 180 nennt es die „Lieblingsparadoxie“ Montaignes, dass „Wertwidriges“ die Voraussetzung für die ‚Gesundheit‘ eines Gebildes sein kann. Hier hat ein Gedanke seinen Ursprung, der später über Bernhard Mandeville und Adam Smith, aber auch Friedrich Nietzsche bis hin zu Friedrich August von Hayek wirken wird, der Montaigne nicht von ungefähr hochschätzte; vgl. Jens Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014.
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8. Anthropologische Grundeinsicht Allerdings sieht es in der Praxis anders aus: „aber in einem ganzen Jahrhundert findet man nicht einen, der nicht lieber den Tod erlitte als durch Mienen oder Worte der Größe seines unüberwindlichen Mutes das Geringste zu vergeben. Man hat welche darunter gesehen, welche sich lieber haben töten und fressen lassen wollen als nur die kleinste Bitte um Verschonung zu tun. Man behandelt sie sehr wohl, damit ihnen das Leben umso lieber werde, und man unterhält sie gewöhnlich mit den Drohungen ihres bevorstehenden Todes, mit den Qualen, die sie dabei ausstehen werden, mit den Zurüstungen, die dabei gemacht werden, mit dem Abhauen ihrer Gliedmaßen und mit dem Schmause, den man auf ihre Kosten geben werde. Alles das tut man bloß in der Absicht, um ihnen nur nur ein zahmes Wort oder ein Flehen zu entreißen, oder ihnen Lust zu machen zu entfliehen, um sich in den Vorteil zu setzen, dass man ihnen Furcht eingejagt und ihre Standfestigkeit überwältigt habe“⁷⁵⁶ (« Mais il ne s’en trouve pas un en tout un siecle, qui n’ayme mieux la mort, que de relascher, ny par contenance, ny de parole, un seule point d’une grandeur de courage invincible. Il ne s’en void aucun, qui n’ayme mieux estre tué et mangé, que de requerir seulement de ne l’estre pas. Ils les traictent en toute liberté, afin que la vie leur soit d’autant plus chere: et les entretiennent communément des menasses de leur mort future, des tourmens qu’ils y auront à souffrir, des apprests qu’on dresse pour cet effect, du detranchement de leurs membres, et du festin qui se fera à leurs despens. Tout cela se faict pour cette seule fin, d’arracher de leur bouche quelque parole molle ou rabaissée, ou de leur donner envie de s’en fuyr; pour gaigner cet avantage de les avoir espouvantez, et d’avoir faict force à leur constance ».⁷⁵⁷). In diesem aus unserer Sicht falschen Stolz zeigt die Unvernunft ihre Kehrseite. Andererseits arbeitet Montaigne auf diese Weise den eigentümlichen Gerechtigkeitsgehalt der rauen Sitten heraus: Es ist die Abwendungsbefugnis des Rechtsunterworfenen, der um den Preis der Ehre willen seine Haut retten kann. So geht es den Kriegsgefangenen der Kannibalen im Ergebnis besser als den meisten Gefangenen aller Zeiten.⁷⁵⁸ Montaigne wäre aber nicht Montaigne, wenn er dieser Einstellung der Sieger nicht darüber hinaus eine anthropologische Grundeinsicht abgewinnen würde, die letztlich, das heißt ohne Ansehung ihres Rechtsgrundes,
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 71 f. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 217. Man darf freilich nicht übersehen, dass das „Thema des ‚guten Wilden‘“ ein gängiger Topos der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts ist, der auch in den Kannibalen-Essay hineinwirkt, zumal da „Montaigne auch ein belesener Kenner dieser Reiseliteratur ist“ (Hugo Friedrich, Montaigne, S. 192 ff.).
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völkerverbindend, weil allen Menschen gemeinsam ist: „Denn wenn man es recht genau nimmt, so ist dies (sc.: die Furchteinflößung und Überwältigung der Standfestigkeit) der wahre Punkt, worin der wahre Sieg besteht“⁷⁵⁹ (« Car aussi à le bien prendre, c’est en ce seul point que consiste la vraye victoire ».⁷⁶⁰). Montaignes Pointe liegt darin, dass auch die vorgeblich vernunftgeleiteten Völker in dieser Hinsicht irrational und instinkthaft handeln, weil es eben nicht um die Verwirklichung von Recht geht, sondern um die Ausübung erworbener Macht.
9. Kommunistische Güterordnung In seiner idealisierenden Darstellung legt Montaigne unausgesprochen die Vorstellung einer familiären Gleichheit zugrunde, die für ihn nach dem eingangs Zitierten (I 19) ohnehin der Ursprung aller Gerechtigkeit ist: „Unter sich nennen sich alle, die ungefähr von gleichem Alter sind, Brüder“⁷⁶¹ (« Ils s’entr’appellent generallement ceux de mesme aage freres ».⁷⁶²). Hier werfen Gleichheit und Brüderlichkeit ihre Schatten voraus, auch wenn Montaigne nicht zu den unmittelbaren Vordenkern der Französischen Revolution zählt und im Hinblick auf seinen Kannibalen-Essay am wenigsten dazu gerechnet würde. Doch entspricht es dem weltbürgerlichen Wort des dritten Buchs seiner Essais, wonach er jeden Menschen als Mitbürger achte und einen Polen ebenso innig umarme wie einen Franzosen (III 9).⁷⁶³ Die übrigen persönlichen Beziehungen unter den von ihm beschriebenen Völkern sind nicht weniger familiär: „Kinder heißt man die jüngeren, und die ältesten sind Väter aller übrigen. Diese hinterlassen ihre freien Besitzungen der ganzen Gemeinde zur Erbschaft, ohne andern Rechtsanspruch als den, welchen die Natur ihren Geschöpfen erteilt, indem sie solche zur Welt bringt“⁷⁶⁴ (« Enfans, ceux qui sont au dessouz; et les vieillards sont peres à tous les
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 72. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 217. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 71. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 217. Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 160, stellt dem Zitat dieser Passage hellsichtig voran: „Im Augenblick des Aufbruchs verlassen wir das Gefängnis und finden zur ursprünglichen Freiheit zurück: weil wir zu erkennen vermögen, dass diese Freiheit uns durch Geburtsrecht, gemeinsam mit allen Menschen eigen ist, setzt unsere Befreiung alsbald den Beitritt in eine größere Gesellschaft voraus. Dann können ein natürliches Recht und eine universalistische Moralphilosophie zum Ausdruck kommen“. Für Manfred Kölsch, Recht und Macht bei Montaigne, 1974, S. 105, ist der Geltungsgrund des MontaigneWortes schlicht die „allen Menschen gleiche Menschlichkeit“. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 71.
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autres. Ceux-cy laissent à leurs heritiers en commun, cette pleine possession de biens par indivis, sans autre titre, que celuy tout pur, que nature donne à ses creatures, les produisant au monde ».⁷⁶⁵). Ein Erbrecht gibt es also nicht.Vielmehr herrscht offenbar eine kommunistische Güterordnung. Der auf diese Weise praktisch nicht bestehende Rechtsanspruch bezieht sich nur auf das Lebensnotwendige, hat aber keinen Anspruchsgegner als die Natur selbst. Hier ist die Darstellung beinahe klischeehaft;⁷⁶⁶ man kann sie nur würdigen, wenn man bedenkt, was Hugo Friedrich den „Zustrom an menschenkundlichen Tatsachen (…) aus der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts“ und als „Horizonterweiterung der Europäer“ bezeichnet, und weiter: „Abgesehen von ihren empirischen Materialien, hat diese Literatur eine Reihe von Ideen angeregt (…), – die Relativierung politischer und ethischer Normen durch die Kunde von den Lebensordnungen fremder Völker“.⁷⁶⁷ Aber auch wenn man dies in Rechnung stellt und zudem berücksichtigt, dass der auf seinen ererbten Besitz so stolze Montaigne ohnehin kein glaubwürdiger Vertreter der Abschaffung des Erbrechts wäre, würde aus dem konservativen Aristokraten wohl schwerlich ein überzeugter oder auch nur überzeugender ‚Kommunist‘. Dass er den Rückfall der Güter an die Gemeinschaft für berichtenswert hält, könnte daher auch an einer für Montaigne ohnedies typischen unausgesprochenen Selbstbeobachtung und Anwendung der Regel auf die eigene Person liegen, um seine Weltanschauung im Spiegel fremdartiger Erfahrungen auf die Probe zu stellen, ohne sie deswegen notwendigerweise von Grund auf ändern zu müssen.
10. Zwischenbefund Die Kulturvergleichung ergibt für Montaigne zunächst: „Man kann, ohne zu lügen, sagen: das heiße ich doch recht wilde Menschen, in Vergleichung unsrer! Denn entweder sind diese es, von einem Ende zum andern, oder wir sinds selbst. Denn zwischen ihrer Bildung und der unsrigen ist eine himmelweite Kluft“⁷⁶⁸ (« De vray ils ne cessent jusques au dernier souspir, de les braver et deffier de parole et de contenance. Sans mentir, au prix de nous, voilà des hommmes bien sauvages: car
Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 217. Siehe auch Andreas Heyer, Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, 2009, S. 587: „Letztlich stellte Montaigne dem dekadenten Feudaladel seiner Zeit (und seinen Vorrechten, Vorurteilen etc.) das Ideal des bon sauvage gegenüber, der in Einklang mit der Natur und dadurch sittlicher und vollkommener lebe“. Vgl. Hugo Friedrich, Montaigne, S. 192. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 75 f.
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ou il faut qu’ils le soyent bien à bon escient, ou que nous le soyons: il y a une merveilleuse distance entre leur forme et la nostre ».⁷⁶⁹). Es ist bezeichnend für Montaigne, dass er immer auch die Alternative („oder wir sinds selbst“) in Betracht zieht; es ist dieselbe Skepsis der eigenen Person und Erkenntnisfähigkeit gegenüber, die ihn zu dem berühmten Selbstzweifel verleitet, dass er, wenn er mit seiner Katze spiele, nicht sicher ist, ob sie sich mit ihm die Zeit vertreibe (II 12).⁷⁷⁰ Montaigne beobachtet also möglichst – dass es niemals ganz gelingt, weil der Beobachter in den Erkenntnisvorgang einbezogen ist, weiß er – unvoreingenommen die Wirkungsweise realer und normativer Gegebenheiten. Letztere weisen in Gestalt von Gesetzen eine Besonderheit auf, weil sie auch auf Macht beruhen und Machtverhältnisse ordnen. Dies ist bei den fremden Völkern, die Montaigne beschreibt, nicht anders als in einer Nachbarschaft und zieht daher gleichartige erfahrungsmäßige Schlussfolgerungen nach sich: „Und zu den Zeiten, da die Portugiesen die Indianer plünderten, fanden sie Staaten mit dem allgemeinen und unverbrüchlichen Gesetze, dass kein Feind, der in Gegenwart des Königs oder seines Staathalters überwunden wird, weder durch Auswechslung noch aus Gnade das Leben erhalten solle. Also vor allen Dingen hüte sich, wer sich hüten kann, in die Hände eines Richters zu fallen, der sein Feind, siegreich und bewaffnet ist“⁷⁷¹ (« Et au quartier par où les Portugaiz escornerent les Indes, ils trouverent des estats avec cette loy universelle et inviolable, que tout ennemy vaincu par le Roy en presence, ou par son Lieutenant est hors de composition de rançon et de mercy. Ainsi sur tout il se faut garder qui peut, de tomber entre les mains d’un Juge ennemy, victorieux et armé ».⁷⁷²). Andere Länder mit anderen Sitten bringen andere Gesetze hervor, die sich unserer Vernunft nicht immer erschließen, auch wenn man den Geltungsgrund annäherungsweise erahnen kann; sie erlauben aber eine – hier auch im Wortsinne – vorsichtige anthropologische Folgerung, die vom Verhalten der im Gesetz vorausgesetzten Menschen in Gestalt der Herrschenden und Überwundenen auf menschliches Verhalten überhaupt schließt.
Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 219. Siehe in diesem Zusammenhang auch Markus Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, 2006, S. 43 ff. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, I 14, S. 72.
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§ 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz
III. Umgekehrte Rechtsanthropologie durch Fremdvergleich Die Pointe des Kannibalen-Essays liegt jedoch in einer anthropologischen Probe, die sich auf empirischer Basis für Montaigne ergeben hat, als er berichtet, dass drei Menschen des Volkes, das er beschreibt, nach Frankreich gelangt seien: „Drei ehrliche Menschen unter ihnen (welchen es wohl nicht ahnen mag, wie teuer eines Tages ihrer Ruhe und ihrer Glückseligkeit die Kenntnis unsrer verderbten Sitten zu stehen kommen und die Bekanntschaft mit uns ihren Untergang nach sich ziehen werde, wie ich leider voraussetze, dass das so weit nicht mehr hin sei), die unglücklich genug waren, sich ins Netz der Neugier verlocken zu lassen und der Anmut ihres Landes zu entsagen, um das unsre zu besehen, kamen zu der Zeit nach Rouen, als der König Karl IX. sich dort aufhielt“⁷⁷³ (« Trois d’entre eux, ignorans combien couterra un jour à leur repos, et à leur bon heur, la cognoissance des corruptions de deçà, et que de ce commerce naistra leur ruine, comme je presuppose qu’elle soit des-jà avancée (bien miserables de s’estre laissez pipper au desir de la nouvelleté, et avoir quitté la douceur de leur ciel, pour venir voir le nostre) furent à Rouan, du temps que le feu Roy Charles neufiesme y estoit ».⁷⁷⁴). Abermals wird der empirische Bericht durch Ort und Zeit belegt. Hier war sogar Montaigne selbst zur Stelle, so dass man eine erhöhte empirische Authentizität zugrunde legen kann: „Ich habe eine ganze Weile mit einem gesprochen; zum Unglück aber hatte ich einen Dolmetscher, der mich nur wenig verstand, und dessen Dummheit nicht imstande war, meine Gedanken zu fassen, so dass aus der Unterredung nicht viel herauskam“⁷⁷⁵ (« Je parlay à l’un d’eux fort long temps, mais j’avois un truchement qui me suivoit si mal, et qui estoit si empesché à recevoir mes imaginations par sa bestise, que je n’en peus tirer rien qui vaille ».⁷⁷⁶).
1. Unbefangenheit gegenüber den Rechtsverhältnissen Zuvor aber hatte es eine offenbar besser vermittelte Verständigung gegeben, die Montaigne folgendermaßen zusammenfasst: „Nachher befragte sie jemand, um zu wissen, was sie für das Merkwürdigste befunden hätten“⁷⁷⁷ (« Après cela, quelqu’un en demanda leur advis, et voulut sçavoir d’eux, ce qu’ils y avoient trouvé de
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 77. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 220. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 221. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 78.
III. Umgekehrte Rechtsanthropologie durch Fremdvergleich
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plus admirable ».⁷⁷⁸). Es ist zunächst aufschlussreich, dass Montaigne bezüglich der ursprünglich drei von den Fremden genannten Dinge sagt: „Zwei davon sind mir im Gedächtnis geblieben“⁷⁷⁹ (« Mais j’en ay encore deux en memoire ».⁷⁸⁰). Die beiden bemerkenswerten Dinge gründen nämlich auf rechtlichen Gegebenheiten. Offenbar ist die Besonderheit zwischen den Völkern Montaigne gerade dann erinnerlich, wenn es sich juristisch verorten lässt. Das dürfte weniger seiner juristischen Ausbildung als vielmehr seinem rechtsanthropologischen Ansatz geschuldet sein. Die Antwort der Fremden war jedenfalls verblüffend unverfroren: „Erstens, sagten sie, käme es ihnen sehr wunderbar vor, dass so viele große Männer, mit Haar auf dem Kinne, dabei stark und bewaffnet, die den König umgaben (wahrscheinlich meinten sie die Schweizer- oder Leibwache), sich dazu bequemten, einem Kinde zu gehorchen (sc.: Karl IX. wurde bereits mit zehn Jahren König), und dass man nicht lieber einen von ihnen wählte zum Befehlen“⁷⁸¹ (« Ils dirent qu’ils trouvoient en premier lieu fort estrange, que tant de grands hommes portans barbe, forts et armez, qui estoient autour du Roy (il est vray-semblable qu’ils parloient des Suisses de sa garde) se soubmissent à obeir à un enfant, et qu’on ne choisissoit plustost quelqu’un d’entre eux pour commander ».⁷⁸²). Schon diese Antwort dürfte Montaigne imponiert haben, weil sie veranschaulicht, welches Vorverständnis Rechts- und Herrschaftsverhältnisse voraussetzen, und wie wenig selbstverständlich sie sind, wenn man ganz einfache Parameter – hier in Gestalt einer Ethik der Tapferkeit – zugrunde legt. Die Embleme des Herrschers können den davon Unberührten, Unbefangenen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nur in der Vorstellung derer Gültigkeit haben, die daran glauben und davon abhängig sind. So abwegig ist die Bemerkung des Fremden nämlich mitnichten, sie erinnert in einer eigentümlichen Umkehrung der Rollen an den Ausruf des Kindes über des Kaisers neue Kleider. Der unverbrüchliche Glaube an das Gottesgnadentum eines minderjährigen Herrschers muss dem weitgereisten Beobachter sonderbar erscheinen. Durch diese aufschlussreiche Außensicht gewinnt Montaignes Skepsis gegenüber dem Recht neue Nahrung. Denn Recht ist etwas Unsichtbares; die Legitimität des Herrschers ist erst recht visuell nicht fassbar, sondern nur reflexiv durch das Verhalten der Untergebenen: Und trotz der äußerlichen Unsichtbarkeit für den unbefangenen Betrachter wirkt
Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 221. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 221. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 221.
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doch – in Anlehnung an eine überaus prägnante Formulierung – „die sichtbare Hand des Rechts“.⁷⁸³
2. Soziale Gerechtigkeit Noch interessanter ist die zweite Denkwürdigkeit aus Sicht des Fremden: „zweitens (sie haben in ihrer Sprache den Gebrauch, daß sie die Menschen Hälften des einen von dem andern nennen) hätten sie gemerkt, daß es bei uns Menschen gebe, welche Dinge im höchsten Überfluss hätten und dass ihre Hälften als arme, magre und verhungerte Geschöpfe vor ihren Türen bettelten und könnten sie nicht begreifen, warum diese so armen Hälften eine solche Ungerechtigkeit geduldig trügen und warum sie die andern nicht bei der Kehle fassten, oder ihre Häuser in Brand steckten!“⁷⁸⁴ (« Secondement (ils ont une façon de leur langage telle qu’ils nomment les hommes, moitié les uns des autres) qu’ils avoyent apperceu qu’il y avoit parmy nous des hommes pleins et gorgez de toutes sortes de commoditez, et que leurs moitiez estoient mendians à leurs portes, décharnez de faim et de pauvreté; et trouvoient estrange comme ces moitiez icy necessiteuses, pouvoient souffrir une telle injustice, qu’ils ne prinsent les autres à la gorge, ou missent le feu à leurs maisons ».⁷⁸⁵). Hier geht es zunächst um das, was Montaigne selbst für die ‚Hauptstütze‘ der Gerechtigkeit hält, nämlich die Gleichheit⁷⁸⁶ (« L’equalité est la premiere piece de l’equité ».⁷⁸⁷). Wo die Ungleichheit zu groß ist, werden Revolutionen möglich, wie die Konsequenz lehrt, welche die Fremden aus der ungleichen Güterverteilung zu ziehen geneigt wären. Es geht konkreter um soziale Gerechtigkeit, weil die eklatante Ungleichheit die Schlechtergestellten essentiell trifft; sie sind aus Sicht der Fremden ausgemergelt und erkennbar bedürftig. Montaigne unterzieht damit die bestehenden Verhältnisse durch die Außensicht der unbefangenen Fremden,⁷⁸⁸ welche den Grund und Ursprung der sozialen
Bahnbrechend zum Verhältnis von Rechtsordnung und Wirtschaftssystem Ernst-Joachim Mestmäcker, Die sichtbare Hand des Rechts, 1978, S. 139. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 2, S. 78. Michel de Montaigne, Les Essais, I 30, S. 221. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 122. Michel de Montaigne, Les Essais, I 19, S. 95. Wichtig Ernst-Joachim Mestmäcker, Selbstliebe und soziale Gerechtigkeit bei Adam Smith, Festschrift für Konrad Duden, 1977, S. 319. Es ist gleichsam eine rudimentäre Form des unparteiischen Beobachters (impartial spectator), wie ihn später Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, 1759, formulieren wird, allerdings ohne jedes geschichtliches Vorwissen; dazu auch Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2012.
III. Umgekehrte Rechtsanthropologie durch Fremdvergleich
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Schieflage nicht kennen, einer Probe, ohne zu naturrechtlichen Begründungen Zuflucht nehmen zu müssen.
3. Montaignes Befund aus Sicht der Rechtsanthropologie Neueste anthropologische Forschungen haben indes gezeigt, dass Montaignes idealisierende und mitunter den Klischees seiner Zeit verpflichtete Schilderung nicht stichhaltig ist, weil die Realität bei den amerikanischen Ureinwohnern anders aussah, wie empirische Feldstudien der Völker am Amazonas ergeben haben.⁷⁸⁹ Demnach herrschten dort rohe Gewalt und raueste Sitten; heimtückische Morde im Umgang mit den unter Vorwänden empfangenen Angehörigen verfeindeter Stämme waren an der Tagesordnung, von edler Kriegsführung konnte keine Rede sein. Die vorgebliche Harmonie eines dem Naturzustand nahekommenden Idylls ist demnach eine noch größere Illusion, als Montaigne ein universelles Naturrecht dünkt. Das von Montaigne im Einklang mit der Reiseliteratur seiner Zeit gezeichnete Bild des „bon sauvage“ ist demnach kontrafaktisch. Auch in anderer Hinsicht zeitigte die zitierte Studie Überraschendes: Der Erlass von Gesetzen und die Verbreitung des Christentums haben die Gewalt zufolge nachhaltig eingedämmt. Obwohl der empirisch belegte Befund scheinbar allem zuwiderläuft, hätte Montaigne ihn wohl kaum als Widerlegung aufgefasst. Interessanterweise ergab sich nämlich zugleich, dass Rache in der Tat das vorherrschende Motiv blutig ausgetragener Konflikte war. In einem höheren Sinne hätte Montaigne die neugewonnenen Ergebnisse vielleicht sogar als Bestätigung begriffen: Einmal mehr zeigt sich, wie unsere scheinbar gesicherten Annahmen auf Vorurteilen gründen. Folgerungen können auch und gerade dadurch einleuchten, dass sie kontraintuitiv sind – die vermeintlichen Barbaren sind dem zeitgenössischen Bericht zufolge edel und rechtschaffen – und gerade deswegen originell erscheinen (wie das im Übrigen bei wissenschaftlichen Theorien nicht selten begegnet, die auf kontraintuitiven Annahmen gründen). Später ergibt sich, dass die betreffenden Volksgruppen von Natur aus doch weniger friedliebend sind, so dass das ursprünglich dumpfe Vorurteil gleichsam wiederauflebt und nun sogar das Siegel des empirisch Belegten trägt – für Montaignes Denken eher ein Zeichen dafür, wie
Robert Walker/Drew H. Bailey, Body counts in Iowland South American violence, Evolution and Human Behaviour, 2012, ; dort wurden 44 Gesellschaften aus dem Gebiet des Amazonas beobachtet, die insgesamt 238 Konflikte ausfochten, aus denen 1145 Todesopfer hervorgingen.
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sehr die Dinge im Fluss sind und wie wenig verlässlich der menschliche Geist urteilt.
IV. Von der Rechtsphilosophie zur Rechtsanthropologie Montaignes scheinbar beziehungslose Art der Darstellung, die vorderhand nur aneinanderzureihen scheint, was ihm gerade in den Sinn kommt, ist, wie schon mehrfach gesehen, gerade in den Übergängen dort aufschlussreich, wo in Wahrheit eine neue Einsicht auf der Grundlage des zuletzt Bemerkten formuliert wird.
1. Relativität des Rechts in Abhängigkeit der Machtverhältnisse Selbst wenn es nämlich wirklich so gewesen sein sollte, dass Montaigne mitunter sprunghaft vom Einen zum Anderen überging, wofür die häufig fernliegenden Überschriften der einzelnen Essais sprechen, gelang es ihm häufig gerade dadurch, einen originellen Zusammenhang herzustellen, der in der Kombination zweier Gesichtspunkte einen ganz neuen Bereich eröffnete.⁷⁹⁰ Einen solchen Übergang kann man im Hinblick auf die Gesetzgebung und das Recht in einer disziplinprägenden Weise feststellen, wenn er von der zunächst nur berichtenden Darstellung rechtsphilosophischer Standpunkte zu einer kulturgeschichtlichen und Kulturen vergleichenden Beobachtung gelangt:⁷⁹¹ „Protagoras und Aristo gaben der Gerechtigkeit der Gesetze keine andere Wesenheit als die Machtvollkommenheit und Wirkung des Gesetzgebers und sagten diese beiseite gesetzt, verlören das Gute und das Gerechte ihre Eigenschaft und wären bloß eitle Namen von gleichgültigen Dingen; da Symmachus, beim Plato, meint, es gäbe kein anderes Recht als den Vorteil des Herrschers“⁷⁹² (« Protagoras et Ariston ne donnoyent autre essence à la justice des loix, que l‘authorité et opinion de legislateur: et que cela mis à part, le bon et l’honneste perdoyent leurs qualitez, et demeuroyent des noms vains, de choses indifferentes. Thrasymachus en Platon estime
Treffend Karsten Schmidt, Heute: Über Bücher, JuS-Aktuell 8/2013, S. 27: „Der Leser schmunzelt, wird sogleich wieder ernst, schwankt zwischen enger Vertrautheit und distanziertem Befremden und blinzelt in eine hell erleuchtete geistige Sommerwelt“. Allgemein dazu in philosophischer Hinsicht Paul Schwabe, Montaigne als philosophischer Charakter. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Renaissance, 1899. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 42.
IV. Von der Rechtsphilosophie zur Rechtsanthropologie
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qu’il n’y a point d’autre droit que la commondité du superieur ».⁷⁹³). Dieses zunächst noch unverbindliche rechtsphilosophische Referat lässt nicht erkennen, welchen Standpunkt Montaigne selbst einnimmt. Gewiss kommt darin ein durchaus realpolitischer Zug zum Vorschein, der nach alter Anschauung Recht und Macht identifiziert. Auch enthüllt sich darin eine Relativität des Rechts in Abhängigkeit der Machtverhältnisse. Einerseits scheint es also so, als belege hier Montaigne nur das zuvor Bedachte mit Nachweisen antiker Autoren. Aber auch dann würde dieser vergleichsweise banale Absatz deplatziert zwischen zwei fundamental eigenen Einschätzungen Montaignes stehen.
2. Rudimentäre Form der Rechtsanthropologie In einen übergreifenden Sinn- und Sachzusammenhang lässt sich dies jedoch stellen, wenn man das Nachfolgende berücksichtigt, im Rahmen dessen nicht mehr personell argumentiert wird, sondern territorial und ubiquitär. Hier ist Montaigne in seinem Element, weil er die unterschiedlichen Sitten und Gesetze in ihrer Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit skizzieren kann, wobei ihm die kuriosesten stets die liebsten sind: „Über nichts sind die Meinungen der Welt so verschieden als über das Herkommen und die Gesetze. Hier ist eine Sache abscheulich, welche an einem andern Orte sehr löblich ist: wie zum Beispiel bei den Lazedämoniern die Behendigkeit im Stehlen. Die Heiraten unter nahen Blutsverwandten sind bei uns streng verboten, anderwärts stehen sie in großen Ehren (…) Kindermord, Vatermord, Gemeinschaft der Weiber, diebischer Handel, Zügellosigkeit in allen Arten von Wollust: kurz, nichts ist so ausschweifend, welches nicht bei irgendeiner Nation Brauch und Sitte sei“⁷⁹⁴ (« Il n’est chose, en quoy le monde soit si divers qu’en coustumes et loix. Telle chose est icy abominable, qui apporte recommandation ailleurs: comme en Lacedemone la subtilité de desrober. Les mariages entre les proches sont capitalement defendus entre nous, ils sont ailleurs en honneur (…) le meurtre des enfans, meurtre des peres, communication de femmes, trafique de voleries, licence à toutes sortes de voluptez: il n’est rien en somme si extreme, qui ne se trouve receu par l’usage de quelque nation ».⁷⁹⁵). Man kann in dieser beliebigen Auffassung eine rudimentäre Form der Rechtsanthropologie erblicken. In diesem Sinne wurde bereits weiter oben im Abschnitt über den sogenannten Kannibalen-Essay (I 30) dargestellt, dass sich
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 616. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 4, S. 42 f. Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 616.
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dort eine ansatzweise rechtsanthropologische Betrachtung findet. Natürlich hat Montaigne selbst noch nicht rechtsanthropologisch gearbeitet. Dafür wäre Feldforschung in Gestalt eines empirischen Beobachtens der Rechtswirklichkeit unerlässlich.⁷⁹⁶ Jedoch wurde ebenfalls schon weiter oben im Kannibalen-Essay dargestellt, dass sich dort sogar eine Art mittelbarer Feldforschung findet, weil seine diesbezüglichen Ausführungen auf den Beobachtungen eines unmittelbaren Zeitzeugen gründen. Montaigne bezog seine diesbezüglichen Kenntnisse nur aus historischen Quellen, sein Forschungsobjekt fiel mit dem Forschungssubjekt zusammen; es war der Mensch Montaigne, von dem er sich rühmte, dass er ihn am besten kenne, über ihn am meisten wisse.⁷⁹⁷ Aber auch die Rechtsanthropologie nimmt ihren Ausgangspunkt – insoweit ähnlich wie die Psychologie und im Unterschied zur Rechtssoziologie – beim einzelnen Menschen;⁷⁹⁸ und nicht anders verfährt Montaigne, der im einzelnen Menschen die gesamte condition humaine vereinigt weiß und sich doch über die reine Selbstbeobachtung hinaus durch intensive Kulturvergleichung, soweit sie ihm zugänglich ist, darüber vergewissert, wie andere Völker in ihrer Gesamtheit, aber eben auch als Individuen das Recht sehen.
V. Historische Völkervergleichung und ökonomische Auswirkungen Montaignes Blick auf die historische Rechts- und Völkervergleichung macht jedoch nicht halt vor dem rechtsanthropologischen Befund, sondern spürt in den antiken Quellen der Frage nach, welche praktischen und – wir würden heute sagen rechtsökonomischen⁷⁹⁹ – Auswirkungen das Verhalten hat.
Wolfgang Fikentscher, Rechtsanthropologie, Jura 1998, 182, 184: „Niemals beruhen (sc.: rechtsanthropologische) Forschungen (…) auf Spekulation oder ‚stimmiger‘ philosophischer Überlegung. Basis der Anthropologie ist immer die Feldforschung, die empirische Beobachtung der Wirklichkeit“. Bündig Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, 4. Auflage 2002, S. 157: „Der Inhalt des Diskurses von Michel de Montaigne ist nun aber Michel de Montaigne“. Wolfgang Fikentscher, Rechtsanthropologie, Jura 1998, 182, 184. Allgemein schon Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 273: „Die Unabhängigkeit des Ichs, auf die der Skeptiker sich zurückzieht, gründet in der Freiheit des Individuums, die jedes ökonomische Subjekt in einer Warenwirtschaft genießt“.
V. Historische Völkervergleichung und ökonomische Auswirkungen
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1. Eigeninteresse als beherrschendes Prinzip des Handels Bereits im ersten Buch findet sich ein Anklang: „Demades, der Athenienser, verurteilte einen Bürger seiner Stadt, der ein Geschäft damit betrieb, die zu Begräbnissen erforderlichen Sachen feil zu haben, aus dem Grunde, weil er zu großen Gewinn forderte und weil er diesen Gewinn nicht anders als durch den Tod vieler machen könne. Dies Urteil scheint übel geschöpft zu sein, umso mehr, da sich kein Gewinn als mit Verlust anderer denken lässt. Und man auf diese Weise allen Gewinn verdammen müsste“⁸⁰⁰ (« Demades Athenien condemna un homme de sa ville, qui faisoit mestier de vendre les choses necessaires aux enterremens, soubs tiltre de ce qu’il en demandoit trop de profit, et que ce profit ne luy pouvoit venir sans la mort de beaucoup de gens. Ce jugement semble estre mal pris; d’autant qu’il ne se faict aucun profit qu’au dommage d’autruy, et qu’à ce compte il faudroit condamner toute sorte de guain ».⁸⁰¹). Es ist eine bemerkenswerte Aussage über die für das Zivilrecht typische iustitia commutativa. Dass der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen ist, entspricht denn auch der zivilistischen Grundeinsicht, dass das Zivilrecht nichts zu verschenken hat, und dass das, was dem Einen gegeben, dem Anderen notwendigerweise genommen wird. ⁸⁰² Montaigne bekennt sich, wenn auch in einer eher rudimentären Form, zur Marktwirtschaft, die den Handel nicht um seiner selbst willen pönalisiert, indem sie von den ökonomischen Auswirkungen auf die Verwerflichkeit der Gesinnung des Gewerbetreibenden schließt: „Der Modehändler bereichert sich nicht sicherer als auf Kosten junger Narren und Affen; der Bauer benutzt die Jahre des Misswachses; der Baumeister gewinnt, wenn viele Häuser einstürzen; die Räte und Advokaten gewinnen bei dem Zanken und Streiten der Bürger und Bauern; die Ehre und der Vorteil der Diener der Religion selbst entspringt ihnen aus unserem Sterben und unseren Sünden. Kein Arzt freut sich über das Wohlbefinden selbst seiner Freunde“⁸⁰³ (« Le marchand ne faict bien ses affaires, qu’à la débauche de la jeunesse: le laboureur à la cherté des bleds: l’architecte à la ruine des maisons: les officiers de la justice aux procez et querelles des hommes: l’honneur mesme et pratique des Ministres de la religion se tire de nostre mort et de noz vices. Nul medecin ne prent plaisir à la santé de ses amis mesmes ».⁸⁰⁴). Montaigne hat das Eigeninteresse als treibende Kraft der Handelsgesellschaft beiläufig schon weit vor
Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 147. Michel de Montaigne, Les Essais, I 21, S. 110. Grundlegend Dieter Medicus, Verhältnismäßigkeit im Zivilrecht, AcP 192 (1992), 57. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 147. Michel de Montaigne, Les Essais, I 21, S. 110.
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anderen erkannt, die damit berühmt werden sollten.⁸⁰⁵ Die Vielfalt seiner eindrücklichen Beispiele zeigt, dass er das Zusammenwirken aller möglichen Erwerbszweige im Blick hatte. Allerdings interessierte ihn weniger das spezifisch Ökonomische als vielmehr das Allzumenschliche, so dass seine Überlegungen in eine anthropologische Grundeinsicht münden: „Und, was noch ärger ist, ein jeder fühle in seinem Busen, so wird er finden, dass unsere inneren Wünsche größtenteils auf Kosten anderer entstehen und wachsen“⁸⁰⁶ (« Et qui pis est, que chacun se sonde au dedans, il trouvera que nos souhaites interieurs pour la plus part naissant et se nourrissent aux despens d’autruy ».⁸⁰⁷).
2. Werturteilsfreie Betrachtung des rechtshistorischen Befundes Noch aussagekräftiger ist ein weiteres Beispiel, das ein Verhalten betrifft, welches von den einen für strafwürdig gehalten, von den anderen als Ausweis an Tüchtigkeit erachtet wird. Ausgehend von der spartanischen Sitte, wonach die Geschicklichkeit des Diebes von seinen Mitbürgern nicht verachtet wurde, sondern Bewunderung erheischte, geht Montaigne der Frage nach, worauf das unterbleibende Unwerturteil zurückzuführen sei: „Lykurgus zog beim Stehlen die Lebhaftigkeit, Behendigkeit, Dreistigkeit und Geschicklichkeit, die erfordert werden, seinem Nächsten etwas zu entwenden, in Erwägung und den Nutzen, welcher dem gemeinen Wesen daraus erwachsen müsse, wenn jedermann sorgfältig auf die Erhaltung dessen bedacht sein müsste, was sein gehört: und hielt dafür, diese doppelte Vorschrift des Angriffs und der Verteidigung würde der militärischen Disziplin (welches die hauptsächlichste Wissenschaft und Tugend war, zu welcher diese Nation hinleiten wollte) zu großem Nutzen gereichen, welcher wichtiger wäre als die Unordnung und die Ungerechtigkeit, die darin liegt, sich des Eigentums eines andern zu bemächtigen“⁸⁰⁸ (« Lycurgus considera au larrecin, la vivacité, diligence, hardiesse, et adresse, qu’il y a à surprendre quelque chose de son voisin, et l’utilité qui revient au public, que chacun en regarde plus curieusement à la conservation de ce qui est sien: et estima que de ceste double institution, à assaillir et à defendre, il s’en tiroit du fruit à la discipline militaire (qui estoit la principale science et vertu, à quoy il vouloit duire ceste nation) de plus
Vgl. nur Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2011, passim. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 147. Michel de Montaigne, Les Essais, I 21, S. 110. Übersetzung J.J. Bode, Bd. 1, S. 44.
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grande consideration, que n’estoit le desordre et l’injustice de se prevaloir de la chose d’autruy ».⁸⁰⁹).
a) Kriminelles Handeln zugunsten der Allgemeinheit? Die diebische Gesinnung, das klandestine Verhalten, die Kunstfertigkeit bei der Ausführung des Delikts und die vorausschauende Planung werden also nicht als Ausweis krimineller Energie gedeutet, sondern als Übung im Kleinen für eine gemeinsame größere Sache begriffen.⁸¹⁰ Abermals begegnet der paradoxale Grundgedanke, dass aus etwas Unrechtem Gedeihliches für das Gemeinwesen hervorgehen kann. Hugo Friedrich hat wiederholt von der Lieblingsparadoxie Montaignes gesprochen, wonach sich ein an sich unwertes Verhalten zu einem für das gesellschaftliche Wohlergehen förderlichen Zustand umdeuten und als solches erklären lässt.⁸¹¹ Der Unrechtsgehalt der Tat wird dadurch aufgehoben, dass das Delikt in seiner konkreten Form der Begehung – und je arglistiger eingefädelt, desto besser – geeignet ist, die kollektive Wachsamkeit zu erhöhen. Indem sich das Opfer nicht auf die Rechtsordnung verlassen kann, wird es selbst zur Wachsamkeit und Wehrbereitschaft erzogen. Die Individuen ein- und desselben Rechtswesens stehen sich innerhalb dessen in einer Art Mikrokosmos gleichsam als Gegner eines Übungswettkampfes gegenüber. Es ist klar, dass dieses Modell nur bei vergleichsweise geringfügigen Vermögensdelikten funktionieren kann, während es bei Tötungsdelikten – wiederum ganz unabhängig von seinem Unwert- und Unrechtsgehalt – gänzlich ungeeignet wäre, weil es die Wehrfähigkeit von innen her aufreiben und zu bürgerkriegsartigen Zuständen führen würde, die für Montaigne ohnehin das größte Übel darstellen. Montaigne beurteilt den rechtshistorischen Befund zunächst werturteilsfrei, unvoreingenommen, neugierig und offen für gesellschaftliche Entwicklungen, die sich als Folge rechtlicher und moralischer Anschauungen ergeben.
b) Rechts- und verhaltensökonomische Ansätze Die Faszination, welche die spartanische Praxis auf Montaigne offenbar ausübt, obwohl er sie nicht eigens kommentiert, resultiert wohl daher, dass sich darin
Michel de Montaigne, Les Essais, II 12, S. 617. An dieser Stelle bewahrheitet sich eine in anderem Zusammenhang geäußerte Einsicht von Hugo Friedrich, Montaigne, S. 185 f.: „Auch im Staat wiederholt sich die Grundparadoxie, dass die ‚Gesundheit‘ eines Gebildes nicht trotz, sondern kraft der ‚Krankheit‘ alles Lebendigen möglich ist“. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 180 f.
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etwas spiegelt, was als eine eigentümliche rechts- und verhaltenssoziologische Besonderheit von Montaignes Denken gelten kann. So liegt es, jedenfalls wenn man die Wehrfähigkeit des Gemeinwesens im Sinne des spartanischen Beispiels als obersten Gemeinschaftszweck voraussetzt, auch hier. Es kommt allerdings, wenn auch mit dem soeben Gesagten zusammenhängend, noch ein Weiteres hinzu, das für Montaignes Rechtsdenken nicht minder bezeichnend ist.⁸¹² Seine Art der Darstellung und Wiedergabe des antiken Beispiels legt nämlich auch eine ansatzweise rechtsökonomische Deutung nahe. Diese beruht im Kern auf einem utilitaristischen Argument, wenn man auch insoweit die Erhaltung der kollektiven Wehrfähigkeit im Sinne des Beispiels als größtmöglichen Nutzen definiert. Allerdings stellt sich Montaigne den Menschen offenbar nicht als homo oeconomicus vor, der streng rational nach Nützlichkeitserwägungen erwirtschaftet und verbraucht, sondern eher – wie auch das Beispiel Spartas nahelegt – als Individuum, das auch auf Verhaltensanreize reagiert, wenn auch, wie Montaigne am eigenen Leib erfahren hat, nach ganz individuellen Maßstäben. Jedenfalls ist die dem Nutzenkalkül verpflichtete und damit vergleichsweise eindimensionale Vorstellung des homo oeconomicus nichts, was Montaignes vielschichtigem Menschenbild gerecht würde. Man gelangt so zu einer relativ rudimentären Form der Verhaltensökonomie, da der Einzelne sein Verhalten der permanenten Bedrohung durch diebische Mitbürger in Kenntnis der Abwesenheit staatlicher Überwachung und Strafverfolgung anpassen wird. Die Aggressoren wiederum werden sich ökonomisch gehalten sehen, ihr Vorgehen zu optimieren, um weitere Erwerbsquellen zu erschließen. Es ist, wie gesagt, eine recht primitive Form der behavioral economics, doch kann der Prozess unter Effizienzgesichtspunkten durchaus so beschrieben werden.⁸¹³
Daher sollte man auch das Folgende nicht ohne Weiteres auf ihn beziehen, was sich in verallgemeinernder Form findet bei Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, Gesammelte Schriften (Hg. Alfred Schmidt), Band 4, 1988, S. 274: „Die Skepsis ist bereit, die Freiheit jedes Individuums zu respektieren – sofern es sie nicht durch die Wirksamkeit der ökonomischen Gesetze und politischen Konsequenzen verliert. Durch diesen Widerspruch trägt die moderne skeptische Gesinnung mitsamt ihrer Liberalität, ihrem Subjektivismus und Relativismus einen harten, menschenfeindlichen Zug; sie ist nicht so gerecht und aufgeschlossen, wie es bisweilen aussieht“. Zu ähnlichen Gedanken, die sich später bei Adam Smith finden und dafür gesorgt haben, dass er als einer der Begründer dieser Lehre galt, näher Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2012.
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3. Folgerung Beiläufig betrachtet, begegnet hier auch der später von Bernhard Mandeville ausformulierte Gedanke, dass private Laster sich im öffentlichen Wohlstand niederschlagen können (private vices-public benefits), die dieser in seiner berühmten Bienenfabel dargestellt hat.⁸¹⁴ Zugleich veranschaulicht das Beispiel aber auch eine fundamentale Schwäche jeglicher ökonomischen Analyse des Rechts, die seit jeher darin besteht, dass sie sich unter dem Eindruck überwältigender Effizienzargumente der rechts- und moralphilosophischen Beurteilung immer noch weitgehend entzieht.⁸¹⁵ Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es zu konstatieren, dass Montaigne im Wege der historischen Rechts- und Völkervergleichung nicht nur eine frühe Form rechtsanthropologischer Studien auf der Grundlage antiker Quellen vornimmt, sondern daraus auch noch einen ökonomischen Zusammenhang erschließt, deren besondere Verbindung unter Beweis stellt, dass Montaignes allgegenwärtiger Zweifel – ganz im Sinne des von Hugo Friedrich Herausgearbeiteten⁸¹⁶ – auch im Hinblick auf das Recht nicht zersetzender Art ist, sondern ganz neue Zusammenhänge eröffnet.
Bernhard Mandeville, The Fable of The Bees: or, Private Vices Public Benefits (1705, als Buch 1714). Grundlegend dazu Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 3. Auflage 2009; sowie vor allem Ernst-Joachim Mestmäcker, A Legal Theory without Law. Posner v. Hayek on Economic Analysis of Law, 2007. Hugo Friedrich, Montaigne, 3. Auflage, S. 182 ff.
§ 7 Erschließung der Grundlagen des Rechts Montaignes Skepsis bezog sich auch und gerade auf Recht und Gerechtigkeit. Da er das Recht nur beispielhaft behandelte, hat er auch die Gerechtigkeit wie kaum ein bedeutender Denker vor ihm in einen Zusammenhang mit der für ihn alles entscheidenden Frage, was der Mensch sei, gestellt. So erweist sich sein skeptischer Blick auf das Recht als Paradigma neuzeitlichen Rechtsdenkens, für das er einen unhintergehbaren Maßstab setzte. Anders als die großen Systematiker machte sein Zweifel aber auch vor der Vernunft nicht Halt, so dass ein aufgeklärtes Vernunftrecht für ihn keine Alternative bedeutete, weil es der condition humaine nicht gerecht würde und die Vernunft keine hinreichende Sicherheit verhieße. Sein Zweifel ist jedoch, wie Hugo Friedrich herausgearbeitet hat, nicht zersetzender, sondern erschließender Art. Was aber bedeutet das für die Jurisprudenz? Die Skepsis hat seine Vorstellung von einem universellen Naturrecht erschüttert und ihm stattdessen den Blick auf die Rechtstatsachen und die auch für die Jurisprudenz beachtliche Anthropologie eröffnet. Montaigne hat auch im Hinblick auf das Recht keinen zerstörerischen Skeptizismus vertreten, sondern sich eine im Wortsinne gesunde Skepsis gegenüber der Jurisprudenz bewahrt, die den Blick auf die gesellschaftlichen und anthropologischen Bedingungen des Rechts öffnet. Er urteilt den Gesetzen gegenüber gleichermaßen skeptisch wie den Menschen und auch dort letztlich nur gegenüber sich selbst. Wenn er von sich auf andere schließt, kommen ihm unweigerlich Zweifel bezüglich der Verwirklichung umfassender Gerechtigkeit, unter der jeder etwas anderes versteht und keiner seinen angestammten Vorteil einbüßen will. Wenn Montaigne seine Vorstellung von der Gerechtigkeit verallgemeinert, vergrößert sich die Skepsis und verbreitert sich im Hinblick auf das ganze Rechtswesen, dessen Auswüchse er aus Erfahrung kennt. Montaignes Skepsis gegenüber den Gesetzen ist letztlich der konstruktive Selbstzweifel dessen, der an sich und durch sich die menschlichen Abgründe erfahren hat und im Vertrauen auf die Einhaltung althergebrachter Gesetze paradoxerweise an deren Überwindung glaubt, obwohl er weiß, dass auch diese althergebrachten Gesetze letztlich nur eitles Menschenwerk sind. Je länger sie in Geltung stehen, desto mehr Erfahrungswissen verkörpern sie und als desto resistenter haben sie sich gegen die allgegenwärtigen Ungerechtigkeiten erwiesen. Immerhin versprechen sie aber mehr Verlässlichkeit und vor allem Ordnung als die hektische Ad-hoc-Gesetzgebung seiner unruhigen Zeit, die nur Unordnung und schlimmstenfalls Bürgerkrieg verheißt. Da ihm aber eine von allen Bezügen zum Menschlichen losgelöste Gerechtigkeit unbegreiflich ist, vertraut er der bestehenden Ordnung. Überhaupt interessiert ihn an der Rechtsordnung eher die sichere Ordnung als das ungewisse
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Recht. Die mystische Kraft der Autorität des Gesetzes ist ihm ein Regulativ, an das er nur unter einer, freilich stark einschränkenden Bedingung glauben kann: der stets unbeständigen, immer wankelmütigen und Gefährdungen aller Art ausgesetzten condition humaine. Aus dem umfassenden Zweifel Montaignes ist der Blick auf das hervorgegangen, was wir heute als die Grundlagen des Rechts ansehen: Neben der seinerzeit bereits bekannten Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte sind es neue Disziplinen, die wir mit unserem heutigen Verständnis als frühe Formen der Rechtssoziologie, der Rechtsanthropologie und der Rechtsökonomik bezeichnen können. Montaigne hat den Güteraustausch mit einem so umfassenden Verständnis für die widerstreitenden Interessen und einem unvergleichlichem psychologischen Gespür betrachtet, dass man bei ihm eine rudimentäre Rechtsökonomik erkennen kann: Er ahnte die Grenzen einer Sichtweise, die den Menschen nur als homo oeconomicus begreift, und nahm bereits verhaltensökonomische Ansätze vorweg. Vor allem aber bereitet sein allenthalben begegnender Grundgedanke, wonach mitunter aus schlechten Absichten oder übersteigerter Eitelkeit unversehens Gutes – sei es für die wirtschaftliche Tätigkeit oder die öffentliche Ordnung Förderliches – entstehen kann, Gesichtspunkte vor, die sich bis zu Pascal, Mandeville, Adam Smith, Hayek und Hirschman verfolgen lassen, auch wenn die genannten Denker Montaigne nur ausnahmsweise ausdrücklich berücksichtigen. Bei Montaigne findet man in nuce bereits das meiste von dem, was später Montesquieu zu einem der Begründer der Rechtssoziologie machen sollte: Montaigne hat die Zweifel, denen nicht nur das klassische Naturrecht, sondern auch ein Vernunftrecht ausgesetzt ist, in neuartiger und spezifisch neuzeitlicher Weise geäußert. An die Stelle eines durch die zersetzende Vernunft zunehmend wirkungslos gewordenen Naturrechts trat ein neuer Blick auf die Rechtstatsachen. Sein mit der Skepsis untrennbar verbundener Konservativismus und seine Anhänglichkeit gegenüber der religiösen und weltlichen Ordnung verhinderten zwar eine revolutionäre Absage an das Naturrecht, das ihm als Ausdruck seiner Anthropozentrik gerade im Hinblick auf die Geltung fundamentaler Menschenrechte unverzichtbar war. Nicht zuletzt durch die Entdeckung neuer Teile der Welt wurde jedoch die Vorstellung eines universellen Naturrechts für ihn immer zweifelhafter. Jede neue territoriale Entdeckung ließ Völker zum Vorschein kommen, denen Anderes heilig, deren Sitten andersartig und deren Recht die Universalität eines Naturrechts für Montaigne illusorisch machte. So erkennbar er den Verlust dieser ordnungsstiftenden Kraft des Naturrechts bedauerte, so neugierig blickte er in den damit eröffneten Horizont der anthropologischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten des Rechts, den das Vertrauen auf das klassische Naturrecht ihm bis dato verstellt hatte. Die Unvoreingenommenheit der Angehörigen naturnaher,
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ursprünglicher Völker und ihre rechtlichen Gepflogenheiten sind ihm Ersatz für ein undefinierbares Naturrecht. Die Rechtsanthropologie nimmt also bei Montaigne die Funktion des verdrängten Naturrechts ein. Er hat die kulturabhängigen Divergenzen auf empirischer Grundlage betont und auf die unterschiedlichen Rechtsanschauungen angewandt. Er hat die raumzeitliche Relativität des Rechts erkannt wie vordem niemand, und er hat diesen ihm eigenen empirischen Relativismus in einer Weise auf das Recht bezogen, der völlig neue Erkenntnishorizonte eröffnete. Auch wenn er in der Abgeschiedenheit seines Turms denkbar weit von empirischer Feldforschung entfernt war, hat er die verfügbaren Quellen intensiv kulturvergleichend ausgewertet und damit nicht nur eine rechtsvergleichende Perspektive, sondern einen spezifisch anthropologischen Standpunkt eingenommen, weil letztlich der einzelne Mensch sein Maßstab war; empirisch gesehen der Mensch Montaigne, doch wie alle anderen verstrickt in die condition humaine und in dieser Gestalt repräsentativ für die Menschheit. Indem Montaigne die Jurisprudenz von Grund auf anzweifelte und nichts weniger suchte, hat er zugleich die Grundlagen des Rechts von neuem erschlossen.
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Personenregister Die kursiv gedruckten Zahlen verweisen auf den Text, die normal gedruckten auf Fußnoten. Adelmann, Jeremy 137 Ancekewicz, Elaine M. 118 Aristo 196 Attali, Jacques 4 Auerbach, Erich 7 f., 23 Baer, Susanne 81 Bailey, Drew H. 195 Baum, Karl Berthold 28 Benda-Beckmann, Franz und Keebet von 181 Bischof, Sascha 78 Biser, Eugen 2 f. Bitterli, Urs 185 Blumenberg, Hans 13 Bomer, John M. 71, 110 Borst, Arno 31, 115 Brandt-Janczyk, Ursula 126 Braun, Johann 116 Brimo, Albert 3 Brown, Frieda S. 20, 22 Brugger, Winfried 103 Brunschvicg, Léon 3 f., 33, 96, 131 Canaris, Claus-Wilhelm 79, 133, 153 f. Cassirer, Ernst 9 f. Celestin, Roger 173 Cicero, Marcus Tullius 87 f., 94, 115, 118, 164 Clark, David S. 13, 175 Cons, Louis 7 Costadura, Edoardo 177 Cremona, Isida 45 Croquette, Bernard 4 Delacroix, Sylvie 94 Derrida, Jacques 77 ff. Desan, Philippe 30 Descartes, René 13, 14, 33, 96, 98, 131, 142, 169 Diekmann, Andreas 28
Dow, Neal 179 Dreier, Horst 11 Durkheim, Émile 128 Dworkin, Ronald 129, 153 Eidenmüller, Horst 156 Elias, Norbert 177 Emerson, Ralph Waldo 7 Epiktet 64 f. Epikur 3, 120, 122 f. Erasmus von Rotterdam 94 Fikentscher, Wolfgang 10, 13, 162, 175, 198 Fischer, Christian 126 Fish, Stanley 80 Flasch, Kurt 1, 4 Fontana, Biancamaria 18, 149, 178 Fränkel, Rudolf 176 Friedrich, Hugo 2 f., 4, 5, 11, 14, 17, 19, 25, 34, 46 f., 49 f., 54 f., 57, 66 ff., 74, 76, 80 f., 86, 87, 89, 96, 104, 117 ff., 137, 150, 151 f., 153, 159, 161, 162, 164, 167, 170 f., 173, 177, 183 f., 187 f., 190, 201, 203 f. Fumaroli, Marc 122, 132 Ginzburg, Carlo 173 Gockel, Heinz 4 Goethe, Johann Wolfgang von 3 Goldstein, Jürgen 142 Green, Felicity 94 Greverus, Ina-Maria 162 Groethuysen, Bernhard 1, 172 Handler, Richard 173 Harris, Marvin 162 Hayek, Friedrich August von 18, 33, 50, 94, 136, 187, 205 Hebeisen, Michael Walter 38 Heidegger, Martin 161 Heisenberg, Werner 133
Personenregister
Heitsch, Dorothea B. 118 Hermann, Armin 140 Hermann, Grete 133 Hesiod 101, 104 Hess, Gerhard 3, 86 Heyer, Andreas 128, 190 Hirschman, Albert O. 23, 136, 137 f., 205 Hobbes, Thomas 11, 19, 122 Hösle, Vittorio 2, 100 Hofmann, Hasso 16 Holdenried, Michaela 174 Horkheimer, Max 1, 20, 38, 48, 51 f., 60, 74, 82, 85, 91, 113, 116, 123, 124, 131 f., 147, 150, 168, 198, 202 Horowitz, Maryanne Cline 103, 162, 173, 184 Horváth, Bama 127 Hubrecht, Georges 116 Huizinga, Johan 31 Jäger, Christian 43, 103 Jeanson, Francis 17, 19 f., 22, 38, 53, 75, 96 Johnson, Norris Brock 173, 175 Kant, Immanuel 27, 55, 64, 98, 131 ff. Kaube, Jürgen 64 Kaufmann, Arthur 11, 149 Keller, Abraham C. 30 f. Kirste, Stephan 76 f. Kölsch, Manfred 7 f., 14, 17, 27, 38, 40, 61, 64, 67, 71, 73, 81 f., 97, 119, 123, 127, 148, 156, 158, 160, 164 f., 167, 170, 176, 179 f., 189 Koselleck, Reinhart 118 Kuhn, Thomas S. 140 La Charité, Raymond 32 La Fontaine, Jean de 84, 122, 132, 170 Lampe, Ernst-Joachim 10 Landau, Peter 68 Larenz, Karl 159 Laursen, John Christian 133 Leenen, Detlef 67 Lieb, Manfred 24 Locke, John 11 Löwer, Wolfgang 159 Lorenz, Kuno 9
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Lüthy, Herbert 21 Luhmann, Niklas 154 Lycurg 179 f., 200 Maierhofer, Martina 142 Mandeville, Bernhard 46 f., 136, 187, 203, 205 Marschall, Wolfgang 13 Mathis, Klaus 203 Medicus, Dieter 199 Melehy, Hassan 131 Mestmäcker, Ernst-Joachim 194, 203 Montesquieu, Charles de Secondat de 8 ff., 21, 23, 27, 28, 30 f., 110 f., 127 f., 130, 137 f., 162 f., 169, 172, 175 ff., 180, 205 Moos, Peter von 118 Moser, Christian 142 Neis, Cordula 9 Neuner, Jörg 34 Newman, John Henry 101 Nietzsche, Friedrich 1 ff., 12, 52, 53 f., 72, 74 f., 81 f., 96, 100, 123, 129, 141, 146, 178, 187 Paley, William 18 Pascal, Blaise 3 ff., 13, 20, 29, 60, 76 ff., 138, 142, 146, 160, 164, 167, 169 ff., 205 Pattaro, Enrico 78 Perikles 94 Peters, Karl 126 Pfeiffer, Helmut 9, 51 Planck, Max 139 f. Plato 3, 42, 101, 104, 120, 122 f., 179 ff., 196 Plessner, Helmuth 10 Pospíšil, Leopold 9 f., 128, 162, 172 Prodi, Paolo 81, 148, 151 Protagoras 196 Radbruch, Gustav 72, 169 Raiser, Thomas 27 Ratzinger, Joseph 101 Richter, Raoul 116 Röhl, Klaus 180 Rottleuthner, Hubert 11, 126 f. Rousseau, Jean-Jacques 3, 11
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Personenregister
Schalk, Fritz 2, 8 Scheler, Max 11 Schiavone, Aldo 8 Schmarje, Susanne 31 Schmidt, Karsten 196 Schmitt, Carl 127 Schmoeckel, Mathias 16, 103 f. Schopenhauer, Arthur 3, 75, 99 f. Schwabe, Paul 196 Seibt, Gustav 31 Seneca, Lucius Annaeus 58, 165 Smith, Adam 46, 177, 187, 202, 205 Spiertz, Ruth 131 Spinoza, Baruch de 3, 11 Stark, Werner 11, 127 f., 169, 180 Starobinski, Jean 1, 34, 36, 63, 67, 82, 98, 129, 189, 198 Stierle, Karlheinz 1 ff., 11, 14, 16, 19, 25, 29, 42, 53, 61, 65, 71, 86, 96, 98, 118, 122, 131, 142, 179, 184 Stilett, Hans 7, 77, 155 Stirner, Max 32 Sunstein, Cass R. 145
Symmachus
196
Tacitus, Publius Cornelius Thaler, Richard H. 145 Thukydides 94 Tylor, Edward 13, 175 Vogenauer, Stefan
51, 65, 94
149
Walker, Robert 195 Wasmuth, Ewald 160 Weber, Max 182 Weilert, Anja Katharina 103 Weinacht, Paul-Ludwig 11 Weizsäcker, Carl Friedrich von Wieacker, Franz 127 Wild, Markus 191 Wittgenstein, Ludwig 80 Wolf, Erik 9, 14, Zeeb, Tanja 142 Zweig, Stefan 44, 174
133