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German Pages 303 [304] Year 2016
Thomas Würtz Islamische Theologie im 14. Jahrhundert
Welten des Islams – Worlds of Islam – Mondes de l’Islam
Herausgegeben von der Schweizerischen Asiengesellschaft – Société Suisse-Asie Editorial Board Bettina Dennerlein Anke von Kügelgen Silvia Naef Maurus Reinkowski Ulrich Rudolph
Band 7
Thomas Würtz
Islamische Theologie im 14. Jahrhundert
Auferstehungslehre, Handlungstheorie und Schöpfungsvorstellungen im Werk von Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī
Diese Arbeit wurde publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der GeistesDiese Arbeit wurde publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der und Sozialwissenschaften (SAGW). Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2014 auf Antrag von Prof. Dr. Ulrich Rudolph und Prof. Dr. Heidrun Eichner als Dissertation angenommen.
978-3-11-039958-5 ISBNISBN 978-3-11-044105-5 e-ISBN 978-3-11-039990-5 e-ISBN (PDF)(PDF) 978-3-11-044436-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040004-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043563-4 1661-6278 ISSNISSN 1660-9131 Library of Congress Cataloging-in-Publication Library of Congress Cataloging-in-Publication DataData CIP catalog record for this applied forthe at Library the Library of Congress. A CIPA catalog record for this bookbook has has beenbeen applied for at of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen der Deutschen Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der NationalNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindüber im Internet über bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet http://dnb.dnb.de abrufbar. http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Thomas Würtz Coverabbildung: Catherine und Erich Zbinden-Gassmann Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany Printed in Germany www.degruyter.com www.degruyter.com
Danksagung Diese Arbeit verdankt sich vielseitiger Unterstützung. In erster Linie möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Rudolph, für die kontinuierliche, geduldige und stets mit wertvoller Hilfe aufwartende Betreuung bei der Erschließung eines bisher wenig erforschten Gelehrten danken. Ebenso möchte ich Frau Prof. Dr. Heidrun Eichner (Tübingen) für die spontane Übernahme der Zweitbetreuung, die Hilfe bei der Vervollständigung von Taftāzānīs Referenzsystem und wichtige Hinweise zur Endredaktion danken. Die Thematik hat einen Besuch an der Azhar Universität in Kairo nahegelegt. Für die wertvolle Unterstützung vor Ort und die Möglichkeit zu erleben, wie heute mit Taftāzānīs Texten unterrichtet wird, danke ich Herrn Prof. Muhi ad-Din as-Safi, Herrn Dr. Al-Yamani und Aqid (Oberst) Imad. Hervorheben möchte ich auch Herrn Dr. Edward Badeen und seine Hilfe bei der Formulierung des Anschreibens, ohne welches der Weg zur Unterrichtsteilnahme wohl weit schwieriger gewesen wäre. Den materiellen Rahmen für das Zustandekommen dieser Arbeit haben die Promotionsförderung des Cusanuswerks und das Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie (IINOP) an der Universität Bern, hier vor allem Frau Prof. Dr. Anke von Kügelgen und Herr Prof. Dr. Reinhard Schulze gewährleistet. Ganz wesentlich war auch die großzügige Unterstützung meiner inzwischen verstorbenen Großmutter und meiner Mutter, die mir die Aufnahme des Promotionsstudiengangs in Zürich ermöglicht haben. Für das gründliche und umsichtige Lektorat des Manuskripts danke ich vor allem Zineb Benkhelifa aus Zürich. Wertvolle Hilfe in früheren Stadien der Arbeit verdanke ich zudem Marcus Burmeister, Monica Corrado, Heinrich Hartmann, Alexandra Hoffmann, Heike Ruhland, Manuel Uebersax, Nina Wagner und Florian Zemmin. Viele Anregungen und neue Perspektiven in den je verschiedenen Phasen bei der Recherche und beim Verfassen der Arbeit haben sich auch aus den Gesprächen mit Tobias Heinzelmann, Thomas Herzog, Roman Seidel, Henning Sievert und Johannes Stephan ergeben. Auch Ihnen möchte an dieser Stelle herzlich danken. Zur Fertigstellung gehört oft auch ein passender Rahmen. In meinem Fall war es die Ruhe und Abgeschiedenheit des niederösterreichischen Waldviertels. Gudrun Waller sei daher für die Überlassung ihres Ferienhauses in Litschau herzlich gedankt. Meinen Eltern und allen, die an das Projekt geglaubt haben, danke ich für ihr Vertrauen. Berlin, im März 2016
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung —— 1 1.1 Die Relevanz der Thematik —— 3 1.2 Theologie und Philosophie —— 6 1.3 Vorgehensweise —— 9 1.4 Forschungsstand —— 12 Aufbau der Arbeit —— 14 1.5 1.6 Bemerkungen zu Koranübersetzungen, Umschrift und Zeitrechnung —— 15 2 Die Biographie des Saʿd ad-Dīn Masʿūd at-Taftāzānī —— 17 2.1 Das historische Umfeld —— 17 2.2 Die Lebensbahn des Taftāzānī —— 21 2.3 Werke zu Rhetorik, Grammatik, Logik und Recht —— 33 3 Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte —— 37 Theologische und philosophische Traditionen —— 37 3.1 Ältere islamische Theologie —— 39 3.1.1 Die Māturīdīya —— 43 3.1.2 Abū ʿAlī ibn Sīnā —— 44 3.1.3 Abū Ḥāmid al-Ġazālī —— 47 3.1.4 3.2 Relevante Korankommentare —— 50 3.2.1 Der Kaššāf des Zamaḫšarī —— 51 3.2.2 Der große Kommentar (at-Tafsīr al-kabīr) des Rāzī —— 54 3.3 Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke —— 57 3.3.1 Der Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya des Taftāzānī —— 57 3.3.2 Das Hauptwerk Taftāzānīs und seine inhaltliche Struktur —— 62 3.3.3 Der Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām des Taftāzānī —— 81 Auswahl der Themenfelder —— 82 3.4 Auferstehungslehre —— 85 4 Islamische Eschatologie und Jenseitsvorstellungen —— 85 4.1 4.1.1 Die koranische Beschreibung des Jüngsten Tages —— 85 4.1.2 Seitenblick auf eschatologische Literatur außerhalb des kalām —— 89 Die Auferstehungslehre in der Literatur des kalām —— 91 4.1.3 Die Auferstehung nach Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī —— 92 4.2 4.2.1 Eine Einführung anhand des Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya —— 95
VIII 4.2.2 4.2.3 4.3
Inhaltsverzeichnis
Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid —— 100 Die „ʿAqīda der Argumente“ – Tahḏīb al-kalām —— 149 Schlussbetrachtung zur Auferstehungslehre —— 152
5 Handlungstheorie —— 154 5.1 Grundlagen und Entwicklungsstufen der Handlungstheorie im kalām —— 157 5.1.1 Koranische Elemente ethischer Eigenverantwortung —— 157 5.1.2 Qadarīya, Muʿtazila und Ašʿarīya —— 161 5.1.3 Māturīdīya und Ǧabrīya —— 165 5.2 Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs —— 171 5.2.1 Der Kommentar zu den ʿAqāʾid an-Nasafīya —— 171 5.2.2 Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid —— 195 5.2.3 „Die ʿAqîda der Argumente“ – Tahḏīb al-kalām —— 224 5.3 Schlussbetrachtung zur Handlungstheorie —— 238 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3
Schöpfungslehre —— 242 Koranische und philosophische Lehren zur Schöpfung —— 243 Schöpfung im Koran —— 243 Die Lehre von der Ewigkeit der Welt —— 247 Schöpfungslehre im kalām —— 252 Die Schöpfungslehre im Werk Taftāzānīs —— 254 Das Handlungsvermögen Gottes —— 255 Urewigkeit oder zeitliche Geschaffenheit der Welt —— 261 Schlussbetrachtung zur Schöpfungslehre —— 276
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Schlussbetrachtung —— 278
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Literaturverzeichnis —— 285 Abkürzungsverzeichnis —— 285 Taftāzānīs theologische Werke —— 285 Primärliteratur aus kalām, falsafa und tafsīr —— 285 Biographische Quellen —— 286 Sekundärliteratur —— 286 Lehrpläne und Studienbücher —— 292
Register —— 293
1 Einleitung Islamische Theologie hat in den letzten Jahren etwas Wesentliches geschafft: Sie ist heute nicht mehr ausschließlich Thema für ein Fachpublikum. Breitere Kreise in Politik und Öffentlichkeit nehmen sich ihr zumindest insofern an, als dass Bedeutung und Funktionen eines zeitgenössischen islamisch-theologischen Selbstverständnisses für eine Gesellschaft diskutiert werden, in der Muslime ihren Platz finden und diesen durchaus auch mit Neuansätzen ausdeuten sollen. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang aber zugleich immer auch der Blick auf die Traditionen. Islamische Theologie setzt nicht neu an, sie bringt vieles mit und kann an eine lange Geschichte theologischer Debatten anschließen. Diese Traditionen sind es, die in vorliegendem Kontext eine Rolle spielen werden – nicht in ihrer Gänze – aber doch so, dass ein Verständnis entsteht, wie klassische islamische Theologie funktioniert hat und wie sich dies auf einigen exemplarisch ausgewählten Themenfeldern theologischen Denkens niederschlägt. Für denjenigen Leser, der an möglichen geistesgeschichtlichen Hintergründen der aktuellen Debatten um islamische Theologie interessiert ist, besteht somit eine Möglichkeit Einblick in eine fast ausschließlich auf Arabisch formulierte Gedankenwelt auf Deutsch zu erhalten. Diese konkret gegenwartsbezogene Dimension hat eine Arbeit zur islamischen Theologiegeschichte wie vorliegende Studie erst in jüngster Vergangenheit erhalten. Doch zugleich behält sie ihre Funktion in der islamwissenschaftlichen Forschung, denn in der islamischen Theologiegeschichte ist auch für Fachleute vieles unerforscht. Dies gilt vor allem für die wechselseitige Abhängigkeit der Werke in der Zeit nach dem 12. Jahrhundert. Somit liegt für die Kenner der Materie der Gewinn vielleicht eher darin, dass im Folgenden versucht wird aufzuzeigen, in welchen Debattenfeldern und Abhängigkeiten sich ein theologisches Werk im späten Mittelalter, genauer im 14. Jahrhundert, befand. Damit ist auch gesagt, dass islamische Theologie hier am Beispiel eines einzelnen Denkers behandelt wird, wobei aber Bezüge zu vielen anderen Autoren, die im genannten Zeitraum wirkten, hervortreten werden. Der sunnitische Theologe, der dabei im Zentrum stehen wird, ist Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī. Er lebte von 1312/22 bis ca. 13901 und war ein Autor, dessen Werk von einer breit gefächerten Beschäftigung mit zahlreichen Wissenschaften auch neben der Theologie Zeugnis gibt. Sein Geburtsort Taftāzān liegt im Nordosten des heutigen Iran. Er entstammte einer Gelehrtenfamilie – eine
1 Die nicht ganz gesicherten Angaben zu den Lebensdaten werden im Kapitel 2.2 ausführlicher besprochen.
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Einleitung
radition, die er fortsetzen wollte: So führte ihn sein Bildungs- und LebensT weg aus Taftāzān fort in größere Städte und an wichtige Höfe der damaligen Zeit im östlichen Iran und schließlich nach Zentralasien. Mehrere Male hielt sich Taftāzānī in Herat auf. Sein letztes Lebensjahrzehnt ist durch den Eroberer Timur (st. 1405) geprägt, der ihn nach Samarkand holte, wo er fast durchgängig bis zu seinem Tod 1390 blieb.2 Auf seine Biographie wird zurückzukommen sein. Taftāzānī3 ist denen, die sich mit der neuzeitlichen islamischen Geistesgeschichte befassen, durch die häufige Kommentierung seiner Werke im Osmanischen Reich bekannt. Seine fortdauernde Relevanz zeigt sich aber auch darin, dass seine Werke bis heute an der Azhar-Universität in Kairo genutzt werden. Auch wenn sich die Verwendung im Unterricht inzwischen auf den Bereich Dogmatik und Philosophie (ʿaqīda wa-falsafa) und dort auf die Abschnitte seines Hauptwerks4 zu den Offenbarungswahrheiten, also Prophetie, Auferstehungslehre und die Namen Gottes beschränkt, waren einige seiner Werke bis ins 20. Jahrhundert auch in den Curricula für Logik und Rhetorik relevant. Bis 1961 diente sein erläuternder Kommentar zu einem knapp gehaltenen Glaubensbekenntnis (s. u.) als Einführungswerk in die Theologie.5 Andere Schriften Taftāzānīs sind leicht erhältlich oder liegen sogar in den Auslagen der Universitätsbuchhändler, was auf eine ungebrochene Bedeutung verweist. Doch wie sieht es mit Taftāzānī in der islamwissenschaftlichen Forschung aus? Welche Annäherungen gab es und welchen Charakter kann eine Auseinandersetzung mit ihm heute haben? Diesen Fragen sollen die einleitenden Überlegungen nachgehen.
2 Madelung, Wilferd, al-Taftāzānī. In: EI2 Brill online 2013. 3 Im Folgenden werden alle Personen zunächst mit ihren wesentlichen Namensbestandteilen vorgestellt. Alle weiteren Nennungen erfolgen dann nur noch mit dem bekanntesten Teil ihres Namens und ohne den arabischen Artikel „al“. Nur dann, wenn eine schon erwähnte Person später ausführlicher vorgestellt wird, werden die anderen Namensbestandteile und Lebensdaten wiederholt. 4 Wegleitung der Fakultät für Grundlagen der Religion in Kairo (Dalīl kullīya Uṣūl ad-dīn bi-lQāhira): al-kitābu l-muqarraru huwa kitābu Šarḥi l-Maqāṣid li-Saʿd ad-dīn at-Taftāzānī wayaqūmu l-ustāḏu bi-Šarḥi l-Maqāṣidi s-sādisi fī s-samʿīyāti wa fīhi mabāḥiṯu […] fī n-nubūwati […] fī l-maʿādi […] fī l-asmāʾi wa-l-aḥkām.“, 153f. Ähnlich lauten die Wegleitungen für die Fakultäten der Azhar in Zagazig und Tanta. 5 Die Information verdanke ich dem ehemaligen Dekan der Fakultät für Grundlagen der Religion (Uṣūl ad-Dīn) in Kairo Muḥī ad-Dīn aṣ-Ṣāfī bei einem Gespräch im März 2006.
Die Relevanz der Thematik
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1.1 Die Relevanz der Thematik Trotz dieses nicht unerheblichen Nachruhmes steht eine eingehende Beschäftigung mit Taftāzānīs Werk in der islamwissenschaftlichen Fachliteratur – wie oben angedeutet – noch aus. Nicht wenige Überblickswerke verweisen auf ihn als einen wichtigen Autor am Ende der klassischen Zeit, ohne allerdings, von wenigen Ausnahmen abgesehen, näher auf seine Lehren einzugehen.6 Andererseits verweist die Einführung im „Cambridge Companion to Classical Islamic Theology“ gleich zweimal auf Taftāzānī und nennt ihn dabei einmal als Denker neben den weitaus bekannteren Gelehrten Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (st. 1210) und Abū Ḥāmid al-Ġazālī (st. 1111)7 und führt ihn zudem als Kronzeugen für eine enge Verschränkung der theologischen und philosophischen Tradition in der späteren islamischen Geistesgeschichte an.8 Die Nennung von Taftāzānī in einer Reihe mit Rāzī und Ġazālī sowie die lange Rezeptionsgeschichte lassen es sinnvoll erscheinen, seine Schriften genauer zu untersuchen und zu fragen, inwieweit seine Darstellung die bisherige Lehre ergänzt oder sogar verändert. Doch der Umfang von Taftāzānīs Gesamtwerk macht zugleich auch wieder eine Einschränkung erforderlich. Daher erfolgt grundsätzlich eine Fokussierung auf Werke, die zur islamischen Theologie im Sinne des kalām (s. u.) zu rechnen sind. Die dabei relevanten Schriften werden später noch eingehender vorgestellt (s. 3.3), hier seien sie erst einmal nur genannt: Es handelt sich um sein theologisches Einführungswerk, den „Kommentar zu den Glaubensartikeln des Nasafī“ (Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya),9 sein Hauptwerk, die große theologische Summe „Kommentar der Hauptuntersuchungsgebiete“ (Šarḥ al-Maqāṣid)10 und seine knappe „Zusammenfassung von Logik und Theologie“ (Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām).11 Da diese Werke aber ihrerseits das gesamte Spektrum theologischer Reflexion im 14. Jahrhundert abdecken, welche im Fall des Hauptwerks allein fünf Bände füllt, sollen hier nur drei theologische Themenfelder bearbeitet werden. Die ausgewählten Themen sind die Auferstehungslehre, Handlungstheorie und Schöpfungslehre. Die Begründung dafür setzt aber
6 Beispielhaft hierfür sind die wenigen Zeilen zu Taftāzānī in: Watt, Montgomery & Marmura, Michael, Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart 1985, 468. 7 Winter, Tim, Introduction. In: Winter, Tim (Hg.): The Cambridge Companion to Classical Islamic Theology, Cambridge 2010, 1–16, 10. 8 Winter, Introduction, 12. 9 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya. Salāma, Klūd (Hg.), Damaskus 1974. 10 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Šarḥ al-Maqāṣid I-V.ʿUmayra, ʿAbdarraḥmān (Hg.), Beirut 1998. 11 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām, Kairo o. J.
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Einleitung
eine eingehendere Vorstellung der Werke voraus und wird daher erst am Ende des dritten Kapitels erfolgen (s. 3.4.). Zunächst ist es aber lohnend, den Gründen für die bisher ausgebliebene Forschung zu Taftāzānī nachzugehen. Häufig wird der islamischen Theologie in der Zeit von Taftāzānī eine allgemeine Stagnation attestiert. So nennen Watt und Marmura den Imām al-Ḥaramayn al-Ǧuwaynī (st. 1085) und Rāzī als letzte Autoren mit originell konzipierten Werken und sehen danach eine Tendenz zum bloßen Verfassen von Kommentaren, Glossen und Superkommentaren, wobei auch die Gelehrten eher mit Kommentaren zu älteren Texten als mit diesen selbst arbeiteten.12 In jüngster Zeit hat Jeffry Halverson das genannte Einführungswerk von Taftāzānī explizit für den Verfall der Theologie verantwortlich gemacht.13 Auch Josef van Ess, der für die Mitte des 14. Jahrhunderts in einer wissenschaftlichen Pionierleistung Aspekte für eine neue Konzeption bei der theologischen Summe des ʿAḍud ad-Dīn al-Īǧī (st. 1355) aufweist und deren erkenntnistheoretischen Teil eingehend untersucht, zeichnet zugleich ein drastisches Bild von dieser Zeit: Jedoch war, zumal durch die Greuel der Mongolenzeit, aber auch durch die Enge orthodoxen Eifers, jener belebende Zugang zu den schöpferischen Quellen der Frühe verschüttet; und so trat an die Stelle immerwährender Regeneration aus den Kräften des Anfangs allmählich die Totenstarre in sich kreisender nicht mehr in Frage gestellter Wahrheiten.14
Obwohl van Ess damals selbst Īǧīs Erkenntnislehre präsentiert und in seinem Gesamtwerk eine gewisse Neuerung erblickt, scheint das Wort „Totenstarre“ hinlänglich klar und jede Hoffnung auf originelle theologische Gedanken vergeb lich. Doch van Ess schickt dem harten Wort das Bild „in sich kreisender nicht mehr in Frage gestellter Wahrheiten“ hinterher. Das Kreisen steht aber der Starre entgegen. Auch wenn die Metapher von daher problematisch erscheint, fasst sie doch vielleicht gerade damit einen komplexen Diskussionsstand der Forschung gut in ein Bild: Es handelt sich um Werke, die von großer Gelehrsamkeit ihrer Verfasser zeugen, und die daher oftmals gelehrt und kommentiert wurden, womit wir Anzeichen der Bewegung finden, dabei aber ohne innovative theologische Gedanken bleiben und somit geistesgeschichtlich starr wirken. Insofern jüngere Forschungen, wie noch zu sehen sein wird, das Bild der theologischen Entwicklung differenziert haben, konnten sie aber auch Verschiebungen im
12 Watt & Marmura, Der Islam II, 463; Robinson, Francis: Ottomans-Safavids-Mughals: Shared Knowledge and Connective Systems. In Journal of Islamic Studies 8 (1997), 151–184, 152. 13 Halverson, Jeffry, Theology and Creed in Sunni Islam, New York 2010, 14. 14 van Ess, Josef, Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī. Übersetzung und Kommentar des Ersten Buches seiner Mawāqif, Wiesbaden 1966, 5.
Die Relevanz der Thematik
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Kreisen mehr akzentuieren. Spätere islamische Theologie wird so fassbarer hinsichtlich der für sie spezifischen Dynamik kleinerer aber doch beachtenswerter Veränderungen. Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt die genannten Werke Taftāzānīs im Hinblick auf eine solche Modifikation der theologischen Lehre zu untersuchen. Insofern die neuere Forschung zur spätmittelalterlichen Theologie im Islam die philosophische Tradition als große treibende Kraft ausgemacht hat und Dimitri Gutas von einem „Goldenen Zeitalter“ der arabischen Philosophie spricht,15 liegt es nahe, dieser Spur weiter nachzugehen. Gutas selbst benennt Ibn Taymīya (st. 1328) als zeitlich spätesten Repräsentanten, der in seinem Denken von dem Philosophen und Arzt Abū ʿAlī Ibn Sīnā (st. 1037), auf Deutsch oft auch Avicenna genannt, entscheidend geprägt wurde.16 Das Ende des Goldenen Zeitalters avicennischer Philosophie nimmt er im Jahr 1350 an. Dies würde den bereits erwähnten Īǧī und sein Werk implizit einbeziehen, Taftāzānīs Schaffenszeit jedoch, die – wie noch zu sehen sein wird – für die Theologie vor allem zwischen 1367 bis 1387 anzusetzen ist, ausgrenzen. Inwieweit Taftāzānī aber sehr wohl einzubeziehen ist, ist Teil der Fragestellung dieser Studie. Ein zentrales Argument dafür kann bereits hier angeführt werden. Taftāzānī spricht die Beziehung von theologischen und philosophischen Traditionen erstmals17 direkt in seiner Definition des Gegenstandsbereichs von Theologie (kalām bzw. milla) insofern an, dass sie beide auf ihre Weise zur Vervollkommnung der menschlichen Seele beitragen,18 ohne dabei ihre Unterschiede auszulassen.19 In der näheren Betrachtung der Verknüpfung theologischer und philosophischer Traditionen wird sicher die Frage eine Rolle spielen, welche Werke von Ibn Sīnā Taftāzānī gekannt hat und wo dessen Philosophie seine Ausdrucksweise und theologische Argumentation prägt. Neben philosophischen Einflüssen sind im Werk Taftāzānīs aber auch innertheologische Diskussionen relevant. Dabei geht es zum einen um die in der Tradition des kalām lange fortgesetzte Auseinandersetzung mit der theologischen Richtung der Muʿtazila und den divergierenden Meinungen zwischen den sich im 10. Jahrhundert allmählich herausbildenden Schulen der Ašʿariten und Māturīditen. Gerade die Zuordnung von Taftāzānīs Werk zu einer der beiden letztgenannten
15 Gutas, Dimitri, The Heritage of Avicenna. The Golden Age of Arabic Philosophy, 1000 – ca. 1350. In: Janssens, Jules & De Smet, Daniel (Hg.): Avicenna and His Heritage, Leuven 2002, 81–97, 81. 16 Gutas, The Heritage of Avicenna, 89. 17 Eichner, Heidrun, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 325. 18 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I: „wa-qad taṭābaqat al-millatu wa-l-falsafatu ʿalā l-iʿatināʾi bitakmīli n-nufūsi l-bašarīya […]“, 158. 19 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I: „ilā ġayri ḏālika mimmā taǧzimu bihī l-millatu dūna l-falāsifa.“, 176.
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Einleitung
raditionen fällt, je nachdem welches Werk man betrachtet, etwas anders aus, da T er zunächst zur Māturīdīya, später eher zur Ašʿarīya neigte. Die damit kurz angerissenen Entwicklungslinien werden später noch Gegenstand eines eigenen Kapitels sein. An dieser Stelle sollte eher geklärt werden, inwieweit die bereits benutzten Begriffe „Theologie“ und „Philosophie“ auf Taftāzānī und seine Werke anwendbar sind.
1.2 Theologie und Philosophie Taftāzānīs Schriften vorwiegend mit dem Begriffspaar „Theologie“ und „Philosophie“ zu analysieren, wirft die grundlegende Frage auf, welche begrifflichen Differenzen zwischen dem heutigen Verständnis und der damaligen Zeit bewusst bleiben sollten. Je nachdem, wie viel Vorwissen über die Verwendung beider Begriffe im Mittelalter besteht, kann sich hier eine gewisse Schwierigkeit ergeben. Dem in mittelalterlichen Denktraditionen gut ausgebildeten Forschenden wird klar sein, dass Theologie und Philosophie einen ähnlich strikten Wahrheitsanspruch verkörperten, allerdings aus unterschiedlichen Erkenntnisquellen schöpften. Doch für den Leser, der sich dem Folgenden eher mit einer Kenntnis der heutigen Begriffsverwendungen nähert, wird es sich vielleicht etwas anders darstellen. Mit Gadamer gesprochen kann sich nämlich für den Leser von Taftāzānī und den Leser des „Taftāzānī-Lesers“ die immerhin sechshundert Jahre vom Autor tren nen, auch eine Vormeinung ergeben: Es hat darum seinen guten Sinn, daß der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm bereiten Vormeinung lebend, auf den Text zugeht, vielmehr die in ihm lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf Herkunft und Geltung prüft.20
Diese Verhinderung einer möglicherweise in die Irre führenden Vormeinung soll hier dadurch geleistet werden, dass die zentralen Begriffe „Theologie“ und „Philosophie“ daraufhin untersucht werden, inwieweit das heutige Verständnis zu den zugehörigen Konzeptionen aus Taftāzānīs Zeit passt und welche Unterschiede beim Lesen der späteren Kapitel stets mitgedacht werden müssen, worauf auch viele der bisherigen kalām-Forscher schon verwiesen haben.21
20 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, 272. 21 Frank, Richard, The science of kalām. In: Arabic Sciences and Philosophy 2, Cambridge 1992, 7–37, 7.
Theologie und Philosophie
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Diejenige Form islamischer Theologie, die sich mit philosophischem Denken explizit auseinandersetzt und wie sie bisher auch schon ansatzweise adressiert worden ist, heißt in der islamischen Tradition selbst ʿilm al-kalām „Wissenschaft von der Rede“. Es ist aber nicht die „Rede von Gott“, was die Bedeutung des deutschen Wortes Theologie darstellt, sondern in einem eher technischen Sinn eine Rede, „die Argumentation oder Disputation über religiöse Fragen bezeichnet“.22 Die Begriffe „Argumentation“ und „Disputation“ enthalten Anklänge an „Reflexion“ und „Schlussfolgerung“, arabisch naẓar bzw. istidlāl, welche auch synonym für kalām verwendet wurden.23 Vor allem im Hinblick auf den jeweils ersten Abschnitt von kalām-Werken weisen diese theologischen Texte große Parallelen mit philosophischen Abhandlungen über Metaphysik auf und erheben den Anspruch, sich nur solcher Axiome und Grundannahmen zu bedienen, die rational erwiesen sind und keine Akzeptanz religiöser Glaubenssätze voraussetzen. Diejenigen, die sich mit dem kalām beschäftigen, die mutakallimūn, gingen daher auch davon aus, sich des gleichen rationalen Diskurses zu bedienen, wie es die Philosophen taten.24 Doch nicht nur im epistemologischen Selbstverständnis, sondern auch thematisch gibt es Gemeinsamkeiten von kalām und philosophischer Tradition. So finden sich im kalām Ausführungen zur Substanzen- und Akzidenzienlehre sowie zur Naturphilosophie, was auch Taftāzānī explizit in seine Definition von kalām mit einschließt.25 In seinem früheren theologischen Werk grenzt er solch abstrakt-theoretische Theologie (ʿilm al-kalām) dabei von den praktischen Vorgaben des islamischen Rechts ab, wie auch in der Philosophie theoretische und praktische Philosophie unterschieden werden.26 In seinem späteren Werk argumentiert er dann, wie schon erwähnt worden ist, dass Theologie – in der Religionsgemeinschaft (milla) verkörpert – wie auch die Philosophie zu einer Vervollkommnung der menschlichen Seele führe.27 Theologie und Philosophie haben daher vieles gemeinsam, sind aber auch für Taftāzānī voneinander zu differenzieren. In den späteren Abschnitten der kalām-Werke werden die dafür relevanten Unterschiede deutlich, denn hier treten die Thematiken Gotteslehre, Prophetie, Jenseits und auch die göttlichen Namen in den Vordergrund und stellen einen zentralen Gegenstand der Reflexion dar. Der rationale Beweis dieser Glaubenssätze ist denn auch die Funktion der kalām-Werke, womit ihr
22 Madelung, Wilferd, Der Kalām. In: Gätje, Helmut (Hg.), Grundriß der Arabischen Philologie II, Wiesbaden 1987, 326–337, 326. 23 Frank, The Science, 9. 24 Frank, The Science, 15f. 25 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I, 159. 26 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 4. 27 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I, 158 (s. Fußnote 17).
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Einleitung
theologischer Charakter hervortritt: „the intentionality of the discipline [kalām] is essentially one of theology.“28 Der theologische Charakter von Taftāzānīs Werk wird außerdem offensichtlich, da er – wie im Folgenden hinlänglich zu sehen sein wird – durchaus auch von der koranischen Offenbarung Gebrauch macht und nicht „unabhängig von Offenbarungstexten“29 argumentiert. Auch Hadithe, deren vorwiegende Verwendung in theologischen Fragen oft beim kalām-kritischen Traditionalismus zu finden ist und die nicht in jedem Werk des kalām vorkommen,30 sind bei Taftāzānī Teil der Betrachtungen. Insofern erscheint es legitim von der Disziplin ʿilm alkalām als „spekulativer Theologie“31 zu sprechen und Taftāzānīs kalām-Werke als theologische Werke gemäß dem deutschen Sprachgebrauch zu bezeichnen. Ebenso werden mutakallim für „Theologe“ und mutakallimūn im Plural für „Theologen“ synonym gebraucht. Dabei muss aber bewusst bleiben, dass die Begriffe trotzdem nicht deckungsgleich sind und somit auch keine begriffliche Engführung auf ein dezidiert christliches Konzept von Theologie vorgenommen wird. Auch wenn sich bei Taftāzānī hinreichend verschiedene Stränge islamischen theologischen Denkens in seinem Werk finden, um es als theologisch zu bezeichnen, ist seine Grundstruktur – wie schon deutlich wurde – von der philosophischen Tradition geprägt. Doch wie beim Begriff der Theologie gilt es auch zu fragen, welche Erwartungen der Begriff Philosophie beim zeitgenössischen Leser hervorruft. Taftāzānī selbst meint, wenn er von Philosophie (falsafa, ḥikma) spricht, durchaus Personen und Themen, die auch von der allgemeinen Philosophiegeschichte und der Forschung klar der Philosophie zugeordnet werden. Uns werden aus der antiken Tradition Aristoteles und die Vorsokratiker begegnen, aus der islamischen Philosophie Ibn Sīnā und einmal auch al-Fārābī. Sofern in diesem Sinne von konkreten Philosophen und ihren Lehren die Rede sein wird, ergibt sich keine Diskrepanz zwischen Taftāzānīs Wortgebrauch und dem heutigen Verständnis von Philosophie zu dieser Zeit. Zu bemerken ist aber dennoch, dass die heute mit Philosophie verbundenen Vorstellungen sich natürlich deutlich von denen der hier relevanten Zeit unterscheiden. Dies erscheint recht offensichtlich, sind doch seither Jahrhunderte voller philosophischen Nachdenkens vergangen. Weshalb diese Tatsache hier dennoch erwähnt werden soll, liegt darin begründet, dass die in dieser Arbeit recht häufige Kontrastierung anhand
28 Frank, The Science, 22 [Ergänzung T.W.]. 29 Oberauer, Norbert, Verpflichtungskonzepte im Kalām, Wiesbaden 1999, 17 Fußnote 9. 30 Madelung, Der Kalām, 326. 31 Frank, The science, 37.
Vorgehensweise
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der Adjektive „philosophisch“ und „theologisch“ vielleicht doch Assoziationen heutiger Philosophie wecken kann, die nicht im antiken und mittelalterlichen Rahmen verbleiben. Dies aber wäre fatal. Vor allem wäre für die Positionen und Argumente, die hier „theologisch“ genannt werden, ein nicht zu übersehender Nachteil damit verbunden, wenn mit „philosophisch“ die Beschränkungen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten nach Kant, die Verlagerung von Aussagen über Substanzen hin zu Relationen bei Cassirer oder ganz modern „freies Philosophieren“ assoziiert würde. Vor allem der Wahrheitsanspruch ist bei zahlreichen philosophischen Entwürfen, die heute die allgemeine Wahrnehmung von „philosophisch“ prägen, ein anderer. So hat für Ibn Sīnā Philosophie bedeutet, dass der Mensch als Philosoph Wahrheiten eines kosmischen Intellektes, nämlich des aktiven Intellekts, verstehen kann. Hingegen spricht der zeitgenössische Philosoph Odo Marquard bezüglich der Philosophiegeschichte als einer „Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie“.32 Er gibt der Philosophie daher die Rolle einer Inkompetenzkompensationskompetenz.33 Diese bedeutet für Marquard auch Befreiung und Eröffnung neuer Möglichkeiten des Philosophierens,34 doch worauf es hier ankommt, ist die Aussage, wie wenig Anspruch Philosophie gemäß dieser Aufgabenbeschreibung hat, Ist-Aussagen über die Welt zu machen. Diese hier nur äußerst grob umrissene, ganz andere Konzeption von Philosophie bei Ibn Sīnā einerseits und in der heute vorherrschenden Vorstellung von zeitgenössischer Philosophie andererseits sollte nicht vergessen werden, wenn im Folgenden das Adjektiv „philosophisch“ gebraucht wird.
1.3 Vorgehensweise Die vorliegende Studie befasst sich mit theologischen und philosophischen Schriften und dem Einfluss der philosophischen Werke auf Texte, die selbst dem Feld der Theologie zugerechnet werden. Einfluss meint hierbei keinen neu einsetzenden Einfluss, der in irgendeiner Weise mit Taftāzānī begonnen hätte, sein Werk dient in dieser Hinsicht eher als Stichprobe für den Aufweis von Traditionslinien in der Wirkungsgeschichte des Philosophen Avicenna (s. o.).
32 Marquard, Odo, Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie. In: Marquard, Odo, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart, 30–45, 31. 33 Marquard, Inkompetenzkompensationskompetenz?, 36. 34 Marquard, Inkompetenzkompensationskompetenz?, 35.
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Dazu dient eine Textanalyse, die bei der Herausarbeitung der gedanklichen Linien fragt, welche Texte, Argumente und Überlegungen aus dem philosophischen System des Ibn Sīnā für Taftāzānī eine Rolle gespielt haben könnten und wie die textliche Interaktion zwischen beiden Bereichen anschaulich gemacht werden kann. Die Betrachtung der Argumente soll dabei aber nicht nur im Rückbezug auf ihre gedankliche Fassung bei Ibn Sīnā erfolgen, sondern auch im Textvergleich mit den anderen theologischen Schriften der Spätzeit Kontur gewinnen. Wie noch deutlich werden wird, war Taftāzānī nicht der erste, der zur Ausarbeitung eines Werkes in der Tradition des kalām auf die Lehren der Philosophen zurückgriff: Zum Teil ist dieses Vorgehen ja geradezu Merkmal des spätzeitlichen kalām (s. 3.1.3). Doch die einzelnen spätzeitlichen mutakallimūn gingen mit der Frage jeweils anders um. Insofern wird es bei den anderen Schriften, die Taftāzānī gelesen hat und die er beim Erstellen der eigenen Schriften vermutlich im Auge hatte, auch darum gehen, ob sich durch die Textanalyse zeigt, dass sich der philosophische Einfluss bei Taftāzānī im Vergleich zu seinen Vorläufern vermehrt oder vermindert. Bei der Darstellung der innertheologischen Diskussionen, die zum Teil auch durch die geschilderten philosophischen Einflüsse geprägt sind, soll ebenso nach der Textanalyse verfahren werden. Hierzu werden die Werke Taftāzānīs mit den relevanten Schriften der māturīditischen und ašʿaritischen Tradition in Beziehung gesetzt. In ihrer Gesamtheit werden die einzubeziehenden Texte in der Arbeit als Referenzwerke bezeichnet. Die Aufarbeitung der genannten Bezüge wird soweit wie möglich mit den für die damalige Zeit adäquaten Begriffen geschehen, worauf bei der Verwendung des Begriffs „philosophisch“ ja schon verwiesen wurde. Van Ess konstatiert, dass sich manches im kalām „unmittelbarem Verständnis verschließt“, und folgert „uns bleibt da nur die Aufgabe, es mit verständlicheren Begriffen unter seinen historischen Voraussetzungen noch einmal nachzudenken“.35 Die verständlicheren Begriffe sind dabei oft aus der europäischen Tradition oder aus der zeitgenössischen Terminologie entlehnte Worte, die immer eine gewisse Aktualisierung und Übertragung der verhandelten Probleme darstellen. Dies aber ermöglicht erst das von van Ess angegebene Ziel des „nochmaligen Nachdenkens“. Punktuell wird Taftāzānī dann Gesprächspartner in Diskussionen und Denkweisen in einer ihm fremden Hinsicht. Dies soll aber, wie gesagt, nur sehr begrenzt geschehen und nicht systematisiert werden. Denn würde die Konfrontation mit dem zeitgenössischen Denken zum Leitfaden erhoben, so würde die Auseinandersetzung nicht mehr dem dritten Aspekt von van Ess entsprechen, nämlich der
35 van Ess, Erkenntnislehre, V.
Vorgehensweise
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Anforderung, dass das nochmalige Nachdenken unter den „historischen Voraussetzungen“ des Autors geschehen solle. In der anderen historischen Richtung, nämlich im Blick auf den Koran, ist aber eine Abgrenzung von dem nötig, was van Ess für seine Analyse der Erkenntnislehre des Īǧī postuliert hat. Er war zu der Auffassung gelangt, der Koran sei Richtschnur aber kaum mehr als unmittelbare Quelle des theologischen Denkens anzusehen. Der Gedanke erschien ihm unabhängig und „autonom, in rationaler Gesetzmäßigkeit konzipiert“.36 Die Feststellung gilt sicher eher für die Erkenntnislehre als für die drei Themenfelder Auferstehungslehre, Handlungstheorie und Schöpfungslehre, die hier Thema sein werden. Auferstehung und Jenseits sind zentrale Themen des Korans selbst. Auch wenn die Lehre von der Wiederkehr im kalām ganz anders als in der koranischen Eschatologie dargestellt wird, tritt doch die koranische Richtschnur häufiger ins Bild. In der Handlungstheorie löst sich das Gedankengebäude zwar stärker von einer Rekonstruktion der koranischen Handlungslehre, doch gerade dabei erstellt Taftāzānī ganze Kategorien von Offenbarungsbeweisen für die eine und die andere Position. Die Schöpfungslehre im kalām ist schließlich noch weiter von der Schöpfungsaffirmation des Koran entfernt, doch treten die späteren theologischen und philosophischen Lehren in ihren Voraussetzungen nochmals klarer hervor, wenn man sie zu den entsprechenden Inhalten des Korans in Beziehung setzt. Die Darstellung identischer Themen in den drei genannten theologischen Werken von Taftāzānī bringt es mit sich, dass sich Argumente, Koranverse und Hadithe wiederholen. Man könnte sich nun vorstellen, es sei daher besser, jeweils nur wiederzugeben, was argumentativ und dogmatisch-theologisch ausschließlich in dem einen oder anderen Werk zu lesen ist. Doch dann würde allenfalls ersichtlich, welche Lehre und welchen dagegen erhobenen Einwand Taftāzānī in dem jeweiligen Werk bringt. Erst im Zusammenspiel solch werkspezifischer Anordnungen von Argumenten werden jedoch andere Gewichtungen von Lehrbestandteilen und den sie untermauernden Argumenten deutlich. Gerade die Neukombination der Inhalte oder das Wegfallen von Aussagen ermöglicht es wirklich Wesenszüge einer Schrift und damit auch der theologischen Entwicklung von Taftāzānī anschaulich werden zu lassen. Redundanzen lassen sich dabei nicht ganz vermeiden, wobei aber versucht wird, sie auf ein Mindestmaß zu beschränken. Die Auswahl der drei genannten Themenfelder ist keine „gefällige Auslese“37 aus einem erforschten Feld. Van Ess war 1966 davon ausgegangen, dass eine
36 van Ess, Erkenntnislehre, VIII. 37 van Ess, Erkenntnislehre, VI; Gimaret listete zwischenzeitlich (1991) auf, was allein für die Zeit vom 10.–13. Jahrhundert noch zu tun sei, um ein umfassenderes Bild vom klassischen kalām
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Einleitung
„Auslese“ geschehen könne, wenn die Zeit durch umfangreichere Forschungen zum späteren kalām reif sei. Doch da auch seit 1966 wenige Studien zu den späteren kalām-Autoren hinzugekommen sind, erscheint die „Auslese“ eher als ein überlegtes Herausgreifen aus dem Unerforschten, um immerhin drei Themenfelder des kalām in den drei theologischen Werken des Taftāzānī zu erschließen. Dieser Befund führt uns direkt zum Forschungsstand.
1.4 Forschungsstand Wie zu Beginn erwähnt, sind Taftāzānīs Werke bis heute an der Azhar-Universität in Kairo und anderen Zweigen der Azhar in Ägypten in Gebrauch. So lassen sich in diesem Umfeld auch theologische Studien zu Taftāzānī finden. Eine speziell Taftāzānī gewidmete Monographie des Dogmatik-Professors Muḥammad Nāṣīf, der an der Fakultät für Theologie und Philosophie in Zagazig nördlich von Kairo unterrichtet, trägt den Titel „Die Offenbarungswahrheiten aus dem Kommentar der Hauptuntersuchungsgebiete von Taftāzānī“ (as-Samʿīyāt min Šarḥ al-Maqāṣid li-t-Taftāzānī).38 Demgegenüber hielt sich die Beschäftigung mit seinen Werken in der westlichen Islamwissenschaft, wie bereits gesagt, bisher eher in Grenzen. Von der Biographie Taftāzānīs gibt der knappe Überblick in der EI2 von Wilferd Madelung eine erste Vorstellung, wobei auch der Eintrag von Storey in der EI1 noch weitere Anhaltspunkte liefert. Einzelne Aspekte zu seinem Wirken in Samarkand und zu seinem Nachruhm im Osmanischen Reich lassen sich seit kurzem auch in „Die Träume der Schulweisheit. Leben und Werk des ʿAlī b. Muḥammad al-Ǧurǧānī (gest. 816/1413)“ von Josef van Ess nachlesen.39
zu erhalten. Auch wenn seither einige Forschung betrieben wurde, zeigt es den Bedarf: Gimaret, Daniel, Pour un Rééquilibrage des Études de Théologie Musulmane. In: Arabica, 38 (1991). 38 Nāṣīf, Muḥammad, as-Samʿīyāt min Šarḥ al-Maqāṣid li-t-Taftāzānī, Zagazig o.J. Zudem ließ sich in den Archiven der Azhar eine Doktorarbeit von Muḥammad ʿUmar Muḥammad mit dem Titel „Taftāzānī zur Gotteslehre“ (Maḥmūd Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī fī l-ilāhiyāt, 1986) ausmachen, die allerdings die hier behandelten Themen allenfalls streift und keine Erkenntnisse hinzufügt. Eine Magisterarbeit von ʿAbd al-Fatāḥ ʿAbd al-Karīm zum Thema „Die Bemühungen des Taftāzānī auf dem Gebiet der Offenbarungswahrheiten“ (Ǧuhūd at-Taftāzānī fī s-samʿīyāt, 1986) beschäftigt sich auch mit der hier zu untersuchenden Auferstehungslehre, bleibt aber oft eine Paraphrase des Textes, auf die nur kurz zu verweisen sein wird. 39 van Ess, Josef, Die Träume der Schulweisheit. Leben und Werk des ʿAlī b. Muḥammad alǦurǧānī (gest. 816/1413), Wiesbaden 2013.
Forschungsstand
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Zu dem bereits erwähnten Theologen Īǧī existiert zwar die schon öfter zitierte Monographie von Josef van Ess, doch beschränkt sich diese auf eine historisch tiefgreifende Analyse des erkenntnistheoretischen Teils.40 Im Fall von Taftāzānī hat in der westlichen Forschung bisher eher der Kommentar zu Nasafīs Glaubensbekenntnis Aufmerksamkeit gefunden. Während das kurze Bekenntnis schon im 19. Jahrhundert durch William Cureton41 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von McDonald42 in englischer Sprache ediert wurde, erschien es in einer Übersetzung von Schacht 1931 im Rahmen eines religionswissenschaftlichen Lesebuches auch auf Deutsch.43 Taftāzānīs Kommentar wurde dann 1950 von Edgar Elder ins Englische übertragen.44 In der Einleitung zu diesem Text finden sich grundlegende Überlegungen zur Kombination von ašʿaritischem und māturīditischem Gedankengut im Werk von Taftāzānī, die auch bis heute den Forschungsstand in dieser Hinsicht markieren. Bezüglich Taftāzānīs Handlungstheorie existieren einige kürzere Ausführungen. Zu nennen ist hier das entsprechende Kapitel bei Gimaret „Théories de l’Acte Humain en Théologie Musulmane“,45 der Abschnitt von Wolfson „The Philosophy of the Kalam“46 über Aneignungen von Handlungen bei al-Māturīdī und ein Artikel von Zafar I. Ansari „Taftāzānī´s Views on Taklīf, Ǧabr and Qadar“.47 Im Rahmen des Sammelbandes „Logik und Theologie. Das Organon im Arabischen und lateinischen Mittelalter“ zur Fortwirkung des aristotelischen Denkens erschien 2005 von Wilferd Madelung der Aufsatz „at-Taftāzānī und die Philosophie“.48 Dieser Beitrag verblieb noch im Allgemeinen, doch wird hier daran anzuknüpfen sein. In einer unveröffentlichten Habilitationsschrift von Heidrun Eichner finden sich zum Ende wichtige Aussagen zur Struktur der theologischen Werke
40 van Ess, Erkenntnislehre, a.a.O. 41 Cureton, William (Ed.): Pillar of the creed of the Sunnites, London 1843. 42 McDonald, D. B., Muslim Theology, Jurisprudence and Constitutional Theory, New York 1903. 43 Schacht, Joseph, Der Islam mit Ausschluss des Qorʾāns, Tübingen 1931, 81–87. 44 Elder, Edgar, A Commentary on the Creed of Islam. Saʿd al-Dīn al-Taftāzānī on the Creed of Najm al-Dīn al-Nasafī, New York 1950. 45 Gimaret, Daniel, Théories de l’Acte Humain en Théologie Musulmane, Paris 1980. 46 Wolfson, Harry, The Philosophy of the Kalam, London 1976. 47 Ansari, Zafar Ishaq, Taftāzānī’s Views on Taklīf, Ǧabr and Qadar: A Note of the Development of Islamic Theological Doctrines. In: Arabica. Revue d’études arabes et islamiques, 16 (1969), 65–78. 48 Madelung, Wilferd, at-Taftāzānī und die Philosophie In: Perler, Dominik & Rudolph, Ulrich (Hg.), Logik und Theologie – Das Organon im Arabischen und im Lateinischen Mittelalter, Leiden und Boston 2005, 211–219.
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Einleitung
Taftāzānīs, die im Aufbau und in der Kapiteleinteilung stark an die Werke von Īǧī anknüpfen.49
1.5 Aufbau der Arbeit Die Arbeit nimmt zunächst Bezug auf die historischen Verhältnisse zu Lebzeiten Taftāzānīs (Kapitel 2). Einer kurzen Skizze der politischen Entwicklungen nach 1258 im islamischen Osten und der Eroberungszüge Timurs (2.1) folgt die Einbettung des Lebens von Taftāzānī in die Verhältnisse seiner Zeit (2.2). Daran schließt sich eine Übersicht über diejenigen Werke Taftāzānīs an, die im weiteren Fortgang der Studie keine Rolle mehr spielen werden und daher nur biographisch von Belang sind (2.3). Die theologischen Schriften Taftāzānīs, die nach dem Gesagten das Herzstück der Arbeit darstellen, werden sodann in ihren theologiegeschichtlichen Horizont eingerückt (3.1). Diese theologiegeschichtliche Hinführung wird die Aufgabe haben, die hier schon angesprochenen Traditionslinien näher zu kennzeichnen und dabei auch zu thematisieren, was theologische und philosophische Traditionen im 14. Jahrhundert bedeutet haben. Dazu erfolgt auch eine Bezugnahme auf die Lehre des Philosophen Ibn Sīnā. Zudem werden die für Taftāzānīs Werk relevanten Korankommentare vorgestellt (3.2). Vor diesem Hintergrund werden dann die direkten theologischen Referenzwerke und Taftāzānīs Schriften in Beziehung gesetzt (3.3). Sodann erfolgt eine Begründung der Themenauswahl, deren Bearbeitung den Hauptteil der Arbeit darstellen wird (3.4). Dabei bildet die Auferstehungslehre (Kapitel 4) den ersten Teil, woran sich die Handlungstheorie (Kapitel 5) anschließt. Als drittes Themengebiet vervollständigt die Schöpfungslehre diese Auswahl (Kapitel 6). In jedem dieser Kapitel wird so verfahren, dass am Anfang eine thematische Einführung steht, wobei auch immer die koranische Lehre einbezogen wird (4.1/5.1/6.1). Daran schließt sich im Hauptteil die Darstellung der Lehren Taftāzānīs an – gegliedert nach seinen erwähnten drei theologischen Schriften (4.2/5.2/6.2.). Um eine bessere Übersicht zu behalten, werden die drei Schriften dabei auf jedem Themengebiet in der gleichen Reihenfolge behandelt. Eine Einführung erfolgt jeweils durch den Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya, bevor die Breite der Argumentation und Diskussion an Hand von Šarḥ al-Maqāṣid dargestellt wird, woran sich jeweils die Rekapitulation der Kernaussagen im Tahḏīb der „Zusammenfassung“ (s. 3.3.3) anschließt.
49 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift.
Bemerkungen zu Koranübersetzungen, Umschrift und Zeitrechnung
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Den Abschluss eines jeden thematischen Kapitels bildet ein Fazit (4.3/5.3/6.3), bevor im siebten Kapitel die Ergebnisse der gesamten Untersuchung nochmals abschließend ausgewertet werden.
1.6 B emerkungen zu Koranübersetzungen, Umschrift und Zeitrechnung Bis vor kurzem war es üblich, in deutschsprachigen islamwissenschaftlichen Studien meist auf die Koran-Übersetzung von Rudi Paret zurückzugreifen, die seit ihrem ersten Erscheinen 1966 zahlreiche Neuauflagen erlebt hat.50 Die koranimmanente Wiedergabe ohne die Berücksichtigung späterer Kommentare und Auslegungen51 von einem ausgewiesenen Experten für die arabische Sprache erschien als ausschlaggebender Grund für ihre Verwendung. Doch ganz befriedigend war dies nicht. Abgesehen von vielen Einschüben und Varianten, die für den Lesefluss schädlich sind, trägt die Übersetzung manchmal auch Züge einer „Wiedergabe der koranischen Offenbarung“ durch „Büro-Deutsch mit harmlosflapsiger Umgangssprache und süddeutschen Reminiszenzen“.52 Die neuere Übersetzung von Hartmut Bobzin53 behebt viele dieser Schwächen, weshalb seine Übersetzung hier als Standardübersetzung ausgewählt wurde und ihr die allermeisten Koranzitate entstammen. Doch es gibt auch Ausnahmen. Wenn dem Verfasser die Übersetzung von Bobzin an manchen Stellen nicht treffend für den Zusammenhang erschien, wurden punktuell auch die Übersetzungen von Paret, Hans Zirker54 oder die deutsche Ausgabe der e nglischen Übersetzung von Muhammad Asad55 hinzugezogen.56 An einigen Stellen erscheint in der theologischen Debatte eine Sinnebene oder wörtliche Konkretisierung des
50 Hier wurde die 8. Auflage verwendet: Paret, Rudi, Der Koran, Stuttgart 2001. 51 Luthay, Magda, Rudi Paret. In: Bobzin, Hartmut u. Kleine, Peter (Hg.): Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute, Arnsberg 2007, 48. 52 Wild, Stefan, „Die schauerliche Öde des heiligen Buches“ Westliche Wertungen des koranischen Stils. In: Giese, Alma und Bürgel, Christoph (Hg.), Gott ist schön und er liebt die Schönheit, Bern u.a. 1994, 429–447, 446. 53 Bobzin, Hartmut, Der Koran, Neu übertragen von Hartmut Bobzin, München 2010. 54 Zirker, Hans, Der Koran, Übersetzt und eingeleitet von Hans Zirker, Darmstadt 2010. 55 Asad, Muhammad, Die Botschaft des Koran, Übersetzung und Kommentar, Düsseldorf 2009. 56 Dies ist wiederum eine persönliche Auswahl anerkannter und aktueller Übersetzungen. Eine Vorstellung von der Vielfalt deutscher Übersetzungen vermittelt neben dem Band von Bobzin und Kleine (s. Anm. 51) auch: Fisch, Michael, umm-al-kitâb. Ein kommentiertes Verzeichnis deutschsprachiger Koran-Ausgaben von 1543 bis 2013, Berlin / Tübingen 2013.
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Einleitung
Arabischen angezielt, die in keiner der genannten Übersetzungen zu finden war, weswegen dann eigene Übersetzungen erfolgen. Jede Übersetzung bleibt dabei eine mögliche Konkretisierung unter mehreren, insofern jeder Übersetzer aus seiner eigenen Perspektive übersetzt und Übersetzungen und ihre Varianten in einer Zielsprache neue Fragen aufwerfen können.57 Alle Begriffe aus der arabischen Sprache, die bereits als eingedeutscht betrachtet werden können, werden ohne Umschrift wiedergegeben (z. B. Koran und Hadith). Bei Ländern, Regionen und größeren Städten, die eine deutsche geographische Bezeichnung haben, wird die deutsche Schreibweise verwendet und auf eine Wiedergabe in Umschrift verzichtet (z. B. Chorasan, Samarkand oder Täbris), während bei kleinen Ortschaften die Umschrift Verwendung findet (z. B. Taftāzān oder Īǧ). Gleiches gilt für Eigennamen (z. B. der Prophet Mohammad, Timur aber Muʿizz ad-Dīn Muḥammad Kart). Alle übrigen Wiedergaben des Arabischen und Persischen erfolgen ebenfalls in Umschrift. Als Umschrift des Arabischen und des Persischen wird dabei nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft vorgegangen. Alle Datumsangaben erfolgen in der allgemeinen Zeitrechnung, auf eine generelle Doppelnennung mit den Jahreszahlen nach der Hiǧra-Zählung wurde verzichtet. Allenfalls dort, wo die Jahreszahlen nach dem islamischen Kalender in den Quellen zitiert werden und für die möglichst genaue Bestimmung eines Ereignisses relevant sind, werden sie aufgegriffen. Dies geschieht in der Überzeugung, dass ein Buch zur islamischen Theologiegeschichte in deutscher Sprache Sachverhalte aus der islamischen Tradition am besten vergegenwärtigt und in wissenschaftliche Überlegungen einfließen lassen kann, wenn es – wo immer möglich – den vorhandenen Verständnishorizont als Ausgangspunkt wählt.
57 Ein Beispiel hierfür ist Vers 107 aus Sure 21, den man sowohl mit „Wir haben dich nur gesandt als Barmherzigkeit für alle Welt.“ (Zirker, Der Koran, 206), oder mit Bobzin: „Und wir sandten dich nur aus Barmherzigkeit zu den Weltenbewohnern.“ (Bobzin, Der Koran, 286) als auch wie Paret: „Und wir haben Dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen.“ (Paret, Der Koran, 231) übersetzen kann. Jede Übersetzung hat dabei andere theologische Implikationen. So legt die Übersetzung Zirkers mit „als Barmherzigkeit“ eine Zuordnung der Barmherzigkeit zu Mohammad nahe, während Bobzins Übersetzung „aus Barmherzigkeit“ eine Zuordnung der Barmherzigkeit zu Gott vornimmt. Das „Erweisen von Barmherzigkeit“ scheint demgegenüber eher eine praktische Ausschüttung von Barmherzigkeit zu sein. Die zugrundeliegende arabische Wortgruppe ilā raḥmatan ist in diesen Hinsichten offen formuliert und macht keine Variante zwingend. [Hervorhebungen in den Übersetzungen von T.W.].
2 D ie Biographie des Saʿd ad-Dīn Masʿūd at-Taftāzānī Taftāzānīs Leben (1312/22–1390) spielte sich in einer Zeit großer historischer Umbrüche ab. Gegen Ende seiner Ausbildungszeit löste sich das Il-KhanidenReich 1335 mit dem Tod von Abū Saʿīd endgültig auf1 und sein durchaus noch sehr produktiver Lebensabend (1380–1390) stand stark im Zeichen der Gründung des kurzlebigen Großreiches von Timur. Sowohl das Il-Khaniden-Reich als auch die Herrschaftsbildung unter Timur wurzelten dabei in den politischen Entwicklungen nach der mongolischen Eroberung von Bagdad unter Hülägü im Jahr 1258, der die Geschichte der islamischen Kernlande entscheidend geprägt und das abbasidische Kalifat beendet hatte. Obwohl diese historische Zäsur die Zeit von Ibn Sīnā (st. 1037), Ġazālī (st. 1111) und Rāzī (st. 1210) von der Epoche trennt, in der die spätzeitlichen mutakallimūn Bayḍāwī (st. 1340), Īǧī (st. 1355) und Taftāzānī (st. 1390) wirkten, bleibt die theologische Darstellungsweise aus unserer heutigen Sicht erstaunlich unbeeinflusst von den politischen Vorgängen und folgt eher ihren inneren Dynamiken (s. Kapitel 3). Da der äußere Verlauf von Taftāzānīs Leben wie bei vielen anderen Gelehrten aber nichtsdestotrotz sehr entscheidend durch politische Entwicklungen und Herrscherpersönlichkeiten geprägt wurde, ist hier eine kurze Skizze der politischen Gegebenheit angebracht (2.1), bevor seine persönliche Biographie geschildert wird (2.2).
2.1 Das historische Umfeld Das Il-Khaniden-Reich war als einer von vier Teilen aus dem großen mongolischen Reich hervorgegangen, als dieses nach dem Tod des Großkhans Möngke im Jahr 1259 aufgrund eines Erbfolgekrieges zerfiel.2 Das neue Teilreich bekam seinen Namen vom Titel seiner Herrscher, den Il-Khanen, was wörtlich übersetzt „Friedensherrscher“ bedeutet.3 Es gewann auf dem Territorium des heutigen Iran in den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts seine Gestalt. Sein Zentrum war Täbris. Bis zum Übertritt des Il-Khans Ġazān (reg. 1295–1304) zum Islam 1295 war es meist von Nichtmuslimen beherrscht worden, die zum Teil zum Buddhismus
1 Gronke, Monika, Die mongolische Epoche (1250–1500). In: Noth, Albrecht & Paul, Jürgen (Hg.), Der islamische Orient. Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg 1998, 255–329, 272f. 2 Kollmar-Paulenz, Karénina, Die Mongolen. Von Dschingis Khan bis heute, München 2011, 45. 3 Kollmar-Paulenz, Die Mongolen, 51.
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Die Biographie des Saʿd ad-Dīn Masʿūd at-Taftāzānī
oder auch zum nestorianischen Christentum tendiert hatten.4 Ġazān erblickte nun im Islam wieder ein „staatstragendes Prinzip“5 und bekannte sich zum sunnitischen Islam und zur ḥanafitischen Rechtsschule.6 Doch auch die muslimischen Il-Khane behielten die vom islamischen Recht nicht legitimierbaren Formen der Besteuerung und der Zollpflichten,7 auf die auch später Timur nicht verzichten wollte, bei. Dies wird in einer anekdotischen Begebenheit, in der Taftāzānīs Sohn die Hauptrolle spielt, noch einmal Erwähnung finden. In die 40 Jahre des Il-Khaniden-Reichs unter dauerhaft islamischen Herrschern (1295–1335) fallen auch weite Abschnitte des Lebens der direkten Vorläufer Taftāzānīs in der Theologiegeschichte, nämlich von Bayḍāwī und Īǧī, worauf im Rahmen von kurzen Skizzen beider Gelehrter noch zurückzukommen sein wird. Taftāzānīs Leben spielte sich demgegenüber ein Stück weiter im Osten ab, wo das Il-Khaniden-Reich an den Ulus Tschagatai grenzte, der ebenfalls aus dem mongolischen Großreich hervorgegangen war und vor allem zentralasiatische Gebiete und damit auch Transoxanien mit den wichtigen Städten Buchara und Samarkand umfasste. Damit prägte dieses nach Dschingis Khans zweitem Sohn Tschagatai (st. 1241/2) benannte Teilreich sowohl von Nomaden bevölkerte Steppen wie die Qipchaq-Gegend als auch agrarisch genutztes Fruchtland wie das Ferghana-Tal. Nomaden und Sesshafte standen daher in regem Austausch.8 Muslimisch geprägte urbane Zentren trugen zusätzlich zum heterogenen Charakter dieses Herrschaftsgebiets bei.9 Taftāzānīs eher kleiner Geburtsort Taftāzān liegt heute an der iranisch- turkmenischen Grenze, damals verlief die Grenze zwischen dem Il-KhanidenReich und dem Ulus Tschagatai ähnlich und lag nur ein Stück weiter nördlich. Zum Zeitpunkt von Taftāzānīs Geburt (1312 oder 1322, s. u.) bestanden das Il-Khaniden-Reich und der Ulus Tschagatai noch. Doch zerfielen das Il-Khaniden-Reich (1335) wie auch das Khanat auf dem Gebiet des Ulus Tschagatai fast zeitgleich (1338) und gaben einer Reihe von Nachfolgestaaten Raum. Diese befehdeten sich in vielen Kleinkriegen,10 was hier nicht mehr nachgezeichnet werden muss. Taftāzānī selbst war aber, wie dann im nächsten Abschnitt noch genauer zu sehen sein wird, an verschiedenen Höfen dieser Nachfolgereiche anzutreffen. Er bewegte sich damit im Osten des heutigen Iran, in Afghanistan, sowie auf dem
4 Kollmar-Paulenz, Die Mongolen, 52. 5 Gronke, Epoche, 276. 6 Gronke, Epoche, 277. 7 Gronke, Epoche, 281. 8 Manz, Beatrice, The Rise and Rule of Tamerlane, Cambridge 1989, 22. 9 Kollmar-Paulenz, Die Mongolen, 59. 10 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 24.
Das historische Umfeld
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Boden des heutigen Turkmenistan und Usbekistan und musste sich schließlich an Timurs Hof in Samarkand begeben. Timur wurde etwas weiter nördlich als Taftāzānī in Transoxanien im damaligen Ulus Tschagatai wahrscheinlich um das Jahr 1336 geboren.11 Seine Geburt fiel damit ungefähr in die Zeit, als der dort herrschende Khan Ṭarmašīrīn (reg. 1326–1334) den Islam annahm, nachdem besonders in dieser Gegend mongolische Traditionen noch länger lebendig geblieben waren.12 Die Annahme des Islams durch den Khan ging mit einem „festeren Gefüge von Herrschaft und Verwaltung“, ähnlich wie im Il-Khaniden-Reich unter Ġazān einher.13 Timur selbst scheint aber zugleich auch durch die – natürlich weiterhin bestehende – nomadische Lebensart beeinflusst worden zu sein.14 Seine spätere Reichsbildung prägten nämlich sowohl raumgreifender Eroberungsdrang, als auch eine besondere Bewunderung für das städtische Leben, was sich in seinen umfangreichen Baumaßnahmen in Samarkand zeigen sollte. Nachdem Timur um 1360 Anführer des Barlas-Stammes geworden war und damit als historische Figur greifbar geworden ist,15 baute er seine Macht schnell aus und hatte sich 1370 die Vorherrschaft im Ulus Tschagatai auch formell gesichert.16 Samarkand wurde von Timur als Zentrum seines Reiches ausgewählt.17 Einer seiner Vorgänger als Machthaber im Ulus Tschagatai, Kazaǧān (st. 1358), hatte 1351 bereits den Herrscher von Herat, Muʿizz ad-Dīn Muḥammad Kart (reg. 1332–1370), in politische Abhängigkeit gebracht18 und damit eine Verbindung zwischen Transoxanien und Herat im heutigen westlichen Afghanistan geschaffen, die nicht nur für Taftāzānī persönlich, sondern auch für seine Nachfahren von Bedeutung sein sollte. Timur plante aber deutlich weiter ausgreifende Eroberungen. Zwischen 1380 und 1385 stieß er bis Westpersien und 1388 auch bis Anatolien vor, bevor er einige Jahre Krieg gegen das mongolische Teilreich der Goldenen Horde in Südrussland führte. 1401 unternahm er einen Raubzug in den Norden Indiens, um 1402 erneut nach Anatolien vorzustoßen, wo er den Osmanischen Sultan Bayezid I. bei
11 Kollmar-Paulenz, Die Mongolen, 59. 12 Spuler, Bertold, Central Asia V. In: The Mongol And Timurid Periods. In: EIr. (V), 172–176, 173. 13 Nagel, Tilman, Timur der Eroberer und die islamische Welt des späten Mittelalters, München 1993, 65. 14 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 21. 15 Léomy, Fabrice, Tamerlan. Le „condottiere“ invaincu, Paris 1996, 34. 16 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 58; Léomy, Tamerlan, 74; Nagel, Timur der Eroberer, 119. 17 Nagel, Timur der Eroberer, 120. 18 Jackson, Peter, Chaghatayid Dynasty. In: EIr (V), 343–347, 346; Nagel, Timur der Eroberer, 68.
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Ankara schlug, dann allerdings nicht weiter nach Westen vordrang. Auf einem Feldzug nach China starb er im Jahr 1405.19 Aufgrund der Tatsache, dass Timur bei diesen Feldzügen weite Teile Asiens nochmals kurzzeitig erobern konnte, gilt er als der letzte große Repräsentant der nomadischen Machtausbreitung in sesshafte Gebiete.20 Diese letzte massive nomadische Eroberungswelle unterschied sich von den früheren dadurch, dass die zu erobernden Gebiete bekannt waren21 und Timur daher nicht in gleichem Maße wie Dschingis Khan in Neuland vorstieß. Die Kenntnis sowohl der handwerklichen wie auch der intellektuellen Kompetenzen in den eroberten Gebieten mag mit einen Grund dafür darstellen, dass Timur neben den Handwerkern für seine architektonischen Projekte bald nach seiner Eroberung von Chorasan auch Gelehrte wie Taftāzānī gezielt an seinen Hof holte. Sowohl die Konzentration von Macht in urbanen Zentren als auch die religiöse Bindung der timuridischen Eroberer an den Islam, die bei den ersten mongolischen Eroberern noch nicht bestanden hatte, können in diesem Zusammenhang als weitere wesentliche Faktoren für Timurs „Zwangsrekrutierungen“ angesehen werden. Nur so ließ sich Können und Wissen auf relevanten Feldern wie Architektur, aber eben auch Religionsgelehrsamkeit schnell an einem Ort wie Samarkand zusammenführen. Trotzdem blieb Timurs Administration in ihren Spitzen ganz auf ihn als Person zugeschnitten, während er für die unteren Bereiche auf die etablierten Strukturen der eroberten Gebiete zurückgriff.22 Zu Beginn seiner längerfristigen Eroberungszüge außerhalb des Ulus Tschagatai brachte Timur zunächst wieder die in Herat regierende Dynastie der Kart mit Ġiyāṯ ad-Dīn Pir ʿAlī (reg. 1370–1381; st. 1389) an der Spitze unter seine Kontrolle,23 da Ġiyāṯ ad-Dīn Herat befestigt hatte, um einer Belagerung durch Timur standhalten zu können und so seinem Streben nach Unabhängigkeit Ausdruck verlieh.24 Taftāzānī weilte zu jener Zeit in Saraḫs, das zum Machtbereich der Kartiden gehörte,25 wurde so in den Lauf der Ereignisse verwickelt und musste an Timurs Hof nach Samarkand umsiedeln. Es scheint, als hätte sich das Leben der Nachfahren Timurs und Taftāzānīs dann auch in einem regional eng begrenzten Rahmen abgespielt. Sohn und Enkel von Taftāzānī hatten Ämter in Herat inne, das nach Timurs Tod 1405 von seinem
19 Gronke, Epoche, 289. 20 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 1. 21 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 1. 22 Manz, The Rise and Rule of Tamerlane, 107. 23 Léomy, Tamerlan, 98. 24 Nagel, Timur der Eroberer, 157f. 25 Szuppe, Maria, Herat III. History, Medieval Period. In: EIr (XII), 206–211, 209.
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Sohn Schah Ruch (1405/9–1447) zum neuen politischen Mittelpunkt bestimmt wurde. Doch mit dem Tod des timuridischen Protegé Ḥusayn Bayqara (1469–1506) endete die timuridische Nachblüte in Herat.26 Nach der safawidischen Eroberung der Stadt soll Taftāzānīs Urenkel ein tragisches Ende gehabt haben.27 Ausgehend von dieser Skizze der damaligen politischen Konstellation kann Taftāzānīs Lebensweg, auf den schon manches Mal verwiesen wurde, um die Querverbindungen zwischen großer Politik und individuellem Gelehrtenleben aufzuzeigen, genauer nachgezeichnet werden. Der Blick richtet sich somit auf einen kleinen Ort ziemlich in der Mitte der Weltgegenden Zentralasien und Iran, die bisher Thema waren.
2.2 Die Lebensbahn des Taftāzānī Taftāzānī ist wie viele Gelehrte der islamischen Geschichte unter seinem „Herkunftsnamen“, der nisba, bekannt geworden. Dieser Name bezieht sich bei ihm auf Taftāzān in der Region Chorasan, das als mittelgroße Stadt (šahr-e wasaṭ) oder großes Dorf bezeichnet wird.28 Der Ort lässt sich auf 57o 49ʹ östlicher Länge und 37o 45ʹ nördlicher Breite lokalisieren.29 Ḥamdallāh Mostoufī (st. zwischen 1339 u. 1349), der bedeutende Historiker und Geograph der Il-Khanidenzeit beschreibt Taftāzān in seinem berühmten Buch „Glückseligkeit der Herzen“ (Nuzhat al-qulūb) als einen von vielen Flüsschen durchzogenen Ort, dessen Hauptertrag Früchte und Getreide seien.30 Zwar wurde dieses Buch zwischen 1339 und 1349 verfasst31 und kommt damit der Zeit der Geburt (1312 oder 1322) und frühen Jugendjahre des Taftāzānī nahe, doch stützt es sich bei den Beschreibungen iranischer Länder oft auf deutlich ältere Werke wie das „Buch von den Erscheinungsweisen der Provinzen“ (K. Ṣuwar al-aqālīm) des Abū Zayd al-Balḫī (st. 934) oder das „Buch der Vorgehensweisen und der Könige“ (K. al-Masālik wa-l-Mamālik) des Ibn Ḫurraḏabih (st. um 900).32 Da der Ort aber wohl nicht gewachsen ist und über Jahrhunderte bewohnt blieb, scheinen die wenigen Aussagen der Nuzhat nicht irreführend zu
26 Spuler, Central Asia V. In: EIr (V), 174. 27 Brockelmann, GAL II, 284. 28 Krawulsky, Dorothea, Īrān. Das Reich der Īlḫāne, Wiesbaden 1978, 117f; Mostoufī, Ḥamdollāh, Nuzhat al-qulūb, Leiden & London 1913, 157. 29 Krawulsky, Das Reich, 118; Karte 4. 30 Mostoufī, Nuzhat al-qulūb, 157. 31 Krawulsky, Das Reich, 21. 32 Krawulsky, Das Reich, 25. Die Beschäftigung mit Chorasan war bei Moustofī zudem wohl etwas stiefmütterlich ausgeprägt. Krawulsky, Das Reich, 33.
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sein und geben uns daher wenigstens eine ungefähre Vorstellung der kleinen Ortschaft, in der Taftāzānī geboren wurde. So wie die Geographie nur die Umrisse einer Ansiedlung mit einigen Bächen und Anbauflächen erkennen lässt, so ist auch die ethnische Zuordnung von Taftāzānī und seiner Familie eher ungewiss. Madelung nimmt eher eine persische Herkunft an, doch finden sich bei Sarton auch Hinweise auf eine türkische Abstammung, wobei die Zuordnung persischer oder türkischer Herkunft oft einen eher willkürlichen Charakter hat.33 Da alle hier relevanten Werke Taftāzānīs aber arabisch geschrieben sind und sich ohnehin in eine verschiedene ethnische Zugehörigkeiten umfassende Tradition islamischer Theologie einreihen, ist die Frage einer ethnischen Zuordnung erwähnenswert, vertieft zu werden braucht sie jedoch nicht, zumal Taftāzānī heute von keiner modernen Nation systematisch vereinnahmt wird. Als Geburtsjahr Taftāzānīs wird das Jahr 712 nach der Hiǧra angegeben, also das Jahr 1312 unserer Zeitrechnung.34 Andere Quellen sprechen vom Monat Ṣafar im Jahr 722, was dem Juli des Jahres 1322 entspricht.35 Auch aus den Werklisten lässt sich das genaue Datum seiner Geburt nicht eindeutig erhellen. Zwar ist bekannt, dass es sich bei seinem ersten Werk um einen Kommentar (Šarḥ) zum Taṣrīf al-ʿIzzī des Zanǧānī (s. 2.3), also eine Schrift zur arabischen Morphologie handelt, doch wird hierbei meistens nur sein Lebensalter von sechzehn Jahren angegeben, ohne dass eine Jahreszahl genannt wird. Bei den späteren Werken verhält es sich genau umgekehrt. Hier erfahren wir allein den Zeitpunkt ihrer Abfassung, nicht aber das Lebensalters Taftāzānīs zum fraglichen Zeitpunkt. Eine Ausnahme bildet Ǧalāl ad-Dīn Ḫwāfī, der mit 738, also dem Jahr 1338, immerhin eine Jahreszahl für die Abfassung des Taṣrīf nennt, aber wiederum kein Lebensalter Taftāzānīs angibt.36 Nur der Bericht des jemenitischen Historikers Muḥammad b. ʿAlī aš-Šawkānī (st. 1834) kombiniert im „Aufsteigenden Vollmond“ (al-Badr aṭ-ṭāliʿ) eine zeitliche Angabe für Taftāzānīs früheste Schrift, wie Ḫwāfī das Jahr
33 Sarton, George, Introduction to the History of Science III. Science and Learning in the Fourteenth Century, Baltimore 1948, 1100, 1326. 34 Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Durar al-kāmina fī aʿyāni l-miʾati ṯ-ṯāmina 2 Bände, Beirut 1997, hier Band I, 214. Ders., Inbāʾ al-ġumr bi-inbāʾ al-ġumr, Kairo 1969, 389f. Dieser Angabe folgen Ibn alʿImād, ʿAbd al-Ḥayy, Šaḏrāt aḏ-ḏahab fī aḫbār man ḏahab VI, Beirut 1979, 319 und Ṭāšköprü-Zāda, Aḥmed Ibn Muṣṭafā, Miftāḥ as-saʿāda wa-miṣbāḥ as-siyāda fī mawḍūʿāt al-ʿulūm I, Kairo 1968, 205. 35 Ḥwāndmīr, Ġiyāṯ ad-Dīn, Tārīḫ-i Ḥabīb as-siyar fī aḫbār afrād bašar III, Teheran 1954 (1333), 544; Laknawī, Mūḥammad, al-Fawāʾid al-bahīya fī tarāǧim al-ḥanafīya, Kairo 1906, 135; Thackston, W. M., Ḫwandmir Habib’s-Siyar III, Harvard 1994, 301; Brockelmann, GAL II, 278. 36 Ḫwāfī, Aḥmad b. Ǧalāl ad-Dīn, Muǧmal-i faṣīhī III, Maschad 1920, 124.
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738 (1338), mit der Aussage, dass Taftāzānī zum Zeitpunkt ihrer Abfassung sechzehn Jahre alt war, weshalb er folglich als Geburtsjahr 722 anführt.37 Ein Vermerk bei dem ägyptischen Historiker Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (st. 1494) in den „Verborgenen Perlen“ (ad-Durar al-kāmina) verweist allerdings im Zusammenhang mit seinem Tod um das Jahr 1390 darauf, dass Taftāzānī knapp 80 Jahre alt geworden sei, was für das Jahr 712 sprechen würde.38 Insgesamt scheint aber das Geburtsjahr 722 wahrscheinlicher und es ergibt sich daher kein Grund hier von dem in der Encyclopaedia of Islam und in einem biographischen Artikel aus der Zeitschrift der Azhar-Universität (Mağallat al-Azhar) genannten Datum abzuweichen.39 Während seiner Ausbildung soll Taftāzānī – wie viele später berühmt gewordene Gelehrte auch – seine Mitschüler und sogar Lehrer früh in Bezug auf Gelehrsamkeit überflügelt haben.40 Einige Quellen berichten, dass er Schüler des bekannten Theologen Īǧī gewesen sei,41 dessen Hauptwerk, die „Stationen“ (Mawāqif) in jedem Fall eine wichtige Referenz für Taftāzānīs theologische Schriften darstellt (s. 3.3.2.4). Madelung zweifelt dieses Schülerverhältnis an, da Taftāzānī Īǧī in seinem Kommentar zu einem Werk Īǧīs sehr lobend erwähnt, ohne ihn als seinen Lehrer zu bezeichnen.42 Madelung nimmt daher eher an, Ḍiyāʾ ad-Dīn al-Qirimī (st. 1379), der seinerseits Schüler bei Īǧī war, sei maßgeblicher Lehrer Taftāzānīs gewesen, zumal seine Interessengebiete mit denen Taftāzānīs korrespondierten.43 Dies lässt sich insofern nachvollziehen, als Ibn Ḥaǧar in seiner „Benachrichtigung der Wenigen“ (Inbāʾal-ġumr) erwähnt, dass Taftāzānī ein Schüler Qirimīs gewesen sei, doch bleibt dies allenfalls eine kurze Notiz. Wissenschaftliche Interessen gibt er an dieser Stelle nicht an.44 Was persönliche Interessenschwerpunkte beider Gelehrter anbelangt, so hebt Ibn Ḥaǧar anderen Orts, nämlich in den schon zitierten „Verborgenen Perlen“, bei Qirimī vor allem seine Rechtsgelehrsamkeit hervor.45 Bei Taftāzānī steht nach Ibn Ḥaǧar
37 Šawkānī, Muḥammad b. ʿAli, al-Badr aṭ-ṭāliʿ bi-mahāsin man baʿd al-qarn as-sābiʿ, Kairo 1930, 303. 38 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. 39 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013; ʿAlī Muḥammad Ḥasan al-ʿUmarī, Saʿdu d-dīn at-Taftāzānī. In: Mağallat al-Azhar Bd. 19, Teil 10 (1948), 944–948, 944. 40 Thackston, Habibu’s-Siyar III, 301. 41 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 205; Sarton, Introduction to the History of Science II, 1462; Storey, Al-Taftāzānī. In: EI1, 654. 42 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013. Ders., at-Taftāzānī und die Philosophie, 211f. 43 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 212. 44 Ibn Ḥaǧar, Inbāʾ al-ġumr bi-inbāʾ al-ʿumr, 183. 45 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina I, 125.
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allerdings eindeutig Rhetorik im Vordergrund.46 Als weiterer Lehrer wird Quṭb ad-Dīn at-Taḥtānī (st. 1364) genannt,47 doch auch in diesem Fall bezweifelt Madelung das Schülerverhältnis und nimmt eher eine spätere Bekanntschaft der beiden Gelehrten an.48 Insgesamt sind die Informationen hier spärlich, doch was die Schülerschaft bei Īǧī betrifft, wäre diese zeitlich möglich, da Taftāzānīs Ausbildung je nach Geburtsdatum in den zwanziger und dreißiger oder in den dreißiger und vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts angenommen werden muss, beides Jahrzehnte, in denen Īǧī noch lebte und wirkte (s. u.). Auch wenn Taftāzānīs Aufenthaltsorte während seiner Lehrjahre nicht dokumentiert sind, erhielt er in jedem Fall eine umfassende Madrasa-Ausbildung, wobei sicher die Fächer Grammatik, Rhetorik, Koranexegese und Recht eine Rolle gespielt haben und gewiss auch Logik und kalām, also Theologie, vorkamen. Zu allen diesen Disziplinen schrieb er während seines Gelehrtenlebens auch eigene Kommentarwerke, auf die noch zurückzukommen sein wird. Seine erste Schrift zur arabischen Morphologie (Šarḥ at-taṣrīf az-Zanǧānī) verfasste er, wie schon erwähnt, im Alter von sechzehn Jahren.49 Angesichts seiner frühen eigenen Produktivität und seines späteren Rufes verwundert eine Anekdote, die der syrische Gelehrte Ibn al-ʿImād (st. 1679) in seinem biographischen Lexikon der „Goldsplitter“ (Šāḏarāt aḏ-ḏahab) erzählt. Demnach war Taftāzānī in der Schülerschaft des Īǧī zunächst derjenige, der die meisten Probleme mit dem Verständnis des Stoffes hatte.50 Erst nach einer Traumerfahrung, in der ihm der Prophet eine Öffnung seines Verständnisses verheißen habe, sei er zu „Wissen und Licht“ gekommen.51 Taftāzānīs Rechtsschulzugehörigkeit ist nach der Quellenlage nicht eindeutig auszumachen.52 Er hatte aber in jedem Fall Kenntnisse des ḥanafitischen53 und des šāfiʿītischen54 und hat zu Werken beider Schulen eigene Kommentare verfasst:55 So findet sich mit dem „Hinweis zur Aufdeckung der Wahrheiten im Buch der Durchsicht“ (Talwīḥ fī kašf ḥaqāʾiq at-Tanqīḥ) ein frühes Werk von Taftāzānī zu den Prinzipien der Rechtswissenschaft (Uṣūl al-fiqh), das er 1357
46 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. 47 Ibn Ḥaǧar, Inbāʾ al-ġumr, 390; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 205. 48 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 212. 49 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 212. 50 Ibn al-ʿImād: „aš-šayḫu Saʿdu d-dīn kāna fī ibtidāʾi ṭalabihī baʿīda l-fahmi ǧiddan wa-lam yakun fī ǧamāʿati l-ʿAḍudi ablada minhū.“, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 321. 51 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 321. 52 Salāma, Muqaddima Šarḥ al-ʿAqāʾid, 13f.; Storey, Al-Taftāzānī. In: EI1, 654. 53 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. 54 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 205. 55 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013; van Ess, Schulweisheit, 35, 90.
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vollendete.56 Das zugrunde liegende Werk ist die „Durchsicht der Quellen der Rechtswissenschaft“ (Tanqīḥ al-uṣūl) von ʿUbaydallāh al-Maḥbūbī (st. 1346/7).57 Aus dem Jahr 1358 (9. Ḏū al-Qaʿda 759) stammt eine Sammlung ḥanafitischer Rechtsgutachten (al-Fatwā al-ḥanafīya),58 die aber wohl nicht überliefert ist. Im Jahr 1389 stellte Taftāzānī einen Kommentar zum ḥanafitischen Erbrecht fertig, den er zu den Farāʾid Sirāgīya verfasst hatte. 59 Ein Werk mit den Titel Miftāḥ aus dem Jahr 138060 beschäftigt sich mit šāfiʿitischem Recht.61 Vor diesem Hintergrund war die Zuordnung Taftāzānīs schon früher umstritten, wie der Historiker Muḥammad Laknawī (st. 1887) berichtet, der Stimmen für beide Zugehörigkeiten aufzählt.62 Vielleicht waren aber auch die Kenntnisse in beiden Schulen wichtiger als die klare Positionierung. So berichtet der syrische Historiker ʿArabšāh (st. 1450) in seinem Geschichtswerk, dass Timur, als er Taftāzānī und andere Gelehrte an seinen Hof zog, neben den namentlich genannten noch einige „andere Berühmtheiten ḥanafitischer und šāfiʿītischer Rechtsschule“ hinzukommen ließ (wa-ġayrahum min fuḍalāʾ al-ḥanafīyati wa-š-šāfiʿīya).63 Dieser Bericht lässt für Timurs Zeit eine gleich große Bedeutung beider Rechtsschulen vermuten. Vielleicht war es daher für Taftāzānī wichtiger, Belege seiner Expertise in beiden Traditionen zu geben, als einer Rechtsschule klar zugeordnet zu werden, obwohl er sicher einer Rechtsschule angehört hat. Seine Nähe zur māturīditischen theologischen Schule in seinem theologischen Frühwerk lässt am ehesten den Schluss zu, dass er Ḥanafīt war, da diese theologische Richtung in ihrer Entstehungsgeschichte aufs Engste mit der ḥanafitischen Tradition in Transoxanien verbunden war.64 In diese Richtung tendiert auch Salāma, verknüpft dies aber zugleich mit der Bemerkung, dass es sich wegen seiner šāfiʿītischen Werke kaum um eine ausschließliche V erpflichtung auf die ḥanafitische Rechtsschule gehandelt haben könne (ġayr multazim kull al-iltizām bi-l-ḥanafīya).65
56 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 57 Storey, Al-Taftāzānī. In: EI1, 656. 58 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. Ibn al-ʿImād gibt alternativ das Jahr 769, aber denselben Kalendertag an: Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Salāma, Muqaddima Šarḥ al-ʿAqāʾid, 26. 59 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214; Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 304; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ assaʿāda I, 207; van Ess, Schulweisheit, 64. 60 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 61 Storey, Al-Taftāzānī. In: EI1, 656; Salāma, Muqaddima Šarḥ al-ʿAqāʾid, 26. 62 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 134f. 63 Ibn ʿArabšāh, Aḥmad, Kitāb ʿAǧāʾib al-maqdūr fī aḫbār Tīmūr. Ed, Golius, Iacobus: Historia Tamerlanis Arabice, 1636 o. O., 111 (Buchstabenfolge q-y-alif in der Edition von Golius). 64 Rudolph, Ulrich, Al-Māturīdī und die sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden, New York & Köln 1997, 25f. 65 Salāma, Muqaddima Šarḥ al-ʿAqāʾid, 21.
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Taftāzānīs Lebensweg wird um das Jahr 1342 mit einem Aufenthalt in Ǧurǧānīya in Chorasan und mit seiner Tätigkeit in Herat am Hof des Muʿizz ad-Dīn Kart (st. 1370) etwas greifbarer. Hier schloss er auch sein Hauptwerk zur Rhetorik (s. u.) im Monat Ṣafar des Jahres 748,66 demnach im Mai 1347, ab. Je nach biographischer Angabe für sein Geburtsdatum war er zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt (712) oder 26 Jahre (722). In jedem Fall befindet er sich mit dem Aufenthaltsort Herat bereits im Umfeld eines Regionalherrschers. Die Dynastie der Kart beherrschte Herat von 1245 bis 1389, wobei ihre Macht mit dem Niedergang des Il-Khaniden-Reiches zunahm, so dass sie zeitweilig über das Gebiet des modernen Afghanistan herrschten.67 Zwar sollte sich Taftāzānī später nochmals bei den Kartiden in Herat und auch in der zweitwichtigsten Stadt ihres Herrschaftsbereichs, in Saraḫs einfinden, doch zuvor verlagerte er seine Wirkung an andere Höfe. So befand er sich um 1351 zunächst in Ǧām und daraufhin bei Ǧānī Beg in Ġuǧduwān in der Nähe von Buchara, wo er 756, also 1355, sein kürzeres rhetorisches Werk, den Muḫtaṣar (s. u.), vollendete.68 Auf Grund der vielen Ortswechsel klagt Taftāzānī in der Einleitung des Werkes auch, er habe fast jede Zeile der Schrift in einem anderen Land geschrieben und „diese Länder und Gegenden hätten sich förmlich mit ihm beworfen“.69 Um 1358 kehrte er nach Herat zurück.70 Ein Jahr zuvor hatte er auch eine türkische Übersetzung des Gulistan aus der Feder des berühmten persischen Poeten Saʿādi verfasst,71 in der Sarton eines der frühesten Monumente der türkischen Dichtung sieht.72 Für das Jahr 1360 ist die Vollendung seines Kommentars zur logischen Schrift Risāla aš-Šamsīya (s. u.) in Mazārǧām belegt.73 Sein erstes theologisches Werk, den „Kommentar zu den Glaubensbekenntnissen des Nasafī“ (Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya, s. 3.3.2) vollendete er wohl im Šaʿbān 768, also im Jahr 1367.74
66 Ḫwāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124; Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt ad-ḏahab VI, 320; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 206; Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 303. 67 Haig & Spuler, Kart. In: EI2 Brill Online, 2013. 68 Ḫwāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124; Sellheim, Rudolf, Materialien zur Arabischen Literaturgeschichte II, Wiesbaden 1976, 120; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 301; van Ess, Schulweisheit, 36. 69 al-ʿUmarī, Saʿdu d-dīn at-Taftāzānī: „wa-tarāmā l-buldānu bī wa-l-aqṭār.“, 945. 70 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013. 71 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013. 72 Sarton, Introduction to the History of Science II, 1463. 73 Brockelmann, GAL II, 280; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. Ḫwāfī datiert das Werk schon in das Jahr 752, also 1351. Ḫwāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124. 74 Ḫwāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124; Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 303; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207.
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Hier schloss sich ab 1379 der schon erwähnte Aufenthalt in Saraḫs an, wo mit Malik Muḥammad Saraḫsī ein Sohn des früheren Herrschers Muʿizz ad-Dīn Kart als Gouverneur eingesetzt war,75 an dessen Hof Taftāzānī viele Jahre zuvor geweilt hatte. Malik Muḥammad intervenierte über seinen Bruder Ġiyāṯ ad-Dīn Pir ʿAlī, der in Herat herrschte, bei Timur, um Taftāzānī zu sich nach Saraḫs holen zu können.76 Zu diesem Zeitpunkt scheint Taftāzānī auf dem Höhepunkt der Anerkennung seiner Gelehrsamkeit angekommen zu sein, denn im Ḥabīb as-Siyar, einer wichtigen Quelle für die Biographien von Religionsgelehrten im Timuridenreich,77 schreibt Ġiyāṯ ad-Dīn Ḫwandamīr: „Der Atem seiner Bücher ist wie eine Frühlingsbrise, die dem Norden und Süden auf dem Erdenangesicht Fruchtbarkeit und Kraft schenkt.“78 Von Saraḫs wurde er dann aber 1382 nach Samarkand beordert, was er zunächst mit Verweis auf eine geplante Reise in den Hidschaz abzulehnen versuchte, doch Timur insistierte auf seinem Wunsch.79 Höchstwahrscheinlich war mit dem Entschluss zu einer Reise in den Hidschaz (ʿazīmat-e safar-e ḥiǧāz) eine beabsichtigte Pilgerreise nach Mekka gemeint, die Taftāzānī dann allerdings nicht mehr nachholen konnte. Zumindest ist in den verfügbaren Quellen nirgends die Rede davon, dass er nach Mekka gereist sei. Die Reiseabsicht kann aber auch erst entstanden sein, um sich der politischen Kontrolle zu entziehen, wie es mehrfach für andere Gelehrte belegt ist.80 Im Monat Ḏū al-Qaʿda 784, im Januar 1383, vollendete er auf jeden Fall – inzwischen in Samarkand eingetroffen – den Kommentar zu den Maqāṣid,81 sein theologisches Hauptwerk, das auch im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen wird. Etwas später folgte auch seine kurze Schrift zu Logik und Theologie, der Tahḏīb.82 Teile der Jahre 1383 und 1384 hat er nochmals in Saraḫs verbracht,83 wo er auch bestattet wurde.
75 Szuppe, Herat III. History, 209. 76 Ḥwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 544f.; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 301. 77 Manz, Power, Politics and Religion, 54f. 78 Ḥwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 545; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 301. 79 Ḫwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 545; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 302. 80 Robinson, Ottomans-Safavids-Mughals, 156; Umgekehrt gibt es auch Fälle von Exil, bei denen sich der Herrscher sich eines Gelehrten oder Poeten durch Verbannung entledigen wollte: s. Lange, Christian, Justice, Punishment, and the Medieval Muslim Imagination, Cambridge 2008, 95f. Der Zusammenhang vom Ortswechsel gelehrter Personen und den politischen Umständen tritt in beiden Fällen deutlich hervor. 81 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207; Brockelmann, GAL II, 280; van Ess, Schulweisheit, 36. 82 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 83 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013.
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Doch den Großteil seiner letzten Lebensjahre verbrachte er in Samarkand. Hierbei laufen die politischen Entwicklungen bei der Konstituierung des Großreichs von Timur einerseits und Taftāzānīs Lebensweg andererseits direkt parallel. Nach der Eroberung von Schiras zwang Timur dann auch den Gelehrten ʿAlī b. Muḥammad al-Ǧurǧānī (st. 1413) an seinen Hof in Samarkand, von dem van Ess schreibt: „In Samarqand traf man überall auf deportierte Wissenschaftler; Timur hatte sie eingesammelt wie die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die deutschen Raketenspezialisten.“84 Im Kontext der Zeit war es dann aber eher ein Versuch den eigenen Hof mit Spezialisten auf den verschiedensten Wissensgebieten zu bereichern, wobei man vielleicht eine Traditionslinie zum mongolischen Großreich ausmachen kann. Hier verfuhr der Nachfolger Dschingis Khans Ödegei Khan (st. 1251) ähnlich, als er ab 1235 die Hauptstadt Karakorum – ca. 400 Kilometer vom heutigen Ulanbator entfernt – zu einem kulturellen Zentrum machte.85 Die Versammlung von drei führenden Religionsgelehrten der Zeit in Samarkand unter Timur führte zu dem bekanntesten Ereignis aus Taftāzānīs Biographie. Denn Taftāzānī sollte sich als einer der maßgebenden Gelehrten in Samarkand einige Jahre später mit dem etwas jüngeren Ǧurǧānī öffentlich auseinandersetzen müssen. Als dritter wäre noch Muḥammad al-Ǧazarī (st. 1405) aus Syrien zu nennen,86 der in Taftāzānīs Biographie jedoch keine Rolle zu spielen scheint. Taftāzānī hatte wegen seines höheren Alters und seiner früheren Ankunft in Samarkand den Rang des Ṣadr aṣ-ṣudūr, eines „Ersten der Vorrangigen“ am Hof inne.87 Obwohl man ihn mit van Ess daher wohl schon als „Platzhirsch“ auf seinem Gebiet bezeichnen kann,88 scheint er sich doch einmal mittels seiner Schüler erkundigt zu haben, woran Ǧurǧānī gerade arbeitete.89 Zunächst wohl auf Verlangen eines interessierten Publikums begannen beide Gelehrte, öffentliche Disputationen abzuhalten. Zunächst waren es Themen der Rhetorik, die in unserem Zusammenhang allerdings nicht weiter von Belang sind.90 Es heißt aber, Ǧurǧānī habe solche Debatten häufig für sich entscheiden können.91
84 van Ess, Schulweisheit, 41. 85 Kollmar-Paulenz, Die Mongolen, 37. 86 Manz, Power, Politics and Religion, 10. 87 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 128. 88 van Ess, Schulweisheit, 37. 89 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 183. 90 van Ess, Schulweisheit, 37 und bes. Fußnote 203, die auch Verweise auf weitere Literatur zu diesen rhetorischen Streitfragen enthält. Einen Überblick gibt Smyth, William, Controversy in a Tradition of Commentary: The Academic Legacy of Al-Sakkāki’s Miftāḥ Al-ʿUlūm. In: Journal of the American Society 112.4 (1992), 589–597, 594f. 91 Manz, Power, Politics and Religion, 63.
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Insofern Aubin für die timuridische Zeit eine Zunahme des politischen Einflusses von Sufischeichs annimmt,92 könnten bei Ǧurǧānīs erfolgreicheren Bemühungen, die öffentliche Meinung für sich einzunehmen, auch seine Beziehungen zum Sufismus von Bedeutung gewesen sein. Er scheint gute Kontakte zu ʿAlāʾ ad-Dīn ʿAṭṭār al-Buḫārī vom Sufi-Orden der Naqšbandīya gehabt zu haben,93 von dem er laut Laknawī auch in die Mystik eingeführt wurde.94 Bei Taftāzānī nennt Laknawī demgegenüber keinen Lehrer, von dem er mystisches Wissen erworben habe und er scheint ein eher reserviertes Verhältnis zum Sufismus gehabt zu haben (s. u.). Inwieweit dieser Aspekt unmittelbar entscheidend für den Ausgang der Debatten zwischen Ǧurǧānī und Taftāzānī war, lässt sich aber nicht entscheiden. Es ist generell schwer zu sagen, welchen Charakter die Diskussionen und die möglichen Entscheidungen hatten, und ob Timur selbst öfter zugegen war. Der Überlieferung nach drehte sich eine Diskussion um die Frage, ob Katzenliebe Teil des Glaubens sei.95 Im Hintergrund stand dabei wohl ein eher zweifelhaftes Hadith, dass dies so postuliert, auch wenn selbst der Verfasser des Berichts über die Auseinandersetzung Nūr ad-Dīn al-Harāwī (st. 1606) bestätigt, es habe keine auf den Propheten zurückgehende Wurzel (laysa lahū aṣl marfūʿ),96 also keine vollständige Überliefererkette (isnād). Für Taftāzānī scheint hier Liebe allgemein ein mögliches Zeichen des Glaubens gewesen, aber nicht in der konkreten Form von Katzenliebe vorgeschrieben zu sein.97 Weitere Details zum Verlauf der Diskussion liefert Harāwī leider nicht. Nach einem Bericht von Šawkānī gab es ebenfalls eine Debatte darüber, ob der Wunsch, Rache (irādat al-intiqām) zu üben, Grund des Zorns (ġaḍab), oder der Zorn Grund für den Wunsch nach Rache sei. Taftāzānī habe die erste These vertreten, nach der ein Rachewunsch am Anfang steht, während Ǧurǧānī zur Priorität des Zorns tendiert habe, der dann in den Rachewunsch münde. Mit dieser Meinung habe Ǧurǧānī Recht behalten.98
92 Aubin, Jean, Deux sayyids de Bam au XVe siècle. Contribution à l’histoire de l’Iran timouride. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Nr. 7 (1956), Wiesbaden 1956, (8). 93 Manz, Power, Politics and Religion, 64. 94 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 130. 95 Rex Smith, Al-Birrah fī ḥubb al-hirrah a 10th/16th century Arabic text on pussy cats. In: Arabian and Islamic Studies. Articles presented to R. B. Serjeant on the occasion of his retirement from the Sir Thomas Adam’s Chair of Arabic at the University of Cambridge, London 1983, 134–145, 134. 96 Al-Harāwī, Al-Birrah fī ḥubb al-hirrah, 141. 97 Al-Harāwī, Al-Birrah fī ḥubb al-hirrah, 142. 98 Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 305.
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Timur hat allerdings einmal eine definitive Entscheidung in einer solchen Disputation gefordert.99 Bei der wahrscheinlich finalen Debatte ging es um das „Zusammentreffen von eher beiläufigen und [die konkrete Aussage] darstellenden Metaphern“ (iǧtimāʿ al-istiʿāra at-tabʿīya wa-t-maṯīlīya)100 in Zamaḫšarīs Interpretation der Koranverse 2,57101: die sind von ihrem Herrn geleitet, und sie sind die, denen es wohlergeht. Siehe, die ungläubig sind, gleich, ob du sie warntest oder nicht, die glauben nicht. Versiegelt hat Gott ihre Herzen und ihr Gehör, und über ihren Augen liegt ein Schleier. Harte Strafe ist ihnen bestimmt.102
Ein muʿtazilitischer Richter mit Namen Nuʿmān ad-Dīn al-Ḫwārizmī war ebenfalls zugegen und sollte die Qualität der vorgetragenen Argumentationen beurteilen.103 Als die Entscheidung dann gegen Taftāzānī ausging, obwohl er sich als älterer und weiserer Gelehrter fühlte, war er sehr betrübt. Einige Quellen berichten, er sei bald darauf an Kummer verstorben.104 Der Disput der beiden Gelehrten trug aber zu ihrer Bekanntheit bei und wurde später als Gegenstand der Disputationen im osmanischen Lehrbetrieb noch lange aufgegriffen.105 Vielleicht trug er sogar zu den zahlreichen Editionen der Werke beider Gelehrter am Ende des 19. Jahrhunderts bei.106 Für sein genaues Todesdatum finden sich unterschiedliche Belege, doch favorisiert Sellheim das bei Ṭāšköprü-Zāda vorzufindende Zitat von Taftāzānīs Schüler Fatḥallāh aš-Širwānī, nachdem er am 10. Januar 1390 / 22. Muḥarram 792. verstorben sei.107 Dieses Datum, das auch Laknawī angibt,108 gilt als das wahrscheinlichste, da es sich auch auf seinem Grabstein zu finden scheint. Ṭāšköprü-Zāda nennt kurz vor dem fraglichen Zitat Širwānīs selbst das Todesjahr 791, allerdings
99 van Ess, Schulweisheit, 38. 100 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 128. 101 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 128; Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 305. 102 Bobzin, 10. 103 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 321; Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 129. 104 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 130; Šawkānī, al-Badr aṭ-ṭāliʿ, 305. 105 van Ess, Schulweisheit, 37; Manz, Power, Politics and Religion, 63 u. 204. 106 Robinson, Ottomans-Safavids-Mughals,155. 107 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 208. Sellheim, Materialien I, 165; Brockelmann gibt in seinem Supplement auch dieses Datum an, GAL Supplement II, 301. Auch Madelung entscheidet sich für dieses Datum: Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013; Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 211. 108 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 130.
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ohne den darin enthaltenen Widerspruch anzusprechen oder a ufzulösen.109 Ibn Ḥaǧar spricht in den „Verborgenen Perlen“ (ad-Durar al-kāmina) zunächst auch von 792, allerdings vom Monat Ṣafar der dem bei Širwānī angegebenen Muḥarram im islamischen Kalender folgt, gibt dann aber unter Berufung auf einen gewissen ʿAlāʾ ad-Dīn auch noch das Jahr 791 an.110 Ibn al-ʿImād reiht Taftāzānī in den Sterbelisten seiner „Goldsplitter“ ebenfalls unter diejenigen ein, die im Jahr 791 verschieden sind.111 Das Jahr 791 ist schließlich auch im Geschichtswerk des ʿArabšāh angegeben.112 Ḫwandamīr gibt sogar das sehr späte Datum 797 also 1394/5 an,113 steht damit aber ebenso alleine wie Ḫwāfī, der das sehr frühe Datum 787, also 1385, nennt.114 Nach seinem Tod wurde Taftāzānī an seinen früheren Wohnort Saraḫs überführt und dort am 9. Ǧumādā I 792 begraben, was dem 25. April des Jahres 1390 entspricht.115 Die genaue Angabe des Zeitpunktes ist nur von Širwānī überliefert, der berichtet, das Grab besucht zu haben und an einem Kenotaph (ṣundūq mardadihi) am Fußende des Grabes eine Liste mit seinen Schriften (taṣrīf) gefunden zu haben.116 Angesichts der sehr unterschiedlichen Angaben aus der Literatur wird hier diesem Bericht, der den Todeszeitpunkt mit seiner Bestattung und der Angabe auf dem Grabstein verbindet, am meisten Gewicht zugemessen, weshalb in dieser Arbeit das Todesjahr auch mit 1390 angegeben wird. Über Taftāzānīs Familie ist bekannt, dass er einen Sohn namens Mawlānā Muḥammad (st. 1434) hatte, dem er auch sein Werk zur Grammatik, den Iršād (s. u.), widmete. Aus den späteren Lebensjahren wird von Ḫwandamīr eine Anekdote überliefert, nach welcher Muḥammad in Herat gehört habe, dass sein Vater in Samarkand am Hofe Timurs verbotene Speisen verzehrt habe. Darauf habe er seinem Vater einen warnenden Brief geschrieben, den aber Timur selbst abgefangen habe. Darauf hätte Timur Taftāzānīs Sohn nach Samarkand kommen lassen, wo er ihm 5000 Dinare angeboten habe, die er in Form eines Wechsels auf die örtliche Handelssteuer erhalten solle. Nachdem Muḥammad dies dankend angenommen habe, hätte ihn Timur zurückrufen lassen und habe ihn gefragt, wie
109 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 206. So auch Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. 110 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. Ebenso Brockelmann, der auch noch 792 oder 797 angibt ohne weitere Quellen zu liefern, Brockelmann, GAL II, 278. 111 Ibn al-ʿImād, Šāḏarāt aḏ-ḏahab VI, 314 u. 319. 112 Ibn ʿArabšāh, Kitāb ʿAǧāʾib, 422 (Buchstabenfolge t-k-b in der Edition von Golius). 113 Ḫwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 545; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 302. 114 Ḫwāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124. 115 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 130; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I: „nuqila ilā Saraḫsi wa-dufina bihā“, 206. 116 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 206.
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er denn seinen Vater vor verbotenen Speisen warnen könne, wenn er die nach islamischem Recht verbotene Handelssteuer selbst akzeptiere. Muḥammad soll der Anekdote zufolge den Wechsel zurückgegeben haben und direkt aus Timurs Staatskasse belohnt worden sein.117 Eine solche Anekdote kann kaum als Schilderung einer wahren Begebenheit gelten, zumal Timur wohl Analphabet war,118 während die Anekdote berichtet, er habe den an Taftāzānī adressierten Brief beim Erledigen der Korrespondenz erblickt, selbst gelesen und nicht an Taftāzānī weitergegeben. Laknāwī berichtet immerhin von der Belohnung mit 5000 Dinaren ohne aber die übrige Anekdote zu erzählen.119 In jedem Fall illustriert die Begebenheit aber Aspekte der Lebensverhältnisse von Religionsgelehrten im Umkreis von Timur. Sowohl die Ess- und Trinkgewohnheiten bei Hof als auch die Abhängigkeit von herrscherlicher Zuwendung haben sicher in der einen oder anderen Form das Leben Taftāzānīs, seines Sohnes und anderer Gelehrte beeinflusst,120 weshalb die Anekdote eher Einblick in allgemeine Umstände und weniger in konkrete Vorfälle gibt. Die Erzählung nennt zudem Herat als Aufenthaltsort von Taftāzānīs Sohn und verweist damit auf jene Stadt, in der Taftāzānīs Familie im Verlauf des 15. Jahrhunderts noch eine gewisse Rolle zukommen sollte, solange das Timuridenreich weiterbestand. So blieb Muḥammad auch unter Timurs Sohn und Nachfolger Schah Ruch (reg. 1405/09–1447) in Herat ein anerkannter Gelehrter und starb dort 1434 wahrscheinlich an einer Seuche.121 Mit Quṭb ad-Dīn Yaḥyā und Aḥmad b. Yaḥyā b. Muḥammad b. Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī (st. 1510) stellten ein Enkel und Urenkel Taftāzānīs den Šayḫ al-islām in Herat,122 das nach Timurs Tod zum Zentrum des Reiches geworden war.123 Das Amt brachte wenig politischen Einfluss, galt aber als ehrenhafte Position. Seine Vergabe an Nachfahren Taftāzānīs zeigt, dass seine Familie trotz des tragischen Endes von Taftāzānī infolge seiner Unterlegenheit gegenüber dem Gelehrten Ǧurǧānī ihre Reputation im Timuridenreich behalten konnte.124 Sein Urenkel Aḥmad b. Yaḥyā, allerdings einfach „der Enkel“ (al-ḥafīd) genannt, wurde nach der safawidischen Machtübernahme von Schah Ismael in Herat im Jahr 1510
117 Ḫwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 545f.; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 302. 118 Manz, Power, Politics and Religion, 10. 119 Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 134 Fußnote 1. 120 Manz, Power, Politics and Religion, 197. 121 Ḫwāndmīr, Tārīḫ-i Ḥabīb III, 546; Thackston, Habibu’s-Siyar III, 302; Laknawī, al-Fawāʾid al-bahīya, 134 Fußnote 1; Manz, Power, Politics and Religion, 215. 122 Manz, Power, Politics and Religion, 214. 123 Hajianpur, Mahin, Das Timuridenreich und die Eroberung von Mawarannahr durch die Usbeken. In: Hambly, Gavin (Hg.): Zentralasien, Frankfurt a. M. 1966, 162–175, 165. 124 Manz, Power, Politics and Religion, 63.
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hingerichtet,125 da er sich nicht zur schiitischen Richtung der Safawiden bekennen wollte.126 Er verfasste eine Enzyklopädie mit dem Titel „Die übereinandergelegten Perlen“ (K. ad-Durr an-naḍīd), was sich wahrscheinlich auf die insgesamt vierzehn Wissenschaften bezieht, die in dem Werk abgehandelt werden.127 Neben Koranwissenschaft finden sich Abschnitte zu Hadith, Recht (fiqh) und Sprachwissenschaft und auch eine vierzigseitige Kurzfassung des kalām.128 Zudem werden Aḥmad b. Yaḥyā ein Kommentar zu Taftāzānīs Werken Muḫtaṣar (s. u.) und Tahḏīb (s. 3.3.3) sowie weitere kleinere Schriften zugeschrieben.129 Taftāzānī scheint nicht viele Schüler gehabt zu haben, die später zu Berühmtheit gelangten. Erwähnen kann man hier aber neben dem schon genannten Širwānī, der Taftāzānīs Werkliste an seinem Grabstein vorfand, auch Ǧalāl ad-Dīn Yūsuf al-Ūbahī, der unter Schah Ruch ein wichtiges Amt an einer Madrasa in Samarkand innehatte und auch zur arabischen Sprache geschrieben hat.130 Ein weiterer Schüler war ʿAlāʾ ad-Dīn al-Buḫārī (st. 1438), der inzwischen als Verfasser der Risāla fī waḥdat al-wuǧūd gilt (s. u.). Mūsā ar-Rūmī (st. 1438) trug Erzählungen von den Streitgesprächen zwischen Ǧurǧānī und Taftāzānī nach Anatolien, wobei er wohl Schüler von beiden Gelehrten gewesen ist.131
2.3 Werke zu Rhetorik, Grammatik, Logik und Recht Taftāzānī war ein sehr produktiver Gelehrter, über dessen Gesamtwerk wir relativ gut informiert sind. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei vor allem in der reifen Schaffensphase auf philosophischen, theologischen und logischen Fragen.132 Da die daraus entstandenen theologischen Werke im nächsten Kapitel noch eingehender im Zusammenhang mit den für sie relevanten Traditionslinien besprochen werden sollen, wird hier nur eine Auswahl seiner übrigen Werke vorgestellt, um seine Biographie abzurunden und die Breite seiner Gelehrsamkeit zu würdigen. Dabei liegt der Fokus aber auf seinen rhetorischen Schriften, die seinen Nachruhm maßgeblich mitverantwortet haben. Hinzu kommen Schriften zur
125 Brockelmann, GAL II, 284. 126 van Ess, Schulweisheit, 112; Manz, Power, Politics and Religion, 214. 127 Al-Ḥafīd, Aḥmad b. Yahā, K. ad-Durr an-naḍīd min muǧmūʿ al-ḥafīd. Kairo (Šāriʿ Muḥammad ʿAlī bi-Maṣr) 1904. 128 Al-Ḥafīd, Fihrist ad-Durr an-naḍīd, Seitenbezeichnung zay. 129 Brockelmann, GAL II, 284. 130 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 190. Manz, Power, Politics and Religion, 58. 131 van Ess, Schulweisheit, 122. 132 al-ʿUmarī, Saʿdu d-dīn at-Taftāzānī, 946.
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Morphologie und Grammatik, die zur Rekonstruktion von Taftāzānīs Biographie beigetragen haben. Weiterhin wird ein kurzer Blick auf die logischen und rechtlichen Abhandlungen Taftāzānīs sowie seinen partiellen Kommentar zum Korankommentar des Zamaḫšarī geworfen. Die Frage, ob er eine Schrift zur Mystik verfasst hat, rundet diese Skizze ab. Für die Gesamtheit seiner Werke sei auf die Angaben in Brockelmanns Geschichte der Arabischen Litteratur verwiesen.133 Das erste Werk, das Taftāzānī verfasste, war ein Kommentar (Šarḥ) zu dem Taṣrīf al-ʿIzzī des Zanǧānī zur arabischen Morphologie.134 Wenn er zum Zeitpunkt der Abfassung ungefähr 16 Jahre alt war, wie die Quellen angeben,135 müsste man die Schrift ins Jahr 1338 oder 1348 datieren, je nachdem welches Geburtsjahr man annimmt (s. o.). Ein weiteres frühes Werk Taftāzānīs, nun zur Rhetorik, ist ein Kommentar mit dem Titel „der Verlängernde“ (K. al-Muṭawwal), den er 1347 während seiner Zeit in Herat beendete.136 Er widmete das Buch dem dortigen Herrscher Muʿizz ad-Dīn Kart.137 Bei dem Muṭawwal handelt es sich um einen „verlängernden“ Kommentar zu einem wichtigen Rhetorikbuch von ʿAbd ar-Raḥmān al-Qazwīnī (st. 1338).138 Diese Vorlage war ihrerseits eine „Zusammenfassung“ (Talḫīṣ) und stand selbst in einer Reihe von rhetorischen Werken. Sie bietet nämlich eine Auswahl des dritten Teils des „Schlüssels der Wissenschaften“ (Miftāḥ al-ʿulūm) von Muḥammad as-Sakkākī (st. 1229), der wiederum auf den „Geheimnissen der Rhetorik“ (Asrār al-balāġa) und den „Beweisen der Unnachahmlichkeit“ (Dalāʾil al-ʾiʿǧāz) des ʿAbd al-Qāhir al-Ǧurǧānī (st. 1078) beruhte.139 Dabei kommt dem Talḫīṣ des Qazwīnī allerdings die Rolle zu, den an der Grammatik orientierten „Schlüssel“ (Miftāḥ) des Sakkākī eher auf rhetorische Fragen und Redefiguren zugespitzt zu haben.140 Taftāzānī verfasste neben dem erwähnten Muṭawwal auch den „verkürzenden“ Kommentar (Muḫtaṣar) zum Talḫīṣ,141 den er acht Jahre später in Ġuǧduwān bei Buchara vollendete.142 Beide gehören zu den bekanntesten Werken der a rabischen Rhetorik.143 Sie wurden auch später Gegenstand zahlreicher Superkommentare, wobei sich in
133 Brockelmann, GAL II, 278f.; Brockelmann, GAL Supplement II, 301f. 134 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013. 135 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 206; 136 Sellheim, Materialien I, 312. 137 Madelung, al-Taftāzānī, EI2 Brill Online, 2013. 138 van Ess, Schulweisheit, 35f. 139 Bonebakker, al-Kazwīnī, In: EI2 Brill Online, 2013. 140 Smyth, The Academic Legacy, 591. 141 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 205. 142 Sellheim, Materialien I, 312. 143 Sellheim, Materialien I, 312. Eine Arbeit zu von Sellheim erwähnten Handschriften, G lossen, Superglossen und Versifikationen Taftāzānīs steht bisher aus.
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der Kommentierung von Taftāzānīs rhetorischen Werken eine gewisse Rivalität mit Kommentaren zu Ǧurǧānīs Miṣbāḥ ergab. Nachdem die Werke beider Gelehrter bis um das Jahr 1700 rege kommentiert wurden, setzten sich Taftāzānīs rhetorische Schriften im 18. Jahrhundert durch.144 Sie galten als methodisch verlässlicher sowie eher anschlussfähig an Recht und Theologie, während Ǧurǧānī wohl mehr zu unkonventionellen Themen neigte.145 In jedem Fall waren sie im Osmanischen Reich lange Zeit zentrale Lehrwerke im Rhetorikunterricht für Fortgeschrittene.146 Auch für den chinesischen Moscheeunterricht wird Taftāzānī genannt, doch dabei wird ihm eine Schrift des Qazwīnī, der erwähnte Talḫīs al-Miftāḥ, selbst zugeschrieben.147 Ein drittes rhetorisches Werk mit dem Titel „Kommentar zum dritten Teil des Miftāḥ al-ʿulūm“ (Šarḥ al-qism aṯ-ṯāliṯ min al-Miftāḥ) stellte Taftāzānī in seinen letzten Jahren in Samarkand fertig.148 Zur Grammatik verfasste er um 1372 in Choresmien die „Wegleitung des Mentors“ (Iršād al-hādī). Das Buch ist kurz gehalten und eignet sich als Studienbuch, wobei es aber direkt auf die Unterrichtssituation zugeschnitten ist, da einzelne Abschnitte für den Lehrer bzw. Mentor (hādī) vorgesehen sind.149 Taftāzānī schrieb den Iršād wohl für seinen Sohn Muḥammad beziehungsweise einen seiner Söhne.150 Ebenfalls früh hat Taftāzānī ein Buch zur Logik verfasst. Dabei handelt es sich um einen Kommentar aus dem Jahr 1351 zur Risāla aš-Šamsīya des Naǧm ad-Dīn al-Kātibī (st. 1276),151 welcher aus der philosophischen Schule Ibn Sīnās hervorgegangen war. Aus seinen eigenen kritischen Anmerkungen wird deutlich, dass Taftāzānī sich in der Geschichte der Logik in der islamischen Tradition gut auskannte.152 Seine zweite Schrift zur Logik, die „Zusammenfassung von Logik und Theologie“ (Tahḏīb al-mantiq wa-l-kalām), die er gegen Ende seines Lebens in Samarkand schrieb, ist wegen ihres theologischen Anteils schon einleitend erwähnt worden und wird im folgenden Kapitel näher beschrieben. Ein drittes, kurzes Werk zur Logik mit dem Titel „Eintagsschrift“ (Yakrūzī) ist ihm von
144 Smyth, The Academic Legacy, 596. 145 Smyth, The Academic Legacy, 597 bes. Fußnote 32. 146 Weiss, al-Taftāzānī. In: Encyclopedia of Arabic Literature II, 751–752, 751f; Robinson, Shared Knowledge, 175; Sarton, Introduction to the History of Science II, 1326. 147 Chérif-Chebbi, China. In: Encyclopedia of Arabic Language and Linguistics I, 378–383, 380. 148 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 149 van Ess, Schulweisheit, 104 Fußnote 5. 150 Sellheim, Materialien I, 164. 151 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 152 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 215f. Hier finden sich auch kurze Angaben zu den Referenzen der spätzeitlichen Autoren auf dem Gebiet der Logik. Aristoteles als „erster Lehrer“ war allgemein bekannt, doch zweifelt Madelung, ob Taftāzānī seine Werke gelesen hat.
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rockelmann fälschlich zugeschrieben worden, sie geht laut Madelung vielmehr B auf Muḥammad b. Ḥamza al-Fanārī (st. 1430) zurück.153 Gegen Ende seines Lebens hat Taftāzānī einen Randkommentar (Ḥāšīya) zum Korankommentar des Zamaḫšarī (st. 1144), dem Kaššāf (s. 3.2.1), verfasst.154 Ṭāšköprü-Zāda charakterisiert das Werk aus dem Jahr 789 / 1387 dabei als unvollendete Glosse (Ḥāšīya al-Kaššāf, lam yatimm).155 Die Teile des Werkes, die vollendet waren, kennzeichnet Ibn al-ʿImād als Glosse vom Beginn des Korans bis zu Vers 12 in der Sure Jonas (Nr. 10) und erneut von Sure al-Fatḥ (Der Erfolg, Nr. 48) an, wobei er nicht mehr sagt, ob Taftāzānīs Glosse von dort bis zum Ende des Korans gegangen sein soll oder vorher abgebrochen sei.156 Brockelmann verweist bei seinem Eintrag zu Zamaḫšarī auf einige Handschriften.157 Abschließend soll noch ein Werk Erwähnung finden, dessen Zuordnung problematisch ist. Die „Schrift über die Einheit des Seins“ (Risāla fī waḥdat al-wuǧūd), die sich gegen die mystische Konzeption von Ibn ʿArabī (st. 1240) richtet, wurde Taftāzānī fälschlicherweise zugeschrieben. Sie geht vielmehr auf seinen Schüler ʿAlāʾ ad-Dīn al-Buḫārī (st. 1438) zurück.158 Taftāzānī stand den philosophischen Implikationen einer Einheitsmystik allerdings ebenfalls ablehnend gegenüber. Dies geht aus einer Stelle in seinem theologischen Werk Sarḥ al-Maqāṣid hervor, wo er darauf verweist, dass die Annahme einer umfassenden ontologischen Einheit die Vielheit negiert und damit den notwendigen naturphilosophischen Differenzierungen widerspricht, die im kalām aufgewiesen wurden.159 Zudem war Taftāzānī wohl insgesamt – wie in der Biographie ja auch deutlich wurde – der Mystik wenig zugeneigt.160 Nach diesem Überblick über die politische Landschaft und die biographischen Eckdaten zu Taftāzānī, soweit sie rekonstruierbar sind, soll nun das theologische Werk des Gelehrten im Gefüge seiner geistesgeschichtlichen Referenzpunkte betrachtet werden.
153 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 217. 154 Brockelmann, GAL S II, 304 nr. 12; van Ess, Schulweisheit, 36; Salāma, Muqaddima Šarḥ al-ʿAqāʾid, 27f. 155 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 206. 156 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 214. 157 Brockelmann, GAL S I, 508 nr. 8. 158 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 217f.; Bakrī, Aladdin, ʿAbd al-Ġanī al-Nabulusī: al-wuǧūd al-Ḥaqq, Damaskus 1995. 159 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 60; Würtz, Thomas, Reactions of Ibn Taymiyya and Taftāzānī upon the Mystic Conception of Ibn ʿArabī. In: Stamer, Heike (Hg.), Mysticism in East and West. The concept of the Unity of Being, Lahore 2013, 41–52, 49f. 160 van Ess, Schulweisheit, 40 u. 90.
3 D ie theologischen Werke und ihre Referenzpunkte In Taftāzānīs theologischen Werken1 spiegelt sich nichts von den persönlichen Lebensumständen und auch die politischen Verhältnisse finden hier kaum Niederschlag. Ein „Sitz im Leben“ lässt sich daher nur schwerlich ausmachen. Dazu sind die Werke des kalām denn auch zu fest in den Traditionslinien und verbindlichen Formen theologischer Spekulation verankert. Die einleitend angesprochene jüngere Forschung zeigt zwar,2 dass das Bild einer Erstarrung des kalām zu revidieren ist und sich gerade die Strukturen der Werke in Auseinandersetzung mit philosophischen Ideen und auch Texten auch in nachklassischer Zeit weiter verändert haben. Allerdings bleiben die thematischen und argumentativen Vorgaben aus der Literatur insgesamt, wenn man theologische und philosophische Werke hierbei zusammen bedenkt, sehr stark. Diese geistige Landkarte der Tradition ist damit deutlich stärker im Werk Taftāzānīs präsent als die geographische Karte, auf der die Grenzverschiebungen der Politik und die biographischen Linien von Taftāzānīs Schaffensstätten zu verzeichnen sind. Daher gilt es nach der Darstellung des biographischen und politischen Raumes auch den Horizont der Referenzpunkte seiner Werke wenigstens ansatzweise zu skizzieren. Dabei stehen zunächst die Entwicklungen des kalām vom 9. bis zum 12. Jahrhundert im Vordergrund (3.1), bevor zwei zentrale Korankommentare ins Blickfeld kommen sollen (3.2), um sodann die theologischen Schriften und ihre Referenzwerke vor allem aus der Spätzeit vorzustellen (3.3). Vor diesem Hintergrund wird schließlich die Auswahl der Themen näher begründet (3.4), die in den folgenden Hauptkapiteln (4–6) eingehender untersucht werden.
3.1 Theologische und philosophische Traditionen In seiner Einleitung der Übersetzung von Taftāzānīs Kommentar zum Glaubensbekenntnis des Naǧm ad-Dīn an-Nasafī schreibt Elder, die Doktrinen des orthodoxen Islams seien von Abū Ḥasan al-Ašʿarī (st. 935) formuliert worden.3 Seit Elders Übersetzung vor mehr als fünfzig Jahren hat die islamwissenschaftliche Forschung weit stärker die theologie-geschichtlichen Entwicklungen nach
1 Über die unter 2.3. vorgestellten anderen Werke kann in dieser Hinsicht hier nichts gesagt werden. 2 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, VII. 3 Elder, Commentary, ix.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Ašʿarī herausgearbeitet und dabei den Einfluss der Philosophie Ibn Sīnās hervortreten lassen, womit dann auch die Bedeutung späterer Theologen wie Ġazālī, Rāzī, Bayḍawī und Īǧī klarer erkennbar wurde.4 Ein ganz zentrales Element der theologischen Arbeit dieser späteren mutakallimūn war dabei die Situierung der klassischen Lehre im Paradigma der avicennischen Philosophie. Nicht zuletzt ist es auch Ziel vorliegender Studie, am Beispiel von Taftāzānī zu zeigen, wie sich spätere „ašʿaritische“ Werke von Ašʿarīs eigenen Schriften vor allem im Aufbau und manchmal auch in Aspekten seiner Lehre unterscheiden. Damit ist die Rolle Ašʿarīs in der islamischen Theologie zwar nicht völlig neu bewertet, denn alle genannten Theologen werden seiner Tradition weiterhin zugeordnet und an der Azhar wird mit den Werken von Ġazālī, Īǧī und Taftāzānī ašʿaritische Theologie unterrichtet. Der große Korankommentar des Rāzī (s. u.) ist ab dem 13. Jahrhundert ebenfalls ein wesentlicher Ideengeber für ašʿaritische Theologen, der Einfluss auf die von ihnen vorgebrachten Argumentationen hatte. Auch dies wird bei Taftāzānī zu sehen sein. So mag der Vergleich von Elder, der die Rolle von Ašʿarī für den Islam mit der Bedeutung des Konzils von Nicäa für die christliche Lehre vergleicht,5 weiterhin eine gewisse Berechtigung haben. Sicherlich wird dabei nicht behauptet, dass mit dem Konzil bzw. dem Auftreten Ašʿarīs die Theologiegeschichte in der jeweiligen Religion schon vorüber wäre. Die Ašʿarīya selbst ist ohne die Auseinandersetzung mit der Muʿtazila, die schon die sehr frühen theologischen Diskussionen maßgeblich geprägt hat und die zudem länger als bisher angenommen fortbestanden hat, nicht vorstellbar.6 Auch in der Analyse von Taftāzānīs Werken lassen sich dafür noch zahlreiche Spuren aufweisen, insofern er auf frühere wie auch spätere Muʿtaziliten Bezug nimmt (s. u.). Zudem spielt in Taftāzānīs Denken die in Transoxanien entstandene Lehre der Māturīdīya eine Rolle, die sich ebenfalls in Auseinandersetzung mit der Muʿtazila herausgebildet hatte (s. u.) und in einigen Punkt eher an ašʿaritischen Positionen orientiert war, sich aber auch von der Ašʿarīya unterschied. Bemühungen um eine Synthese von Gedanken der Ašʿarīya und Māturīdīya sind ebenfalls Teil von Taftāzānīs theologischen Ausführungen. Insofern Taftāzānīs Werk also alle drei großen Schulen des kalām als historischen Hintergrund hat, ist es legitim, bei seiner Verortung in den großen
4 Die Angabe der vollen Namen, Lebensdaten und zum Teil auch der biographischen Infor mationen erfolgt bei der Vorstellung der relevanten Werke in den sich anschließenden Unterkapiteln. 5 Elder, Commentary, ix. 6 Schmidtke, Sabine, Neuere Forschungen zur Muʿtazila unter Berücksichtigung der späteren Muʿtazila ab dem 4./10. Jahrhundert. In: Arabica 45, 3 (1998), 379–408, 386 u. 394f.
Theologische und philosophische Traditionen
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philosophischen und theologischen Traditionslinien ein Schlaglicht auf die ältere islamische Theologie zu werfen. In aller Kürze wird daher die Entstehung der ašʿaritischen Lehre beschrieben (3.1.1). In einem zweiten Schritt soll die für Taftāzānī in besonderem Maße relevante theologische Richtung der Māturīdīya vorgestellt werden (3.1.2). Im Anschluss daran kommt die wegweisende Philosophie Ibn Sīnās kurz zur Sprache (3.1.3), bevor die einflussreiche Reaktion des mutakallim Ġazālī auf Ibn Sīnā dargestellt wird (3.1.4), um das Bild der wichtigsten theologisch-philosophischen Traditionslinien abzurunden.
3.1.1 Ältere islamische Theologie Es kann nicht Aufgabe der hier angestellten Vorüberlegungen sein, eine Theologiegeschichte zu schreiben, doch bleibt es lohnend, wenigstens kurz das bereits angesprochene Verhältnis von Muʿtazila und der aus ihr hervorgehenden Ašʿarīya zu skizzieren. Die Muʿtaziliten, die um das Jahr 800 in Erscheinung traten, erhoben in der Theologie fünf Prinzipien zum Kern ihrer Lehre und nahmen so zugleich Bezug auf die allerfrühesten theologischen Debatten unter Muslimen.7 Sie prägten dabei viele Begriffe für die zukünftigen Fragestellungen im kalām. Ihre Prinzipien waren das unbedingte Bekenntnis zur Einheit Gottes, Seine Gerechtigkeit, der Zwischenstatus des Sünders zwischen Glauben und Unglauben, die Erfüllung der göttlichen Drohungen und Verheißungen im Jenseits sowie die Aufforderung an die Gläubigen, das Rechte zu gebieten und vom Unrechten abzuhalten. Das vierte Prinzip der Erfüllung von Drohungen und Verheißungen stand dabei in Zusammenhang mit Gottes Gerechtigkeit, denn nur wenn Er die Menschen beim Jüngsten Gericht dementsprechend behandelt, was Er zuvor gefordert bzw. unter Strafe gestellt hat, ist Er gerecht. Dieses Verhalten wurde Gott in der muʿtazilitischen Denkungsart zur Pflicht gemacht: Es stand damit verkürzt gesagt sogar über Seiner Allmacht. Diese Lehre einer Notwendigkeit, die auch gegenüber Gott gilt, war es vor allem, die später die Ašʿariten immer wieder kritisierten.8 Auch Taftāzānī ringt gerade mit diesem Konzept bei seiner Formulierung der Auferstehungslehre und der Handlungstheorie (s. u.). Beim Handeln des Menschen kam hinzu, dass die muʿtazilitische Idee der Gerechtigkeit es auch erforderte, dass der Mensch selbst Schöpfer seiner Handlungen sein musste, damit er auch für diese zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dann aber war Gott nicht mehr
7 Schmidtke, Neuere Forschungen, 382. 8 Als ein Beispiel sei auf al-Ǧuwaynī verwiesen: Ǧuwaynī, Iršād, 261f.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
chöpfer aller Dinge und die Konzeption der Muʿtaziliten geriet auch hier mit der S Idee eines allmächtigen Gottes, der alles geschaffen hat, in Konflikt. Hier sollen freilich weder die innerhalb der Muʿtazila existierenden verschiedenen Strömungen – wie die Schulen von Bagdad und Basra – betrachtet werden, noch soll ihre komplexe Lehre weiter vertieft werden. Es bietet sich vielmehr an, die theologische Vorgeschichte einer bestimmten Thematik im jeweiligen Kapitel vorzustellen, um so das konkrete begriffliche Instrumentarium für die Analyse von Taftāzānīs Werk bereitzulegen. Aus der allgemeinen Geschichte der Muʿtazila ist aber noch von Bedeutung, dass sie zwar im 9. Jahrhundert mit ihren Lehren die theologischen Debatten und auch die offizielle Religionspolitik des Abbasidenreichs dominierte, doch ihre Strömung war in dieser Zeit noch nicht zu einem System ausgearbeitet. Erst zu einem Zeitpunkt, als die theologische Diskussion nicht mehr hauptsächlich von ihr beherrscht wurde,9 trat mit ʿAbd al-Wahhāb alǦubbāʿī (st. 915) eine Person auf, die der Lehre erstmals ein System gab.10 Ǧubbāʿī wird dann auch einer der Namen sein, der sich in den theologischen Werken Taftāzānīs am häufigsten findet, wenn von den Muʿtaziliten die Rede ist, doch daneben treten auch immer wieder frühere Muʿtaziliten wie Abū l-Huḏayl al-ʿAllāf (st. 840/1), Abū Isḥāq an-Naẓẓām (st. zwischen 835 und 845) oder der noch etwas früher wirkende Ḍirār b. ʿAmr (st. 815) namentlich auf. Weiterhin wird Ǧubbāʿīs Sohn und Schüler Abū Hāšim (st. 933) genannt, und auch der ein knappes Jahrhundert später wirkende ʿAbd al-Ǧabbār (st. 1025), Verfasser einer „Summe über die Themen von Gottes Einheit und der Gerechtigkeit“, ist Taftāzānī als wichtige Figur des späteren Muʿtazilitentums ein Begriff.11 Hier blieben also die Verbindungen einzelner Aspekte der Lehre mit den ihnen zugehörigen Theologen bis in die Spätzeit erhalten.12 Für die Verbreitung muʿtazilitischen Gedankengutes, das in den Schulen von Bagdad und Basra Gestalt gewonnen hatte, über die Grenzen der Kernlandes des abbasidischen Kalifats hinaus in Richtung Transoxanien, war der muʿtazilitisch geprägte Zaidit Abū l-Qāsim al-Kaʿbī al-Balḫī
9 Watt & Marmura, Der Islam II, 302. 10 van Ess, Erkenntnislehre, 23. 11 Watt & Marmura, Der Islam II, 427. Der arabische Titel des Buches lautet al-Muġnī fī abwāb at-tawḥīd wa-l-ʿadl. Ein Manuskript dieser Schrift wurde erst 1950 in Sanaa (Jemen) entdeckt. 12 Im Prinzip haben die Überlegungen von Hourani zur Präsenz der Muʿtaziliten als Argumentationsgegner für al-Ǧuwaynī im 11. Jahrhundert aufgrund ihrer fortdauernden intellektuellen Bedeutung und des allgemein langwährenden Zeitrahmens theologischer Debatten auch für das 14. Jahrhundert Gültigkeit. Siehe hierzu: Hourani, George, Juwaynī´s Criticism Of Muʿtazilite Ethics. In: The Muslim World, 1975 (Vol. LXV, No. 3) 161–173, 163.
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(st. 931)13 verantwortlich.14 Er war bei den Samaniden-Herrschern in Balch tätig und beeinflusste indirekt die oben schon kurz angesprochene Māturīdīya,15 auf die noch zurückzukommen sein wird. Zugleich war der erwähnte Ašʿarī, der diejenige theologische Neuausrichtung vornahm, welche die Muʿtazila schließlich an den Rand drängte, ein Schüler Ǧubbāʿīs. Die wichtigste Rolle Ašʿarīs bestand darin, inhaltlich eher am Wortlaut des Korans und den prophetischen Traditionen orientierte Positionen mit den rationalen Methoden, die die Muʿtaziliten bekannt gemacht hatten, zu kombinieren und so dem kalām eine neue Richtung zu geben.16 Dabei ersetzten Offenbarungswahrheiten nicht das Denken, sondern leiteten es an, Quelle und Natur des göttlichen Gesetzes nochmals rational zu durchdenken.17 Dieser Versuch einer Versöhnung zwischen muʿtazilitischen Konzepten und strikt an den Prophetentraditionen orientierten orthodoxen Lehren brachte die ašʿaritische Richtung auch in eine gewisse „Frontstellung“, die sich auch später noch bemerkbar machen sollte.18 Im Rahmen der folgenden Darlegungen wird sich dies im Übergang von der rationalen Spekulation über die Möglichkeit von Auferstehung zur direkten Affirmation gewisser Jenseitsrealitäten zeigen. Diese später „ašʿaritisch“ genannte Tradition wurde aber nicht von Ašʿarī selbst als Schule begründet, sondern formierte sich in der Generation seiner Enkel.19 Zu seinen Lebzeiten und in den Jahrzehnten danach wurde er wohl eher in einer Linie mit einigen anderen Gelehrten wie dem früheren Kritiker der Muʿtazila Ibn Kullāb (st. ca. 855) oder seinem eigenen Zeitgenossen al-Qalānisī (st. 936) gesehen, die in ihrer Kritik an der Muʿtazila ähnlich vorgingen. So sprach man eine Zeit lang auch von einer Kullābīya.20 An der Wende zum 11. Jahrhundert traten aber Systematiker auf wie Abū Bakr al-Bāqillānī (st. 1013), oder Muḥammad al-Isfarāyīnī (st. 1027) und Abū Bakr b. Fūrak al-Iṣbahānī (st. 1015), die der Lehre unter Bezug auf Ašʿarī ihre Form
13 van Ess, Josef, Das Eine und das Andere I, Berlin 2011, 328 bes. Fußnote 4. 14 Madelung, Der Kalām, 328. 15 Rudolph, Māturīdī, 174. 16 Watt & Marmura, Der Islam II, 310. 17 Frank, Richard, Reason and revealed law: a sample of parallels and divergences in kalām and falsafa. In: Frank, Philosophy, theology and mysticism in medieval Islam, Aldershot 2005, 123–138, 136f. 18 Madelung, Der Kalām, 330. 19 Madelung, Der Kalām, 330; Watt & Marmura, Der Islam II, 311. 20 van Ess, Ibn Kullāb. In: EI2 Brill online, 2013; Watt & Marmura, Der Islam II, 312.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
gaben.21 Letzterer hat mit den Muǧarrad maqālāt al-Ašʿarī22 ein wichtiges Werk geschaffen, das ganz eindeutig in der Tradition der Lehren von Ašʿarī steht23 und stellenweise auch einen Bezugspunkt für die Darstellung der Lehre bei Taftāzānī bilden soll. Frühere Forschungen schrieben der Muʿtazila noch einen Rationalismus zu, der kaum Bezüge zum Koran enthalten hätte oder erblickten in Ašʿarī demgegenüber einen Anhänger einer rein auf Koran und Hadith basierten Argumentation.24 Beides lässt sich so nicht mehr halten, da Ašʿarī der rationalen Argumentation treu blieb und auch die Muʿtaziliten sich stärker des Korans bedienten, als man dies in der früheren Forschung angenommen hatte.25 Auch im Werk von Taftāzānī wird zu sehen sein, wie sehr Vernunft- und Offenbarungsbeweise als Grundlagen der Argumentation einerseits getrennt eingeführt, dann aber inhaltlich zusammen diskutiert werden und somit aufeinander einwirken. Um die Grundpositionen der geschilderten Debatte aber schon hier etwas zu veranschaulichen, soll ein konkreter Inhalt am Ende dieser theologiegeschichtlichen Skizze stehen: Anders als bei den erwähnten fünf Prinzipien der Muʿtaziliten hatte in der Lehre Ašʿarīs Gottes Allmacht eine zentrale Funktion. Hinzu trat der erwähnte Kampf der Ašʿariten gegen jede Form von abstrakter Notwendigkeit, die auch gegenüber Gott gilt, die sich für die Muʿtaziliten aus Gottes Gerechtigkeit ergab. Es erschien von daher gesehen muʿtazilitisch gerecht, wenn ein reuiger Sünder Anspruch auf Teilvergebung von Gott hatte, eine eher willkürliche prophetische Fürsprache für einen Gläubigen ganz ohne Reue jedoch abgelehnt wurde. Ašʿaritisch gesehen blieb Gott aber nur allmächtig, wenn er auch ohne Reue verzeihen, Reue gar theoretisch ignorieren oder einfach prophetische Fürsprache gelten lassen konnte. Nur so war Gott frei von Notwendigkeit, auch wenn Gottes Handeln entsprechend seiner eigenen Gesetze und Ankündigungen auch von Ašʿarī und seinen Anhängern erwartet wurde. Solche Kontroversen zwischen Ašʿariten und Muʿtazila hatten sich vor allem in den Kernlanden des abbasidischen Kalifenreiches und dabei vor allem auf dem Territorium des heutigen Irak abgespielt, damit aber insgesamt eine prägende Wirkung für die weitere Entwicklung der islamisch-theologischen Debatten bekommen. Für Taftāzānī, der im Osten des heutigen Iran und später in
21 Madelung, Der Kalām, 331; van Ess, Erkenntnislehre, 25; Leaman, The developed kalām tradition, 78. 22 Ibn Fūrak, Muǧarrad maqālāt al-Ašʿarī. Gimaret, Daniel (Hg.), Beirut 1987. 23 Gimaret, La doctrine d´al-Ash´arī, Paris 2007, 18. 24 Wensinck, Creed, 90. 25 Watt & Marmura, Der Islam II, 307f.
Theologische und philosophische Traditionen
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ransoxanien wirkte, war aber auch die bereits erwähnte māturīditische Schule T relevant, die sich dort – eher einem Randgebiet des abbasidischen Kalifats – entwickelt hatte.
3.1.2 Die Māturīdīya Die Māturīdīya hat sich als theologische Richtung nicht vollständig durch das Auftreten des namensstiftenden mutakallim Abū Manṣūr al-Māturīdī (st. 944) herausgebildet. Es bedurfte erst der Konfrontation der transoxanischen Ḥanafiten26 mit der sich in Chorasan etablierenden Ašʿarīya gegen Ende des 11. Jahrhunderts, damit sich vor allem unter dem Einfluss des Theologen Abū Muʿīn an-Nasafī eine māturīditische Tradition etablierte.27 Er verfasste das umfassendste Werk der māturīditischen Theologie,28 worauf später noch zurückzukommen sein wird. Die Bezeichnung der theologischen Denkrichtung als „Māturīdīya“ erscheint freilich als Konstruktion, da man zwei Jahrhunderte lang der Person des Māturīdī wenig Beachtung geschenkt hatte.29 Zugleich figuriert sie als wohlbegründete Anknüpfung an sein Denken, denn so sehr die durchgehende Tradition auch eine Rekonstruktion sein mag, so ist ihr Ausgangspunkt nicht willkürlich gewählt und die Benennung Māturīdīya berechtigt: „Es geht [im K. at-Tauḥīd] um spekulative Theologie. Und das bedeutet, daß Transoxanien im Grunde erst mit Māturīdī und seinem Werk in die Geschichte des kalām eingetreten ist.“30 Im Unterschied zur Ašʿarīya, die sich im Irak – d.h. dem Zentrum der theologischen Debatten – bildete, gab es bei der Māturīdīya immer eine regionale Komponente,31 weshalb die Bezugnahme auf Māturīdī auch als eine Selbstbehauptung transoxanischer Theologie verstanden werden kann. Allerdings hatte sich die Bezeichnung wohl noch nicht direkt umfassend durchgesetzt, da Tāǧ ad-Dīn as-Subkī (st. 1370) in seiner Nūnīya noch die Lehren
26 Ḥanafiten sind gemeinhin als Anhänger derjenigen sunnitischen Rechtsschule bekannt, die auf Abū Ḥanīfa zurückgeht. Sie sind aber auch als theologische Gruppe, die sich eher an rationalen Methoden orientierte, von Bedeutung. Watt & Marmura, Der Islam II, 283f.; Leaman, The developed kalām tradition, 86. 27 Rudolph, Māturīdī, 359f. 28 Madelung, Māturīdiyya. In: EI2 Brill Online, 2013. 29 Rudolph, Māturīdī, 357. 30 Rudolph, Māturīdī, 350. 31 Madelung, Wilferd, The Spread of Māturīdism and the Turks. In: Religious Schools and Sects in Medieval Islam, London 1985, 111; Watt & Marmura, Der Islam II, 314.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
von Ašʿarī und Abū Ḥanīfa kontrastierte, womit er die Māturīdīya meinte.32 Madelung und Gimaret schreiben sogar Taftāzānī eine besondere Rolle bei der Verbreitung des Wortgebrauchs der Māturīdīya zu.33 Die theologischen Unterschiede im Bezug zur Ašʿarīya sollen hier nicht umfassend dargestellt werden, zumal sie im Rahmen der Handlungstheorie und Schöpfungslehre noch hinreichend zu thematisieren sind. Wesentlicher scheint es, kurz in den Blick zu nehmen, ob es eine besondere Stellung der Māturīdīya zur Philosophie gibt. Einen konzeptionellen Ansatz kann man dabei wohl kaum ausmachen,34 doch findet man zum Beispiel eine vertiefte spekulative Meditation über die Bedeutung der Einheit Gottes als einer wahren Einsheit, die stärker als andere kalām-Traditionen auf neuplatonisches Gedankengut zurückgreift.35 Diese Darstellung der theologischen Traditionen ist äußerst knapp und muss unvollständig bleiben, zumal die theologischen Einzelpositionen jeweils zu Beginn der Betrachtung noch von Taftāzānīs Darlegungen umrissen werden. Das Stichwort des neuplatonischen Gedankengutes führt aber zu demjenigen Philosophen aus der Tradition der arabisch-islamischen Philosophie, dessen Einfluss auf den spätzeitlichen kalām und Taftāzānī im Besonderen so groß ist, dass seine Lehre hier noch skizziert werden muss: Ibn Sīnā. Dabei kommt seiner Ontologie und Seelenlehre wegen ihrer Relevanz für die theologische Auferstehungslehre und die Schöpfungsdebatte eine besondere Bedeutung zu.
3.1.3 Abū ʿAlī ibn Sīnā Philosophischer Einfluss auf den kalām ist ein vielschichtiges Phänomen. In der Einleitung ist die Ähnlichkeit ihres Erkenntnisanspruches schon deutlich geworden. Zudem prägten Ġazālī und Rāzī mit der fortschreitenden Übernahme der Logik die Methode des kalām entscheidend. Doch es blieb Ibn Sīnā (st. 1037)36
32 Madelung, Māturīdiyya. In: EI2 Brill Online, 2013. Für die spätere Auseinandersetzung beider Richtungen siehe Badeen, Edward, Sunnitische Theologie in osmanischer Zeit, Würzburg 2008. 33 Madelung, Māturīdiyya. In: EI2 Brill Online, 2013: „The name Māturīdiyya does not appear to have been current before al-Taftāzānī (d. 792/1390), who used it evidently to establish the role of al-Māturīdī as the co-founder of Sunnī kalām together with his contemporary al-Ashʿarī.“ Gimaret, Theóries: „Taftāzānī (m. 1390) est, à ma connaissance, le premier à avoir donné aux théologiens ḥanafites de Transoxiane le nom de Māturīdiyya […]“, 171. 34 Rudolph, Māturīdī, 352. 35 Rudolph, Māturīdī, 306f. 36 Die Biographie Ibn Sīnās ist hinreichend bekannt und wird daher – anders als bei den weniger bekannten Autoren der theologischen Referenzwerke – nicht nochmals eigens rekapituliert.
Theologische und philosophische Traditionen
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überlassen, dem späteren kalām wesentliche Teile seines begrifflichen Instrumentariums zu schenken. Denn obwohl die hier betrachteten Referenzwerke aus dem 12. und 14. Jahrhundert stammen, sind sie doch alle vielen begrifflichen Unterscheidungen verpflichtet, die Ibn Sīnā um das Jahr 1000 traf und damit die vorherige Tradition in vielen Bereichen überbot und zum Teil abrogierte.37 Der Einfluss Ibn Sīnās für die islamische Philosophie38 ist dabei vor allem für ihre Wechselwirkung mit den theologischen Traditionen so eminent,39 dass man auch bei einer Betrachtung des philosophischen Einflusses auf Taftāzānī Ibn Sīnā als Hauptreferenzpunkt wählen muss.40 So prägen die Begriffe Notwendigkeit (wuǧūb), Möglichkeit (mumkin) und Unmöglichkeit (imtināʿ) die Argumentationsstrukturen auf allen theologischen Themengebieten, wie später zu sehen sein wird. Gott wird dabei mit dem Begriff des „notwendig Existierenden“ ausgedrückt (wāǧib al-wuǧūd).41 Seine Besonderheit besteht für Ibn Sīnā darin, dass er ohne äußere Ursache aus sich heraus existiert, während alle übrigen Dinge für ihre Existenz einen Grund brauchen,
Siehe Gutas, Dimitri, Avicenna ii. Biography. In: EIr (III), 67–70. und die dort angefügte Bibliographie mit Verweisen auf weitere Standardwerke und auch Ibn Sīnās Autobiographie. 37 Shihadeh, Ayman, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī: 6th/12th Century Developments in Muslim Philosophical Theology. In: Arabic Sciences and Philosophy 15 (2001), 141–179, 142. 38 Die Querverbindungen der Tradition zu den arabischen Schriften von Juden und Christen, die auf Arabisch geschrieben haben, legen für eine Bezugnahme auf die „Islamische Philosophie“ in größeren Zusammenhängen, als sie hier relevant sind, auch die Bezeichnung „Philosophie in der islamischen Welt“ nahe (Rudolph, Ulrich, Islamische Philosophie, München 2004, 9f.). Gutas plädiert für die Benutzung des Terminus „Arabische Philosophie“ (Gutas, The Heritage of Avicenna, 83). Allerdings geht es in dieser Studie gerade um den islamischen Charakter dieser Philosophie, insofern sie einerseits Dogmen wie die zeitliche Schöpfung aus dem Nichts oder die leibliche Auferstehung herausfordert, während andererseits ihr ontologischer Entwurf Grundlage des islamisch-theologischen Denkens wird. Daher wird in vorliegender Arbeit der Begriff „Islamische Philosophie“ verwendet, ohne dass dies eine Aussage über die gesamthafte Einordnung des Gegenstandes und seine Bezeichnung machen will. 39 Gutas, The Heritage of Avicenna, 81. 40 Dafür, dass die westliche (andalusische) Tradition ihn erreicht hätte, ließen sich keine Belege finden. Fārābī (st. 950) erwähnt Taftāzānī in den hier untersuchten Textpassagen einmal namentlich. 41 Der Begriff wāǧib al-wuǧūd wurde zwar auch von al-ʿĀmirī verwendet, der kurze Zeit vor Ibn Sīnā in Buchara wirkte und erscheint auch im Muġnī des Muʿtaziliten ʿAbd al-Ǧabbār, ohne dort konzeptuell ausgebaut zu werden, wobei allerdings die ersten drei Bände des Muġnī nicht erhalten sind. In jedem Fall ist aber wahrscheinlich, dass Ibn Sīnā mit ʿAbd al-Ǧabbārs Schriften erst später in Berührung kam. Allenfalls unter Nutzung gewisser Vorarbeiten von ʿĀmirī hat Ibn Sīnā in der wohl um 1001 verfassten Schrift Ḥikma ʿArūdīya, das auf der Konzeption von wāǧib alwuǧūd fußende System aufgebaut, das später so einflussreich werden sollte (Wisnovsky, Robert, Avicenna’s Metaphysics in Context, London 2003, 240f.).
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
der ihnen zur Existenz verhilft.42 Daher sind sie und damit die ganze Schöpfung nur „der Möglichkeit nach existierend“ (mumkin al-wuǧūd). Neben dieser ontologischen Begrifflichkeit ist die Seelenlehre Ibn Sīnās von besonderer Bedeutung für spätere Theologen wie Taftāzānī. Ibn Sīnā vertrat die Lehre, dass jeder Körper bei seiner Geburt eine eigene, nur ihm zugehörige Seele erhält, die ihn während seines Lebens steuert und die auch nach dem Tod des Menschen als unsterbliche Seele weiterexistiert. Die Seelenlehre wird später zusammen mit zusätzlichen Ausführungen zu seiner Kosmologie im Rahmen der Auferstehungslehre (4.2.2) noch ausführlicher zur Sprache kommen, insofern diese der frühen islamischen Theologie noch fremde Vorstellung einer Seele wesentliches Merkmal der späteren Theologie wird. Obwohl Ontologie und Seelenlehre keinesfalls imstande sind die gesamte Philosophie von Ibn Sīnā abzubilden, lässt sich im Hinblick auf diese beiden Aspekte seines Lehrgebäudes doch immerhin – auch unabhängig von ihrer Fortwirkung im kalām – eine zentrale Funktion feststellen: „Like his metaphysics, Avicenna’s psychology or doctrine of the soul has an Aristotelian base with a strong Neoplatonic superstructure.“43 Insgesamt sind somit in der avicennischen Philosophie die Prägekräfte der antiken, philosophischen Traditionen sehr groß und beeinflussen im Folgenden auch die theologischen Argumentationen und Lehren im Islam. Allerdings greift Ibn Sīnā die bisherige Tradition der Philosophie so umfassend und erfolgreich auf, dass Aristoteles nach ihm nicht mehr kommentiert wird, stattdessen wird Ibn Sīnā kommentiert.44 Es resultiert eine Entwicklung, in der avicennische Metaphysik und offenbarungsunabhängige Quellen neukombiniert werden, was schon Wensinck in folgende prägnante Worte gefasst hat: „Allah is no longer the God of the Kuran, of the pious ancestors and of man’s own experience; He is a logical deduction from the existence of the universe.“45 Andererseits kann man das Werk Avicennas auch als einen Vorschlag zum Ausgleich zwischen einer strikt aristotelischen Philosophie und einer Weltsicht, die allein auf den muslimischen Offenbarungstexten beruhte, betrachten.46 Dies bedeutet aber nicht, dass Ibn Sīnā keine Rangunterschiede gesehen hätte. Der Religion kommt eine schützende und stabilisierende Funktion für das
42 Wisnovsky, Robert, Avicenna and the Avicennian Tradition. In: Adamson, Peter & Taylor, Richard (Hg.), The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge 2005, 92–136, 93. 43 Rahman, Fazlur, Avicenna vi. Psychology. In. EIr (III), 83–84, 83. 44 Gutas, The Heritage of Avicenna, 84. 45 Wensinck, Arent, The Muslim Creed, London 1965, 248. 46 Griffel, Frank, Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu al-Ġazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktion der Philosophen, Leiden, Boston & Köln 2000, 244.
Theologische und philosophische Traditionen
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emeinwesen zu, sie füllt eine Erklärungslücke, welche die rein philosophischen G Lehren hinterlassen.47 Dieser Funktionalisierung theologischer Lehre durch die Philosophen tritt auch Taftāzānī entgegen, wie am Beispiel des Wahrheitscharakters der konkreten Jenseitsschicksale deutlich werden wird. Zum anderen gab es Gegenstände der Debatte, bei denen philosophische Konzepte nicht direkten Eingang in die Sprache der theologischen Argumentationen gefunden haben, sondern Kontroversen generierten. Paradigmatisch stehen hierfür die drei Elemente islamischer Dogmatik, bei denen Ġazālī die davon abweichenden philosophischen Lehren – wie die Ibn Sīnās – mit dem Vorwurf des Unglaubens belegte. Um die Situation bei Taftāzānī und den Autoren, die unmittelbare Referenzpunkte seines Werkes bilden, zu verstehen, ist daher die Betrachtung der Rolle Ġazālīs unerlässlich. Ihm gebührt der letzte Abschnitt der theologiegeschichtlichen Überlegungen (s. u.). Im Sinne konkreter philosophischer Referenzwerke von Ibn Sīnā für die theologischen Schriften Taftāzānīs sind hier vor allem die Metaphysik (al-Ilāhīyāt) aus seinem großen philosophischen Kompendium „die Heilung“ (aš-Šifāʾ)48 und „die Schrift über die Wiederkehr“ (ar-Risālat al-aḍḥawīya fi l-maʿād) hervorzuheben,49 die als sein zentrales Werk zur Eschatologie angesehen werden kann.50 Taftāzānī zitiert Ibn Sīnā in seinem Hauptwerk auch direkt und ehrt ihn auch mit dem Titel „der Scheich“ (aš-Šayḫ).51 Diese Bezeichnung wird allerdings auch für Ašʿarī verwendet,52 weshalb die jeweilige Bezugsperson natürlich mit Umsicht zu ermitteln ist.
3.1.4 Abū Ḥāmid al-Ġazālī Abū Ḥāmid al-Ġazālī (st. 1111) kommt in der islamischen Theologiegeschichte eine Schlüsselfunktion zu.53 Er ist vor allem dafür bekannt, den kalām von der Beweismethode mit Analogieschlüssen weg und hin zum Syllogismus als privilegiertem
47 Griffel, Apostasie und Toleranz, 248f. 48 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī, al-Ilāhīyāt min aš-Šifāʾ. Ibrāhīm Madkour (Hg.), Kairo 1960 (1380). 49 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī, ar-Risālat al-aḍḥawīya fi l-maʿād, Lucchetta, Francesca (Hg.), Epistola sulla vita futura, Padua 1969. 50 Michot, Yahya J., A Mamlūk Theologian’s Commentary on Avicenna’s Risāla Aḍḥawiyya. In: Journal of Islamic Studies 14:2 (2003), 149—172, 149. 51 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 216. 52 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 164. 53 Auch die Biographie des Ġazālī muss hier nicht eigens wiederholt werden. Siehe hierfür vor allem: Griffel, Frank, Al-Ghazālī´s Philosophical Theology, Oxford 2009, 19f.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Verfahren geführt zu haben.54 Diese Beweisform aus der aristotelischen Logik war zwar bereits bekannt, aber noch nicht allgemein anerkannt, weshalb Ġazālī sie im Koran selbst zu verankern versuchte, um ihr so mehr Legitimität im kalām zu verleihen.55 Van Ess erblickt in dieser politisch angeregten methodischen Neuausrichtung des kalām unter dem seldschukischen Wesir Niẓām al-Mulk (st. 1092), die Ġazālī als Gelehrter inhaltlich vollzog, einen dritten wegweisenden Anstoß für die theologische Entwicklung im Islam. Die ersten beiden Anstöße haben laut van Ess zuvor die Begegnung des Islam mit der christlich-zoroastrischen Gedankenwelt kurz nach seiner Ausbreitung im 7. Jahrhundert und die Debatte um die Rolle der Rationalität in der Religion, die in der miḥna des 9. Jahrhunderts gipfelte, geliefert.56 Doch so sehr die philosophische Tradition hiermit methodisch noch weiteren Einfluss auf die theologischen Argumentationsweisen bekam und so wesentlich die ontologische Lehre des Ibn Sīnā für die theologische Gedankenwelt auch wurde, so nahm Ġazālī doch eine Weichenstellung vor, die zu einem stark vermin derten Einfluss der philosophischen Lehren auf die Dogmatik führte. Dies bezieht sich auf seine gerade schon angeklungene Verurteilung philosophischer Lehren in der Schrift Tahāfut al-falāsifa.57 Inhaltlich bezieht sich diese Verurteilung auf die Lehre von der Ewigkeit der Welt wie auch auf die Aussage, Gott kenne die partikularen Dinge nicht, und die Verneinung der Möglichkeit einer körperlichen Auferstehung.58 Ġazālī war es dabei sehr wichtig, die philosophischen Lehren nicht nur aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit allgemeinen islamischen Standpunkten zu verurteilen, sondern zu beweisen, dass die philosophischen Lehren nicht aus deren eigenen Prämissen folgen.59 Er argumentierte also mit den Mitteln der Philosophie. Methodischer Gleichklang mit der Philosophie und inhaltliche Kontroverse kennzeichnet nicht nur das Werk Ġazālīs. Auch bei der Betrachtung von Taftāzānīs Texten werden die überaus strikte logische Argumentation in den Begriffen der Ontologie Ibn Sīnās bei gleichzeitiger Bekämpfung der philosophischen Lehren von der rein geistigen Auferstehung und der Urewigkeit der Welt deutlich hervortreten. Wenn sich Taftāzānī direkt auf Ġazālī bezieht, nennt er ihn den „Imām Ġazālī“.
54 van Ess, Erkenntnislehre, 29. 55 Rudolph, Die Neubewertung der Logik durch al-Ġazālī. In: Perler, Dominik & Rudolph, Ulrich (Hg.), Logik und Theologie.Das Organon im Arabischen und im Lateinischen Mittelalter, Leiden & Boston 2005, 73–97, 93. 56 van Ess, Erkenntnislehre, 30. 57 Griffel, Apostasie und Toleranz, 6. 58 Watt & Marmura, Der Islam II, 415; Leaman, The developed kalām tradition, 78. 59 Leaman, The developed kalām tradition, 78.
Theologische und philosophische Traditionen
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Trotz des Höhepunktes, den die Philosophie mit Ibn Sīnā erreicht, fallen die direkten Reaktionen auf die scharfe Kritik des Ġazālī vor allem im Osten überraschend schwach aus. Während in Andalusien die bis heute bekannte Antwort des Ibn Rušd (st. 1198) zu vernehmen war, ermittelt Griffel für den Osten allenfalls eine Schrift des Abū l-ʿAbbās Lawkarī (st. 1123), der sich aus philosophischer Perspektive mit den theologischen Lehren auseinandersetzte und so den Atomismus kritisierte und auch in der Auferstehungslehre der Meinung Ibn Sīnās treu blieb.60 Die Grundsituation für die theologisch-philosophische Interaktion nach Ibn Sīnā und Ġazālī ist damit eine fortdauernde starke Strahlkraft der Philosophie Ibn Sīnās, ohne dass sie über eine eigene philosophische Schultradition verfügt hätte. Dem direkten Schüler Ibn Sīnās Abū l-Ḥasan Bahmanyār (st. 1067) kommt aber mit seinem „Buch der Erreichung“ (K. at-taḥṣīl) die Rolle zu, die Struktur der philosophischen Abhandlungen Ibn Sīnās mit ihrer Unterteilung in „Göttliches“ und „Natürliches“ aufgegeben zu haben, was später hilfreich für die Verschmelzung der theologischen und philosophischen Tradition werden sollte.61 Auch nach Ġazālī blieb das System Ibn Sīnās somit theologisch inspirierend und zog Kreise über die philosophischen Zirkel hinaus. Shihadeh vermutet, dass sogar die Eingrenzung philosophischen Unglaubens auf die drei genannten Themen letztlich der Philosophie insgesamt mehr Reputation verschafft habe.62 Für die Zeit nach dem Ende einer direkt auf Ibn Sīnā zurückgehenden philosophischen Schultradition verschmelzen damit die Linien in den Werken des späteren kalām. Dieser spätere kalām wird zu einer neuen Form islamischer Philosophie, in der die oben kurz skizzierte Metaphysik Ibn Sīnās eine enge Verbindung mit der Dogmatik einging.63 Dabei wurden die umstrittenen philosophischen Lehren zwar weiterhin strikt zurückgewiesen, aber zugleich ernst genommen, wie auch die Diskussion der Themenfelder Auferstehungslehre und Schöpfungslehre bei Taftāzānī zeigen wird. Ein wichtiger Autor, der diese Verschmelzung verkörpert,64 ist Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (st. 1210): In a situation were the same people were interested in both falsafa and orthodox theology, what was most needed was an Islamic falsafa, not variations of anti-falsafī dialectical kalām. The breakthrough was to be presented by al-Rāzī.65
60 Griffel, Apostasie und Toleranz, 347. 61 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 32. 62 Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 148f. 63 Wisnovsky, Avicenna and the Avicennian Tradition, 92; Leaman, The developed kalām tradition, 77. 64 Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 172. 65 Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 156.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Im Hinblick auf seine Schriften ist dieser Gelehrte für die Entwicklung bis in die Zeit von Taftāzānī gleich doppelt relevant, insofern seine Werke die Gestalt der spätzeitlichen kalām-Literatur entscheidend prägen, er aber auch durch seinen umfangreichen Korankommentar Einfluss nahm, wobei beide Arten von Werken letztlich theologiegeschichtlich wirken, aber getrennte Ausgangspunkte als Referenzwerke darstellen und daher auch gesondert besprochen werden sollen.
3.2 Relevante Korankommentare In seiner Studie zur Erkenntnislehre des Īǧī hatte van Ess die Bedeutung des Korans für den kalām eher als abstrakte Richtschnur und weniger als eine der Quellen der theologischen Reflexion angesehen. Dass es sich hier im Fall des Zuschnitts vorliegender Studie anders verhält, werden, wie schon angekündigt, die koranischen Offenbarungsbeweise im Rahmen der Auferstehungslehre und Handlungstheorie demonstrieren (1.3). Eine andere Frage ist, ob sich die Tradition der islamischen Koranexegese, des tafsīrs, sinnvoll in die Studie einbeziehen lässt. Bauer hat jüngst nochmals die Unterschiede von kalām und tafsīr hervorgehoben: So liefern die mutakallimūn „keinen methodologischen Beitrag zur Koranexegese.“66 Die Kommentatoren ihrerseits „unternahmen […] auch nicht den Versuch, aus dem Koran eine umfassende Dogmatik des Islams zu entwickeln, die über die Grundwahrheiten des islamischen Glaubens, wie sie von den kalām-Gelehrten formuliert worden waren, hinausginge.“67 Laufen also beide Disziplinen losgelöst nebeneinander her? Dies wäre wohl etwas zu viel gesagt, denn so sehr die beiden Traditionen unabhängig von einander sind, und Korankommentare eine eigene Literaturgattung bilden, die auch heute im theologischen Lehrbetrieb als tafsīr von der Dogmatik ʿaqīda getrennt sind, berühren sie sich doch. Calder formuliert für die klassische Epoche bis Ibn Kaṯīr (st. 1373), dass es für die Gattung des tafsīrs konstituierendes Element sei, den Korantext neben syntaktischen Fragen auch an gedanklichen Systemen zu messen, wozu er neben prophetischen Geschichten explizit auch Theologie wie auch Eschatologie, Recht und Sufismus zählt.68 Dies gilt besonders für den vorher schon kurz erwähnten Rāzī, dessen Kommentar von entscheidender Bedeutung für den spätzeitlichen kalām ist. Beispielhaft ist hierfür, dass Rāzī seine Auffassung
66 Bauer, Die Kultur der Ambiguität, 132 [Hervorhebung im Original]. 67 Bauer, Die Kultur der Ambiguität, 133. 68 Calder, Norman, Tafsīr from Ṭabarī to Ibn Kathīr. Problems in the description of a genre, illustrated with reference to the story of Abraham In: Approaches to the Qurʾān, 101–140, 105f.
Relevante Korankommentare
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zur Handlungstheorie in seinem Kommentar zu Vers 2, 7 ausführlich in kalāmgemäßer Terminologie darstellt (5.1.3). Auch der frühere Korankommentator Zamaḫšarī (st. 1144) kommentiert Vers 11, 18–20 mit direktem Bezug auf die handlungstheoretische Debatte im kalām (5.2.1.2). Nehmen wir hinzu, dass Taftāzānī in seinen kalām-Werken wesentlich umfangreicher auf den Koran zurückgreift als andere mutakallimūn, sind die Bezüge nicht unbedingt auf die Stellen beschränkt, an denen die Kommentatoren wie in den beiden Beispielen den Koran in dezidierter Kenntnis der kalām-Debatten erläutern. Vielmehr lohnt auch dort, wo Taftāzānī weitere Koranverse als Offenbarungsbeweise einführt, ein Blick auf die entsprechenden Ausführungen in den Kommentaren: Meist konturieren diese Bezüge Taftāzānīs Argumentation zusätzlich. Um hier einen gangbaren Mittelweg zwischen der kompletten Trennung und Verklammerung beider Traditionen religiöser Gelehrsamkeit zu wählen, dienen die erwähnten Kommentare des Rāzī wie auch des Zamaḫšarī daher exemplarisch als zusätzliche Referenzwerke aus der tafsīr-Tradition, womit auch ein muʿtazilitischer und ein ašʿaritischer Kommentar berücksichtigt werden.69 Daher erscheint es sinnvoll, die relevanten Korankommentare und ihre Verfasser kurz eigens vorzustellen. Insofern die „Aufdeckung“, der Kaššāf des Zamaḫšarī, zeitlich etwas früher entstanden ist, soll ihr Autor auch als Erster vorgestellt werden soll.
3.2.1 Der Kaššāf des Zamaḫšarī Ǧār Allāh az-Zamaḫšarī (st. 1144) hat seinem Korankommentar den Titel „Aufdeckung der Wahrheiten über die Herabsendung der Offenbarung und der Quellen von Aussagen über Gesichtspunkte ihrer Interpretation“ (al-Kaššāf ʿan ḥaqāʾiq
69 Natürlich könnten weitere Korankommentare aus der Zeit vor Taftāzānī herangezogen werden. Denkbar wäre etwa der Kommentar des Bayḍāwī, der jedoch deutlich von Zamaḫšarī abhängt, allerdings die muʿtazilitischen Aspekte, die hier interessieren, weitestgehend ausblendet und eher grammatikalische Zusatzinformationen liefert (Gilliot, Exegesis: Classical, 116). Dadurch enthält er aber keine hinreichend relevanten theologischen Bezugspunkte und wird hier nicht berücksichtigt. Zu denken wäre auch an den Kommentar, der unter dem Titel „Buch der allegorischen Auslegungen bei den Anhängern der Prophetentradition“ (K. Taʾwīlāt al-Qurʾān) wahrscheinlich im Schülerkreis von Māturīdī nach seinen Lehren niedergeschrieben wurde. (Rudolph, Māturīdī, 204) Auch wenn die Erschließung dieses Werkes sicher für die Geschichte der Korankommentarliteratur von großer Wichtigkeit ist, (Rudolph, Māturīdī, 207) lassen sich die Rückbezüge Taftāzānīs, der ja vier Jahrhunderte nach Māturīdī schreibt, mit anderen von ihm sicher benutzten Werken wie der Tabṣirat al-adilla des Abū l-Muʿīn an-Nasafī (s. 3.3.1.2) besser einordnen.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
at-tanzīl wa ʿuyūn al-ʾaqāwīl fī wuǧūh at-taʾwīl)70 gegeben. Dieses Werk schloss er ca. 1134 in Mekka ab. Er stammte aus einem Ort in Choresmien, dem er auch seinen Namen verdankt, aus Zamaḫšar, wo er 1075 geboren wurde.71 Neben seinem Korankommentar machten ihn vor allem Werke zur arabischen Grammatik bekannt, wobei er die Bedeutung des Arabischen als der von Gott für die Offenbarung ausgewählten Sprache hervorhob.72 Zamaḫšarī gilt als einer der letzten bedeutenden Muʿtaziliten, wobei er aus seiner theologischen Überzeugung kein Geheimnis machte.73 Auch späteren Nutzern des Kommentars war die muʿtazilitische Ausrichtung geläufig. Es scheint, dass sie zum Teil ausgeblendet wurde, wenn Gelehrte das Werk trotzdem nutzen wollten, was vor allem wegen der darin enthaltenen grammatischen, philologischen und rhetorischen Erkenntnisse geschah.74 Der muʿtazilitisch inspirierte theologische Gehalt schien demgegenüber weniger relevant, tritt aber schon in der ursprünglichen Einleitung zum Kaššāf hervor, wenn es dort hieß, „Gelobt sei Gott, der den Koran erschaffen hat.“75 Das für Ašʿarīten problematische Wort von der Geschaffenheit des Korans ganz zu Beginn des Kommentars wurde dann wohl später „berichtigt“, so dass z.B. in der hier verwendeten Ausgabe steht: „Gelobt sei Gott, der den Koran herabgesandt hat.“76 In seiner umfangreichen Studie zum Kaššāf zweifelt Lane die bisherige Einteilung von Kommentaren in solche, die auf Traditionen basieren und solche, die eine rational begründete Meinung des Kommentators zu den einzelnen Versen beinhalten, an. Der Kaššāf gehörte allein schon wegen seines muʿtazilitischen Verfassers in die zweite Kategorie.77 Allerdings weist neben Lane auch Saleh darauf hin, dass eine solche Einteilung als überholt gelten kann.78 Wesentlicher erscheint die Frage, inwieweit es sich bei dem Kaššāf um einen muʿtazilitischen Kommentar im Detail handelt. Saleh tendiert dazu, dies zu verneinen: „His Muʿtazilī opinions are few and far between to be significant and
70 Zamaḫšarī, Ǧār Allāh, al-Kaššāf ʿan ḥaqāʾiq at-tanzīl wa ʿuyūn al-ʾaqāwīl fī wuǧūh at-taʾwīl, Bd. 1–4, Kairo 2012. 71 Versteegh, Cornelis, al-Zamakhsharī. In: EI2 Brill Online, 2013. 72 Versteegh, al-Zamakhsharī. In: EI2 Brill Online, 2013. 73 Lane, Andrew, A Traditional Muʿtazilite Qurʾān Commentary, Leiden & Boston 2006, xvif. 74 Gilliot, Claude, Exegesis: Classical. In: EQ (2),99–124, 115. 75 Lane, Muʿtazilite Commentary: „al-ḥamdu li-llāhi allaḏī ḫalaqa l-Qurʾān.“, xxi. 76 Lane, Muʿtazilite Commentary, xxi; Zamaḫšarī, Kaššāf I, 16. 77 Lane, Muʿtazilite Commentary, 142. 78 Lane, Muʿtazilite Commentary, 104.
Relevante Korankommentare
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too buried in a normative Sunnī approach to allow them a distinctive voice.“79 Allerdings führt Saleh später aus, dass Zamaḫšarī durchaus die Absicht hatte, in seinem Kommentar dogmatische Positionen zu untermauern und Teile der exegetischen Tradition auszublenden, wenn diese dazu geführt hätten, dass ein Dogma, für das er eintritt, dadurch in seiner Gültigkeit beeinträchtigt worden wäre.80 Lane spricht von einem allenfalls punktuell muʿtazlitischen Charakter: A study of Q44 and Q54 would tend to support the latter view, that while the Kashshāf may be a mouthpiece for Muʿtazilism it is hardly speaking constantly on this topic nor seeking every occasion to do so. Within the framework of the traditional tafsīr musalsal, al-Zamakhsharī seems willing to offer up some Muʿtazilism when the opportunity presents itself but, even then, without going into a long development of the topic.81
In seiner Analyse der beiden Koransuren macht Lane nur eine einzige Stelle aus, an der Zamaḫšarī eine distinkt muʿtazilitische Interpretation vornimmt. So wird Vers 54,17 gleichsam zum Aufhänger für die Formulierung eines der fünf muʿtazilitischen Prinzipien, in diesem Fall dasjenige von der Einheit von Verheißung und Drohung.82 Lane kommt zu dem Schluss, dass der muʿtazilitische Gehalt minimal ist und dass sich auch die von Ǧuwaynī aufgelisteten Kommentarstellen, welche die fünf Prinzipien enthalten, durch Abgleich mit den Kommentaren des Bayḍāwī als nicht signifikant muʿtazilitisch herausstellen.83 Allerdings ist Bayḍāwī dafür bekannt, die muʿtazilitischen Interpretationen aus Zamaḫšarīs Kommentar bewusst entfernt zu haben,84 weshalb dieser Referenzpunkt für die Rekonstruktion der theologischen Ausrichtung des Kaššāf nicht ganz einleuchtet. Das Vorhandensein muʿtazilitischen Denkens im Osten der islamischen Welt und die Prominenz Zamaḫšarīs lassen es dennoch geraten sein, an seinem Kommentar zu prüfen, ob sich dort, wo Taftāzānī in Debatten mit muʿtazilitischen Positionen auf Koranverse rekurriert, im Kommentar des Zamaḫšarī Aussagen finden lassen, die seine muʿtazilitische Position zu Tage treten lassen. Tendenziell ist die Wahrscheinlichkeit höher, solche Stellen zu finden, wenn gezielt
79 Saleh, Walid, The Formation of the Classical Tafsīr Tradition. The Qurʾān Commentary of al-Thaʿlabī (d. 427/1035), Leiden 2004, 22 Fußnote 40. 80 Saleh, Formation, 148. 81 Lane, Muʿtazilite Commentary, 142f. 82 Lane, Muʿtazilite Commentary, 143f. 83 Lane, Muʿtazilite Commentary, 147f. Fußnote 139. 84 Calverley, Edwin & Pollock, James, Nature, Man and God in Medieval Islam I–II, Leiden, Boston & Köln 2002, hier: I, xxxiii.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
oranverse betrachtet werden, die in den Debatten eine Rolle spielen,85 als es bei K Lanes Beispielanalyse von zwei Koransuren der Fall ist, die er vor allem hinsichtlich ihrer Nutzung von Hadith-Material untersucht, und in denen sich dann nur ein Hinweis auf ein muʿtazilitisches Prinzip finden ließ.86 Insofern wird die Einbeziehung des Kaššāf in die Interpretation von Taftāzānīs theologischen Schriften eventuell auch ergänzende Informationen zum muʿtazilitischen Charakter dieses Korankommentars liefern.
3.2.2 Der große Kommentar (at-Tafsīr al-kabīr) des Rāzī Neben diesem muʿtazilitisch geprägten Kommentar ist auch der schon erwähnte Kommentar des Rāzī mit dem Titel „Schlüssel zum Unsichtbaren“ (Mafātīḥ al-ġayb), der wegen seines Umfangs als „Der große Kommentar“ (at-Tafsīr alkabīr) bekannt wurde, für Querverbindungen zu Taftāzānīs Schriften relevant. Abū ʿAbdullāh Muḥammad Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī wurde 1149 in Rayy geboren und war, anders als Zamaḫšarī, ašʿaritischer Theologe.87 Bei Reisen nach Chorasan und Transoxanien scheint er mit muʿtazilitischen Gegnern konfrontiert gewesen zu sein, was ihn zum Weiterziehen bewog. Über Saraḫs gelangte er an den Hof des guridischen Sultans Ġiyāṯ ad-Dīn (st. 1203) in Herat, wo er eine Schule eröffnete und den größten Teil seines Lebens verbrachte.88 In Herat ist er im Jahr 1210 dann auch verstorben.89 Sein Grab ist heute noch relativ nah am Stadtzentrum in Sichtweite von den verbliebenen Minaretten (menārhā) einer großen Moschee zu sehen – auch wenn es einen Bericht gibt, gemäß welchem er sich ein abgelegenes Grab gewünscht habe, damit sein Leichnam nicht von Anhängern der Karrāmīya geschändet werde. Diese scheinen ihm vorgeworfen haben, sich in seinen Lehren zu sehr auf die antike und islamische Philosophie zu beziehen.90 Der angesprochene Korankommentar gilt als sein Hauptwerk, in welchem sich bei der Erklärung vieler Koranverse theologische und philosophische Bezüge vermischen.91 Für die philosophischen Elemente des kalām ist er daher
85 Hierfür finden sich auch schon Beispiele in Suleiman A. Mourads Rezension von Lanes Buch: Mourad, Suleiman, Review on A Traditional Muʿtazilite Qurʾān Commentary: The Kashshāf of Jār Allah al-Zamakhsharī (d. 538/1144). Semitic Studies 52 (2) 2007, 409–411, 410. 86 Lane, Muʿtazilite Commentary, 147. 87 Shihadeh, Ayman, The Teleological Ethics of Fakhr al-Dīn al-Rāzī, Leiden & Boston 2006, 4. 88 Anawati, George, Fakhr Al-Dīn Al-Rāzī. In: EI2 Brill Online, 2013. 89 Shihadeh,Teleological Ethics, 5. 90 Anawati, Fakhr Al-Dīn Al-Rāzī. In: EI2 Brill Online, 2013. 91 Anawati, Fakhr Al-Dīn Al-Rāzī. In: EI2 Brill Online, 2013.
Relevante Korankommentare
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auf besondere Weise wertvoll.92 Als großer Korankommentator und wegweisender mutakallim in einer Person nimmt Rāzī somit eine besondere Rolle ein. Seine kalām-Werke werden daher auch im nächsten Abschnitt noch eigens zu besprechen sein. Seine Arbeiten auf beiden Wissensgebieten sind dabei aber auch voneinander abhängig. So hatte seine Konzeption eines philosophischen Arguments als jeweils partielle Beschreibung der Außenwelt auch Einfluss auf seine Sicht des Korans als ein Text, der besondere Hinweise (išāra) auf die Außenwelt enthält. Thus, the Mafātīḥ al-ghayb can shed light on how al-Rāzī views the relation between an exhaustive division on an epistemological level and an exhaustive division of external reality: Both systems are more or less identical.93
Während andere kalām-Werke Rāzīs versuchen, diese Struktur in ihrem eigenen Aufbau abzubilden, kann er dies beim Text des Korans nicht in ähnlicher Weise tun. Im Fall des Korans ist die Anordnung der Worte und Verse vorgegeben. Doch einen Anknüpfungspunkt für eine auf der Offenbarung basierende Erkenntnis liefert der Koran selbst, im Sinne von etwas, das den Unterschied ausmacht und die Dinge differenziert (al-furqān).94 Das Synonym „Unterscheidung“ (furqān) für Offenbarung findet sich im Koran zu Beginn von Sure 25,1: „Voller Segen ist er, der die Offenbarung [hier im Sinne von Unterscheidung, T.W.] auf seinen Knecht niedersandte, auf dass er Warner werde für die Weltenbewohner.“95 Rāzī kommentiert, dass der Koran somit „zwischen dem Wahren und dem Nichtigen durch die Prophetie Mohammads unterscheide.“96 Doch die Unterscheidungen und Differenzierungen gehen sehr viel mehr ins Detail. Die Brücke schlagen daher die genannten Hinweise, die der Koran enthält. Von ihnen ausgehend entwickelt Rāzī dann eine abstrakte Abhandlung zu einem bestimmten Thema, die im Stil des kalām gehalten ist und meist auch einen umfassenden Überblick zu verwandten Problemen enthält. Beispielhaft für dieses Vorgehen Rāzīs wird in unserem Zusammenhang seine argumentative Begründung einer ǧabritischen Handlungstheorie im Kommentar zu Vers 2,7 (s. 5.1.3) sein.
92 Gilliot, Exegesis: Classical, 116; Arnaldez, Roger, Fakhr al-Dîn al-Râzî Commentateur du Coran et philosophe, Paris 2002, 51f. 93 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 72. 94 Arnaldez, Commentateur, 77. 95 Bobzin, 312. 96 Ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn, at-Tafsīr al-kabīr aw mafātīḥ al-ġayb I–XXXIII, Beirut 2004, hier XXIV, 40: „faraqa bihī bayna l-ḥaqqi wa-l-bāṭili fī nubūwati Muḥammad.“
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Philosophische Konzepte sind daher weniger ein hermeneutisches Instrument für Rāzī sondern eine Hilfe zur Klassifikation von Objekten, von denen man Wissen erlangen kann.97 Auf diese Objekte weist der Koran eben nur hin (išāra), der Kommentator jedoch kann sie auch explizieren. Auf dieses Prinzip wird konkret zurückzukommen sein, wenn es in der Auferstehungslehre um die „grundlegenden Bestandteile“ gehen wird, die dafür verantwortlich sind, dass die menschliche Identität vom Diesseits ins Jenseits gewährleistet bleibt. Von diesen „grundlegenden Bestandteilen“ ist in den jeweiligen Versen nicht die Rede, doch kommentiert Rāzī den Vers trotzdem so, als ob auf ihre Existenz hier angespielt würde (s. 4.2.2.3). Rāzī expliziert bei der Wortgruppe „Ich nehme Zuflucht bei Gott“ (aʿūḏu bil-llāh), die noch vor der Fātiḥa steht und deren Kommentierung ihm Gelegenheit gibt, seine Koranhermeneutik zu entfalten, zehn Ebenen der Auslegung. Die Klassifizierung der Wortarten und ihre Untersuchung bilden unter dem Genusbegriff „Wort“ (kalima) die vierte Ebene, mit der seine Aufzählung explizit einsetzt. Laute und Buchstaben (aṣwāt wa-ḥurūf) sind Thema auf der fünften Ebene. Auf der sechsten Ebene müssen die einzelnen sinnlichen Qualitäten (kayfīyāt maḥsūsa) besprochen werden, bevor auf der siebten Ebene die Qualität (kayf) allgemein Thema wird. Die Qualität wird auf der achten Ebene ins Gefüge der Akzidenzien (aʿrāḍ) eingeordnet. Akzidenzien erhalten anschließend auf der neunten Ebene eine ontologische Zuordnung, insofern sie zusammen mit der Substanz zum Bereich des Möglichen (mumkin) gehören. Das Mögliche und das Notwendige wiederum haben Teil an allem Existierenden (mawǧūd). Auf der zehnten Ebene wird das Existierende schließlich zum Gegenstand des Wissens (maʿlūm).98 Insofern die Ebenen ab der sechsten der Strukturierung zweier seiner kalām-Werke (al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya und al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma) entsprechen,99 wird die eingangs erwähnte Verbindung von Korankommentar und kalām sichtbar. Beim sechsten Vers der Fātiḥa „Leite uns den rechten Weg“100 erläutert er die Rechtleitung so, dass sie ein Hinweis auf die menschliche Wissenssuche durch Nachdenken (fikr), der Spekulation (naẓar) und der Beweisführung (istidlāl) ist.101 Der Beginn des siebten Verses, der lautet: „den Weg derer, denen Du gnädig bist […]“102 deutet er als Hinweis auf das, was die Vorangegangenen erreicht hätten (maḥṣūlāt al-mutaqaddimīn).103 Eichner sieht hier den Unterschied von rational
97 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 76. 98 Rāzī, Tafsīr I, 21f. 99 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 76. 100 Bobzin, 9. 101 Rāzī, Tafsīr I, 216. 102 Bobzin, 9. 103 Rāzī, Tafsīr I, 216.
Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke
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erdachtem (ʿaqlī) und überliefertem Wissen (samʿī) vorgeprägt, der ebenfalls für die kalām-Tradition von sehr großer Bedeutung ist.104 Diese Kategorisierung der Argumente wird auch in der Betrachtung von Taftāzānīs Schriften besonders bei den Themengebieten Auferstehungslehre und Handlungstheorie eine tragende Rolle spielen.
3.3 Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke Wie eingangs schon erläutert, stehen die theologischen Werke Taftāzānīs alle in Beziehung zu der vorgestellten Tradition des kalāms. Nach den allgemeinen Ausführungen zu den wichtigsten theologischen Strömungen und Hauptvertretern der Theologiegeschichte vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, stehen jetzt die theologischen Schriften Taftāzānīs selbst im Vordergrund. Damit erreicht die Darstellung auch das 14. Jahrhundert, das den unmittelbaren Rahmen für sein Wirken bildet. Daher werden seine Werke immer in direktem Zusammenhang mit den zugehörigen Referenzwerken anderer Autoren und deren jeweiligem Werdegang eingeführt. Den Beginn macht dabei Taftāzānīs populärer und weit verbreiteter Kommentar zu einem Glaubensbekenntnis, das gut zweihundert Jahre vor seiner Zeit verfasst wurde (3.3.1). Es folgt sein Hauptwerk, eine große theologische Summe (3.3.2) und zum Abschluss die knappe Zusammenfassung wichtiger theologischer Argumente (3.3.3).
3.3.1 Der Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya des Taftāzānī Der Kommentar zu den ʿAqāʾid des Naǧm ad-Dīn an-Nasafī beruht auf dem namensgebenden Glaubensbekenntnis des Nasafī selbst und einer weiteren māturīditischen Schrift Abū l-Muʿīn an-Nasafīs (st. 1114). Diese beiden Referenzpunkte sollen zunächst kurz vorgestellt werden.
3.3.1.1 Die ʿAqāʾid des Naǧm ad-Dīn an-Nasafī (al-ʿAqāʾid an-Nasafīya) Naǧm ad-Dīn Abū Ḥafṣ ʿUmar b. Muḥammad an-Nasafī (st. 1142) ist vor allem wegen seines „Glaubensbekenntnisses“ (al-ʿAqāʾid an-Nasafīya) berühmt geworden. Naǧm ad-Dīn an-Nasafī entstammte einer Gelehrtenfamilie, die sich über viele Generationen bis zu einem gewissen Faḍl zurückverfolgen lässt.
104 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 78.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Faḍls Sohn Abū l-Muʿīn Muḥammad b. Faḍl an-Nasafī (st. 930) trat als Verfasser einer ḥanafitischen Häresiographie in Erscheinung.105 Über Naǧm ad-Dīn an-Nasafī ist ansonsten bekannt, dass er ein biographisches Lexikon mit dem Titel „Buch des Extraktes über die Kenntnis der Gelehrten von Samarkand“ (K. al-qand fī maʿrifat ʿulamāʾ Samarqand) verfasste.106 Es lohnt sich in diesem Zusammenhang allerdings mehr, gleich zu seinem wichtigsten Werk – al-ʿAqāʾid an-Nasafīya – überzugehen. Dazu ist es jedoch erforderlich, das Genre eines „Glaubensbekenntnisses“ in der islamisch-theologischen Literatur kurz etwas allgemeiner zu betrachten. Glaubensbekenntnisse müssen vom Glaubenszeugnis der šahāda „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammad ist sein Prophet“ unterschieden werden. Während der Koran die beiden Elemente der šahāda in verschiedenen Versen wörtlich nennt und sie später nur in dieser Form zusammengefügt wurden, enthalten die Bekenntnisse (ʿAqāʾid) abstraktere Themen und fassen spätere theologische Kontroversen zusammen.107 Diese Zusammenfassung war dann das gelehrte Werk eines Theologen oder einer Gruppe von Theologen.108 Ein autoritativer Charakter kam einem solchen Bekenntnis aber erst durch die spätere Rezeption zu. ʿAqāʾid bedeutet übersetzt zunächst einfach „Glaubensartikel“ (Plural), in denen versucht wird, theologischen Lehren in knappen Worten präzisen Ausdruck zu verleihen. Mehrere solcher Artikel bilden dann ein Bekenntnis und können weiterhin wie bei Nasafī als ʿAqāʾid im Plural firmieren oder aber als ʿAqīda Singular bezeichnet werden. Das Genre einer ʿAqīda, eines Glaubensbekenntnisses, ist erstmals im 2. Islamischen Jahrhundert auszumachen und gewinnt vor allem an Bedeutung, als sich orthodox-konservative Kreise gegen den abstrakten Rationalismus im kalām wehren wollen und ein solches Bekenntnis ausschließlich auf der Grundlage von Koran und Sunna formulieren.109 Später wurden die knappen Sammlungen von Glaubensinhalten aber auch von mutakallimūn benutzt und dabei nach ihrem inneren logischen Zusammenhang angeordnet.110 So hat Ašʿarī zwei Glaubensbekenntnisse verfasst (Ibānā und Maqālāt), und das Bekenntnis des Abū Yaʿlā b.
105 van Ess, Josef, Ungenützte Texte zur Karrāmīya, Heidelberg 1980, 55f. 106 Weinberger, James, The Authorship of Two Twelfth Century Transoxanian Biographical Dictionaries’, In: Arabica 33 (1986), 369–382, 369f. 107 Wensinck, Creed, 3. 108 Watt, Montgomery, Islamic Creeds. A Selection, Edinburgh 1994, 3. 109 Schmidtke, Sabine, Creeds. In: EQ (1), 480–485, 481. 110 Elder, Commentary, xix.
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l-Farrāʾ (st. 1066) folgt dem Aufbau eines kalām-Traktats.111 Eine besondere Rolle a spielten Glaubensbekenntnisse bei der māturīditischen Lehre, wo sie stärker als bei den Ašʿariten zur Ausarbeitung des eigenen Dogmas beitrugen.112 In diesem Zusammenhang kommt den hier vorliegenden ʿAqāʾid des Naǧm ad-Dīn an-Nasafī113 eine besondere Rolle zu. Er vertritt in dieser knappen Form die Standpunkte der māturīditischen Theologie114 und macht sie damit deutlich greifbarer, als sie es in den zuvor zugänglichen Schriften waren.115 Sein Glaubensbekenntnis wurde in der weiteren Entwicklung häufiger kommentiert als diejenigen bekannterer Autoren wie Rāzī oder Ġazālī.116 Watt nennt es „vollständig, konzis und klar im Ausdruck“.117 Die Inhalte der ʿAqāʾid umfassen eine kurze Erkenntnislehre, eine Aufzählung der göttlichen Attribute, einige Paragraphen über die Struktur der Welt mit Substanzen und Akzidenzien sowie Aussagen zum Handlungsvermögen des Menschen, zum Jenseits, den Engeln und den göttlichen Namen. Das ontologische Modell, das Abū l-Muʿīn an-Nasafī später in Anlehnung an Māturīdī in seiner Tabṣira konstruierte (s. u.), nach welchem die Welt nicht nur aus Akzidenzien, sondern auch aus Atomen besteht, fand auch Eingang in die ʿAqāʾid des Naǧm ad-Dīn an-Nasafī.118 Dabei ist zu ergänzen, dass das Werk ganz allgemein stark den Argumentationen und Definitionen aus der Tabṣira folgt,119 was sich im Rahmen dieser Studie auch auf dem Gebiet der Handlungstheorie an manchen Stellen nachweisen lassen wird (s. 5.2.1). Insofern die Tabṣira also ein wichtiges Bindeglied zwischen Māturīdī, dem Ankerpunkt der Tradition selbst, und den hier relevanten ʿAqāʾid war, soll diese als Referenzwerk ebenfalls kurz vorgestellt werden.
111 Schmidtke, Creeds, 482. 112 van Ess, Erkenntnislehre, 27; Schmidtke, Creeds, 483. 113 Während bei den anderen Autoren nach der ersten Nennung nur noch die nisba weiter verwendet wird, ist es bei diesen beiden Autoren sinnvoll laqab und nisba weiterzuverwenden, um Naǧm ad-Dīn an-Nasafī von dem als Abū l-Muʿīn an-Nasafī bekannten Zeitgenossen abzug renzen. Auch bei Letzterem werden dann immer beide Namensteile genannt. 114 Elder, Commentary, xix. 115 Wensinck, Arent, al-Nasafī III. In: EI2 Brill Online, 2013. 116 Elder, Commentary, xx. 117 Watt & Marmura, Der Islam II, 425. 118 Wensinck, Creed, 249; Rudolph, Māturīdī, 279f.; Abū l-Muʿīn Maymūn b. Muḥammad anNasafī, Tabṣirat al-adilla I-II. Salamé, Claude (Hg.), Damaskus 1993, hier I: „wa-iḏā ʿurifa anna l-ʿālama bi-asrihī mā ḏakarnā min aʿrāḍin wa-l-aʿyānin“, 55. 119 Madelung, Māturīdiyya. In: EI2 Brill Online, 2013.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
3.3.1.2 Die Tabṣirat al-adilla des Abū l-Muʿīn an-Nasafī Auch Abū l-Muʿīn an-Nasafī (st. 1114) trug die nisba, die Herkunftsbezeichnung, des Ortes Nasaf oder auch Naḫšab in der Nähe von Buchara.120 Wie schon bei der allgemeinen Skizzierung der Māturīdīya erwähnt, kam ihm eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion einer kalām-Tradition mit dem Bezugspunkt Māturīdī zu. Dies erstreckt sich auch auf seine Rolle bei der textlichen Sicherung von Māturīdīs Hauptwerk. Anders als bei Ašʿarī kann man beim „Schulgründer“ Māturīdī davon ausgehen, dass sein Hauptwerke mit dem „Buch des Glaubens an den einen Gott“ (Kitāb at-Tawḥīd) erhalten ist.121 Trotzdem ist die Überlieferung nicht einwandfrei gesichert und spätere Werke sind daher als Testimonien für das K. at-Tawḥīd von Relevanz. Hier ist vor allem die „Sichtung der Beweise hinsichtlich der Grundlagen der Religion gemäß der Lehrmeinung des Abū Manṣūr al-Māturīdī“ (Tabṣirat al-adilla fī uṣūl ad-dīn ʿalā ṭarīqat al-imām Abī Manṣūr al-Māturīdī) des Abū l-Muʿīn an-Nasafī zu nennen.122 Dabei sichtet der Verfasser aber nicht nur Beweise, sondern führt einzelne Themen auch selbständig weiter aus und behandelt offen gebliebene Fragestellungen.123 Im Rückblick kann die Tabṣira daher zur Rekonstruktion des K. at-Tawḥīd dienen.124 Doch auch im Blick auf die spätere Tradition, wie sie bei Nasafī und seinem Kommentator Taftāzānī relevant wird, tritt die Tabṣira als eine zukunftsprägende Form māturīditischen Gedankenguts auf. Dies geschieht in zwei Formen. Zum einen übernimmt Naǧm ad-Dīn an-Nasafī, wie schon erwähnt, teilweise Formulierungen Wort für Wort aus der Tabṣira in sein Glaubensbekenntnis, die ʿAqāʾid. Doch damit endet der Einfluss der Tabṣira auf die spätere Tradition noch nicht. Denn zum anderen war die Tabṣira auch direkt für Taftāzānī bei seiner Kommentierung der ʿAqāʾid von Relevanz, da sie auf sehr abstraktem Niveau die Argumente hinter den Glaubensgrundsätzen reflektiert und Taftāzānī daher immer wieder Stichworte sowie Definitionshilfen und Erklärungshinweise liefert. Dies wird sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung vor allem bei den Ausführungen zur Handlungstheorie zeigen.
120 Wensinck, al-Nasafī II. In: EI2 Brill Online, 2013. 121 Rudolph, Māturīdī, 202. 122 Darüber hinaus können als weitere Werke von Abū l-Muʿīn an-Nasafī die „Einleitung zu den Regeln des Eingottglaubens“ (Tamhīd li-qawāʾid at-tawḥīd) und „Das Meer des kalām“ (Baḥr al-kalām), das eher polemisch vorgeht, genannt werden. Vgl. Wensinck, al-Nasafī II. In: EI2 Brill Online, 2013. 123 Salamé, Tabṣirat Al-adilla I, 7. 124 Rudolph, Māturīdī, 215.
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Nicht bei jeder solchen Anleihe, doch ab und an, referiert Taftāzānī dabei auch direkt auf seine Quelle. Er verfährt dabei ähnlich wie bei Īǧī (s. u.), indem er von Abū l-Muʿīn an-Nasafī als dem „Verfasser der Tabṣira“ (Ṣāḥib at-Tabṣira) spricht.
3.3.1.3 Der Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya des Taftāzānī Somit ist hinreichend viel über die Tradition gesagt, um vor diesem Hintergrund das erste theologische Werk von Taftāzānī selbst vorzustellen. Dabei handelt es sich um seinen „Kommentar zu den Glaubensartikeln des Nasafī“ (Šarḥ alʿAqāʾid an-Nasafīya), der sich gemäß Elder in eine Tendenz der mutakallimūn zu jener Zeit einfügt: „Rather than go back to original sources and reconstruct their theology, it was preferable to reinterpret the articles of belief of someone in the past.“125 Zugleich gehört der Kommentar in die geistige Biographie Taftāzānīs, die zwischen der māturīditischen und der ašʿaritischen Richtung verläuft und erlaubt es, den Charakter seines theologischen Hauptwerkes stärker herauszuarbeiten. Sein Kommentar nimmt im Verhältnis beider theologischer Schulen auch eine Sonderstellung ein, insofern sonst māturīditische Gelehrte eher eine ašʿaritische Vorlage wählten, während hier ein māturīditisches Bekenntnis den Ausgangspunkt für eine Kommentierung bildet.126 Die Kommentierung von Glaubensbekenntnissen wurde zu einem integralen Bestandteil der späteren sunnitischen Lehrtradition, in welcher Kommentare und Superkommentare oftmals das Adjektiv „unzählbar“ bekommen.127 Auch vor diesem Hintergrund gewinnt Taftāzānīs Kommentar seine Relevanz daraus, dass Šarḥ al-ʿAqāʾid sich an der Azhar in Kairo als Standardlehrwerk für kalām durchsetzte und nicht einfach eines der „unzählbaren“ Werke verblieb. Exemplarisch kann auf die Auflistung des Glaubensbekenntnisses im Curriculum für den kalām-Unterricht im 18. Jahrhundert verwiesen werden,128 wo die ʿAqāʾid als Abschluss der Beschäftigung mit den eher kürzeren Texten und im Übergang zu den weitaus ausführlicheren theologischen Summen genannt werden, die oftmals mehrere Bände umfassen. Bis zur großen Azhar-Reform von 1961 blieben das Glaubensbekenntnis des Nasafī und der Kommentar Taftāzānīs in Gebrauch. Heute liegt das Werk in einer Edition von Klūd Salāma aus dem Jahr 1974 vor.129
125 Elder, Commentary, xvif. 126 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 331. 127 Leaman, The developed kalām tradition, 85. 128 Heyworth-Dunne, James, An Introduction to the History of Education in Modern Egypt, London 1938, 55. 129 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya. Salāma, Klūd (Hg.), Damaskus 1974.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
Für seine wissenschaftstheoretische Vorüberlegung zur Theologie übernimmt er im Kommentar die sechs Abschnitte des Īǧī,130 was zeigt, dass er dieses Werk auch zum Zeitpunkt der Abfassung des Kommentars zu den ʿAqāʾid schon nutzte, auch wenn er sich bei der Abfassung seines Hauptwerkes stärker daran orientieren sollte (s. 3.3.2.3).
3.3.2 Das Hauptwerk Taftāzānīs und seine inhaltliche Struktur Das Referenzsystem für Taftāzānīs Hauptwerk in der ašʿaritischen Tradition ist anders strukturiert als dasjenige für seinen Kommentar des māturīditischen Glaubensbekenntnisses. Dies liegt zum Einen daran, dass sich die Gattung eines Kommentars zu Glaubensartikeln stark von einer die theologische Gesamtdiskussionen abbildenden Summe unterscheidet. Zum Anderen entstammen wichtige Referenzpunkte für die Entwicklung kalām-theologischer Summen einer Tradition, die im Fall wichtiger Wegbereiter wie Ġazālī und Rāzī nicht in Verbindung mit der māturīditischen Tradition steht. Für Taftāzānīs Lehrer Īǧī allerdings ist zuletzt die Vermutung aufgestellt worden, dass sich gerade in den mehr an unmittelbar theologischen Themen orientierten Teilen seiner Summe auch eine Beeinflussung durch den māturīditischen Autor Šams ad-Dīn as-Samarqandī und seine Ṣaḥāʾif al-ilāhīya annehmen lässt.131 In der Darstellung einzelner philosophischer Gegenpositionen und ihrer Systematisierung greift Taftāzānī ebenfalls erkennbar, aber ohne ihn explizit zu nennen auf Samarqandīs Ṣaḥāʾif zurück. Ein Referenzwerk, auf das Taftāzānī manchmal verweist, wenn er Hadithe in die Argumentation einbringt, ist der Irašād132 des Ǧuwaynī. Dieses Werk steht zudem das ein oder andere Mal in den Argumentationen im Hintergrund, weswegen es als zeitlich frühestes Referenzwerk zu Beginn kurz vorgestellt wird. Da die Werke von Ǧuwaynī und Samarqandī aber keinesfalls die Prägekraft anderer späterer Referenzwerke haben, werden sie zudem mit ihren Autoren nur knapp vorgestellt.
130 van Ess, Erkenntnislehre, 38. 131 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 379f. u. 427. 132 al-Ǧuwaynī, Imām al-Ḥaramayn, Kitāb al-Iršād ilā qawāṭiʿ al-adilla fī uṣūl al-iʿtiqād, Kairo 2001.
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3.3.2.1 Punktuell genutzte Referenzwerke
Der Iršād des Ǧuwaynī Ǧuwaynī (geb. 1028) ist vor allem unter seinem Ehrentitel „Imām der beiden Heiligen Stätten“ bekannt. Auch Taftāzānī bezieht sich mit diesem Titel auf ihn. Ǧuwaynī erhielt ihn aufgrund der Tatsache, dass er sich aus politischen Gründen in den Jahren 1058 bis 1062 fernab seiner Heimat Chorasan in Mekka und Medina aufhielt und an beiden Stätten lehrte.133 Zurück in Nišapūr wurde er ein anerkannter Gelehrter auf den Gebieten der Jurisprudenz und des kalām, wobei er oft vor allem wegen seiner Rolle als Lehrer des bereits vorgestellten Ġazālī erwähnt wird. Inhaltlich wird er meist als traditioneller Ašʿarit bezeichnet, der sich besonders der methodischen Genauigkeit verpflichtet fühlte. In vorliegendem Zusammenhang dient sein oft zitiertes Kompendium „Buch der Anleitung zur Findung entscheidender Beweise in den Grundlagen der Glaubenslehre“ (al-Iršād ilā qawāṭiʿ l-adilla fī uṣūl al-iʿtiqād) punktuell als Referenz. Taftāzānī nutzt dabei allerdings vor allem die im Iršād enthaltenen Hadithe, was für einen mutakallim auffällig ist, da ihre Verwendung in theologischen Kontexten sonst eher mit einer traditionellen Orientierung an der Offenbarung in Verbindung steht. Dieser Sachverhalt ist umso auffälliger, als dass Taftāzānī an manchen Stellen sogar mehr Hadithe einbringt, als es Ǧuwaynī getan hatte.
Die Ṣaḥāʾif al-ilāhīya des Samarqandī Šams ad-Dīn as-Samarqandī (st. 1303) trat vor allem als Autor hervor, der sich mit den Arten der Debatten (ǧadal, ḫilāf und munāẓara) in Recht, Theologie und Philosophie beschäftigte. Zur Philosophie verfasste er einen Kommentar aristotelischer Logik und in der Theologie gehören die Ṣaḥāʾif al-ilāhīya, die göttlichen Seiten, und der zugehörige Eigenkommentar zu seinen wichtigsten Werken.134 Die Ṣaḥāʾif al-ilāhīya, die er um 1280 abschloss, geben jeweils auch Positionen der antiken Philosophie zur Weltentstehung oder zum Weiterleben der menschlichen Seele wieder. Wesentlich wichtiger für den spätzeitlichen kalām insgesamt ist allerdings Rāzī, dessen Korankommentar ja schon eingeführt worden ist, der aber eben auch eigenständig strukturierte Werke als mutakallim verfasst hat.
133 Brockelmann & Gardet, al-Djuwaynī. In: EI2 Brill Online, 2013. 134 Miller, L. B., Al-Samarkandī, Shams al-Dīn. In: EI2 Brill online 2013; As-Samarqandī, Šams ad-Dīn Muḥammad, aṣ-Ṣaḥāʾif al-ilāhīya, Aḥmad ʿAbdaraḥmān aš-Šarīf (Hg.), Kuwait 1985.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
3.3.2.2 Die theologischen Schriften des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī Für die schon mehrfach angedeutete Verschmelzung von kalām und falsafa in der Zeit nach Ibn Sīnā ist Rāzī eine zentrale Figur. Dabei hat Rāzī einerseits Ibn Sīnā direkt kommentiert, andererseits aber auch eigene Werke verfasst, in denen er eine unabhängige Darstellung der Lehren von Ibn Sīnā bietet. Hier sind vor allem das frühe Werk „Die Zusammenfassung der Philosophie“ (al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma)135 und die etwas ausführlichere Schrift mit dem Titel „Die östlichen Untersuchungsgebiete“ (al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya) zu nennen.136 Für die spätere Struktur der theologischen Summen ist dabei der Mulaḫḫaṣ in besonderem Maße wegweisend, der als Vorlage für die meisten späteren kalām-Werke diente und über den auch die Philosophie Avicennas verstärkt Eingang in den kalām fand und diesen entscheidend prägte.137 Die Analyse von Taftāzānīs Werken wird im Folgenden zeigen, dass die Bedeutung von Rāzī auch bei ihm sehr hoch anzusiedeln ist und dass er ihn mehrfach als Autorität anführt. Rāzī wird auch in Bezug auf die Etablierung der Logik in den Debatten des kalām eine prominente Rolle zugeschrieben.138 Ob dieser Einfluss stärker als derjenige von Ġazālī war, kann hier nicht entschieden werden. Es ist gut möglich, dass Rāzī die Etablierung der Logik im kalām durch seine Schriften weiter verstärkt hat und man sich gar nicht zwischen beiden Gelehrten entscheiden muss. Auch wenn diese Forschungsfragen nicht direkt in Beziehung zu der Analyse der Werke von Taftāzānī stehen, zeigen sie doch die zentrale Rolle Rāzīs für die Entwicklung des kalām, worin sich seine Funktion in der islamischen Geistesgeschichte aber nicht erschöpft. Darüber hinaus hat Rāzī die Methode der rationalen Argumentation nämlich nicht nur in sehr maßgeblicher Form im kalām verwendet, sondern auch gedanklich neu durchdacht. So sieht Shihadeh in Rāzīs intellektueller Entwicklung auch eine zunehmende Distanzierung von den apologetischen Zielen des kalām, in welchen rationale Argumente als gute Waffe zur Verteidigung der dogmatischen Positionen angesehen wurden, hin zu einem Ansatz, der aus rationalen Argumenten Wissen gewinnen möchte.139 Folgerichtig erscheint bei Rāzī dann
135 Die arabischen Begriffe falsafa, eine Lehnübersetzung aus dem Griechischen und ḥikma, wörtlich Weisheit werden oft synonym zur Bezeichnung der Philosophie gebraucht. Dies wird sich auch bei Taftāzānī beobachten lassen. 136 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 31. 137 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 32. Van Ess hatte einen Einfluss Rāzīs bei Īǧī konstatiert, diesen aber noch geringer veranschlagt (van Ess, Erkenntnislehre, 30f.). 138 Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 168. 139 Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 170.
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die theologische Spekulation nicht mehr als Frucht eines rechtlichen Gebots, das Dogma zu verteidigen, sondern dient eher der Vervollkommnung des Menschen. Mit diesen Beobachtungen ist Rāzī als Autor des einflussreichen Kommentars und mit seinen strukturell und inhaltlich einflussreichen Werken eine wegweisende Figur. Ohne Bezug auf Rāzī können die Werke Taftāzānīs daher nicht analysiert werden. Vor allem im Hauptwerk ist sein Einfluss sehr stark.140 Taftāzānī zitiert ihn, wie zu sehen sein wird, häufig und oft nur mit der kurzen Bezeichnung „der Imam“ (al-imām). Während es sich bei den erwähnten „Untersuchungsgebieten“ (Mabāḥiṯ) eher um ein Werk des Übergangs handelt, in welchem Rāzīs Umgang mit den philosophisch-theologischen Fragen noch experimentell war,141 sind als direkte Referenzwerke punktuell das K. al-Muḥaṣṣal,142 vor allem aber das zum Ende seines Lebens verfasste Buch „Wegmarken der Grundlagen der Religion“ (K. Maʿālim uṣūl ad-dīn)143 wesentlich, in welchem man auch seine endgültigen Positionen vermuten kann.144 Bei den Uṣūl ad-Dīn spricht man dabei zugleich auch von einem traditionelleren Werk Rāzīs, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass er hier den Atomismus der islamischen Theologie zu akzeptieren scheint, während er diese Lehre in den Mabāḥiṯ ablehnt.145 Eine solche eher traditionelle Ausrichtung legt auch bereits der Titel nahe, der an eine eher traditionalistische theologische Redeweise erinnert,146 die auch im ersten Titel von Taftāzānīs Hauptwerk aufscheint (s. 3.3.2.5).
3.3.2.3 Die Ṭawāliʿ al-anwār min maṭāliʿ al-ʾanẓār des Bayḍāwī Nach den Weichenstellungen von Rāzī spielt auch der Gelehrte ʿAbdallāh b. ʿUmar al-Bayḍāwī (ca. 1225) eine wichtige Rolle. Sein für die Weiterentwicklung des kalām wichtiges Werk trägt den Titel „Den weiten Horizonten der logischen
140 Gimaret (Théories, 166f.) postuliert dies für die Handlungstheorie, doch wird derselbe Sachverhalt im Folgenden auch für die Auferstehungslehre deutlich werden. 141 Gimaret, Théories, 135; Shihadeh, From Al-Ghazālī to Al-Rāzī, 171. 142 Ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn, Kitāb al-Muḥaṣṣal. Ḥusayn Atāj (Hg.), Kairo 1991; Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 213. 143 Rāzī, Faḫr ad-Dīn, Uṣūl ad-Dīn li-l-Rāzī wa-huwa l-kitāb al-musammā Maʿālim uṣūl ad-dīn, Kairo 2004. 144 Gimaret, Théories, 137. 145 Anawati, Fakhr Al-Dīn Al-Rāzī. In: EI2 Brill online, 2013. 146 Madelung, Der Kalām, 326.
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Überlegungen entströmende Strahlen des Morgenlichts“147 (Ṭawāliʿ al-anwār min maṭāliʿ al-ʾanẓār).148 Die Formulierung drückt dabei in erster Linie keine literarischen Ambitionen aus, sondern zeigt Bayḍāwīs Respekt vor denjenigen Gelehrten, denen die angesprochenen Überlegungen zu verdanken sind: Die Übersetzung von Calverley & Pollock nennt hier Aristoteles, Ašʿarī, Ǧubbāʿī, Ibn Sīnā, Ġazālī und Rāzī.149 Wie bei fast allen hier vorgestellten Autoren bezieht sich ihr gebräuchlichster Name auf ihren Herkunftsort. Im Falle von Bayḍāwī ist es die Ortschaft Bayḍāʾ in der Nähe von Schiras im Iran. Sein Geburtsjahr lässt sich in den Quellen nicht festmachen, doch tendiert Pollock zum Jahr 1225, da der Zeitpunkt wohl vor der Ernennung von Bayḍāwīs Vater zum Oberrichter von Schiras erfolgte, welche ihrerseits nur ungefähr zwischen 1226 und 1260 angenommen werden kann.150 Sein späteres Leben war dann in jedem Fall von der mongolischen Invasion unter Hülägü und seinen Nachfolgern, die das Il-Khaniden-Reich in Iran errichteten, geprägt. Auch wenn diese Eroberung oft mit den großen Zerstörungen in Bagdad verbunden wird, so bedeutet dies nicht, dass das Il-Khaniden-Reich nicht auch bald wieder in seinen Zentren Täbris und Schiras neues kulturelles Leben in großer Vielfalt ermöglichte, das sogar derart viele bedeutende Persönlichkeiten anzog, dass für Bayḍāwī Reiseanstrengungen zum Wissenserwerb gar nicht nötig waren.151 So konnte Bayḍāwī 1274/75 als Oberrichter in Schiras nachfolgen und damit ein Amt erlangen, das seinen Fähigkeiten entsprach, das er aber wegen heftiger Auseinandersetzungen mit den Eliten der Stadt 1278/79 schon wieder aufgeben musste, weshalb er an den Hof der Il-Khaniden nach Täbris zog. Auch wenn er 1281 erneut auf herrscherlichen Befehl nach Schiras in das Amt des Oberrichters zurückkehren sollte, verließ er es doch nach sechs Monaten wiederum und lebte fortan zurückgezogen in Täbris.152 Zunächst verfasste er hier wohl seinen Korankommentar zur Regierungszeit des Il-Khan Arghum (reg. 1284–1291). Neben Werken zum Recht (Minhāǧ al-wuṣūl ilā ʿilm al-uṣūl) und zur
147 In der Übersetzung des Werkes und eines zugehörigen Kommentars wurde als englischer Titel „Nature, Man and God in Medieval Islam“ gewählt, um die Inhalte des Werkes zu skizzieren, doch erfolgt auch eine Übersetzung des arabischen Originaltitels: „Rays of dawnlight outstreaming from far horizons of logical reasoning“, nach der sich die hier vorgeschlagene deutsche Übersetzung richtet. Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxii. 148 Al-Bayḍāwī, Nāṣir ad-Dīn, Ṭawāliʿ al-anwār min maṭāliʿ al-ʾanẓār. Sulaymān, ʿAbbās (Hg.), Kairo, 2007. 149 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxii. 150 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxvi. 151 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxviii. 152 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxxii.
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Weltgeschichte (Niẓām at-tawāriḫ) schrieb Bayḍāwī auch Kommentare zu den Werken anderer Autoren und schließlich sein Hauptwerk zum kalām, die Ṭawāliʿ al-anwār. Genaue Angaben für den Zeitraum der Entstehung sind nicht verfügbar, doch hatte das Werk in seinem unmittelbaren historischen Umfeld sicher die Funktion, das Sunnitentum abzustützen, da manche Herrscher durchaus Sympathien für andere Religionen wie das nestorianische Christentum oder den Buddhismus hegten und zudem mit ʿAllāma Ḥillī (st. 1325) ein bedeutender zwölferschiitischer Theologe in Täbris zugegen war, der sich als sehr effektiver Förderer des Schiitentums profilierte.153 Bayḍāwī hatte sich für den Aufbau seines kalām-Kompendiums Ṭawāliʿ alanwār zwar den Mulaḫḫaṣ des Rāzī (s. o.) zum Vorbild gewählt,154 zugleich aber nicht die kalām-Definition von Rāzī übernommen. Für ihn hebt sich der kalām vor allem durch die Erhabenheit seines Gegenstandsbereichs von den anderen Wissenschaften ab (aʿẓam al-ʿulūm mawḍūʿan). Zudem zeichnet er sich durch besonders schlagkräftige Argumente und Beweise aus, die schnell von ihren Grundlagen zum Ziel führen und dabei die Geheimnisse der göttlichen Natur offen und klar hervortreten lassen.155 Diese Definition unterscheidet sich allerdings nicht sonderlich von seiner Beschreibung der Disziplin der Koranauslegung, mit der er seinen Korankommentar einleitet (s. o.).156 Strukturell hatte Bayḍāwī das Schema von Rāzī übernommen, allerdings in einem dritten Hauptteil, einem „Buch über Prophetie“ (K. fī Nubūwa) gewissermaßen theologisiert, da es hier nicht nur um Prophetie, sondern auch um die Auferstehung und die Führung der muslimischen Gemeinschaft geht.157 Alle drei Themen dieses Buches basieren also auf der koranischen Offenbarung, werden dann aber in den kalām-Werken auch rational ausgebaut. In den Schriften von Īǧī und Taftāzānī (s. u.), welche die Struktur Bayḍāwīs aufgreifen, heißt der entsprechende Abschnitt dann auch „Über die aus der Offenbarung abgeleiteten Dinge“ (fī samʿīyāt). Zugleich gilt er als jener mutakallim, der sich erstmals ausschließlich auf die formallogischen aristotelischen Formeln des Syllogismus beruft.158 Bayḍāwī steht somit sicher eher als einer derjenigen in der Geschichte des kalām, der die Gebiete von Philosophie und Theologie durchmischt und weniger
153 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxxvf. 154 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 373. 155 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ an-anwār, 51. 156 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 285. 157 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 459. Eichner sieht hier auch Querverbind ungen zu einem astronomischen Milieu (Marāġa) in Täbris, das Bayḍāwī ebenfalls beeinflusst haben kann. Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 374f. 158 van Ess, Erkenntnislehre, 32f.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
trennt.159 Diese Entwicklung sollte aber mit ihm noch nicht abgeschlossen sein, da die nächste wichtige Persönlichkeit in der Geschichte der großen kalām-Summen auf seinem Werk aufbaute. Anders als bei den bisher behandelten Querverbindungen unter den Protagonisten des kalām lässt sich der Weg von Bayḍāwī zu Īǧī, der ebenfalls aus der Nähe von Schiras stammte, über eine dazwischen liegende Schülergeneration etablieren. Einer der Schüler des Bayḍāwī war Zayn ad-Dīn al-Habakī (1265/6–1345/6), der seinerseits Lehrer des Īǧī war.160 Īǧīs Leben und theologisches Hauptwerk soll im nächsten Abschnitt als weitere wichtige Referenz für Taftāzānīs Hauptwerk herangezogen werden. Anders als bei den anderen Referenzwerken wird sich im Falle von Bayḍāwī keine namentliche Nennung durch Taftāzānī ausmachen lassen, doch ist sein Werk, auch so für den spätzeitlichen kalām hinreichend relevant.
3.3.2.4 Die Mawāqif des ʿAḍud ad-Dīn al-Īǧī Die Mawāqif (Stationen) des ʿAḍud ad-Dīn al-Īǧī (st. 1355) stellen die späteste selbständige Summe im kalām dar.161 Sie sind auch ein Zeugnis für den fortgesetzten Einfluss der philosophischen Lehrtradition auf die sunnitische Theologie des 14. Jahrhunderts,162 auch wenn dieser eher mittelbar durch die Neukombination früherer philosophisch geprägter Werke erfolgte, wie nach einem kurzen Blick auf seine Biographie deutlich werden soll. Īǧī selbst wurde um das Jahr 1300 in Īǧ nahe der bekannteren und größeren Stadt Schiras geboren.163 Er wirkte am Hof verschiedener Nachfahren der Mongolen und wurde unter der Herrschaft von Abū Saʿīd Bahādur Khan (reg. 1317–1335) Richter des Il-Khaniden-Reichs (qāḍī al-mamālek), die sich seit 1295, dem Zeitpunkt des Übertritts von Abū Saʿīds Vater Ġazān, zum Islam bekannten (s. 2.1).164 Da Abū Saʿīd anders als sein Vater und sein Onkel Öldscheitü mehr dem sunnitischem als dem schiitischen Islam zuneigte, kann Īǧīs Beförderung auch auf seine strikt sunnitische Haltung zurückzuführen sein. Er verlor diese Position aber mit dem Tod des Herrschers.165 Während seiner Tätigkeit verfasste er die Mawāqif, die er zunächst Ġiyāṯ ad-Dīn, dem Wesir Abū Saʿīds widmete166 und die bereits 1330
159 McDonald, Theology, 241. 160 Calverley & Pollock, Nature, Man and God I, xxxiv. 161 van Ess, Erkenntnislehre, VI. 162 Griffel, Apostasie und Toleranz, 340. 163 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 429. 164 Kollmar-Paulenz, Mongolen, 53. 165 van Ess, ʿAzod-Al-Dīn Ījī. In: EIr (III), 269. 166 van Ess, Schulweisheit, 33.
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in einem Geschichtswerk (Tārīkh-e gozīda) Erwähnung fanden.167 Nachdem das Il-Khaniden-Reich mit dem Tod von Abū Saʿīd endete, begann auch für Schiras eine Phase der Unruhe, die erst endete, als Abū Isḥāq Īnǧū die lokale Macht erringen konnte.168 Zu dessen Gunsten widmete Īǧī die Mawāqif um169 und wurde für einige Jahre Oberrichter (qāḍī l-quḍāt) der Stadt. Bei Verhandlungen über das politische Schicksal seines neuen Landesherren Abū Isḥāq mit dem heranrückenden Rivalen Amir Mubāriz ad-Dīn Muḥammad b. Muẓaffar (st. 1364), dem Gouverneur von Kirmān und Begründer der Muẓaffaridendynastie,170 blieb Īǧī erfolglos und musste nach dessen Sieg ins Gefängnis, wo er bald darauf verstarb.171 Wendet man den Blick vom Autor und seiner Zeit wieder direkt dem theologischen Werk zu, so lässt sich zunächst nach dem Titel fragen, der vollständig „Die Stationen in der theologischen Wissenschaft“ (Mawāqif fī ʿilm alkalām) lautet. Die Wahl des Begriffs „Stationen“ (Mawāqif) begründet Īǧī nicht, allerdings beschreibt er in seinen einleitenden Worten nach dem Lob Gottes und des Propheten auch „den urewigen Koran als im Besitz von Zielen und Stationen“.172 Der Begriff und die mit „Stationen“ verbundene Vorstellung von wichtigen Haltepunkten scheint bei ihm also auch für das im Koran thematisch Unterscheidbare, bei dessen Besprechung man jeweils „Station machen“ kann, zu stehen. Das Werk wurde von van Ess weniger als origineller Beitrag zur Theologie, sondern vielmehr als strukturell erneuerte theologische Summe gewürdigt. Sie zeichne sich durch eine „einmalige Vollständigkeit und Geschlossenheit” aus, in der Probleme auf die „gültige Formel gebracht wurden“.173 Vor dem Hintergrund dieser Studie lässt sich präzisieren, dass auch das Hauptwerk Taftāzānīs eine erweiterte theologische Summe darstellt, in der er die Struktur von Īǧī komplett übernommen, bezüglich der Vollständigkeit aber Ergänzungen vorgenommen hat. Selbst wenn Īǧīs Werk dem Aufbau nach eine neue Struktur hat, hat auch er von älteren Sammelwerken profitiert. Für den erkenntnis-theoretischen Teil, die erste Station (mawqif) des Werkes, hat van Ess hier vor allem den Muḥaṣṣal, den Mulaḫḫaṣ (s. o.) und das „Ziel der Einsichten“ (Nihāyat al-ʿuqūl) des Rāzī sowie
167 van Ess, ʿAzod-Al-Dīn Ījī. In: EIr (III), 270. 168 Limbert: Inju Dynasty. In: EIr (VIII), 145. 169 Īǧī, Mawāqif, 6. 170 Jackson, Muẓaffarids, EI2. 171 Ibn Ḥaǧar, Durar al-kāmina II, 430. 172 Īǧī, Mawāqif: „qurʾānan qadīman ḏā ġayātin wa-mawāqif “, 3 [Hervorhebung, T.W.]. 173 van Ess, Erkenntnislehre, 7.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
die „Größten der Gedanken“ (Abkār al-afkār) des Āmidī ausgemacht.174 Einen Einfluss der oben vorgestellten Ṭawāliʿ al-anwār des Bayḍāwī hatte van Ess nicht ersehen können.175 Diesen Befund führt Eichner aber darauf zurück, dass dies nur auf die von van Ess eingehend untersuchte erste Station, eben die Erkenntnislehre, zutrifft.176 Nimmt man aber alle sechs „Stationen“ in den Blick, so lässt sich in den Ṭawāliʿ al-anwār sogar das zentrale Vorbild für die Struktur der Mawāqif insgesamt erkennen. Gegenüber der strikten Reduktion der Ṭawāliʿ alanwār bietet Īǧī aber doch wieder eine breitere Übersicht bezüglich divergierender Lehrmeinungen und doxographischer Informationen.177 Er nennt dabei seine Quellen nur sporadisch, da er selbst in den Mawāqif keine historische Rekonstruktion anstrebt, was van Ess auf folgende Formel bringt: „Er referiert historische Reminiszenzen, aber er versteht sie als immanente Dynamik einer Idee, er fußt auf der Geschichte, aber er bezweckt systematische Theologie.“178 Vorbilder müssen also immer auch entdeckt werden, und so lässt sich das Bild hinsichtlich der Komposition weiter differenzieren. Neben dem stärkeren Vorbildcharakter der Ṭawāliʿ al-anwār könnten die letzten beiden Stationen der Mawāqif zudem davon geprägt sein, dass Īǧī die ašʿaritische Position gegenüber den harmonisierenden Tendenzen des māturīditischen Autors Samarqandī deutlicher zum Ausdruck bringen wollte.179 Dafür gibt es nach Eichner Anzeichen in Bezug auf die Schau Gottes im Jenseits (ruʾya), und zudem finden sich im Abschnitt zu den göttlichen Namen dieselben Klassifikationen bei Īǧī wie bei Samarqandī.180 Eine Aufzählung aller Namen bei Īǧī entspräche dann dem Schlusswort Samarqandīs bezüglich der Konzeptualisierung göttlicher Namen.181 In jedem Fall spiegeln sich Aspekte der Struktur auch in Īǧīs Einleitung, in der er nach einigen koranisch fundierten Eulogien zu Beginn Gottes Schöpfung der möglichen Dinge, Seine Attribute, Seine überlegene Handlungsfähigkeit und die Aussendung der Propheten als Warner preist.182 Auch wenn die einbändigen Mawāqif 183 gegenüber den Ṭawāliʿ al-anwār wieder ausführlicher sind, so unterscheiden sie sich von den in der modernen
174 van Ess, Erkenntnislehre, 11. 175 van Ess, Erkenntnislehre, 5. 176 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 428. 177 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 426. 178 van Ess, Erkenntnislehre, 8f. 179 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 380, 460. 180 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 464f. 181 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 467. 182 Īǧī, Mawāqif, 2. 183 Al-Īǧī, ʿAḍud ad-Dīn, al-Mawāqif fī ʿilm al-kalām, Kairo o. J.
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Ausgabe fünfbändigen Maqāṣid des Taftāzānī erheblich. Gegenüber den Maqāṣid erscheinen die Mawāqif so, dass sie „die Argumente nicht unter all ihren Aspekten und in verwirrender Vielfalt, sondern gewissermaßen in ihrem Skelett“184 darstellen. Die knappe Sprache des Werkes macht es aber nicht immer leicht verständlich, und oft erschließt sich der logische Fortgang nur schwer. Die prägnante Kürze war für Īǧī selbst aber durchaus ein nennenswertes Ziel. In seinen einleitenden Worten grenzt er sich von denen ab, „die den Umfang des Buches mit einer breiten Darlegung und häufiger Wiederholung vergrößern, damit man vom jeweiligen Verfasser denke, er sei ein überströmendes Meer“185 der Gelehrsamkeit. Doch blieb wohl ein Eindruck der Knappheit bestehen, was sicherlich auch den Ausschlag dafür gegeben hat, dass die Mawāqif Gegenstand von Kommentaren wurden, wobei jener des Ǧurǧānī unter dem Titel Šarḥ al-Mawāqif der bekannteste wurde.186 Obschon die Mawāqif eine Referenz für die erheblich längeren Maqāṣid darstellen, verweist ihre reduzierte Darstellung aber auch auf ein Bedürfnis der mutakallimūn nach Übersichtlichkeit, das sich im Fall von Taftāzānī in seinem Tahḏīb darstellt (s. 3.3.3). Wie bei den im Rahmen von Taftāzānīs Biographie kurz erwähnten rhetorischen Schriften lässt sich auch zwischen den theologischen Schriften oft ein Wechselspiel von ausholender Erklärung und argumentativer Reduktion beobachten. Für Taftāzānī sind die Mawāqif zwar nicht Gegenstand eines direkten Kommentars geworden, doch waren sie sein Vorbild bei der grundlegenden Einteilung des kalām in die sechs Hauptkapitel (s. u.). Ein solcher Vorbildcharakter findet sich auch auf den anderen Ebenen wie zum Beispiel bei der Klassifikation der Akzidenzien.187 Als direkte Referenz im Rahmen des Textvergleiches auf ausgewählten Themenfeldern sind für die Auferstehungslehre die sechste und letzte Station, für die Handlungstheorie die fünfte Station und für die Schöpfungslehre die vierte Station relevant. Das göttliche Handlungsvermögen wird allerdings schon in der dritten Station über die Akzidenzien thematisiert.188 Für Definitionen des Begriffspaares „urewig“ (qadīm) und „in der Zeit geschaffen“ (ḥudūṯ) ist
184 van Ess, Erkenntnislehre, VII. 185 Īǧī, Mawāqif: „man yukabbiru ḥaǧma l-kitābi bi-l-basṭi wa-t-takrāri li-yaẓunna bihī annahū baḥrun zaḫḫār“, 5. 186 van Ess, ʿAzod-Al-Dīn Ījī In: EIr (III), 270. In seiner Erkenntnislehre spekuliert van Ess, dass man auch von Īǧīs Schüler Taftāzānī einen Kommentar der Mawāqif hätte erwarten können. van Ess, Erkenntnislehre, 6. 187 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 451. 188 Īǧī, Fihrist der Mawāqif, 11f.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
auch ein Abschnitt aus der zweiten Station über die allgemeinen Dinge (al-ʾumūr al-ʿāma) von Bedeutung.189 Taftāzānī selbst bezieht sich nicht an jeder Stelle, an der sich ein Einfluss der Mawāqif ausmachen lässt, explizit auf das Werk und seinen Verfasser Īǧī, doch erwähnt er das Vorbild durchaus manches Mal. Er nennt Īǧī dann aber meist nicht mit Namen und auch nicht mit einem Ehrentitel wie Rāzī sondern bezieht sich schlicht auf den „Verfasser der Mawāqif “ (Ṣāḥib al-Mawāqif ).190
3.3.2.5 Der Šarḥ al-Maqāṣid des Taftāzānī Der Vorbildcharakter der Mawāqif für den Šarḥ al-Maqāṣid hinsichtlich der Strukturierung des kalām-Stoffes ist inzwischen allgemein anerkannt,191 auch wenn van Ess das noch nicht so deutlich gesehen hatte.192 Wie schon einleitend gesagt, zeigt sich dies bereits an den ähnlichen Definitionen für kalām allgemein, doch setzt sich dies im Aufbau fort. Den „Stationen“ entsprechen bei ihm die „Hauptuntersuchungsgebiete“. Der Šarḥ al-Maqāṣid stellt dabei einen eigenen Kommentar zu den „Hauptuntersuchungsgebieten derer dar, die sich mit den Grundlagen der Religion beschäftigen“ (Maqāṣid aṭ-ṭālibīn fī uṣūl ad-dīn).193 Es findet sich für das Werk auch die Bezeichnung „Hauptuntersuchungsgebiete des kalām“ (Maqāṣid alkalām), wie es bei Ṭāšköprü-Zāda und Ibn al-ʿImād heißt. Auf den ersten Blick erscheint die Differenz gering, doch laut Madelung ist gerade die Bezeichnung „Grundlagen der Religion“ (Uṣūl ad-Dīn) anstelle des üblichen Terminus kalām ein typischer Begriff der eher traditionalistischen Autoren, die stärker auf den Koran und das Hadith zurückgriffen und die „Grundlagen der Religion“ dem Begriff kalām vorzogen.194 Insofern sich bei Taftāzānī wie einleitend gesagt eine Tendenz feststellen lässt, sich neben den rein rationalen Argumentationswegen auch bei den autoritativen Texten rückzuversichern, mag er aber sehr bewusst von „Grundlagen der Religion“ gesprochen haben, was dann später entweder nicht verstanden oder nicht gewollt wurde. Unter Umständen hat dies zur sekundären Bezeichnung des Werks als Maqāṣid al-kalām geführt.
189 Īǧī, Fihrist der Mawāqif, 6. 190 Auch in seiner Definition des kalām verweist er mit diesen Worten auf Īǧī: Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I, 165. 191 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 325, 470. 192 van Ess, Erkenntnislehre, 6. 193 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 212. 194 Madelung, Der Kalām, 326.
Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke
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Das zugrunde liegende Werk (Maqāṣīd) soll er Brockelmanns Eintrag im Supplement zufolge schon um 1356 entworfen haben, wobei er Ibn al-ʿImād als Referenz angibt.195 Dieser wiederum schreibt in den „Goldsplittern“, dass die Maqaṣīd im Monat Ḏū l-qaʿda 784, also Januar 1383, in Samarkand vollendet wurden, differenziert aber nicht zwischen früherem Werk und dem Kommentar.196 Diese Angabe findet sich auch bei Ṭāšköprü-Zāda, der für die Maqāṣid al-kalām und den zugehörigen Kommentar (Šarḥuhū) ebenfalls 784 also 1383 nennt.197 Auch in der Werkliste von Ḫawāfī werden die Maqāṣid und Šarḥ al-Maqāṣid zusammen aufgezählt (haštum Maqāsīd wa Šarḥ-i Maqāsīd) und als Zeitpunkt ihrer Entstehung wird das Jahr 784 (1383) genannt.198 Die theologischen Unterschiede zwischen Taftāzānīs erstem theologischen Werk, das er 1367 vollendete und Šarḥ al-Maqāṣid spricht ebenfalls für die spätere Abfassung. Dies vor allem, da die Maqāṣid und Šarḥ al-Maqāṣid sich nicht inhaltlich, sondern ganz im Sinne eines Kommentars vor allem durch den ausführlicheren Stil, die größere Breite der Argumentation und die koranischen Belege unterscheiden. Von daher ist es unwahrscheinlich, dass Taftāzānī hier ein anderes und wie noch zu sehen sein wird, māturīditisch ausgerichtetes Werk eingeschoben haben soll. Dies wäre aber der Fall, wenn er die Maqāṣid 1356, den Kommentar zu den ʿAqāʾid des Nasafī 1367 (s. 2.2) und dann den Kommentar der Maqāṣid 1383 geschrieben hätte. Im Folgenden wird der Inhalt des Werkes Šarḥ al-Maqāṣid, das heute in einer fünfbändigen Ausgabe vorliegt, anhand der Kapitelüberschriften wiedergegeben.199
Das erste Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über die Grundlagen (mabādīʾ) Erstes Kapitel: Einleitendes (muqaddimāt) ––
–– ––
Definition der Wissenschaft vom kalām –– Thema des kalām –– Grundlagen des kalām –– Grenze des kalām Der kalām als vornehmste aller Wissenschaften Meinungsverschiedenheit über die Wahrheit (der Berechtigung des kalām)
195 Brockelmann, GAL S II, 304; van Ess, Schulweisheit, 36. 196 Ibn al-ʿImād, Šaḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Brockelmann hat die Zeitangabe im zweiten Band der Geschichte der arabischen Literatur selbst noch so zitiert. 197 Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 205f. 198 Ḫawāfī, Muǧmal-i faṣīhī III, 124. 199 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Šarḥ al-Maqāṣid I-V. ʿUmayra, ʿAbdarraḥmān (Hg.), Beirut 1998.
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Zweites Kapitel: Das Wissen (ʿilm) ––
ber die Untersuchung der Wissenschaft und die einzelnen UntersuchungsgegenÜ stände: –– Definition der Wissenschaft –– Einteilung der Wissenschaften in taṣdīq (verknüpfendes Urteil mit bejahender oder ablehnender Stellungnahme) und taṣawwur (Idee als begriffliche Vorstellung) –– Notwendige Vorstellungen
Drittes Kapitel: Die Spekulation (naẓar) –– ––
–– –– –– ––
Über ihre Idee und Definition Einteilung der Spekulation in richtig und falsch –– richtige Spekulation –– verderbliche Spekulation Bedingungen der Spekulation Erreichung von Gotteserkenntnis mit Hilfe der Spekulation Über das Erste der Notwendigkeiten Über seine Einteilung in taṣawwur und taṣdīq
Das zweite Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über die allgemeinen Angelegenheiten (al-umūr al-ʿāmma) Erstes Kapitel: Die Existenz und die Nicht-Existenz (‘adam) –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
Das Urteil durch Intuition ist die Idee der Existenz Ist die Existenz Wesen der Substanz (māhīya) oder etwas, das über sie hinausgeht? Ist die Existenz ein gemeinsames Konzept der existierenden Dinge? Die Zusätzlichkeit der Existenz gegenüber der Substanz Beweise (adilla) der Theologen für die Existenz des Notwendigen als Zusatz zur Substanz Ablehnung der Gleichwertigkeit der Existenz des Notwendigen und des Möglichen in der Substanz Hinweise, dass die Existenz Wesen der Substanz ist Ausgleich der verschiedenen Meinungen Die Wahrheit des Notwendigen bedeutet Absolutheit der Existenz. (=> Der eigentliche Sinn des Begriffs Notwendigkeit bedeutet Absolutheit der Existenz) Meinungsverschiedenheit der Gelehrten darüber, ob die Existenz partikulär (ǧuzʾī) oder umfassend (kullī) ist Einteilung der Existenz nach Wesen, Geist, Ausdruck und Falschheit Schluss (istidlāl) zum Erweis geistiger Existenz Beschreibung des Geistes anhand von Kälte und Hitze, was ganz evident eine Unmöglichkeit darstellt Existenz ist gleichbedeutend mit Unveränderlichkeit Verneinung der Dauerhaftigkeit des Nichtexistenten und der Mittelposition von Nichts und Existenz
Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
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inweise derjenigen, die behaupten, das Nichts sei zerteilt und die Widerlegung ihrer H Positionen Meinungsverschiedenheit, ob Dinglichkeit Teil der dinglichen (‘aynī) Dauerhaftigkeit ist Hinweise auf die Dauerhaftigkeit des Zustandes Erwägung der Richtungsgebundenheit der Befürworter einer Dinglichkeit von NichtExistenz und Zustand Ihre Hinweise auf die Dauerhaftigkeit des Zustandes und seine Teilbarkeit Hinweise auf die Nichtigkeit der Lehre von der Dauerhaftigkeit des Nicht-Existenten und des Zustandes Die Unterscheidung des „Ins-Nichts-Beförderns im Geiste“ (iʿdām fī-lʿaql) und was damit verbunden ist Es gibt keine Beschränkung für die Vorstellungen des Geistes; er birgt in sich [auch], was sich gegenseitig ausschließt Sowohl die Existenz als auch das Nichts können beide Attribut oder Träger sein Zurückweisung der phantastischen Einbildung, dass das Nichts Träger der Substanz sein könnte Nachweis der Richtigkeit des Urteils
Zweites Kapitel: Die Substanz (al-māhīya s. o.) ––
––
––
Herausarbeitung der Substanz in ihrem Unterschied zu Akzidenzien –– Einteilung der Substanz danach, ob ihre Akzidenzien beständig sind oder nicht –– Was von Platon überliefert wurde, stützt dem äußeren Wortsinn nach die Existenz der Substanz –– Es gibt in ihr weder Vermischung noch Reinheit –– Einteilung der Substanz hinsichtlich der Existenz von Bedingtheit oder deren Abwesenheit Die Substanz kann einfach oder komplex sein –– Die Teilhabe ist Hinweis auf die Zusammensetzung der Substanz –– Die geistige und äußere Priorität ihrer Teile ist bedingt in dem Zusammengesetzten –– Einteilung der Bestandteile des Zusammengesetzten in sich gegenseitig beeinflussende und einander gegensätzliche Sind die Substanzen gemacht oder nicht? –– Beweis der Gegner für das Gemacht-Sein der Substanz
rittes Kapitel: Mit der Existenz und der Substanz in Zusammenhang D Stehendes (lawāḥiq) ––
Die Bestimmung (at-taʿyyun) –– Die subjektive Bestimmung –– Argumentation der Gegner für die rein subjektive Bestimmung –– Meinungsverschiedenheit über das Nichtsein der Bestimmung und ihre bloß sprachliche Existenz –– Über Notwendigkeit, Unmöglichkeit (imtinā‘) und Möglichkeit –– Die mit dem Verstand begreifbaren Dinge werden durch den allgemeinen Verständnishorizont (mafhūm) hervorgebracht
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte ie Einteilung von Notwendigkeit, Unmöglichkeit (imtināʿ) und Möglichkeit D Die Existenz ist ein Band und ihre Folgeerscheinungen sind Material für die Dinge Die subjektive Betrachtungsweise der Notwendigkeit und was dazu analog ist Beweisführung zur subjektiven Betrachtungsweise von Notwendigkeit und Möglichkeit –– Argumentation der Gegner bei der Ablehnung des Nichtseins von Notwendigkeit und Möglichkeit –– Die Bedürftigkeit des Möglichen nach der Ursache (mu’aṯṯir) –– Zweifel der Leugner an der Nichtbedürftigkeit –– Über den Beweggrund (mūǧib) (für die Theorie von) der Bedürftigkeit des Möglichen nach einer Ursache –– Die Gleichwertigkeit der beiden Seiten des Möglichen Urewigkeit (qidam) und Entstehung in der Zeit (ḥudūṯ) –– Interpretation und Einteilung der beiden Begriffe und was damit verbunden ist –– Das Urewige in der Zeit kann sich unmöglich auf das Gewählte stützen –– Das Urewige verunmöglicht sein Nichtexistieren –– Die Behauptung der Philosophen, dass in der Zeit Entstandene müsse stofflich sein (mādda) und zeitliche Dauer (mudda) haben –– Die Notwendigkeit, dass zeitliche Dauer allem in der Zeit Entstandenen vorausgeht –– Die Verständlichkeit (der Vorstellung von) des zeitlichen Vorhergehens durch Teilhabe oder Einflößung von Zweifeln Einheit (waḥda) und Vielheit (kuṯra) –– Die Einheit und die Vielheit gemäß den geistigen Betrachtungsweisen –– Die Einheit ist kein Synonym zur Existenz und zur Substanz –– Hinweis auf die Existenz von Einheit und Vielheit –– Das Ausgebreitet-Sein von Einheit und Vielheit –– Der Dualismus –– Die Veränderlichkeit durch die Besonderheiten der Vielheit –– Die Andersartigkeit ist ein Gegensatz zur Identität Ursache und Wirkung (ʿillīya wa-maʿlūlīya) –– Definition der Ursache –– Vollständige und verminderte Ursache –– Einteilung der Bestandteile der Ursache –– Die Notwendigkeit des Erwirkten (maʿlūl) ist notwendig bei Vollständigkeit des aktiven Prinzips (fāʿil) –– Ohne Wirkung kann es keine Ursache geben –– Das Wirksame in der [diesseitigen] Existenz ist wirksam im Jenseits (baqā’) –– Die Einheit des Erwirkten erfordert notwendigerweise die Einheit des aktiven Prinzips –– Hinweis des Gegners auf die Unmöglichkeit der Vielheit der Ursache –– Möglichkeit des Hervorgehens der Vielheit aus dem wirklichen Einen –– Beweise der Philosophen für das Hervorgehen der Vielheit aus der Einheit –– Widerspruch gegen die Aussage aus dem Einen gehe nichts hervor außer dem Einen –– Das Eine ist bei den Philosophen weder aktiv noch passiv –– Auseinandersetzung mit dem Problem der fortlaufenden Folge (tasalsul) –– –– –– ––
––
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Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke
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as dritte Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über die D Akzidenzien (aʿrāḍ) ––
Das Bewirkte [als Phänomen] (maʿlūlīya)
Erstes Kapitel: Die Ganzheit (kullīya) –– –– –– –– ––
Die Existenz (mawǧūd) Das Akzidens besteht nicht mit Notwendigkeit aus sich heraus Das Akzidens bewegt sich nicht von einem Ort zu einem anderen Ein Akzidens geht nicht aus einem anderen Akzidens hervor Die Akzidenzien bestehen nicht dauerhaft zu zwei Zeitpunkten (zamānayn)
Zweites Kapitel: Die Quantität (kam) –– ––
––
Was der Quantität insgesamt zukommt Die Zeit (zamān) –– Beweise der Philosophen für die Existenz der Zeit –– Meinungsverschiedenheiten von Philosophen und Theologen über die Wahrheit in Bezug auf die Zeit –– Defizite der Argumente der Philosophen –– Bei den Philosophen ist die Zeit eine unabhängige Substanz (ǧawhar) Der Raum (makān) –– Ist der Raum eine bloße Oberfläche (saṭḥ) oder hat er eine weitere Dimension (buʿd)? –– Ist die Leere möglich oder unmöglich? –– Beweis ihrer Unmöglichkeit
Drittes Kapitel: Das Wie (kayf ) ––
Fühlbare Qualitäten; davon gibt es verschiedene Arten (anwāʿ) –– Mit dem Tastsinn wahrnehmbare Dinge (malmūsāt) ihr gemeinsamer Ursprung liegt in der Hitze –– Die sichtbaren Dinge (mubṣarāt) –– Weiß und schwarz sind die zwei Seiten einer Farbe. –– Einige Leute billigen der Farbe keine Wirklichkeit zu. –– Schwarz und Weiß als Wurzel der Farben –– Das Licht –– Das Licht in seinem Unterschied zur Farbe –– Die hörbaren Dinge (masmūʿāt) –– Die Stimme ist eine Schöpfung Gottes –– Die schmeckbaren Dinge –– Die riechbaren Dinge (mašmūmāt) –– Geistige Qualitäten –– Leben und Tod –– Wahrnehmung (idrāk) –– Einteilung des Wissens in „urewig“ und „in der Zeit entstanden“
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte –– –– –– –– ––
Der Ort des Wissens ist das Herz Der Wille Das Handlungsvermögen (qudra) Wohlgefühl und Schmerz Gesundheit und Krankheit
Viertes Kapitel: Das Wo (ʿayn) –– ––
Das Akzidens besteht nicht an zwei Orten. Zustände der Bewegung und ihre Notwendigkeiten
ünftes Kapitel: Die verbliebenen relationalen Akzidenzien (bāqī F l-aʿrāḍ an-nisbīya)
Das vierte Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über die Atome (ǧawāhir) Erstes Kapitel: Allgemeine Urteile über die Körper (aḥkām al-ǧism) Zweites Kapitel: Über zusammengesetzte Körper (murakkab) –– –– ––
Bestätigung der genauen Abgrenzung (muḥaddad) Die Himmelssphären Ihre Drehbewegung um die zwei Pole
Drittes Kapitel: Über einfache Elemente (al-basāʾiṭ al-ʿunṣurīya) Viertes Kapitel: Über abstrakte Dinge (muǧarradāt) –– ––
Die Seele Der Geist
Das fünfte Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über die Gotteslehre (ilāhīyāt) Erstes Kapitel: Das Wesen (ḏāt) –– –– ––
Die Bestätigung Seines Wesens, wobei es zwei Wege gibt Das Wesen des Notwendigen im Gegensatz zu den möglichen Dingen Der Schöpfer besteht von Ewigkeit zu Ewigkeit
Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke
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weites Kapitel: Die Fernhaltung Gottes von menschlichen Attributen Z (tanzīhāt) –– –– –– ––
Darüber, dass es keinen Teilhaber (šarīk) gibt Das Notwendige hat keinen Körper, kein Akzidenz und keine Substanz und kann nicht mit Quantitäten und Qualitäten beschrieben werden Das Notwendige wird nicht durch einen anderen herausgefordert Die Unmöglichkeit, das Notwendige mit in der Zeit entstandenen Dingen zu beschreiben
Drittes Kapitel: Die existierenden Eigenschaften (aṣ-ṣifāt al-wuǧūdīya) –– –– –– –– –– –– ––
Die Eigenschaft, die über Sein Wesen hinausgehen Die Bestätigung von Gottes Handlungsvermögen Darüber, dass Er wissend ist Darüber, dass Er wollend ist Darüber, dass Er hört, sieht und lebendig ist Darüber, dass Er sprechend ist Über verschiedene Eigenschaften
iertes Kapitel: Die Zustände des Notwendigen es [Er] ist erhaben V (aḥwāl) –– ––
Die Gottesschau im Jenseits Wahres Wissen des Erhabenen
Fünftes Kapitel: Die Handlungen (afʿāl) ––
–– –– ––
Über die Schaffung der menschlichen Handlungen –– Verstandesbeweise dafür, dass die menschlichen Handlungen tatsächlich durch das Handlungsvermögen Gottes (rabb) zustande kommen –– Die Beweise der Früheren für diese Lehre –– Offenbarungsbeweise dafür, dass die menschlichen Handlungen tatsächlich durch das Handlungsvermögen Gottes zustande kommen –– Hadithe, die auf diese Lehre hinweisen –– Beweise der Muʿtazila, dass die menschlichen Handlungen tatsächlich vom Menschen geschaffen und hervorgebracht werden –– Offenbarungsbeweise der Muʿtazila für diese Lehre –– Ein Schlusswort dazu, dass der Mensch ein Gezwungener in der Form des frei Wählenden ist –– Die Taten Gottes geschehen nach Seinem Gesetz und Seinem Handlungsvermögen –– Über das, was die Gelehrten zur Erzeugung (tawallud) sagen Über die Allgemeinheit des göttlichen Willens Darüber, dass es kein rationales Urteil über das Böse und das Gute gibt Es geht nichts Böses von Gott aus
Sechstes Kapitel: Die weiteren Verästelungen (tafārīʿ) der Handlungen –– ––
Mit Rechtleitung (hudā) ist möglicher Weise Hilfe (imtidād) gemeint Gunstbezeugung (luṭf) und Verleihung von Erfolg (tawfīq)
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte Die Wahrheit des Todeszeitpunkts (aǧl) Über den Lebensunterhalt (rizq) Der Preis ist eine Festsetzung bezüglich dessen, wozu eine Sache verkauft wird Was in Bezug auf Gott nach der Muʿtazila eine Notwendigkeit darstellt
Siebtes Kapitel: Die Namen Gottes –– –– ––
Der Name Die Namen Gottes sind im Gegensatz zu dem, was die Muʿtazila sagt, Erfolg verleihend Über das mit dem Namen Bezeichnete
Das sechste Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) über Dinge, welche die Offenbarung betreffen (samʿīyāt) Erstes Kapitel: Die Prophetie (nubūwa) –– –– –– –– –– –– –– –– ––
Die Definition eines Propheten (nabī) und eines Gesandten (rasūl) [mit einer Schrift] Das Wunder (muʿǧiza) Das Erfordernis des Propheten und des göttlichen Rechts Über die Sendung des Propheten Mohammad Seine Sendung zu allen Menschen Die Propheten sind sündlos Die Engel Der Freund Gottes (walī) Der Zauber (siḥr)
Zweites Kapitel: Die Auferstehung (maʿād) –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
Die Wiederherstellung des nicht mehr Existierenden (maʿdūm) ist möglich Meinungsverschiedenheiten zur Auferstehung Meinungsverschiedenheiten über die Entwerdung des Körpers Meinungsverschiedenheiten über die Versammlung der Auferstandenen Paradies und Höllenfeuer sind bereits erschaffen, was der Meinung einiger Muʿtaziliten widerspricht Die Frage nach der Peinigung im Grab Einige Zustände im Zwischenraum (barzaḫ) und im Jenseits Glückseligkeit und Plage im Jenseits und der Weg der Muslime im Jenseits Meinungen der Weisen zu diesen beiden Dingen Lohn und Strafe Die Ewigkeit im Jenseits Was geschieht, wenn ein Gläubiger gute und böse Taten begangen hat? Über kleine und große Sünden Das Thema der Fürsprache für die, die große Sünden begangen haben Über die reuige Umkehr (tawba) Das Gebieten des Anerkennungswürdigen und das Verbieten des Missbilligten
Theologische Schriften Taftāzānīs und ihre Referenzwerke
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Drittes Kapitel: Namen und die Urteile (al-asmā’ wa-l-aḥkām) –– –– –– –– –– –– –– ––
Der Glaube (īmān) Der Islam Nimmt der Glaube ab und wieder zu? Über die Richtigkeit der Ausnahme im Glauben Die Frage des Glaubens beim Nachahmer (muqallid) Die Definition des Ungläubigen Das Urteil über die Auferstehenden Die Beurteilung des Gläubigen, des Ungläubigen und des Verderbten (fāsiq)
Viertes Kapitel: Das Imāmāt –– –– –– –– –– ––
Die Einsetzung (naṣb) des Imām Notwendige Bedingungen für den Imām Wodurch das Imāmāt bestätigt wird Gab es eine Designation (naṣṣ) des Propheten für einen bestimmten Imām? Der Imām nach dem Propheten Die Vorzüglichkeit bei den rechtgeleiteten Kalifen
Nach der Vorstellung des letzten theologischen Werkes von Taftāzānī wird begründet, welche Themenfelder aus diesem Gesamtbestand des kalām zu Taftāzānīs Zeiten für den weiteren Verlauf der Studie relevant sein werden.
3.3.3 Der Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām des Taftāzānī Gegen Ende seines Lebens verfasste Taftāzānī im Jahr 1387 noch eine dritte theologische Schrift.200 Dabei handelt es sich um die sehr kurz gefasste „Zusammenfassung201 von Logik und Theologie“ (Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām).202 Sarton bezeichnet den Tahḏīb als besonders wichtiges Werk, wobei er sich auf die große Zahl von Handschriften stützt,203 was aber nur auf den Teil zur Logik und nicht für den Teil zum kalām zutrifft. Entgegen der Vermutung von Madelung ist dieser
200 Ibn al-ʿImād, Šaḏarāt aḏ-ḏahab VI, 320; Storey, Al-Taftāzānī. In: EI1, 655; Ṭāšköprü-Zāda, Miftāḥ as-saʿāda I, 207. 201 Die wörtliche Bedeutung des arabischen Begriffs tahḏīb meint auch „Bereinigung“ oder „Verfeinerung“ bzw. „Revision“. Das Ziel des Werkes ist aber vor allem eine Zusammenfassung der Kernargumente. Im Folgenden wird auch argumentiert werden, dass man der Zusammenfassung abschnittsweise auch das Attribut einer gedanklichen Systematisierung geben kann. 202 Taftāzānī, Saʿd ad-Dīn, Matn Tahḏīb al-mantiq wa-l-kalām, Kairo o. J. 203 Sarton, Introduction to the History of Science II, 1462.
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
zwar nicht verloren204, doch hält sich die Überlieferung in Grenzen.205 Dieses Werk drückt besonders die enge Verbindung von Logik und kalām-Theologie aus und zeigt nochmals besonders deutlich, dass logische Kenntnisse für das Studium der spekulativen Theologie als notwendig erachtet wurden.206 Die vollkommen unterschiedliche Überlieferungslage für beide Teile zeigt aber, dass die Kombination von Logik und Theologie in einem Werk allerdings nicht besonders erfolgreich war.207 Immerhin findet seine dortige, gegenüber früheren Werken eher kurze Definition von kalām „als Wissenschaft von den religiösen Glaubensgrundsätzen aufgrund von sicheren Beweisen“ Eingang in Saʿīd Fawdas zeitgenössische Einführung in den kalām.208 In der Struktur folgt der Tahḏīb im kalām-Teil dem gleichen Grundaufbau wie die Mawāqif des Īǧī und Taftāzānīs Hauptwerk, Šarḥ al-Maqāṣid.209 Die Grundeinteilung wird allerdings anstelle von „Station“ oder „Hauptuntersuchungsgebiet“ etwas schlichter mit bāb, einem einfachen und klassischen arabischen Wort für „Kapitel“ bezeichnet.210 Unterhalb dieser Ebene gliedern Abschnitte (faṣl) sowohl den Übergang von einem Themenfeld zum nächsten als auch die genauen Details. Sarton vermutet, dass es sich insgesamt um eine Abkürzung der Maqāṣīd handelt,211 was insofern zutrifft, als sich auch im Detail Analogien finden lassen. Allerdings soll in der Analyse der einzelnen Themenfelder gezeigt werden, dass die zur Abkürzung führende Auswahl von Argumenten aus dem umfassenden Bestand der Diskussion im Šarḥ al-Maqāṣid durchaus überzeugen kann und zum Teil Neuanordnungen der Argumente zu finden sind. Wegen des daraus resultierenden Überblicks über die spätzeitliche Formulierung der hier verhandelten Themenfelder werden die entsprechenden Passagen aus dem Tahḏīb auch paraphrasierend übersetzt.
3.4 Auswahl der Themenfelder Eine Analyse des theologischen Gesamtwerkes von Taftāzānī würde den Rahmen einer einzigen Monographie sicherlich übersteigen. So erscheint es sinnvoll, eine
204 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 217. 205 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 329, bes. Fußnote 19. Hier wurde eine Studienausgabe der Azhar verwendet (s. Fußnote 178). 206 Madelung, at-Taftāzānī und die Philosophie, 216. 207 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 329. 208 Fawda, Saʿīd ʿAbd al-Latīf, Buḥūṯ fī ʿilm al-kalām, Amman 2004, 12; Taftāzānī, Tahḏīb, 15. 209 Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 470. 210 Taftāzānī, Tahḏīb, 128. 211 Sarton, Introduction to the History of Science II, 1462.
Auswahl der Themenfelder
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Auswahl zu treffen, weshalb sich das Folgende auf drei theologische Themengebiete beschränken soll: Auferstehungslehre, Handlungstheorie und Schöpfungslehre. Die Auswahl der Themengebiete orientiert sich dabei zunächst an demjenigen Teilgebiet des kalām, das bis heute an al-Azhar anhand des Hauptwerks von Taftāzānī gelehrt wird. Dieses Gebiet stellt die Auferstehungslehre bzw. Jenseitslehre da, die neben wenigen eschatologischen Elementen vor allem abstrakte Diskussionen um die Möglichkeit einer zweiten Existenz beinhaltet und zudem Elemente der Jenseitslandschaft (die Waage der Taten, die Brücke über die Hölle und das Bassin am Eingang ins Paradies) beschreibt. Hinzu treten Einflussfaktoren für menschliche Jenseitsschicksale wie Reue und Fürsprache. Mit der Auferstehungslehre rückt zugleich ein Themenfeld in den Mittelpunkt des Interesses, an dem sich die theologisch-philosophische Kontroverse, die Ġazālī angestoßen hatte (s. o.), besonders gut aufzeigen lässt. Das post-avicennische Paradigma des kalām wird bei dieser Thematik zudem klar ersichtlich, da sich Taftāzānī hier sehr konkret mit der Lehre Ibn Sīnās von einer rein geistigen Auferstehung auseinandersetzt. Die Handlungstheorie wird als zweites Themenfeld gewählt, da sie für die gesamte Geschichte des kalām besonders relevant gewesen ist. Nicht nur die Abgrenzung der Ašʿarīya gegenüber der Muʿtazila erfolgte zu einem nicht unerheblichen Teil über handlungstheoretische Fragen, sondern auch die Position der Māturīdīya bringt hier eigene Aspekte ins Spiel, so dass hier alle drei Hauptdenkschulen des kalām zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Die spätzeitliche Darstellung bei Taftāzānī und in den übrigen Referenzwerken kann daher besonders auf dem Gebiet der Handlungstheorie an die historisch früheren Abschnitte der theologischen Diskussion angebunden werden. Hinzu kommt, dass hier der bisherige Forschungsstand am besten einbezogen werden kann (s. 1.4). Als drittes Themenfeld bietet sich die Schöpfungslehre an, da so eine zweite Hauptstreitfrage der von Ġazālī zugespitzten theologisch–philosophischen Kontroverse berührt wird. Die zentrale Frage wird sein, ob die Welt urewig ist, wie es die islamische Philosophie in Fortsetzung der aristotelischen Tradition annahm, oder ob die Welt in einem göttlichen Schöpfungsakt aus dem Nichts entstanden ist. Im Rahmen dieser Lehre wird zudem deutlich, dass Taftāzānī auch Elemente der kosmologischen Lehren aus der vorsokratischen Philosophie kannte. Mit dieser Abfolge der Kapitel wird der chronologische Ablauf in der Heilsgeschichte, der bei der Schöpfung seinen Ausgang nimmt und über die diesseitige Welt mit den in ihr agierenden Menschen hin zur Eschatologie und zum Jenseits voranschreitet, umgekehrt. Auch die inhaltliche Anordnung in den kalām- Werken erfolgt in der gegenteiligen Reihenfolge. Doch da die einzelnen Gebiete
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Die theologischen Werke und ihre Referenzpunkte
in den kalām-Werken selbst selten verknüpft werden, ist die Chronologie bei der Darstellung der einzelnen Themenfelder nicht zwingend. Demgegenüber erlaubt es gerade die antichronologische Darstellungsweise, nach der Darstellung von Taftāzānīs Lehre jeweils noch eigene inhaltliche Kohärenzfragen zu stellen, was auch die Übergänge zwischen den Kapiteln erleichtert. So resultiert aus der Auferstehungslehre eine Rückfrage an die Handlungstheorie: Wie kommen diejenigen Handlungen, die für das individuelle Jenseitsschicksal ausschlaggebend sind, im Lebensvollzug des verantwortlichen diesseitigen Menschen zustande? Hier wird sich zeigen, wie sehr die eigentliche Ursache der Handlungen dennoch bei Gott angesiedelt wird. Von dieser Feststellung göttlicher Ursächlichkeit in der Handlungstheorie wird sich wiederum eine Brücke zur Schöpfungslehre anbieten, insofern hier zwei Formen göttlichen Weltbezuges verbunden werden: Wie verhält sich die Rolle Gottes als Schöpfer der ganzen Welt zu seiner Rolle als Schöpfer der menschlichen Handlungen? Mit diesen beiden Fragen sollen die Brücken zwischen den zu untersuchenden Themen geschlagen werden. Daher wird die Auferstehungslehre zu Beginn der konkreten Beschäftigung mit Taftāzānīs Werk stehen. Allerdings wird es dazu nötig sein, zuvor allgemeinere Aspekte der islamischen Eschatologie und der Jenseitsvorstellungen kurz zu präsentieren.
4 Auferstehungslehre Mit der Auferstehungslehre rückt nach dem theologiegeschichtlichen Überblick das erste theologische Themenfeld in den Blick. Vor der Analyse von Taftāzānīs Schriften im Hinblick auf diese Thematik erfolgt eine Einführung in die Bedeutung „Eschatologie und Jenseitsvorstellungen“ im Islam (4.1), denn vor diesem Hintergrund kann seine kalām-spezifische Darstellung besser eingeordnet werden (4.2). Die Lehre wird in einem dritten Abschnitt nochmals thematisch zusammengefasst (4.3).
4.1 Islamische Eschatologie und Jenseitsvorstellungen Auferstehung meint in der islamischen Theologie die Wiedererweckung des Menschen zu neuem Leben nach dem Tod. Damit deckt sie sich mit der christlichen Vorstellung einer Auferstehung der Toten, wie sie sich auch im NicaenoKonstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis findet, oder der Auferstehung des Fleisches, wie Thomas von Aquin die entsprechende Thematik in seiner Summa Theologica betitelt.1 Die Auferstehung in der islamischen Theologie ist somit ein Bestandteil der menschlichen Existenz, der über den körperlichen Tod des diesseitigen Menschen hinausweist. Dabei wird die Auferstehung im Koran ähnlich der christlichen Vorstellung an das Jüngste Gericht, auch „Tag des Gerichts“ genannt, gekoppelt, wobei Gott selbst die Richterfunktion ausübt.2
4.1.1 Die koranische Beschreibung des Jüngsten Tages Die Lehre von einer zweiten Existenz des Menschen nach seinem Tod und die Ankündigung des Gerichts, das über das Schicksal des Menschen im Jenseits auf Grundlage seiner Handlungen im Diesseits urteilt, sind schon von Beginn an Bestandteil des islamischen Glaubens gewesen. Neben der Lehre vom strikten Monotheismus (tawḥīd) ist die Ankündigung von Auferstehung und Gericht eine der beiden zentralen Botschaften, mit denen sich Mohammad an die Bewohner von Mekka wendet, als er beginnt, seine prophetische Rolle auszuüben.3
1 Christmann, Heinrich M. (Hg.), Die deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 35., Köln 1958. 2 Koran, 2,210. 3 Smith, Jane, Eschatology. In: EQ (II), 44–54, 44.
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ediglich in den allerersten sieben kurzen Suren ist noch keine Rede vom Gericht L zu Beginn einer zweiten Existenz.4 Während es für den unbedingten Monotheismus mit tawḥīd einen arabischen Begriff gibt, der eine Kontinuität bis heute aufweist, wandelt sich die Terminologie hinsichtlich der Auferstehung. Der Koran weist auf das Geschehen vor allem mit dem Ausdruck „Tag der Auferstehung“ (yawm al-qiyāma) hin.5 Der von Taftāzānī und anderen späteren Theologen verwendete Begriff maʿād kommt im Koran zwar an einer Stelle vor,6 ist aber erst sekundär zum Fachbegriff für Eschatologie und Jenseitsschicksal in theologischen Werken geworden. Die möglichen Gründe dafür werden noch zu behandeln sein. Im Zusammenhang mit der koranischen Entfaltung des Themas ist es zunächst einmal wichtig hervorzuheben, dass Monotheismus und Auferstehung direkt verschränkt werden, wenn diejenigen, die Gott als den Einen bekennen, als künftige Paradiesbewohner angesprochen werden. Trotz der zentralen Bedeutung des Glaubensaktes spielen zudem die menschlichen Handlungen, vor allem Gebet (ṣalāt) und die Abgabe an die Armen (zakāt) als elementare Bestandteile des Lebens eines Gläubigen, eine Rolle für sein Jenseitsschicksal.7 Die zakāt verweist dabei auch auf die Bedeutung des Umgangs mit anderen Menschen. Diesseits und Jenseits waren somit in der islamischen Glaubenslehre von Beginn an durch ethische Verantwortung verschränkt: There is, in other words, a direct and clear relationship between recognizing God’s oneness and unity, which is the full meaning of the term tawḥīd, and living a life of complete moral responsibility.8
Obwohl nicht ganz sicher ist, ob eine Jenseitsvorstellung für alle Bewohner der arabischen Halbinsel völlig neu war, wie man lange angenommen hat, lehnten
4 El-Ṣaleḥ, Ṣoubḥī, La vie future selon le Coran, Paris 1986, 9. 5 Borrmans, Maurice, Resurrection. In: EQ (4), 434–435, 434. Neben yawm al-qiyāma, was 70-mal im Koran vorkommt, finden sich darüber hinaus für das Jüngste Gericht auch die Begriffe yawm ad-dīn – Tag der Religion (13-mal) und yawm al-ḥisāb – Tag der Abrechnung (4-mal). Für die Auferstehung gibt es zudem die Begriffe baʿṯ – Erweckung, an-nušūr – als Synonym für Auferstehung und al-ḥašr, das eher auf die anschließende Versammlung der Wiedererweckten zum Gericht verweist. 6 Nur einmal findet sich das Substantiv al-maʿād, nämlich in Sure 28, Vers 85, auch wenn das zugehörige Verb aʿāda – zurückkehren lassen – mehrfach in diesem Zusammenhang Verwendung findet (s. u.). van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 558. 7 Vers 14,31: „Sprich zu meinen Knechten, welche glauben, sie mögen das Gebet verrichten und von dem spenden, womit wir sie bedachten, heimlich oder offen, bevor ein Tag, an dem es weder Handel noch freundschaftlichen Wandel gibt.“ Bobzin, 222. 8 Haddad, Yvonne & Smith, Jane, The Islamic Understanding of Death and Resurrection, Oxford 2002, 13.
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viele Mekkaner, welche die vorislamischen Riten in Zusammenhang mit der kaʿba praktizierten, jede Vorstellung einer neuerlichen Existenz nach dem Tod ab, wovon auch der Koran Zeugnis gibt. So zum Beispiel in Sure 17,98: „[…] ,Werden wir denn, wenn wir schon Gebeine und sterbliche Reste waren, zu einer neuen Schöpfung auferweckt?‘“9 Die Auferstehungsthematik ist somit zugleich Kernbestandteil und besonderer Streitfall zu Zeiten der prophetischen Verkündigung Mohammads gewesen. Auch in der späteren theologischen Debatte gehört die Auferstehung zu den drei großen Kontroversen zwischen Theologen und islamischen Philosophen. Die Ablehnung der körperlichen Auferstehung durch die Philosophen hatte Ġazālī, wie schon erwähnt (s. 3.1.4), Anlass gegeben, islamischen Philosophen Unglauben in bestimmten Punkten vorzuwerfen.10 Die Auferstehungslehre hat folglich in verschiedenen Stadien der islamischen Geschichte die Rolle einer Wasserscheide zwischen Glauben und Unglauben gespielt. Doch vor den Ausführungen zu den späteren Diskussionen lohnt sich noch ein kurzer Überblick über die genaueren Beschreibungen, die der Koran selbst zum Jenseits liefert. Denn neben der Ankündigung des Gerichts und der menschlichen Auferstehung ergibt sich aus dem Koran auch ein skizzenhaftes Bild dessen, was sich zunächst nach dem Tod eines Menschen und später beim allgemeinen Beginn des endzeitlichen Gerichts abspielt: Beim Tod des einzelnen Menschen verlässt seine Seele den Körper durch seine Kehle (56,83), möglicherweise wird sie dann sogleich von Todesengeln in Empfang genommen (6,93). Während es später zum Dogma wurde, dass der Körper im Grab zum Teil neues Leben erhält und Lohn oder Strafe empfängt, sind koranische Aussagen hierzu nicht zu finden.11 Hinweise legen aber nahe, dass Märtyrer schon Eingang ins Paradies erhalten (2,154) und besonders böse Menschen, wie die Widersacher Noahs (71,25) direkt in die Hölle kommen. Solche Verse dienen auch als Argument in der theologischen Debatte, wenn es darum geht zu beweisen, dass Paradies und Hölle bereits existieren und nicht erst nach dem Jüngsten Gericht geschaffen werden (s. u.). Wesentlich fassbarer – wenn auch noch etwas lückenhaft – ist die Beschreibung des Ablaufs am Tag des Jüngsten Gerichts. Dieser lässt sich aus einzelnen Koranversen rekonstruieren: Das Hereinbrechen der Endzeit und der Beginn der Auferstehung werden durch Zeichen angekündigt. Dazu zählt im Koran das Aufkommen von Rauch (44,10–16), das Hervorkommen eines Ungeheuers aus der Erde (27,82) und das Losbrechen der endzeitlichen Völker von Gog und Magog
9 Bobzin, 250. 10 Griffel, Apostasie und Toleranz, 277. 11 Smith, Eschatology, 45.
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(21,96).12 Diese Zeichen, deren Zahl in der dezidiert apokalyptischen Literatur noch ausgeweitet wurde, verkünden das Hereinbrechen „der Stunde“ (as-sāʿa), die das Ende der diesseitigen Welt markiert und die Ereignisse des Gerichts einleitet. In der frühen Phase muslimischer Auseinandersetzung mit eschatologischen Themen kam dieser Nähe des Jüngsten Gerichts eine hohe Bedeutung zu.13 Nach den expliziten koranischen Stellen lässt sich ungefähr folgender Hergang annehmen: Es erschallen sodann zwei Trompetenstöße (74,8), ein erster zur Zerstörung alles Irdischen und ein zweiter als Ruf zur Auferstehung, woraufhin die Auferstehung der Körper und Seelen erfolgt (40,11 u. a.). Die Auferstandenen bilden nun eine Versammlung von Engeln, Menschen und Tieren (6,38, u. a.), so dass alle Geschöpfe vor Gott stehen (78,38) und dem göttlichen Gericht vorgeführt werden (11,18 u.a.). Es erfolgt die Ausgabe der Bücher mit den darin verzeichneten Taten der Menschen (69,19f.). Derjenige, der das Buch in die linke Hand gegeben bekommt, tritt den Weg ins Höllenfeuer an. Wer es in die rechte Hand erhält, dem winkt das Paradies. Parallel hierzu existiert im Koran eine andere bildliche Beschreibung der Urteilsverkündung, nach der die Taten oder die Bücher auf eine Waage gelegt werden und auf das Senfkorn genau (21,47) gewogen werden. Neigt sich die Waagschale mit den Taten nach oben, bedeutet dies das Höllenfeuer, senkt sie sich nach unten, verheißt dies den Einzug ins Paradies. Auch zur vorangehenden Urteilsfindung existieren zwei verschiedene Visionen. Einmal sagen die Geschöpfe oder Teile ihrer Körper gegen sich selbst aus (36,64f.), an anderen Stellen fragt Gott die Gesandten bzw. Propheten nach der Aufnahme ihrer Botschaft bei den Völkern (7,6). Die Gesandten wiederum können bei Gott für die Sünder Fürsprache einlegen, wobei Mohammad eine besondere Rolle zukommt. Den Vollzug stellt der anschließende Gang über die Brücke (ṣirāṭ), die über die Hölle führt, dar. Die Sünder stürzen ab (37,22f.) und die Gläubigen werden gerettet, manchmal auch von Engeln hinübergetragen. Gott empfängt die Paradiesbewohner (10,2) und weist ihnen Plätze nahe an seinem Thron zu (54,55). Die letzten beiden Verse enthalten eine Anspielung auf eine Schau Gottes (ruʾyā) im Jenseits, die in den theologischen Werken später ein eigenes Kapitel und damit einen Platz außerhalb des Auferstehungskapitels erhalten hat.14 Auch Höllenqualen und Paradiesfreuden werden vor allem in den spätmekkanischen Suren farbig ausgemalt und äußerst anschaulich beschrieben,15
12 Borrmans, Resurrection, 434. 13 Bashear, Suliman, Muslim Apocalypses and the hour. A case-study in Traditional Reinterpretation. In: Israel Oriental Studies, XIII (1993), 75–99, 75. 14 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 181–188. 15 El-Ṣaleḥ, vie future, 9.
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wogegen sich in der medinensischen Phase eher kurze Anspielungen oder abstrakte Beschreibungen finden. So weichen die sinnlichen Paradiesfreuden zune hmend einer Thematisierung von Zufriedenheit (riḍwān), der sich der gehorsame Mensch und der dadurch respektierte Gott gleichermaßen erfreuen. El-Ṣaleḥ sieht hierin einen klar spirituellen Aspekt, der gereift sei, als Mohammad in Medina lebte, und der als koranischer Endpunkt der Paradiesbeschreibung gelten könne.16 In der koranischen Beschreibung gehen dabei zwei Elemente ineinander über, die sich in einer systematischen Eschatologie unterscheiden lassen: Ein kosmisches, allgemeines Element des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits – dazu gehört auch die koranische Apokalyptik mit den Zeichen der Stunde – und ein individuelles Element, welches das Jenseitsschicksal des Gläubigen betrifft.17 Das Jüngste Gericht als Scheide zwischen Diesseits-Taten und Jenseits-Schicksalen stellt zugleich ein allgemeines Phänomen der Endzeit dar und zeitigt ganz unterschiedliche Ergebnisse für das individuelle Subjekt der Auferstehung. Gegenüber Darstellungen der endzeitlichen Apokalypse sind Werke des kalām eher an den individuell relevanten Ereignissen interessiert. So fällt in den meisten spätzeitlichen kalām-Werken die für die Apokalypse recht zentrale Nachzeichnung eines kosmischen Kalenders der Abläufe18 kaum ins Gewicht und auch das Jüngste Gericht kommt nur in jeweils kurzen Unterkapiteln vor. Vielmehr spielen die Möglichkeit der körperlichen Auferstehung, die Zurechenbarkeit der Taten zu den Menschen, die ewige Verweildauer in der Hölle und die Einflussmöglichkeiten individueller Reue oder prophetischer Fürsprache eine große Rolle, was allesamt Thematiken der individuellen Eschatologie sind. Einer anderen Ausrichtung folgt Ġazālīs Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, in welchem sehr viel stärker die Abläufe vor und während des Jüngsten Gerichts thematisiert werden, womit die eher apokalyptische Themengestaltung aus dem Koran aufgegriffen wird.
4.1.2 Seitenblick auf eschatologische Literatur außerhalb des kalām In Ergänzung zu der skizzenhaften Beschreibung des Jenseits im Koran ist allerdings allein schon das Hadith ausführlicher und ergibt ein weitaus detailreicheres und plastischeres Bild dessen, was nach dem individuellen Tod und
16 El-Ṣaleḥ, vie future, 11f. 17 Hermansen, Marcia, Eschatology. In: Winter, Tim (Hg.), The Cambridge Companion to Classical Islamic Theology. Cambridge 2010, 308–324, 309. 18 Taylor, John, Some Aspects of Islamic Eschatology. In: Religious Studies, Nr. 1 (1968), 57–76, 67.
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nach dem Tag der Auferstehung geschehen wird. Eine gute Darstellung wie das prophetische Hadith in Anknüpfung an einzelne koranische Verse oder Versstücke zu solchen Jenseitsdetails führt, liefert beispielsweise die „Erinnerung an die Zustände der Toten und die Angelegenheiten des Jenseits“ (Taḏkira fī aḥwāl al-mawtā wa-umūr al-āḫira) des Šams ad-Dīn al-Qurṭubī (st. 1273).19 Hier werden Vers 81,6: „wenn die Meere in Flammen aufgehen,“ und 75,9: „wenn Mond und Sonne vereinigt worden sind.“ mit einem Hadith kombiniert, in dem es heißt, Sonne und Mond seien ein furchtbarer Staubwirbel im Höllenfeuer. Qurṭubī erblickt darin die Ankündigung, dass Mond und Sonne nach ihrer Vereinigung beim Untergang der Welt in das in den Meeren entzündete Feuer stürzen. Dies geschehe aber nicht zu ihrer Bestrafung, denn als feste Körper können sie keinen Schmerz erleiden, sondern als zusätzliche Qual für die, die sie angebetet haben.20 Ein anderes Beispiel für die Interpretation des Koran im Lichte des Hadith, die zu einer Ausmalung der Begebenheiten im Jenseits führt, ist die Geschichte von der Schlachtung des Todes (ḏabḥ al-mawt).21 In vielen Hadith-Sammlungen und auch in den Ṣaḥīḥān von Muslim und Buḫārī findet sich eine Episode nach welcher der personifizierte Tod auf die Brücke über der Hölle geführt wird und dort vor den Augen aller, die inzwischen ins Paradies eingegangen sind oder in die Hölle gewiesen wurden, geschlachtet wird. Daraufhin müssen die Hölleninsassen jede Hoffnung auf ein Ende ihrer Qualen durch den Tod aufgeben und die Paradiesbewohner müssen kein Ende ihrer Freuden mehr befürchten. Nach dem Hadith von Muslim habe der Prophet im Anschluss an diese Darstellung Vers (19,39) vorgetragen: „Warne sie vor dem Tag des Jammers, da die Sache schon entschieden ist, sie aber sorglos sind und weiterhin nicht glauben!“22 In der Auferstehungslehre bei Taftāzānī werden diese Details, die das Bild der koranischen Jenseitsvorstellungen hier ergänzen sollten, nicht erwähnt. Der Fokus liegt vielmehr darauf, den Vorgang einer körperlichen und geistigen Auferstehung an sich überhaupt als denkmöglich zu erweisen, auch wenn sich speziell bei Taftāzānī ab und an Einschübe aus dem Hadith-Material finden, auf die andere mutakallimūn verzichtet haben. Doch aus den zahlreichen Überlieferungen über die konkrete Ausgestaltung des Jenseits verbleibt auch bei ihm im Großen und Ganzen nur, was sich auch bei Ašʿarī bereits findet, der daher auch
19 Qurṭubī, Šams ad-Dīn, at-Taḏkira fī aḥwāl al-mawtā wa-umūr al-āḫira. Ḫālid b. Muḥammad (Ed.), Kairo 2001. 20 Qurṭubī, Taḏkira, 364. 21 Qurṭubī, Taḏkira, 409f., van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 551. 22 Bobzin, 264.
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als Ausgangspunkt der eschatologischen Darstellungen in den kalām-Werken dienen soll.
4.1.3 Die Auferstehungslehre in der Literatur des kalām Im Kitāb al-Lumaʿ von Ašʿarī gibt es kein eigenes Kapitel zur Auferstehung. Die grundsätzliche Möglichkeit der Auferstehung als Bestandteil der göttlichen Schöpfertätigkeit wird als ein Unterpunkt im Abschnitt zu den Eigenschaften Gottes angeführt und bekräftigt.23 Die übrigen eschatologischen und jenseitsrelevanten Themen werden im Rahmen seiner Ausführungen zu gerechtem Handeln und Irrleitung, zum Glauben und zu sowie zu Verheißungen und Drohungen angesprochen.24 Nach einem umfassenden Unterkapitel, wie wir es später bei Rāzī, Bayḍāwī, Īǧī und Taftāzānī antreffen können, sucht man aber auch in der Darstellung der ašʿaritischen Lehre durch Ibn Fūrak vergeblich. Geht man von den späteren Autoren aus und wirft den Blick zurück, so finden sich in einzelnen Kapiteln aber einige der Themen, die in der Spätzeit im maʿād-Kapitel zusammengefasst werden. So gibt es ein Kapitel zur Reue (tawba) und ein weiteres zur Fürsprache (šafāʿa) des Propheten für die Gläubigen.25 Themen wie Gehorsam und Widersetzlichkeit, Lohn und Strafe, große und kleine Sünden, die in den späteren Werken ebenfalls im Auferstehungskapitel abgehandelt werden, finden sich in einer Reihe von Kapiteln, stehen aber eher im Zusammenhang mit der Definition von Gläubigen und Ungläubigen.26 Ein einziges Kapitel in den Maqālāt des Ibn Fūrak thematisiert speziell eschatologische Aspekte. Dabei handelt es sich um einen Grundbestand an Ereignissen nach dem Tod und am Jüngsten Gericht. Dazu zählt die Grabesstrafe als Geschehen direkt im Anschluss an den individuellen Tod und das Passieren eines schmalen Weges (ṣirāṭ), das Wiegen der Taten (mīzān), die zugehörige Abrechnung (ḥisāb) und das Erreichen eines Wasserbeckens im Paradies (ḥawḍ). Das Kapitel beginnt mit der Feststellung, zu all diesen Dingen gebe es eine Nachricht in der Offenbarung und geht danach jedoch direkt zur Grabesstrafe über.27 Wie
23 Ašʿarī, Abū l-Ḥasan, K. al-Lumaʿ, R.J. McCarthy (Hg.), Beirut 1953. 8f. 24 Ašʿarī, K. al-Lumaʿ, 7of. 25 Ibn Fūrak, Abū Bakr, Muǧarrad al-maqālāt al-Ašʿarī. Gimaret, Daniel (Hg.), Beirut 1987, 166f. 26 Ibn Fūrak, Muǧarrad, 149. 27 Ibn Fūrak, Muǧarrad: „iʿlam annahū kāna yaqūlu inna ǧamīʿ ḏālika mimā ṭarīquhū al-ḫabr”, 170; Gimaret, La Doctrine, 501.
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zu sehen sein wird, behandelt auch Taftāzānī diese Elemente der Jenseitsvorstellung. Doch an die Stelle der knappen Feststellung tritt bei ihm eine philosophische Diskussion über die Möglichkeit der Wiederkehr aus dem Nichts sowie einer körperlichen Auferstehung, die sich in allen hier zu analysierenden Werken findet, im Hauptwerk aber mit insgesamt fünf Unterkapiteln besonders umfangreich ausfällt. Während Ibn Fūrak im Anschluss an seine Bemerkungen zu Eschatologie und Jenseits zu den Themen Wunder und Prophetie übergeht, finden sich diese in den späteren Werken vor der Auferstehungsthematik.28 Sie wird explizit einem Wissen zugerechnet, das auf der Offenbarung basiert: Typically in late kalām manuals, eschatological teachings are subsumed under the category of samʿiyyāt, „matters heard“, or „received in faith“, since unlike the other two great categories of theological concern, metaphysics and prophecy, they are considered to lie outside the reach of rational proof.29
So richtig die Zuordnung von allgemeiner Eschatologie zu samʿīyāt in den hier untersuchten Werken ist, so ist doch die Abgrenzung von Eschatologie und Prophetologie für die hier untersuchten Referenzwerke und Taftāzānīs Schriften nicht zutreffend. Der sechste Teil der Hauptuntersuchungsgebiete (maqāṣid) bei Taftāzānī umfasst gerade Prophetie, Eschatologie und Jenseitsvorstellungen sowie auch die Lehre von den göttlichen Namen und dem Imamat, also der theoretischen Diskussion über die Belange einer islamkonformen Staatsführung.30 In Unterscheidung zu Hermansens Einschätzung wird die folgende Betrachtung zudem zeigen, dass in der Auferstehungslehre neben der Grundierung durch die Offenbarung auch sehr umfassend auf Vernunftbeweise zurückgegriffen wird.
4.2 Die Auferstehung nach Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī Um zu den „Jenseitsrealitäten“ und vor allem zu den Fragen im Bezug auf Paradies und Hölle zu kommen, brauchen die spätzeitlichen theologischen Werke also einen relativ langen Anlauf. Die übergeordnete Struktur solcher kalām-Werke, die oft mit einem sehr langen erkenntnistheoretischen Teil beginnen,31 wird damit in den Unterkapiteln zu konkreten theologischen Fragen nochmals im Kleinen
28 Gimaret, La Doctrine, 383. 29 Hermansen, Eschatology, 309. 30 Taftāzānī, Šarḥ al-maqāṣid V, 232f. 31 van Ess, Erkenntnislehre, 38.
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gespiegelt. Dies kann aber auch unter umgekehrten Vorzeichen in den philosophischen Schriften beobachtet werden. So nimmt sich Ibn Sīnā in seiner „Schrift über die Rückkehr“ (Risāla al-aḍḥawīya fi l-maʿād, s. 3.1.3) viel Zeit für eine theologische Diskussion über den Monotheismus, den sprachlichen Charakter des Korans, sowie die Prophetie und ihre Möglichkeiten, um damit den Kern seiner Botschaft Nicht-Philosophen nahezubringen.32 Erst hieran anknüpfend trägt er seine Gedanken zum jenseitigen Schicksal einer vom Körper gelösten Seele vor, die als zentrale philosophische Aussage des Textes erscheinen. Das genannte Werk Avicennas liefert dabei neben einzelnen Argumenten, die als Ausgangspunkt für die theologische Diskussion dienen, auch die entscheidende Vorlage für die Benennung des eschatologischen Kapitels bei den späteren mutakallimūn mit dem Wort maʿād (Rückkehr). Wie gesehen, gibt es bei Ašʿarī kein Vorbild für eine größere thematische Einheit zu eschatologischen Fragen, die hätte benannt werden müssen. In den Uṣūl des Rāzī findet sich eine solche Einheit, doch wird sie mit aḥwāl al-qiyāma überschrieben, womit er das koranisch häufigere Wort für Auferstehung nämlich qiyāma verwendet (s. o.). Im Muḥaṣṣal benutzt Rāzī hingegen den Begriff maʿād (Rückkehr) für die Ausführungen zum jenseitigen Schicksal des Menschen. Obwohl Bayḍāwīs Darstellung, wie noch zu sehen sein wird, partiell auch mit dem Muḥaṣṣal parallel läuft, verwendet er als Überschrift die Formulierung al-Ḥašr wa-l-ǧazāʾ (Die Versammlung und die Strafe).33 Somit wird das thematische Feld der Auferstehung von Bayḍāwī noch nicht unter dem Begriff der Rückkehr gefasst, obwohl auch er sich mit den philosophischen Einwänden des Avicenna aus dessen „Buch über die Rückkehr“ auseinandersetzt. Vielmehr scheint er sich mit der Rede von einer Versammlung (ḥašr) eher Ġazālī anzuschließen, der seiner Auseinandersetzung mit der Leugnung der körperlichen Auferstehung im Tahāfut mit den Begriffen Ḥašr al-aǧsād (Versammlung der Körper) oder Baʿṯ al-aǧsād (Erweckung der Körper) nachgeht. Auch er bleibt damit noch enger am koranischen Wortgebrauch.34 An den Titel des Muḥaṣṣal knüpft hingegen Īǧī an, der das entsprechende Kapitel als eines der vier Unterkapitel zur Station (Mawqif) der Offenbarungswahrheiten mit maʿād betitelt. In einer ähnlichen Struktur findet sich dieses Kapitel dann auch im Šarḥ al-Maqāṣid und im Tahḏīb des Taftāzānī, während der Kommentar zu den ʿAqāʾid des Nasafī ebenfalls noch ohne den Begriff auskommt. Der Begriff maʿād findet sich aber in einer Hauptüberschrift der Uṣūl ad-Dīn von ʿAbd al-Qāhir alBaġdādī (st. 1037), allerdings ohne dass er ihn speziell definiert oder zu Beginn
32 Ibn Sīnā, ar-Risāla, 97f. 33 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 220. 34 Ġazālī, Tahāfut, 196f.
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der Ausführungen explizit aufgreift.35 Womöglich handelt es sich bei dem Titel um eine spätere Einfügung seitens der Editoren. Bei der Wahl des Titels scheint es sich – lässt man Baġdādī aus genanntem Grund außer Acht – auch um ein Stichwort Avicennas zu handeln, erscheint er doch in den theologischen Werken erst nach Avicenna. Auf diese inhaltlichen Gründe für die Benennung des Kapitels mit dem Begriff al-maʿād wird daher bei der Vorstellung dieses Kapitels des Hauptwerks zurückzukommen sein. Die Gesamtthematik in dem so entstandenen Kapitel zur Auferstehung und zum Jenseits (faṣl al-maʿād) in den späteren kalām-Werken umfasst dabei drei zusammenhängende Blöcke. Im ersten Block geht es um die Möglichkeit der Auferstehung und die Existenz von Paradies und Hölle, der zweite Teil schildert den Weg dorthin über die Grabesstrafe und die Ereignisse am Jüngsten Tag, der dritte Abschnitt umgreift alle Fragen bezüglich der Existenz im Jenseits wie ewige Verweildauer in der Hölle, Bedeutung der Reue oder Möglichkeit der Fürsprache durch Mohammad. Da der erste Teil Verschränkungen von philosophischen Argumentationen und innertheologischen Debatten bietet und der zweite Teil den Kern des Auferstehungsglaubens betrifft, werden sie hier eingehend vorgestellt. Insofern der dritte Teil eine rein innertheologische Debatte bleibt, die im Rahmen der Handlungstheorie erfolgen soll, wird hier darauf verzichtet, diesen Teil in den drei theologischen Werken von Taftāzānī zu analysieren. Taftāzānīs theologische Werke sind einleitend bereits genannt und im Kapitel zu den Referenzwerken auch schon näher charakterisiert worden. Am Beginn der direkten thematischen Analyse empfiehlt es sich nun, kurz zu beschreiben, wie die drei Werke im direkten Textvergleich am sinnvollsten in Beziehung gesetzt werden können. Taftāzānīs „Kommentar zu den Glaubensartikeln des Nasafī“ (Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya) dient dabei als Einstieg in die Thematik, obwohl er eher am zeitlichen Ablauf orientiert ist und daher die Grabesstrafe am Anfang behandelt. Sein „Kommentar der Hauptuntersuchungsgebiete“ (Šarḥ alMaqāṣid) als Hauptwerk gibt neben dem argumentativen Hauptgleis auch immer die übrigen Einwände und zugehörigen Erwiderungen wieder und eröffnet somit gleichsam den Blick auf die Nebengleise der Diskussion. Dabei wird Šarḥ alMaqāṣid mit den eingeführten theologischen Referenzwerken verglichen, so dass die Breite der Diskussion sowie die veränderte Gewichtung der Argumente bei den einzelnen Autoren zu Tage treten können. In der knappen „Zusammenfassung von Logik und Theologie“ (Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām) steht hingegen eine
35 al-Baġdādī, ʿAbd al-Qāhir, Uṣūl ad-dīn: „al-aṣl al-ḥādī ʿašar min uṣūl hāḏā l-kitāb fī maʿrifat aḥkām al-ʿibād fi-l-maʿād” Istanbul 1928, 228.
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knappe und konzise Argumentation im Vordergrund, die Vorkenntnisse der Diskussion voraussetzt und die zentralen Argumente stärker ineinander verzahnt. Man kann summarisch sagen, die ʿAqāʾid des Nasafī sind Glaubensartikel in der spätzeitlichen Form, präzise und in flüssiger Sprache.36 Der Kommentar von Taftāzānī liefert die entscheidenden Belege aus Koran und Sunna und weist die wesentlichen Einwände ab, wie Taftāzānī selbst sagt.37 Šarḥ al-Maqāṣid referiert die gesamte theologische sowie philosophische Diskussion und der Tahḏīb destilliert deren historische Vielschichtigkeit und diskursive Breite zu einer „ʿAqīda der Argumente“. Diese Bemerkungen klingen zwar wie ein Fazit, sollen hier aber zunächst helfen, die Art der Darstellung zu verstehen. Sie liefern zugleich die Begründung für wiederkehrende Elemente in den Kapitelüberschriften wie „Forum der Diskussion“ beim Šarḥ al-Maqāṣid und „ʿAqīda der Argumente“ beim Tahḏīb.38
4.2.1 Eine Einführung anhand des Šarḥ al-ʿAqāʾid an-Nasafīya Dem Konzept der ʿAqāʾid folgend, beginnt auch der Šarḥ Taftāzānīs direkt mit der Bestrafung der Ungläubigen und einiger sündhafter Gläubiger im Grab,39 setzt also nicht mit dem Jüngsten Tag selbst ein, sondern mit dem individuellen Tod, bevor die Details des Jenseits (al-āḫira) zum Thema werden. Nach den Ausführungen zur Grabesstrafe (s. 4.2.2.7) schließt sich der Abschnitt zur Auferweckung der Toten an (al-baʿṯa). Diese besteht darin, dass Gott die Toten aus dem Grab erweckt, ihre grundlegenden Bestandteile (aǧzāʾ aṣlīya) versammelt und die Geister (arwāḥ) in sie zurückkehren lässt. Zur Untermauerung führt Taftāzānī zwei allgemeine Koranverse an. Zuerst Vers 23,16: […] „und werdet dann, am Tag der Auferstehung, wieder auferweckt,“40 und darauf Vers 36,79: „Der macht sie lebendig, der sie ein erstes Mal erschuf […].“41 Auch hier reißt Taftāzānī die abstrakte theologische Debatte kurz an, vermeidet aber die Verästelungen der Diskussion, wie es sich mit geistiger und körperlicher Auferstehung verhält. Er erwähnt aber, dass die Philosophen die Erweckung im nmöglichkeit Sinne einer Versammlung der Körper verneinen, da sie von der U
36 Wensinck, Creed, 249. 37 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „wa-huwa [der kurze Kommentar] maqṣūrun ʿalā l-masāʾili dūna l-dalāʾil”, 25. 38 Etwas anders verhält es sich im Kapitel 6 zur Schöpfungslehre (s. u.). 39 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 104. 40 Bobzin, 297. 41 Bobzin, 389.
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der „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“ (iʿādat almaʿdūm)42 in seiner konkreten, individuellen Bestimmtheit (bi-ʿaynihī) überzeugt sind. Sie lehnen damit den körperlichen Aspekt der Auferstehung ab. Das zentrale Gegenargument Taftāzānīs wie auch aller anderen späteren mutakallimūn besteht darin zu sagen, dass Gott nicht den ganzen Körper mit allen Teilen, sondern nur die wesentlichen materiellen Bestandteile (aǧzāʾ aṣlīya) des ursprünglichen Menschen wieder zusammenfügt (yaǧmaʿu) und seinen Geist in ihn zurückkehren lässt.43 Der Begriff des Zusammenfügens weist darauf hin, was im Šarḥ al-Maqāṣid dann die entscheidende Alternative zur „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“ wird, nämlich die Vorstellung, der Tod sei eine vorübergehende Zerteilung (tafarruq) der Körper und nicht ihre Entwerdung ins Nichts.44 Bei der Besprechung von Šarḥ al-Maqāṣid werden auch weitere Aspekte der Debatte um die körperlichen und geistigen Aspekte der Auferstehung eine Rolle spielen. Auch einen anderen Einwand referiert Taftāzānī hier kurz. Er lautet, diese Lehre impliziere die Vorstellung von einer Seelenwanderung, da der zweite Körper nicht der erste sein könne, weil es im Hadith heiße, die Paradiesbewohner seien kahl, bartlos und mit Antimon (kuḥl) geschmückt. Taftāzānī weist darauf hin, dass es sich ja um einen Körper handle, der aus den eben benannten wesentlichen materiellen Bestandteilen (aǧzāʾ aṣlīya) des ersten Körpers gewonnen werde, und es mithin kein anderer Körper sei, in den die Seele übergehe. Wenn man auch diesen Vorgang schon als „Seelenwanderung“ bezeichnen wolle, ergebe sich nur ein Benennungsstreit.45 Anschließend geht der Text der ʿAqāʿid zu den „Jenseitsrealitäten“ über, was hier summarisch alle Objekte bezeichnen soll, von deren Existenz die islamischen Jenseitskonzeptionen neben Paradies und Hölle ebenfalls berichten.46 Zunächst ist hier die Waage (mīzān) zu nennen, auf der die Taten der Menschen gewogen werden sollen. Taftāzānī weist den muʿtazilitischen Einwand ab, die Taten als Akzidenzien seien gar nicht wiegbar, indem er sagt, es seien Bücher, in denen die Taten verzeichnet seien. Den weiteren Einwand, Gott kenne doch alle Taten und brauche sie nicht zu wiegen, weshalb es ein sinnloses Spiel sei, von dieser Waage zu reden, wehrt Taftāzānī mit Verweis auf ein Hadith ab. Zudem
42 Dieser Begriff wird im Zusammenhang mit dem Šarḥ al-Maqāṣid noch ausführlicher zu besprechen sein. 43 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 108. 44 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 82, 110f. 45 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 109. 46 Elder überschreibt diesen Abschnitt seiner Übersetzung in seinem elften Kapitel mit: „Some eschatological realities“. Elder, Commentary, 99.
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argumentiert er weiter, Gott sei zwar von allen Wünschen frei, doch könne im Wiegen der Taten ein höherer Sinn liegen, der dem Menschen verborgen sei.47 In ganz analoger Weise widerlegt er auch einen ähnlichen Einwand bezüglich der Existenz der genannten Bücher bzw. des Buches (kitāb) für die Taten eines jeden Menschen. Sodann geht Taftāzānī zur Frage (suʾāl) Gottes an die Gläubigen bezüglich ihrer Sünden über, deren Aufzählung den Menschen verängstige, was aber durch Gottes Verzeihung gelöst werde. Ganz anders ergehe es den Ungläubigen und Heuchlern.48 Nach den Darstellungen der Vorgänge beim Jüngsten Gericht folgen Beschreibungen der von Ašʿarī etablierten rudimentären islamischen Jenseitstopographien. Dabei spielt zunächst Vers 1 in Sure 108 eine Rolle: „Siehe wir verliehen dir die Fülle“.49 Das Wort kawṯar, das bei Bobzin mit „Fülle“ übersetzt wurde, wie es auch andere Übersetzer vor ihm getan haben,50 wird von vielen Exegeten wie auch von Zamaḫšarī unter Berufung auf ein Hadith auf einen Paradiesfluss mit diesem Namen bezogen.51 Taftāzānī kombiniert dies mit einem weiteren Hadith,52 das von einem Becken (ḥawḍ) spricht, dessen Ausmaß länger als der Reiseweg eines Monats ist, dessen Duft angenehmer als Moschus ist und den Durst auf ewig stillt, und bestätigt so die traditionelle Identifikation von kawṯar und ḥawḍ.53 Von den Vorbehalten Māturīdīs bezüglich dieser Interpretation, der die Fülle mit der Mission des Propheten erklärt und dies wohl der Identifikation mit dem Paradiesfluss vorgezogen hat,54 findet sich hier keine Spur. Sodann geht er zu der Brücke (ṣirāṭ) über, die über die Hölle gespannt ist und ins Paradies führt, und welche scharf wie ein Schwert und dünn wie ein Haar ist. Auch hieran hatten die Muʿtaziliten Zweifel angemeldet, da doch der Gläubige auf dem Weg in den Paradiesgarten sicher Leid erfahre, wenn er darauf gehen müsse, was eine Ungerechtigkeit sei. Doch Taftāzānīs Antwort lautet, Gott finde einen Weg, die Besten wie einen Blitz hinüber fliegen, andere in Windeseile
47 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 110. 48 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 110f. 49 Bobzin, 589. 50 Gilliot, Claude, L’embarras d’un exégète musulman face à un Palimpseste. In: Arnzen, Rüdiger & Thielmann, Jörn (Hg.), Words, Texts and Concepts Cruising the Mediterranean Sea, Leuven & Paris 2004, 3369, 36. 51 Zamaḫšarī, Kaššāf IV, 816; Gilliot, L’embarras, 40. 52 Das Hadith findet sich im Ṣaḥīḥ Muslim Kitāb al-faḍāʾil (Nr. 2292). 53 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 111. 54 Gilliot, L’embarras, 52f.
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darüber huschen und weitere Gläubige Rennpferden gleich (ka-l-ǧawād) auf die andere Seite gelangen zu lassen.55 Waage, Bücher, Becken und Brücke, die in den ʿAqāʾid schlicht das Attribut Wahrheit (ḥaqq) erhalten, erfahren im Kommentar etwas mehr Erklärung durch die Nennung eines jeweils passenden Hadith. Der muʿtazilitische Zweifel daran, ob es sich dabei wirklich um „Jenseitsrealitäten“ handle, oder ob Wasserbecken, Brücke oder Waage nicht eher metaphorisch zu deuten seien,56 wird kaum argumentativ, sondern recht pauschal mit Gottes Allmacht abgewiesen. An diesen Weg ins Jenseits schließt sich Frage nach der Existenz von Paradies und Hölle an. Für Nasafī wie für Taftāzānī sind beide Orte bereits geschaffen (maḫlūqatān) und existieren (mawǧūdatān), wobei Taftāzānī die Zuschreibung von Existenz nur als Bekräftigung ihrer Geschaffenheit sieht und nicht weiter kommentiert. Ein naturphilosophischer Einwand der Leugner besagt, dass das Paradies nicht bestehen könne, da es so breit wie die sieben Himmel und die Erde zusammen sei. Daher können sich die Jenseitsorte schlicht aus Raummangel nicht in dieser Welt befinden, was direkt einleuchtet und was Taftāzānī auch nicht weiter kommentiert. Doch der Einwand schließt auch die Existenz der beiden Orte in den Himmelssphären und einer Welt außerhalb der kosmischen Himmelssphären aus, da dies eine Durchbrechung (ḫarq) und eine erneute Verbindung (iltiʾām) erfordere,57 womit die Durchlässigkeit der Himmelssphären gemeint ist, die das philosophische kosmische System ausschloss.58 Hier kennzeichnet er die Grundannahmen des Einwandes als fehlerhaft,59 was aber schon an früherer Stelle im Kommentar dargelegt worden sei. Um zu verstehen, worauf er sich hier beruft, ist ein Blick auf den Teil des Kommentars nötig, den man naturphilosophisch nennen kann und an dem Nasafī in einem Glaubensartikel die Elemente der geschaffenen Welt skizziert hat: „Die Welt ist in allen ihren Teilen in der Zeit entstanden und besteht aus Wesenheiten (aʿyān) und Akzidenzien (aʿrāḍ). Die Wesenheiten bestehen aus sich heraus und sind entweder zusammengesetzt, also Körper, oder nicht zusammengesetzt, wie die Substanz (ǧawhar). Diese (Substanz) ist ein Teil, der nicht weiter zerteilt werden kann.“60 Die Existenz einer solchen nicht mehr weiter teilbaren Substanz (al-ǧawhar al-fard) führt zum Atomismus, den Taftāzānī hier als Widerlegung des philosophischen
55 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 112. 56 Die Waage wurde etwa als Symbol der Gerechtigkeit gedeutet. van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 559f. 57 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 112. 58 Nasr, Cosmological Doctrines, 236 (Fußnote 1). 59 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „hāḏā mabnīyun ʿalā aṣlikum al-fāsid.“, 112f. 60 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 24f.; Elder, Commentary, 32.
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ylemorphismus (ibṭāl al-hayūlā wa-ṣ-ṣūra) in Stellung bringt.61 Denn wenn die H Himmelssphären aus Atomen bestehen und keine fest verbundene Kombination aus Stoff und Form wie im Hylemorphismus sind, so sind die Himmelsphären auch durchquerbar. Auf diese – im Zusammenhang mit dem Jenseits relevante – Implikation weist Taftāzānī an dieser Stelle auch bereits voraus, indem er den Nutzen des Atomismus als Rettung vor vielen dunklen Aussagen der Philosophen (ẓulamāt al-falāsifa) beschreibt.62 Diese Passage zeigt somit auch, dass Taftāzānīs Kommentar durchaus als Gesamtwerk konzipiert ist und die einzelnen thematischen Abschnitte verklammert sind. Es folgt nach der Behandlung dieses kosmologischen Einwandes noch ein muʿtazilitscher Einwand, der argumentativ gänzlich anders gelagert ist und davon ausgeht, dass Gott Paradies und Hölle erst am Jüngsten Tag erschaffen werde. Hierauf antwortet er mit der Geschichte von Ādam und Ḥawwāʾ, die im Paradiesgarten gelebt hätten63 und einem Verweis auf die vielen Koranverse, die von beiden Orten wie von bereits Bestehendem sprechen (s. 4.2.2.6). Kurz geht er auch auf das Problem ein, dass Vers 28,88: […] „Alles vergeht nur sein Antlitz nicht!“ […]64 in Widerspruch zu Vers 13; 35: […] „Das Essen in ihm [dem Paradieses, T. W.] (akluhā) wird ewig dauernd sein (dāʾimun).“ […]65 geriete, wenn man zugleich annehme, dass Paradies und Hölle bereits geschaffen seien. Es liege aber, so Taftāzānī, kein Übel darin, die „ewige Dauer“ (dawām) hier nicht in seiner genauen Bestimmtheit zu verstehen, sie bedeute nur, dass es stets Ersatz gebe (šayʾun ǧāʾa bi-badalihī) und das Essen also nur für einen kurzen Augenblick des Vergehens unterbrochen werde.66 Obwohl die Erwiderung, dass sich ein Vergehen als so kurzzeitig herausstellen könnte, dass es den Paradiesbewohner wie eine Essenspause vorkäme, vielleicht im Rahmen der Einführung schon ausreichend sein könnte, fügt Taftāzānī auch hier eine sehr viel philosophischere Überlegung an, die später im Rahmen des Hauptwerks noch ausführlicher zu besprechen sein wird (s. 4.2.2.6). Demnach ist „[…] jede Sache (kull šay) nur möglich, so dass es seiner Definition gemäß auch
61 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 27. 62 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 28. 63 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 113. 64 Bobzin, 343. 65 Übersetzung Thomas Würtz. Bobzin und Asad verwenden für das arabische Wort akl (Essen, Mahl, auch Futter) hier etwas poetischer das Wort „Früchte“, Zirker den Singular „Frucht“, weshalb hier eine wörtliche Übersetzung nötig ist, um die detaillierte Argumentation, bei der auch der Vorgang des Essens mitschwingt, nachzuvollziehen. 66 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 113f.
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vergänglich ist und dies bedeutet, dass das möglich Seiende im Hinblick auf das notwendig Seiende wie das Nichts ist.“67 Abschließend brandmarkt er die Interpretation der Ǧahmīya als nichtig, gemäß derer das Vergehen ein endgültiges Vergehen von Hölle und Paradies meine, wonach nur noch Gottes Angesicht existiere.68 Zwar kennzeichnet Watt die Ǧahmīya als schwer greifbar69 und bringt mit dieser frühen theologischen Gruppe eher allgemein eine Überbetonung der Majestät Gottes in Verbindung,70 doch bestätigt van Ess, dass Ǧahm die Vergänglichkeit des Jenseits vertreten habe,71 die Taftāzānī ihm und seinen Nachfolgern hier vorwirft. Nach dieser ersten Skizze von eschatologischen Aspekten und dem Eingang ins Jenseits, die Taftāzānī als Kommentar zu den ʿAqāʾid entfaltet hat, folgt die Betrachtung seiner viel umfassenderen Diskussionen in seinem theologischen Hauptwerk.
4.2.2 Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid Das Auferstehungskapitel im Šarḥ al-Maqāṣid von Taftāzānī unterscheidet sich auf den ersten Blick allein schon durch seine Länge von 114 Seiten gegenüber den ungefähr 12 Seiten in den Mawāqif von Īǧī oder den Ṭawāliʿ des Bayḍāwī beziehungsweise den knapperen Ausführungen in den Uṣūl von Rāzī. Wie sich erweisen wird, enthält es auch viele Argumente, die für den Fortgang der eigenen Argumentation nicht unbedingt nötig wären. Somit gilt auch für Šarḥ al-Maqāṣid, was van Ess schon für das wesentlich knappere Werk des Īǧī postuliert, wenn er dessen Mawāqif mit einer theologischen Enzyklopädie vergleicht.72
4.2.2.1 Definition und Begrifflichkeit Schon in der Einleitung zum Thema lässt sich eine Idee davon gewinnen, was die größere Quantität für die inhaltliche Ausgestaltung bedeutet. Taftāzānī übernimmt zwar als Einstiegsthema die inzwischen obligatorisch erscheinende Diskussion darüber, ob etwas, das aufgehört hat zu existieren und damit ins Nichts
67 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „anna kulla mumkinin fa-huwa hālikun fī ḥaddi ḏātihī bi-maʿnā anna l-wuǧūda l-imkānīya bi-n-naẓari ilā l-wuǧūdi l-wāǧibī bi-manzilati l-ʿadam.“, 114. 68 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 114. 69 Watt, Djahmiyya. In: EI2 Brill Online, 2013. 70 Watt, Montgomery, Free Will and Predestination in Early Islam, London 1948, 104. 71 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 554. 72 van Ess, Erkenntnislehre, 12.
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entschwunden ist, erneut in die Existenz zurückkehren kann, doch stellt er dem zunächst eine Definition der Auferstehung und eine thematische Einführung voran, die in den genannten Vergleichswerken keine Parallele hat. Zentral ist hierbei das Wort, das er als Titel für das Kapitel benutzt: al-maʿād, „die Rückkehr“. Im Koran ist qiyāma der gängigste Ausdruck für die Auferstehung (s. o.) und in ihm bildet sich der Vorgang des Erhebens aus dem Grab ab. Doch das hier relevante Wort maʿād findet sich nur einmal in Sure 28 Vers 85: „Siehe, der dir die Lesung (des Korans) auftrug, der bringt dich wahrlich zum „Ort der Wiederkehr“ (al-maʿād) zurück.“ […] 73 An diesem Begriff und auch an seiner eher räumlichen Konnotation setzt nun aber Taftāzānī an: Das arabische Wort al-maʿād bezeichne einen Infinitiv (maṣdar) oder ein Nomen loci (makān). In ihrem wahren Wesen sei die Rückkehr (al-ʿawd) „das sich-Begeben der Sache zu dem, was ihr zukomme“.74 Damit, so erklärt Taftāzānī diese etwas komplizierte Ausdrucksweise sogleich, ist die Rückkehr in die Existenz nach dem Vergehen (fanāʾ) gemeint bzw. die Rückkehr der Körperteile in den Zustand der Verbundenheit nach ihrer Zerstückelung, oder die Rückkehr ins Leben nach dem Tod. Rückkehr in die Existenz aus dem Nichts und Wiedervereinigung der Teile sind dabei die zwei verschiedenen Vorstellungsarten von Auferstehung, die in den ersten vier Unterkapiteln (mabāḥiṯ) besprochen werden. Anschließend geht Taftāzānī noch innerhalb des definierenden Einleitungsabschnittes zur geistigen Auferstehung über, wie sie in der islamischen Philosophie vertreten wurde. Für die Philosophen, so Taftāzānī, bedeutet maʿād eine Rückkehr der Geister in die Unabhängigkeit vom Körper und damit ein Freisein (tabarruʾ) von dem, was ihre Heimsuchung durch Unrechtstaten und Sünde überhaupt erst möglich machte.75 Hier gibt Taftāzānī den Kern der philosophischen Sicht durchaus korrekt wieder, insofern Rückkehr bei Ibn Sīnā nicht Rückkehr in die Existenz, sondern Rückkehr in einen viel vollkommeneren (mustakāmil) Zustand ist.76 Subjekt der Rückkehr ist die menschliche Substanz (al-ğawhar al-insānī), bzw. die Seele (nafs), die sich am Beginn ihrer Existenz mit einem irdischen Körper verbunden hatte, der Tod als Trennung von diesem Körper ermöglicht ihr eine Rückkehr.77 Während Aspekte der Seelenlehre und Avicennas ontologische Sprache schon vorgestellt worden sind (3.1.3), blieb seine Kosmologie bisher ausgespart. Die Konzeption von Rückkehr, auf die es hier aber ankommt,
73 Bobzin, 343 (Einschübe und Hervorhebungen, T. W). 74 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „tawaǧǧuhu š-šayʾi ilā mā kāna ʿalayhi,“ 82. 75 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 82. 76 Ibn Sīnā, Risāla, 199. 77 Chahine, Osman, Ontologie et théologie chez Avicenne, Paris 1962, 99.
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speist sich aus den psychologischen und kosmologischen Teilen seiner Philosophie und soll hier kurz angesprochen werden. Ibn Sīnās kosmologische Konzeption nimmt bei dem einen notwendig Existierenden, Gott, seinen Ursprung und beschreibt die Entstehung des Kosmos, der Gestirne und Planetensphären bis hin zum Mond als eine Emanation, wodurch auch der neuplatonische Charakter seiner Philosophie hervortritt. Aus Gott, dem notwendig Seienden, resultiert durch den ewigen Akt des Selbstdenkens – wie in neuplatonischer Philosophie der Geist aus dem Einen78 – ein erster Intellekt.79 Aus dem Denken dieses Intellekts gehen ein zweiter Intellekt, eine Seele und ihr materieller Körper – die gestirnlose Sphäre am Himmel – hervor.80 Die sich anschließende komplexe Folge von Emanationen in Ibn Sīnās Lehre kann hier nicht im Einzelnen weiterverfolgt werden, wichtig ist aber, dass der Vorgang der Emanation an der Mondsphäre schließlich die irdische Welt erreicht. Da die Emanation mit einem kontinuierlichen Verlust an Reinheit einhergeht, erschöpft sich die Kraft des Prozesses und es entsteht eine Welt in der die Unreinheit überwiegt.81 Daher ist die irdische Materialität anders als in den himmlischen Sphären durch Entstehung und Vergehen in Gestalt der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft geprägt. Aus den himmlischen Seelen wird durch Kontakt mit Materie zudem die individualisierte menschliche Seele.82 Wesentlich ist die Kennzeichnung dieses gesamten Emanationsprozesses vom Ursprung bei notwendig Seienden bis zur Materie als Beginn (mabdaʾ). Diesem ersten Teil des kosmischen P rozesses steht als Pendant aber ein zweiter ihm gegenläufiger Prozess gegenüber: Es handelt sich um die schon erwähnte Rückkehr mit der ihr zugehörigen Terminologie maʿād.83 Denn während ihres Verweilens im menschlichen Körper ist die Seele am weitesten Punkt ihrer kosmischen Reise angelangt – sie ist denkbar weit vom Ursprung beim notwendig Seienden und dem ersten Intellekt entfernt.
78 Die Kosmologie Ibn Sīnās trägt eindeutig neuplatonische Züge. Doch zu der Frage inwieweit seine Emanationslehre auch von einer stärken göttlichen Einwirkung auf die einzelnen Geschöpfe geprägt ist, siehe: Janssens, Jules, Creation and Emanation in Ibn Sīnā. In: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale, VIII (1997), 455–477, 463f. 79 Marmura, Michael, In: EIr III, Avicenna: iv. Metaphysics, 7379, 77; Nasr, S. Hossein, An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines, London 1978, 203. 80 Nasr, Introduction, 203f. 81 Nasr, Introduction, 205f. 82 Druart, Thérèse-Anne, The Human Soul´s Individuation and its Survival after the Body´s Death: Avicenna on the Causal Relation between Body and Soul. In: Arabic Sciences and Philosophy, vol. 10 (2000), 259–273, 261f. 83 Zu weiteren Stellen, an denen sich Ibn Sīnā zu dem Begriffspaar äußert, siehe: Goichon, A. M., Livre des directives et remarques (K. alʾišārāt wa l-tanbīhāt), Beirut, Paris 1951, 436, Fußnote 2.
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Insofern die Trennung vom Körper im Tod diese Verbindung mit Materie, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist, auflöst, kann sich jetzt der Prozess der Rückkehr in die himmlischen Sphären anschließen. Diese kosmologische Lehre findet sich vor allem in Ibn Sīnās berühmter Schrift „der Heilung“ (aš-Šifāʾ). Die eschatologische Behandlung des Themas in Auseinandersetzung mit Positionen der mutakallimūn, leistet er aber in der vorher erwähnten Risāla al-aḍḥawīya,84 wo das erste Kapitel wie Taftāzānīs Jenseitskapitel mit einer Definition des Wortes maʿād beginnt: „Was den Ort der Rückkehr in der arabischen Sprache betrifft, so ist er abgeleitet vom Vorgang der Rückkehr.“85 Dies sei ein Ort oder Zustand, „an dem man war, bevor man sich davon trennte, um schließlich dorthin zurückzukehren.“86 Die Rückkehr dorthin sei für den Zufriedenen ein Eingang in die beste Sphäre, das Paradies, und für den Unglücklichen in die übelste Sphäre, die Hölle.87 Rückkehr ist also räumlich als Rückkehr in die himmlischen Sphären gedacht, wobei die niederen Sphären durchaus Defizite haben, insofern diejenige, die im irdischen Leben vor allem körperliche Genüsse gesucht haben, diese Möglichkeit nun vermissen und daran leiden.88 Allerdings widerfährt dieses Schicksal nur wenigen, nämlich den hartnäckig Sündigen, während sich die Mehrheit der Menschen wohl in einem mittleren Status wiederfinden wird.89 Das Definitionskapitel beschließt Ibn Sīnā mit einem Koranzitat, das hierfür als klares Zeugnis (šāhid wāḍiḥ) dienen soll. Die Verse 89,27–28 lauten: […] „O du befriedete Seele, kehre heim zu deinem Herrn, glücklich und zufrieden.“90 „Heimkehr“ scheint hier klar auf den Ort vor der irdischen Existenz abzuzielen.
84 Wie schon bei der Vorstellung der Referenzwerke erwähnt, ist die Risāla al-aḍḥawīya das wahrscheinlich wichtigste Werk Ibn Sīnās zur Eschatologie (s. 3.1.3, Fußnote 50). Die folgenden Ausführungen werden auch zeigen, dass seine Argumente in eschatologischen Fragen von Taftāzānī aufgegriffen und zurückgewiesen werden. Allerdings geschieht dies bei Taftāzānī und anderen mutakallimūn eher implizit ohne die Risāla zu erwähnen. Demgegenüber wurde das Werk von Rāzī und Ibn Taymīya vornehmlich kommentiert, um Ibn Sīnās Verständnis der Prophetie zu kritisieren, zu dem er sich eingangs der Risāla eher in Vorbereitung auf das eschatologische Hauptthema geäußert hat: Michot, Yahya, Ibn Taymiyya on Avicenna´s Risāla Aḍḥawīya, 155. 85 Ibn Sīnā, Risāla: „ammā al-maʿādu fī luġati l-ʿarabīyati fa-muštaqqun min al-ʿawd.“, 17. Die von Taftāzānī genannte Alternative Infinitiv (maṣdar) kommt bei ihm in seiner einleitenden Definition des Begriffs noch nicht vor. 86 Ibn Sīnā, Risāla: „kāna š-šayʾu fīhi, fa-bāyanahū, fa-ʿāda ilayhi“, 17. 87 Gardet, Louis, La pensée religieuse d’ Avicenne (Ibn Sīnā), Paris 1951, 98f. 88 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī, Kitāb al-išārāt wa-t-tanbīhāt, S. 186; Gardet, La pensée religieuse, 103. 89 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī, Kitāb al-išārāt wa-t-tanbīhāt, S. 187. 90 Bobzin, 565.
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Die Frage nach der rein geistigen Fortexistenz greift Taftāzānī zwar wieder auf, wenn er später die Vorstellung der Philosophen von der geistigen Auferstehung anführt, doch lohnt hier ein Blick auf die Definition von maʿād selbst, um die Unterschiede nochmals zu akzentuieren. Für Ibn Sīnā bezieht sich der jetzige, irdische Zustand als derjenige der Trennung und auch die künftige Rückkehr jeweils begrifflich auf die überirdische Welt, aus der die Seelen, wie gerade kurz skizziert, während der Phase der Emanation gekommen sind: von dieser Welt sind sie auf der Erde getrennt, in diese Welt kehren sie nach dem Tod zurück. Taftāzānī deutet dies um, insofern zwar die erste Phase auch bei ihm das irdische Leben umfasst und der Tod die Trennung herbeiführt, doch die Rückkehr meint nun die Rückkehr in die körperliche Existenz am Jüngsten Tag. Dabei abstrahiert Taftāzānī im Vergleich mit Ibn Sīnā noch stärker: Ibn Sīnā hatte maʿād in erster Linie als Nomen loci, als Ortsangabe, verstanden und den Ort als den, wo sich die Sache – hier also die Seele – befand (kāna š-šayʾu fīhi) gekennzeichnet, während Taftāzānī die örtliche Dimension zwar erwähnt, dann aber schreibt (s. o.), maʿād meine die Rückkehr (al-ʿawd) zu dem, was der Sache zukomme (ilā mā kāna ʿalayhi), worunter dann auch das Schicksal beim Jüngsten Gericht verstanden werden kann. Von daher rückt er den Ort (makān) in seiner Definition an den Rand, da ja die Rückkehr bei der Auferstehung nicht in die überirdische Welt der himmlischen Sphären, sondern ins Jenseits – konkreter Paradies und Höllenfeuer, wie der Koran sie beschreibt – erfolgen soll. Dort kommt die Seele zwar nicht her, doch dort erhält sie, was ihr zukommt. Es liegt die Vermutung nahe, dass Taftāzānī den Begriff maʿād nutzt, um ihn der philosophischen Konzeption insofern streitig zu machen, als dass er ihn nicht ablehnt, sondern wie andere mutakallimūn vor ihm aufgreift, um die ganz anders gelagerte koranisch fundierte Eschatologie damit zu beschreiben. Gegenüber seinen Vorläufern geht er einen Schritt weiter, indem er den Begriff aber auch umdefiniert, was nicht mit großer Geste, sondern mit subtiler Wortwahl geschieht. Verdeckt spielt sich also schon in der einleitenden Definition eine philosophisch-theologische Kontroverse ab. Von diesen Gesichtspunkten zur Definition und Verwendung von maʿād im 14. Jahrhundert stellt sich die allgemeinere Frage, woher maʿād als Kapitelüberschrift für Ausführungen zur Eschatologie ursprünglich stammt. Es war ja bereits die Rede davon, dass Ašʿarī und Ibn Fūrak kein umfassendes Auferstehungskapitel in ihren theologischen Werken haben und eschatologische Aspekte wie die Brücke über die Hölle, die Waage zum Wiegen der Taten und das Bassin am Eingang des Paradieses ohne Nennung des Begriffs maʿād verhandeln.91 Rāzī
91 Ibn Fūrak, Muǧarrad, 171f.
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benutzt in den Uṣūl ad-dīn die Kapitelüberschrift „Über die Umstände der Auferstehung und die dazugehörigen Streitfragen“, worin das Wort qiyāma92 vorkommt und Bayḍāwī verwendet in den Tawāliʿ die Überschrift al-ḥašr wa-l-ǧazaʾ „die Versammlung und die Strafe“.93 Wenn Rāzī im Muḥaṣṣal, Īǧī in den Mawāqif und Taftāzānī im Šarḥ al-Maqāṣid ihre eschatologischen Kapitel demgegenüber mit maʿād betiteln, führen sie einen neuen Begriff ein, wodurch fraglich erscheint, dass der Begriff bei Avicenna auf den kalām zurückgehe, wie bisher oft angenommen wurde.94 Vielmehr erscheint es so, dass Vertreter des kalām hier den durch Ibn Sīnā philosophisch vorgeprägten Begriff von kosmisch verstandener Rückkehr aufgreifen und ihn als theologischen Auferstehungsbegriff neu füllen. Die philosophische Herkunft von maʿād scheint um so mehr wahrscheinlich, als sich im muʿtazilitischen kalām wohl eher eine Verschiebung von qiyāma hin zu iʿāda (Wiederkehr) ergeben hat, wozu laut van Ess beigetragen hat, dass der darin enthaltene Aspekt einer Wiederholung der Schöpfung (IV. Stamm von ʿāda) stärker als die bloße Erhebung der Menschen (qiyāma) auf Gottes Allmacht verweist.95 Ähnlich interpretiert Gimaret auch die Bedeutung des Gottesnamens al-muʿīd.96 Beide Male fehlt das Nomen loci, dessen räumliche Dimension als das Wohin der Auferstehung ja bei Avicenna und etwas anderes gelagert bei den späteren mutakallimūn, wie gesehen, von großer Bedeutung ist. Ergänzend lohnt ein Blick darauf, wie die Korankommentatoren das Wort maʿād , das nur einmal im Koran (28,85) vorkommt, ausgelegt haben. Da es sich hierbei um eine begriffsgeschichtliche Fragestellung handelt, die in Zeit vor den theologischen Debatten des 14. Jahrhunderts zurückweist, bietet es sich an auch eine frühe Autorität der Korankommentarliteratur einzubeziehen. Der für die Entwicklung der Literaturgattung des tafsīr wegweisende Autor Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarī (st. 923) führt in seinem Ǧāmiʿ al-bayān (Zusammenfassung der Erläuterung) zum fraglichen Vers zahlreiche Hadithe auf. Zunächst listet er sieben Hadithe auf, die den Terminus maʿād als Äquivalent zu ǧanna, dem Paradies erklären, danach schließen sich einige Überlieferungen an, die den Tag der Auferstehung, das Jüngste Gericht (yawm al-qiyāma) oder den Tod als Äquivalente nennen. Es folgen sodann weitere Hadithe, die Mekka ins Spiel bringen und sich dabei darauf beziehen, dass der Vers, der maʿād enthält, gar nicht im Allgemeinen vom Jenseits spricht, sondern eine Anrede der 2. Person enthält und damit an Moham-
92 Rāzī, Uṣūl, „fī aḥwāl al-qiyāma wa-fīhi masāʾil“, 127. 93 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 220. 94 Michot, Yahya J., La destinée de l’homme selon Avicenne, Leuven 1986, 9f. u. bes. Fußnote 46. 95 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 558. 96 Gimaret, Daniel, Les noms divins en Islam, Paris 1988, 298.
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mad gerichtet ist: „Siehe, der dir die Lesung (des Korans) auftrug, der bringt dich wahrlich zum „Ort der Wiederkehr“ (al-maʿād) zurück.“97 Zwar handeln die beiden Verse zuvor allgemein vom Jenseits, doch beziehen sich die Verse ab Vers 85 bis zum Ende der Sure auf Mohammad und seine Botschaft. Einige der bei Ṭabarī vorkommenden Hadithe greifen dies insofern auf, als dass sie die Rückkehr an den Ort von Mohammads Geburt verstehen: „ […]: Ich hörte Muǧāhid, der zum Vers „der bringt dich wahrlich zum Ort der Wiederkehr zurück“, sagte: Er sagte dazu: „zu deinem Geburtsort in Mekka.“98 Ṭabarī erläutert dies als Ankündigung von Mohammads Rückkehr in das für ihn geöffnete Mekka, welches er ja nach dem Vertragsschluss mit den Mekkanern gegen Ende seines Lebens noch wiedersehen sollte. Ṭabarī reflektiert aber auch darüber, dass nach allegorischer Auslegung ebenfalls eine Rückkehr ins Paradies in Frage käme, da Mohammad es bei seiner Himmelsreise (laylat al-isrā) schon betreten habe,99 also auch dahin zurückkehren könne. Der Begriff ist damit zwar ebenso offen für eine rein irdische Konnotation wie auch eine eschatologische, das Geschehen der Rückkehr aber stets bezogen auf Mohammad. Zamaḫšarī grenzt den Vers sogar explizit auf Mohammad ein, wenn er sagt, es sei im Vers „eine Rückkehr – nicht für einen anderen Menschen als Dich – und eine darauf begründete Ablehnung der Rückkehr” gemeint.100 Im Weiteren expliziert er die Rückkehr als von Gott versprochene Rückkehr Mohammads nach Mekka, wobei dessen Sehnsucht nach seinem Geburtsort sogar einen Offenbarungsanlass für den Vers darstelle.101 Auch Rāzī hebt hervor, dass in dem betreffenden Vers Mohammad angesprochen sei und schließt die Frage an, wohin diese Rückkehr denn erfolgen werde, was er eindeutig mit Mekka beantwortet.102 Der Begriff maʿād als Terminus technicus für Auferstehung hatte ohnehin nur eine sehr schwache koranische Verankerung, da er nur einmal vorkommt. Der Blick in die tafsīr-Werke lässt eine Entwicklung des Fachbegriffs innerhalb der theologischen Literatur nochmals zweifelhafter erscheinen, insofern er fortgesetzt rein historisch und prophetenbiographisch interpretiert wird.103
97 Bobzin, 343. 98 Ṭabarī, Abū Ǧaʿfar, Ǧāmiʿ al-bayān XVIII, Kairo 1954: „[…], samiʿtu Muǧāhidan yaqūlu la-rādduka ilā maʿādin, qāla: ilā mawlidika bi-Makka“ 125 99 Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān XVIII, 126. 100 Zamaḫšarī, Kaššāf III: „ayyu maʿādin laysa li-ġayrika min al-bašari wa-tankīri l-maʿādi li-ḏālika“, 432. 101 Zamaḫšarī, Kaššāf III, 432f. 102 Rāzī, Tafsīr XXV, 19. 103 Im Hinblick auf Rāzīs Kommentar zu der Stelle fällt zudem auf, dass er zwar, wie gesehen, im Muḥaṣṣal auch das Wort maʿād für die Oberthematik der Auferstehung wählt, aber im Tafsīr
Die Auferstehung nach Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī
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Ibn Sīnā, so ließe sich weit eher vermuten, konnte ihn aber immerhin als Anklang an seine kosmologische Theorie von Anfang, Emanation und Rückkehr verstehen und für ein Konzept nutzen, dass sich sonst nur schwer und mit dem Koran und seinen eschatologischen Ankündigungen vereinigen lässt. Insofern er sich hierzu aber nicht geäußert hat, bleibt dies Spekulation. In dieser Sicht wäre die Übernahme des Begriffs im kalām einerseits ein weiteres Beispiel für den philosophischen Einfluss auf die theologische Begrifflichkeit, wie sie auch Madelung herausstellt,104 zugleich aber auch der Versuch, eine gewisse Deutungshoheit für die Begriffsverwendung von maʿād zu reklamieren.105 Insofern alle Autoren, die den Begriff verwenden, auch von einer den Tod überdauernden menschlichen Seele ausgehen (s. u.), die in den Körper zurückkehrt, kann auch dies eine Rolle gespielt haben, denn in diesem Fall wäre eine Rückkehr auch für ein materielles Jenseits treffender als eine Erhebung aus dem Grab. Die Tatsache, dass die späteren Theologen bei ihrer Übernahme des Begriffs und Taftāzānī bei seiner Definition keine Überlegungen zur koranischen L egitimität
diese einzige Koranstelle nicht nutzt, um seinem Konzept des Hinweises (išāra) folgend eine ausführliche Darlegung der Thematik zu entfalten (s. 3.2.2 bzw. Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 76). Für ihn scheint sich hier also keine direkte Brücke vom koranischen Wortgebrauch zur späteren Begriffsbildung zu ergeben. 104 Madelung, At-Taftāzānī und die Philosophie: „Das Vordringen ursprünglich philosophischer Terminologie und Begriffe ist auch sonst in Taftāzānīs Darstellung der Theologie deutlich.“, 215. 105 Eine Auswirkung dieser Übernahme in die Theologie ist, dass das Wort maʿād heute ein möglicher Begriff für Auferstehung auf Arabisch ist, der allgemein verstanden wird. Doch ist er keinesfalls zu einem Monopolbegriff geworden. Er steht zwar im Lehrplan der Azhar, doch eine moderne Studie zum Jüngsten Tag in den drei monotheistischen Religionen kommt ohne ihn aus und schildert die eschatologischen Vorgänge anhand der oben genannten koranischen Begriffe „Erweckung“, „Versammlung“, „Abrechnung“. ʿAbd al-Bārī, Faraǧ Allah, Al-yawm al-āḫir bayna al-yahūdīya wa-l-masīḥīya wa-l-islām, Mansura 1992. Das Studienbuch der Universität von Damaskus bedient sich für das eschatologische Kapitel eines Titels, der ebenfalls ohne maʿād auskommt: „Das andere Leben und seine Welten und die Verantwortung des Menschen vor Gott.“ (al-ḥayāt al-āḫir wa-ʿawālimuhā wa-masʾūlīyatu l-insān amāma Allāh) al-Ḫann, Saʿīd Muṣṭafā, Mabādiʾ al-ʿaqīda al-islāmīya, Damaskus 2008, 320. Diese Verweise sind keinesfalls repräsentativ, zeigen aber, dass die spätere kalām-theologische Begriffswahl keinesfalls alle anderen Umschreibungen für Eschatologie verdrängt hätte und dass von daher islamischen Theologen immer schon und noch bis heute ein je verschiedenes begriffliches Instrumentarium zu Verfügung stand und steht. Ibn Abī Ǧumhūr verwendet im 15. Jahrhundert als Kapitelüberschrift iʿāda. Schmidtke, Sabine, Theologie, Philosophie und Mystik im zwölferschiitischen Islam des 9./15. Jahrhunderts, Leiden 2000.
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des Begriffs anstellen, scheint darauf hinzuweisen, dass diese im kalām keineswegs obligatorisch war. Zudem wird der inhaltliche Aufbau des Auferstehungskapitels bei Taftāzānī zeigen, dass die koranische Apokalypse nicht das Rückgrat der theologischen Lehre bildet, sondern dass eher einzelne Koranverse situativ als Beweismittel in einem ganz anders aufgebauten Diskussionszusammenhang herangezogen werden. Dies wird dann bei den Darlegungen zur Handlungstheorie wieder anders aussehen, insofern Taftāzānī dort Offenbarungsbeweise systematisiert und getrennt von den abstrakt rationalen Argumentationen vorstellt. An die Definition von maʿād schließt Taftāzānī eine explizite Abgrenzung zu den Philosophen und Muʿtaziliten und deren Konzeption von Auferstehung an. Doch bevor Taftāzānī in die Diskussion der Details einsteigt, wechselt er auf eine Metaebene, was neben der Einführungsdefinition des Gegenstandes ebenfalls ein Novum gegenüber den früheren theologischen Werken darstellt. Er konstatiert, dass sich zwischen den theologischen Untersuchungsfeldern (mabāḥiṯ) im kalām und dem Wissen um die religiösen Glaubensgrundsätze (ʿaqāʾid) eine offenkundige Fremdheit (aǧnabīya), d.h. Differenz, zeige.106 Er hebt hervor, dass diese Untersuchungsfelder nützlich seien, um die Glaubensartikel argumentativ zu untermauern und Zweifel von ihnen abzuwenden. Er rückt die genannte Eingangsfrage nach der Wiederkehr dessen, was zuvor vom Zustand der Existenz in die Nichtexistenz übergegangen ist damit zugleich in eine Linie mit anderen eher abstrakt wirkenden Themen theologischer Traktate. Dazu zählen für ihn auch naturphilosophische Themen wie der Aufweis, dass es Teile und die Leere gibt, oder die Lehre davon, dass eine Durchbrechung der Himmelssphären zulässig ist.107 Dieser kurze Wechsel aus der Ebene der Sachargumente auf die Ebene der Wirkung des Verhandelten beim Leser passt zu Taftāzānīs eingangs erwähntem Konzept von kalām als einer Wissenschaft, die mit den Glaubensüberzeugungen (iʿtiqād) zu tun hat108 und letztlich zu einer Vervollkommnung der Seele führen soll (s. o.). Die folgende, sehr abstrakte Diskussion um die Wiederkehr aus dem Nichts soll daher wohl nicht als Selbstzweck verstanden werden. Sie muss, so könnte man Taftāzānīs kurzen Verweis durchaus deuten, auch für den Gläubigen und seine Überzeugungen eine Rolle spielen. Taftāzānī begründet weiterhin, dass die Möglichkeit der „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“ (iʿādat al-maʿdūm), an diese Stelle, also in die Darstellung einer Offenbarungswahrheit wie der Auferstehung des Menschen nach dem Tod gehöre, da sie nur hier im theologischen Programm
106 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 82. 107 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 82. 108 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid I, 164; Eichner, unveröffentlichte Habilitationsschrift, 334.
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gebraucht werde. Er beruft sich mithin für den Aufbau seines Werkes auf ein funktionales Argument. Wie erwähnt, rührt diese allgemeine Erklärung, zu der sich Taftāzānī gedrängt sieht, wahrscheinlich daher, dass der fragliche Begriff (iʿādat al-maʿdūm) weder im Koran noch in früheren theologischen Traktaten vorkommt. Man findet allenfalls in Sure 30, Vers 27 im Zusammenhang von Schöpfung und zweiter Schöpfung das zu dem Verbalsubstantiv Wiederherstellung (iʿāda) gehörige Verb: „Er ist es, der die Schöpfung ein erstes Mal vollbringt und sie dann wiederholt [...]“109 Vom Nichts (ʿadam) oder dem Partizip Passiv ins Nichts entworden (maʿdūm) ist in diesem Vers allerdings nicht die Rede. Mit dem deutschen Wort „vernichtet“ ließe sich das Partizip nicht ganz treffend übersetzen, da bei maʿdūm über Zerstörung hinaus das „reine Nichts“, das ontologisch zu verstehen ist, gemeint ist.110 Allenfalls könnte man in Anlehnung an Heidegger das Wort „vernichtst“ aufgreifen, doch erscheint demgegenüber die etwas wortreichere Übersetzung mit „Wiederherstellung dessen, was ins Nichts entworden ist“, treffender zu sein. In der englischen Übersetzung der Ṭawāliʿ des Bayḍāwī verwenden Calverley und Pollock „Restoration of the vanished nonexistent“.111 Somit gibt Taftāzānī dem Leser von Šarḥ al-Maqāṣid eine Definition des Fachterminus an die Hand, begründet auch den abstrakten Einstieg in die Thematik und äußert sich zugleich allgemein zur Funktion von denjenigen Erörterungen in theologischen Abhandlungen, die nicht Teil der direkt aus koranischen Aussagen abgeleiteten Glaubensgrundsätze sind. Zudem begründet er den Ort der Diskussion um die Möglichkeit einer Wiederkehr von etwas aus dem Nichts in die Existenz innerhalb des Gesamtwerkes und entfaltet somit vor dem Einstieg in die Argumentation en détail einen Hintergrund für das Verständnis der damit verbundenen Diskussionen. Gemäß seiner Ankündigung eines abstrakten Einstieges bleibt in diesem Einstiegskapitel jeder Bezug zur konkreten Vorstellung der menschlichen Auferstehung am Jüngsten Gericht noch aus. Weder in den Uṣūl, noch den Mawāqif oder den Ṭawāliʿ erfolgen solche Anstrengungen bei der Definition des Gegenstandes und der Erklärung seiner Funktion. Dort stellt sich der Beginn der Ausführungen wesentlich abrupter dar, ist aber auch der Frage nach der Wiederkehr aus dem Nichts gewidmet.
109 Bobzin, 353. 110 ʿAbd al-Fattāḥ, ʿAbd al-Karīm, „al-iʿādatu baʿda ʿadamin maḥḍ“ unveröffentlichte Magisterarbeit an der Azhar-Universität, 234. 111 Calvery & Pollock, Nature, Man and God II, 1028.
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4.2.2.2 Die „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“ Doch wie steht es nun um den Aufweis, dass etwas aus dem Nichts zurückkehren kann? Taftāzānī beginnt folgendermaßen: „Unsere Grundüberzeugung (iqnāʿ) ist, dass etwas in den Bereich des Möglichen (imkān) fällt, solange seine Notwendigkeit (wuǧūb) oder Unmöglichkeit (imtināʿ) nicht erwiesen ist.“112 Somit müsse derjenige den Beweis erbringen, der die Wiederherstellung des zuvor ins Nichts-Entwordenen abstreitet. Damit beginnt Taftāzānī mit einem philosophischen Argument, das sich ausschließlich der philosophischen Sprache der Zeit bedient, die alles Denkbare in den Kategorien von Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit fasst,113 und nimmt eine Umkehrung der Beweislast vor. Im weiteren fügt Taftāzānī noch einen Weisheitsspruch an: „So sagten auch die Weisen, wenn etwas Unwahrscheinliches an dein Ohr dringt, so bleibt sein Stäubchen [oder sein Kern] auf dem Feld des Möglichen, solange Du keinen Beweis dagegen findest.“114 Damit geht er die Frage sehr grundsätzlich an und verortet sie in den ontologischen Kategorien, doch suggeriert er zugleich, es gebe keine Beweise für die Unmöglichkeit. Nun gab es aber, so Taftāzānī weiter, Leugner der Möglichkeit einer Wiederkehr aus dem Nichts, deren Argumentation auf einen vermeintlichen Beweis der Unmöglichkeit hinauslief. Folglich kann er es nicht bei der Umkehrung der Beweislast belassen und setzt sich auch mit den Beweisen für die Unmöglichkeit auseinander. Zunächst aber führt er diejenigen Argumente an, die für die Möglichkeit (imkān) der Wiederherstellung sprechen. Dazu beginnt er mit einem Argument, das er als zwingend (ilzām) bezeichnet. Es sei unmöglich, dass die Schöpfung zu einem Zeitpunkt möglich, zu einem anderen Zeitpunkt aber unmöglich sei. Es gebe nämlich ein entscheidendes Argument (qaṭʿ) dafür, dass es keine Spur von den Zeitpunkten in dem gibt, was etwas in seinem Wesen ausmacht.115 Diese Relativierung der Bedeutung der Zeit, die darauf hinausläuft, dass Zeit keine ontologische Kategorie ist, sondern nur eine Form der menschlichen Vorstellung von beobachteten Abläufen, führt Taftāzānī hier nicht weiter aus. Das Argument geht ursprünglich auf Ġazālī zurück und wird im Rahmen der Schöpfungslehre nochmals vorkommen (s. 6.2.2.2). Dagegen lässt sich auch nicht das Argument anführen, dass die Wiederkehr als zweite Existenz spezieller sei als die allgemeine umfassende (muṭlaq al-wuǧūd)
112 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „la-nā iqnāʿan anna l-aṣla fīmā lā dalīla ʿalā wuǧūbihī wamtināʿihī huwa al-imkān“, 82. 113 Muḥammad ʿUmar Muḥammad Ḥasan, Muḥmūd, Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī fi l-ilāhiyāt min ʿilm al-kalām. Unveröffentlichte Magisterarbeit an al-Azhar unter der Betreuung von Muḥī ad-Dīn aṣ-Ṣāfī, Kairo 1986, 246. 114 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 83. 115 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 83.
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erste Existenz, wobei aus dem Möglichsein des Allgemeinen das Möglichsein des Spezielleren nicht notwendig folge.116 Die Antwort lautet, dass ja im Gegenteil die erste Existenz schon eine zusätzliche Vorbereitung für die Aufnahme (istiʿdād li-qubūl) einer zweiten Existenz darstelle und es auch dem, der sie hervorbringe, noch leichter fallen werde als beim ersten Mal.117 Den Punkt der leichteren Schöpfung, den schon Īǧī gegenüber Rāzī und Bayḍāwī in die Diskussion eingebracht hatte, gliedert Taftāzānī hier als naheliegenden Punkt an, kommt aber zu dem Schluss, dass es sich dabei eher um eine Bezugnahme auf die Wiederzusammensetzung von Teilen und die Neugewinnung von Formen handle und nicht so sehr um die Wiederherstellung aus dem Nichts. Bei Begriffen wie aufnehmend (qābil) und aufnahmebereit (mustaʿidd), die bei der Diskussion um eine größere Leichtigkeit der Schöpfung unweigerlich hereinkommen, sei Existenz in Gestalt einer Zerteilung des Stoffes vorausgesetzt und nicht das Nichts, wie im Fall der Wiederkehr aus dem Nichts.118 Den Einwand, ob es überhaupt zulässig ist, Gott eine größere Leichtigkeit in Bezug auf seine Schöpfertätigkeit nachzusagen, bestreitet Taftāzānī, da sich Leichtigkeit sowohl auf den Handelnden als auch auf den Empfangenden beziehen könne, wobei nur letzterer hier gemeint sei. Nachdem die Möglichkeit (imkān) der „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“ für ihn feststeht, gibt Taftāzānī im Anschluss einen Überblick über die Einwände derer, welche diesen Vorgang für eine Unmöglichkeit (imtināʿ) halten. Er schreibt Ibn Sīnā (aš-Šayḫ) dabei explizit die Meinung zu, es handele sich bei dem Gedanken an eine zweite Existenz (mawǧūd ṯāniyan) schon intuitiv (bi-ḍarūra) um eine Unmöglichkeit.119 Taftāzānī wertet diesen Standpunkt als Überheblichkeit, denn eine intuitiv erfassbare Lösung wäre nicht so umstritten, wie es die Diskussion um die „Wiederherstellung dessen, was zuvor ins Nichts entworden ist“.120 Es folgen vier Einwände, wobei augenscheinlich ist der erste sonst nur bei Īǧī kurz erwähnt wird und die übrigen drei genau diejenigen Einwände darstellen, deren Diskussion noch bei Rāzī im Muḥaṣṣal und bei Bayḍāwī in Ṭawāliʿ den Kern des Abschnitts zur Wiederherstellung des zuvor ins Nichts Entwordenen
116 Īǧī hatte hier eine Widerlegung des Argumentes aus den Folgen heraus für nötig befunden, wonach es bei einer Verwandlung des Möglichen zu etwas Unmöglichen im Umkehrschluss auch zulässig würde, dass Unmögliches möglich würde. Īǧī, Mawāqif, 371. 117 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 83. 118 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 83f. 119 Ibn Sīnā, Ilāhiyāt min aš-Šifāʾ, 645. 120 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 85.
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(iʿādat al-maʿdūm) ausgemacht hatten.121 Der letzte dieser Einwände, der sich darauf bezieht, dass man über das Nichts oder das dahin Entwordene ohnehin nicht sinnvoll urteilen könne, ist in den Uṣūl des Rāzī sogar der einzige in diesem Zusammenhang diskutierte Einwand.122 Taftāzānī führt allerdings zunächst die Überlegung an, dass bei einer Wiederkehr aus dem Nichts zwischen einer Sache, zu dem Zeitpunkt als sie erstmals existierte, und ihr selbst, nachdem sie wiedergekehrt ist, das Nichts liegen würde, was unmöglich sei. Er weist dies zurück, indem er sagt, das Dazwischensein des Nichts zwischen zwei Existenzen sei wie das Dazwischensein der Existenz zwischen zwei „Nichtsen“, wovon man ja ohnehin auszugehen habe. Gemeint sind hier höchstwahrscheinlich das erste Nichts vor der Schöpfung, das es ja geben muss, wenn man wie in der islamischen Theologie üblich von einer Schöpfung aus dem Nichts, also der creatio ex nihilo, ausgeht und das zweite Nichts, das am Ende der Welt eintreten soll, wie es einige Koranverse nahelegen. Eine Existenz zu zwei Zeitpunkten gefährdet mithin laut Taftāzānī nicht die Einheit einer existierenden Person. Damit neigt er der muʿtazilitischen Position zu, das Nichts sei eine Sache,123 und somit seien Existenz und Nichts gedanklich recht leicht zu vertauschen. Nimmt man aber ein wirkliches, nicht mehr dinghaftes Nichts an, so ist die Kontinuität von positiven Eigenschaften durch eine Zeit des Nichts hindurch problematischer als die Einrahmung einer Existenz durch das Nichts. An diese Frage knüpft gedanklich eigentlich die vierte und letzte Frage an, die die Dauerhaftigkeit der Dinge angesichts ihrer Entwerdung ins Nichts explizit thematisiert, was Taftāzānī aber allem Anschein nach nicht naheliegend erschien. Man kann diese Frage auch eine grundsätzliche Beurteilbarkeitsfrage des Nichts und dessen, was ins Nichts entworden ist, nennen. Der Einwand geht davon aus, dass auf das, was ins Nichts entworden ist, nichts hinweist und ihm daher keine Dauerhaftigkeit (ṯubūt) zukommt und man kein Urteil darüber abgeben kann, ob es wiederkehrt, denn ein solches Urteil würde sowohl die Unterscheidbarkeit als auch die Dauerhaftigkeit des betreffenden Gegenstands erfordern. Bei seiner Erwiderung auf diesen Einwand bedient sich Taftāzānī ganz explizit der muʿtazilitischen These von der „Dinghaftigkeit“ einer Sache auch im Nichts. Er konstatiert, nach dem Gesagten seien die Dauerhaftigkeit des Entwordenen und das Bestehenbleiben seiner Wesenseigenschaften gesichert. In ašʿaritischer Tradition käme hinzu, dass es ja ohnehin nur der Dauerhaftigkeit im Verstand
121 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 220. 122 Rāzī, Uṣūl, 127. 123 Siehe: Frank, Richard, Al-maʿdūm wal-mawjūd: the non-existent, the existent, and the possible in the teaching of Abū Hāshim and his followers. In: MIDEO 14 (1980), 185–209, 186.
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(ʿaql) bedürfe, um ein richtiges Urteil abgeben zu können.124 Die Dauerhaftigkeit in Bestimmtheit brauche man nur bei der Frage einer Dauerhaftigkeit seiner Eigenschaft im Außen also der äußeren Welt jenseits der rein geistigen Vorstellung. Den Einwand, dass in diesem Falle die Sache nur eine geistige Realität aber keine Wahrheit (ḥaqīqa) und keine Äußerlichkeit (ḫāriǧīya) habe und somit nur die Richtigkeit der Rückkehr im Geiste erwiesen sei, lässt Taftāzānī nicht gelten. Er argumentiert, dass etwas, was eine Sache bezüglich der hinweisenden Eigenschaft (al-waṣf al-ʿunwānī) beglaubigt auch das Enthaltene bzw. Prädikat oder Attribut (al-maḥmūl) beglaubigt. Durch dieses Enthaltensein scheint der Ausgriff auf die Außenwelt zu geschehen, der erforderlich ist, da es ja die Außenwelt ist, in der die Auferstehung stattfinden muss, wenn sie nicht ein Ereignis innerhalb der menschlichen Vorstellungswelt bleiben soll. Und so schließt Taftāzānī noch ein Beispiel an: Auch derjenige, der etwas hervorbringen wird, erlaube, dass es erlernt (gekannt) wird. So könne es auch bei anderen Dingen sein, die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht in der Außenwelt existieren. Diese Diskussion schließt erst die Lücke, die beim Einwand des Dazwischenliegens des Nichts noch offen geblieben war. Sie geht auch weit über die früheren Autoren hinaus, deren Aussage, der Einwand selbst impliziere ja auch ein Urteil über das Nichts und scheitere daher, modern gesprochen an der Selbstanwendung, offen gelassen hatte, ob man über etwas ins Nichts Entwordene denn urteilen könne, dass es wiederkehrt. Obwohl Taftāzānī zunächst erläutert hatte, dass es reiche, wenn etwas weder notwendig noch unmöglich sei, damit seine Möglichkeit klar heraustrete, begnügt er sich gerade nicht damit, den Argumenten, die auf die Unmöglichkeit zielten, den Boden zu entziehen, sondern liefert Argumente für die Möglichkeit selbst. Erstaunlich ist zudem, welche Rolle dem menschlichen Geist als Träger für die Wiederkehr zugesprochen wird. Man könnte vermuten, dass dem allgemein philosophisch denkenden Theologen der eigene Geist deutlicher von den verhandelten Fragen enthoben erscheint als jenem Theologen, der gerade explizit den menschlichen Geist und seine Fähigkeiten in Gegenüberstellung zum allmächtigen göttlichen Schöpfer thematisiert. Letzteres wird sich bei den handlungstheoretischen Überlegungen zeigen, in welchen nämlich der dem Menschen mögliche Beitrag weit geringer veranschlagt wird. Die beiden übrigen Einwände sind von Rāzī und Bayḍāwī sowie auch Īǧī bekannt. Sie kreisen um die Frage nach einer Unterscheidbarkeit von einem ursprünglichen Beginn und der hier infrage stehenden Wiederkehr. Der bei Rāzī und Bayḍāwī zuletzt genannte Einwand lautet dabei: Wenn man von einer
124 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „wa-ʿindanā anna t-tamayyuza wa-ṯ-ṯubūta ʿinda l-ʿaqli kāffun fī ṣiḥḥati l-ḥukm.“, 87.
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iederkehr aus dem Nichts in Bestimmtheit ausgehe, so bedeute dies die WiederW kehr aller charakteristischen Eigenschaften einer Sache. Dazu gehöre nun auch die Zeit, so dass man nicht wirklich von Anfang und Wiederkehr sprechen könne, da kein wirklicher Unterschied zwischen beidem mehr vorliege.125 Die Antwort, die Taftāzānī eigentlich am Anfang des Kapitels gegeben hat und in der er sich den früheren Theologen anschließt, lautet, dass die Zeit nicht zu den charakteristischen Eigenschaften gehört. Īǧī hatte an ähnlicher Stelle eine Anekdote von Ibn Sīnā als Beispiel aufgegriffen, der einem Schüler sagte, dass wenn die Veränderung einer Person zwischen zwei Zeitpunkten wahr wäre, der Antwortende ja nicht mehr der Gefragte wäre, wonach der Schüler anerkannt habe, dass in Wirklichkeit keine Veränderung stattfinde und ein Mensch zu zwei verschiedenen Zeitpunkten derselbe sei und die Zeit somit keine seiner Eigenschaften darstelle.126 Taftāzānī hält sich an dieser Stelle nicht lange auf, wenn er nur noch anführt, ein Buch sei ja auch dasselbe wie gestern und macht allen, die trotzdem behaupteten, die Zeit gehöre zu den Charaktereigenschaften, den Vorwurf der Sophisterei.127 Er schließt die Formulierung an, der Anfang sei die Wirklichkeit erstens und die Wiederkehr die Wirklichkeit zweitens und nicht die Wirklichkeit in der zweiten Zeit. Letztlich müsse man die Zeit aus der Wiederkehr des Nichts Entwordenen ganz herausnehmen, denn gäbe es für die Zeit eine Zeit ihrer Wiederkehr, ergebe sich ein infiniter Regress (tasalsul). Wurde hier die mögliche Identität der Wiederkehr mit der ersten Schöpfung problematisiert, hebt der folgende Einwand darauf ab, dass mit der Wiederkehr einer Sache eine andere Sache neu geschaffen werden könnte, die der ersten in Substanz (māhīya) und allen weiteren Charakteristika ähnelt, was es unmöglich mache, beide zu unterscheiden. Solch einen Fall könnte man sich laut Taftāzānī aber ebenso gut für die anfängliche Schöpfung vorstellen und dann hätte die Frage nach Unterscheidbarkeit der einander in allen Eigenschaften ähnelnden Dinge gar keine Relevanz für die Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen. Führt im Fall des ersten Zeiteinwandes die Erwähnung der Zeit zum Problem der untrennbar scheinenden Verbindung von Beginn und Wiederkehr, zielt der zweite Einwand auf den Fall eines identischen Neubeginns, der zeitgleich mit der Wiederkehr stattfindet. Wie alle bedeutenden mutakallimūn bestätigt Taftāzānī die Wiederkehr aus dem Nichts, doch darf man dies nicht mit der Frage verwechseln, ob sie der
125 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „wa-rafaʿa li-t-tafriqatin wa-l-imtiyāzin bayna l-mubtadaʾi wal-maʿādi.“, 86. 126 Īǧī, Mawāqif, 372. 127 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 86.
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Meinung sind, die zukünftige Auferstehung, von der sie ausgehen, werde auch ein solcher Vorgang sein. Der Unterscheid wird klarer, wenn man nochmals auf die beiden Alternativen in der einleitenden Definition blickt. Hier hatte Taftāzānī neben „der Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen“ auch „die Versammlung des Getrennten“ als zweite Option für die Auferstehung (maʿād) angegeben. Die folgenden Ausführungen lassen sogar eher vermuten, dass Taftāzānī zu der zweiten Option tendiert. Die theoretische Abhandlung der Frage nach der Wiederkehr aus dem Nichts scheint jedoch eine Absicherung zu sein, dass die Auferstehung selbst dann nicht unmöglich wird, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Wiederkehr aus dem Nichts thematisiert. Muḥyī ad-Dīn aṣ-Ṣāfī vertritt die Meinung, Taftāzānī wäre unentschlossen gewesen in welcher Art und Weise sich die Auferstehung dann tatsächlich vollziehen würde und hätte nur deshalb dieses Kapitel verfasst.128
4.2.2.3 Die körperliche Auferstehung (ḥašr al-aǧsād) In der zweiten Untersuchungseinheit wendet sich die Argumentation der Auferstehung als Versammlung der Körper zu, womit die Diskussion auch deutlich konkreter wird. Im Kern dreht sich dieser Abschnitt dabei um die Frage nach körperlicher oder geistiger Auferstehung. Taftāzānī zeigt auch hier wieder zu Beginn ein Panorama der verschiedenen bisher vertretenen Positionen auf, das wahrscheinlich auf Samarqandī zurückgeht, und neben materialistischen Philosophen (aṭ-ṭabīʿīyūn) auch die (theistischen) Philosophen und den in der Frage unentschlossenen Galen nennt.129 Īǧī nennt hier allgemeiner die Weisen (ḥukamāʾ), die eine Versammlung der Körper leugnen.130 Diese Gruppen, die die Auferstehung ablehnen oder geistig verstehen, werden allerdings bei Taftāzānī mit der großen Masse der Muslime (ǧumhūr al-muslimīn) kontrastiert, bei Samarqandī mit den meisten muslimischen Theologen (mutakallimūn) selbst, die eine körperliche Auferstehung vertreten hätten. Wie zu sehen sein wird, weist Taftāzānī die rein körperliche Auferstehung später aber weit entschiedener zurück als Samarqandī
128 Aṣ-Ṣāfī, Muḥyī ad-Dīn, an-Nubūwāt wa-s-samʿīyāt min mabāḥiṯ ʿilm al-kalām, 87. 129 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 437f. Für diese Abhängigkeit von Samarqandī spricht neben der sehr ähnlichen Personengruppe das fast wörtliche Zitat zur Beschreibung der schwankenden Position von Galen: Samarqandī schreibt ihm die Aussage zu: „fa-innahū lam yaẓhir lī anna n-nafsa ġayru l-mizāǧi fa-iḏḏā kānat huwa fa-ʿinda l-mawti taṣīru maʿdūmatan wa-yamtaniʿu l-maʿādu […] ? wa-in kānat ǧawharan bāqiyan baʿd fasādi l-mizāǧi kāna l-maʿādu mumkinan.“ Taftāzānī schreibt zu Galen: „li-taraddudihī fī anna n-nafsa huwa l-mizāǧu fa-yafnī bi-l-mawti fa-lā yuʿādu am ǧawharun bāqin baʿda l-mawti yakūnu lahu l-maʿād.“ 130 Īǧī, Mawāqif, 374.
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und bringt sie daher hier wohl auch nicht mit den mutakallimūn, sondern eher mit den nicht theologisch gebildeten Muslimen in Verbindung. Für die materialistischen Philosophen (al-falāsifa aṭ-ṭabīʿiyūna) endet mit dem Tod der wahrnehmungsfähige Organismus des Menschen als ein Zusammenspiel aus Säften, Kraft und Akzidenzien und es bleibt nichts als der elementare zerteilte Stoff (al-mawād al-ʿunṣurīya al-mutafarraqa). Mit dieser Gruppe braucht man weder im Zusammenhang der Auferstehung noch in der Philosophie weiter zu rechnen.131 Diese Position bedeutet für Taftāzānī sowohl den Verstand zu verleugnen, wie ihn die Philosophen verstehen, die der Wahrheit verpflichtet sind, als auch den Sinn der geoffenbarten Schrift (aš-šarʿ). Nach der Frage der Zulässigkeit kommt Taftāzānī auf die wichtige Unterscheidung zu sprechen, ob es sich um eine körperliche oder geistige Auferstehung handle. Die Philosophen sagten, der Körper vergehe und komme nicht wieder, doch die Seele (nafs) sei reine bleibende Substanz, die nicht vergehen könne (lā sabīl ilayhi li-l-fanāʾ), und die nach Auflösung ihrer Verknüpfungen mit dem Körperlichen in die Welt der reinen bzw. abstrakten Dinge (muǧarradāt) zurückkehre.132 Taftāzānī lässt hier der philosophischen Position wiederum Raum. Aus seiner wörtlichen Formulierung lässt sich sogar ablesen, weshalb für Avicenna körperliche Auferstehung bedeutet, einen in die Heimat Zurückgekehrten erneut ins Exil zu schicken,133 da Taftāzānī formuliert, die Seele als reine Substanz (ǧawhar muǧarrad) kehre in die Welt der reinen Dinge zurück, womit er sich implizit ja auch in der Definition eingangs auseinandergesetzt hatte. Man muss sich in Bezug auf Ibn Sīnās Lehre hinzudenken, dass jede erneute Aufmerksamkeit für Körperlichkeit in dieser reinen jenseitigen Heimat den intellektuellen Fortschritt und damit die Möglichkeit, Glück in der Betrachtung Gottes zu finden, hindern würde (s. u.).134 So deutlich wollte Taftāzānī diese philosophische Sicht dann aber wohl doch nicht darlegen. Bei vielen Muslimen ist die Auferstehung dagegen rein körperlich zu sehen, da der Geist als ein feinstofflicher Körper gilt, der im menschlichen Körper zirkuliert wie Feuer in der Kohle oder das Wasser in der Rose. Taftāzānī aber schließt sich Ġazālī und dem wegen seiner besonderen Rolle in Transoxanien schon einmal erwähnten Muʿtaziliten Kaʿbī an und bestätigt die Meinung, sie sei geistig
131 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „al-falāsifatu ṭ-ṭabīʿiyūna l-laḏīna lā yuʿtaddu fi l-masʾalati wa-lā fi l-falsafa”, 89; Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 437. 132 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 89f. 133 Marmura, Michael, Avicenna and the Kalām. In: Zeitschrift für Geschichte der ArabischIslamischen Wissenschaften, 7 (1991/92), 172–206, 198; McGinnis, John, Avicenna, Oxford 2010, 124. 134 Michot, La destinée, 17f.
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und körperlich, da die Seele Unabhängigkeit (taǧarrud) besitze. Hierin sieht sich Taftāzānī auch mit den meisten Sufis, der Schia und der Karrāmīya135 einig. Er zieht den Kreis der Anhänger dieser Lehre aber noch etwas weiter, wenn er hinzufügt, hierin würden auch die meisten Christen und sogar die Anhänger einer Seelenwanderung (tanāsuḫ) übereinstimmen.136 Die Übereinstimmung mit der Meinung von Unterstützern derselben Position jenseits der Gruppe der antiken griechischen Philosophen scheint aber einer zusätzlichen Rechtfertigung zu bedürfen.137 Hierzu rekurriert Taftāzānī explizit auf Rāzī. Die Anhänger der Seelenwanderung meinten – so Rāzī – die Geister seien urewig und würden in dieser Welt wieder mit Körpern vereinigt, während die Geister für die Muslime zeitlich geschaffen seien und erst im Jenseits wieder in die Körper zurückkehrten, was einen großen Unterschied bedeute. Christen seien vor allem deshalb Ungläubige, weil sie der Lehre von der Dreifaltigkeit anhingen und nicht, weil sie auch von beiden Formen der Auferstehung sprächen, was man also nicht allein deshalb schon für Unglaube und Irrtum zu erklären brauche, nur weil auch Christen und Anhänger der Seelenwanderung in diese Richtung tendierten.138 Die ungewöhnlich lange Reihe von Unterstützern lässt schon vermuten, dass mit dieser Frage ein Kernbereich des gesamten Auferstehungskapitels erreicht ist. Unter Rückgriff auf Rāzī vollzieht Taftāzānī hier eine ähnliche Differenzierung wie zuvor bei der Philosophie. Eine andere Denkrichtung kann mit den eignen Überzeugungen parallel laufen und man muss sich nicht in allen Punkten unterscheiden.139 Eine Lehre von der geistigen und körperlichen Auferstehung müsse aber vermeiden, die geistigen Zustände nach dem Tod zu sehr zu betonen, wie es Ġazālī unterlaufen sei, der zu einigen Einbildungen gelangte (ḥattā sabaqa ilā kaṯīrin min al-awhām), was ihm bei einigen ungebildeten Menschen sogar den Ruf eines Ungläubigen einbrachte.140 Höchstwahrscheinlich spielt Taftāzānī hier
135 Auf die Karrāmīya wird noch zurückzukommen sein (s. 5.1.3). 136 Samarqandī erwähnt hier noch das Fehlen einer Auferstehungsvorstellung bei Moses und ihr Vorkommen bei Hesekiel sowie eine biblische Vorstellung, nach der die Guten zu Engeln werden, was ein Verweis auf eine geistige wie auch körperliche Auferstehung sein könnte: Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 441. 137 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 90. 138 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 90. 139 Sicher geht es Taftāzānī in erster Linie darum, wegen dieser Meinung nicht selbst des Unglaubens bezichtigt zu werden. Ob es zugleich eine Bemühung ist, eine wirklich gerecht abwägende Haltung gegenüber anderen Gruppen bzw. Glaubensgemeinschaften zu finden, lässt sich hieraus nur schwer ableiten. 140 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 90.
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auf den Beginn des Kapitels zur Auferstehung in Ġazālīs Iḥyā ʿulūm ad-dīn an, in denen jener ausführt, je mehr man sich an Dinge gebunden habe, die über den notwendigen Lebensunterhalt hinausgehen, um so mehr bringe der Tod Not und ein heftiges Seufzen mit sich: Er vergleicht dazu den Zustand des diesseitigen Menschen kurz vor der Bestattung mit jemandem, der sich in Abwesenheit eines Königs an dessen Besitz und Harem erfreut habe, den aber die plötzliche Wiederkehr des Königs überrasche, dem seine Schandtaten bis ins Kleinste zugetragen wurden und der nun wenig geneigt sei, einem milden Fürsprecher sein Ohr zu neigen und mit all seiner Macht über den Übeltäter herfallen werde.141 Er fährt fort, die Schande und die Bloßstellung sei gewaltiger als jede körperliche Strafe durch Schlagen, Abschlagen oder Ähnlichem. Diese geläuterte Sicht des Verstorbenen auf die Dinge scheint hier für Ġazālī die größte Strafe, was aber für Taftāzānī fast eine Übertreibung des rein geistigen Aspekts der Qualen darstellt, weshalb er hier für eine Balance eintritt. Er fügt zudem an, Ġazālī habe ansonsten größten Wert auf die Existenz der körperlichen Strafen gelegt und ihre Leugnung des Unglaubens geziehen.142 Aus dem Gesagten tritt deutlich hervor, dass Taftāzānī die Lehre einer körperlichen und geistigen Auferstehung vertritt. Die Lehre von den reinen Seelen (annufūs al-muǧarrida) verstößt dabei nicht gegen die Grundprinzipien der Religion, sondern stärkt diese vielleicht sogar.143 Er verzichtet aber auf die von Rāzī zu Beginn seines Auferstehungskapitels im Muḥaṣṣal vorgebrachte Überlegung, worauf ein Mensch sich bezieht, wenn er „ich“ (anā) sagt: Meint er den Körper oder das Körperliche, keines von beiden oder eine Zusammensetzung aus diesen Teilen.144 Rāzī legt durch seine Darstellungen aller Optionen von mutakallimūn und Philosophen nahe, dass der Mensch sich mit seiner Frage wohl auf körperliche und nicht körperliche Aspekte seiner selbst beziehe,145 erstere spielten vor allem bei der Wahrnehmungsfähigkeit (idrāk) des Menschen eine unbestreitbare Rolle.146 Doch auch ohne auf diese
141 Ġazālī, Abū Ḥāmid, Iḥyā ʿulūm ad-dīn I-V. Saʿīd, Muḥammad (Hg.), Kairo 2005, V, 156. 142 Damit spielt Taftāzānī auf den Tahāfut an, in dem Ġazālī seine Position so umreißt, dass es höhere als körperliche Freuden gebe, die Existenz beider Formen jedoch vollkommener als eine einzige sei: „bal al-ǧamʿu bayna l-amrayni akmal.“ Ġazālī, Abū Ḥāmid, Tahāfut al-Falāsifa, Beirut 2003, 200. 143 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „wa-amma l-qawlu bi-n-nufūsi l-muǧarradati fa-lā yarfaʿu aṣlan min uṣūli d-dīni, bal rubbamā yuʾayyiduhū.“, 90. 144 Rāzī, Muḥaṣṣal: „anā immā an yakūna ǧisman aw ǧusmānīyan aw lā ǧisman wa-lā ǧusmānīyan aw mutarakkaban ʿan hāḏā l-aqsām.“, 537. 145 Rāzī, Muḥaṣṣal, 538f. 146 Rāzī, Muḥaṣṣal, 541f.
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Überlegungen zurückzugreifen, betont Taftāzānī den körperlichen Charakter der Auferstehung, den vor allem Ibn Sīnā bestritten hatte. Schon vor der Präsentation aller Argumente deutet sich hier eine Lösung an, wenn er sagt, es schade nicht, wenn der auferstandene Körper nicht exakt dem ersten Körper entspreche, denn wie gesehen, sei ja die genaue Wiederkehr des Entwordenen nicht möglich und auch die autoritativen Texten wiesen in diese Richtung. So spricht der Koran in 4,56 […] „All dem, dessen Haut welkte, haben wir eine andere Haut zum Ersatz gegeben.“ […] Ein Hinweis auf Gottes Neu-Schöpfung in einer ähnlichen Form (an yaḫluqa miṯlahum) finde sich auch in Sure 36,81.147 Hinzu komme ein Hadith, das besage, die Menschen im Paradies seien kahl und bartlos (ǧardan wa-murdan),148 womit sie sich auch körperlich von den Erdenbewohnern unterscheiden. Ein im Jenseits abgewandelter Leib, den die Diskussion mit den Philosophen nötig macht, wenn man sich den rationalen Überlegungen nicht von vornherein verweigern will, erscheint so auch von der islamischen Textbasis her unproblematisch. Es ist aber typisch für die Struktur des Šarḥ al-Maqāṣid, dass die Diskussion hier nicht beendet wird, nachdem Taftāzānī inhaltlich gesagt hat, was seine Meinung in dieser Thematik ist. Gleich einem Protokoll der bisherigen theologischen Diskussionen bringt Taftāzānī nämlich nun wieder einen Einwand der Muʿtaziliten. Diese fordern einen Verstandesbeweis dafür, dass es für Gott eine Notwendigkeit darstelle, den zu belohnen, der die Gehorsamstaten verrichtet habe, und den zu strafen, der gesündigt habe.149 Da es aber keine Zuteilung von Lohn und Strafe ohne Auferstehung gebe, muss es sie geben, denn, „etwas, ohne dass das Notwendige nicht hervorkommen kann, ist selbst notwendig.“150 In jedem Fall, so Taftāzānī, sei es eine falsche Lehre der Muʿtaziliten, irgendeine Notwendigkeit in Bezug auf Gott anzunehmen, nach der Unterlassung eines Lohnes ein Unrecht darstelle, welches wiederum bei Gott nicht vorstellbar sei. Da zudem die Person, die Lohn oder Strafe verdient habe, eine Einheit aus Körper und Geist darstelle, reiche ihrer Meinung nach die geistige Auferstehung nicht aus. Der Wahrheit nach genommen ist aber der, der Lohn oder Strafe verdient, der Geist, da er Ausgangspunkt aller Wahrnehmungen und Willensäußerungen, Taten und Bewegungen ist. Nimmt man es aber dem Wortlaut nach, so müsste man alle erpflichtung zu HandTeile des Menschen versammeln, die ihn vom Beginn der V lungen nach dem islamischen Recht (taklīf ) bis zum Todesort ausgemacht haben,
147 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 90f. 148 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 91. 149 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 91. 150 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „li-anna mā lā yataʾtī l-wāǧibu illā bihī wāǧib.“, 91.
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obwohl dies die Muʿtaziliten nicht offen sagen. In dieser Passage argumentiert Taftāzānī nahe an der philosophischen Position, um sie gegen die Muʿtaziliten zu wenden. Sodann fordert er, „am Offenbarungsbeweis festzuhalten, wonach die Versammlung und Wiederkehr eine mögliche Sache sind, über die uns der Beglaubigende [der Prophet Mohammad, T. W.] informiert hat.“151 Dieses ontologisch Mögliche werde tatsächlich sein (yakūnu wāqiʿan) und der Handelnde sei Gott, der Macht habe über alle möglichen Dinge, nämlich die ganze Welt mit allen ihren Universalien und Partikularien.152 Zentral ist für Taftāzānī die Abweisung des muʿtazilitischen Anspruchs auf eine Notwendigkeit, die auch gegenüber Gott gilt (s. 3.1.1). Dabei folgt er der Ontologie Ibn Sīnās, die von Möglichkeiten spricht, und positioniert sie gegenüber der These einer Notwendigkeit für Gott. Um aber die Tatsächlichkeit der Auferstehung, die ihrem Wesen nach nur möglich ist (amr mumkin) zu untermauern, greift er zur Rede von der Benachrichtigung durch den Propheten, so dass sie tatsächlich ist (fa-yakūnu wāqiʿan)“153 und benutzt damit sogleich wieder eine ganz auf überliefertem Wissen basierende Argumentation. Auf dieser Ebene fährt er fort, wenn er zudem eine ganze Reihe von Koranversen anführt wie 17,51: „Doch sie werden sagen: „Wer bringt uns denn zurück?“ Sprich: „Der euch ein erstes Mal gebildet hat.“154 und 50,44: „Am Tag, da sich die Erde spaltet und sie eilends aus ihr kommen: Das ist ein Zusammenscharen, leicht für uns.“155 Hinzu kommen andere Stellen.156 Dies verweise darauf, so Taftāzānī weiter, dass die Versammlung der menschlichen Körper im Jenseits zu den unbedingten Erfordernissen der Religion gehöre und ihre Leugnung gewiss Unglaube sei.157 Mit dem Wort von den unbedingten Erfordernissen (ḍarūrāt) vermeidet er das eben zurückgewiesene Wort der Notwendigkeit (wāǧib) und leitet zugleich einen Schwenk auf die theologische Ebene in der Argumentation ein, wenn er die Leugnung dieser Koranverse als Unglauben brandmarkt. Denn nachdem sich Taftāzānī zunächst in der Abwendung der muʿtazilitischen Position sehr „philosophisch“ gezeigt
151 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „fa-l-ūlā at-tamassuku bi-dalīli s-samʿi wa-qarīrihī anna lḥašra wa-l-iʿādata amrun mumkinun aḫbara bi-hī aṣ-Ṣādiq.“, 92. 152 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 92. 153 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 92. 154 Bobzin, 246. 155 Bobzin, 463. 156 36,51 / 36,78–79 / 75,34 / 41,19–21 / 4,56 / 100,9. Taftāzānī erwähnt hier, wo die meisten Stellen aus dem Koran gesammelt sind, die allgemein auf die Auferstehung verweisen, gerade nicht diejenige, an der der Begriff maʿād verwendet wird (28,85), was auf seine eher den philosophischen Diskursen entstammende Herkunft verweist. 157 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 93.
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hatte, wendet er das Blatt nun wiederum, um den Gewissheitscharakter der Auferstehung vom Notwendigkeitscharakter abzugrenzen. Dafür geht er zunächst auf den Unterschied zwischen diesen koranischen Aussagen und solchen ein, die auf einen Anthropomorphismus Gottes oder Zwang in der Vorherbestimmung der Taten hinweisen und die deshalb definitiv allegorisch ausgelegt werden müssen. So fordert es auch Ibn Sīnā in seiner Risāla fī l-maʿād.158 Taftāzānī zieht hier allerdings Abū Naṣr al-Fārābī zur Erklärung dessen, was Philosophen unter der geistigen Auferstehung verstehen, heran: Die Zustände von Glückseligkeit der Seelen und ihre Pein nach der Trennung von den Körpern müsse in einer Weise, wie es die breite Masse verstehe, beschrieben werden. Die Propheten seien zur Gesamtheit der Geschöpfe gesandt, um sie auf den Weg der Wahrheit zu führen und ihre Seelen zu vervollkommnen. Dies geschehe durch Verlockung und Einschüchterung mit Verheißung und Drohung und der Verkündung dessen, was sie für Freude und Vollkommenheit hielten und durch Warnung davor, was sie für Schmerz und Beeinträchtigung hielten. Die meisten seien geistig nicht in der Lage, die wahren Worte und die geistigen Freuden zu verstehen und seien beschränkt auf das, was sie an sinnlichen Freuden und Schmerzen bereits erfahren hätten und an körperlicher Vollkommenheit und Mangelhaftigkeit kennen würden. Abschließend unterstellt Taftāzānī, Fārābī habe gesagt, „kalām sei wie Gleichnisse und Phantasiebilder für die [Erkenntnisse der] Philosophie.“159 Doch dies würde für Taftāzānī bedeuten, den Propheten Lüge zuzuschreiben. Eine allegorische Auslegung sei zudem nur da möglich, wo der äußere Wortsinn gleichsam eine Unmöglichkeit darstellt.160 Diese Argumentationsstrategie einer philosophischen Kritik an den innertheologischen Rivalen und einer am Wortlaut des Korans orientierten Kritik der philosophischen Position ermöglicht Taftāzānī seine Positionierung zwischen den Muʿtaziliten und den Philosophen. Nach der Ablehnung der exakten körperlichen Auferstehung und ihrer unbedingten Notwendigkeit folgt die Erklärung ihrer Gewissheit als Teil der Religion und die Bestätigung, dass ihre Leugnung Unglaube sei. Im Folgenden diskutiert Taftāzānī weitere Einwände gegen die Auferstehung, wobei der erste nochmals auf die Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen verweist, was ja schon hinlänglich diskutiert worden ist.
158 Ibn Sīnā, Risāla, 43f. 159 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 93; Rudolph, Ulrich, Abū Naṣr al-Fārābī. 4. Lehre. In: Rudolph, Ulrich (Hg.), Philosophie in der islamischen Welt I. 8.–10. Jahrhundert, Basel 2012, 408–447, 412. 160 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „innamā yaǧibu t-taʾwīlu ʿinda taʿḏḏuri ẓ-ẓāhir.“, 93.
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Das zweite Argument bezieht sich auf den Kannibalismus (law akala insānun insānan). Die Auferstehung des Kannibalen (al-ākil) und des Kannibalisierten (almaʾkūl) führen im Fall der körperlichen Auferstehung entweder zur Belohnung des Ungläubigen oder zur Peinigung des Gläubigen, da ihre Teile ja vermischt sind. Zunächst referiert Taftāzānī einen Einwand, dem er entgegnet, es handle sich ja bei der körperlichen Auferstehung nur um die grundlegenden Bestandteile (s. 4.2.1).161 Bei der Versammlung der Körper kämen also nur die grundlegenden Bestandteile in Betracht und nicht das, was erst als Ergebnis der Nahrung Bestandteil des Menschen wird. Grundlegend sei, was ihn von Beginn seines Lebens bis jetzt ausgemacht habe und diese jeweiligen Teile bestünden für beide gemäß ihrer ersten Schöpfung (awwal al-fiṭra).162 Dieser Einwand stammt aus der Risāla fī-l-maʿād Ibn Sīnās. Die entsprechenden Passagen sollen hier wiedergegeben werden: Der Mensch ist nicht Mensch durch seine Materie sondern durch seine Form, die sich in der Materie befindet und die menschlichen Handlungen gehen aus ihm nur wegen der Existenz seiner Form in Materie hervor. Und wenn die Form aufhört seiner Materie innezuwohnen, so wird die Materie wieder Staub und etwas Anderes, das aus Elementen besteht. Dieser Mensch hört in seiner Bestimmtheit auf zu bestehen.163
Das Ende des materiell bestimmten Körpers ist in der philosophischen Theorie einer rein geistigen Auferstehung zentral. Ibn Sīnā fährt fort, indem er die Konsequenzen der getroffenen Feststellung im Falle einer jenseitigen Neuschöpfung ausführt: Wenn dann in dieser bestimmten Materie eine neue menschliche Form geschaffen wird, entsteht daraus ein anderer Mensch und nicht jener Mensch, [dessen Körper diese Materie vorher gebildet hat]. […] Dann wird klar, dass der belohnte und bestrafte Mensch nicht mit Bestimmtheit derjenige ist, der Gutes oder Böses getan hat, sondern ein anderer Mensch, der an der Materie, die ersteren ausgemacht hatte, teilhat. Deshalb führt die körperliche Auferstehung (baʿṯ) nicht zur Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen sondern auch zur Belohnung derer, die nicht gut waren und zur Bestrafung solcher, die nicht böse waren. Daher sind auch die am weitesten von der Wahrheit entfernt, die von der rein körperlichen Auferstehung sprechen.164
161 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 94. 162 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 95. 163 Ibn Sīnā, Risāla: „Inna l-insāna laysa insānan bi-māddatihī bal bi-ṣūratihī l-mawǧūdati fī māddatihī. Wa-innamā takūnu l-afʿālu l-insānīyatu ṣādirata ʿanhu li-wuǧūdi ṣūratihī fī mādda. Fa-iḏḏa baṭalat sūratuhū ʿan māddatihī wa-ʿādat māddatuhū turāban aw šayʾan āḫar mina lʿanāṣir. Fa-qad baṭala ḏālika l-insānu bi-ʿaynihī.“ [Hervorhebung, T. W.], 63f. 164 Ibn Sīnā, Risāla: „Tumma iḏḏa ḫuliqat fī tilka l-māddati bi-ʿaynihā ṣūratun insānīyatun ǧadīdatun ḥadaṯa minhā insānun āḫaru lā ḏālika l-insān. […] Fa-bayyana anna l-insāna l-muṯāba
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Ein Stück weiter bringt Ibn Sīnā dann den Kern des Kannibalismus-Arguments: Und es wäre notwendig, dass der Mensch, der von Menschen (nās) gegessen wurde, was in einem Land geschehen kann, von dem man hört, dort sei der Mensch Nahrung des Menschen […] entweder nicht aufersteht (lā yubʿaṯu), denn seine Substanz ist nun Teil der Substanz eines anderen Menschen und diese Teile erstehen in jenem anderen wieder auf, oder er selbst ersteht auf (aw huwa yubʿaṯu) und der andere verliert, was zum Teil seines Körpers geworden ist, und ersteht nicht auf.165
Auffällig ist hier, dass zwar die Konkurrenzsituation um das zur körperlichen Auferstehung notwendige Fleisch klar hervortritt, das Kannibalentum aber in ein Land vom Hörensagen verlegt ist, während es bei Taftāzānī wie auch bei den anderen Vertretern des kalām allein durch das „wenn“ des Irrealis (law) eingeleitet wird. Auch Īǧī nennt diesen Einwand und argumentiert wie Taftāzānī mit den grundlegenden Bestandteilen, die beim Menschen während seines Lebens unverändert bleiben.166 Taftāzānī aber verschärft die Frage durch das Szenario, dass ein Ungläubiger einen Gläubigen essen könnte, welches er im Kommentar zu den ʿAqāʾid noch nicht vorgebracht hatte. Diese Dimension fehlt auch bei Bayḍāwī,167 Samarqandī168 und Rāzī, der aber nicht nur die Position der mutakallimūn referiert, sondern hinzufügt, dass seiner Meinung nach der Mensch, um dessen Identität es hier gehe, eine lichthafte Substanz im Körper und damit keine Materie sei, was die Probleme mit diesem Einwand lösen würde.169 Als unliebsame Folge der körperlichen Auferstehung führt Ibn Sīnā an, dass „jemand, der nicht böse war, bestraft würde“ (s. o.). Taftāzānī konkretisiert und dramatisiert diese Konsequenz, indem er das Gedankenspiel des kannibalisierten Gläubigen einführt, der in der Hölle landen könne. Dabei denkt er augenscheinlich im System von Ibn Sīnā weiter und konstruiert hieraus Konsequenzen und es ergibt sich ein ähnlicher Befund, wie ihn van Ess auch für das Vorgehen von Īǧī
wa-l-muʿāqaba laysa huwa ḏālika l-insāna l-muḥsina wa-musīʾa bi-ʿaynihī bal insānun āḫara mušārikun lahū māddatihī llatī kānat lahu. Fa-laysa iḏan hāḏā l-baʿṯu mutaʾaddiyan ilā ṯawābi lmuḥsini wa-ʿiqābi l-musīʾi bal yuṯāba fīhi ġayru l-muḥsini wa-yuʿāqibu ġayru l-musīʾi. Fa-abʿadu l-aqāwīlu ʿan ʿani ṣ-ṣawābi fī amri l-maʿādi man ğaʿala l-maʿāda li-l-badani waḥdahu.“, 65. (Hervorhebungen, T. W.). 165 Ibn Sīnā, Risāla: „wa-waǧaba an yakūna l-insānu l-muġtaḏī min an-nāsi fi l-bilādi llatī yaḥkī anna ġaḏāʾa n-nāsi fīhā n-nās […] an lā yubʿaṯu li-anna ǧawharuhū min ʿaǧzāʾI ǧawhara ġayrihī wa-tilka l-aǧzāʾu tabʿaṯu fī ġayrihī, aw yubʿaṯu huwa wa-yaḍīʿu aǧzāʾ ġayruhū fa-lā yabʿaṯ“, 79. 166 Īǧī, Mawāqif, 373. 167 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 221. 168 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 443. 169 Rāzī, Uṣūl, 129.
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formuliert hatte.170 Wesentlich erscheint aber im vorliegenden Zusammenhang nicht nur diese Zuspitzung des physikalischen Einwandes, sondern auch das allgemeinere Konzept, das bei Ibn Sīnā hinter seinen Versuchen steht, eine körperliche Auferstehung als unmöglich aufzuweisen. Sie macht für ihn vor allem keinen Sinn im Paradigma von wahrhaft Erstrebenswertem: Es ist damit klar geworden, dass die [wahre] Freude für die Substanz des Menschen, also seine Seele bei der Auferstehung – wenn sie vollkommen sein soll – keinesfalls an den Freuden gemessen werden kann, die in unserer Welt vorkommen. Gott sei gepriesen! Könnten das Gute und das Freudige, was die Substanzen der Engel auszeichnet, in Relation zum Guten und der Freude stehen, welche die Substanzen des Viehzeugs und der Raubtiere kennzeichnet.?171
Blickt man vor diesen Aussagen auf die Debatte, erscheint physikalisch ein Kompromiss möglich, auch wenn bei großer Feinheit der Bestandteile, die körperlich auferstehen sollen, natürlich noch die Frage bestehen bleibt, ob hier wirklich der identische Körper im Jenseits die Folgen seines irdischen Handelns zu spüren bekäme. Was aber gerade an den letzten Worten von Ibn Sīnā deutlich wird, ist auch eine andere Wertung der Welt, sie erscheint Ibn Sīnā ganz in Analogie mit seiner Kosmologie wenig Wert zu haben, sie ist entfernt vom Schöpfer (s. 6.1.2), bei den Theologen aber ist sie eher Werk des Schöpfers und ihre Wiederkehr oder Neuschöpfung positiv konnotiert. Diese Haltung zur Welt scheint den Hintergrund der Debatte zu bilden, doch dringt sie nicht auf das Argumentationsforum der kalām-Werke vor. Es bleibt Spekulation zu überlegen, ob hier Konventionen wirkmächtig sind, die es nicht zulassen, über das wirklich Trennende zu diskutieren, oder ob dieser Blick der des modernen Beobachters ist, der durch seinen eigenen Standpunkt vom damaligen Geschehen so weit getrennt ist, dass seine Überlegungen auf der Metaebene sogleich andere Formen annehmen. Alle Theologen sind aber gezwungen zuzugestehen, dass es sich bei der Auferstehung nicht um eine Auferstehung in dem Sinne handele, dass der ganze Körper in seiner genauen materiellen Bestimmtheit (bi-ʿaynihī) wiedererstehe. Einige Koranverse172 scheinen von einer alle Körperteile umfassenden Auferstehung zu sprechen. So Zum Beispiel 34,7: „Wenn ihr ganz und gar ent-
170 van Ess, Erkenntnislehre, 12. 171 Ibn Sīnā, Risāla: „Fa-bayyna iḏan anna l-laḏḏata llatī li-l-ǧawhari l-insānīyi aʿnī nafsahū ʿinda l-maʿādi iḏā kāna mustakamilan, laysa mimā yuqāsu ilayhi laḏḏatu qaṭṭ mina l-laḏḏāti l-mawğūdati fī ʿālaminā hāḏā. Wa-yā subḫāna Allāh! Hali l-ḫayru wa-l-laḏḏatu llatī taḫiṣṣu ğawāhira l-malāʾikati takūnu fī qiyāsi l-ḫayri wa-l-laḏḏati llattī taḫiṣṣu ğawāhira l-bahāʾimi was-sibāʿ?“ 199f. 172 Neben dem zitierten Vers auch 56,47 / 36,78 / 29,27 / 17,51.
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zweigerissen seid, siehe, dann seid ihr wahrlich neu erschaffen!“173 Dabei scheint es um die komplette körperliche Auferstehung zu gehen und nicht nur um die der grundlegenden Bestandteile. Taftāzānī bemerkt, dass diese Beispiele wohl gewählt wurden, um ein grundsätzliches Entfernt-Sein der Adressaten vom Gedanken der Auferstehung zu beseitigen. Gott nimmt hier das unwahrscheinlichste Ereignis als Beispiel für die Auferstehung, da die Rede von der Wiederkehr aus dem Nichts oder die Rede von den grundlegenden Bestandteilen „ihren Verstand nicht erreichen würde.“174 Nimmt man es genau, so greift Taftāzānī gegenüber den Anhängern einer völlig exakten körperlichen Auferstehung zum gleichen Argument wie Ibn Sīnā oder Fārābī, wenn er argumentiert, der Koran spreche bildhaft und konkret, um eine körperliche Auferstehung nahezulegen, ziele eigentlich jedoch auf eine geistige Auferstehung als physikalisch und ethisch einzig sinnvolle Vorstellung der Wiederkehr ab. Der dritte Einwand gegen die körperliche Auferstehung geht davon aus, dass die Wiederkehr ein Ziel haben müsse, denn sonst sei sie bloß ein willkürliches Spiel (ʿabaṯ). Gott könne aber kein Ziel haben, denn sonst fehle ihm etwas. Für den Menschen könne das Ziel nur in der Erlangung von Schmerz liegen, was aber eine Torheit sei, oder aber in der Suche nach waherer Freude, die es aber in der Existenz, vor allem in einer Welt der sinnlichen Wahrnehmung nicht gebe. Alles, was man sich vorstellen könne, sei Freude, die in der Freiheit von Schmerz liege, was aber im Nichts und im Tod gegeben sei, so dass mit der Wiederkehr auch keine Befreiung angestrebt sein könne. Die dritte Möglichkeit ist die Zuteilung von Schmerz, damit ihr [erneut] die Befreiung folge (al-īlām li-yaʿqubahū l-ḫalāṣ), was nicht zur Weisheit, gemeint ist hier wohl die Weisheit Gottes, passe.175 Taftāzānīs Antwort lautet, dass es erstens zunächst überhaupt kein Ziel geben müsse, und dass es zweitens abgelehnt werden müsse, Gott die Dimension des Handelns abzusprechen.176 Auf einer zweiten Ebene fährt Taftāzānī fort, auch bei Annahme eines Ziels sei die Beschränkung auf die genannten Punkte nicht akzeptabel, denn es sei ja erlaubt, dass für Gott auch in der Zuteilung von verdientem Lohn an einen Menschen ein Ziel liege. Zudem sei die Darstellung, jenseitige Freude sei nur die Abwehr (dafʿ) von Schmerz, falsch. Wie (kayfa) solle dies sein, fragt Taftāzānī, wenn keiner, der Verstand habe, daran zweifele, dass
173 Bobzin, 374. 174 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „lam yaḫṭir bi-bālihim“, 96. 175 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 96. 176 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „manʿu luzūmi l-ġaraḍi wa-qubḥu l-ḫalwi ʿanhu fī fiʿli Allāhi taʿālā.“, 96.
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Schmerz und Freude gewiss Gefühlskräfte (waǧdāniyāt) seien, also über eine je eigene Qualität verfügten, die über eine Freiheit von etwas hinausgehe.177 Die jenseitigen Freuden seien zudem nicht von der Art der diesseitigen Freuden, so dass sie auch gar keine Abwehr von Schmerz und Befreiung davon sein müssten.178
4.2.2.4 Aspekte geistiger Auferstehung Taftāzānī lässt einen Hinweis folgen, dass es nicht nötig sei, die geistige Auferstehung eigens zu beweisen, insofern die Seele unabhängig vom Körper ist und nach seinem Vergehen ewig fortdauert. Er greift aber abschließend die Problematik einer Wiederverbindung von Seele und Körper auf. Wer nach der Loslösung der Seele vom Körper ihre Verbundenheit mit einem anderen Körper annehme, den sie dann lenke, der vertrete etwas, was weder zum Verstand passe noch von irgendjemandem tradiert worden sei. Die Seele sei an die spezielle Säftemischung (mizāǧ) eines Körpers gewöhnt. Sobald diese nach der Auflösung der Empfänglichkeit des Körpers für die Seele durch den Tod wieder zurückgekehrt sei, beginne auch wieder die Verbindung der Seele mit ihm (fa-ḥīna ʿādati l-qābilīya ʿāda t-taʿalluq, lā maḥāla).179 Hierzu führt er u. a. den Vers 32,17 an: „Denn keine Seele weiß, was für sie an Freunde noch verborgen ist.“180 Ebenso folgt der Abschnitt „Doch Wohlgefallen von Gott ist größer“ aus Vers 72 Sure 9, in welchem zunächst die Bäche und Gärten des Paradieses beschrieben werden,181 weshalb hier der Verweis auf das „größere“ Wohlgefallen am besten als geistige Qualität gegenüber dem eher körperlich zu denkenden Wohlgefallen an Bächen und Gärten zu lesen ist. Zum Abschluss dieser Einheit geht Taftāzānī nochmals auf die geistige Form der Auferstehung ein. Während es ja im Verlauf der Untersuchungseinheit zahlreiche Auseinandersetzungen um die körperliche Auferstehung gab, erschien diese bisher eher allgemein akzeptiert und wurde daher auch nicht näher beschrieben. Trotzdem kann sich die Frage erheben, wie es mit der Seele nach dem Tod weitergehe, bis sie dann mit ihrem zugehörigen Körper wieder verbunden werde. Auch wenn Taftāzānī diese Frage nicht explizit formuliert, scheint sie doch im Hintergrund seines letzten Abschnittes zu stehen, der als Abschluss dieser zen-
177 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 96f. 178 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 97. 179 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 97 (Hervorhebung T. W.). 180 Übersetzung von Thomas Würtz, da bei Bobzin, Paret und Zirker das Wort nafs nicht mit „Seele“ übersetzt ist, was aber für Taftāzānī hier zentral ist. Bobzin, 363; Paret 291; Zirker 259. Koran 32,17. 181 Koran 9,72; Bobzin, 168. Die dritte von Taftāzānī genannte Stelle ist 10,26.
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tralen Untersuchungseinheit komplett übersetzt werden soll. Die genannten Koranverse (s. o.) sind in seiner Interpretation also: […] ein Hinweis auf die geistige Auferstehung. Darauf weisen ebenso diejenigen Hadithe, die im Zusammenhang mit den Geistern (arwāḥ) der Gläubigen, besonders der streng Wahrheitsliebenden (ṣiddīqīn), der Märtyrer (šuhadāʾ) und den aufrecht Tugendhaften (ṣāliḥīn) stehen, die sich in den Kehlen grüner Vögel in lichthaften Leuchtern unter dem [göttlichen] Thron aufhalten werden. Und auch wenn der äußere Wortlaut der Hadithe darauf hinzudeuten scheint, dass es sich bei den Geistern um etwas aus der Art der Körper zu handele, worauf auch der Imām der beiden Schreine [Ǧuwaynī, T. W.] verweist, wenn er sagt, es sei das Offensichtlichste, dass bei uns [d.h. wohl bei den Ašʿariten, T. W.] die Geister feinstoffliche Körper seien, die den sinnlich wahrnehmbaren Körpern ähnelten. Gott führt nun seine Gewohnheit bei Fortdauer des Lebens der Körper solange fort, wie bei dem, was ihm ähnelt [als feinstoffliche Körper, d.h. Geister, T. W.]. Und wenn er sie trennt, folgt der Tod dem Leben in der Fortdauer der Gewohnheit [Gottes]. Dann steigt der Geist mit ihm auf und erreicht die Kehlen grüner Vögel oder landet mit ihm in einem Gefängnis aus lauter Ungläubigen (sağīn min al-kaffara) worauf die Spuren [der Überlieferungen, T. W.] hindeuten. Das Leben ist ein Akzidenz, durch das die Substanz belebt wird, und auch der Geist wird durch das Leben belebt, wenn in ihm das Leben errichtet wird. Und das sagen wir über den Geist, so steht es auch im Iršād [des Ǧuwaynī].182
Taftāzānī zitiert hier die „Rechtleitung“ (K. al-Iršād) von Ǧuwaynī wörtlich183 und schließt sich der Lehre an, nach der es sich auch beim Geistigen d.h., der Seele, um etwas fast Körperliches handelt, dessen Schicksal zwischen dem Tod und der Auferstehung durch eine Fortdauer der Gewohnheit Gottes gesichert wird. Das ebenfalls im Iršād anzutreffende Hadith von Muslim,184 das eigentlich wohl als Antwort des Propheten auf eine Frage seiner Gefährten zu Vers 3; 129: „Gottes ist, was in den Himmeln und auf Erden ist. […]“185 überliefert ist, erlaubt es, sich den Aufenthaltsort des Geistigen nach dem Tod und vor der Auferstehung auch bildhaft vorzustellen.186 Dabei verallgemeinert Taftāzānī hier, wie er selbst einräumt, von dem, was über die Geister (arwāḥ) der besonders verdienten Gläubigen gesagt wird, zum Ansatz einer allgemeinen Theorie. Es ließe sich überlegen, ob die Abstraktheit der Auseinandersetzung im kalām hier dazu zwingt, Partiku-
182 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 97f. 183 al-Ǧuwaynī, K. al-Iršād 377. 184 Ṣaḥīḥ Muslim, Kitāb al-imāra, 1502 (Nr. 121). 185 Bobzin, 60. 186 In seinem Kommentar bezieht Rāzī die Aussage des Verses wegen des mā und nicht man auf die Wahrheiten (ḥaqāʾiq) und Substanzen (māhiyāt) und eben nicht auf die menschlichen Individuen. Rāzī, Tafsīr VIII, 192.
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lares zu verallgemeinern, um den philosophischen Abstraktionen ein stimmiges und überlieferungsgestütztes theologisches Konzept entgegen halten zu können. Die angedeutete Körperlichkeit mag dabei auch zur Empfänglichkeit der Seele für den spezifischen Charakter des Körpers beitragen, da ja die Tatsache des Zueinanderpassens von beiden wichtig ist, um die Gefahr der Seelenwanderung abzuwehren, die bei der Vorstellung einer Auferstehung als Widerverbindung von Körper und Seele lauert. Auffällig ist der Begriffswechsel von Seele (nafs) zu Geist (rūḥ) oder Geistern (arwāḥ) in diesem Zusammenhang. Es scheint allerdings plausibel, hier davon auszugehen, dass für Taftāzānī Ähnliches gilt wie für Rāzī: „Pour Rāzī, nafs et rūḥ sont une seule et même chose.“187 Es kann daher davon ausgegangen werden, dass auch bei Taftāzānī und den anderen Theologen eine ähnliche Parallelisierung anzunehmen ist und in jedem Fall der Teil des Menschen gemeint ist, der nicht mit dem Begriff Körper beschrieben werden kann. Nimmt man die Debatten um körperliche und geistige Auferstehung und die Wiederkehr aus dem Nichts bzw. Vereinigung der Teile zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Die rein körperliche Auferstehung in der Form des irdischen Menschen in seiner konkreten Bestimmtheit ist abzulehnen. Hier gibt Taftāzānī dem physikalischen Einwand von Ibn Sīnā weitgehend und sogar dem Einwand in Bezug auf die Verständnisfähigkeit des Menschen gegenüber prophetischer Rede teilweise Recht. Bezüglich der Frage nach „Wiederkehr aus dem Nichts“ oder „Wiederversammlung“ bei der Neukombination der körperlichen Teile mit der Seele bei der Auferstehung tendiert er eher zur „Wiederversammlung“, wobei die „Wiederkehr aus dem Nichts“ allerdings als möglich gelten muss. Da letztlich die komplette Unkörperlichkeit des körperlosen Zustandes der Seele schwer vorstellbar scheint, veranschaulicht er ihren Aufenthaltsort unter dem göttlichen Thron gemäß einem Hadith. Seine Lehre würde also besagen, dass die Seele in Form kleiner fast körperlicher Geister nach dem Tod bestehen bleibt und bei der Auferstehung mit den grundlegenden Teilen des zunächst materiell komplett verfallenen Körpers wiederverbunden wird, die zwar lange nicht den ganzen Körper betreffen, aber doch hinreichend bestimmt sind, damit die Seele den ihr zugehörigen Körper an der Säftemischung (mizāǧ) erkennen kann und damit von einer gerechten jenseitigen Bestrafung und Belohnung desjenigen Geschöpfs gesprochen werden kann, das die Taten auf der Erde vollzogen hat. In der Diskussion der Frage ergeben sich, wie gesehen, gedankliche Schwierigkeiten, denen sich Taftāzānī wesentlich direkter stellt als Īǧī, der es hier zum
187 Oulddali, Ahmed, Le problème de la connaissance. Unveröffentlichte Dissertation, Aix- en-Provence & Marseille 2007, 24.
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Beispiel dabei bewenden lässt, die Position derer, die gegen eine Versammlung der Körper bei der Auferstehung sind, zu referieren und dabei auch Seelenwanderungskonzepten Raum gibt, auf die er argumentativ keinen Bezug nimmt. Īǧī schließt seine entsprechende Untersuchungseinheit mit der Bemerkung, „es bleibe ja kaum verborgen, dass dies alles auf der bloßen Meinung beruhe, dass die Seelen urewig seien und dass sie als gänzlich abgelöst zu betrachten seien.“188 Īǧī scheint hier die Lösung eher darin zu sehen, die andere Axiomatik der Philosophen darzustellen, während Taftāzānī die argumentative Verbundenheit der Debatte erspürt und so eine umfassende tentativ gesagt theo-philosophische Lösung in der Darstellung der Auferstehung anstrebt.
4.2.2.5 Das Ende In der sich anschließenden dritten Untersuchungseinheit führt Taftāzānī aus, welche verschiedenen Aussagen zum Entwerden des Körpers (fanāʾ al-ǧism) es gebe und widmet sich näher dem Ereignis des Todes, das bisher nur als Anlass für die Trennung von Körper und Seele erwähnt worden ist. Er führt drei Möglichkeiten auf: Manche sagen, er trete durch (1) vernichtende Vernichtung (aʿdām muʿdim) oder durch (2) ein Ereignis, das gegen es gerichtet sei (ḥudūṯ ḍidd) oder durch (3) Wegfall einer Bedingung für seine Existenz (intifāʾ šarṭ) ein. Taftāzānī ordnet diese Möglichkeiten nun verschiedenen mutakallimūn zu. ʿAbd al-Ǧabbār und einige andere Mu’taziliten gingen von einer Vernichtung durch Gott ohne Vermittlung aus, bei der etwas ins Nichts verschwinde, so wie es entstanden sei. Abū l-Huḏayl sagte, es reiche ein Befehl: „Entwerde“ (ifan) wie für die Existenz der Befehl „Sei“ (kun) reiche.189 Die meisten Muʿtaziliten sprachen jedoch laut Taftāzānī davon, dass Gott einen Gegengrund gegen ihre Existenz neu schaffe (ḥudūṯ), der also im Gegensatz zur ersten Variante als Vermittlung für die Entwerdung angesehen werden könne. „Ibn Šabīb sagte, Gott schaffe in jeder Substanz ein Entwerden, dass zu einem zweiten [d.h. späteren, T. W.] Zeitpunkt sein Vergehen herbeiführe.“190 Bišr sagte, die Bedingung des Bleibens
188 Īgī, Mawāqif: „wa-lā yaḫfī anna ḏālika kullahū raǧmu bi-ẓ-ẓanni bināʾ ʿalā qidami n-nufūsi wa-taǧarrudihā“, 374. 189 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 98. 190 Ebd. Gemeint ist wohl Muḥammad b. ʿAbd Allāh, der auch Ibn Šabīb genannt wurde und der in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts lebte. Er war Schüler des an-Naẓẓām, wird allgemein als Muʿtazilit angesehen, obwohl er die Doktrin vom Zwischenstatus des Sünders ablehnte. Er tat sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Anhängern des Dualismus hervor. van Ess, Muḥammad b. ʿAbd Allāh, called Ibn Shabīb. In: EI2 Brill Online, 2013.
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schaffe Gott, ohne dass sie an einem Ort wäre. Und die meisten unserer Anhänger und Kaʿbī von der Muʿtazila sagen, das Bleiben sei beständig im Körper und Gott schaffe es dauernd (ḥālan fa-ḥālan). Und wenn Gott es nicht schaffe, vergehe die Substanz.191 Die meisten dieser Aussagen sind nun für Taftāzānī nichtig, vor allem die Aussage, das Entwerden sei ein in der Außenwelt existierender Befehl oder ein Gegengrund, der aus sich selbst bestehe.192 Taftāzānī ist somit von der Position überzeugt, es entfalle die Bedingung des Fortdauerns. In der vierten Untersuchungseinheit stellt Taftāzānī den Streit dar, der darum geführt wird, ob die Versammlung am Jüngsten Gericht eine Schöpfung nach der Entwerdung oder ein Zusammensetzen des Verstreuten sei. Es gibt keinen zwingenden Hinweis in der Offenbarung, der die eine oder andere Position als die richtige bestimmen würde.193 Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Körper der Menschen so veränderten, dass sie wie Körper des Staubes würden (ʿalā ṣiffat aǧsāmi t-turāb) und anschliessend ihre eigentliche Anordnung (tarkīb) wiederkehre, aber es sei auch nicht unmöglich, dass etwas von den Körpern gänzlich verschwinde und dann zurückkehre.194 Man kann nämlich den Koranvers 57,3: „Er ist der Erste und der Letzte […]“ so deuten, dass alles außer Gott einmal ins Nichts vergehe und dass dies nicht nach der Auferstehung geschehen könne – wovon die folgenden Abschnitte noch handeln werden – was dazu führe, dass alles vor der Auferstehung einmal zum Nichts werden müsse und daher aus dem Nichts zurückkehren würde. Taftāzānī antwortet, dass Gott der Anfang (mabdaʾ) aller Existenz und das Ende bzw. Ziel aller Absichten sei, oder dass er es sei, der nach dem Tod aller Lebewesen bestehen bleibe. Es verhalte sich mit der Aussage überdies so, als ob jemand sage, dieser sei sein erster und letzter Besucher, um auszudrücken, es gebe keinen Besucher, der ihm in seiner Bedeutung gleichkomme.195 Ohne dass es Taftāzānīs Ziel ist, diese Position als endgültig zu verwerfen – er lässt die Entscheidung am Ende offen – ist es beachtlich, wie er hier gleich mehrere Argumente vorbringt, wobei er zunächst von der realen Zeitfolge abstrahiert und auf die Ebene der Wichtigkeit Gottes als Ziel aller Handlungen oder als Spender des Lebensunterhaltes wechselt. Daran fügt sich noch ein Argument aus dem Sprachgebrauch an.
191 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 98f. 192 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 100. 193 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 101. 194 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 101. 195 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 102.
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In eine ähnliche Richtung lässt sich Vers 28,88 deuten: „[…] Alles vergeht – nur sein Antlitz nicht! […]“196 Hier setzt Taftāzānī unmittelbar mit der Wiedergabe einer Überlegung ein, dass das mit dem Vergehen Gemeinte nicht einfach der Verlust des Nutzens sein könne. Denn der Nutzen jeder Sache, als Beweis (dalīl) für den Schöpfer zu dienen, bleibe auch nach der Vereinzelung (tafarruq) einer Sache, die sie nutzlos werden ließe, weiterhin erhalten.197 Nur die völlige Entwerdung (inʿidām) kann wohl deshalb mit dem zitierten Vers gemeint sein, denn nur aus dem Nichts heraus gibt es keinen Hinweis einer Sache mehr auf ihren Schöpfer. Taftāzānī entgegnet, „dass das Mögliche das Verderben in sich selbst trägt, da es als Mögliches die eigene Existenz nicht verwirklichen kann außer insofern, als es eine Ursache hat.“198 Es muss nicht alles gleichzeitig ins Nichts entschwunden sein um die Aussage wahr werden zu lassen. Gemeint ist also mit dem Vers die ontologische Trennung von jedem geschaffenen Ding einerseits und dem Antlitz Gottes als pars pro toto für Gott selbst andererseits. Es geht daher nicht mehr um eine zeitliche Konstellation, in der das Gesicht Gottes ohne alle anderen Dinge existiere, so wie es diejenigen verstanden haben, die den Vers unbedingt als einen Beweis für das Entwerden aller Dinge ins Nichts gedeutet haben. In seiner Deutung greift Taftāzānī implizit auf Ibn Sīnā zurück, der in den Ilāhīyāt des Šifāʼ definierte hatte: „Was das notwendig Existierende betrifft, so hat es keine Ursache.”199 Wenig später fährt er im Kontrast dazu fort: „Alles was im Bezug auf sein Wesen möglich existierend ist, so sind seine Existenz und seine Nichtexistenz alle beide nur durch eine Ursache gegeben.“200 Damit wird deutlich, dass Taftāzānī hier eine ontologische kausallogische Unterscheidung aus der Philosophie aufgreift. Er präsentiert dies aber nicht als Durchbruch oder besondere Einsicht, sondern bettet diese Interpretationsmöglichkeit in weitere Interpretationen ein.201 So könne ebenso die Beendigung des Nutzens gemeint sein, um dessen willen die Sache geschaffen wurde, selbst wenn es auch für etwas Anderes gut
196 Bobzin, 343. 197 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 102. 198 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „aǧību bi-anna l-maʿnā annahū hālikun fī ḥaddi ḏātihī likawnihī mumkinan lā yastaḥiqqu l-wuǧūd illā bi-n-naẓari ilā l-ʿilla“, 102. 199 Ibn Sīnā, al-Ilāhiyāt min aš-Šifāʼ I: „ammā anna l-wāǧibā l-wuǧūdi [sic] lā ʿīllata lahū“, 38. 200 Ibn Sīnā, al-Ilāhiyāt min aš-Šifāʼ I: „kullu mā huwa mumkinu l-wuǧūdi bi-iʿtibāri ḏātihī fawuǧūduhū wa-ʿadamuhū kullahumā bi-ʿilla“, 38. 201 Die Abweisung des Arguments der Muʿtazila durch den Rückgriff auf die philosophische Definition von mumkin al-waǧūd greift auch Muḥammad Nāṣīf auf, doch verzichtet er auf die Nennung der Ursache und bleibt bei der Wortwahl Īǧīs (ḍaʿf). Er verzichtet ebenfalls auf den philosophischen Ursprung dieser Lehre zu verweisen. Nāṣīf, as-Samʿīyāt, 171.
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sei. Mit Verderben (halāk) könne dann der Verlust des ursprünglich mit seinem Zustand verbundenen Nutzens gemeint sein wie zum Beispiel eine verdorbene Speise, die aber für etwas Anderes noch genutzt werden könne.202 Das Argument entstammt wieder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch bezüglich halāk, und befindet sich natürlich auf einer ganz anderen Ebene als das ontologische Argument, das er aber in der folgenden Untersuchungseinheit nochmals aufnimmt (s. u.). Zum anderen kann man hier auf den Sprachgebrauch des Korans zurückgreifen, wenn in Vers 4,176 steht: „Wenn ein Mann stirbt,“ wo halaka synonym mit māta (sterben) verwendet wird.203 Taftāzānī referiert abschließend auch die Aussage, jede Tat werde vergehen, die nicht auf das Angesicht Gottes ausgerichtet gewesen sei, also vor seinen Augen Bestand hätte. Sie müsse vergehen, da man auf ihr nicht fest stehen könne. Eine Stellungnahme hierzu bleibt er schuldig, doch vielleicht gilt hier, wer schweigt, scheint zuzustimmen. Weitere Verse wie 30,27: „Er ist es, der die Schöpfung ein erstes Mal vollbringt und sie dann wiederholt. […]“204 Und 21,104: „[…] Wie wir die erste Schöpfung begonnen haben, so werden wir sie wiederholen. […]“205 scheinen auch auf eine neue Schöpfung aus dem Nichts zu verweisen. Allerdings wendet Taftāzānī hier ein, „dass er nicht einwilligt, dass mit Beginn der Schöpfung gemeint sei, dass es ein Hervorbringen oder ein Herausbringen aus dem Nichts sei, sondern vielmehr ist es eine Zusammenfügung und eine Anordnung, worauf auch Vers 32,7 verweist“206: „Er, der da alles, was er schuf, gut machte und der mit Lehm begann des Menschen Schöpfung.“207 Die Aussage, Schöpfung sei auch eine Anordnung (tarkīb) untermauert Taftāzānī mit 40,67: „Er ist es, der euch erschuf aus Staub […]“.208 Die Leute der Sprache (ahl al-luġa), gemeint sind wohl Grammatiker, seien sich einig, dass „Hervorbringung“ oder „Schöpfung“ sowohl auf einen Vorgang der Entstehung aus Materie hindeuten können als auch auf einen solchen ohne Materie, wie es bei der Schöpfung der Welt durch Gott gewesen sei.209 (s. 6.2.2.2) Somit bleibt kein zwingender Grund aus der Offenbarung abzuleiten, dass es sich bei der Auferstehung um eine Neuschöpfung aus dem Nichts handeln muss,
202 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 102f. 203 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 103. 204 Bobzin, 353. 205 Bobzin, 286. 206 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V: „lā nusallimu anna l-murāda bi-ibdāʾi l-ḫalqi l-īǧādu wa-lḫarāǧu ʿani l-ʿadami bal al-ǧamʿu wa-t-tarkīb.“, 103. 207 Bobzin, 362. 208 Bobzin, 418. 209 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 103.
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welche Taftāzānī zwar entgegen der philosophischen Lehre nicht für unmöglich hält, welche er aber in der eigenen Lehre auch nicht postulieren oder gegenüber der Alternative einer Neukombination der zerstreuten Materie privilegieren will. So schickt er sich nun an, auch Verse zu zitieren, die darauf abzielen, dass die Auferstehung in einer Belebung nach dem Tod und in einer Wiedervereinigung der Teile bestünde (al-ǧamʿ baʿda t-tafarruq).210 Hier sind vor allem das Wort Abrahams an Gott in 2,260: „Mein Herr, lass mich sehen, wie Du die Toten lebendig machst.“211 und in Vers 2,259: „Oder jemand wie den, der an einer Stadt vorüberging, [die war zerstört bis auf den Grund. Er sprach: “Wie kann sie Gott nach ihrem Untergang wieder aufleben lassen?“]212 als Belege wichtig. Die Aussagen aus diesen zwei Versen, die hier bei Taftāzānī aufeinander folgen, hat auch schon Zamaḫšarī in ihrer inhaltlichen Verbindung hinsichtlich der Auferstehungsfrage interpretiert.213 Sowohl Abraham, als auch der Mann, den Zamaḫšarī spekulativ mit ʿAzīr (Lazarus) oder al-Ḫiḍr in Verbindung bringt, fragen nämlich nach dem Wesen der Auferstehung. Auf Abrahams Frage antwortet Gott mit der Aufforderung, vier Vögel zu zerteilen und die Teile auf vier Bergen zu deponieren und sie dann zu rufen: „so werden sie eilends zu dir gelaufen kommen!“ Der folgende Versteil „Wisse: Gott ist mächtig, weise!“214 dient als Bestätigung, dass es so auch geschehen sei. Während diese Geschichte damit klar von einer Auferstehung erzählt, die sich durch eine Zusammensetzung von Teilen vollzieht, verbleibt die Geschichte des nicht sicher näher bestimmbaren Mannes eher in der Schwebe. Er wird nach seiner Frage, wie denn die Stadt, an der er vorbeikam, wieder lebendig werden solle, von Gott für hundert Jahre in den Schlaf versenkt, bevor Gott ihn wieder aufweckt (baʿaṯahū). Auf Gottes Frage, wie lange er denn meine geschlafen zu haben, antwortet er, einen Tag oder etwas mehr. Doch Gott erklärt ihm, er habe hundert Jahre geschlafen und er solle nun auf seine Speisen und auf seinen Trunk blicken, die doch unverdorben seien und auch der Blick auf seinen Esel lehre ihn, dass dieser unverändert geblieben sei.215 Er akzeptiert so das göttliche Wunder: „Jetzt weiß ich: Gott ist aller Dinge mächtig.“216 Man kann meinen, dass es hier doch eher um Schlaf und Konservierung gehe und eben nicht um Zerfall
210 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 104. 211 Bobzin, 42. 212 Bobzin, 42 213 Zamaḫšarī, Kaššāf I: „ka-annahū qīla: a raʾayta ka-llaḏī ḥāǧǧ Ibrāhīm aw ka-llaḏī marra ʿalā qarya“, 318. 214 Koran, 2,260, Bobzin, 42. 215 Koran, 2,259. 216 Bobzin, 42.
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und anschließende Zusammenfügung, doch interpretiert Zamaḫšarī den Vers so, dass der Esel zwischenzeitlich, wie es natürlich ist, gestorben, in Teile zerfallen und zerfressen worden sei, und doch habe der Mann seinen Esel so vorgefunden, wie er ihn angebunden habe.217 Hier interpoliert Zamaḫšarī implizit den Tod und die Verwesung des Esels und nimmt eine neuerliche Zusammenfügung des Esels durch Gott kurz vor Erweckung des Mannes an. Er lässt aber auch die eigentlich textnähere Lesung zu, dass Gott den Esel ebenso wie Speise und Trunk des Mannes über die gesamte Zeit erhalten habe und erblickt hierin das noch größere Wunder.218 Die erste Erklärung Zamaḫšarīs ist aber für die folgende Interpretation des Verses wesentlicher.219 So bedient sich auch Taftāzānī hier dieser ersten, den Text ergänzenden Lesung von Zamaḫšarī, die davon ausgeht, dass der Esel im Verlauf der hundert Jahre gestorben, verwest und anschließend wieder zusammengesetzt worden sei. Dies spricht im Kontext der Untersuchungseinheit für die Alternative, die Auferstehung sei eine Wiedervereinigung des Zerfallenen und keine Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen. Taftāzānī weist abschließend darauf hin, dass diese Verse zwar eine Auferstehung darstellen, die eine Zusammenfügung nach der Trennung beschreibt, ohne dass es dabei etwas gibt, was man ein Entwerden ins Nichts nennen müsse. Er legt aber, was nach den Ausführungen im ersten Teil dieser Untersuchungseinheit etwas überraschen mag, doch wert darauf, dass sie einer Entwerdung ins Nichts nicht direkt widersprechen.220 Es legt sich damit Folgendes nahe: Einerseits hatte er zunächst versucht, die Verse, die eine Phase des Nichts zwischen dem Leben und der Auferstehung annehmen, so zu lesen, dass diese nicht zwingend ist. Andererseits wird erneut deutlich, dass er die ontologische Möglichkeit dieses zwischenzeitlichen Nichts keinesfalls abstreiten will, selbst wenn es Koranverse gibt, in denen diese Möglichkeit nicht angesprochen ist und eher eine Zusammenfügung der Teile naheliegt. Wäre es ihm nur um eine koranisch fundierte Lehre gegangen, hätte er sich besonders durch das Beispiel der Wiederbelebung der vier Vögel bei Abraham bestätigt und allein für die Option der Zusammenfügung plädieren können. Obwohl also in der Argumentation von Taftāzānī zwischenzeitlich eine Tendenz erkennbar zu werden schien, die Entwerdung ins Nichts vor der Auferstehung abzulehnen, zumal er ja dafür auch die Ontologie des möglich Seienden nach Ibn Sīnā bemüht hatte, ist in seinen abschließenden Worten zu dieser
217 Zamaḫšarī, Kaššāf I, 320. 218 Zamaḫšarī, Kaššāf I, 320. 219 Asad, Die Botschaft des Koran, 96. 220 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 107.
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Thematik deutlich erkennbar, dass er sich in dieser Frage eines Urteils enthalten will (tawaqquf). So hatte er es ja auch einleitend angekündigt. Um zu erklären, warum er in einer letztlich unentscheidbaren Frage, die jede Erfahrung transzendiert und in der sich im Koran so verschieden auslegbare Verse finden, doch so umfassend abwägt, was z. B. Īǧī nicht einmal im Ansatz für nötig befunden hatte, lässt sich vielleicht folgende Strategie ausmachen: Es mag ihm deutlich geworden sein, wie schwierig die Pfade der Argumentation werden, wenn man sich auf die physikalischen Überlegungen einlässt, die eine Auferstehung schwer vorstellbar erscheinen lassen. Die Frage des genauen „wie“ im Übergang von der einen Welt zur anderen erscheint auf dieser Ebene zugespitzt. Hier verschiedene Varianten als mögliche Alternativen für Gott darzustellen, nimmt der Debatte sicher etwas Schärfe. Eine Auferstehung, die auf zwei Arten denkmöglich ist, wirkt gesicherter als eine in einer der beiden Varianten festgelegten Lehre, die dann gleich wieder direkt attackiert werden könnte. Die gründliche Untersuchung der Materie kann zudem in dem Sinne wirken, als dass eine Enthaltung im Urteil dann nicht als Ausweichen vor der Komplexität der Materie erscheint, sondern als logische Folge aus der Bearbeitung der Thematik. Im Kontext zeitgenössischer islamwissenschaftlicher Debatten ließe sich die Enthaltung im Urteil über das genaue „wie“ der Auferstehung auch mit aller Vorsicht als eine Haltung von Ambiguitätstoleranz in der Begrifflichkeit von Bauer deuten. Immerhin ist Taftāzānī Zeitgenosse von Autoren wie Ǧazarī (st. 1429), der auch in Samarkand an Timurs Hof lebte (s. o.), oder ʿAsqalānī (st. 1449), die Bauer hier besonders hervorhebt.221 Vom bloßen Befund der nebeneinander stehenden Lösungen muss bei Taftāzānī in diesem Zusammenhang aber keine Wertschätzung der Ambiguität im Sinn einer „Gnade für die Gemeinde“222 vorliegen. Das letztliche offen Lassen einer solchen Frage kann immer auch einzig pragmatischer Ausweg in einer hochkomplexen Thematik sein. Inhaltlich schließt sich im Šarḥ al-Maqāṣid die Frage nach den beiden Orten an, in welche die menschliche Auferstehung führen wird: Paradies und Hölle.
4.2.2.6 Paradies und Hölle Die fünfte Untersuchungseinheit wendet sich den Jenseitsorten selbst zu und beg innt mit der direkten Aussage, Paradies und Hölle seien bereits geschaffen.223 Da bei Taftāzānī die vorherige Diskussion einen zusätzlichen Untersuchungsgegenstand
221 Bauer, Ambiguität, 23. 222 Bauer, Ambiguität, 16. 223 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 107.
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in Šarḥ al-Maqāṣid darstellt, ist die Diskussion der Jenseitsorte bei Īǧī in den Mawāqif erst der vierte Untersuchungsgegenstand. Die ašʿaritische Glaubenslehre steht auch hier wieder im Gegensatz zu einigen Muʿtaziliten, die der Ansicht waren, beides werde erst geschaffen, wenn der Jüngste Tag komme.224 Dabei findet sich hier der Niederschlag einer theologischen Debatte, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts bzw. des 2. Jahrhunderts nach der Hiǧra begonnen hatte, da der Koran ja, wie eingangs gesehen, ein reiches Bild der Geschehnisse im Paradies und in der Hölle entwirft, aber keine direkte Aussage macht, wann beide Orte geschaffen wurden bzw. werden und ob sie dauerhaft bestehen werden.225 Erste Stellungnahmen zu dieser Thematik gehen davon aus, dass beide Orte schon geschaffen sind,226 wofür besonders Sure 3 Vers 133 als Offenbarungsargument dient: „Begebt euch eilends zur Vergebung von Seiten eures Herrn und zu einem Garten, breit wie die Himmel und die Erde, der den Gottesfürchtigen bereitet ist.“227 Das Wort „bereitet sein“ (uʿiddat) wird so ausgelegt, als seien beide Orte bereits geschaffen.228 Der Muʿtazilit Ḍirār b. ʿAmr hatte allerdings als erster die These vertreten, beide Orte würden erst in Zukunft erschaffen.229 Diese Auffassung ist es, die Īǧī und Taftāzānī hier als falsche muʿtazilitische Position zurückweisen. Um dies zu untermauern, wird die Frage in den Kontext der Geschichte von Adam gestellt. Die Annahme, dass der Garten (arab. al-ǧanna gleichlautend wie der jenseitige Paradiesesgarten),230 in dem sich Adam und Eva (arab.: Ḥawwāʾ) vor ihrer Vertreibung aufhielten,231 identisch mit dem jenseitigen Paradies sei, wird von Īǧī in den Mawāqif schlicht postuliert (Ādam wa-Ḥawwāʾ sakānuhumā al-ğanna).232 Taftāzānī allerdings bekräftigt diese Identität mit deutlicheren Worten, denn etwas anderes anzunehmen, wäre Spott für die Religion (talāʿub ad-dīn) und riefe zudem den Widerwillen (marāġama) der
224 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 107; Īǧī, Mawāqif, 375. Dies entspricht auch dem Befund in der Forschung, wonach Abū ʿAlī al-Ğubbāʾī (st. 915) und Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī (st. 1044) und auch Abū l-Huḏayl (st. 850) und Bišr b. al-Muʿtamir (st. 825) von einer früheren Schöpfung des Paradieses ausgingen. Abrahamov, Binyamin, The Creation and Duration of Paradise and Hell in Islamic Theology. In: Der Islam 79 (2002), 87–102, 91; van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 552. 225 Abrahamov, Creation and Duration, 87. 226 Abrahamov, Creation and Duration, 87f. Abrahamov nennt hier explizit Abū Zurʿa ʿUbaydallāh ar-Rāzī (st. 878) und Abū Ḥatim Muḥammad ar-Rāzī (st. 890). 227 Bobzin, 60. 228 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 552. 229 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 552. 230 Koran 2,35/ 7,19, Abrahamov, Creation and Duration, 89. 231 Koran 2,35–39, (Bobzin, 13). 232 Īǧī, Mawāqif, 375, Abrahamov, Creation and Duration, 88.
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Muslime hervor.233 Da es keine Aussage zur alleinigen Schöpfung des Paradieses gibt, folgert er, müsse die Hölle gleich mitgeschaffen sein,234 was so auch den etablierten Traditionen entspricht.235 Daneben dienen für Taftāzānī auch andere Koranverse zum Beweis der Geschaffenheit. So nennt er den erwähnten Vers 3,133 und auch Vers 2,24: „Für die Ungläubigen ist es [das Feuer, T. W.] vorbereitet.“236 Und auch Sure 26,90–91: „Der Paradiesesgarten wird für die Gottesfürchtigen herbeigebracht, und die Feuerhölle wird den Irrenden gezeigt.“237 Dabei handelt es sich um ein Geschehen, das am Tag der Auferstehung ablaufen wird, doch nach Taftāzānī bezieht es sich auf die Vergangenheit. Daraufhin wendet er sich den Einwänden gegen die zeitliche Existenz von Paradies und Hölle vor dem Jüngsten Gericht zu, denn vor allem bei der Muʿtazila herrschte, wie schon angedeutet, die Überlegung vor, dass der Koran ja keine Aussage zum Bestehen von Paradies und Hölle mache, und Gott beide Orte erst schaffen werde, wenn sie zur Aufnahme ihrer Bewohner auch gebraucht würden. Diese Position assoziiert Taftāzānī mit einer Mehrheit der Muʿtaziliten, wenn auch nicht alle diese Auffassung vertraten.238 Auch der Muʿtazilit Zamaḫšarī sieht bei uʿiddat nur die Frage als relevant an, ob es so zu lesen ist, dass es „zahlreiche“ Qualen gibt (uʿiddat von ʿidda – Anzahl) oder ob es sich um eine Vorbereitung der „notwendigen Ausrüstung“ handelt (im Sinne, dass uʿiddat in Beziehung zur Bedeutung ʿudda steht).239 Einen Bezug zum Zeitpunkt der Schaffung von Paradies und Hölle erwähnt er hier nicht. Diejenigen Muʿtaziliten wie Abū Hāšim,240 der Sohn von Ǧubbāʿī, und auch ʿAbd al-Ǧabbār (st. 1025), welche Taftāzānī hier namentlich erwähnt, die trotzdem von einer künftigen Schöpfung beider Orte ausgingen, begründeten es in mehreren Hinsichten: Die erste Möglichkeit bestehe darin, die Existenz von Paradies und Hölle vor dem Tag der Vergeltung als schnödes Spiel (ʿabaṯ) zu betrachten, doch die Schwäche des Argumentes sei offensichtlich (wa-ḍaʿfuhū ẓāhir).241 Hier bezieht sich Taftāzānī sehr wahrscheinlich auf die schon erfolgte Diskus-
233 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 108f. 234 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 109. 235 Abrahamov, Creation and Duration, 90f. 236 Bobzin, 12. 237 Bobzin, 321. 238 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 108; Abrahamov, Creation and Duration, 91. 239 Zamaḫšarī, Kaššāf I, 118. 240 Von Abū Hāšim sind keine Werke erhalten. Sein Beitrag zur theologischen Lehre wird hauptsächlich in der Attributenlehre gesehen, in die er das Konzept des ḥāl einführte. Vgl. Gardet, Louis, Al-Djubbāʿī. In: EI2 Brill online, 2013. 241 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 107.
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sion, dass es für die Auferstehung generell kein Ziel gebe und sie daher insgesamt zurückzuweisen sei. Dazu hatte er schon gesagt, dass es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass Gott ein Ziel haben müsse (s. o.). Doch es gibt in dieser Angelegenheit einen ernsteren Einwand, der auf der Offenbarung beruht. Wären beide Orte nämlich schon geschaffen, müssten sie nochmals vergehen, da es in dem schon zitierten Vers heißt, alles außer Gottes Antlitz vergehe. Dieses Gegenargument, das Taftāzānī auf Abū Hāšim zurückführt, besagt, dass die Koranverse 13,35: „Das Essen in ihm [dem Paradieses, T.W.] (akluhā) wird ewig dauernd sein (dāʾimun).“242 und der schon zitierte Vers 28,88: „Alles vergeht – außer Seinem Antlitz“ in Widerspruch geraten, wenn beide Orte schon geschaffen wären.243 Denn dann müsste ja alles inklusive der Jenseitsorte nochmals vergehen und so wäre auch die Nahrung der Paradiesesbewohner betroffen. Taftāzānī antwortet hier weitaus ausführlicher als in Šarḥ al-ʿAqāʾid, wo er hauptsächlich eine kurze Unterbrechung des Essens angeführt hatte und nur in einem Halbsatz auf eine weitaus abstraktere Interpretation von „Vergehen“ als „Möglichkeit [der Existenz]“ verwiesen hatte (s. o.). Im Hauptwerk lässt sich aber auch durch den Vergleich mit den Referenzwerken hier noch eine weitreichendere Überlegung anschließen. Taftāzānī führt an, dass Vers 28,88, der vom allgemeinen Vergehen spricht, als eine Spezifizierung (taḫṣīṣ) aller Verse zum Vergehen angesehen werden muss und dass das Vergehen (halāk) nicht als Entwerden (fanāʾ) interpretiert werden muss.244 Darauf hatte er ja schon bei der Diskussion des Verses in der vorherigen Untersuchungseinheit angespielt, als er ihn darauf untersucht hatte, ob der Vers impliziere, dass alles vor der Auferstehung ins Nichts vergehe. Schon dort hatte er ihn als Verweis auf die ontologische Schwäche des möglich Seienden, das ohne seine Ursache nicht existieren kann, gedeutet und ihn der zeitlichen Bedeutung, die hier problematisch ist, entkleidet. Da Īǧī, wie schon erwähnt, keine eigene Untersuchungseinheit zur Frage der Entwerdung oder Zerteilung des Existierenden im Šarḥ al-Maqāṣid aufgenommen hat, erscheinen der Vers 28,88 und seine Implikationen hier bei ihm zum ersten Mal im Rahmen des maʿād-Kapitels. Nach dem Argument, dass ewiges Essen schwer vorstellbar wäre und vor der Bemerkung, die Unterbrechung durch das allgemeine Vergehen könne so kurz sein, dass es im Paradies gar nicht bemerkt würde, fügt er die Überlegung ein, „dass hier das Vergehende (hālik) im Rahmen seiner eigenen Definition gemeint ist, da es für die Schwäche des [nur] möglich
242 Übersetzung Thomas Würtz (Für die Gründe der eigenen Übersetzung s. 4.2.1). 243 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 109. 244 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 109.
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Existierenden steht, und mit dem Vergehen (hālik) ist das Ins-Nichts-Entwerden (maʿdūm) verbunden.“245 Īǧī scheint hier die viel stärkere Entkräftung des Einwandes über die ontologische Kategorie des nur der Möglichkeit nach Existierenden aber nicht in den Vordergrund stellen zu wollen. Er nennt es zwischen den weit weniger anspruchsvollen Varianten, die den Einwand entkräften könnten und zudem verzichtet er darauf, die „Schwäche des nur der Möglichkeit nach“ Existierenden gemäß Ibn Sīnā zu präzisieren, wie Taftāzānī es in der vorherigen Untersuchungseinheit getan hatte, als er davon sprach, dass der Möglichkeit nach Existierende den Grund für seine Existenz nicht in sich trage. Eine Abgrenzung von hālik und maʿdūm scheint Īǧī zudem weit weniger ein Anliegen gewesen zu sein, als es dies für Taftāzānī ist, der dieser Frage eine Untersuchungseinheit gewidmet hatte und dort auch die ontologische Interpretation des Verses vorgeschlagen hatte, auf die er nun in dieser explizit theologischen Debatte verweist. Dabei führt er die ontologische Interpretation hier anders als Īǧī auch als erste Möglichkeit an, dem Einwand zu begegnen und erwähnt erst danach die Möglichkeit eines Entwerdens des Paradieses für einen einzigen Moment, der kaum eine Beeinträchtigung der ewigen Dauer darstelle. Rāzī erwähnt in seinem Kommentar diese theologische Debatte, hebt aber vor allem auf das Argument ab, der Zeitraum der Dauer des Vergehens könne ja kurz bemessen gewesen sein.246 Allerdings begründet Rāzī in einer weit ausführlicheren Weise, dass dieser Vers von den Theologen zuvor als Hinweis darauf gedeutet wurde, dass die Welt zeitlich geschaffen ist und dass Gott im Gegensatz dazu als notwendiger Weise existierend (wāǧib al-wuǧūd) gekennzeichnet werden kann, da er dem Raum, der Zeit und der Kategorie des Möglichen enthoben ist.247 Es wäre nicht auszuschließen, dass diese allgemeine Interpretation des Verses dann ca. zwei Jahrhunderte später für die jenseitsrelevante Spezialfrage nach der präapokalyptischen Existenz von Paradies und Hölle fruchtbar gemacht und zunehmend auf sie zugeschnitten wurde. Für beide Autoren scheint es also ein gangbarer Weg zu sein, den Widerspruch allerdings beider Koranverse mit dem ontologischen Argument zu lösen. Īǧī versteckt die Lösung gleichsam zwischen den schwächeren Argumenten und Taftāzānī bringt die entscheidende Bezugnahme auf Ibn Sīnā im Šarḥ al-Maqāṣid außerhalb der entscheidenden theologischen Streitfrage, was es ihm ermöglicht, später darauf zu verweisen. Im Kommentar zu den ʿAqāʾid hatte er das Argument
245 Īǧī, Mawāqif: „annahū hālikun fī ḥaddi ḏātihī li-ḍaʿfi l-wuǧūdi l-imkānī fa-ʾiltaḥaqu bi-lhāliki al-maʿdūm“, 375. 246 Rāzī, Tafsīr XXV, 22. 247 Rāzī, Tafsīr XXV, 20.
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aber direkt bei der Diskussion der beiden relevanten Verse vorgebracht, was anzudeuten scheint, dass er den Bezug zu den Begrifflichkeiten von Ibn Sīnā deutlicher hervortreten lässt (Nennung des Wortes ʿilla – „Ursache“ als Definitionskriterium) als Īǧī, der das Argument nicht nur versteckt, sondern auch bloß von der „Schwäche“ (ḍaʿf ) des möglich Seienden spricht. Bayḍāwī spricht zwar davon, dass das Vergehende ins Nichts entwird und das Nichts dabei plötzlich über es kommt,248 verweist aber nicht auf die Kategorie des nur möglich Seienden. Es ergibt sich in jedem Fall ein Bild, in welchem Argumente ungeachtet ihrer Herkunft aus philosophischen und theologischen Debatten miteinander verknüpft werden und ineinander greifen können, was auch dem Befund aus der Diskussion um die körperliche Auferstehung entspricht (s. o.). Nachdem somit ein aus der Offenbarung abgeleitetes Argument gegen die gegenwärtige Existenz von Paradies und Hölle abgewiesen werden konnte, geht Taftāzānī noch zu einem rational begründeten Einwand über, der darauf hinaus läuft, dass kein Ort vorstellbar ist, an dem die Jenseitsorte jetzt schon existieren könnten und der auch schon in Šarḥ al-ʿAqāʾid angeklungen ist (s. o.). Īǧī behandelt ihn inhaltlich recht ähnlich, wobei er aber einen ʿAbbād namentlich nennt, auf den dieser Einwand zurückgehe.249 Dabei handelt es sich wohl um den Muʿtazliten ʿAbbād b. Sulaymān (st. 864) aus Basra, auf den van Ess diesen Beweis – wenn auch nicht die Position selbst – zurückführt.250 Taftāzānī nennt hier ʿAbbād zwar nicht, schildert jedoch dessen Argument ausführlich. Paradies und Hölle müssten, wenn sie denn schon geschaffen wären, entweder in den Himmelssphären (aflāk) oder den irdischen Elementen (ʿanāṣir) oder in einer gänzlich anderen Welt (ʿālam āḫar) lokalisiert werden. Doch alle diese drei denkmöglichen Orte erweisen sich als de facto unmögliche Orte, denn an keinem von ihnen könne man vor dem Untergang der Welt eine Existenz von Paradies und Hölle annehmen. Die Himmelssphären können nicht durchbrochen werden und können auch nicht mit den Elementen vermischt werden. Dies hätte aber geschehen müssen, wenn Adam beim Verlassen des Paradieses und seinem Niederstieg auf die Erde die Himmelssphären durchquert hätte. Eine Existenz in der irdischen Welt der Elemente könne nicht angenommen werden, da vom Paradies gesagt werde, es sei breiter als die Erde und die Himmel und zudem ereigne sich in diesem Fall bei der Auferstehung eine Seelenwanderung, insofern die Seele im Paradies in einen irdischen Körper eingehe.251 Was die dritte Möglichkeit
248 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 225. 249 Īǧī, Mawāqif, 375. 250 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 17. 251 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 108, 110.
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betrifft, dass die beiden Orte in einer anderen Welt lokalisiert würden, so ergebe auch dies Probleme. In dieser Welt müsse es auch eine Einschränkung der möglichen Bewegungsrichtungen (taḥaddud al-ǧihāt) geben, weshalb die andere Welt in ihrer Gesamtheit rund sein müsse. Diese Überlegung beruht darauf, dass die irdischen kosmischen Bewegungen der Himmelsphären Kreisbewegungen sind, die eine räumliche Veränderung des Kosmos verhindern.252 Daraus resultiert die Beschaffenheit der Welt als rund, was auf die hier angenommene andere Welt übertragen wird. Doch dann – so der Einwand weiter – gäbe es zwischen unserer runden Welt und derjenigen von Paradies und Hölle eine Leere, was unmöglich sei. Zudem hätten die beiden runden Welten nur ein gemeinsames Element (in dem Punkt, in dem sie aneinander stoßen) und es sei nicht zu klären, zu welcher der beiden Welten dieses Element (ʿunṣur) sich hinneige. 253 Der Fall einer Existenz des Paradieses auf der Erde, d.h. innerhalb der irdischen Elemente, wird in Taftāzānīs Erwiderung nicht besonders thematisiert, da wohl die Aussage über die Größe des Paradieses hierbei kaum zu widerlegen war.254 Die Widerlegung fokussiert daher auf die zwei Varianten einer Existenz in den Himmelssphären oder in einer gänzlich anderen Welt. Taftāzānī verneint für den ersten Fall wie in Šarḥ al-ʿAqāʾid, dass die Sphären nicht durchbrochen werden dürften, da dies nur auf einer falschen Annahme der philosophischen Kosmologie beruhe (s. o.).255 Hier in Šarḥ al-Maqāṣid geht er aber zusätzlich der dritten Möglichkeit einer Existenz von Paradies und Hölle in einer Welt außerhalb der diesseitigen, inklusive der Himmelssphären, nach und betont, dass auch in diesem Fall die Problematik der Leere zwischen zwei runden Welten und die Zuordnung des Elements am Schnittpunkt der beiden Welten nur aufgrund philosophischer Prämissen (muqaddimāt falsafīya) entstehe. Die Leere sei nicht zwingend, da beide Welten von einem sie umfassenden (muḥīṭ bi-humā) umgeben sein könnten. Zudem sei es nicht unmöglich, dass die Elemente der beiden Welten verschiedene Naturen hätten und ihre Zugehörigkeit zu einer der beiden Welten
252 Nasr, Cosmological Doctrines, 224 sowie 237. 253 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 108. Im Hintergrund kann dabei die Vorstellung stehen, jedes Element werde seiner Natur entsprechend bewegt und finde so seinen natürlichen Platz. Würde ein Element aber zwei Welten angehören, würde es auch verschiedenen Naturen angehören und sein genauer Platz ließe sich nicht mehr bestimmen. Nasr, Cosmological Doctrines, 216f. 254 Taftāzānī bespricht hier nur kurz den Aspekt des Einwandes, der besagt, dass ein Paradies in dieser Welt bei der Wiederverbindung von Geist (Seele) und Körper eine Seelenwanderung bedeute, da die Seele in einen anderen irdischen Körper eingehe, insofern er dem entgegenhält, dass die Seele bei der Auferstehung, wie bereits erläutert, in den identischen Körper zurückkehre und daher nicht in einen anderen Körper wandere. Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 110f. 255 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 110f.
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auch der ihnen natürlichen Sphäre (ḥayz ṭabīʿī) entspreche.256 Somit erscheint auch der Verstandesbeweis gegen eine Existenz von Paradies und Hölle vor dem Jüngsten Gericht hinfällig. In einem Schlusswort zum Thema der Untersuchungseinheit formuliert Taftāzānī sodann recht apodiktisch, es gebe keinen entscheidenden Beweis (lā qaṭʿ) für den Ort von Paradies und Hölle. Die meisten Gelehrten sind der Meinung, das Paradies befinde sich zwischen den sieben Himmeln unter dem Thron Gottes.257 Da es jedoch keinen festen Beweis gibt, ist es in dieser Frage geboten, Zurückhaltung zu üben und diese Frage dem Allwissenden zu überlassen (al-ḥaqq tafwīḍ).258 Im Fall der Lokalisierung von Paradies und Hölle verfährt Taftāzānī anders als bei der Frage nach der Art der Auferstehung. Hatte er sich bei der Frage nach dem genauen „wie“ der Auferstehung (Zusammenfügung oder Neuschöpfung) des Urteils enthalten, so vertritt er in der eher am „was“ der derzeitigen Existenz von Paradies und Hölle orientierten Frage eine dezidiert ihre Existenz bejahende Position, verweist aber bei Unsicherheiten hinsichtlich des konkreten Ortes (des „wo“) auf das göttliche Wissen (ʿilm al-ʿalīm).
4.2.2.7 Die Grabesstrafe Die bisherigen Abschnitte der Auferstehungslehre bei Taftāzānī haben sich vornehmlich damit beschäftigt, ob eine Auferstehung als Wiederkehr möglich ist und wie man sich in diesem Zusammenhang den Tod und das Ende vorzustellen habe. Die Debatte wird zwar etwas konkreter, wenn es um Paradies und Hölle geht, doch wurden auch hier eher abstrakte Debatten um den ontologischen Status und die Lokalisation beider Jenseitsorte geführt. Damit verblieb das Bisherige im Bereich einer allgemeinen Eschatologie. Die sechste Einheit des Šarḥ al-Maqāṣid greift daraufhin erstmals ein Element der konkreten individuellen Eschatologie auf, ein Element, das in den ʿAqāʾid den chronologischen Abläufen gemäß am Beginn der Aussagen zum Jenseits gestanden hatte. Es handelt sich dabei um die Grabesstrafe oder die Befragung im Grab. Bei seinem Kommentar zu den ʿAqāʾid hatte Taftāzānī unter den Glaubensartikeln die Begriffe für die Grabesstrafe (ʿaḏāb al-qabr) und die Belohnung der Gehorsamen (tanʿīm ahl aṭ-ṭāʿa) vorgefunden und kommentiert, dass in allgemeiner
256 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 108. 257 Auf die in der früheren Theologie verbreitete Auffassung, es handele sich um ein irdisches Paradies nimmt Taftāzānī keinen Bezug mehr, was zu der Beobachtung passt, dass die Größe des Paradieses dieser Vorstellung widerspricht. Van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 550f. 258 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 111.
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gehaltenen Büchern oft die Dimension der Belohnung im Grab a usgelassen und somit hier die Bedeutung von Lohn und Strafe im Grab unterstrichen werde.259 Von daher ist es logisch, dass Taftāzānī nun im Šarḥ al-Maqāṣid das neutrale Wort der „Befragung im Grab“ (suʾāl al-qabr) wählt, das für Bestrafung wie für Belohnung offen ist. In den Uṣūl des Rāzī wird die Grabesstrafe ebenfalls noch vor der Frage nach der Existenz von Paradies und Hölle behandelt und trägt die Überschrift „Die Belohnung des Grabes und seine Pein“.260 Hier erscheint die Priorität des Lohnes vor der Strafe im Grab sogar vollkommen umgekehrt. Rāzī deutet diese Form der Strafe zudem spirituell, wenn er sagt, dass die feine lichthafte Substanz des Menschen nach der Zerstörung des Körpers im Tod entweder in einen Zustand der Glückseeligkeit (ġibṭa) und Zufriedenheit (saʿāda) eingehe, wenn der Mensch ein gutes Leben geführt hat oder anderenfalls Heimsuchung (balāʾ) und Qual (ʿiḏāb) unterworfen werde.261 Er fügt sodann einige Koranverse an, die ebenfalls auf eine direkte Bestrafung verweisen. Auch wenn die Grabesstrafe begrifflich im Koran nicht erwähnt ist,262 werden nicht nur bei Rāzī sondern auch bei Taftāzānī Koranverse als deutliche Hinweise auf die Grabesstrafe gedeutet.263 Taftāzānī führt hier zunächst Vers 40,46 an: „Das Höllenfeuer, dem sie am Morgen und Abend vorgeführt werden […].“264 Es folgt Vers 71,25: „[Ihrer Sünden wegen] wurden sie ertränkt, dann in ein Feuer geworfen […].“265 Hinzu kommt 40,11: „[Sie sprechen:] “Unser Herr! Zweimal hast du uns dem Tod anheimgegeben, zweimal dem Leben […].““266 Dieses zweite Leben, so Taftāzānī, könne sich nur im Grab abspielen.267 Es folgt ein ausgewähltes Hadith nach Tirmiḏī, nach welchem „das Grab ein Garten von den Gärten des Paradies ist und ebenso eine Grube von den Höllengruben ist.“268 Es fällt auf, dass die anderen Autoren stets
259 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 104. 260 Rāzī, Ūṣūl, 129. 261 Rāzī, Uṣūl, 130. 262 Berger, Lutz, Islamische Theologie, Wien 2010, 188; Rebstock, Ulrich, Das ›Grabesleben‹ Eine Islamische Konstruktion zwischen Himmel und Hölle. In: Brunner, Rainer (Hg.): Islamstudien ohne Ende. Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, 371–382, 372f.; van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 529. 263 Rebstock spricht von einem argumentum e silentio, Rebstock, Das ‚Grabesleben‘, 373. 264 Bobzin, 416. 265 Bobzin, 526. 266 Bobzin, 413. 267 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 112. 268 „al-qabru rawḍatun min riyāḍi l-ǧannati aw ḥufratun min ḥufari n-nirān.“, 112. Hadith Sunan Tirmiḏī.
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allgemein auf Hadithe verweisen269 oder nur Koranverse erwähnen,270 während allein Taftāzānī hier ein Hadith wörtlich zitiert, obwohl die Konzeption einer Befragung im Grab vor allem auf dem Hadith fußt.271 Im Anschluss diskutiert Taftāzānī Einwände gegen die Grabesstrafe, wobei er den vehementesten muʿtazlitischen Gegner des ganzen Konzepts, Ḍirār b. ʿAmr, kurz erwähnt.272 Er beginnt mit einem Einwand, der sich auf den Koran stützt. In Sure 44,56 heißt es im Rahmen einer längeren Beschreibung des Lebens im Paradies: „Sie erleiden dort nicht den Tod – außer dem ersten […].“273 Doch wenn es im Grab noch ein Leben gäbe, gäbe es zweimal Leben vor dem Paradies. Zudem weisen die Verse 2,28 und der bereits zitierte Vers 40,11 auf zwei Belebungen. Wenn man aber eine Belebung im Grab annimmt, ergeben sich deren drei: im Diesseits, im Grab und im Jenseits.274 Diesen Einwand findet man auch bei Zamaḫšarī. Zamaḫšarī verweist zwar im Kommentar zu 44,56 nicht auf die Grabesstrafe, erklärt aber, es könne nicht der erste Tod gemeint sein, da dieser in der Zukunft nicht geschmeckt werden könne und bezeichnet den Ausdruck als (taʿlīq bi-lmuḥāl). Würde sich der Geschmack des Todes in die Zukunft erstrecken, dann könnte man ihn schmecken.275 Bei Vers 40,11 geht er auf die Grabesstrafe ein, streitet deren Existenz aber ab. Die beiden im Koran erwähnten Todesereignisse seien die erste Schöpfung als Tote und der Tod bei Ablauf der Lebenszeit, das Beleben sei das erste Beleben und die Auferstehung.276 Die Schöpfung als Tote (ḫalqahum amwātan awwalan) begründet er mit Sure 2, Vers 28, den auch Taftāzānī mit aufgezählt hatte: „Ihr wart doch tot, und er rief euch ins Leben: Dann wird er euch sterben lassen und euch erneut ins Leben rufen.“277 Sowohl 40,11 als auch 2,28 sprechen von zwei Phasen des Totseins und des Lebens. Gerade in Sure 2 erscheint der erste Tod dabei tatsächlich als Zustand vor dem diesseitigen Leben angesprochen zu sein. Beide Verse erfordern sicher eine Erklärung, warum die Anzahl von Lebensvollzügen und Sterbevorgängen beim Menschen hier vervielfältigt werden. Ein
269 Īǧī, Mawāqif, 382; Rāzī, Muḥaṣṣal, 561; Ğuwaynī, Iršād, 375. 270 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 232. 271 Rebstock, Das ›Grabesleben‹, 372; van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 529. 272 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 113; Das etwas differenzierte Meinungsbild der Muʿtazila bildet Īǧī allerdings genauer ab: Īǧī, Mawāqif, 382; van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 529f. 273 Bobzin, 440. 274 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 112. 275 Zamaḫšarī, Kaššāf IV, 280. 276 Zamaḫšarī, Kaššāf IV: „wa-arāda bi-l-ʾimātatayni ḫalquhum ʾamwātan awwalan wa-ʾimātatuhum ʿinda nqiḍāʾi āǧālihim wa bi-l-ʾiḥyāʾati l-iḥyāʾatu l-ūlā wa-iḥyāʾatu l-baʿṯ“, 150f. 277 Bobzin, 12.
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zweites Leben, das über die anthropologische Erfahrung eines Lebens und Todes hinausgeht, lässt sich dabei zunächst noch allgemein als Auferstehungsglaube konzeptualisieren, doch der zweite Tod schafft den Erklärungsbedarf. Zamaḫšarī, der ihn, wie gesehen, nicht im Grab ansiedeln will, erklärt ihn mit dem Totsein vor dem Leben, was zum Begriff der „Schöpfung als Tote“ führt. Da dies ungewöhnlich erscheint, führt er diesen Sachverhalt weiter aus. Er greift dabei auf ein Hadith zurück, das die Frage nach einer Erschaffung des Menschen als tot oder lebendig mit anderen Entscheidungen des Schöpfers wie der, die Mücke klein und den Elefanten groß zu schaffen, parallelisiert werden könne. Diese und andere Eigenschaften, die sich in Oppositionen darstellen lassen, entspringen immer einer einzigen Schöpfung. Während die Überlieferung hier dann auf die Entscheidung des Schöpfers rekurriert, führt Zamaḫšarī die Argumentation fort, indem er sagt, dass „es kein Übergewicht für die eine der beiden [Eigenschaften] gebe.“278 So kann also auch der Tod direktes Produkt der Schöpfung sein. Danach kommt er auf die Grabesstrafe selbst zu sprechen, die man vordergründig ebenfalls als Erklärungsansatz für die Rede vom zweifachen Sterben in den Koranversen ansehen könnte. Wer aber nun, so Zamaḫšarī, die beiden Todesereignisse, erst für den Tod im Diesseits und im Grab annimmt, der kommt auf drei Belebungen, was dem Koran widerspricht. Diejenigen, die eine Grabesstrafe annehmen, müssen also davon ausgehen, dass eine Belebung nicht zählt, oder annehmen, dass Gott die im Grab Erweckten nicht wieder sterben lassen werde und sie somit als diejenigen ansehen, die in Sure 27, Vers 87 ausgenommen sind: „Am Tag, da die Trompete geblasen wird, da erschrecken alle, die in den Himmeln und auf Erden sind, so es Gott nicht anders will; […]“.279 Ein Weiterleben nach der erfolgten Wiederbelebung im Grab scheint bis hierhin denkbar, doch Zamaḫšarī fragt weiter, wie man dies mit dem folgenden Versteil der hier kommentierten Stelle (40,11) in Einklang bringt, die lautet: “Daher [da wir zweimal lebendig wurden und gestorben sind, wie es vorher heißt] bekennen wir hiermit unsere Sünden. […]“280 Denn wenn die zweite Belebung nicht zum Gericht erfolgt, da sie ja schon zu Beginn der Grabesstrafe geschah, fragt man sich, wie das plötzliche Bekenntnis der Sünden motiviert ist, dass hier als kollektiver Akt beschrieben wird und nicht wie ein Einzelbekenntnis zu Beginn einer Grabesstrafe.281
278 Zamaḫšarī, Kaššāf IV: „[an aṣ-ṣaġra wa-l-kubra] ǧaʾizun maʿan ʿalā l-maṣnūʿi l-wāḥidi min ġayri taraǧǧuḥin li-ʾahadihimā“, 151. 279 Bobzin, 333. 280 Bobzin, 413. 281 Zamaḫšarī, Kaššāf IV, 151.
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Den fraglichen Vers 40,11, der von zwei Belebungen und zwei Todesereignissen spricht, diskutiert auch Rāzī im Tafsīr lange in Bezug auf die Grabesstrafe. Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass es sich wegen der Erwähnung des zweiten Todes, der bei Annahme einer Grabesstrafe erklärt wäre, wohl um einen eindeutigen Beweis für die Grabesstrafe handle.282 Er bestreitet die von Zamaḫšarī vorgebrachte Auffassung, dass die erste imāta eine Schöpfung vor der Geburt als „Todschöpfung“ sein könne, denn von einem Tod könne, nur nach dem Leben gesprochen werden, weshalb man den Zustand des Menschen vor der Geburt als Samentropfen und Blutklumpen nicht als einen Todeszustand nach vorherigem Leben bezeichnen kann.283 Rāzī fährt fort, indem er sagt, der Vers beschreibe die Zeitpunkte von Heimsuchung und Prüfung (awqāt al balāʾ wa-l-miḥna) und umfasse daher den ersten Tod, das Leben im Grab, den Tod im Grab und die Wiederbelebung bei der Auferstehung. Zudem führt er an, ohne die Annahme einer Grabesstrafe gebe es ja nur einen Tod und so sei nicht zu erklären, warum in dem fraglichen Vers von zwei Todesereignissen die Rede sei.284 Zwar gibt auch Rāzī am Ende zu, dass man den Vers auch anders interpretieren könne, meint aber die zuverlässigen Hadithe in dieser Frage könnten hier den Ausschlag für die Annahme der Grabesstrafe geben.285 Aus dem Gesagten ergibt sich folgendes Schaubild hinsichtlich der Lebensphasen und Todeszeitpunkte sowie ihrer Anzahl:
Rāzī / Taftāzānī
Kritik des Zamaḫšarī
Lösung des Zamaḫšarī
1. imāta Tod nach dem Leben Tod nach dem Leben Schöpfung vor der Geburt als Tote 1. iḥyāʾ Erweckung im Grab Irdisches Leben Leben 2. imāta286 Tod im Grab Tod im Grab Tod 2. iḥyāʾ Auferstehung im 2. Leben im Grab Auferstehung im Jenseits Jenseits ohne Grabesstrafe (3.) iḥyaʾ Es folgt die Notwendigkeit die Auferstehung als drittes Leben anzusehen, wovon kein Vers spricht.
282 Rāzī, Tafsīr XXVII, 35. 283 Rāzī, Tafsīr XXVII, 36. 284 Rāzī, Tafsīr XXVII, 36. 285 Rāzī, Tafsīr XXVII, 37. 286 Das „zweite Sterbenlassen“ stellt jeden Interpreten vor eine Erklärungsaufgabe, wenn er weder eine „Todschöpfung“ noch eine Grabesstrafe annehmen möchte. So erklärt Asad das zweite Sterbenlassen als zusätzlichen spirituellen Tod. Vgl. Asad: Die Botschaft des Koran, 890 (Anm. 9).
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Taftāzānī geht im Šarḥ al-Maqāṣid zwar auf solche Anzahlen von Tod und Belebung beim Menschen ein, diskutiert aber die Frage der „Todschöpfung“ nicht. Vielmehr sagt er direkt, dass die Bestätigung von zwei Ereignissen im Koranvers ein drittes nicht ausschließe. Die beiden Belebungen im Koran könnten dabei entweder das Leben im Diesseits und im Grab meinen, die Belebung im Jenseits sei hier kein Thema.287 Wichtig erscheint allein, dass bei beiden Lesarten eine Belebung im Grab stattfindet, womit der aus der Offenbarung abgeleitete Einwand hinfällig wird. Zu der Diskussion der Anzahl von Todesereignissen bringt allein Bayḍāwī noch ein besonderes Argument, dass die Einheit des Todes bestreitet (lā waḥdat al-mawt), insofern es zu Zeiten von Moses und Jesus ja Erweckungen von zuvor gestorbenen Menschen gegeben habe.288 Auch diese Menschen sind später erneut gestorben, ohne dass man dafür bei ihnen eine noch größere Zahl von Toden annehme, ließe sich hier gedanklich ergänzen. Sodann geht Taftāzānī zum rational begründeten Einwand über. Dieser geht davon aus, dass Angenehmes und Peinvolles sowie auch die Fähigkeit zum Gespräch vom Leben abhängen, doch gebe es kein Leben nach dem Vergehen des äußerlich sichtbaren Körperbaus (binya) eines Menschen sowie der sein Inneres ausmachenden – Säftemischung (mizāǧ). Zudem kann das Grab so eng sein, dass man sich nicht vorstellen kann, dass jemand darin sitzt. Auch wenn jemand gekreuzigt worden sei und am Kreuz hängen bleibe, sei ja kein Leben an ihm zu sehen und damit auch kein Zeichen von Annehmlichkeit oder Schmerz,289 was es doch – so kann man annehmen – im Fall eines Lebens im Grab oder auch anderen Orts kurz nach dem Tod geben müsse. Hierauf antwortet Taftāzānī, dass man nichts ausschließen kann, von dem der Prophet Nachricht gegeben hat. Damit beantwortet er zunächst einen Verstandeseinwand mit einem eher der Tradition zugehörigen Gegenargument, wechselt aber gleich die Ebene und sagt, dass für den Fall, dass Leben nicht an eine Struktur gebunden sei, doch für den Fall, dass dem so sei auch die grundlegenden Bestandteile ausreichen (al-aǧzāʾ al-aṣlīya), um diese zu gewährleisten. Die Befragung und die Bestrafung könne, so Taftāzānī weiter, auch am Geist (rūḥ), der aus feinsten Partikeln bestehe, vollzogen werden,290 ist aber auch ohne den Geist möglich.291 In dieser Frage gesteht Taftāzānī ein Zögern ein, nimmt aber
287 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 112. 288 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 232. 289 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 116. 290 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 116. 291 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 117; Daiber, Hans, Das theologisch-philosophische System des Muʿammar Ibn ʿAbbād as-Sulamī (gest. 830 n. Chr.), Beirut 1975, 292.
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letztlich in einem Schlusswort der Untersuchungseinheit an, dass auf den Geist als Bedingung des Lebens verzichtet werden könne,292 da Gott kein vollständiges Leben (al-ḥayāh al-kāmila) mit einem Handlungsvermögen und Wahlhandlungen (afʿāl iḫtiyārīya) bei einem Toten schaffe. Die Art der Antwort auf die Fragen der beiden Engel unterscheide sich dann nicht von der eines Menschen, der einen Schlaganfall erlitten hat (man aṣābathū as-sakta).293 Auch wenn das genaue Lebenskonzept im Grab und die Rolle des Geistes nicht genau bestimmt werden kann, erscheint hier vor allem aufschlussreich, dass Taftāzānī aber die „grundlegenden Bestandteile“ wieder aufgreift, bleibt er auch seinem Konzept der Identitätsbestimmung des Menschen für seine Fortexistenz treu, das er bezüglich der körperlichen Auferstehung im Jenseits entwickelt hatte (s. o.). Īǧī, der bezüglich der Grabesstrafe die gleichen Einwände und Gegenargumente diskutiert, bringt hinsichtlich einer fehlenden Wahrnehmung der für die Befragung hinreichenden Lebendigkeit des Toten zusätzlich die Überlegung ins Spiel, dass ja auch die Gefährten des Propheten anders als Mohammad selbst Gabriel bei der Überbringung der Offenbarung nicht gesehen hätten, da er vor ihnen verdeckt gewesen sei (maʿa satrihī ʿanhum).294 Abschließend greift Īǧī auf das Argument einer möglichen „Durchbrechung der Gewohnheiten“ Gottes zurück und beschließt damit den Abschnitt zur Grabesstrafe,295 während Taftāzānī seine Erwiderung des rationalen Einwandes damit beginnt.296 Mit der „Durchbrechung der Gewohnheiten“ (ḫawāriq al-ʿādāt) Gottes nutzen beide mutakallimūn aber ein Element der Argumentationsstrategie für den Beweis von Beglaubigungswundern zugunsten eines Propheten auch für den Aufweis eines Zwischenlebens vor dem Jüngsten Gericht. Dass für eine vergleichsweise wenig koranisch fundierte und gegen naturbeobachtende Einwände nur schwer haltbare Auffassung solche Argumente des prophetologischen Teils im kalām genutzt wurden, lässt auf eine nicht unerhebliche Relevanz der Befragung im Grab für die theologischen Lehren schließen. Hierzu passt die Existenz vieler Grabsteine bei Sunniten, die einem recht verbreiteten und tiefen Glauben an die Grabesstrafe in der Bevölkerung Ausdruck verleihen.297 Rebstock vermutet, dass zwei Entwicklungen diese Bedeutung des Lebens zwischen Tod und Auferstehung
292 Daiber, Muʿammar, 292. 293 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 117. 294 Īǧī, Mawāqif, 383. 295 Īǧī, Mawāqif, 383. 296 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid V, 116. 297 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 530f.
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geprägt haben. Neben den traditionellen Konzepten intermediärer Existenzen im orientalischen Kontext, die sich im Hadith niedergeschlagen haben,298 steht dabei die Selbstverantwortlichkeit des Menschen für eine erste Abrechnung, die nicht in kosmischer Ferne, sondern eher in greifbarer Nähe anzusiedeln ist.299 Die „Jenseitsrealitäten“ in Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht, die sich in der nächsten Untersuchungseinheit anschließen, sind schon bei der Darstellung der Lehre in Šarḥ al-ʿAqāʾid dargestellt worden, und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Statt dessen lohnt eher ein Blick auf die zusammengefasste Lehre Taftāzānīs im Tahḏīb.
4.2.3 Die „ʿAqīda der Argumente“ – Tahḏīb al-kalām Die konzise Argumentation im Tahḏīb lässt es lohnend erscheinen, diesen jeweils paraphrasierend zu übersetzen, da sich so, wie zu sehen sein wird, am ehesten seine von historischen Argumentationen und textlichen Vorlagen gereinigte bzw. in Kenntnis all dessen systematisierte Lehre abzeichnet: Die Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen ist möglich, da das möglich Seiende nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhört, so dass die erste Existenz vielleicht die verbleibende Materie zusätzlich vorbereitet für den Empfang der Existenz zu jenem [zweiten] Zeitpunkt. Doch die Widersacher bestritten es, indem sie sagten, (1) nichts verweise auf das ins Nichts Entwordene und so gebe es kein Urteil darüber. Zudem führten sie an, dass (2) es keinen Unterschied zwischen dem Beginn und der Wiederkehr gebe, da ja die Zeit auch wiederkehre und dem fügten sie hinzu, dass (3) das Nichts somit zwischen das Ding und es selbst trete und es durchdringe. Die Antwort ist, dass (1) der geistige Hinweis schon reicht, dass (2) der Unterschied sich sehr wohl ergibt, da der Anfang eine Realität ist und die Wiederkehr eine zweite, selbst wenn beides zu einem Zeitpunkt eintritt und unter dieser Hinsicht ist (3) auch das Dazwischentreten des Nichts zwischen die Sache und sie selbst erlaubt.300 Durch das Buch der Offenbarung, die Sunna und den Konsens der Umma ist die körperliche Auferstehung bestätigt. Die Koranverse und die überlieferten Prophetenworte zur Auferstehung aber so anzusehen, als seien sie nur beispielhafte Ausmalung und Vorstellungshilfe für die geistige Auferstehung, also die Seelenzustände der Zufriedenheit und des Elends, ist ein Abfall vom Glauben (ilḥād). Wer von einer losgelösten Seele und ihrem Bestehenbleiben spricht, dem ist die Versammlung auch offenbar einsichtig und stellt keine Seelenwanderung dar, da es eine Rückkehr der Seele in die grundlegenden Bestandteile des ersten Körpers ist.
298 Rebstock, Das ›Grabesleben‹, 379. 299 Rebstock, Das ›Grabesleben‹, 378. 300 Taftāzānī, Tahḏīb, 104.
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Und auch wenn es nicht der erste Körper mit Bestimmtheit ist, so ist er es in der Weise, wie Gott es dargelegt hat in 4,56: „Ist ihre Haut verbrannt, so tauschen wir sie ihnen gegen eine andere.“301 Und die Leugner stritten es ab, indem sie die Wiederkehr des ins Nichts Entwordenen für eine Unmöglichkeit hielten. Ich habe schon deutlich gemacht, dass es hier keine Möglichkeit gibt, sich des Urteils zu enthalten. Sie aber stritten es ab, indem sie sagten, wenn ein Mensch einen anderen Menschen esse, gewisse Teile des Gegessenen im Kannibalen erstünden und so der Gegessene nicht in Bestimmtheit wiederauferstehe, oder aber im Gegessenen erstünden, so dass der Kannibale nicht in seiner Bestimmtheit wiederauferstünde. Dies würde für den Fall, dass ein Ungläubiger einen Gläubigen isst, dazu führen, dass der Widersetzliche Wohltaten erfährt oder der Gehorsame den Qualen unterworfen wird. Die Antwort auf diesen Einwand lautet, das dasjenige, was zurückkehrt, die grundlegenden Bestandteile sind, die den Menschen von Beginn seiner Schöpfung an ausmachen. Vielleicht bewahrt Gott sie davor grundlegender Bestandteil eines anderen menschlichen Körpers zu werden.302 Was das Ziel der Auferstehung angeht, so besteht dieses darin, dass die Strafe den erreicht, der sie verdient, wobei dies nur unter der Annahme gesagt wird, dass ein Ziel überhaupt notwendig ist. [Und Gott nicht auch ohne ein Ziel zu haben, handeln, d.h. die Menschen wiederauferstehen lassen kann.] Darüber hinaus gibt es Texte, die eine Wiederkehr des Selbigen bestätigen. So in Vers 30,27: „Er ist es, der die Schöpfung ein erstes Mal vollbringt und sie dann wiederholt.“303 Ebenso in 17,51: „[…] Doch sie werden sagen: „Wer bringt uns denn zurück?“ Sprich: „Der euch ein erstes Mal gebildet hat.““304 Zudem gibt es Verse, die den Gedanken beseitigen, die Wiederbelebung morscher Gebeine sei auszuschließen, wie in Vers 36,38: „wer kann die Gebeine lebendig machen, wenn sie schon zerfallen sind.“305 Und in 56,47: „wenn wir (erst einmal) gestorben und (zu) Erde […] geworden sind“.306 Dann waren sie unterschiedlicher Meinung, ob die Versammlung der Auferweckten eine Neuschöpfung nach dem Entwerden oder der Beginn aus dem Nichts sei, wie zum Beispiel sein Wort (57,3) nahe legt, das lautet: „Er ist der Erste und der Letzte.“307 und ebenso in 28,88: „Alles vergeht nur sein Antlitz nicht!“308, sowie auch in 21,104: „Wie wir die erste Schöpfung begonnen haben, so werden wir sie wiederholen.“309 Oder aber eine Versammlung nach der Zerteilung, worauf er mit Vers 2,260: „Mein Herr, lass mich sehen, wie Du die Toten lebendig machst, […]“310, sowie 2,259: […]
301 Bobzin, 77. 302 Taftāzānī, Tahḏīb, 104f. 303 Bobzin, 353. Auch im Šarḥ al-Maqāṣid wird dieser Vers zu Beginn der ersten Untersuchungseinheit zur Auferstehungslehre genannt. 304 Bobzin, 246. Dieser Vers kommt in der zweiten Untersuchungseinheit zu Beginn der Diskussion um die körperliche oder geistige Auferstehung vor. 305 Bobzin, 389. 306 Paret, 380. Dieser und der vorher zitierte Vers sind aus der größeren Anzahl von Versen ausgewählt, die Taftāzānī im Zusammenhang mit der ausführlichen Debatte zur körperlichen Auferstehung in Šarḥ al-Maqāṣid angeführt hatte. 307 Bobzin, 483. 308 Bobzin, 343. 309 Bobzin, 286. 310 Bobzin, 42.
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„Wie kann sie Gott nach ihrem Untergang wieder aufleben lassen? […]“311 und auch 35,9: („Gott ist es, der die Winde sandte, darauf bringen sie Wolken hervor. Die lenken wir dann hin zu abgestorbenem Land und bringen damit den Boden, nach seinem Tod zu neuem Leben.)312 hinweist. Hinzu kommt Sure 30 Vers 19: „(Er bringt aus dem Toten das Lebende hervor und aus dem Lebenden das Tote. Er belebt die Erde nach ihrem Tod.) Auf die gleiche Weise werdet ihr hervorgeholt.“313 Sodann gilt, dass das Paradies und das Höllenfeuer bereits erschaffen sind, da es die Geschichte von Adam und Ḥawwāʾ gibt und weiteres, was ganz augenscheinlich darauf hindeutet.314 So heißt es von den jenseitigen Orten: „bereitet ist“ (3,133), „wird herbeigebracht“ (26,90), „wird gezeigt“ (26,91). Dagegen wurde gesagt, dass die beiden Orte weder in den Himmelssphären dieser Welt geschaffen sein können, da die Durchbrechung der Sphären unmöglich sei, noch in den Elementen dieser Welt, da das Paradies breiter als Himmel und Erde sei und auch nicht in einer anderen Welt, da diese rund sein müsste, was dazu führen würde, dass eine Leere zwischen beiden Welten entstünde. Zudem müsste ein verbindender Punkt Teil beider Sphären sein und sich einer der beiden Welten zuneigen und sich von der anderen wegneigen. Darauf lässt sich durch eine Ablehnung der philosophischen Voraussetzungen reagieren, da die beiden Welten in etwas sein können, das sie beide umfasst und da die Elemente der beiden Welten nicht verschieden sein müssen, so dass keine Zugehörigkeit eines Elements in einer der beiden Welten unnatürlich wäre. Ebenso wurde eingewandt, dass die beiden Welten untergehen müssten, da es in Vers 88 aus Sure 28 heißt: „Alles vergeht – nur sein Antlitz nicht!“ Darauf haben wir gesagt, dass man das Vergehen nicht als Entwerden bezeichnen muss und selbst wenn es ein Entwerden wäre, so kann dies für einen so kurzen Augenblick geschehen, dass es der versprochenen, ewigen Dauer der Paradiesfreuden nicht entgegensteht. Die meisten gehen davon aus, dass sich das Paradies oberhalb der sieben Himmel und unter Gottes Thron befinde, da Er gesagt hat (53,14–15): „am anderen Ende, bei dem Dornenstrauch, dort, wo der Zufluchtsgarten liegt versteckt.“315 Und dass die Hölle unter den beiden Erden zu finden sei, doch die Wahrheit liegt darin sich hier einer endgültigen Meinung zu enthalten. (al-ḥaqq at-tawaqquf)316
Taftāzānī nimmt im Tahḏīb nur die Punkte wieder auf, die ihm wesentlich für den Gang der Argumentation zu sein scheinen. Die Untersuchungseinheiten 1, 2 und 5 behandelt er dabei, indem er die systematisch notwendigen Argumente der Debatten knapp wiedergibt und die eigene Position darstellt. Die Thematik der Untersuchungseinheit 3 zum Phänomen des Todes entfällt und die vierte
311 Bobzin, 42. 312 Der Text in Klammern folgt der Übersetzung von Bobzin, erscheint aber bei Taftāzānī nicht. Die kurzen Zitate bei Taftāzānī sind aber nur für Korankenner verständlich, weshalb hier die übrigen Verspassagen ergänzt worden sind. 313 Bobzin, 352; Taftāzānī, Tahḏīb, 105f. 314 Taftāzānī, Tahḏīb, 106. 315 Bobzin, 470. 316 Taftāzānī, Tahḏīb, 106f.
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Einheit gibt er dagegen nicht in Form einer Zusammenfassung der Argumente sondern in Kurzzitaten oder Anspielungen auf Koranverse wieder, die in der Darstellung der Thematik eine Rolle spielen. Die Abfolge der Fragen und Diskussionen aber auch die genaue Entsprechung der Abfolge der Koranzitate im Šarḥ alMaqāṣid sowie hier im Tahḏīb legen die Vermutung nahe, dass sich der Übergang von der Breite der Diskussion in die präzise Zusammenfassung nicht nur ex post beobachten lässt, sondern eventuell Taftāzānī selbst beim Verfassen des Tahḏīb vor Augen stand. Für die Thematik der Wiederkehr aus dem Nichts und die körperliche Auferstehung bedeutet der Tahḏīb dabei eine Reduzierung der Argumente auf die eigentlich notwendigen. Im Fall der Debatte um die Art der Wiederkehr (maʿād) als Wiederkehr aus dem Nichts oder als Zusammenfügung des Verteilten allerdings begnügt er sich damit, die Koranverse aufzuzählen. Doch hatte er ja seine ausführlicheren Interpretationen im Šarḥ al-Maqāṣid auch so zusammengefasst, dass am Ende keine konkrete Entscheidung zu treffen war. Im Fall der Existenz von Paradies und Hölle zeigt sich eine argumentative Kombination, die in den Maqāṣid in der Luft gelegen hatte, aber nicht auf den Punkt gebracht war. Hier formuliert Taftāzānī konzise: Entweder gibt es gar kein Vergehen, oder wenn es eines gibt, so dauert es nur einen kurzen Augenblick.
4.3 Schlussbetrachtung zur Auferstehungslehre Taftāzānī geht die Thematik in seinen verschiedenen theologischen Schriften jeweils unterschiedlich an. Während er im Šarḥ al-ʿAqāʾid mit der Grabesstrafe beginnt, wählt er im Šarḥ al-Maqāṣid den Einstieg über eine Definition von Auferstehung als Rückkehr, die den philosophischen Ursprung der Begrifflichkeit von maʿād deutlich werden lässt. Philosophisch beeinflusst ist dann auch die Debatte um die Möglichkeit einer Wiederkehr aus dem Nichts und das Ringen mit den naturphilosophischen Einwänden gegen die koranische Lehre einer körperlichen Auferstehung. Seine Lehre ließe sich in Kürze ungefähr wie folgt wiedergeben: Auferstehung als Wiederkehr aus dem Nichts ist durchaus denkmöglich und für einen allmächtigem Gott natürlich auch konkret durchführbar. Doch kann die Wiederkehr ebenso als Zusammenfügung dessen, was durch Tod und Veränderung auseinandergerissen worden ist, verstanden werden. Beide Varianten sind möglich und wichtig ist weniger, welche von ihnen tatsächlich Realität wird, sondern dass in jedem Fall eine Wiederkehr derjenigen Person erfolgt, die hinreichend identisch mit dem Individuum ist, welches für Gehorsamstaten und Sünden im Diesseits verantwortlich zeichnet. Nur um diese Personen geht es bei der Wiederkehr, denn
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die Orte, an denen sich die Auferstehung abspielen wird, sind bereits geschaffen und stehen für die Aufnahme der Menschen bereit. Über ihre genaue Lokalisierung im Verhältnis zu dieser Welt können laut Taftāzānī nur Vermutungen angestellt werden. Der Schwerpunkt liegt in diesem ersten Teil also zunächst auf einer kosmischen Eschatologie oder dem allgemeinen Übergang von Diesseits zu Jenseits. Dieser erfolgt nicht als apokalyptischer Untergang der geschaffenen Welt, sondern vielmehr in Form einer rational getragenen und systematisierten Begründung der Möglichkeit eines Jenseits, welches als zweite Schöpfung Gottes verstanden wird. Vor dem Hintergrund der eingangs vorgestellten koranischen Auferstehungslehre ließe sich vielleicht sagen, dass die lebendigen Beschreibungen aus den mekkanischen Suren in der volkstümlichen Jenseitsvorstellung als konkret gegenständliches „was“ weiter ausgearbeitet wurden. In der spätzeitlichen Theologie steht dagegen eher die Frage im Raum, „wie“ die koranische Grundkonzeption eines wiederkehrenden und hinreichend identischen Menschen überhaupt rational erwiesen werden kann. Ein zweiter Teil seiner Lehre thematisiert dann vorwiegend Aspekte individueller Eschatologie. Je nach Lebensweg droht jedem Einzelnen schon im Grab Strafe oder es winkt dort bereits Lohn, weshalb er die Rede von der reinen Grabesstrafe kritisiert. Es folgt am Tag des Gerichts der Weg über die Brücke und das Eintreffen am Wasserbecken, wobei sich Taftāzānī aller weiteren Details enthält. Zusätzliche Aspekte individueller Eschatologie wie Dauer der Höllenstrafen, Wirksamkeit von Reue und prophetischer Fürsprache folgen im weiteren Verlauf des Kapitels, konnten hier aber nicht ausgeführt werden. Durchgängig nimmt Taftāzānī im eschatologischen und jenseitsrelevanten Kontext dabei die Existenz einer menschlichen Seele an. Wie gesehen, hatte er sich ja auch gefragt, wo sich diese Seelen während der Trennung vom Körper aufhalten könnten und sie – einem Hadith folgend – in den Kehlen grüner Vögel unter dem göttlichen Thron gewähnt. Wenn im nächsten Kapitel die Handlungstheorie betrachtet werden soll, würde sich aus heutiger Sicht sicher die Frage ergeben, ob für Körper und Seele auch bei den Handlungen ein Zusammenspiel zu beobachten ist, wie Taftāzānī es für die Jenseitsschicksale annimmt. Zudem ließe sich aus der klaren Zuordnung von Handlungen zu menschlichen Individuen und der Belohnung und Bestrafung, die gerade dem möglichst identischen Akteur zu Teil werden soll, auf einen recht autonom agierenden Menschen schließen. Doch allein die Geschichte der Handlungstheorie im früheren kalām ruft begründete Zweifel daran hervor, da sich spätestens seit Ašʿarī hier eine stetige Einschränkung des menschlichen Beitrags beobachten ließ. Das nächste Kapitel soll zeigen, wie der mutakallim Taftāzānī sich auf einem Gebiet präsentiert, das deutlich weniger durch philosophische Einwände geprägt ist als die Auferstehungslehre, nämlich dem der irdischen Handlungen.
5 Handlungstheorie Menschliche Handlungen haben sich, wie in Taftāzānīs Auferstehungslehre deutlich wurde, als äußerst relevant für das Jenseitsschicksal des Menschen erwiesen. Jede gute Tat und jede Sünde spielen ihre Rolle bei dem, was jeden einzelnen nach islamischer Lehre im Jenseits erwartet. Wenn als zweites Themenfeld die Handlungstheorie in den Blick kommen soll, so ist es selbstverständlich, dass hier die einzelne Tat des menschlichen Individuums noch mehr in den Mittelpunkt rückt. In den Diskussionen um eine genaue Wiederherstellung der Körper im Jenseits (s. 4.2.2.2) erschienen Einheit und Handlungsfähigkeit des diesseitigen Menschen zur Hervorbringung der Tat dabei völlig unproblematisch. Der funktionsfähige menschliche Körper mit seinen Gliedmaßen war in allen jenseitsrelevanten Überlegungen noch wie selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn sich jetzt aber der Fokus vom Jenseits auf das Diesseits verlagert, dann zeigt sich gleich, dass dieses handelnde menschliche Individuum deutlich schwieriger zu bestimmen ist. So ist schon im Koran oft vom „Diener Gottes“ (ʿibād Allāh), aber seltener vom menschlichen Körper als Einheit die Rede.1 Die alltägliche Vorstellung einer körperlichen Einheit des Menschen löste sich in der Frühphase des kalām durch eine Zunahme atomistischer Vorstellungen weiter auf.2 Der Mensch wurde als eine Kombination von Atomen gesehen und man musste daher überlegen, was ihm überhaupt noch Einheit verleihen kann. Ein Vorschlag kam von Abū l-Huḏayl im 9. Jahrhundert. Er meinte, man müsse dem Menschen als Gesamtheit das Attribut des Lebens zuschreiben. Der Begriff eines „Selbst“ (nafs) kommt bei ihm auch schon vor, wird aber nicht als unsterbliche Seele verstanden und kann auch keine Einheit der Person garantieren, da diese Art des „Selbst“ schon den Schlafenden verlässt.3 Naẓẓām verbindet die Einheit des Menschen mit dem koranischen Wort Geist (rūḥ) als einem winzigen, feinen Körper, der den Menschen durchdringt.4 Der Geist bleibt dabei aber eine überpersönliche Einheit und spielt daher keine Rolle bei der Individuation.5 Gemäß Bāqillānī erhält der Mensch seine Einheit und Ganzheit nur als äußeren Eindruck, den Gott von einem Moment zum nächsten in jedem Menschen neu schafft.6
1 Huda, Qamar-ul, Anatomy. In: EQ (1), 79–84, 79. 2 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 479f. 3 van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 245f. 4 Gimaret, Théories, 29. 5 van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 377. 6 Frank, Richard, Currents and Countercurrents. In: Islam: Essays on Scripture, Thought and Society (1997), 113–134, 123.
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Erst Rāzī stellte im Muḥaṣṣal explizit die Frage, was der Mensch denn mit dem Ausdruck „Ich“ (anā) meine (s. 4.2.2.3).7 Ähnliche Überlegungen finden sich auch an mehreren Stellen in seinem Korankommentar wie bei den Ausführungen zu Vers 85 in Sure 17: „Sie fragen Dich nach dem Geist. Sprich: „Der Geist geht aus auf das Geheiß von meinem Herrn! Doch euch ist nur gegeben ein geringes Maß an Wissen.““8 Insofern Rāzī auch die philosophische Seelenlehre vertritt,9 rückt bei ihm wieder stärker eine Unterscheidung zwischen dem Wesen des Menschen und der körperlichen Form des Individuums in den Blickpunkt.10 Mit Blick auf Taftāzānīs Auferstehungslehre ließe sich auch bei ihm die Seele (nafs) als Individuationsprinzip annehmen, da diese eine wichtige Rolle in der Grundkonzeption von Auferstehung als Rückkehr hat. Die Seele, so hatte Taftāzānī argumentiert, erkenne den einzig und allein ihr zugehörigen Körper an seiner spezifischen, physikalischen Beschaffenheit (mizāǧ) wieder (s. o.) und kehre daher problemlos in ihn zurück. In dem der Seele explizit gewidmeten Abschnitt im vierten Hauptuntersuchungsgebiet über die Substanzen wird die Seele als unabhängige Substanz (muǧarrada) definiert, die mit dem Körper eine Verbindung der Führung (tadbīr) und des freien Handelns (taṣarruf) eingeht.11 Seine Lehre von der Wiederkehr der Seele in den Körper ließe erwarten, dass Taftāzānī die Seele auch in den handlungstheoretischen Rahmen übernimmt. Allerdings war ja schon zu sehen, dass die Bedeutung der Seele in seinen eschatologischen Ausführungen abnahm, je mehr die konkreten Jenseitsschicksale als direkte Folgen von Handlungen Thema wurden. Zudem war es ihm ein wichtiges Anliegen, den großen Anteil des handelnden Körpers hervorzuheben und ihn neben der Seele an der Auferstehung, der Rückkehr in die Existenz, teilhaben zu lassen. Er folgt dabei ganz den orthodoxen Konzepten, die dem Körper mehr Bedeutung als der Seele zumaßen.12 Dies gilt für das Diesseits in noch weit stärkerem Maße und so ist in den handlungstheoretischen Überlegungen bei Taftāzānī von der Seele – das sei vorweggenommen – gar keine Rede mehr. Insofern Taftāzānī hier keine stärker philosophisch geprägte Neuausrichtung der handlungstheoretischen Ausführungen vornimmt, indem er die Seele als Führungsinstanz für das menschliche Handeln annähme, ergibt sich daher keine direkte Brücke zwischen
7 Rāzī, Muḥaṣṣal, 537f. 8 Bobzin, 249. 9 Nagel, Tilman, Ibn al-ʿArabī und das Aschʿaritentum. In: Tworuschka, Udo (Hg.), Gottes ist der Okzident – Gottes ist der Orient. Festschrift für Abdoldjavad Falaturi. Köln & Wien 1991. 207–245, 217. 10 Oulddali, Le problème de la connaissance, 18. 11 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 298. 12 Haddad & Smith, Resurrection, 17.
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den beiden Themenfeldern. Damit verbleibt die Vorstellung davon, wie Diesseits und Jenseits im individuellen Schicksal verklammert sind, etwas unbestimmt. Die Handlungstheorie begnügt sich ganz mit der Fokussierung auf Einzelhandlungen und die Frage, wie sie jeweils aus dem menschlichen Körper hervorgehen. Van Ess formuliert dies zu Beginn seiner Ausführungen zum Menschenbild in der formativen Phase des kalām mit folgenden Worten: Beim Jüngsten Gericht, wo jeder Mensch für sich selbst einstehen mußte, war es eher sein Handeln [und nicht die Vorstellung einer Seele], das ihm unverwechselbar eigen war, und zwar nicht als Ganzes [das dann seine Individualität gebildet hätte], sondern jede einzelne Tat, die er in seinem Leben verrichtet hatte.13
So ließ sich in der Handlungstheorie auch die ungeklärte Frage des Individuationsprinzips umgehen, da es letztlich nicht so sehr auf einen einheitlichen Akteur als Verursacher der Handlungen ankam, sondern auf die Möglichkeit, einzelne Handlungen mit dem Akteur zu verbinden. Daraus resultiert auch der große Unterschied zwischen der jenseitigen Rückwirkung einer einzelnen Tat oder Handlung auf den auferstandenen Menschen und ihrem Zustandekommen zu Lebzeiten des Menschen. In Bezug auf ihre diesseitige Ursache wurden Handlungen nämlich weit mehr im Hinblick auf Gott denn auf die menschliche Seele diskutiert.14 Wechselt man also die Blickrichtung von der Wirkung im Jenseits hin zur Ursache der Handlung, erscheint die menschliche Handlung in anderem Licht. Aber auch wenn wir Auferstehungslehre und Handlungstheorie gar nicht direkt inhaltlich aufeinander beziehen, sondern beide als zunächst ganz unabhängige Themenfelder des kalām betrachten, tritt eine Verschiedenheit zutage. Bei der Auferstehung handelt es sich um einen expliziten Inhalt der koranischen Verkündigung, sie ist ein frühes und zentrales Thema des Korans. Erst durch Einsprüche von philosophischer Seite entstand ein zunehmend größeres Diskussionsfeld in den Darstellungen der Theologen. Dabei transformierte sich ein koranisches Thema in einen Betrachtungsgegenstand des kalām. Handlungstheorie ist hingegen vielmehr ein Thema des kalām, das aus den Diskussionen der mutakallimūn selbst Gestalt gewonnen hat und bei dem nur punktuell auf den Koran zurückgegriffen wird. Im kalām nimmt sie sogar einen sehr prominenten Platz ein, insofern sich an Konzepten zur Handlungsfreiheit des M enschen
13 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 480. 14 Adamson, Peter, Freedom and Determinism. In: Pasnau, R. (Hg.), The Cambridge History of Medieval Philosophy, (2 Bände) Cambridge 2010, 399–413, 400.
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Hauptunterscheidungsmerkmale für die Differenzierung der Muʿtaziliten und Ašʿariten – nämlich als verschiedener Traditionen innerhalb des kalām – herauskristallisierten.15 Für die Verortung von Taftāzānīs Beitrag zur Thematik als einem großenteils in Transoxanien wirkenden und schreibenden Theologen spielt zudem die māturīditische Lehre eine Rolle.16 Hinzu tritt eine Zuspitzung der ašʿaritischen Position im Gewand der neo-ǧabritischen Haltung von Rāzī. Angesichts der Komplexität des Themas ist es hier nicht möglich, die gesamte frühzeitliche Debatte zu entfalten. Allenfalls können gewisse Eckdaten rekapituliert werden, um Anhaltspunkte zu liefern, welche die folgende Darstellung der Handlungstheorie in den drei verschiedenen Schriften Taftāzānīs – Šarḥ al-ʿAqāʾid, Šarḥ al-Maqāṣid und Tahḏīb al-kalām – (5.2) klarer werden lassen. Auch wenn die Handlungstheorie, wie gesagt, kein koranisches Thema im engeren Sinn ist, wollten sich die Disputanten der islamischen Theologie dennoch auf diesem Gebiet beim Koran rückversichern.17 Hinzu kommt, dass insbesondere Taftāzānī im Šarḥ al-Maqāṣid anders als in den Referenzwerken nicht nur einzelne Verse aufführt, sondern jeweils eigene Kategorien von Offenbarungsbeweisen erstellt, was von seiner Bemühung um eine koranische Fundierung der Handlungstheorie zeugt. Daher lohnt sich auch hier zunächst die Einbeziehung einer islamwissenschaftlichen Rekonstruktion koranischer Handlungstheorie.
5.1 Grundlagen und Entwicklungsstufen der Handlungstheorie im kalām 5.1.1 Koranische Elemente ethischer Eigenverantwortung Auch ohne systematisch zusammenhängende Aussagen zur Handlungstheorie im Sinne der Frage nach der Erzeugung von Handlungen zu treffen, versteht sich der Koran als Hauptquelle für ethisches Wissen und gibt allgemeine Handlungsanweisungen für die Lebensführung.18 Eine koranische Beschreibung der ethischen Situation der Menschen ließe sich dabei zugespitzt so ausdrücken, dass Menschen das Gute kennen, es aber oft unterlassen. Wenn sie das Gute tun,
15 Adamson, Freedom, 400. 16 Gimaret, Théories, 162f. 17 Frolov, Dmitry, Freedom and Predestination. In: EQ (2), 267–271, 267. 18 Hourani, George F., Ethical Presuppositions of the Qurʾān. In: The Muslim World 70 (1980), 1–28, 25.
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bringt es den Gläubigen Erfolg und Lohn ein und führt zum Wohlgefallen Gottes. Doch da in den natürlichen, menschlichen Neigungen der Hang zum Bösen überwiegt, enthält die koranische Botschaft des Öfteren Warnungen: Sure 91,7–10, die davon spricht, dass der Mensch seine Seele rein erhalten, aber auch beschmutzen kann, ist ein Hinweis, dass dem Menschen ethisches und tugendhaftes Verhalten möglich ist.19 Dieses Verhalten ist dem Menschen aber nicht nur möglich, er wird sogar dazu verpflichtet. Diese Verpflichtung zu tugendhaftem Verhalten nimmt ihren Ausgang von Vers 7,172: Damals, als dein Herr aus Adams Kindern, ihren Lenden, ihre Kindeskinder nahm und sie gegen sich zeugen ließ: „Bin ich nicht euer Herr?“ Da sprachen sie: „So ist´s; hiermit bezeugen wir´s.“ Damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: „Siehe, wir wussten nichts davon!20
Neben einer solchen – auf das Jüngste Gericht bezogen – rechtlich zu nennenden Grundverpflichtung zu richtigem Handeln tritt im Koran das Motiv der Dankbarkeit für den wohltätigen Schöpfer 39,57 zutage: […] Er machte die Sonne und den Mond dienstbar. Er erschuf euch aus einem einzigen Wesen, dann machte er ihm daraus dessen Partner. […] er erschafft euch immer wieder neu im Leibe eurer Mütter […]. Wenn ihr undankbar seid, dann – siehe, Gott ist nicht auf euch angewiesen und billigt nicht, dass seine Knechte undankbar sind. Und wenn ihr dankbar seid, billigt er das für euch.21
Zu diesem Appell an die Dankespflicht für die Gegenwart treten als drittes Element noch Drohung und Verheißung eines zu den Taten passenden Jenseitsschicksals. Eine ethische Eigenverantwortung des Menschen wird im Koran somit gleich dreifach nahelegt: als abstrakte Verpflichtung vor der Schöpfung, als Aufforderung zum Dank im Diesseits und in Erwartung einer gerechten Beurteilung im Jenseits. So klar und heilsgeschichtlich umfassend das koranische Gerüst damit vor Augen tritt, so schwierig kann es für den Menschen dennoch sein, im Konkreten Orientierung zu finden, weshalb er auf Rechtleitung (hudā) angewiesen ist.22 Dies gilt besonders, zumal nicht alle Verse auf eine Eigenverantwortung des Menschen abzielen, sondern eher in eine andere Richtung weisen. Dies ist der Fall, wenn Gott Menschen dazu bestimmt, die prophetische Lehre Mohammads
19 Wheeler, Brannon, Good Deeds. In: EQ (2), 339–340, 339. 20 Bobzin, 146. 21 Bobzin, 404. 22 Hourani, Ethical Presuppositions, 18f.
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zu verwerfen (4,88): „[…] Wollt ihr wohl den rechtleiten, den Gott in die Irre führte? Doch wen Gott in die Irre führt, für den wirst du keinen Weg finden.“23 Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass man im Koran zur Handlungsfreiheit des Menschen ganz unterschiedlich interpretierbare Aussagen findet. Im Koran geht es aber nicht nur um den Wert der Handlungen, sondern auch um die Fähigkeit, darüber nachzudenken und somit darum, rechtes Handeln zu kennen. Hourani unterteilt die beiden Ebenen in die ontologische Ebene und die Frage nach der Natur ethischer Werte wie „gut“ und „gerecht“, sowie der epistemologischen Ebene, d.h. der Fähigkeit des Menschen diese Werte zu erkennen und nach ihnen zu handeln.24 Dabei wird weniger der Verstand (ʿaql) thematisiert, der in der späteren theologischen Argumentation eine große Bedeutung als Verkörperung des rationalen Prinzips bekommen sollte, im Koran aber nicht vorkommt, sondern eher der Vorgang des Nachdenkens selbst (ʿaqala).25 An manchen Stellen erscheint dieses Nachdenken für die richtige Handlung essentiell.26 Fehlendes Nachdenken führt demgegenüber zu unliebsamen Konsequenzen, wie Vers 67,10 veranschaulicht: „Und sie sagen: „Wenn wir nur je gehört oder verstanden hätten, wären wir nicht unter den Leuten des Höllenfeuers.“27 Aber auch hier findet sich eine Koranstelle, die wiederum in eine andere Richtung tendiert. So heißt es in Vers 2,216: „Das Kämpfen ist euch vorgeschrieben, ihr aber findet es abscheulich. Vielleicht aber verabscheut ihr etwas, das gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr etwas, das schlecht für euch ist. Gott hat Wissen, ihr aber habt kein Wissen.“28 Das Wissen um den rechten Weg ist dabei auch mehrfach direkt mit der koranischen Offenbarung verbunden und kann auch mit ihr identifiziert werden.29 Auch wenn damit fast alles Wissen um das richtige Handeln nur durch die Offenbarung kommt, kann man, wie Hourani festgestellt hat, dem Koran hinsichtlich der Handlungsziele einen ethischen Objektivismus entnehmen, was die Unabhängigkeit von Werten wie Gerechtigkeit von Offenbarung und göttlichen Entscheidungen beinhaltet.30 Während die Hauptthemen koranischer Ethik also vor allem von Werten und deren Erkenntnis handeln, tendierten spätere Ausformulierungen der i slamischen
23 Bobzin, 80. 24 Hourani, Ethical Presuppositions, 1. 25 Hourani, Ethical Presuppositions, 21. 26 Reinhart, Kevin, Ethics and the Qurʾān. In: EQ (2), 55–79, 67. 27 Zirker, Der Koran, 352. 28 Bobzin, 34; Asad: „Gott weiß, während ihr nicht wißt.“ 82; Hourani, Ethical Presuppositions, 6. 29 Hourani, Ethical Presuppositions, 17, 25. 30 Hourani, Ethical Presuppositions, 14, 25.
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Gelehrten eher zur konkreten Verbindung von Einzelhandlung und Absicht. Dies ist im islamischen Recht der Fall, wo keine Glaubenspflicht erfüllt ist, wenn die Absicht (nīya), genau diese Pflicht zu erfüllen, fehlt.31 Doch für die theologische Handlungstheorie spielte weniger die Beziehung der Handlung zum Geflecht menschlicher Entscheidungen eine Rolle. Sie ging in der Suche nach dem Ursprung der Handlung noch einen Schritt weiter und fragte, wie geschöpfliches Handeln von Gott überhaupt – also jenseits ethischen Wissens und menschlicher Absicht – möglich gemacht wird.32 In dieser Hinsicht geriet schon im Koran die Rolle des Menschen als Geschöpf mit dem allmächtigen Schöpfergott in Konflikt. Die Macht Gottes ist dabei bereits in den früheren mekkanischen Suren mit Ableitungen der Wurzel q-d-r wie qadar verknüpft, was mit der Zeit zum zentralen Begriff für Gottes Macht über menschliche Handlungen werden sollte.33 In späteren Suren erscheint dann auch der Begriff des göttlichen Dekrets (qaḍāʾ) im Koran. In Verbindung mit dem göttlichen, noch vor Existenz der Welt gegebenen Schöpfungsbefehl verkörpert sich hier die Vorstellung einer göttlichen Grundentscheidung für die kommenden Abläufe.34 Schöpfung und Festlegung des Schicksals der Geschöpfe geraten in ein dauerhaftes Spannungsfeld zur Lehre von der menschlichen Eigenverantwortung. Es bleibt oft nur, beide Befunde nebeneinander zu stellen: In sum, on the vexed question of predestination, predetermination and the like, the Qurˀān asserts the controlling authority of God, while also assuming the reality of human agency.35
Welches Handlungsvermögen der Mensch dann tatsächlich hat und wie sich dieses Vermögen konzeptionell vorstellen lässt, wurden Leitfragen der Diskussion.36 Die dazu nötigen Verhältnisbestimmungen zwischen dem göttlichen und menschlichen Anteil wurden in den Debatten des kalām – wie auch bei Taftāzānī
31 Interessanterweise gibt es mit der zweiten Risāla einen handlungstheoretisch relevanten Text aus dem Umfeld des Rechtsschulbegründers Abū Ḥanīfa, in welchem der Absicht ausnahmsweise doch eine prominente Rolle zukommt. Auch wenn seine theologische Lehre für die Entwicklung der späteren māturīditischen Schule in Transoxanien wegweisend wurde, gehörte aber die nīya nicht zum begrifflichen Instrumentarium des späteren transoxanischen kalām. Rudolph, Māturīdī, 41f. und van Ess, Theologie und Gesellschaft I, 206f. 32 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 482. 33 Frolov, Freedom, 268. 34 Frolov, Freedom, 269. 35 Reinhart, Ethics, 59. 36 Der spätere Terminus für menschliches Handlungsvermögen gehört gar nicht zum koranischen Vokabular, er wurde erst später als Infinitiv von den finiten Formen des Verbs können, vermögen (istiṭāʿa) abgeleitet. van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 489.
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noch im Detail zu sehen sein wird – in allen Einzelheiten reflektiert. Dabei spielen aber kaum koranisch gestützte Konzepte eine Rolle, vielmehr werden einzelne Verse oder Versgruppen punktuell als Offenbarungsargument herangezogen. Neben dem Koran wurde in den handlungstheoretischen Debatten – gerade bei Taftāzānī – auch das Hadith als autoritativer Text einbezogen. Besonders auf diesem Themenfeld könnte sich, folgt man hier Watt, die altarabische Tradition als Lebensumfeld des Propheten ausgewirkt haben. Das menschliche Schicksal scheint im Hadith oft bestimmt, ohne dass, wie im Koran, Gott als Akteur dafür verantwortlich wird. Elemente solcher altarabischer Vorstellungen fanden dann auch Eingang in die Orthodoxie,37 und auch in den hier relevanten Texten finden sich solche Spuren in der Thematisierung von Todeszeitpunkt und Lebensunterhalt, die in besonderer Weise als vorherbestimmt galten. Im vorislamischen Schicksalsglauben gelten aber weniger die Handlungen und Entscheidungen selbst als vorherbestimmt, sondern vielmehr die Ergebnisse dieser Handlungen.38 Wie zu sehen sein wird, verhielt es sich ihm kalām andersherum.
5.1.2 Qadarīya, Muʿtazila und Ašʿarīya Schon früh begannen geschichtliche Abläufe die Diskussion um theologische Fragen weiter zu prägen. Die Verbreitung der koranischen Lehre im altarabischen Umfeld trug dabei zunächst eher zur stärkeren Betonung der menschlichen Verantwortung bei.39 Rechenschaftspflicht für die eigenen Taten war eine besonders bei den Ḫāriǧiten ausgeprägte Tendenz. Falsches, sündhaftes Handeln führte zum Ausschluss aus der Gruppe. Die Murǧiten blieben zwar dem darin zum Ausdruck kommenden ethischen Ernst treu, auch wenn sie die Konsequenzen von Fehlverhalten nicht unbedingt wie die Ḫāriǧiten mit einem sozialen Ausschluss verknüpften, sondern das Urteil über den Sünder eher Gott am Jüngsten Tag überließen. Als die Frage der Gruppenzugehörigkeit nicht mehr so akut war, begannen schnell explizit theologische Debatten an ihre Stelle zu treten: Statt nach den politischen Konsequenzen der Sünde wurde nach ihrem Zustandekommen und dem genauen Beitrag von Gott und Mensch gefragt. Eine erst nur lose verbundene Gruppe, die sich in der Debatte einen Namen machte, war die Qadarīya.
37 Watt, Free Will, 20. 38 Frolov, Freedom, 267. 39 Watt, Free Will, 38.
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Der Begriff Qadar, von dem sich ihr Name ableitet, hatte, wie gesehen, im Koran eine Konnotation von göttlicher Macht und wurde bald zur göttlichen Bestimmung präzisiert.40 Auch wenn die Qadariten sagten, Gott habe seine Macht (qadar) zu bestimmen auf den Menschen übertragen (fawwaḍa), so dass dieser ein Handlungsvermögen habe (qudra oder istiṭāʿa), blieb an ihnen der Name der göttlichen Bestimmungsmacht gleichsam hängen.41 Die Qadariten traten zwar an vielen Stellen in der islamischen Welt auf 42 und blieben noch lange präsent,43 doch wurden sie bald von der Muʿtazila in der Meinungsführerschaft verdrängt, auf die sich dann auch die Diskussion fokussierte. Immerhin hat die Qadarīya im Buch des Abū l-Muṭīʿ an-Nasafī über Häresien Eingang gefunden und spielte somit in der transoxanischen Tradition eine Rolle, die sie in Werken von Ašʿarī oder Tāǧ ad-Dīn aš-Šahrastānī (st. 1153) nicht einnimmt.44 Allerdings gibt es wiederum im Iršād des Ğuwaynī aus der ašʿaritischen Tradition auch einen „Tadel der Qadarīya“.45 Die Auseinandersetzung mit der Qadarīya im Šarḥ al-Maqāṣid (s. 5.2.2.8) kann also verschiedene Vorbilder haben.46 Die Qadariten verhalfen zwar dem Begriff qadar dazu, fester Bestandteil der islamischen Theologie zu werden, doch sollten erst die Muʿtaziliten eine wirkliche Theorie der Handlung entwickeln. Die pauschale Übertragung des Handlungsvermögens wich dabei – vor allem durch Abū l-Huḏayl aus der Schule von Basra – einer Konzeption, in der sich das Handlungsvermögen auf die je einzelne Handlung bezog.47 Diese Lehre sagte aber nur etwas über das aus, was der Mensch unmittelbar tut und nichts über Auswirkungen der Handlung auf andere. Bišr al-Muʿtamir brachte deshalb den Begriff der „Erzeugung von einzelnen Handlungen auseinander“ (tawallud) ins Spiel, da er eine Möglichkeit bot, den Handlungsradius eines Menschen abzustecken und so die Folgen einer Handlung zu reflektieren: Der Schlag eines Menschen verursacht den Schmerz im Geschlagenen; durch das Abschießen eines Pfeils bewirkt man Bewegung.48
40 Gardet, Louis, al-Ḳaḍāʾ Wa ʾl-Ḳadar. In: EI2 Brill Online, 2013. 41 Watt, Free Will, 48f. 42 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 492. 43 van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 50. 44 van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 50f. Eine Abgrenzung von der Qadarīya scheint schon im frühen kalām von Bedeutung gewesen zu sein, insofern ein erster Tadel der Qadarīya vielleicht schon auf den 688 gestorbenen Abū l-Aswad ad-Duʾalī zurückgeht. Erhalten ist erst eine ablehnende Schrift des Kalifen ʿUmar b. ʿAbd al-ʿAzīz (st. 720). Madelung, Der Kalām, 326. 45 Ğuwaynī, Iršād, 255f. 46 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 267–270. 47 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 483. 48 Watt, Free Will, 74; van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 116.
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Doch letztlich bahnte sich eine Entwicklung an, den Menschen von einem kausalwirkmächtigen Einfluss auf die Dinge ganz zu entkleiden. Schon bei Muʿammar (st. 830) erscheint die Handlung als „akzidentieller Wirkvollzug“, auf den der Mensch zumindest physikalisch keinen Einfluss hat, und allenfalls durch seinen Willen eine Wahl (iḫtiyār) hat.49 Bei den späteren Autoren Ǧubbāʿī und ʿAbd alǦabbār blieb dem handelnden Menschen dann nur noch ein Beitrag in Form des Zur-Existenz-Bringens: Ce qui, dans l’acte, dépend de l’agent, c’est, bien sûr, essentiellement la venue à l’être. Il semblerait même à lire certains passages du Muġnī ou du Maǧmūʿ, que ce soit la seule modalité de l’acte qui implique l’intervention d’un agent.50
Für die Muʿtazila blieb also immer zentral, einen Punkt zu bestimmen, an dem glaubhaft Verantwortung des Menschen für seine Handlungen festgemacht werden konnte, so dass er – wie indirekt auch immer –, und nicht Gott, Verursacher des Bösen blieb. Somit blieb Gott von bösem Handeln frei und die jenseitige Belohnung und Bestrafung erschienen als Ausdruck der Idee göttlicher Gerechtigkeit und nicht im Widerspruch dazu. Die große Vielfalt und Differenziertheit muʿtazilitischer Handlungstheorie ist damit bei weitem nicht erfasst, doch ist eine ganz zentrale Station für die Entwicklung der Handlungstheorie im kalām damit benannt und kurz skizziert. In den theologischen Standpunkten, die innerhalb des kalām in Reaktion auf die Muʿtazila gebildet wurden, trat der menschliche Beitrag noch weiter zurück. Eine Ausnahme bildet die māturīditische Tradition, die den Begriff der Wahl aufgreift und weiter ausformulieren sollte (s. u.). Anders gingen zuvor Ǧahm b. Ṣafwān und später Ašʿarī mit der Schwierigkeit um, für den menschlichen Beitrag bei seinen Handlungen einen Schlupfwinkel in Gottes allmächtiger Schöpferund Verursachertätigkeit zu finden. Eine radikale Alternative zu den muʿtazilitischen Konzepten findet sich bei Ǧahm b. Ṣafwān. Von ihm war im Rahmen der Auferstehungslehre schon die Rede, da er die radikale Position vertrat, Paradies und Hölle würden vergehen, da nichts neben Gott ewig Bestand haben dürfe. Diese Überzeugung von Gottes absoluter Transzendenz hatte ihn auch in die Lage versetzt, an ein menschliches Handlungsvermögen gar nicht mehr denken zu müssen, da für ihn alle H andlungen wie Gegenstände direkt von Gott geschaffen sind.51 In seiner Theorie des umfassenden
49 Daiber, Muʿammar, 393. 50 Gimaret, Théories, 17. 51 Ansari, Taftāzānī’s Views, 71.
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Zwangs (ǧabr) ist der Begriff der Handlung rein metaphorisch zu verstehen, so wie wenn wir sagen: „Die Sonne geht auf“. Letztlich sind mit den Handlungen auch die Jenseitsschicksale direkt von Gott geschaffen.52 Die Lehre, dass alles in der Welt ausnahmslos auf göttlichem Zwang beruhe, wurde Ǧabrīya genannt, während andere auch von der Muǧbira sprachen.53 Diese Lehre sollte dann im 12. Jahrhundert durch Rāzī eine Ausgestaltung in der theologisch-philosophischen Sprache seiner Zeit erfahren (s. u.), in der sie auch für Taftāzānī relevant wurde. Eine wesentlich wirkmächtigere Alternative zur Muʿtazila wurde – auch im Hinblick auf die Handlungstheorie – von Ašʿarī entworfen. Gott wird zum alleinigen Hervorbringer der Handlung und der Mensch verliert damit sein Handlungsvermögen vor der Tat. Sein Handlungsvermögen wird mit der Tat direkt von Gott geschaffen, so dass der Ansatzpunkt für eine Entscheidung zur Handlung im Menschen ganz verschwindet.54 Hierfür spricht auch, dass der Handlung selbst immer gewisse Eigenschaften zukommen, die nicht im Ermessen des Menschen liegen: So ist der Unglaube schlecht und nichtig, der Glaube gut, aber mühevoll. Der Mensch aber möchte, dass sein Unglaube gut sei oder sein Glaube ohne Mühen. Es ist daher vielmehr Gott, davon ist Ašʿarī überzeugt, der alle Handlungen mit ihren Eigenschaften so hervorbringt, wie sie sind.55 Doch der Mensch bleibt auch bei Ašʿarī verantwortlich für seine Handlungen, insofern er sie sich aneignet, womit ihm die Verantwortung für seine Handlungen zugeschrieben werden kann. An dieser Stelle floss der von Ḍirār b. ʿAmr geprägte Begriff der Aneignung (kasb oder iktisāb)56 in die ašʿaritische Tradition mit ein,57 auch wenn er von Ašʿarī selbst nur zurückhaltend gebraucht wurde.58 Spätestens aber mit dem Werk Baqillānīs fand die Rede von der Aneignung dann Eingang in den ašʿaritischen Sprachgebrauch.59
52 Wolfson, Philosophy, 606; Watt, Free Will, 96. 53 Zuvor wurden die Begriffe auch schon von Muʿtaziliten zur Kennzeichnung traditionalistischer Positionen verwendet, von diesen aber zurückgewiesen und sogar als Häresie verurteilt. Holtzman, Livnat, Debating the Doctrine of jabr (Compulsion). In: Krawietz, Birgit & Tamer, Georges (Hg.): Islamic Theology, Philosophy and Law. Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim alJawziyya, Berlin 2010, 61–93, 61f. 54 Ašʿarī, Lumaʿ, 92. 55 Gimaret, Théories, 5. 56 Eine koranische Fundierung hat das Wort in Sure 2,286: „lahā mā kasabat wa-ʿalayhā mā iktasabat“ Für sie [die Seele] spricht, was sie erwarb und gegen sie, was sie erwarb.“ [Hervorhebungen und Ergänzung von T. W.] Bobzin, 46. 57 Watt, Free Will, 104f; Holtzman, Debating, 62. 58 Watt, Free Will, 143. 59 Ansari, Taftāzānī’s Views, 72. Die Verwendung blieb aber uneinheitlich. Īǧī verzichtete auf den Begriff in seinen Mawāqif (Gimaret, Théories, 161), während wir ihn bei Taftāzānī antreffen (s. u.).
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Für die Betrachtung der Auferstehungslehre waren es vor allem die muʿtazi litische und die ašʿaritische Traditionslinie, die zusammen mit den philosophischen Positionen das Feld abgesteckt haben. Im Bereich der Handlungstheorie sind aber zwei weitere Entwicklungsstränge in den kalām-Debatten relevant und prägen die Schriften Taftāzānīs. Während es sich bei der zweiten Tradition um die angesprochene Ausformulierung der Lehre von Ǧahm b. Ṣafwān durch Rāzī handelt, ist die erste Traditionslinie vor allem regional zu verorten. Sie betrifft die von der Murǧiʿa und Anhängern von Abū Ḥanīfa geistig vorbereitete Māturīdīya in Transoxanien, aus deren Tradition das von Taftāzānī kommentierte Glaubensbekenntnis stammt (s. 3.3.1).
5.1.3 Māturīdīya und Ǧabrīya In der ḥanafitischen Tradition transoxanischer Theologie galt es als allgemeiner Grundsatz, in Fragen der Handlungstheorie eine mittlere Position einzunehmen. Dies sollte helfen keines der Extreme zu berühren, die in der islamischen Theologiegeschichte mit der weitgehenden Willensfreiheit der Qadariten und der Theorie des göttlichen Zwangs bei den Ǧabriten markiert wurden. Daraus entstand ein kombiniertes Modell, das darauf hinauslief, zwischen Willen, Bestimmung, Beschluss und Erschaffung auf Seiten Gottes und der ausführenden Umsetzung (fiʿl) durch den Menschen zu unterscheiden.60 Māturīdī brachte zur Fortentwicklung dieser Ansätze die Aspekte (ǧihāt) einer Handlung ins Spiel. Sie sind zum Teil Gott und zum Teil dem Menschen zuzuschreiben. Er ging mit der Tradition Abū Ḥanīfas darin überein, dass der Mensch das Vermögen zu beiden Handlungsalternativen habe, benutzte aber neu konsequent den Begriff der freien Wahl (iḫtiyār).61 Bezüglich des in der T radition umstrittenen Handlungsvermögens führte er noch eine weitere Differenzierung ein: Während die Lehre der traditionellen Ḥanafīya besagte, dass das Handlungsvermögen mit der Handlung auftrete, und im Gegensatz dazu die Karrāmiten wie die Muʿtazila lehrten, es sei schon vor der Tat vorhanden,62 gelang Māturīdī eine Synthese. Er sagte, ein Handlungsvermögen besitze der Mensch von Natur aus (istiṭāʿa), es sei Teil seiner persönlichen Unversehrtheit (salāma) und damit „die Voraussetzung für jedes planmäßige Handeln.“63 Ein zweites Handlungsvermögen, das von Gott
60 Rudolph, Māturīdī, 337. 61 Rudolph, Māturīdī, 340. 62 van Ess, Josef, Ungenützte Texte zur Karrāmīya, Heidelberg 1980, 24f. (s. auch Fußnote 82). 63 Rudolph, Māturīdī, 341.
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gegeben wird, setze mit der Tat (maʿa l-fiʿl) ein und befähige ihn zur Ausführung der Tat. Aus der Kombination der beiden Handlungsvermögen ergebe sich dann ein Moment der Wahlfreiheit (iḫtiyār).64 In handlungstheoretischen Fragen war also zumindest in Transoxanien die Einschränkung der menschlichen Beteiligung nicht so stark erfolgt, wie dies im Irak und den umliegenden Gegenden unter dem Einfluss Ašʿarīs der Fall war. Zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen beiden Positionen kam es aber erst im späten 11. Jahrhundert, als die Māturīdīya Formen einer theologischen Tradition annahm. In diese Phase fällt die den Ašʿariten gegenüber sehr kritische Schrift Šarḥ al-Fiqh al-akbar, die fälschlicherweise Māturīdī selbst zugeschrieben wurde.65 Allerdings unterscheidet sich diese Schrift aus der māturīditischen Tradition von dem, was in Nasafīs ʿAqāʾid zur Handlungstheorie gesagt wird, da ihr Autor wieder nur von einem Handlungsvermögen ausgeht,66 während Nasafī und Taftāzānī von den zwei Handlungsvermögen nach Māturīdī sprechen (s. u.). In eine ganz andere Richtung wies die vierte Tradition, die für Taftāzānī eine Rolle spielt. Diese von Gimaret neo-ǧabritisch genannte Richtung67 beschnitt das menschliche Handlungsvermögen stärker, als es die ašʿaritische Lehre tat. Sie geht auf den schon vorgestellten Korankommentator und Verfasser der Uṣūl Rāzī zurück, der diese Lehre sogar als unausweichlich bezeichnete.68 Eine einschlägige Stelle für seine handlungstheoretische Position ist seine Interpretation von Vers 2,769: „Versiegelt hat Gott ihre Herzen und ihr Gehör, und über ihren Augen liegt ein Schleier. Harte Strafe ist ihnen bestimmt.“70 Die neo-ǧabritische Position kann aus Rāzīs mehrseitigem Kommentar zu diesem Vers gewonnen werden. Der Kommentar ist in dreizehn Einzelfragen gegliedert, wobei hier aber nur die ersten drei Fragen (masāʾil) relevant sind: Wie auch aus der Übersetzung hervorgeht („Versiegelt hat Gott…“), ist das „Versiegeln“ (ḫatama) Ausgangspunkt der Interpretation. Es gleicht dem Verbergen (katm) oder dem Bedecken – so die These der ersten Einzelfrage, der hier wohl die Rolle zukommt, über die Rede vom Verbergen die ausführliche Erklärung im Folgenden zu legitimieren. Die zweite Einzelfrage beginnt mit der Feststellung andlungen der Rāzīs, dass der Vers denen zupass kommt, die sagen, dass die H
64 Rudolph, Māturīdī, 341. 65 Rudolph, Māturīdī, 363. 66 Rudolph, Māturīdī, 364. 67 Gimaret, Théories, 168. 68 Holtzman, Debating, 63. 69 Gimaret, Théories, 161f.; andere Stellen nennt Holtzman: Holtzman, Debating, 73f. (besonders Fußnote 45). 70 Bobzin, 10.
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Menschen von Gott geschaffen sind. Manche sagen, Gott habe den Unglauben in den Herzen der Ungläubigen gleichsam direkt geschaffen. Andere sagen, das Siegel sei die Erschaffung eines Anlasses, der in Verbindung mit dem Handlungsvermögen zu einer Gesamtheit des Handlungsvermögens (maǧmūʿ al-qudra) werde, welche ein notwendig zwingender Grund (sabab mūǧib) für die Tatsächlichkeit des Unglaubens (wuqūʿ al-kufr) werde.71 Zur zweiten Möglichkeit liefert Rāzī nun seine Analyse. Dabei eröffnet ihm die Rede vom Vermögen die Tür, um in Alternativen zu denken, was nicht möglich wäre, wenn man Erschaffung, Handlungsvermögen und den entstandenen Unglauben letztlich als Faktum aus einem Guss erachten würde – was geschieht, wenn man den Koranvers rein wörtlich versteht. Daher beginnt Rāzī also, die Alternativen durchzuspielen: Derjenige, der Macht über den Unglauben hat, kann entweder auch die Macht haben, ihn nicht geschehen zu lassen (tark), oder er kann diese Macht nicht haben. Gäbe es diese Macht zur Unterlassung nicht, wäre die Schaffung des Handlungsvermögens gleichzusetzen mit der direkten Schaffung des Unglaubens. Doch wenn es die Möglichkeit einer Unterlassung gibt, dann ermöglicht das Handlungsvermögen den Unglauben und seine Unterlassung. Die zweite Alternative stellt sich folgendermaßen dar. Entweder hängt das Handlungsvermögen zum Unglauben davon ab, dass es sich mit einem ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ) verbindet, oder es hängt nicht davon ab. Das Handlungsvermögen als etwas ontologisch nur Mögliches kann aber nur reale Tatsache werden, wenn es einen ausschlaggebenden Grund dafür gibt, bzw. ein ursächlicher Einflussfaktor (muʾaṯṯir) existiert. Gälte dies nicht, würde es gegen die Existenz eines Schöpfers sprechen, der den Urgrund dafür darstellt, dass mögliche Dinge tatsächlich werden. Diese Lehre vom ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ) stammt aus der ontologischen Strukturierung der Welt nach Ibn Sīnā. Demnach verleiht der ausschlaggebende Grund im Moment vor der Schöpfung der Existenz das Übergewicht über die Nicht-Existenz.72 Als Antwort auf die Frage danach, was das offene Handlungsvermögen letztlich auf eine bestimmte Handlung festlegt, greift Rāzī auf dieses Konzept des ausschlaggebenden Grundes zurück. Der zweite Begriff, also der des ursächlichen Einflussfaktors (muʾaṯṯir), entstammt der Kausalitätslehre.73 Er wurde auch
71 Rāzī, Tafsīr II, 45. 72 Dieses Argument wird auch im Rahmen der Schöpfungslehre nochmals eine Rolle spielen (s. 6.1.2). Siehe auch: Holtzman, Debating, 76. 73 Wisnovsky sieht diese Verbindung von Kausalität mit Metaphysik schon im Neuplatonismus vorgebildet. Wisnovsky, Metaphysics, 5.
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schon von Muʿtaziliten wie Ǧubbāʿī verwendet, um die physischen Zustände mit den aus ihnen folgenden Handlungen zu verbinden.74 In Rāzīs Handlungstheorie wird der ursächliche Einflussfaktor hingegen ganz materiell gedacht und ist das direkte Bindeglied zwischen der Ursache und ihrer Wirkung, d.h., dem Eintreten einer Handlung. Man könnte ihn als die konkrete Wirkweise des ausschlaggebenden Grundes betrachten. Rāzī versucht sodann den ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ) näher zu bestimmen. Der ausschlaggebende Grund könnte Produkt einer Handlung Gottes, des Menschen oder keines von beiden sein. Die zweite Variante, nämlich dass er Produkt menschlicher Handlung sei, schließt Rāzī direkt aus, denn um ihn hervorzubringen, bräuchte der Mensch ja wieder einen ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ), und das würde zum infiniten Regress führen. Würde er von keinem von beiden erzeugt (dritte Variante), gäbe es wieder etwas ohne den ursächlichen Einflussfaktor (muʾaṯṯir), was wieder am Beweis der Existenz des Schöpfers rütteln würde. Es bleibt nur die erste Variante: Somit steht fest, dass das Handlungsvermögen des Menschen aus dem [von Gott selbst] präzise Bestimmten (al-maqdūr al-muʿayyan) hervorgeht und davon abhängt, dass sich mit dem Handlungsvermögen ein ausschlaggebender Grund verbindet, der eine Handlung Gottes ist.75
Man kann sich jetzt fragen, wie es im Falle dieser Verbindung von ausschlaggebendem Grund und Handlungsvermögen (qudra) um den Einfluss des Handlungsvermögens auf die tatsächliche Handlung bestellt ist. Ist dieser Einfluss notwendig, zulässig oder unmöglich? Die letzten beiden Optionen sind laut Rāzī hinfällig: Die Option, dass der Einfluss nur zulässig, aber nicht notwendig ist, würde bedeuten, dass die Verbindung des Handlungsvermögens mit dem ausschlaggebenden Grund einmal zusammen mit der Tatsache der Handlung eintritt und ein anderes Mal losgelöst davon. Sollten wir dies tatsächlich annehmen, da alles prinzipiell zulässig sein kann, solange sein Eintreten nichts Unmögliches notwendig macht, dann würde die tatsächliche Handlung von einer weiteren Verknüpfung (qarīna) abhängen oder nicht. Falls sie davon abhängt, müsste diese Verknüpfung noch zu der Verbindung von Handlungsvermögen und ausschlaggebendem Grund hinzukommen, doch war ja festgelegt, dass diese Verbindung unabhängig von weiteren Faktoren ist. Anderenfalls
74 Gimaret, Théories, 13. 75 Rāzī, Tafsīr II: „fa-ṯabata anna kawna qudrati l-ʿabdi maṣdaran li-l-maqdūri l-muʿayyani yatawaqqafu ʿalā an yanḍimma ilayhā muraǧǧiḥun huwa min fiʿli llāhi taʿālā“, 45.
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würde sich ein infiniter Regress ergeben, was unmöglich ist. Wäre das Eintreten aber unabhängig von dem angenommenen zusätzlichen Zusammenhang, ergäbe sich die Handlung ohne ausschlaggebenden Grund. Dies ist ebenfalls unmöglich, denn man müsste ja wieder etwas annehmen, das für das Eintreten der Handlung verantwortlich ist. So folgt, dass es nicht möglich ist, dass bei Existenz des ausschlaggebenden Grundes das Eintreten der Handlung als Tatsache zulässig ist. Die andere Möglichkeit, dass das Handlungsvermögen keinen Einfluss hat, ist offensichtlich falsch, denn dann wäre der Grund kein Grund zur Existenz sondern zum Nichts. Rāzī steht daher kurz davor, den Zwang oder die absolute Notwendigkeit im Eintritt einer Handlung zu folgern. Er tut dies mit folgenden Worten: Somit steht fest, dass beim tatsächlichen Eintritt des ausschlaggebenden Grundes die Wirkung (aṯr) [die tatsächliche Handlung, im Beispiel der Unglaube, T. W.] notwendig existieren muss als Folge der Kombination, die aus der göttlichen Macht (qadar) und dem ausschlaggebenden Grund besteht, und wenn dies feststeht, dann muss man auch vom Zwang (ǧabr) sprechen.76
Die Grundzüge dieser Argumentation finden sich auch in der ersten Einheit der Uṣūl zum Thema der Handlungstheorie. Dort firmieren sie zwar unter dem Titel ǧabr, allerdings erfolgt keine Bestätigung des Terminus am Ende der Argumentation.77 Für die Vorstellung des neo-ǧabritischen Denkens eignet sich der Korankommentar daher besser. Er hat zudem den Vorteil, im Rahmen der dritten Einzelfrage noch einen Schritt weiterzugehen und das Verhältnis dieser rationalen Beweisführung (dalīl ʿaqlī) zu den vielen anderen verschieden auslegbaren Koranstellen zu thematisieren. Rāzī bekennt darin offen, dass der Koran mit Belegstellen für beide Lager reich bestückt ist und beiden Lagern somit hinreichend Offenbarungsbeweise liefert. Doch habe der Verstandesbeweis den Zwang in der Handlungstheorie klar als einzige Option herausgestellt: „Die Feststellung [der Existenz] Gottes greift auf die Rede vom Zwang zurück.“78 Dies gilt für Rāzī nicht nur bei der Handlungstheorie, sondern auch in einem größeren Zusammenhang. Auch bei der ursprünglichen Schöpfung und dem ersten kosmischen Intellekt, dem ersten Geschaffenen, erfordere der ausschlaggebende Grund für
76 Rāzī, Tafsīr II: „wa-iḏan […] ṯabata anna ʿinda ḥuṣūli muraǧǧiḥi l-wuǧūdi yahūnu l-aṯru wāǧibun ʿani l-maǧmūʿi l-ḥāṣili mina l-qadari wa-min ḏālika l-muraǧǧiḥi wa-iḏan ṯabata hāḏā kāna l-qawlu bi-l-ǧabri lāziman“, 46. 77 Rāzī, Uṣūl, 83f. 78 Rāzī, Tafsīr II: „huwa anna iṯbāta l-ilāhi yulǧīʾu ilā l-ǧabri“, 48 (Ergänzung, T.W.).
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die Existenz gegenüber dem Nichts ebenfalls den Zwang.79 Rāzī greift dabei auf eine Schöpfungsvorstellung zurück, die es auch bei Ibn Sīnā gibt (s. u.). Die Rede vom ersten Intellekt unterstreicht die Verwurzelung in der Kosmologie, wie sie in der islamischen Philosophie entworfen wurde. Damit verknüpft Rāzī sein handlungstheoretisches Hauptargument aber zugleich wieder mit der kosmologischen Herkunft dieser Beweisführung, denn in beiden Fällen geht es letztlich um den ausschlaggebenden Grund dafür, dass etwas existiert und nicht nicht-existiert, sei es der Kosmos oder die einzelne Tat. Rāzī sprengt im Kommentar den Rahmen der Versinterpretation ein weiteres Mal, wenn er sagt, die Muʿtazila sei nicht zu verketzern. Er begründet dies damit, dass der intuitive menschliche Entschluss besage, dass Gott zu rühmen und Hässliches von ihm fernzuhalten sei und dass das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten sei. Dieser intuitive Entschluss erfordere somit laut Rāzī das Hervortreten der Muʿtazila in der Geschichte, um ihm Ausdruck zu verleihen.80 Rāzīs ǧabritischer Gedankengang verknüpft also den recht eindeutigen Charakter der Aussage in Vers 2,7 mit einer komplexen philosophischen Beweisführung, ohne mit dem Wortlaut des Verses in Konflikt zu kommen. Bemerkenswert erscheint aber vor allem die Reflexion auf der Metaebene, die zum einen das argumentative Patt der koranischen Offenbarungsbeweise für die eine oder andere Position in der Handlungstheorie offen konstatiert und zum anderen der Muʿtazila einen würdigen Platz mit geistesgeschichtlicher Funktion zuweist. Ob deren Vertreter diesen Platz außerhalb der Arena der relevanten Verstandesbeweise allein aufgrund ihres von Rāzī geschätzten hochherzigen Bekenntnisses zum Guten gern angenommen hätte, ist eine andere Frage. An der Figur Taftāzānīs erwächst aus dieser Geschichte der Handlungstheorie ein besonderes Interesse, insofern seine Lehre sowohl mit der māturīditischen als auch der ašʿaritischen Position und zudem mit dem neo-ǧabritischen Denken Rāzīs in Verbindung gebracht wird,81 wobei in allen Debatten muʿtazilitische Aspekte der Lehre ebenfalls eine Rolle spielen. Was sich über diese Feststellung hinaus zu Taftāzānīs eigener theologischer Biographie sagen lässt, soll sich durch die Analyse der beiden auch von Gimaret betrachteten Werke und den Einbezug des Tahḏīb erweisen.
79 Rāzī, Tafsīr II, 48. 80 Rāzī, Tafsīr II: „naǧidu ayḍan […] ǧazman badīhīyan bi-ḥasani l-madḥi wa-qabḥi ḏ-ḏammi wa-l-amri wa-n-nahīyi wa-ḏālika yaqtaḍī maḏhaba l-Muʿtazila“, 48. 81 Gimaret, Théories, 168.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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5.2 Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs 5.2.1 Der Kommentar zu den ʿAqāʾid an-Nasafīya Die ʿAqāʾid des Nasafī entstammen einer māturīditischen Tradition (s. 3.3.1.1), was im Rahmen der Handlungstheorie von besonderer Relevanz ist. Hier ist zum einen zu beachten, dass Māturīdī die freie Wahl (iḫtiyār) als das erste göttliche Attribut verstand.82 Er übernahm diesen Ausdruck ebenfalls für die hier relevanten Formen menschlicher Handlungen. Aus dem Bereich der Attributenlehre ist für das Verständnis der Handlungstheorie zudem noch eine göttliche Tateigenschaft relevant. Dabei handelt es sich um das Erschaffen (takwīn), das Gott nicht erst wie bei den Muʿtaziliten zusammen mit der Existenz der Schöpfung zugeschrieben werden kann. Es ist frei von jeder zeitlichen Bindung als ewig zu erachten. Folglich heißt es bei Nasafī in den ʿAqāʾid: „Das Erschaffen ist eine ewige Eigenschaft Gottes, des Erhabenen.“83 Taftāzānī übernimmt und verteidigt die Vorstellung der Ewigkeit des Attributs bei Gott und die Lehre, dass zugleich schon die damit verbundenen Dinge (taʿalluqāt) der Welt existieren.84 Diesbezüglich konstatiert Gimaret eine etwas zögerliche māturīditische Positionierung Taftāzānīs, während er sich in den Maqāṣid zum vehementen Anhänger der ašʿaritischen Position gewandelt habe,85 die ein ewiges Attribut des „Erschaffens“ ablehnt (s. 6.2.1). An dieser Stelle braucht diese Divergenz aber nicht weiter verfolgt zu werden. Wenn Taftāzānī bei der Attributenlehre seine Position von seinem Kommentar zu Nasafī hin zu den Maqāṣid erkennbar modifiziert hat, ja förmlich vom Māturīditen zum Ašʿariten wurde, so ist natürlich aufschlussreich zu sehen, wie sich dies im Bereich der Handlungstheorie darstellt. In der Handlungstheorie ist die māturīditische Position durch eine Synthese gekennzeichnet: L´attitude maturidite consiste au contraire à prendre compte dès le départ et sans restriction, la réalité de l´acte humain comme une réalité aussi fondamentale que sa création par Dieu.86
Diese Feststellung soll im Folgenden in Nasafīs ʿAqāʾid und Taftāzānīs zugehörigem Šarḥ nachvollzogen werden. Die entsprechenden Glaubensartikel liefern dabei einige einführende Überlegungen zum Handlungsbegriff.
82 Rudolph, Māturīdī, 316. 83 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 58. 84 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 69f. 85 Gimaret, Théories, 164. 86 Gimaret, Théories, 180.
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Handlungstheorie
5.2.1.1 Der Handlungsbegriff Zu Beginn des Abschnitts über die Handlungen schreibt Nasafī in seinen ʿAqāʾid87: Gott, der Erhabene, ist Schöpfer aller Handlungen der Menschen (ʿibād), gleich ob sie aus Unglauben oder Glauben, aus Gehorsam oder Ungehorsam bestehen.88
Taftāzānī erläutert in seinem Kommentar den Unterschied zur Muʿtazila, die gesagt habe, der Mensch sei Schöpfer seiner Handlungen (al-ʿabd ḫāliq li-afʿālihī), wobei er diesen Sprachgebrauch nicht mit den frühen Muʿtaziliten in Verbindung bringt. Diese hätten noch vom Menschen als dem, der die Handlungen in die Existenz bringt (muǧīd), oder dem Erfinder (muḫtariʿ) gesprochen. Doch mit Ǧubbāʾī und seinen Anhängern habe es sich eingebürgert, davon auszugehen, dass die Bedeutung des Ganzen eine einzige sei (maʿnā al-kull wāḥid), weshalb auch vom Menschen als Schöpfer der Handlungen gesprochen werde.89 Taftāzānī wendet zunächst ein, dass der Mensch in diesem Fall alle Details seiner Handlung kennen müsse. Allerdings kennt er, während er geht, viele Abläufe in seinem Körper gar nicht – so zum Beispiel, wann er welche Bewegung des Ausdehnens und Zusammenziehens in seinen Muskeln vollzieht. Der Grund dafür ist nicht Ablenkung, sondern Unkenntnis, denn auch direkt danach gefragt wüsste der Mensch darauf keine Antwort.90 An diese Überlegung schließt Taftāzānī zwei Koranverse an. Es handelt sich um Sure 37,96: „Wo euch doch Gott geschaffen hat und das, was ihr tut.“91 Hinzu kommt Vers 13,16: „[…] Gott ist der Schöpfer aller Dinge […]“92, wobei mit „allen Dingen“ alle möglichen Dinge gemeint seien. Nach rationalem Beweis (bi-dalālat
87 Es existiert eine deutsche Übersetzung der gesamten ʿAqāʾid von Joseph Schacht. Vgl: Schacht, Der Islam, 81–87. Schacht lässt allerdings von den fünf Qualifikationen der göttlichen Handlung zwei weg. Im zentralen Satz zum Handlungsvermögen koppelt er einen Teil des Relativsatzes durch Semikolon und den Einschub „Der Name“ ab. Angesichts der Wichtigkeit sprachlicher Details in den Formulierungen für die Analyse ist der Textteil zur Handlungstheorie daher hier in Anlehnung an Schacht neu übersetzt worden. Für eine modifizierte Übersetzung spricht auch, dass Schacht das arabische Wort für Gott – allāh – nicht übersetzt, sondern auf Deutsch mit „Allāh“ wiedergibt. 88 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 77. 89 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 78. Diese Sicht wird in der Forschung auch bestätigt: Frank, Richard, Remarks on the early development of the kalām. In: Philosophy, theology and mysticism in medieval Islam, Aldershot 2005, 315–329, 321; Gimaret, Théories, 7f. 90 Schon Abū l-Huḏayl hatte menschliches Handeln auf die Bereiche eingeschränkt, bei denen man weiß, wie man es macht, um sie von unwillkürlichem Handeln abzugrenzen. Dabei ist natürlich der Wissensanspruch soweit gefasst, dass der Mensch daran scheitern muss. van Ess, Theologie und Gesellschaft II, 249. 91 Bobzin, 394. 92 Bobzin, 215.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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al-ʿaql) ist die Handlung des Menschen auch eine mögliche Sache (šayʾ mumkin) und damit hier eingeschlossen.93 Taftāzānī verbindet also eine Alltagserfahrung, die jedem zugänglich ist, mit koranischen Belegen und einer philosophischen Konzeption, in der er sich wieder der Ontologie Ibn Sīnās bedient, wie es bei einigen Fragen zum Thema der Auferstehung bereits der Fall war (s. o.). Die Idee, dass der Mensch Schöpfer seiner Handlungen sei, ist für Ihn somit auf allen Ebenen abgewiesen. Taftāzānī knüpft hier noch eine Diskussion aus der Geschichte des kalām an. So habe man die Muʿtazila wegen dieser Lehre von einer Schöpferrolle des Menschen der Beigesellung (širk) anderer Götter zu dem einen und einzigen Gott bezichtigt. Damit ist wohl auch Abū l-Muʿīn an-Nasafī gemeint, der in der māturīditischen Schrift der „Sichtung“ (Tabṣira; s. 3.3.1.2) diesen Vorwurf an die Adresse der Muʿtazila erhebt. Doch ist der Bezug noch nicht explizit, wenn auch zu vermuten, da Taftāzānī eine Differenzierung von širk in zwei Formen so referiert, wie sie auch in der Tabṣira vorkommen. Die erste Form ist dabei eine, bei der die Beigesellten an der Göttlichkeit Gottes direkt teilhaben wie bei den Magiern, während die zweite Form sich dadurch auszeichnet, dass die Beigesellten nur Gegenstand der menschlichen Verehrung werden, wie es bei Götzen der Fall ist. Bei der ersten Form der Beigesellung formuliert Taftāzānī anders als Abū l-Muʿīn, insofern er anstelle von „eines Teilhabers an der Schöpfung“ (šarīk fī taḫlīq al-ʿālam)94 von „einem Teilhaber an der Göttlichkeit im Sinne einer Notwendigkeit der Existenz“ (šarīk fī ulūhīya bi-maʿnā wuǧūb al-wuǧūd)95 spricht, womit er sich einer stärker philosophisch geprägten abstrakteren Terminologie bedient. Bei der zweiten Art einer solchen Beigesellung wählt er dieselben Worte wie der Verfasser der Tabṣira, wenn er von einem „Recht auf Anbetung“ spricht (istiḥqāq al-ʿibāda).96 Abū l-Muʿīn hatte im Anschluss an diese Differenzierung argumentiert, eine Teilhabe sei nur möglich, wenn etwa in einem Dorf jeder etwas besitzt, was ein anderer nicht besitzt, so dass dann alle Besitzer Teilhaber am gesamten Dorf seien. Das Konzept der Teilhabe mache aber keinen Sinn, wenn es um Aspekte desselben Besitzes gehe, wie darum, dass jeder menschliche Besitz und auch die von Gott für ihn festgesetzte Handlung in seinem Wesenskern auch Besitz
93 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 79. Der Beweis bezieht sich auf die ontologische Unterscheidung von Notwendigem und Möglichem nach Ibn Sīnā (s. 3.1.3). 94 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II, 674. 95 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 79. 96 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II, 674. Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 79.
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Handlungstheorie
Gottes sei.97 Die Muʿtaziliten sind aber die, die bekräftigt hätten, dass Gott in der Welt Teilhaber habe, so sei jede Wahlhandlung eine Beigesellung.“98 Auch wenn Abū l-Muʿīn den Grund nicht direkt angibt, lässt sich leicht ergänzen, dass Gott gemäß dem muʿtazilitischen Konzept keinen direkten Einfluss auf die Handlung hat, weswegen in den Handlungen von Gott unabhängige Komponenten gegeben sind und das Konzept der Teilhabe, so wie er am Beispiel des Dorfbesitzes eingeführt hatte, verfängt. Taftāzānī weist diesen Vorwurf aber ab, da širk auch bedeute, Gott als Schöpfer etwas beizugesellen, während die Muʿtaziliten immer beachtet hätten, dass der Mensch für seine Handlungen auch Gründe und Instrumente brauche, die Gott ihm gegeben habe. Somit ist also für Taftāzānī anders als für Abū l-Muʿīn die göttlich-menschliche Gemeinsamkeit bei den Handlungen auch im muʿtazilitischen Konzept gegeben. Er schließt die Bemerkung an, dass Theologen in Transoxanien (mašāyiḫ mā warāʾ n-nahr) in der Anklage gegen die Muʿtazila übertrieben hätten, indem sie ihnen die Aussage unterstellten, Gott habe noch mehr als nur einen Teilhaber.99 Genau diesen Vorwurf finden wir bei Abū l-Muʿīn, der ihn sogar noch um eine Dimension erweitert, wenn er sagt, die Magier hätten Gott immerhin einen bösen Gegengott beigesellt, während die Muʿtaziliten Mitgötter annähmen, die besser als Gott handelten.100 Nach dieser Abgrenzung gegen eine strikt anti-muʿtazilitische Position aus māturīditischer Perspektive verändert Taftāzānī wieder den argumentativen Blickwinkel und weist einen muʿtazilitischen Einwand gegen eine ašʿaritische Position ab. Anknüpfungspunkt ist wie in dem eben geschilderten Fall die Teilhabe von Gott und Mensch an Handlungen. Ging es aber eben darum, die menschliche Rolle nicht zu sehr zu betonen, hebt der muʿtazilitische Einwand umgekehrt darauf ab, Gottes Rolle nicht zu sehr auszuweiten. Denn wenn Gott als Schöpfer aller Handlungen angesehen werde, so die Muʿtaziliten, sei er letztlich sogar derjenige, der stehe, esse, trinke, ja gar stehle oder sogar Ehebruch begehe. Doch laut Taftāzānī könne nur der mit etwas beschrieben (muttaṣif ) werden, bei dem diese Dinge auch vorhanden sind und nicht der, der sie zur Existenz bringt, wie Gott es tut. Zudem werde Gott ja auch nicht mit der Schwärze oder Weiße der Körper beschrieben, die er geschaffen habe.101 Dieses Argument erscheint hier im
97 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II, 674. 98 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II: „anna l-Muʿtazilata humu l-laḏḏīna aṯbatū llāha taʿālā fī l-ʿālami šurakāʾa wa-fī kulli fiʿlin ḫtiyārīyin šarīkan“ 675. 99 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 80. 100 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II, 676. 101 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 80f.
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Kommentar gut eingebettet, aber nicht an einer exponierten Stelle platziert. Dem gegenüber wird es im Šarḥ al-Maqāṣid sogar zum Einstieg in die Thematik der Handlungstheorie insgesamt benutzt und erfährt eine sehr polemische sprachliche Ausgestaltung (s. 5.2.2.2). Letztlich kann für die Position einer menschlichen Schöpfung der Taten noch auf den besonderen Zusammenhang zweier Koranverse verwiesen werden. Vers 23,14 lautet: „[…] Voller Segen ist Gott, der beste Schöpfer!“102 In Vers 5,110 ist von Jesus die Rede, wenn es heißt: „[…] Und damals, als Du aus Ton etwas schufst, was die Gestalt von Vögeln hatte […]“103 Aufgrund der hier enthaltenen Bezeichnung Gottes als „der beste Schöpfer“ könnte es auch andere, weniger gute Schöpfer geben. Die Aussage über Jesus wäre dann ein Beispiel für einen solchen Schöpfer, der kein so guter Schöpfer wie Gott ist, aber eben doch ein Schöpfer, da er Vögel aus Lehm herstellt. Taftāzānī setzt diese Überlegungen voraus und kommentiert, „hier bedeute die Schöpfung soviel wie „wohl abgewogenes Handeln“ (taqdīr).“104 Diese Abschwächung von „schöpfen“ (ḫalaqa) durch die Gleichsetzung mit „abschätzen“ oder „wohl abgewogen handeln“ (qaddara), war dabei ein gängiges Prinzip, um die muʿtazilitische Argumentation auf Grundlage dieser beiden Verse abzulehnen.105 Taftāzānī reiht sich also in den bisherigen Umgang mit der Frage ein, was zeigt, dass die Möglichkeit anderer Schöpfer immer wieder ein Problem dargestellt hat. Im Folgenden wenden sich die theologischen Texte – ʿAqāʾid und Kommentar – dann dem postulierten einzigen Schöpfer selbst und seinen Fähigkeiten zu. Nasafī fährt in den ʿAqāʾid fort, indem er die Handlungen näher kennzeichnet: Sie alle geschehen insgesamt durch seinen Willen (irāda), sein Wollen (mašīʾa), sein Urteil (ḥukm), seine Bestimmung (qaḍīya) und seine vorherbestimmende Beschlusskraft (taqdīr).106
102 Bobzin, 297. 103 Bobzin, 107. 104 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „anna l-ḫalqa bi-maʿnā t-taqdīr“ 81. Elder übersetzt das hier etwas widerspenstige Wort taqdīr mit decreeing. Elder, Commentary, 82. Rāzī, Tafsīr XXIII, 75. Gimaret sieht hier die Grundbedeutung von Maßnehmen als relevant an, die aber durch Ǧubbāʾī ausgeweitet worden sei. Es handele sich um ein reflektiertes Vorgehen, bei dem die Handlung so bemessen sei, dass man mit ihr sein Ziel erreiche. Deshalb plädiert Gimaret für die Übersetzung mit „agir par calcul, produir un acte calculé.“ Gimaret, Théories, 9f. Dies deckt sich mit der kurzen Erläuterung, die Zamaḫšarīs Kaššāf gibt, wenn er sagt, „der beste der Schöpfer“ bedeute: „der am besten Abschätzende / Kalkulierende“ (aḥsan al-muqaddirīn taqdīran). Das, was hier den Unterschied macht (mumayyiz), also das Maß nehmen, sei nur weggelassen worden. Zamaḫšarī, Kaššāf III, 177. 105 Gimaret, Théories, 9. 106 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 81.
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Die beiden Attribute „Willen“ und „Wollen“ haben für Taftāzānī dieselbe Bedeutung. Die Qualifizierung der Handlungen durch das Urteil Gottes (ḥukm) sieht Taftāzānī als Hinweis auf die Rede vom Erschaffen als Attribut Gottes (takwīn).107 Obwohl sich dies eindeutig auf die Māturīdīya bezieht, unterlässt er eine namentliche Bezugnahme. Nasafīs Wort qaḍīya für „Bestimmung“ ersetzt Taftāzānī durch das traditionellere qaḍāʾ, welches den göttlichen Ratsschluss meint (s. 5.1.2). Er diskutiert kurz den Einwand, dass dann auch der Unglaube zum ewigen Ratschluss Gottes gehöre, was seine Zufriedenheit mit dem Unglauben bedeuten würde. Er entgegnet, der Unglaube sei nicht Teil des Ratschlusses, sondern beschlossen (maqḍīy), und die Zufriedenheit Gottes sei notwendig mit Seinem Ratschluss und nicht dem Beschlossenen verknüpft.108 Hinzu kommt für Taftāzānī Gottes abschätzender Beschluss (taqdīr), der jedes Geschöpf im Hinblick auf gut und böse, nützlich und schädlich und auch in Bezug auf Zeit und Raum definiert. Dem Einwand, dass unter dieser Prämisse der Ungläubige zum Unglauben und der Sünder zur Sünde gezwungen sei und keiner von beiden mehr auf die Einhaltung des Gesetzes (taklīf) verpflichtet werden könne, hält er entgegen, dass Gott Unglauben und Sünde nur aufgrund ihrer eigenen Entscheidung (iḫtiyārihim) wolle, ohne dass Zwang bestehe ( fa-lā ǧabr). Gott wisse auch, dass Unglaube und Sünde ihrer Wahl entsprächen, so dass die Verpflichtung auf das Gesetz möglich sei.109 In der Entgegnung auf den muʿtazilitischen Einwand, dass Gott sicherlich vom Ungläubigen den Glauben und Gehorsam wolle und Gottes Wollen und Schaffen doch nicht böse sein könne, bringt er erstmals auch die Terminologie der Aneignung (kasb) ins Spiel: „Vielmehr ist das Böse die Aneignung des Bösen, die damit [dem Bösen, T. W.] beschrieben werde.“110 Den Muʿtaziliten wirft Taftāzānī vor, dass gemäß der Überzeugung, Gott würde das Böse nicht hervorbringen, in der Welt die meisten Handlungen gegen den Willen Gottes laufen müssten, was er geradezu „abscheulich“ (šanīʿ) nennt.111 Zur Veranschaulichung referiert Taftāzānī hier eine Anekdote des frühen Muʿtaziliten ʿAmr Ibn ʿUbayd (st. 762),112 von dem berichtet wird, er habe zusammen mit einem Magier eine Schiffsreise angetreten. Auf der Reise fragte
107 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 81. 108 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 81. 109 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „innahū taʿālā arāda minhumā l-kufra wa-l-fasqa bi-ḫtiyārihimā fa-lā ǧabr. kamā annahū taʿālā ʿalima minhumā l-kufra wa-l-fasqa bi-ḫtiyārihimā wa-lam yalzim taklīfu l-maḥāl“ 82. 110 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „bali l-qabīḥu kasbu l-qabīḥi wa-l-ittiṣāfu bihī“, 82. 111 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 83. Ansari, Taftāzānī’s Views, 73. 112 Elder, Commentary, 83. Ibn Ḫalliqān, Bibliographical Dictionnary II, 393ff.
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er den Magier, warum er nicht Muslim geworden sei, worauf der Magier antwortete, dass Gott nicht gewollt habe, dass er Muslim werde. Er würde aber Muslim, sobald Gott es wolle. Darauf sagte ʿUbayd, dass Gott wolle, dass er Muslim werde, doch dass die Teufel (šayāṭīn) ihn nicht allein ließen und somit davon abhielten. Der Magier entgegnete, dann wolle er doch weiterhin mit dem Erfolgreicheren (al-aġlab) sein.113 Wenn Gott also, so ließe sich folgern, nicht auch Schöpfer dieses Unglaubens ist, den der Magier an den Tag legt, so erschiene Gott selbst in seinem Willen, dass der Magier doch Muslim würde, den Teufeln unterlegen. Abschließend greift Taftāzānī die muʿtazilitische Meinung an, der Befehl bedürfe des Willens und eine Nicht-Existenz des Willens sei unmöglich. Deshalb sei der Glaube des Ungläubigen von Gott erwünscht, doch sein Unglaube sei nicht erwünscht. Taftāzānī antwortet auf zwei Ebenen: Zum einen wissen wir, dass eine Sache möglicherweise nicht erwünscht ist, und er sie doch befiehlt. Zum anderen kann sie sogar von Gott – aufgrund seines umfassenden Wissens um die Wohltaten – gewünscht sein. Hierfür spricht auch Vers 21,23: „Er wird nicht gefragt nach dem, was er tut […]“114 Obwohl dieser Vers in einem Kontext angesiedelt ist, in welchem es um Gottes Einzigartigkeit geht und die NichtBefragbarkeit Gottes eher als Zeichen seiner Transzendenz gelesen werden könnte, erscheint der Vers hier in einem rein die Immanenz betreffenden Zusammenhang. Doch bezüglich der verschiedenen Koranverse zum Thema ist Taftāzānī hier zurückhaltend. Es seien so viele, dass die Tore der allegorischen Auslegung beiden Parteien offenstünden.115 Diese leicht resignative Haltung in Bezug auf Offenbarungsbeweise zur Handlungstheorie war ja auch schon bei Rāzī deutlich geworden. Andererseits wird im Šarḥ al-Maqāṣid zu sehen sein, dass Taftāzānī im Gegensatz zu Bayḍāwī und Īǧī sowohl für die eigene Position als auch für die gegnerische Position Offenbarungsbeweise vorstellt und diskutiert. Das schon bei der koranischen Grundlegung handlungstheoretischer Überlegungen und den daran anschließenden theologischen Debatten beobachtete Spannungsverhältnis zeigt sich daher auch im Wechsel der Einschätzung zur Nutzbarkeit von Offenbarungsbeweisen bei der handlungstheoretischen Thematik.
113 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 83. 114 Bobzin, 281. Eigentlich hätte man hier einen Verweis auf die koranische Geschichte von Moses und dem Gottesknecht erwartet, der mit al-Ḫiḍr identifiziert wird (Renard, John, Khaḍir/ Khiḍr. In: EQ (II), 81–84, 81.) Die Geschichte veranschaulicht die Unbegreiflichkeit des von Gott Gewünschten klar. Koran 18,60–82. 115 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 84.
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5.2.1.2 Die Wahl des Menschen Vor diesem Hintergrund beginnt Nasafī von der Wahl (iḫtiyār) des Menschen zu sprechen: „Den Menschen kommen Handlungen mit Wahlmöglichkeit zu, für die sie belohnt oder bestraft werden.“116 „Das Gute an ihnen führt zur Zufriedenheit Gottes und das Böse an ihnen zu Seiner Unzufriedenheit.“117
Nasafī fährt hier also ganz māturīditisch fort, dass die Geschöpfe Wahlmöglichkeiten haben.118 Wie auch an anderen Stellen seines Werkes beobachtet werden konnte, kontrastiert Taftāzānī gerne Meinungen mit einer Gegenmeinung, die nicht unbedingt seine eigene ist, aber den Diskussionsrahmen etwas weitet. In diesem Fall setzt er der Betonung der Wahlmöglichkeit zunächst die Position der Ǧabriten entgegen, die dem Menschen, wie oben eingeführt, überhaupt keinen Einfluss auf sein Handeln zubilligten. Es gebe bei menschlichen Bewegungen weder Handlungsvermögen, noch Absicht, noch Wahlfreiheit.119 Gegen diese Position führt er wiederum die Unterscheidung zwischen der Bewegung des Greifens und des Zitterns an.120 Im ersten Fall gebe es eine Wahlmöglichkeit, im zweiten Fall nicht. Wer die ǧabritische Position teile, könne daher auch nicht von einer rechtmäßigen Verpflichtung des Menschen auf das göttliche Gesetz sprechen. Beim Beten, Fasten oder Schreiben seien Absicht und Wahlfreiheit, so Taftāzānī, essentiell. Anders verhielte es sich bei der Größe und der schwarzen Farbe eines Sklaven. An dieser Stelle fügt Taftāzānī wieder einige Koranverse an. So beruft er sich z. B. auf 56,24, wo es nach den Beschreibungen von Paradiesfreuden heißt: „zum Lohn für das, was sie je getan.“121 Den als ǧabritisch qualifizierten Einwand, Gottes Wissen und Wollen sei so umfassend, dass eine Tat allein durch die Kenntnis Gottes notwendig sei oder sie, wenn er sie nicht kenne, damit zugleich unmöglich
116 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 85. 117 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 89f. 118 Wolfson, Philosophy, 716. 119 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 85. Die Ǧabrīya mit der Qadarīya zu kontrastieren, und zwischen den beiden Extremen den idealen Mittelweg zu markieren, geht auf al-Baġdādī zurück. Auch wenn Taftāzānī hier Ǧabrīya und Qadarīya nicht direkt als Widersacher konstruiert, steht aber diese Denkfigur bei der Art der Gedankenführung wohl im Hintergrund. Watt, Free Will, 96. 120 Taftafāli zānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „wa-bi-ḍ-ḍarūrati anna li-qudrati l-ʿabdi wa-irādatihī madḫalan fī baʿḍi l-afʿāli ka-ḥarakati l-baṭši dūna baʿḍi ka-ḥarakati l-irtiʿāš“, 85; Diese Unterscheidung geht auf Baqillānī zurück. Ansari, Taftāzānī’s Views, 74. 121 Bobzin, 480. Dies ist allerdings ein recht beliebig ausgewählter Vers unter den vielen Versen, die das menschliche Handeln mit den jenseitigen Folgen in Verbindung bringen.
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sei, pariert er. Gott kenne die Tat so, dass seine Kenntnis ebenfalls umfasse, ob der Mensch sie gemäß seiner Wahlfreiheit tue oder unterlasse. Taftāzānī möchte die Klemme (maḍīq), die sich durch die Idee der Wahl ergibt, letztlich beseitigen, indem er sagt, Gott sei Schöpfer und der Mensch einer, der sich die Handlungen aneignet (kāsib).122 Sein Vorgehen ist dabei typisch. Er kommentiert zunächst die Idee der Wahl mit Hilfe der entgegengesetzten Position des Zwangs (der Ǧabriten) und bringt schließlich die Aneignung (kasb) als Mittelweg ins Spiel. Kurz darauf verwendet er zur Umschreibung der Aneignung aber einmalig noch einen zweiten Begriff, nämlich „Anwendung“ oder „Ausrichtung“ (ṣarf)123 seines Handlungsvermögens und seines Willens, worauf die Schaffung der Handlung durch Gott folge (ʿaqīb ḏālika).124 Für das Problem einer Beteiligung von Gott und Mensch an der Handlung ergibt sich daraus, dass das von Gott Festgesetzte (maqdūr) ein Einziges bleibt, doch es hat zwei Seiten (ǧihatayn): Die von Gott her zu denkende ist die Hervorbringung, die vom Menschen her zu denkende die Aneignung. Die Schöpfungstat Gottes verhindert nicht, dass der Mensch dabei Handlungsvermögen und Wahlfreiheit hat.125 Es lassen sich weitere klärende Unterscheidungen zwischen göttlicher Schöpfung und der menschlichen Aneignung treffen. Taftāzānī nennt deren drei. So gehört zur Aneignung anders als zur Schöpfung auch der Gebrauch von Instrumenten. Ebenso ist die Aneignung räumlich an den Ort des Handlungsvermögens gebunden, was bei der Schöpfung ebenfalls nicht der Fall ist. Zudem kann Aneignung nicht von der Person, die sie vollführt, getrennt werden, was beim Schöpfer möglich ist.126 Für diese drei Differenzierungen im Aneignungsbegriff findet sich unter Absehung einer leicht veränderten Reihenfolge eine direkte Vorlage in der Tabṣira des Abū l-Muʿīn.127 Wie auch Gimaret beobachtet hat, gehen bei Taftāzānī hier die māturīditische Position und die ašʿarītische Theorie einer Aneignung der Taten durch den Menschen (kasb) ineinander über, um die Beziehung (auf französisch rapport) zwischen Gott und Mensch erklären zu können.128
122 Ansari, Taftāzānī’s Views, 75. 123 Gimaret übersetzt ṣarf auf Französisch mit „application“ (Théories, 165) und Wolfson auf Englisch mit „directing“ (Philosophy, 716). 124 Gimaret vermutet, dass das Wort ṣarf hier von Maḥbūbī entlehnt sein könnte. Gimaret, Théories, 165. 125 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 86f. 126 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 87. 127 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 654. Gimaret, Théories, 165. 128 Gimaret, Théories, 165.
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Taftāzānī analysiert den Handlungsvorgang aber noch eingehender. Er präzisiert, dass keine gemeinsame Schaffung vorliege: die Handlung werde vielmehr von zwei Blickwinkeln (ǧihatayn) her beschrieben. Dies unterscheide sie von einer Teilhabe (širka), die den Muʿtaziliten vorzuwerfen sei, wenn sie den Menschen zum Schöpfer seiner Handlungen machten (s. o.). Mit der Rede von Blickwinkeln bedient sich Taftāzānī wiederum der māturīditischen Terminologie.
5.2.1.3 Das Handlungsvermögen Nasafīs nächster Glaubensgrundsatz nimmt eine in der Tradition des kalām schon oft diskutierte handlungstheoretische Begrifflichkeit in den Blick. Er kommt zum Handlungsvermögen: Das Handlungsvermögen (istiṭāʿa) existiert zugleich mit der Handlung und es ist das wirkliche Vorliegen des Handlungsvermögens (qudra), durch das sich die Handlung vollzieht.129
Insofern hier vom Handlungsvermögen die Rede ist, verbleibt die Diskussion bei der Verhältnisbestimmung des göttlichen und menschlichen Beitrags zur Handlung. Das Wesen der Handlung und ihre beiden Seiten aus menschlicher und göttlicher Sicht waren zwar schon Gegenstand der Erörterung und führten zur Ausformulierung des Konzepts von Aneignung, doch wird jetzt das Handlungsvermögen direkt thematisiert. Wie bald zu sehen sein wird, erscheint hier die oben schon erwähnte māturīditische Lehre der zwei Handlungsvermögen sowohl in den ʿAqāʾid des Nasafī als auch im Šarḥ des Taftāzānī. Allerdings geht es in Umkehrung der Chronologie zuerst um das zweite Vermögen direkt bei der Tat und erst im nächsten Glaubensartikel um das natürliche der Tat vorausgehende Vermögen. Als Bindeglied zwischen Māturīdī und den beiden hier behandelten Texten fungiert dabei wiederum Abū l-Muʿīn, der diese Lehre in die Schultradition eingebaut hat.130 Gleich zu Beginn seiner Ausführungen zum Handlungsvermögen (kalām fi l-istiṭāʿa) sagt Abū l-Muʿīn ausdrücklich, es zerfalle in zwei Teile (qismān) und definiert diese beiden Teile.131 Taftāzānī selbst bezieht den nun folgenden Passus des Kommentars dann auch explizit auf den „Verfasser der Tabṣira“, also Abū l-Muʿīn,132 gemäß welchem das Handlungsvermögen (istiṭāʿa), das zusammen mit der Tat auftritt – die zweite
129 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 90. 130 Rudolph, Māturīdī, 343. 131 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 541. 132 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „išāratun ilā mā ḏakarahū ṣāḥibu t-tabṣirati min annahā ʿaraḍun yaḫluquhū llāhu taʿālā fī ḥayawānin yafʿalu bihī l-afʿāla l-iḫtiyārīya. wa-hiya ʿillatun li-l-fiʿl“ 90.
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Form nach Māturīdī – ein von Gott für die Handlung geschaffenes Akzidens ist. Gott erschafft es in einem Lebewesen, so dass es Wahlhandlungen vollziehen kann und als Ursache (ʿilla) der Handlung zu bezeichnen ist.133 Dies stellt dann ein „wirkliches Vorliegen des Handlungsvermögens“ (ḥaqīqat al-qudra) dar.134 Taftāzānī schließt sich dieser Lehre aber nicht umfassend an. Er beruft sich auf eine nicht näher spezifizierte Mehrheit, die meint, das Handlungsvermögen sei eine Bedingung zum Vollzug (adāʾ) der Handlung und keine Ursache wie bei Abū l-Muʿīn. Er fasst dies direkt im Anschluss so zusammen, dass das Handlungsvermögen von Gott bei der „Absicht zur Aneignung der Handlung“ (qaṣd iktisāb al-fiʿl) geschaffen sei, nachdem die physikalischen Gründe und Instrumente vollumfänglich bereit sind, was dem ersten Handlungsvermögen entspreche. Wenn die Absicht zu einer guten Tat vorliege, schaffe Gott das zweite Handlungsvermögen zum Guten und umgekehrt.135 Da immer eine Möglichkeit zum Guten bestanden habe, die bei einer schlechten Tat gleichsam verschwendet worden sei, seien Tadel und Strafe im Fall der Wahl des Bösen verdient.136 Damit bleibt er bei der Hauptlinie der māturīditischen Tradition, erklärt das Handlungsvermögen allerdings nicht zur Ursache. Als Beispiel führt er wieder auf die Tabṣira zurückgreifend ein Koranzitat (Ende von 11,20) an: „Sie vermochten das Hören nicht […]“137 Diese Aussage steht auch im Kontext des vorherigen Verses. So lauten die Verse 11,19–20: „Sie, die von Gottes Weg abbringen und ihn krumm wünschen und nicht an das Jenseits glauben, die vermochten nichts auf Erden zu durchkreuzen und hatten keine Helfer gegen Gott. Verdoppelt wird ihre Strafe sein. Sie konnten weder hören [Sie vermochten das Hören nicht, T. W.] noch jemals sehen.“138 Zunächst klingt dies nach reiner Vorherbestimmung ohne menschliche Wahlfreiheit. Doch im Kontext der Behandlung des Wortes istiṭāʿa (Handlungsvermögen) erscheint es plausibel, dass Taftāzānī vorschlägt, ihn als Absage an die Anwendung des guten
Diese Stelle stellt im handlungstheoretischen Abschnitt den einzigen direkten Bezug zu Autor und Werk dar, das er aber auch anderen Orts implizit einfließen lässt. 133 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 541. 134 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 542. 135 Hier kommt der in handlungstheoretischen Diskussionen eher ungewöhnliche Begriff der Absicht herein, der wie schon im Vorherigen zeigt, dass Taftāzānī hier einen stärkeren Aneignungsbegriff formuliert, als es im strikten ašʿaritischen Verständnis der Fall ist. 136 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „fa-kāna huwa al-muḍīʿa li-qudrati fiʿli l-ḫayri fa-yastahiqqu (ḏḏamma) wa-l-ʿīqāb.“, 90. 137 Koran, 11,20: „mā kānū yastaṭīʿūna s-samʿ“ Übersetzung Thomas Würtz. 138 Bobzin, 190. Der fragliche Versteil wurde hier selbst übersetzt, da zum Verständnis der Argumentation eine wörtlichere Wiedergabe als bei Bobzin nötig ist.
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Handlungsvermögens zu lesen: „Sie haben das Handlungsvermögen des Hörens [und damit des Glaubens] nicht realisiert.“ Auch Abū l-Muʿīn hatte in der Tabṣira argumentiert, dass mit diesem Vers „die Verneinung einer Verwirklichung des Handlungsvermögens gemeint sei.“139 Wenn von einem Ungläubigen die Rede ist, dann in dem besonderen Sinn, dass er das Vermögen zur schlechten Tat realisiert hat und damit sein Handlungsvermögen zur guten Tat ausgelaufen ist. Diese Tat „vermag“ er nicht mehr zu leisten. Man darf vermuten, dass diese Deutung des Verses nicht die alleinige ist und dass sowohl Muʿtaziliten wie auch Ǧabriten ihn anders interpretieren würden. Dies bestätigt sich auch bei Zamaḫšarī, der hier klar als Anhänger einer muʿtazilitischen Position hervortritt. Er vermutet dabei zunächst jedoch, dass seine Gegner, die vom Zwang reden, sich auf diese Stelle stürzen würden (yatawaṯṯaba), um sodann gegen die Leute der Gerechtigkeit, also die Muʿtaziliten in [triumphierendes] Wolfsgeheul auszubrechen (yuwaʿwiʿu).140 Zamaḫšarī bietet aus muʿtazilitischer Sicht trotzdem andere Überlegungen an. So könne es sein, dass die Frevler sich übermäßig taub gegen die Wahrheit stellten und durch ihren Hass darauf [in einen solchen Zustand] gerieten, „als ob“ sie das Hören nicht mehr vermochten, wobei also keine wirkliche Beeinträchtigung des Handlungsvermögens bestünde. Eine andere Erklärung läge darin zu sagen, dass „nicht zu hören vermögen“ so gemeint ist, als ob jemand die Leute um ihn herum, die mit allen Zungen auf ihn einreden, nicht hören kann: Diese Rede kann ich nicht hören. Mein Gehör weist es (wörtlich: wirft es – yamaǧǧuhū) von sich. Dies entspräche dem uns vertrauten metaphorischen Sprachgebrauch von „nicht hören können“. Zamaḫšarī bringt darüber hinaus noch eine Erklärung ins Spiel, nach welcher hier gar nicht von den Frevlern selbst die Rede sei, sondern von den Helfern, an die sie sich gewandt hätten (s. Koranzitat). Dazu muss man allerdings den Versteil „Sie hatten keinen Helfer gegen Gott“ so verstehen, dass sie ihre Gottheiten zu Helfern machten, deren Hilfe aber nichts wert war. Lässt man diesen Rückbezug über den Abschnitt „Verdoppelt wird ihre Strafe sein“ zu, wäre der fragliche Abschnitt so zu lesen, dass diese angeblichen Helfer das Hören nicht vermochten.141 Entweder sind nach Zamaḫšarī die Leute also des Hörens dauerhaft unwillig oder sie können im übertragenen Sinn nicht hören, da sie das Gehörte nicht ertragen. Oder aber der Vers bezieht sich gar nicht auf menschliche Frevler, sondern
139 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II: „wa-l-murādu minhū nafīyu ḥaqīqati l-qudrati“, 542. 140 Zamaḫšarī, Kaššāf II, 381. 141 Zamaḫšarī, Kaššāf II, 381.
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auf recht schwächliche Helfer: Scheingötter, bei denen sich Gehörlosigkeit als Grund ihrer Hilflosigkeit herausstellt. Der auf den ersten Blick so vorherbestimmend wirkende Vers lässt sich also muʿtazilitisch und mit Abū l-Muʿīn und Taftāzānī auch māturīditisch auslegen, wobei die beiden Auslegungsarten nicht inhaltlich in Bezug zueinander stehen. Es bietet sich an, wiederum Rāzī hinzuzuziehen, liefert sein Kommentar doch neben der impliziten Entgegnung auf Zamaḫšarī auch einen Anknüpfungspunkt für Taftāzānīs weitere Darlegungen. Rāzī bricht nicht gerade in Geheul aus, wie Zamaḫšarī vermutet hatte, doch bestätigt er, dass der Vers dem Wortlaut nach das Handlungsvermögen ausschließt (nafā l-istiṭāʿa), was für ihn der Wahrheit entspricht.142 Die Interpretation, dass Scheingötter gemeint sind, die keine Hilfe leisten können, verwirft er völlig. Zwischen dem Satz zu den Helfern: „Sie hatten keinen Helfer gegen Gott“ und dem „Sie vermochten das Hören nicht“ steht ja noch: „Verdoppelt wird ihre Strafe sein.”143 Das Pronomen „Sie“ aus dem fraglichen Abschnitt muss sich auf die beziehen, die auch im vorherigen Versteil mit „ihren Strafen“ gemeint sind, also die Frevler.144 Die Götzen können es nur schwerlich sein, denn als Scheingötter existieren sie nicht und erfahren daher auch keine Höllenqualen. In Bezug auf die Interpretation des Nicht-Hören-Könnens als Folge einer Abneigung (istiṯqāl) geht Rāzī aber näher auf die handlungstheoretische Ebene ein. Die Ablehnung kann entweder dadurch entstehen, dass etwas den Menschen am Verständnis direkt hindert, was sich in die wörtliche Bedeutung einfügt, oder gänzlich ohne Hinderungsgrund entstehen. Dann aber gibt es einen indirekten Grund aufgrund eines anderen Verständnisses und anderer Wahrnehmung im Inneren. Auf diese Art würde man heute vielleicht aus relativistischer Perspektive argumentieren. Rāzī aber sagt, es habe sich ja schon an mehreren Stellen gezeigt, dass eine Handlung nicht zugleich mit dem Bestehen dessen, was sie abwendet (qiyām aṣ-ṣārif) geschehen könne. Wenn Gott hier eine Verweigerung der Annahme der wahren Religion meinte, dann ereigne sich die Handlung aus Notwendigkeit und der zum Glauben Verpflichtete wäre zu jenem Zeitpunkt vom Glauben definitiv abgehalten gewesen.145 Da zu einem Zeitpunkt nur das eine gelte, blieben die Ablehnungsgründe unbedeutend. Taftāzānī hat also, wie gesehen, in Anknüpfung an die Tradition von Abū l-Muʿīn eine māturīditische Lesart des Verses fortgeführt. Der Einbezug der
142 Rāzī, Tafsīr XVII, 165. 143 Bobzin, 190. 144 Rāzī, Tafsīr XVII, 166. 145 Rāzī, Tafsīr XXVII, 166.
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Korankommentare hat gezeigt, dass er diese māturīditische Sicht neben einer muʿtazilitischen Interpretation von Zamaḫšarī und einer ašʿaritisch-ǧabritischen von Rāzī aufrechterhält wird. In den Worten aus Nasafīs ʿAqāʾid steckt aber noch ein Verweis auf eine andere Diskussion, die auf die Anfänge der muʿtazilitischen Handlungstheorie zurückgeht. Die nämlich Abū l-Huḏayl bestehende Überlegung, die Handlung in zwei Momente aufzuspalten – einen, in welchem das Handlungsvermögen besteht, und einen zweiten, in welchem die Handlung ausgeführt wird (s. o.) – weist Taftāzānī entschieden zurück.146 Hier liegt Taftāzānī auf einer Linie mit Rāzī, der in seinem gerade referierten Kommentar die ausschlaggebende Bedeutung des einen Zeitpunktes der Handlung betont hatte. Er fährt fort, dass das Handlungsvermögen (istiṭāʿa) ein Akzidens sei, das in zeitlichem Zusammenhang „mit der Handlung“ stehen müsse und „nicht vor ihr“ gegeben sein könne.147 Denn wäre es vorher gegeben, würde die Handlung ohne das Vermögen zustande kommen, da Akzidenzien – wie eben auch das Handlungsvermögen – nicht beständig sind, womit er auf eine naturphilosophische Grundannahme des kalām zurückgreift.148 Dagegen kann eingewandt werden, dass doch ein ähnliches Vermögen nach Vergehen des ersten Handlungsvermögens von Gott für den Moment der Handlung erneuert werden könne. Doch wenn man diese Möglichkeit einräumt, wie dies von Kaʿbī vertreten wurde,149 so ergäbe es sich, dass die Handlung zeitgleich mit dem ähnlichen Vermögen abliefe. Warum aber soll sie dann nicht schon mit dem ersten, ursprünglichen Handlungsvermögen einhergehen?150 In beiden Fällen würde die Handlung dann zeitgleich mit dem Handlungsvermögen geschehen und es gäbe kein Handlungsvermögen vor der Tat. Hinzu kommt aber noch etwas anderes, das ein Handlungsvermögen vor der Tat ausschließt. Bei einem unveränderten Bestehenbleiben des Handlungsvermögens über den ersten Moment hinaus, würde das Eintreten der Handlung im zweiten Moment ohne ausschlaggebenden Grund geschehen. Denn es ist bei einem identisch weiterbestehenden Handlungsvermögen nicht zu erklären,
146 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 92. 147 Wolfson interpretiert das maʿa als „in Verbindung mit“ und nicht „zeitlich simultan mit“ vgl. Wolfson, Philosophy, 716. 148 Rāzī, Muḥaṣṣal, 79f.; Taftāzānī gibt weiter unten selbst die Erklärung, dass Dauer etwas Unabhängiges ist und dass ein Akzidens nicht auf einem anderen beruhen kann. Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 92. 149 Watt, Free Will, 81. 150 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 92.
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warum die Handlung im zweiten Moment notwendig, im ersten Moment aber unmöglich sein soll. Taftāzānī wechselt sodann von der kausallogischen Ebene auf die Ebene einer wirksamen ethischen Verpflichtung, wenn er sich fragt, worauf diejenigen denn eigentlich hinaus wollen, die von einem Handlungsvermögen „vor der Handlung“ sprechen, was kausallogisch doch ad absurdum geführt werden kann. Ihr Anliegen besteht darin, dass die Verpflichtung zu rechtmäßigem Handeln (taklīf ) „vor der Handlung“ ja bereits gegeben sein müsse: Der Ungläubige sei notwendigerweise auf den Glauben verpflichtet gewesen, derjenige Muslim, der nicht betet, muss zu dem Zeitpunkt des Ritualgebets schon darauf verpflichtet gewesen sein. Doch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch kein verwirklichtes Handlungsvermö gen (istiṭāʿa mutaḥaqqaqa) gehabt hätte, dann würde dies die Verpflichtung eines Unfähigen (ʿāǧiz) bedeuten und wäre hinfällig.151 Für die Antwort auf diesen Einwand greift er bereits auf den nächsten Satz der ʿAqāʾid des Nasafī zurück, in welchem auch das erste, natürliche Handlungsvermögen des Menschen, das ihm in der māturīditischen Tradition zukommt, aufgegriffen wird: Dabei hängt das Handlungsvermögen (istiṭāʿa) von einem einwandfreien Zustand der grundlegenden Mittel, instrumentellen Hilfsmittel und Körperglieder ab und die Gültigkeit der rechtlichen Verpflichtung beruht auf diesem Handlungsvermögen.152
Hier bringt Taftāzānī, wiederum der Tabṣira folgend, das Beispiel der Verpflichtung zur Pilgerfahrt nach Mekka aus Sure 3,97 ins Spiel: „[…] Es ist von Gott den Menschen aufgetragen, zum Haus die Pilgerfahrt zu vollziehen – wer einen Weg dorthin zu finden vermag […]“153 Es gibt also etwas, was man „vor der Handlung“, hier dem Aufbruch zur Wallfahrt „vermögen“ muss. Im Kaššāf von Zamaḫšarī und in der Tabṣira findet man eine auf den Propheten zurückgehende Spezifizierung des Ausdrucks „wer einen Weg dorthin zu finden vermag“. Sie besagt, dass man als Grundlage für dieses „Vermögen“, die Wallfahrt antreten zu können, im Besitz von genügend Nahrungsmittelvorrat (zād) und einer Reitkamelin (rāḥila) sein müsse.154 Dies lässt sich als einwandfreier Zustand der „grundlegenden Mittel“ (s. Nasafī)
151 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 93. 152 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 93. 153 Bobzin, 57. Die Widergabe von kānū yastaṭīʿūna geschieht hier abweichend von Bobzins Übersetzung durch „vermag“, da so die sprachliche Nähe des Verses zur Thematik deutlicher hervortritt. 154 Zamaḫšarī, Kaššāf I, 401f.
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verstehen und hat nichts mit einer Verwirklichung des (zweiten) Handlungsvermögens zu tun, wie Abū l-Muʿīn auch direkt expliziert.155 Somit verweist der Vers auf die erste Art des Handlungsvermögens, dessen Charakteristika in Form von Nahrungsmittelvorrat und Reittier für den Fall, dass die Handlung aus einer Wüstenreise besteht, sehr anschaulich hervortritt. Der Unterschied zu den kausallogischen Elementen des Vermögens bei der Tat wird deutlich. Anders als in der Tabṣira folgt keine weiter präzisierende Abgrenzung beider Arten von Handlungsvermögen. Taftāzānī zieht es vor, einen sprachtheoretischen Einwand gegen die Lehre abzuweisen. Der Einwand basiert darauf, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Handlungsvermögen einerseits und den vorausgesetzten Mitteln (asbāb) und instrumentellen Hilfsmitteln (ālāt) andererseits bestehe, insofern das Handlungsvermögen ein Attribut sein könne, während Mittel und Werkzeuge nicht in gleichem Maße als Attribut angesehen werden könnten. Taftāzānī entgegnet, dass wer Handlungsvermögen habe, auch mit dem Besitz der Mittel und Werkzeuge, die dafür nötig seien, beschrieben werden könne. Allenfalls sei es wegen der zusammengesetzten Bedeutung nicht möglich, ein Partizip abzuleiten, wie man es beim Handlungsvermögen könne.156 Sowohl der Besitz der Mittel als auch das Handlungsvermögen können also dem Menschen mit Fug und Recht zugeschrieben werden.
5.2.1.4 Rechtliche Verpflichtung (taklīf) Da es beim Gesagten um einen entscheidenden Bestandteil des māturīditischen Erbguts in Taftāzānīs frühester theologischer Schrift geht, lohnt eine Zusammenfassung, bevor mit der rechtlichen Verpflichtung der nächste Begriff thematisiert werden soll. Taftāzānī lehnt zunächst das muʿtazilitische Handlungsvermögen unmittelbar vor der Tat, das kausal aber zur Tat gehört, ab. Dagegen spricht die ontologische und naturphilosophische Grundierung des kalāms zu seiner Zeit, die in seiner hier skizzierten Argumentation hervorgetreten ist. Allerdings bezieht er das daraus resultierende Problem, wo denn dann die rechtliche Verpflichtung (taklīf) greift, auf denjenigen Satz aus den ʿAqāʾid, der auf Māturīdī und seine Lehre vom ersten natürlichen Handlungsvermögen verweist (s. o.). Wenn es dort heißt: „die Gültigkeit der rechtlichen Verpflichtung beruht auf diesem Handlungsvermögen,“ ist laut Taftāzānī nicht das direkte Vermögen, das mit der Handlung
155 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 542. 156 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 93.
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auftreten muss, gemeint.157 Vielmehr beruht die Verpflichtung auf dem der Tat voraus liegenden natürlichen Handlungsvermögen. Dieses basiert auf menschlichen Grundvoraussetzungen für die Handlung wie der Unversehrtheit der Körperglieder. Hieran koppelt er auch den taklīf, die rechtliche Verpflichtung. Er nutzt also die Aspekte, die für ein Handlungsvermögen unmittelbar vor der Tat sprechen, und verbindet sie mit dem dauerhaft bestehenden natürlichen Handlungsvermögen. Damit verbleibt er in māturīditischem Fahrwasser.158 Eine Spur dieser Debatte wird sich dann im Šarḥ al-Maqāṣid als fast einziges Erbgut dieser Lehre erweisen. Die Lehre von den beiden Handlungsvermögen schimmert im Šarḥ al-ʿAqāʾid noch ganz deutlich durch, wird aber nicht explizit formuliert. Abū l-Muʿīn hatte die Lehre von den zwei Teilen des Handlungsvermögens explizit mit einem Offenbarungsbeweis untermauert und Vers 4 aus Sure 58 angeführt. Im Koran geht es zuvor bereits um Ausgleichshandlungen, die in der Freilassung eines Sklaven (58,3) oder zweimonatigem Fasten (58,4) bestehen können, worauf als dritte Variante im selben Vers noch folgende Möglichkeit gegeben wird: „Wer auch das [Fasten] nicht vermag, dem obliegt die Speisung von sechzig Armen.“159 Hier könne nur das erste natürliche Handlungsvermögen gemeint sein, da die Tat des Fastens ja noch in der Zukunft liege, das Handlungsvermögen zur „Tatzeit“ selbst also nicht gemeint sein kann.160 Wenn Taftāzānī also die Tabṣira gut gekannt hat, was außer Frage steht, hätte er diesen Vers ebenfalls einbeziehen, und die beiden Handlungsvermögen direkt gegeneinander abgrenzen können. Dieser kurze Verweis hätte auch den Rahmen des Kommentars nicht gesprengt. Wählen wir zur Erklärung und Veranschaulichung den Vergleich mit dem Theater, so könnte man sagen, dass die Lehre auftritt, ohne im Programmheft zu stehen. Doch vielleicht hat dieser Schwebezustand hinsichtlich eines Kernbestandes māturīditi-
157 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „wa-ṣ-ṣiḥḥatu t-taklīfi taʿtamidu ʿalā hāḏihī l-istiṭāʿati llatī hiya salāmatu l-asbābi wa-l-ālāti lā l-istiṭāʿata bi-l-maʿnā l-awwal.“ 93. Somit ist auch die Klippe umschifft, dass ein zur Entscheidung Unfähiger rechtlich verpflichtet wird. Denn wenn sich Unfähigkeit auf das Handlungsvermögen im Moment der Handlung bezöge, gäbe es keine rechtliche Verpflichtung für den in diesem Moment Unfähigen, denn die Verpflichtung bezieht sich ja auf das Vorausliegende. Falls sich Unfähigkeit aber auf das Vorausliegende natürliche Handlungsvermögen bezöge, wäre die Verpflichtung eines Unfähigen keine notwendige Konsequenz. Es wäre ja zulässig, dass dies bestand, selbst wenn sich die Verwirklichung des Vermögens, durch das die Handlung geschieht, nicht eingestellt hat. 158 Für Taftāzānī erscheint allein die Muʿtazila Verfechter der Meinung, der Mensch dürfe auf nichts verpflichtet werden, was er nicht auch leisten könne. Die für Māturīdī noch wichtigere karrāmitische Tradition erwähnt er nicht. Rudolph, Māturīdī, 341f. 159 Bobzin, 489. (Ergänzung und Hervorhebung, T. W.) 160 Abū l-Muʿīn an-Nasafī, Tabṣira II, 541.
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scher Lehre Taftāzānīs Kommentar die Qualität eines Kompromisses zwischen verschiedenen Standpunkten im kalām beschert und so zu seiner langen Verwendung beigetragen. In Verbindung mit der transoxanischen Tradition verbleibt Taftāzānī auch, wenn er noch einen weiteren Bogen schlägt. Er fügt an die bisherigen Überlegungen an, dass Abū Ḥanīfa das Handlungsvermögen (qudra) als etwas angesehen habe, das zu zwei gegensätzlichen Dingen in der Lage sei.161 Ein Handlungsvermögen, das zum Unglauben hingewendet wurde (maṣrūfa ilā l-kufr), sei eigentlich ein Handlungsvermögen, das seiner Bestimmung nach auf den Glauben gerichtet sei (taṣrifu ilā l-īmān). Dies, so Taftāzānī, bedeute aber wieder ein Handlungsvermögen „vor der Handlung“ anzunehmen, was abzulehnen sei.162 Inhaltlich ist der Abschluss dieses Bogens keine Überraschung, ein kausales Handlungsvermögen vor der Tat hatte er schon ausgeschlossen. Das Beispiel kann aber ein Beleg für die fortgesetzte Bedeutung Abū Ḥanīfas gesehen werden. In Nasafīs ʿAqāʾid ist aber nochmals von der rechtlichen Verpflichtung die Rede: Und der Mensch wird zu nichts verpflichtet, was nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten (wasʿ) liegt.163
Hier geht es nicht mehr um das Vermögen zur Handlung sondern um deren Reichweite (wusʿ).164 So kann der Mensch weder etwas vollbringen, das in sich selbst unmöglich ist, wie beispielsweise zwei Gegensätze vereinen, noch kann er etwas, was ihm als Menschen unmöglich ist, wie etwa einen Körper schaffen. Verpflichtet ist der Mensch zu Glauben und Gehorsam. Doch liegt keine Verpflichtung vor, wenn es eben über seine Reichweite hinausgeht, was sich auch mit Koranvers 2.286 belegen lässt: „Gott belastet keinen Menschen mit mehr, als er tragen kann […]“165 Es gibt aber auch eine „Be-Unfähigung“ (taʿǧīz) ohne rechtliche Verpflichtung, wie bei den Engeln, welche die Namen der Dinge nennen sollen,
161 Dies lässt sich tatsächlich auf Abū Ḥanīfa zurückführen. Rudolph, Māturīdī, 340 (s. auch Fußnote 357). 162 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 94. 163 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 94. 164 Elder übersetzt nun wusʿ mit „capacity“ statt „ability“, was er für das Handlungsvermögen benutzt hatte. Vgl. Elder, Commentary, 92. Schacht schreibt hier „imstande sein“ doch hat dies eine gewisse Ähnlichkeit zum Vermögen, während im Arabischen bei wusʿ neben dem Vermögen auch die Bedeutung von Kapazität mitschwingt, die sich eher mit „Reichweite“ wiedergeben lässt. Schacht, Islam, 83. 165 Die Übersetzung kombiniert die Übersetzungen von Bobzin und Asad, da Asad hier vom Menschen und nicht von der Seele spricht, was besser in den Diskussionskontext passt. Allerdings ergänzt Asad „gut zu tragen vermag“, was wiederum eine interpretierende Ergänzung ist.
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die Gott vorher nur Adam anvertraut hatte.166 Die Menschen möchten nicht in eine solche Situation kommen, wenn es in 2,286 etwas später heißt: „Unser Herr! Erlege uns nicht auf, was über unsere Kräfte geht!“167 Hier geht es nicht um die Auferlegung des taklīf als „rechtlicher Verpflichtung“ zu bestimmten Handlungen, sondern darum, dass sie mit einer Lebenssituation konfrontiert werden könnten, die nicht zu ertragen ist.168 Es gab aber einen Streit darüber, ob es zulässig sei, den Menschen etwas rechtlich zur Pflicht zu machen, wozu sie nicht die Kraft haben. Die Muʿtaziliten schlossen es aus, doch Ašʿarī ließ es zu. Hier meint Taftāzānī zunächst, dass das Zitat „Gott belastet keinen Menschen mit mehr, als er tragen kann,“ aus dem Koranvers 2,286 möglicherweise dafür spreche, es zu verbieten. Das würde den Muʿtaziliten Recht geben. Er schließt allerdings eine Diskussion an, die auf das Gegenteil hinausläuft, denn ihr zufolge behaupten die Muʿtaziliten: Wenn es zulässig wäre, den Menschen zu überfordern, dann dürfte unter der Voraussetzung, dass dies tatsächlich geschieht, nicht notwendig etwas Unmögliches folgen. Doch sollte die Überforderung geschehen, wäre Gottes Wort Lüge, was unmöglich ist. Dieser Punkt dient zur Erklärung der Unmöglichkeit all dessen, bei dem Gottes Wissen, Willen und Wahl mit der Nicht-Existenz des Tatsächlich-Werdens verbunden ist. Anderenfalls müsste man sagen, dass Gott die Lüge will, so die muʿtazilitische Überlegung. Taftāzānī zweifelt die erste Prämisse an. Er möchte nicht zugeben, dass eine Sache, die in sich möglich ist, gesetzt den Fall, dass sie eintritt, nicht auch etwas Unmögliches notwendig macht. Ein Beispiel hierfür ist die Schöpfung der Welt. Als Gott sie aus seiner Macht und seinem Willen hervorgebracht hat, war die Nicht-Existenz möglich. In diesem Fall wäre aber der Wunsch des Schöpfers, nämlich die Welt zu schaffen, notwendigerweise und trotz des Vorhandenseins ihrer vollständigen Ursache nicht realisiert worden, was unmöglich ist.169 Die etwas vage Vorstellung einer ontologischen Möglichkeit der Nicht-Existenz der Welt vor ihrer Schöpfung dient nun indirekt als Argument, um hier auf ethischer Ebene die Möglichkeit zu postulieren, dass Gott den Menschen überfordert. Es ist der einzige Punkt, bei dem Taftāzānīs Kommentar, wenn auch nicht direkt, so doch indirekt im Widerspruch zu der Aussage im Glaubensartikel von Nasafī steht, dass der Mensch eben zu nichts verpflichtet wird, was er nicht
166 Koran 2,31. 167 Bobzin, 46. 168 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „bal īṣāla mā lā yuṭāqu mina l-ʿawāriḍi ilayhim“, 95. 169 Rāzī hatte sich im Kommentar zu Koran 2,7 bei seinem Beweis des Zwangs (ǧabr) in den Handlungsabläufen allerdings gerade dieses Arguments bedient (s. o.).
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vermag. Allerdings ist die Nicht-Existenz der Welt derart kontrafaktisch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Gottes „dunkle Seite“ der Überforderung Fakt werden sollte, sehr unwahrscheinlich bleibt. Hierin könnte auch wieder die Eleganz dieser Lösung liegen. Im Šarḥ al-Maqāṣid wird die Frage der Überforderung zwar ähnlich angegangen, doch anstelle dieser Überlegung wird, wie noch zu sehen sein wird, das koranexegetisch relevante Beispiel des Abū Lahab aus Sure 111 eine Rolle spielen. Die nächsten Glaubensartikel Nasafīs werden nun konkreter: Und was ein Geschlagener an Schmerz empfindet, nachdem er von einem anderen Menschen geschlagen wurde, oder was im Glas bricht, nachdem ein Mensch es zerbrochen hat und was diesem ähnelt, ist insgesamt von Gott, dem Erhabenen, geschaffen und dem Menschen kommt keine Tätigkeit bei seiner Erschaffung (taḫlīq) zu.170
Taftāzānī kommentiert, dies entspreche der alleinigen Schöpferrolle Gottes, auf der alle möglichen Dinge beruhen, ohne dass es eine Vermittlung gebe. Hier greift er nun die Theorie der Erzeugung (ursprünglich tawallud, aber tawlīd bei Taftāzānī)171 auf, die von Bišr al-Muʿtamir formuliert und von Abū l-Huḏayl präzisiert worden war. Demnach geht die Bewegung eines Schlüssels aus der Bewegung der Hand hervor und der Schmerz wird vom Schlag hervorgebracht (mutawallad). In beiden Fällen ist Gott nicht der Schöpfer der Handlung. Anhand der Beispiele in den ʿAqāʾid wird nicht deutlich, ob es sich um die ursprüngliche Lehre, die alles umfasste, was vom Menschen seinen Ausgang nahm, oder um die Einschränkung Abū l-Huḏayls auf Handlungen, bei denen man weiß, wie man sie macht, handelt.172 Laut Taftāzānīs Kommentar kommt dem Menschen bei diesen erzeugten, sich gleichsam fortpflanzenden Handlungen (mutawallidāt) jedoch ohnehin keine Rolle zu, weder die des Schöpfers noch dessen, der sie sich aneignet. Er begründet dies damit, dass der Mensch hier kein Handlungsvermögen habe, da er anders als bei Wahlhandlungen ihr Nicht-Eintreten nicht verhindern könne.173
170 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 96f. 171 Der Wechsel vom V. Stamm in den II. Stamm nimmt die ursprünglich reflexive Bedeutung heraus und legt die direkt kausative Verursachung durch den Menschen nahe, die Taftāzānī dann auch leichter abweisen kann, als wenn er die reflexive Ereigniskette des tawallud betrachtet hätte. Abū l-Muʿīn an-Nasafī verwendet in der Tabṣira noch das Wort tawallud. Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 680f. 172 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 486f. 173 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 97.
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5.2.1.5 Todeszeitpunkt und Lebensunterhalt Nasafī kommt in seinen Glaubensgrundsätzen jetzt zu zwei Aspekten, die man als „Erbgut“ des vorislamischen Kontexts in fast allen späteren theologischen Reflexionen ansehen kann: Todeszeitpunkt (aǧal) und Lebensunterhalt (rizq) eines Menschen.174 Nachdem Schlagen und Zerbrechen nur beliebige Beispiele für Ereignisse im menschlichen Leben waren, wendet er sich damit zugleich auch Eckpunkten eines jeden Daseins zu: „Der Getötete stirbt zu seinem [von Gott festgesetzten] Zeitpunkt.“175 „Dabei handelt es sich um einen einzigen Zeitpunkt.“176 „Auch das Verbotene ist [von Gott gegebener] Lebensunterhalt und jeder erhält den vollständigen Lebensunterhalt, sei es Erlaubtes oder Verbotenes. Es ist nicht vorstellbar, dass ein Mensch seinen Lebensunterhalt nicht verzehrt, oder dass ein anderer ihn verzehrt.“177
Dies bedeutet, so Taftāzānī, dass es eine vorherbestimmte Zeit für den Tod der Menschen gibt. Auch der Koran ist hier in Vers 16,61 klar: „Wenn ihre Frist kommt, dann können sie diese nicht verschieben um eine Stunde oder vorverlegen.“178 Dagegen, so referiert Taftāzānī zwei Einwände, brachten die Muʿtaziliten einige Hadithe vor, nach denen Gehorsamstaten die Lebensdauer verlängern können. Hierauf entgegnet er, dass die fragliche Gehorsamstat ja im göttlichen Wissen schon eingerechnet sein könne. Schwerer wiegt aber der zweite Einwand. Wenn der Todeszeitpunkt nämlich feststehe, könne niemand für einen Mord getadelt werden, da er ja weder Anteil habe noch eine Aneignung vollziehe, wenn es sich um den festgelegten Todeszeitpunkt der Person gehandelt habe. Taftāzānī geht auf das Problem, dass Gott dies gewollt haben könnte, nicht ein. Er behauptet, es handele sich um eine Standardtat, die der Mensch sich aneigne. Da Mord verboten sei, handele es sich um eine Sünde. Bis hier läuft Taftāzānīs Kommentar in dieser Frage auch wieder parallel mit den Ausführungen der Tabṣira.179 Er schließt aber noch eine Reflexion zur Natur des Todes an. Der Tod werde von Gott im Ermordeten geschaffen und sei kein Produkt des Mörders. Hierfür spricht auch der Koranvers 67,2, in dem es von Gott heißt: „der
174 Frolov, Freedom, 267; van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 493. 175 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 97 (Ergänzungen, T. W.). 176 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 99. 177 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 100f (Ergänzungen, T. W.). 178 Bobzin, 235. Ähnlich lautet auch 7,34: „Jeder Gemeinschaft ist eine Frist gesetzt. Wenn ihre Zeit gekommen ist, kann sie sie nicht aufschieben, auch nicht eine Stunde, noch kann sie sie vorverlegen.“ Bobzin, 132. 179 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 687.
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den Tod schuf und das Leben“,180 wonach der Tod etwas Existierendes ist, das von Gott geschaffen ist. Damit, so lässt sich folgern, ist dann auch der Todeszeitpunkt immer von Gott festgesetzt, denn er ergibt sich aus dem Moment der Schöpfung, zu der allein Gott fähig ist. Taftāzānī lässt die Sache hier aber offen, da er anfügt, die meisten (al-akṯarūn) hielten den Tod selbst für nicht existent und sähen die Bedeutung seiner Schöpfung einfach in der Anordnung des Todes durch Gott.181 Eine Antwort auf die Implikationen für die Schuld des Mörders bleibt Taftāzānī aber schuldig. Abschließend weist er aber wie Abū l-Muʿīn explizit den Lösungsversuch von Kaʿbī zurück.182 Dieser hatte nämlich behauptet, es gäbe beim Ermordeten zwei Todeszeitpunkte, den des Mordes und den eigentlichen Tod. Obwohl keine argumentative Auseinandersetzung folgt, kann die explizite Nennung Kaʿbīs darauf zurückzuführen sein, dass dieser für die Verbreitung muʿtazilitischen Gedankenguts in Transoxanien eine besonders wichtige Rolle gespielt hat183 und es somit in jedem Fall für Taftāzānī wichtig war, ihn zu widerlegen. Mit den Philosophen assoziiert Taftāzānī gleich im Anschluss die V orstellung, die sich in der Tabṣira nicht findet, dass es auch für Tiere zwei Todeszeitpunkte gebe, sowohl einen natürlichen Todeszeitpunkt (aǧal ṭabīʿī), der durch Austrocknung ihrer lebensnotwendigen Feuchtigkeit oder Erlöschen ihrer Triebkraft eintrete, und einen zweiten, der entgegen dem von Natur aus festgelegten Zeitpunkt durch Krankheiten und Seuchen hervorgerufen werde.184 Es kann sich hierbei um eine weitere Explikation von Nasafī handeln, der in den ʿAqāʾid nur anführt, dass „behauptet wurde, es gäbe mehr als einen Todeszeitpunkt“. Denkbar wäre aber auch, dass Taftāzānī nicht nur Beispiele für die abzulehnende Lehre von mehreren Todeszeitpunkten geben will, sondern hier eine zweite, subtilere Kritik an Kaʿbī vorbringt. Das zweite altarabische Erbe im kalām ist die ebenfalls herausgehobene Thematisierung des Lebensunterhalts (rizq), den Gott allen Lebewesen zukommen lässt, was auch Nasafī konstatiert (s. o.). Taftāzānī kommentiert, dass es sich bisweilen um erlaubte, manchmal aber auch um verbotene Speisen handele. Letztere zählten die Muʿtaziliten nicht zum von Gott gegebenen Lebensunterhalt, da sie Lebensunterhalt immer als rechtmäßig Erworbenes oder als durchweg zum
180 Bobzin, 514. 181 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 99. 182 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 686. 183 Rudolph, Māturīdī, 173f. 184 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 100.
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Nutzen Gereichendes definierten, worunter nichts fallen kann, was nach islamischem Recht verboten ist. Taftāzānī bleibt auch in dieser Frage zunächst auf vorgezeichneten Wegen der Tabṣira,185 wenn er zu Bedenken gibt, dass gewisse Tiere und solche Menschen, die sich ihr ganzes Leben nur von Verbotenem ernährten, niemals Lebensunterhalt von Gott erhalten würden, was Gott aber im Koran ausgeschlossen habe.186 Ähnlich wurde den Muʿtaziliten auch schon von Ašʿarī widersprochen.187 Taftāzānī versucht das weiter bestehende Problem, das sich ergibt, wenn nun Gott einziger Ernährer ist und das Verbotene somit auch von Gott stammt, mit Rückgriff auf das bekannte Konzept der Wahl zu lösen, etwas was im entsprechenden Abschnitt der Tabṣira nicht vorkommt. Er sagt, der Mensch begehe eine Sünde und verdiene Strafe, da er durch seine Wahl dafür sorge, dass es keine direkte Verursachung durch Gott gebe.188 Das verhindere nicht, dass die Ernährung insgesamt aus Erlaubtem und Verbotenem bestehe und keiner den Lebensunterhalt eines anderen verzehren könne. Mit Blick auf diesen letzten Satz zeigt sich aber sogleich wieder, dass es bei allen Handlungen, die mit seiner Ernährung zu tun haben, besonders schwierig ist, eine minimal eigenständige Rolle des Menschen zu verteidigen. Taftāzānīs Einschub der Wahl, die der Mensch auch beim Lebensunterhalt habe, verbleibt hier daher sehr formelhaft.
5.2.1.6 Das „Optimale“ – al-aṣlaḥ An Vorherbestimmung gemahnt auch der Satz, mit dem Nasafī nun seine Glaubensartikel zu handlungstheoretischen Aussagen abschließt: „Gott führt in die Irre, wen er will und leitet recht, wen er will“189 und „Gott ist nicht zu dem verpflichtet, was das Beste (al-aṣlaḥ) für den Menschen ist.“190
Taftāzānī erläutert, dass Gott Irrleitung und Rechtleitung schaffe. Sie entsprängen Seinem Willen, selbst wenn nicht bestritten werden könne, dass man auch in Bezug auf den Propheten und den Koran metaphorisch von Rechtleitung sprechen könne. Ebenso dienen Teufel und Götzen metaphorisch als Figuren, die in
185 Abū l-Muʿīn, Tabṣira II, 688. 186 Koran 11,6. 187 van Ess führt hier u. a. den ʿIbāditen ʿAbdallāh b. Yazīd oder etwa Aḥmad b. Ḥanbal an. Vgl. van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 498. 188 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „anna ḏālika li-sūʾi mubāširati asbābihī bi-ḫtiyārihī“, 100. 189 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 101. 190 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 102.
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die Irre leiten. Auch hier kommentiert Taftāzānī wieder im Kontrast zur Muʿtazila, die unter Rechtleitung eine Führung, die sicher zum Erwünschten führt, versteht. Demgegenüber ist seiner Meinung nach eine Führung auf den Weg zum Gewünschten gemeint, wobei aber nicht sicher sei, ob das Ziel erreicht werde oder nicht.191 Der zweite Halbsatz der ʿAqāʾid handelt vom Besten (al-aṣlaḥ) für die Menschen. Diesen Zustand hat Gott schon deshalb nicht geschaffen, so kommentiert Taftāzānī, da es sonst nicht den mittellosen Ungläubigen gäbe, der in dieser und der nächsten Welt Qualen erleidet. Zudem würde die Lehre von der Sündlosigkeit der Propheten ihre Grundlage verlieren und darüber hinaus würde Gott sogar keinen Bezug mehr zum Wohl der Menschen (nisba ilā maṣāliḥ l-ʿabd) haben, da er ihnen nichts geben könnte, was nicht auch für ihn eine Notwendigkeit wäre.192 Trotz dieser vielen Übel, die mit der Theorie verbunden sind, SO Taftāzānī, scheinen ihre Befürworter hartnäckig an ihr festzuhalten, da sie fürchten, ihre Aufgabe würde bedeuten, Gott Geiz und Dummheit zuzuschreiben. Die Lehre von „der besten aller Welten“, wie Leibniz sie genannt hat, arabisch al-aṣlaḥ, wurde von Abū l-Huḏayl und Naẓẓām im muʿtazilitischen Denken grundgelegt.193 Während sie im weiteren Verlauf in den muʿtazilitischen Diskussionen entschärft wurde, so dass Gott nicht mehr als an das Beste gebunden und somit unfrei dastand, wurde sie gerade von Kaʿbī zugespitzt. Er vertrat sogar den Standpunkt, dass Gott gegenüber allen seinen Geschöpfen das Beste tun müsse.194 Seine Lehre klingt an, wenn Taftāzānī ironisch fragt, was Gottes „Dankbarkeit“ gegenüber Mohammads eifrigstem Widersacher Abū Ǧahl in einem solchen Fall noch von Seiner Gunst gegenüber dem Propheten selbst unterscheiden würde. Obwohl Taftāzānī Kaʿbī bei der Frage der Todeszeitpunkte (s. o.) einmal als direkten Kontrahenten erwähnt hatte, verfährt er hier nicht so, weshalb offen bleibt, mit welchem Denker er die Lehre von der besten aller Welten (al-aṣlaḥ) hier in Verbindung bringt. Die Rede von einer Notwendigkeit gegenüber Gott (s. 3.1.1), so schließt Taftāzānī seine Kommentierung zu dieser Thematik ab, sei etwas, das die Basis der freien Wahl in Frage stelle und zu einer „Philosophie offensichtlicher Mängel“ (al-falsafa aẓ-ẓāhira al-ʿawār) führe.195 Leider benennt er keine Vertreter dieser Philosophie.
191 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 102. 192 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 103. 193 Brunschvig, Robert, Muʿtazilisme et Optimum (al-aṣlaḥ). In: Studia Islamica 39 (1974), 234. Gimaret erwähnt außerhalb der mutakallimūn auch al-Ǧāḥiẓ als Vertreter dieser Position. Gimaret, Théories, 36 194 Brunschvig, Optimum, 239. 195 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 104.
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Taftāzānīs Berufung auf das im Kommentar etablierte Konzept der Wahl (iḫtiyār) erscheint an dieser Stelle einleuchtend. Ein zentraler Einwand in der allgemeinen philosophischen Diskussion dieser Thematik hebt nämlich ebenfalls darauf ab, dass es in einer optimal eingerichteten Welt keinen „Spielraum des Kontingenten“ mehr gebe.196 Die Welt ist eben nur so gut, wie sie es bei gegebener Wahlfreiheit sein kann, doch soweit führt Taftāzānī die Diskussion hier zumindest nicht explizit. Taftāzānīs Kommentar folgt insgesamt der māturīditischen Ausrichtung der ʿAqāʾid. Es lassen sich kaum eigene Ansätze Taftāzānīs konstatieren, doch lässt sich für Ansari die Bedeutung des Werks auch darin erblicken, dass Taftāzānī den Konsens der Gelehrten auf eindrückliche Weise intellektuell aufgearbeitet habe.197 Beim Vergleich dieses Kommentars mit seinem Hauptwerk, dem Šarḥ al-Maqāṣid, ließ sich bei der Auferstehungslehre vor allem eine andere Art der Darstellung hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs feststellen. Bei der Handlungstheorie liegen die Dinge schon zu Beginn anders, da es eines der wenigen Ergebnisse der bisherigen Forschung zu Taftāzānī ist, dass sich seine Position zwischen der Abfassung beider Werke geändert hat (s. 1.3).198 Van Ess vermutet, dass die māturīditische Färbung des Kommentars damit zusammnenhänge, dass Taftāzānī in einem māturīditischen Umfeld gelebt habe,199 doch weist Gimaret daraufhin, dass die Šarḥ al-Maqāṣid ebenfalls in einer māturīditischen Umgebung, mit Samarkand sogar an der Wiege der Māturīdīya entstanden sei.200 Die Lebensumstände geben daher keine Antwort auf die Frage nach dem Grund für seinen Richtungswechsel. Aufschluss kann vielleicht eher Taftāzānīs Hauptwerk Šarḥ al-Maqāṣid selbst geben.
5.2.2 Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid 5.2.2.1 Die Verortung der Handlungstheorie im Werk Weder in den ʿAqāʾid noch in Taftāzānīs Kommentar dazu sind die einzelnen Glaubensartikel durch Überschriften voneinander getrennt, sie gehen vielmehr fließend ineinander über. Im Šarḥ al-Maqāṣid verhält es sich wie schon bei der
196 Coreth, Emerich & Schöndorf, Harald, Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2000, 95. 197 Ansari, Taftāzānī’s Views, 77. 198 Gimaret, Théories, 162f. 199 van Ess, Erkenntnislehre, 6. 200 Gimaret, Théories, 164.
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Auferstehung anders. Hier heißt das handlungstheoretische Kapitel „Schöpfung der Handlungen der Menschen“ (ḫalq afʿāl al-ʿibād), wobei gemäß dem theologischen Sprachgebrauch wörtlich von „Dienern Gottes“ die Rede ist. Zwar scheinen die Hintergründe der Wahl dieser Kapitelüberschrift nicht so vielsagend wie die Bezeichnung maʿād für die Auferstehung, doch lässt sich auch in diesem Fall aus den Benennungen einiges ablesen. Ašʿarī hatte in seinem K. al-Lumaʿ für den handlungstheoretischen Teil die Überschriften Bāb al-kalām fī l-qadar und anschließend Bāb al-kalām fī l-istiṭāʿa gewählt, also zunächst das Handlungsvermögen Gottes (qadar) und danach das Handlungsvermögen des Menschen (istiṭāʿa) thematisiert. Dabei schließen sich diese beiden Kapitel an einen Abschnitt über die Schau Gottes im Jenseits (ruʾya) an.201 Ibn Fūraks Muǧarrad behandelt ebenfalls zunächst die göttliche Befehlsgewalt und geht dann zur menschlichen Fähigkeit über, worauf sich noch Kapitel zum tawallud, zu den Todeszeitpunkten (āǧāl) und zum Lebensunterhalt (arzāq – auf arabisch hier im Plural) finden.202 In Rāzīs Uṣūl lautet die Überschrift des 6. Abschnitts al-Ǧabr wa-l-qadar, sie folgt den Ausführungen über die Eigenschaften Gottes, womit die Handlungstheorie den Platz erhält, den sie auch in den anderen hier relevanten Vergleichswerken behalten sollte. Allerdings beinhalten die Uṣūl noch keine übergeordnete Einheit zur Gotteslehre (Ilāhīyāt). Dies ist aber dann in den Ṭawāliʿ des Bayḍāwī bereits der Fall. Er betitelt seinen dritten Abschnitt am Ende des 2. Buches zu den Ilāhīyāt mit „Über Seine Handlungen, des Erhabenen“ also fī afʿālihī taʿālā.203 Īǧī handelt den Begriff des Handlungsvermögens in der dritten Station seiner Mawāqif zu den Akzidenzien im Abschnitt über seelische Beschaffenheiten (al-kayfīyāt an-nafsīyā) ab. Innerhalb dieses Abschnitts unterscheidet er vier Arten (anwāʿ) seelischer Beschaffenheiten. Diese umfassen zunächst das Leben, darauf folgen das Wissen und das Wollen, bevor das Handlungsvermögen diesen Abschnitt beschließt.204 In der fünften Station (mawqif) zu den Ilāhīyāt geht es dann um das göttliche Handlungsvermögen und später nochmals um „Seine Handlungen, des Erhabenen“, worauf sich ein Abschnitt zu den „Wahlhandlungen der Menschen“ (afʿāl al-ʿibād al-iḫtiyārīya) anschließt.205 Samarqandī titelt schlicht „Über die Handlungen der Menschen“ (fī afʿāl al-ʿibād).206 Die Tendenz,
201 Ašʿarī, al-Lumaʿ, 135. 202 Ibn Fūrak, Muǧarrad, 382. 203 Bayḍāwī, Ṭawāliʿ, 197. 204 Īǧī, Fihrist der Mawāqif, 10f. 205 Īǧī, Fihrist der Mawāqif, 18. 206 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 384.
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den Anteil Gottes an den menschlichen Handlungen zu erhöhen, spiegelt sich also auch in der thematischen Verortung der Handlungstheorie innerhalb der Gotteslehre in den kalām-Werken wieder. Im Šarḥ al-Maqāṣid findet im Hauptuntersuchungsgebiet (maqṣad) zu den Akzidenzien ebenfalls eine erste Auseinandersetzung mit der Handlungsfähigkeit statt, wobei Taftāzānī anders als Īǧī hier anstelle von „seelischen Qualtäten“ von „geistigen Qualitäten“ spricht. Analog zu Īǧī sind die anderen Qualitäten Leben, Wille und Wissen aufgelistet, wobei aber noch Schmerz und Gesundheit zusätzlich angeführt werden. Den handlungstheoretischen Hauptteil behandelt Taftāzānī dann im Rahmen der Gotteslehre wie seine Vorgänger. Unter den Wesenseigenschaften (aṣ-ṣifāt al-wuǧūdīya) im dritten Unterkapitel wird auch die Handlungsfähigkeit Gottes (qudrat Allāh) thematisiert.207 Nach einem vierten Unterkapitel zu den Zuständen Gottes folgt ein Fünftes „Über Seine Taten“ (fī afʿālihī), in welchem der erste Abschnitt dann, wie oben schon gesagt, von der Schaffung der Handlungen der Menschen handelt (fī ḫalq afʿāl al-ʿibād). Die auch von Gimaret festgestellten Parallelen zwischen den Mawāqif und dem Šarḥ alMaqāṣid im Handlungstheoriekapitel208 setzen sich bis hierhin fort, was angesichts der Ähnlichkeiten in der übergeordneten Struktur nicht weiter erstaunt (s. 3.3.2.2).209 Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings darin, dass Īǧī die klassischen Themen wie den Todeszeitpunkt und den Lebensunterhalt in sein handlungstheoretisches Kapitel integriert, während Taftāzānī an das fünfte Kapitel ein sechstes anschließt. In diesem zusätzlichen Kapitel widmet er sich diesen beiden Themen sowie dem Thema der Rechtleitung, der Gnade, den Preisen und der Diskussion um die Frage, ob Gott das Beste für den Menschen (al-aṣlaḥ) hervorbringen müsse. Diesem Kapitel gibt er den Titel „Über die Verzweigungen der Handlungen“ (fī tafārīʿ al-afʿāl).210
5.2.2.2 Eine historische Einführung Zu Beginn ihrer handlungstheoretischen Ausführungen bedienen sich sowohl Īǧī als auch Taftāzānī des Attributs „Wahl-“ (iḫtiyārīya) aus dem māturīditischen und auch muʿtazilitischen Sprachgebrauch. Im Kommentar zu den ʿAqāʾid hatte Taftāzānī die Wahlmöglichkeit des Menschen bejaht und in manchen Unterfragen sogar selbst argumentativ verwendet.
207 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 89. 208 Gimaret, Théories, 165. 209 Eichner, unveröffentliche Habilitationsschrift, 470. 210 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 307.
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Īǧī wendet sich gleich zu Beginn gegen die Idee einer solchen Wahl und sagt, dass „die Wahlhandlungen des Menschen tatsächlich allein aus dem göttlichen Handlungsvermögen zustande kommen.“211 Ohne den unmittelbaren Bezug auf den Begriff „Wahl-“, aber in der Stoßrichtung ganz ähnlich, äußert sich auch Rāzī im Muḥaṣṣal, wobei er sich aber namentlich auf Ašʿarī bezieht.212 Taftāzānī stellt zunächst einmal die Frage, „ob zur Gesamtheit der Handlungen Gottes, die Schöpfung der Wahlhandlungen, die der Mensch hat, gehören.“213 Dann grenzt er Wahlhandlungen von solchen Handlungen ab, bei denen jemand steht, isst oder trinkt. Hier handle eindeutig der Mensch, auch wenn diese Handlungen von Gott geschaffen seien. Die Handlung müsse auf denjenigen zurückgeführt werden, der sie tätige, und nicht auf den, der sie geschaffen habe. So gehöre das Weiße zum Körper, auch wenn Gott das Weiße geschaffen habe. Es sei kein Wunder, wenn dies den ungebildeten Massen der Qadarīya und ihren Unwissenden (ʿawāmm al-qadarīya wa-ǧahhālihim) verborgen geblieben sei, so dass sie damit sogar die „Leute der Wahrheit“ auf den Märkten beleidigt hätten. Auffällig ist allerdings, wie prominent das Argument bei Taftāzānī positioniert wird, ein Argument das den Unterschied zwischen demjenigen hervorhebt, der die Schöpfung der Trinkhandlung vollzieht, und demjenigen, der durch das Geschaffene sinnvoll als Trinkender beschrieben werden kann. Weder in den Vorbildern der Referenzwerke noch in Taftāzānīs anderen Schriften findet sich dieser Punkt so prominent und mit derartiger Vehemenz vorgetragen.214 Er folgert, „tatsächlich sei nämlich das Wesen der Handlung des Menschen durch Gottes Handlungsmacht geschaffen, und zwar so, wie auch die Mawāqif zeigten, dass die Handlung des Menschen einzig auf Gottes Handlungsmacht beruhe.“215 Damit zitiert er Īǧī in dieser zentralen Aussage fast wörtlich. Es folgt eine Aufzählung verschiedener muʿtazilitischer Positionen, die dem Menschen Handlungsvermögen oder einen Anteil daran zusprechen und die sich ebenfalls fast identisch bei Īǧī findet. Danach bezieht er sich auf die Weisen (Philosophen).216 Bei ihnen gebe es auch eine Verbindung von zwei
211 Īǧī, Mawāqif, 311; Gimaret, Théories, 160. 212 Rāzī, Muḥaṣṣal, 455. 213 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „hal min ǧumlati afʿāli llāhi […] ḫalqu l-afʿāli l-iḫtiyārīyati llatī li-l-ʿabd”, 223. 214 Rāzī beginnt die handlungstheoretische Diskussion im Muḥaṣṣal beispielsweise mit dem Argument vom ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ), Rāzī, Muḥaṣṣal, 456. 215 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 223. 216 Die Terminologie ist bei Taftāzānī in Šarḥ al-Maqāṣid nicht einheitlich. Manchmal verwendet er das Wort falāsifa (Philosophen), manchmal ḥukamāʾ, was wörtlich „die Weisen” bedeutet, aber analog zu „Philosophen” verwendet wird.
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andlungsvermögen, die jedoch erst aktuell würden (wa-hiya bi-l-fiʿl), wenn sich H das göttliche Handlungsvermögen mit dem Handlungsvermögen des Menschen verbinde.217 Hier ist Taftāzānī in der philosophischen Terminologie präziser als Īǧī, der den Weisen (Philosophen) die Meinung zuschreibt, Gott schaffe im Menschen ein Handlungsvermögen.218 In jedem Fall läuft der Vorgang bei den Philosophen auf dem Weg der Notwendigkeit ab. Gott bringt notwendigerweise das Handlungsvermögen und den Willen beim Menschen hervor und beides zusammen bringt das festgelegte Ergebnis zur Existenz (yūǧabān wuǧūd al-maqdūr).219 Doch die richtige Position, bei der er sich auf Ġazālī beruft, liegt für Taftāzānī darin, „dass sich das Handlungsvermögen Gottes nicht durch bloße Notwendigkeit mit dem Festgesetzten (maqdūr) verbinde, sondern nach Maßgabe der schöpferischen Kreation (iḫtirāʿ).“220 Hier wird der Unterschied zwischen dem abstrakten philosophischen Gottesbild, das seit Ibn Sīnā unter dem notwendig Seienden firmierte und dem theologischen Bild eines personalen Gottes sehr anschaulich. Letzterer schafft das Handlungsvermögen nicht nach Notwendigkeit, sondern nach Seinem Willen. Die beste Position ist daher die, dass es keine wirksame Kraft gibt außer der urewigen Schöpferkraft (qudra qadīma), zu der, so Taftāzānī, dann ein zeitlich entstandenes Handlungsvermögen (qudra muḥdaṯa) des Menschen treten könne, das er z.B. beim Heraufsteigen im Gegensatz zum Fallen brauche.221 Eine Erläuterung des Begriffs der Aneignung (kasb), der eine Brücke zwischen beiden Vermögen schlägt, setzt Taftāzānī ans Ende des Abschnitts. Das ewige Handlungsvermögen Gottes ist schon ewig mit der Welt verbunden, aber nicht auf dem Weg der schöpferischen Kreation, denn erst später – man muss annehmen nach Erschaffung der Welt – entsteht die wirkliche Verbindung (taʿalluq) des göttlichen Vermögens mit der Welt. Eine solche Verbindung tritt zum Beispiel auch bei einer einzelnen Bewegung eines Menschen auf: Sie ist im Hinblick auf Gottes Handlungsvermögen eine Schöpfung (ḫalq) und im Hinblick auf das Handlungsvermögen des Menschen eine Aneignung (kasb). Während sich der Mensch die Bewegung, also die Handlung selbst, aneignen kann, kann er sich das Handlungsvermögen jedoch nicht aneignen. Dieses bleibt eine reine Schöpfung Gottes, eine neignung bloße Beschreibung für den Menschen, aber nicht einmal mehr eine A
217 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 223f. 218 Īǧī, Mawāqif, 312. 219 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 224. 220 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 226. 221 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 225.
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durch den Menschen.222 Diese Monopolisierung des Handlungsvermögens bei Gott wird hier zur Eingrenzung des Begriffs der Aneignung bereits behauptet, im nächsten Abschnitt aber auch nochmals eigens begründet. Im Kapitel zur Schöpfungslehre wird es nötig sein darauf zurückzukommen, wie sich das ewige Handlungsvermögen als Attribut Gottes und die je zeitliche Einwirkung des Vermögens auf die Welt zueinander verhalten (s. 6.2.1.2).
5.2.2.3 Rationale Beweise für die Schaffung der Handlungen durch Gott Nach diesem historischen Überblick geht Taftāzānī auf die Verstandesbeweise (ʿaqlīyāt) ein, die dazu dienen aufzuzeigen, dass die Handlungen des Menschen aus dem Handlungsvermögen Gottes hervorgehen. Dabei handelt es sich um insgesamt fünf Beweise, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Die Darstellung des ersten Beweises, der auf die Kausalitätslehre zurückgreift, wird dabei etwas ausführlicher dargestellt, da hier zum Verständnis der Begriffe auch Taftāzānīs vorherige Erläuterungen und Ausführungen zur Lehre von Ursache und Wirkung notwendig sind.
Der Ausschluss von zwei Einflussfaktoren Beim ersten Verstandesbeweis nimmt Taftāzānī ein menschliches Handlungsvermögen mit Einfluss auf die Handlung an. Dazu müsse es eine Vereinigung von zwei Einflussfaktoren geben, da alles vom göttlichen Handlungsvermögen umfasst werde (šumūl qudrat Allāh), von diesem also in jedem Fall auch beeinflusst wird. Dieser zweite Einfluss sei anzunehmen, da ja eine menschliche Handlung ihrem Wesen nach nur möglich sei (anna fiʿla l-ʿabdi mumkinun).223 Wie schon im Auferstehungsteil gezeigt wurde, hat das Wort „möglich“ hier eine ontologische Bedeutung und ist dadurch definiert, dass es seine Ursache außerhalb seiner selbst hat und daher ontologisch gesehen nur abhängig existiert. Hier kombiniert Tafāzānī dies in der handlungstheoretischen Sprache so, dass jedes Mögliche von Gottes Befehl abhängt, es ist „von Gott festgesetzt“ (maqdūr Allāh). Nun soll aber diese ihrem Wesen nach nur mögliche Handlung zugleich Ausfluss des menschlichen Handlungsvermögens (law kāna maqdūran li-lʿabdi ayḍan) sein und zwar so, dass es einen wirklichen Einfluss ausübt (ʿalā wuǧūhi t-taʾṯīr). Das bedeutet
222 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „fa-ḥarakatu […] fa-hiya ḫalqun li-r-rabbi wa-waṣfun li-lʿabdi wa-kasbun lahū, wa-qudratuhū ḫalqun li-r-rabbi wa-waṣfun li-lʿabdi wa-laysa bi-kasbin lahū“, 226. 223 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 227.
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jedoch, dass es zwei Einflussfaktoren (muʾaṯṯirāni) für etwas, das wir in der Realität antreffen (aṯr), geben müsse. Wenn also etwas durch das Handlungsvermögen eines Menschen geschähe, wäre es auch immer von Gott so bestimmt (maqdūr Allāh). Doch nehmen wir an, es sei mit dem Willen beider möglichen Akteure verbunden, in seinem Eintreten aber nur von einem der beiden Handlungsvermögen abhängig. Dann ergäbe sich das Problem der Entscheidung ohne ausschlaggebenden Grund (muraǧǧiḥ). Wäre es durch beide verursacht, so müsste es zwei Gründe für eine Wirkung geben, was unmöglich ist. Taftāzānī konstatiert: „die Handlungsfähigkeit des Menschen ist also unfruchtbar.“224 Erneut wird also im Rahmen dieses ersten rationalen Beweises auf die Frage, wie es sich mit Ursache und Wirkung verhalte, zurückverwiesen. Diesem zweifachen Rückverweis lohnt es sich daher nachzugehen. Im 2. maqṣad (s. 3.3.2.5) über die allgemeinen Angelegenheiten (al-umūr al-ʿāmma) hatte sich Taftāzānī hierzu in einem Abschnitt über „Kausalität und Wirkungslehre“ (al-ʿillīya wa-lmaʿlūlīya) wie folgt geäußert: Die Ursache besteht nicht, außer im Hinblick auf die Wirkung, und dies gilt auch anders herum. Beide vereinen sich nicht in einer einzigen Sache, es sei denn allenfalls bei zwei Betrachtungsweisen (iʿtibār) wie die zwischengelagerte Ursache, die Ursache für ihre Wirkung ist und Wirkung für ihre Ursache.225
Nach dieser Feststellung bringt Taftāzānī zwei Argumente vor, die gegen die Möglichkeit von zwei unabhängigen Ursachen sprechen. Das erste lautet: Eine Verbindung der beiden unabhängigen Ursachen für eine einzige Wirkung ist unmöglich, da sie die Bedürftigkeit der Wirkung nach jeder der beiden unabhängigen Ursachen wegen ihres Ursachenseins notwendig macht und zugleich die Unabhängigkeit von jeder der beiden Ursachen, da die je andere Ursache jeweils unabhängig von der Kausalität ist.226
Das zweite Argument setzt dabei den Einwand voraus, es gehe doch um gleichzeitige Abhängigkeit. Dagegen bringt Taftāzānī vor, dass in diesem Fall beide – angeblich unabhängigen – Ursachen doch nur Teil einer einzigen Ursache (ǧuzʾ ʿilla) seien. „Denn die Bedeutung von Unabhängigkeit ist, dass etwas in seinem
224 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „wa-taḍamḥala qudratu l-ʿabd“, 106. 225 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid II, 75. 226 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid II: „wa-huwa imtināʿu ǧtimāʿi l-ʿillatayni l-mustaqillatayni ʿalā maʿlūlin wāḥidin […] annahū yalzimu iḥtiyāǧahū ilā kullin mina l-ʿillatayni l-mustaqillatayni li-kawnihumā ʿillatan wa-stiġnāʾahū ʿan kullin inhumā li-kawni l-uḫrā mustaqillatan biʿillīya.“ 88.
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Einfluss [auf die Wirkung, T. W.] keiner anderen Sache bedarf.“227 Davon muss man aber die Ursache für die Einheit einer Art abgrenzen, die aus mehreren Individuen besteht. Denn im Fall einer Art können natürlich einige Individuen für ihre Existenz der einen Ursache bedürfen und andere einer anderen Ursache. Dabei ist die Bedürftigkeit nach jeder der beiden [für die Einheit der Art] verschieden von der Bedürftigkeit nach der anderen [Ursache]. Dabei erfordert die Abhängigkeit der Art von beiden Ursachen nicht ihre jeweilige Nicht-Unabhängigkeit in der Kausalität des Individuums. Beispiel hierfür ist eine Hitze, die aus zwei Feuern entsteht. Hierbei stammen einzelne Teile der Hitze aus diesem und andere kausal aus jenem Feuer, aber die Art der Hitze – die insgesamt spürbar ist – wird von den zwei Feuern zugleich bewirkt. Da es sich bei einer jeweils konkret in Frage stehenden menschlichen Handlung aber nicht um eine Art handelt, bedarf es für diese eine Handlung immer nur einer Ursache. Da Gott in jedem Fall Ursache ist, gibt es neben ihm keinen Platz für eine andere Ursache wie das menschliche Handlungsvermögen.
Das menschliche Wissen um das Handeln Ein zweiter rationaler Beweis setzt weniger theoretisch, sondern ganz im Gegenteil sehr konkret bei einer jedem Menschen nachvollziehbaren Erfahrung an. Für den Fall, dass der Mensch Urheber seiner Handlungen wäre, müsste er ihre Details kennen, so postuliert Taftāzānī gleich zu Beginn dieses Beweises. Denn es gebe kein schöpferisches Hervorbringen ohne Wissen, wozu er einen Teil von Vers 67,14 zitiert: „Sollte der, der erschuf, kein Wissen haben,“ dessen zweiter Teil lautet: „wo er doch der Beschlagene, Erfahrene ist?“228 Dies weise eindeutig auf die Tätigkeit des Wissenden und die Wissendheit (ʿālimīya) des Tätigen hin.229 Doch dieses Wissen könne beim Menschen nicht vorausgesetzt werden. Dieses Argument hatte Taftāzānī auch schon im Kommentar zu Nasafī vorgebracht, doch greift er hier neben den unbewussten Abläufen im Körper bei der Handlung des Gehens auch auf den Schlaf und das Sprechen zurück. Beim Schlaf zum Beispiel bewege sich der Mensch, ohne Qualität und Quantität der Bewegungen zu
227 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid II: „li-anna maʿnā stiqlāli l-ʿillati an lā yaftaqira fī t-taʾṯīri ilā šayʾin āḫar.“, 88. 228 Bobzin, 515. 229 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 228. Eigentlich bedeutet das Wort ʿālimīya „Gelehrtheit“ oder „Rang eines Gelehrten“, was aber hier aus Gründen des Kontextes eher abstrakt mit „Wissendheit“ zu übersetzen ist.
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kennen.230 Das Beispiel ist anschaulich, doch liegt hier ein Schluss vom Unbewussten auf bewusste Grundsatzentscheidungen vor. Auf die bewusste Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben, die in den handlungstheoretischen Debatten oft eine zentrale Rolle spielt, lässt sich das Beispiel daher nicht anwenden. Auch die ethisch eigentlich irrelevanten Beispiele der Mechanik des Sprechaktes und des Gehens vertieft Taftāzānī. Während er die Unkenntnis des Menschen in Bezug auf seine Muskelbewegungen jetzt beim Sprechakt statt bei der Fortbewegung vorbringt,231 stellt er das Gehen in noch weit abstraktere Naturzusammenhänge. So hält er fest, der Mensch kenne weder die genauen Abschnitte noch die Koordinaten seines Gehweges.232
Der ausschlaggebende Grund Taftāzānī greift an dritter Stelle das Argument des ausschlaggebenden Grundes für die Existenz einer Handlung auf. Angenommen, der Mensch habe ein Handlungsvermögen zu beiden Taten und seine eigene Wahl (iḫtiyarihī), dann müsse es durch etwas ergänzt werden, das den Ausschlag (muraǧǧiḥ) gebe. Beide Optionen müsse es geben, denn wenn es keine Handlungsermächtigung zum Gegenteil gäbe, dann würde dies sofort zum Zwang zu dieser Handlung führen und die Wahl, die ja angestrebt sei, werde hinfällig. Gebe es beide Optionen und keinen ausschlaggebenden Grund, führe dies zur Leugnung des Schöpfers. Würde man als den, der den Ausschlag geben könne (muraǧǧiḥ), den Menschen annehmen, wäre wiederum ein ausschlaggebender Grund (muraǧǧiḥ) für diese Entscheidungshandlung nötig und ein infiniter Regress wäre die Folge.233 Stamme der ausschlaggebende Grund aber von Gott, führe er zwingend zur Handlung, womit die Schöpfung der Handlung durch Gottes Vermögen allein bewiesen sei. Für sich genommen war dieses Argument auch bei Rāzī zu finden (s. 5.1.3). Es gilt daher zu zeigen, wie Taftāzānī begründet, dass diese Art der Rückführung menschlicher Handlungen auf Gott nicht im Zwang der Ǧabrīya endet, die keinen Unterschied mehr zwischen Handlungen und Gegenständen macht, insofern diese, so wie sie sind, Schöpfung Gottes sind.
230 Īǧī benutzt dasselbe Argument. Seine Beispiele sind Bewegung und Schlaf. Īǧī Mawāqif, 312. 231 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 229. 232 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „ġayr šuʿūri lahū bi-t-tafāṣīli aǧzāʾi wa-aḥyāzi llatī bayna l-mabdaʾi wa-l-muntahī“, 228. 233 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 230.
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Das göttliche Vorwissen Bis hierin ist Taftāzānī in der Abfolge der Argumente Īğī und seinen Mawāqif gefolgt. Das nun folgende Argument, welches das Vorwissen Gottes hinzunimmt, übernimmt er aber wie das nächste auch wahrscheinlich von Samarqandī.234 Dieser hatte die vorherigen Argumente in etwas anderer Reihenfolge ebenfalls gebracht, weswegen Taftāzānī sich hier im Hinblick auf die umfassende Wiedergabe der Argumente wohl von den Ṣaḥāʾif des Samarqandī inspirieren lässt, während Einstieg und Gewichtung eher an Īğī orientiert sind. Der vierte Verstandesbeweis setzt direkt bei Gott und dem göttlichen Wissen an. Das bestimmende Vorwissen Gottes gelte auch für die partikularen Einzelheiten im Erdengeschehen und nicht nur für die allgemeinen Werte und Universalien, wie es die Philosophen gelehrt hätten. In dieser Frage hatten sich die mutakallimūn ebenfalls prinzipiell von den Philosophen abgesetzt und Ġazālī hatte die Eingrenzung des göttlichen Wissens auf die Universalien als Unglauben bezeichnet (s. o.). Wenn man aber Gott ein Wissen für die Details zubillige, dann fielen auch die einzelnen Handlungen darunter. Vor diesem Hintergrund ist es kein weiter Schritt zum Diktum, dass etwas, von dem Gott wisse, dass es geschehe, auch tatsächlich geschehen müsse.235 Eine Handlung könne nicht anders erfolgen, als so, wie ihr Ergebnis bereits im göttlichen Vorwissen bestehe, auch wenn sie theoretisch anders möglich gewesen wäre. Taftāzānī diskutiert in der Folge den Einwand, dass Gott durchaus wissen könne, dass die Handlung gemäß dem Handlungsvermögen (qudra) und der Wahl des Menschen erfolgen werde. Doch er wischt den Einwand förmlich vom Tisch, wenn er sagt, „es ist nötig, dass die Handlung sicher durch sein Handlungsvermögen und seine Wahl geschieht, aber eben so, dass er nicht zur Wahl der Unterlassung imstande ist.“236 Er gibt zu, diese Argumentation ende im Zwang, der Begriff der Wahl scheint hier nur noch bedeutungslose Formel zu sein. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn er unter Rückgriff auf Rāzī sodann erklärt, dass ein in der Zeit geschaffener Akt keine Auswirkung auf etwas seit Ewigkeit Bestehendes (azalī) haben könne. Indem er das göttliche Vorwissen in der gleichen Zeitachse wie die irdische Chronologie ansiedelt, gibt er ihm einen absoluten Vorrang.
234 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 387. 235 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 232. 236 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „fa-yaǧibu an yaqiʿa l-battata bi-qudratihī wa-ḫtiyārihī bi-ḥayṯu lā yatamakkana min iḫtiyāri t-tark“, 232.
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Gott und Mensch als Konkurrenten Das Paradigma der Allursächlichkeit und Allwissenheit Gottes scheint den Menschen völlig „entmächtigt“ zu haben. Doch wie Samarqandī schließt Taftāzānī hier noch die Frage an, was geschehen würde, wenn der Mensch einen Körper bewegen, Gott ihn aber im Ruhezustand belassen wolle. Auch wenn man beide Handlungsvermögen in unabhängiger Betrachtung als gleichwertig betrachten kann, geschieht auf der Ebene des Tatsächlichen, was zu erwarten ist: Das Handlungsvermögen Gottes ist hier stärker und das von ihm Gewünschte geschieht.237 In ähnlicher Form findet sich dieses Argument bereits bei Ǧuwaynī vorgeprägt.238 Unter der Rubrik „Argumente der Früheren [Gelehrten]“ (al-mutaqaddimūn) erweitert Taftāzānī die Liste der Argumente auch gegenüber Samarqandī und führt wie Ğuwaynī zudem an, dass eine Handlung die Fähigkeit zu ihrer Wiederholung beinhalten müsse.239 Dieses Argument spielt aber, wie gesehen, eigentlich eine zentrale Rolle in der Auferstehungslehre, insofern es besagt, dass die Fähigkeit Gottes zur Hervorbringung der Welt immer auch die Hervorbringung des ihm Ähnlichen (īǧād miṯlihī), also des Jenseits impliziere (s. o.).240 Zusammengenommen ergeben die Argumentation, nach der ein frei handelnder Mensch rivalisierender Schöpfer wäre, was das klassische islamische Argument gegen einen zweiten Schöpfer in den handlungstheoretischen Rahmen stellt, und die Annahme, dass der frei handelnde Mensch dann auch die Fähigkeit zur zweiten Schöpfung haben müsste, eine hypothetische Vergöttlichung des Menschen für den Fall seiner Handlungsfreiheit. Denn insofern der Gegenstandscharakter von Handlungen immer weiter ausgebaut wird, erscheint jede Handlung wie die Schaffung eines Gegenstandes aus dem Nichts: Ein Mensch, der nach einem Apfel greift, wäre wie der Schöpfer des Apfels und müsste ihn auch im Jenseits erneut schaffen können. Vom impliziten Vollständigkeitsanspruch der Ausführungen Taftāzānīs im Šarḥ al-Maqāṣid war schon die Rede. Er tritt erneut in Erscheinung, wenn noch weitere Kategorien von Argumenten zum Zuge kommen, die danach geordnet sind, ob es sich um Verstandesargumente oder um Offenbarungsargumente handelt.
237 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 387; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 234. Bei Samarqandī verhält es sich nur so, dass der Mensch den Körper ruhen lassen und Gott ihn bewegen will. Ob Taftāzānī hier die Übernahme durch die Umkehrung kaschieren will, bleibt natürlich reine Spekulation. 238 Ǧuwaynī, Iršād, 189. 239 Ǧuwaynī, Iršād, 193; Shihadeh, From Al-Ghazali to Al-Rāzī, 167. 240 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 235.
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5.2.2.4 Offenbarungsbeweise Bevor er die Offenbarungsbeweise in Gruppen einteilt und bespricht, diskutiert Taftāzānī kurz einen Einwand gegen Offenbarungsbeweise an sich. Jemand könnte sagen, dass der Glaube an Gottes Wort, seinen Propheten und die Beweiskraft des koranischen Wunders darauf basiere, dass man dem Wort Gottes vertraue. Doch dies ginge, so der Einwand weiter, nicht damit zusammen, dass man sage, Gott sei Schöpfer aller Dinge und damit auch des Bösen und der Lüge.241 Die hier relevante Argumentation jedoch, so fährt Taftāzānī durchaus überzeugend fort, richtet sich gegen Diskutanten, für die eine Beweiskraft von Koran und Sunna selbstverständlich und nicht Teil des Bösen und der Lüge sein könne, weshalb der angeführte pauschale Einwand nicht greife. Die konkret relevanten Verse hat Taftāzānī sodann in sechs Gruppen eingeteilt, die im Folgenden einzeln dargestellt werden sollen:
Koranverse zum Ruhm Gottes Die erste Gruppe besteht aus drei Koranversen, die der Darbietung des Lobpreises (maʿriḍ at-tamadduḥ) dienen. Sure 6,102 lautet: „Kein Gott ist außer ihm, dem Schöpfer aller Dinge.“242 und der Vers davor: „Der Schöpfer der Himmel und der Erde! Wie sollte er denn einen Sohn haben, da er nicht einmal eine Gefährtin hatte? Er schuf doch alle Dinge […]“ [Hervorhebung in der Übersetzung – im Wortlaut aber: wa-ḫalaqa kulla šayʾ ohne Personalpronomen]“.243 Diese beiden Verse stehen somit zunächst einmal im Kontext einer Ablehnung der Trinität, worauf auch Zamaḫšarī in seinem Kommentar eingeht. Auch wenn er hinzufügt, dass es damit keine „Sache“ (šayʾ) gebe, die Gott nicht geschaffen habe und von der er nichts wisse.244 Zamaḫšarī scheint dies aber noch nicht auf menschliche Handlungen zu beziehen, denn über „Handlungen“ (afʿāl) äußert er sich im Zusammenhang mit dem im Vers vorkommenden Wort „Sache“ (šayʾ) nicht. Taftāzānī führt an, es gehe hier zwar um das Allgemeine (ʿumūm) und die Aussage, dass – theologisch gesprochen – alles von Gott geschaffen sei und – philosophisch ausgedrückt – in den Bereich der möglichen Dinge gehöre. Doch auch wenn sie nur allgemein dem Ruhm des Schöpfers und der Begründung seiner Anbetung dienten und nichts speziell zur Schaffung der Handlungen durch Gott sagten, dann gelte
241 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 238. 242 Bobzin, 120. 243 Bobzin, 120. 244 Zamaḫšarī, Kaššāf II, 52.
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dennoch, dass die Handlungen der Menschen auch unter das A llgemeine fielen, weshalb die Verse in diesem Zusammenhang als Argument dienen könnten.245
Schaffung des Handelns Der zweite Beweis beruht auf Vers 37,96, wo es heißt: „Wo euch doch Gott geschaffen hat und das, was ihr tut?“.246 Damit kann „euer Tun“ (ʿamalukum) gemeint sein, wenn das Pronomen mā – „das, was“ hier als mā maṣdarīya, also als Pronomen, das sich auf ein Verbalsubstantiv bezieht, verstanden wird. Es kann aber auch sein, dass es sich um ein Relativpronomen (mā mawṣūla) handelt.247 Dann wäre gemeint, was von euch [den Menschen] getan wurde (maʿmūlakum). Taftāzānī spricht sich für die zweite Bedeutung aus, denn es gehe ja darum, ob Gott oder der Mensch Schöpfer der Handlungen sei und damit um die Frage, von wem das sichtbare Ergebnis (al-ḥāṣil […] mā nušāhiduhū mina l-ḥarakāt) stamme:248 In diesem Fall von Gott selbst.
Fragen nach dem Schöpfer In der dritten Gruppe führt er einige Verse an, die rhetorisch nach dem Schöpfer oder anderen möglichen Schöpfern fragen, oder aber Gott als Schöpfer knapp konstatieren. Allen voran steht Vers 62,24: „Er, Gott, der Schöpfer […]“.249 Es schließt sich 67,13–14 an: „Ob ihr eure Rede geheim haltet oder sie offenlegt, siehe, er kennt das Innere der Herzen. Sollte er, der erschuf, kein Wissen haben?“.250 Es folgen Vers 35,3, wo es heißt: „Gibt es denn einen Schöpfer – außer Gott – […]?“251 und Vers 16,20: „Wen sie an Gottes statt anrufen, die können nichts erschaffen.“252 sowie Vers 31,11: „[…] [So zeig mir nun,] was erschaffen können […]“.253 Einer grammatischen Analyse der einzelnen Verse lässt Taftāzānī die Feststellung folgen, „dass Schöpfung immer ein Hervorbringen nach einem vorher-
245 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 239. 246 Bobzin, 394. 247 Elder, Commentary, 81. 248 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „fa-inna l-murādu bi-afʿāli l-ʿibādi l-muḫtalifi fī kawnihā biḫalqi l-ʿabdi aw bi-ḫalqi r-rabbi huwa mā yaqiʿu bi-kasbi lʿabd“ 240. 249 Bobzin, 495. 250 Bobzin, 515. 251 Bobzin, 379. 252 Bobzin, 231. 253 Bobzin, 358.
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bestimmenden Beschluss ist. Das heißt, etwas wird tatsächlich Realität in einer ganz bestimmten sichtbaren Form, und zwar gemäß dem göttlichen Beschluss (taqdīr).“254
Bitten um Rechtleitung In der vierten Gruppe von Koranversen führt Taftāzānī menschliche Bitten um eine bestimmte Rechtleitung an. So Vers 2,128: „Unser Herr! Mach uns beide zu Dir Ergebenen […]“,255 wobei hier von Abraham und Ismael die Rede ist, die gerade die Fundamente der Kaʿba errichtet haben. Es folgt Abrahams Ruf in Vers 14,40, als er bittet: „Mein Herr lass mich verrichten das Gebet.“256 Ebenso führt er Vers 19,6 an, als Zacharias für seinen Sohn bittet: „Und mach, mein Herr, ihn wohlgefällig!“257 Das Thema der Rechtleitung kam unter den Glaubensartikeln von Nasafī ebenfalls vor. Schon dort klangen die Passagen zur göttlichen Rechtleitung und Irreführung wie Vorherbestimmung und standen in einem gewissen Spannungsbogen zu den vorher über das zweifache Handlungsvermögen etablierten Aspekten menschlicher Freiheit. Taftāzānī nimmt wiederum eine grammatische Analyse vor. In allen drei Versen kommt das Wort „etwas zu etwas machen“ (ǧaʿala) vor. Es liegt also ein doppelter Akkusativ vor. Dabei wird das Produkt des Hervorbringungsvorgangs an den Platz eines anderen Produkts gestellt. Wenn die Handlungen, wie es hier der Fall ist, in dieser Konstruktion ihren Platz als zweites Akkusativobjekt haben, dann sind sie von Gott hervorgebracht.258 Doch die Muʿtazila hatte dafür plädiert, die Verse metaphorisch als „Bitte um Erfolg“ (tawfīq) zu verstehen und Gnadenbezeugungen und Irrleitung abzulehnen. Taftāzānī lehnt diese Interpretation ab.259 Interessant ist aber eher der Weg, den die Aussagen der Koranverse auf den Argumentationsebenen genommen haben. Zunächst liegen an den fraglichen Stellen eigentlich keine Vorschriften Gottes und keine Selbstaussagen vor, sondern menschliche Bitten um moralisch korrektes Verhalten. Man könnte die Verse daher gut als vorbildliche Antwort auf die oben dargestellte dreifache koranische Verpflichtung des Menschen zum Guten lesen (s. 5.1.1). In jedem Fall sind es Sollensaussagen der Art, dass sie das vom Menschen „Gesollte“ akzeptieren und so bestä-
254 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „laysa l-ḫalqu illā īǧādan ʿalā waǧhi t-taqdīri ayyu l-īqāʿu ʿalā waǧhi maḫṣūṣ“, 243. 255 Bobzin, 23. 256 Bobzin, 223. 257 Bobzin, 262. 258 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 243. 259 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 244.
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tigen. Es sind keine Seinsaussagen über den Zustand der Welt oder Abläufe in der Welt, wie es die Genese von Handlungen in der Handlungstheorie des kalām ist. Insofern sie hier aber in den Rahmen dieser Theorie über das Wesen der Handlung und ihre Verursachung gestellt werden, werden sie wie Seinsaussagen behandelt. Nagel bettet diese Wandlung vom Sollen zum Sein in einen größeren Kontext ein und verortet die Wurzeln dieser Transformation im 10. Jahrhundert: Denn der thematischen Ausweitung des Gegenstandsbereichs sunnitischen Räsonierens vom Seinsollenden auf das Seiende ungeachtet, hielt man am unbestreitbaren Wahrheitsanspruch der autoritativen Texte fest, so daß deren Aussagen nun nicht mehr nur in Fragen des Gesetzes, sondern auch in Fragen der – im weitesten Sinn – Physik und Metaphysik das letzte Wort behalten mussten.260
Die Verwendung von Bitten um „Sollenserfüllung“ in einer Debatte um das „Sein“ von Handlungen liegt auf dieser Linie der Erweiterung des koranischen Zuständigkeitsbereiches. Anders gesagt, wird die Bitte um Rechtleitung im Modus menschlicher Ungewissheit im Koran bei Taftāzānī zu einer ontologischen Transformationshandlung im Modus gewisser göttlicher Seins-Hervorbringung. Bemerkenswert ist, dass hier menschliche Sprecher Quelle der fraglichen Aussage sind. Doch insofern diese Sprechakte eigentlich Gottes Handlungen sind, ist es wiederum logisch, die Aussagen nicht als ungewiss bittend, sondern als ontologisch sicher anzusehen – sie werden aber tautologisch.
Gottes Wille Die fünfte Kategorie umfasst nur zwei Beispiele. Zunächst nennt Taftāzānī Vers 11,107 „[…] Siehe, dein Herr tut ganz gewiss, was er will.“261 Als zweites Beispiel folgt eine Kombination der Verse 14,27: „Gott tut, was er will,“262 und 5,1: „Gott entscheidet, was er will.“263 Hier konstatiert Taftāzānī kurz die Verbindung von Gottes Taten und Seinem Willen und sagt, man dürfe trotzdem nicht davon
260 Nagel, Tilman, Die „Grundregel der Auslegung“. Vortrag in Zürich im Oktober 2012, unveröffentlichtes Manuskript. Diese Aussage soll gemäß T. Nagel Eingang in ein größeres Werk zum Sunnitentum finden und dort veröffentlicht werden. 261 Bobzin, 198. 262 Bobzin, 222. 263 Bobzin, 92. In der verwendeten Ausgabe gibt es keine Angabe für diesen kombinierten Vers von Taftāzānī. Vergleiche hierzu Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 244. Die Korankonkordanz macht keine alternativen Angaben zu Koranstellen, auf die man die beiden hier genannten Einzelverse sonst beziehen könnte.
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usgehen, dass Gott willkürlich verfahre, wörtlich, dass „Er“ „macht, was Er tun a will.“264 Der direkt handlungstheoretische Bezug bleibt zunächst unklar. Allerdings gibt Zamaḫšarī zu dem Vers eine Erklärung gemäß dem eschatologischen Kontext der Koranstelle (11,107): Gott werde bei der Qual der Höllenbewohner verfahren, wie Er wolle. Es handele sich aber nicht um eine Begrenzung der Höllenstrafe, die manche hier hineingelesen hätten.265 Da Zamaḫšarī hier explizit eine muʿtazilitische Position vertritt, kann es natürlich sein, dass Taftāzānī den Vers aufgegriffen hat, um ihn durch seine Positionierung im Rahmen einer handlungstheoretischen Interpretation in eine andere Richtung zu deuten, als es Zamaḫšarī getan hatte.
Gottes Schöpfung der Einzeltaten Die letzte Kategorie von Koranversen, die hier als Beweise aus der Offenbarung dienen sollen, wird eingeleitet mit dem eher allgemeinen Vers 4,78: „[…] Sprich: „Alles kommt von Gott.” […]“,266 wobei hier „alles“ (kull) eher das summarisch Umfassende meint, das dann durch Beispiele veranschaulicht wird. So fügt Taftāzānī aus 58,22 an: „Diese sind es, denen er den Glauben in ihre Herzen eingeschrieben hat.“267 und auch 53,43: „[…] dass er es ist, der lachen lässt und weinen.“268 sowie aus 10,22: „Er ist es, der euch auf dem Festland und dem Meere reisen lässt.“269 Laut Taftāzānī unterscheiden sich diese Verse, von denen in diesem Fall hier nicht alle aufgezählt werden sollen, von den vorher genannten Kategorie, da sie das, was erwünscht ist (al-maṭlūb), explizit nennen.270 Ihre allegorischen Interpretatione durch die Qadarīya ist für ihn eine unnötige Abweichung von dem, was klar geschrieben steht.271 Nimmt man Taftāzānīs Aufzählung koranischer Argumente, bzw. Offenbarungsbeweise zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Taftāzānī beginnt mit den Versen, (1) die von der Schöpfung eines jeden Dinges sprechen, geht über zu den Versen, (2) die von der Schöpfung dessen sprechen, was die Menschen tun, nennt dann (3) rhetorische Fragen nach einem weiteren Schöpfer, geht über zu (4) Bitten des Menschen, dass Gott sie zu Han-
264 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „yafʿlu mā yurīdu fiʿlahū.“ 244. 265 Zamaḫšarī, Kaššāf II, 423. 266 Bobzin, 79. 267 Bobzin, 491. 268 Bobzin, 472 [Hervorhebung in der Übersetzung]. 269 Bobzin, 178. 270 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 244. 271 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 245.
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delnden in einem bestimmten Sinne machen möge, unterstreicht (5) die Verbindung von Gottes Handeln und seinem Willen und kommt zu (6) Fällen, in denen von der Schöpfung konkreter Einzeltaten die Rede ist. Ein weiterer, eher knapper Abschnitt führt fünf Hadithe an, so eines nach Muslim, wonach Mohammad gesagt habe, es gebe keinen Gläubigen, der nicht die šahāda spreche, nicht an die Botschaft Mohammads glaube, an die Versammlung im Jenseits und daran, „dass Gutes und Schlechtes vorherbestimmt sei.“272 Ein weiteres Hadith lautet, dass „alles nach dem göttlichen Gesetz besteht, auch Unfähigkeit (ʿaǧz) und Schlauheit (kais).“273
5.2.2.5 Einwände der Muʿtazila Im Folgenden geht Taftāzānī nochmals auf Argumente der Muʿtazila ein, die er wiederum in Verstandes- und Offenbarungsargumente unterteilt. Bei den Verstandesargumenten ergeben sich manche Wiederholungen von Argumenten. Hervorzuheben sind daher die Offenbarungsargumente, die Taftāzānī weitaus stärker einbezieht als Īǧī,274 Bayḍāwī275 oder Samarqandī276 dies tun, auch wenn er einen Vers (2,79), den Īǧī und Bayḍāwī gleich an erster Stelle bringen, weglässt. Seine Auswahl ist damit wohl ohne direktes Vorbild, zumal sich auch beim Vergleich mit der umfangreichen Liste in Ğuwaynīs Iršād ergibt,277 dass sich nur punktuelle Übereinstimmungen aber keine systematischen Übernahmen feststellen lassen. Wie bei den Beweisen für die Vorherbestimmung der Handlungen durch Gott bildet er auch für die Beweise, die für die Handlungsfreiheit sprechen, eigene Kategorien. In diesem Fall sind es deren fünf, die jeweils eine Benennung enthalten, was bei den Vers-Kategorien, die für die von Taftāzānī selbst vertretene Position herangezogen wurden, nicht der Fall war:
272 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „[…] wa-yumin bi-l-qadari ḫayrihī wa-šarrihī.“, 246. Dieses Hadith findet sich bei Tirmiḏī im Wortlaut: „lā yuʾminu ʿabdun ḥattā yuʾmina bi-l-qadari ḫayrihī wa-šarrihī.“ Sunan at-Tirmiḏī, Bāb al-qadar (Nr. 2231), Beirut 1983, 306. 273 Das Hadith steht in folgender Sammlung: Malik b. Anas, al-Muwaṭṭaʾ, K. al-qadar (Nr. 1629), Vaduz 2000, 325. 274 Īǧī verwendet etwas andere Kategorien und gibt keine Beispiele an: Mawāqif, 315f. 275 Bayḍāwī liefert auch einige Koranverse, die eher für die muʿtazilitische Position sprechen, belässt es aber bei einer eher kurzen Auflistung: Ṭawāliʿ, 198f. 276 Samarqandī zählt fünf Verse auf, die für ein menschliches Handlungsvermögen sprechen, davon kommen aber nur zwei (40,17 und 41,40) auch bei Taftāzānī vor: Ṣaḥāʾif, 390f. 277 Ğuwaynī, Iršād, 250f.
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Verse, die Handlungen allgemein dem Menschen zuschreiben278 In die erste Kategorie von Versen fallen solche, in denen Handlungen recht allgemein dem Menschen zugeschrieben werden. Taftāzānī präsentiert zwei Beispiele aus den allerersten und allerletzten Versen des gesamten Korans: Das erste Beispiel ist Vers 2,3: „Die an das Verborgene glauben, die das Gebet verrichten […]“.279 Der zweite Vers 114,5 lautet: „[der Teufel, T. W.] der einflüstert in die Herzen der Menschen.“280 Die beiden Verse stehen exemplarisch für gute und schlechte Taten. Taftāzānī bemerkt unter Bezugnahme auf Rāzīs Argumentation für den Zwang, Der Imam [Rāzī, T. W.] behauptete, dass es unausweichlich sei, diese Verse mit dem notwendigen Gesichtspunkt zu interpretieren, dass die Gesamtheit des H andlungsvermögens und das Motiv einen Einflussfaktor für die Handlung bilden und dass diese Gesamtheit von Gott geschaffen wurde.281
Damit löst sich für Taftāzānī der Widerspruch zwischen der Zuschreibung zum Menschen und der universalen Geltung des göttlichen Beschlusses auf.
Verse, die dem Menschen Handlungen vorschreiben In dieser Kategorie geht es um Verse, die den Menschen einzelne Taten vorschreiben (ʾamr) und andere verbieten (nahy). Taftāzānī bezieht sich dabei recht allgemein auf die „Geschichten früherer Völker, die gewarnt worden sind.“282 Hiermit spielt er auch auf die als Straflegenden bekannten Geschichten an, in denen Menschen bestraft wurden, weil sie sich weigerten, die Botschaft der Propheten, die zu ihnen gesandt wurden, zu befolgen. Beispiele führt er in dieser Kategorie aber keine an.
Verse, nach denen Menschen ihre Handlungen hervorbringen Einige Verse schreiben aber Handlungen dem Menschen nicht nur zu (isnād), sondern legen durch die gewählten Ausdrücke eine Hervorbringung (īǧād) von Handlungen durch den Menschen nahe. Obwohl in den Versen selbst fast immer die Verbformen vorkommen, stellt Taftāzānī die Ausdrücke als bestimmten Infi-
278 Die Unterüberschriften richten sich nach den erwähnten Benennungen durch Taftāzānī selbst. 279 Bobzin, 10. 280 Bobzin, 595. 281 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „wa-zaʿama l-imāmu annhū lā maḥīṣa ʿanhā illā bi-l-tizāmi anna maǧmūʿa l-qudrati wa-d-dāʿīya muʾaṯṯirun fī-l-fiʿli wa-ḫāliqu ḏālika l-maǧmūʿi huwa Allāh taʿālā“, 259. 282 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „wa-fī qiṣaṣi l-umami l-māḍīyati li-l-inḏār“, 259.
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nitiv dar. Hierzu gehört der Ausdruck „das Tun“ (al-ʿamal) in den Versen 16,97: „Wer Gutes tut, […]“,283 53,31: „Auf dass er denen, die Böses taten, vergelte, was sie taten.“,284 19,96: „[…] denen, die glauben und gute Werke tun, […]“,285 40,40: „Wer Böses tat, dem wird nur mit Gleichem vergolten.“286 Im Wechsel werden hier zwei Beispiele für gute und zwei Beispiele für schlechte Taten genannt. In anderen Versen kommt der handlungstheoretische Fachbegriff „das Machen“ (al-fiʿl) vor,287 wie in den Versen: 2,215: „Und was ihr sonst an Gutem tut [macht], siehe, Gott weiß genau darum.“,288 22,77: „[…] und macht das Gute!“289 Hier ist die Anordnung, jeweils Beispiele für gute und schlechte Taten anzuführen, aufgegeben, allerdings hat Taftāzānī für den nächsten Ausdruck „das Herstellen, das Schaffen“ (aṣ-ṣanʿ) – vielleicht als Ausgleich – nur ein einziges Beispiel einer schlechten Tat zur Hand. In Vers 5,63 heißt es: „Ja, wie schlimm ist, was sie anrichteten [bzw. damit schufen].“290 Ein weiterer Ausdruck ist „die Aneignung“ (al-kasb). Auffällig ist, dass hier wiederum der ašʿaritische Schlüsselbegriff für die Beschreibung des menschlichen Anteils an seinen Handlungen wenig prominent einfach als ein Beispiel unter vielen vorkommt. Taftāzānī bringt hier drei Verb-Beispiele aus: 3,25: „Und jeder Seele zurückerstattet wird, was sie erbracht [angeeignet] hat.“,291 52,21: „Jeder Mensch ist dem verpfändet, was er begangen [sich angeeignet] hat.“,292 40,17: „Heute wird jeder Seele das vergolten, was sie begangen [sich angeeignet] hat.“293 Alle Beispiele im Zusammenhang mit der Aneignung thematisieren die jenseitige Relevanz der Handlungen. Ein weiteres Verb in der Reihe verschiedener Ausdrücke, die im Koran Verwendung finden, um menschliche Handlungen zu beschreiben, ist „Das zu etwas Anderem machen“ (al-ǧaʿl): Vers 2,19: „[…] Sie machten wegen der Donnerschläge
283 Bobzin, 238. 284 Bobzin, 471. 285 Bobzin, 268. 286 Bobzin, 416. 287 Da die Übersetzung von Bobzin diese Unterscheidungen nicht nachvollzieht, wird bei dieser Versgruppe und den folgenden, bei denen Taftāzānī die jeweiligen arabischen Nuancen von Verben für Handeln, Machen und Aneignen durchspielt, die Form des arabischen Verbs (Übersetzung) in eckigen Klammern hinzugefügt. 288 Bobzin, 34. 289 Übersetzung Thomas Würtz. 290 Bobzin, 101. 291 Bobzin, 50. 292 Bobzin, 468. 293 Bobzin, 414.
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ihre Finger zu Ohrpfropfen […]“294 und Vers 6,100: „Sie machten Gott Gesellen: die Dschinne, […]“.295 Erst jetzt folgt der Begriff, der in der Sprache des kalām eigentlich ausschließlich Gott vorbehalten ist und dessen koranische Verwendung oder nur angedeutete Verwendung im Zusammenhang mit dem Menschen exegetische Probleme bereitet. Es handelt sich um „die Schöpfung“ (al-ḫalq). Vers 23,14: „[…] Voller Segen ist Gott, der beste Schöpfer!“296 macht hierbei den Anfang. Als weitere Beispiele nennt Taftāzānī Vers 3,49, in welchem Jesus sagt: „[…], dass ich für euch aus Ton erschaffe, [was die Gestalt von Vögeln hat,]“297 oder Vers 5,110, in welchem Jesus von Gott auf das „Ereignis“ angesprochen wird: „Und damals, als du aus Ton etwas schufst, was die Gestalt von Vögeln hatte.“298 Taftāzānī geht besonders auf Vers 23,14 ein, in welchem Gott als „der beste Schöpfer“ bezeichnet wird und der schon im Kommentar zu den ʿAqāʾid eine Rolle gespielt hatte. Auffällig ist in seinen Bemerkungen im Šarḥ al-Maqāṣid nun besonders, dass er zunächst für eine metaphorische Auslegung plädiert: „Man muss diese Ausdrücke zu metaphorischen Ausdrücken für die Suche nach einer gegnerischen Verursachung machen, d.h., wer wurde zu einem Hinderungsgrund (wrtl. gegnerischen Grund) für die guten Werke?“299 Der Ruf nach metaphorischer Deutung geschieht in diesem Fall nicht, um dem Anthropomorphismus vorzubeugen, was eigentlich das einzig akzeptierte Feld der metaphorischen Auslegung sein sollte, wie er ja gegen Ibn Sīnā in der Diskussion um eine geistige und körperliche Auferstehung geltend gemacht hatte (s. o.). Vielleicht wird Taftāzānī auch deswegen noch im gleichen Abschnitt wieder vorsichtiger, wenn er unter Berufung auf Rāzī die Verbindung von Motiv und Handlungsvermögen zum Einflussfaktor hervorhebt. Taftāzānī lässt die Passage kraftvoll ausklingen: Diese Gesamtheit der Schöpfung Gottes, des Erhabenen geschieht ohne Wahl des Menschen, ohne Metaphorik, ohne Unklarheit und ohne Unabhängigkeit des Menschen und ohne Absonderung.300
294 Übersetzung Thomas Würtz. 295 Bobzin, 120. 296 Bobzin, 297. 297 Bobzin, 52. 298 Bobzin, 107. 299 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „waǧaba ǧaʿlu hāḏihī l-alfāẓi maǧāzātin ʿan at-tasabbubi lʿādīy ay man ṣāra sababan ʿādīyan li-l-aʿmāli ṣ-ṣāliḥa“, 260. 300 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „wa-ḏālika l-maǧmūʿu bi-ḫalqi llāhi taʿālā min ġayri ḫtiyāri l-ʿabdi fa-lā maǧāza wa-lā iškāla wa-lā istiqlāla li-l-ʿabdi fa-lā iʿtizāl.“ [Hervorhebungen, T. W.], 260.
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Hier beruft er sich doch nicht weiter auf die Metaphorik und erteilt zugleich dem Konzept der Wahl (iḫtiyār) eine klare Absage. Diese Aussage ist der stärkste Beweis dafür, dass Taftāzānī im Ṣarḥ al-Maqāṣid punktuell zu einer neo-ǧabritischen Haltung tendiert.
Verse, in denen Ungläubige getadelt werden Die vierte Gruppe bilden Verse, deren Tadel der Ungläubigen auf einen freien Entschluss zum Unglauben zu verweisen scheint. Vers 17,94 lautet: „Es hinderte die Menschen nichts daran zu glauben.“301 Es folgt Vers 2,28: „Wie könnt ihr nur an Gott nicht glauben? […]“,302 Vers 38,75: „[Iblis!] Was hat dich daran gehindert, vor dem niederzufallen, [was ich mit meinen eigenen Händen erschaffen habe?] […]“303 und 84,20: „Was ist mit ihnen denn, dass sie nicht glauben?“304 sowie Vers 74,49: „Was ist denn nur in sie gefahren, sich von der Mahnung abzuwenden?“305 und Vers 3,71: „[…] Warum vermengt ihr die Wahrheit mit dem Nichtigen […]?“306 Er schließt mit Vers 3,99: „[…] Warum haltet ihr die Gläubigen vom Wege Gottes ab? […]“307 Taftāzānī nimmt hier zunächst Bezug auf die Ǧabrīya, gemäß deren Argumentation Gott den Unglauben samt Motivation und Handlungsvermögen in den Ungläubigen geschaffen hat, wobei der Koran als Beweis dafür dient, dass er Ungläubiger ist.308 Taftāzānī kontrastiert diese tautologische Sicht dann mit dem Muʿtaziliten Abū Hāšim, dem er die Worte in den Mund legt, wie Gott denn als umfassender Schöpfer aller Handlungen zunächst Menschen den Weg versperren könne, nur um im Koran zu fragen, warum die Buchbesitzer Gläubige vom Weg abhielten. Der Mensch wird unter der Voraussetzung der ǧabritisch-ašʿaritischen Lehre letztlich doch nach dem Grund für etwas gefragt, das auf Gott zurückgeht.
Verse, nach denen das Handeln auf menschlichen Willen zurückgeht Die fünfte und letzte Kategorie umfasst Verse, in denen das Handeln so beschrieben wird, dass es menschlichem Willen entspringt. Taftāzānī führt fünf B eispiele
301 Bobzin, 250. 302 Bobzin, 12. 303 Bobzin, 402. 304 Bobzin, 555. 305 Bobzin, 534. 306 Bobzin, 54. 307 Bobzin, 57. 308 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 261.
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an. Das erste entstammt dem Vers 18,29: „Wer will, der glaube, und wer da will, der bleibe ohne Glauben!“309 Es folgen Vers 41,40: „[…] Tut, was immer ihr wollt! […]“,310 Vers 74,37: „für den von euch, der vorausgehen oder nachkommen will.“311 sowie Vers 74,54–55: „[…] Siehe das ist eine Mahnung, wer will, der ruft sie in Erinnerung“312 und Vers 76,29: „Doch wer nun will, der schlägt den Weg zu seinem Herrn ein […]“.313 Abschließend warnt Taftāzānī davor zuzulassen, dass etwas gegen den Willen Gottes geschehe. Wer solches tue, dem könne passieren, was ʿAmr b. ʿUbayd geschehen sei, als ein Magier sagte, Gott wolle seine Bekehrung zum Islam nicht und er halte es mit dem mächtigeren Teilhaber an der göttlichen Macht, der seine Konversion nicht wolle. Diese schon aus dem Kommentar der ʿAqāʾid bekannte Anekdote rundet hier die Besprechung der Offenbarungsbeweise der Gegner einer göttlichen Vorherbestimmung menschlicher Handlungen ab.
5.2.2.6 Vergleich der Offenbarungsargumente im Šarḥ al-Maqāṣid Was Taftāzānī von den Referenzwerken unterscheidet, ist die Einfügung eines recht ausführlichen Teils mit den eigenen Offenbarungsargumenten und den Offenbarungsargumenten seiner Gegner. Auch wenn Taftāzānī das schon öfters erwähnte Patt der Offenbarungsbeweise ebenfalls konstatiert, ist doch interessant zu vergleichen, welche Struktur die beiden Gruppen von Koranversen aufweisen und ob sich hier Ähnlichkeiten abzeichnen. In der ersten Kategorie stehen Verse, die von der Schöpfung eines jeden Dinges durch Gott sprechen, Versen gegenüber, die Handlungen allgemein dem Menschen zuschreiben. Weiter werden Verse, die von einer Schöpfung dessen sprechen, was die Menschen tun, Versen, die dem Menschen Handlungen vorschreiben, gegenübergestellt. In der dritten Kategorie finden sich rhetorische Fragen nach einem anderen Schöpfer Versen gegenübergestellt, nach denen Menschen ihre Handlungen hervorbringen. In der vierten Kategorie stehen Verse, in denen Ungläubige getadelt werden, den Bitten des Menschen, dass Gott sie zu Handelnden in einem bestimmten Sinne machen möge, gegenüber. Die Verbindung von Gottes Handeln und seinem Willen wird in der fünften Kategorie mit Aussagen kontrastiert, nach denen das Handeln menschlichem Willen entspringt.
309 Bobzin, 255. 310 Bobzin, 423. 311 Bobzin, 533. 312 Bobzin, 534. 313 Bobzin, 538.
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Die sechste Kategorie, in welcher von der Schöpfung konkreter Einzeltaten durch Gott die Rede ist, hat kein Äquivalent auf Seiten der Offenbarungsbeweise für die Handlungsfreiheit. Allerdings ist von direkt menschlichen Handlungen ja schon in der dritten Kategorie die Rede. Nimmt man die Kategorien zusammen und überlegt sich eine gemeinsame dahinterstehende Frage, kann man dazu folgenden Fragenkatalog entwerfen: (1) Sind Handlungen allgemein Gott oder dem Menschen zuzuschreiben? (2) Schafft Gott Handlungen oder schreibt er sie vor? (3) Wird der Mensch als Handelnder zum Mitschöpfer? (4) Sind Unglaube oder Gehorsam eigene Wege oder Ergebnis der Leitung Gottes? (5) Wessen Wille ist letztlich die Ursache von Handlungen? Es lässt sich also ein Fragenkatalog erstellen, auf den dann die von den Ašʿariten und Muʿtaziliten vorgebrachten Koranverse je andere Antworten geben. Diese Offenheit hatte sich auch aus der eingangs vorgestellten „koranimmanenten“ Handlungstheorie ergeben. Als Elemente dieser Lehre ließen sich die abstrakte Verpflichtung des Menschen vor der Schöpfung, die Dankespflicht im Diesseits und die Erwartung einer gerechten Beurteilung im Jenseits ausmachen (s. 5.1.1), was insgesamt ein Übergewicht zugunsten einer die Handlungsfreiheit betonenden Lehre im Koran nahelegt. Wenig überraschend weist Taftāzānīs Fokus einen anderen Schwerpunkt auf. Handlungstheorie ist weit weniger heilsgeschichtlich umfassend. Vorzeitliche Verpflichtung spielt somit keine Rolle in seiner Handlungstheorie. Der jenseitsbezogene Aspekt klingt implizit zuweilen an, wird aber bei der Analyse der konkreten Handlung nicht einbezogen. An der einzigen Stelle, an der explizit Bezug auf die Auferstehungslehre genommen wird, geht es aber nicht um menschliche Verantwortung, sondern darum, dass ein Mensch, der selbstständig seine Handlungen hervorbringt, auch die Macht habe, seine Handlungen derart zu wiederholen, wie es der göttliche Schöpfer bei der zweiten Schöpfung des Jenseits tun könne. Aber auch der mittlere, direkt diesseitige Aspekt von Handlungsanalyse im kalām thematisiert nicht die in der koranischen Lehre zentrale Kategorie der Dankespflicht, sondern fokussiert vielmehr auf die Ursächlichkeit. Die Kategorienbildung von Offenbarungsweisen bei Taftāzānī orientiert sich genau an den Fragen der Handlungstheorie des kalām und nicht am gesamten Koran. Dieser Befund ist allerdings nicht neu. Dennoch vertrauen die mutakallimūn auf die umfassende Aussagekraft des Korans für spätere Fragestellungen. Taftāzānīs Kategorienbildung ist hier nur ein Beispiel, doch wird dieser Befund nochmals deutlicher, wenn wir an dieser Stelle kurz darauf zurückverweisen, wie Taftāzānī und noch stärker vor ihm Abū l-Muʿīn in der Tabṣira die Konzeption der zwei Handlungsvermögen unter dem Begriff
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istiṭāʿa von verschiedenen koranischen Verwendungen des entsprechenden Verbs für „können, vermögen“ (istaṭāʿa) abgeleitet hatte. Dies geschah bei einem Vers zum Vermögen, eine Pilgerreise anzutreten, und bei einem anderen Vers zum Unvermögen, das Fasten zu halten. Beide Stellen hätten wohl – rein textimmanent betrachtet – kaum zu Überlegungen bezüglich zweier menschlicher Handlungsvermögen geführt. Die Begrifflichkeit der theologischen Spekulation wird somit für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch in den Koran „hineingelesen“, für einen mutakallim gleich welcher theologischen Richtung aber wohl eher ganz wortwörtlich „entdeckt“. Beobachtungen dieser Art könnten unter Umständen auch dazu dienen, eine Rekonstruktion der Koranhermeneutik im kalām zu versuchen.
5.2.2.7 Das Problem der Verpflichtung des Ohnmächtigen Aus dem Vorherigen ergibt sich für die Betrachtung von Šarḥ al-Maqāṣid die Frage, ob hier vom zweifachen Handlungsvermögen in māturīditischer Tradition überhaupt noch die Rede ist. Im Kommentar zu den ʿAqāʾid des Nasafī hatte Taftāzānī das erste natürliche Handlungsvermögen des Menschen nicht so klar herausgestellt wie Abū l-Muʿīn in der Tabṣira, doch hatte er die Differenz durchscheinen lassen und vor allem die rechtliche Verpflichtung (taklīf) auf das natürliche Handlungsvermögen bezogen (s. o.). Taftāzānī hatte dies im Kommentar an der Stelle getan, als Nasafī von „der Unversehrtheit der notwendigen Gründe und Mittel“ (salāmat al-asbāb wa-l-ālāt) gesprochen hatte. Diese Formulierung erscheint nun auch im Šarḥ al-Maqāṣid im Zusammenhang mit der Thematik der Verpflichtung (taklīf). Wie im Kommentar grenzt er eine Verpflichtung zum logisch „Unmöglichen“ (mumtaniʿ) von einer solchen zum „in sich Möglichen“ (mumkin fī nafsihī), das aber dem Menschen nicht möglich ist, ab. In die erste Kategorie der Verpflichtung zum Unmöglichen fiele die Aufforderung, Gegensätze zu vereinen, in die zweite die Schaffung von Gegenständen, aber auch die Herausforderung, etwas dem Koran Ähnliches zu schaffen. Letzteres zeigt für Taftāzānī, dass es eine Verpflichtung in dieser Form theoretisch gibt, dass sie aber nicht realisiert wird. Zahl.“314 In diesem Zusammenhang greift Taftāzānī darauf zurück, dass sich die rechtliche Verpflichtung eines Menschen nicht auf das Handlungsvermögen mit der Tat beziehe, das allein von Gott kommt, sondern von eben jener auf Nasafī zurückgehenden „Unversehrtheit der notwendigen Gründe und Mittel“ abhänge.315
314 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 299. 315 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 299.
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Doch worin liegt die Bedeutung einer solchen Abspaltung der rechtlichen Verpflichtung vom Moment der Handlung und dem Handlungsvermögen? Die Antwort könnte lauten, wenn Taftāzānī hier richtig verstanden wird, dass der Mensch als Diener Gottes zwar nicht Quell seiner Handlung ist, aber als Hörer der Offenbarung Gegenstand einer Verpflichtung geworden ist. In diesem Befund scheint dann auch ein impliziter Rest des natürlichen Handlungsvermögens aus der māturīditischen Tradition zu stecken. Wenn sich so göttliche Ursächlichkeit und menschliche Verantwortung doch wieder etwas trennen lassen, dann bildet aber die koranische Figur des Abū Lahab316 einen Sonderfall.317 Bei ihm ist das Handeln nicht nur handlungstheoretisch, wie bei allen Menschen, auf Gott zurückzuführen, sondern zugleich vom expliziten Offenbarungsgehalt her festgeschrieben. Dies hatte auch schon Īǧī konstatiert: „Der Glaube von Abū Lahab ist ihm vorgeschrieben, und doch ist er unmöglich.“318 Wenn der Koran Abū Lahab also selbst zum faktischen Unglauben verpflichtet, ergibt sich ein kaum lösbares Problem, insofern es hier sogar tatsächlich (wāqiʿan) – und nicht nur der theoretischen Möglichkeit nach (ǧāʾizan) – eine rechtliche Verpflichtung auf das Unmögliche gäbe.319 Unter Berufung auf Ǧuwaynī expliziert Taftāzānī, Abū Lahab zum Glauben an den Koran zu verpflichten sei die Aufforderung dazu, in sich ausschließende Gegensätze zu vereinen. Doch Taftāzānī möchte es bei dieser Konsequenz nicht bewenden lassen und folgt Rāzī,320 der in
316 Abū Lahab (wörtlich: Vater der Flamme) war ein Onkel Mohammads väterlicherseits, der mit vollem Namen ʿAbd al-ʿUzzā ibn ʿAbd al-Muṭṭalib b. Hišām hieß. Er war einer der schärfsten Widersacher von Mohammad und findet im Koran einmal namentlich Erwähnung in Vers 1 der Sure 111. Rippin, Andrew, Abū Lahab. In: EQ (2), 20. In Vers 111,1, in welchem sein Eigenname genannt wird, heißt es: „Verdorren sollen Abu Lahabs Hände, und abermals – verdorren!“ Der Name der betreffenden Sure, al-masad, rührt von einer Palmfaser, mit der die Frau Abū Lahabs gekennzeichnet (111,5) wird, die in der Hölle das Brennholz für ihren Mann herbeiträgt (111,4), womit auch sein jenseitiges Schicksal im Koran festgelegt erscheint. Bobzin, 592 u. 789. 317 Im Šarḥ al-Maqāṣid wird auch Abū Ǧahl erwähnt, doch taucht Abū Lahab im Koran mit seinem Eigennamen auf und kommt auch in den Mawāqif des Īǧī und in Taftāzānīs Tahḏīb (s. u.) vor. 318 Īǧī, Mawāqif: „īmān Abī Lahabin maʾmūrun bihī wa-huwa mumtaniʿ“, 315. In einer späteren ausführlicheren Diskussion der Verpflichtung des Ohnmächtigen verzichtet Īǧī aber auf die Behandlung der Problematik des Abū Lahab. Īǧī, Mawāqif, 330f. a-ǧamʿi 319 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „fa-yadillu ʿalā anna t-taklīfa bi-l-mumtaniʿ li-ḏātihī k l-naqīḍayni ǧāʾizun bal wāqiʿ“, 300. 320 Während im Kaššāf des Zamaḫšarī hier noch keine Diskussion der Frage stattfindet, ob Abū Lahab nicht zu etwas Unmöglichem verpflichtet wurde, als er glauben sollte, findet sich die Erörterung der Frage bei Rāzī. Im Tafsīr kommt Rāzī allerdings zu keiner Antwort, da er in den beiden gegebenen Antworten entweder eine tatsächliche Verpflichtung sieht, die Gegensätze zu vereinen oder aber in der Antwort, man müsse sich hier des Ja oder Nein enthalten, einen
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den Maṭālib al-ʿāliya gesagt hatte, gefordert sei auch von Abū Lahab nur die Erlangung des Glaubens und nicht die Vereinigung des Gegensätzlichen,321 selbst wenn ihm diese Erlangung des Glaubens als Unmögliches präsentiert werde. Taftāzānī greift zwar kurz den Einwand auf, dass Abū Lahab ja von seinem Schicksal informiert wurde, verwirft aber die Lösung, der „Vater der Flamme“ sei eben zu dem verpflichtet, was im Koran stehe, und damit zu etwas anderem als andere Menschen. Auch Koranvers 2,286, in welchem die Menschen Gott bitten, sie nicht ertragen zu lassen, wozu sie keine Kraft hätten, greife hier nicht, denn er beziehe sich auf gewisse Hindernisse im Leben und nicht auf die rechtliche Verpflichtung, um die es hier gehe.322 Dies hatte er auch im Kommentar der ʿAqāʾid so gesehen. Dort hatte Taftāzānī allerdings noch eine Argumentation angefügt, nach der etwas zulässig sein kann, selbst wenn es im Fall seiner Realisierung unmögliche Konsequenzen hervorbringen würde, und so versucht, der Problematik einer Verpflichtung zum Unmöglichen zu entkommen (s. o.). Allerdings hatte Rāzī eben jenes Argument nicht zugelassen, als er seine am Zwang orientierte Position vorgebracht hatte (s. 5.1.2). Da sich nun Taftāzānī dem Denken Rāzīs im Šarḥ al-Maqāṣid in jedem Fall angenähert hat, ist dies vielleicht der Grund für das Verschwinden des Arguments. Die Problematik des Abū Lahab bleibt hier ungelöst, er erscheint in einer ausweglosen Situation gefangen zu sein. Weiter unten wird betreffend dieser Frage noch zu sehen sein, dass er im Tahḏīb diesen letzten Bogen der Diskussion abschneidet. Im Folgenden geht Taftāzānī auf weitere Verzweigungen der Handlungstheorie ein. Da diese Aspekte auch im Tahḏīb nochmals aufgegriffen werden, brauchen sie hier nicht eigens besprochen zu werden. Wesentlicher erscheint es, nach der Untersuchung einiger zentraler Passagen aus dem Šarḥ al-Maqāṣid Gimarets These zu betrachten. Diese besagt, dass Taftāzānī im Šarḥ al-Maqāṣid-Werk nicht nur eine ašʿaritische Position vertritt, sondern zur Neo-Ǧabrīya tendiert (s. o.).
5.2.2.8 Die Stellung zur Ǧabrīya, Qadarīya und Muʿtazila Die von Gimaret konstatierte Tendenz Taftāzānīs zum „Neo-Ǧabrismus“ erscheint nach dem Gesagten an manchen Stellen erhärtet. Hier sind die Passagen zu
Kategorienfehler sieht, da die Sprache nichts mit dem logischen Problem zu tun hat. Rāzī, Tafsīr XXXII, 157. 321 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „lā yadillu ʿalā anna l-mukallaf bihī huwa l-ǧamʿu bal taḥṣīlu l-īmān“ 300. 322 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 301.
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nennen, in denen er die Frage anderer Schöpfer bespricht oder auch darstellt, dass alles nach Gottes Willen geschehe. Distanznahmen zur Idee des ǧabr sind weniger deutlich als im Šarḥ al-ʿAqāʾid, kommen aber doch weiterhin vor, weshalb man ihn nicht als „Neo-Ǧabriten“ bezeichnen kann. Auch ein Zwischenfazit Taftāzānīs zeigt in dieser Frage ein neutrales Abwägen.323 Hier erklingt fast wieder der Ton des Kommentars zu den ʿAqāʾid, wo Taftāzānī einen Mittelweg zwischen Ǧabrīya und Muʿtazila gesucht hatte (s. o.). So stellt er es als zwei gleichwertige intuitive Prämissen (muqaddimatān badīhīyatān) dar, wenn die Ǧabriten darauf insistieren, dass der Mensch die Details seiner Handlungen nicht kennt und die Qadariten darauf vertrauen, dass Handlungen tatsächlich Ergebnis menschlicher Absichten sind. Doch schon gleich im Anschluss bezieht er wieder klar Stellung: Es gehört zu den rhetorischen Notwendigkeiten, dass das Handlungsvermögen zur Hervorbringung eine Eigenschaft der Vollkommenheit sei, die niemals mit Menschen als Quell von Mangelhaftigkeit verbunden werden kann.324
Diese Passage verweist auf die Abschnitte des Werkes, die, wie oben angedeutet, das Handlungsvermögen (qudra) noch vor der handlungstheoretischen Diskussion als göttliche Eigenschaft qualifizieren.325 Die Rede von der Vollkommenheit bringt hier zudem einen philosophischen Sprachgebrauch hinein.326 Für die Rolle des Menschen bedeutet dies in jedem Fall eine Beschränkung seiner Freiheit. Auch wenn Taftāzānī wenig später nochmals davon spricht, dass die Sache „zwischen Zwang und Überantwortung“ (bayna ǧabr wa-tafwīḍ) anzusiedeln sei, so ist es kein Mittelweg. Als Quintessenz präsentiert er nämlich einen Ausdruck von Ibn Sīnā, ohne sich explizit auf ihn zu berufen: „Der Mensch ist ein Gezwungener in der Gestalt des Wählenden.“327 Damit verläuft der Weg sicher näher an der Seite des Zwangs bzw. der kosmischen Bestimmtheit aller Abläufe im Universum als an der einer überantworteten Handlungsfreiheit.
323 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 263f. 324 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „wa-mina l-ilzāmāti l-ḫaṭābīyati anna l-qudra ʿalā l-īǧādi ṣiffatu kamālin lā talīqu bi-l-ʿabdi llaḏī huwa manbaʿu n-nuqṣān.“, 263. Vgl. Ibn Sīnā, aš-Šifāʾ, 184. 325 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 91. 326 Da diese Abschnitte das göttliche Handlungsvermögen aber in Relation zur Schöpfung der Welt behandeln, gehört ihre eingehendere Besprechung in das folgende Kapitel zur Schöpfungslehre. Dabei wird nun das göttliche Handlungsvermögen auch mit dem Begriff der Wahl verknüpft, um den göttlichen Einfluss auf die Welt darzustellen. Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „taʾṯīru l-wāǧibi fī wuǧūdi l-ʿālami yaǧibu an yakūna bi-ṭ-ṭarīqi l-qudrati wa-l-iḫtiyār.“, 93. 327 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „inna l-insāna muḍṭarrun fī ṣūrati muḫtār“, 264.
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Dem entspricht auch, dass dem schon erwähnten Kapitel zur Rückweisung der Qadarīya,328 keine umfassende Rückweisung der wesentlich aktuelleren Ǧabrīya gegenübersteht. Zudem endet das Kapitel mit drei sehr ablehnenden Hadithen, die ebenso im Iršād von Ǧuwaynī vorkommen329 und einem Standpunkt zur Qadarīya, der hinreichend klar erscheint: „Doch die Qadarīya ist zu einem definitiven Ende gekommen, Gott, dem Herrn der Welten, sei Dank.“330 Während einzelne Argumente oft als muʿtazilitisch definiert werden, sind in den vergleichenden Überlegungen eher die Qadariten genannt. Um eine allgemeinere Aussage direkt zur Handlungstheorie der Muʿtazila zu finden, muss man wiederum kurz auf die Abschnitte zum göttlichen Handlungsvermögen blicken, in denen Taftāzānī ihre umfassende Zuordnung des Bösen zum Teufel als eine gefährliche Nähe zum Dualismus betrachtet.331 Damit sind nun einige der verschiedenen Argumentationsgänge vom Šarḥ alMaqāṣid deutlich geworden. Um nach den bisher erfolgten Einzelbeobachtungen einen Vergleich mit den ʿAqāʾid anzustellen, bietet es sich an, dies anhand der Veränderung in der Begriffswahl zu tun und dabei vor allem diejenigen Begriffe auszuwählen, die für den māturīditischen Charakter der ʿAqāʾid an-Nasafīya und Taftāzānīs Šarḥ al-ʿAqāʾid maßgeblich waren.
5.2.2.9 Wandel in der Begriffswahl Der im Šarḥ al-ʿAqāʾid zentrale Begriff der Wahl findet bei Taftāzānī zwar auch im Šarḥ al-Maqāṣid grundsätzlich Verwendung, verliert jedoch seine Bedeutung als Konzept. Zwar verwirft er diese Vorstellung menschlicher Wahlhandlungen (afʿāl iḫtiyārīya) nicht gleich zu Beginn wie Īǧī in den Mawāqif, doch hat besonders die Stelle, an der er ein muʿtazilitisches Offenbarungsargument zurückweist, gezeigt, dass es auch bei ihm darauf hinausläuft: keine Wahl (lā iḫtiyār). Formelhaft kommt dem Menschen die Wahl aber immerhin noch zu. Ein zentraler Begriff handlungstheoretischer Argumentationen ist auch immer das Handlungsvermögen gewesen. Dafür kam bei menschlichen Handlungen zunächst das auf dem koranischen qadar für „Gottes Macht“ beruhende Wort qudra auf, das von den Qadariten noch für den Menschen gebraucht wurde. Dieses Wort reservierte man bald aber für Gott und brachte für das menschliche
328 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 267–270. 329 Ǧuwaynī, Iršād, 255f. 330 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „fa-inqaṭaʿa l-qadarīyu wa-l-ḥamdu li-llāhi rabbi l-ʿālamīna“, 270. 331 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 109.
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Handlungsvermögen ein anderes Wort ins Spiel: „Es ist bestimmt kein Zufall, daß man im theologischen Diskurs beim Menschen immer weniger von qudra sprach als von istiṭāʿa (das für Gott nicht gebraucht wurde).“332 Die Feststellung von van Ess gilt zunächst einmal für die Zeit Mitte des 10. Jahrhunderts, doch auch Ibn Fūrak nutzt istiṭāʿa in seiner Darstellung der ašʿaritischen Lehre zu Beginn des 11. Jahrhunderts.333 Und auch wenn Māturīdī istiṭāʿa ebenso für Gottes Handlungsvermögen gebraucht, ist es bei seiner Lehre von den zwei Handlungsvermögen vor allem der zentrale Begriff, um menschliches Vermögen als Anteil des Menschen an der Handlung festmachen zu können. In Folge dessen spielt es auch in den ʿAqāʾid des Nasafī und in Taftāzānīs Kommentar eine wichtige Rolle und war damit auch im 14. Jahrhundert noch gängig (s. 5.2.1). Wenn istiṭāʿa als dominierender Begriff für das Handlungsvermögen im Šarḥ al-Maqāṣid verschwindet, lässt sich dies daher nicht durch einen allmählichen zeitlichen Wandel begründen. Die Distanzierung vom māturīditischen Sprachgebrauch im Šarḥ al-Maqāṣid wird somit auch daran ersichtlich, dass istiṭāʿa fast immer durch qudra ersetzt wird. An einer Stelle, an der istiṭāʿa nochmals vorkommt, geschieht es genau dann, als Taftāzānī nochmals kurz die Verbindung von rechtlicher Verpflichtung des Menschen und seinen natürlichen Voraussetzungen streift und hier wohl eher unbewusst in eine Redeweise aus dem Kommentar zu den ʿAqāʾid zurückfällt.334 Auch beim Menschen spricht Taftāzānī im Šarḥ al-Maqāṣid ansonsten von qudra. So auch in dem einleitenden Abschnitt von „einem in der Zeit geschaffenen Handlungsvermögen des Menschen“ (qudra muḥdaṯa li-lʿabd).335 In einem der rationalen Beweise verwendet er qudra im Rahmen der für ihn kontrafaktischen Annahme, dass „die menschliche Handlung durch sein Handlungsvermögen“ geschehe (fiʿl al-ʿabd bi-qudratihī).336 Obwohl dies der Tendenz einer Einschränkung des Begriffes auf Gott zuwider zu laufen scheint, gewinnt dieser Wandel der Terminologie seine Logik, wenn man bedenkt, dass die Tendenz des ašʿaritischen kalām dahin ging, doch nur Gott ein wirklich Einfluss nehmendes Handlungsvermögen zu geben. Insofern ist auch ein Handlungsvermögen des Menschen, das qudra genannt wird, so nah bei Gottes direkter Wirkung angesiedelt, dass es mit einem Vermögen, das in den Händen des Menschen liegt, wenig zu tun hat.
332 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 445. 333 Ibn Fūrak, Muǧarrad, 107. 334 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „at-taklīfu hiya salāmatu l-asbābi wa-l-ālāti lā al-istiṭāʿata llatī lā takūnu illā maʿa l-fiʿl“, 299. 335 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 225. 336 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 229.
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Es mag zwar dem Menschen als Motiv für die Handlung erscheinen, doch stammt es auch dann von Gott. Damit wird der Begriff qudra als Attribut für den Menschen unproblematisch, und istiṭāʿa als für den Menschen konzipiertes Handlungsvermögen verliert seine Relevanz. Es taucht in der Terminologie des Šarḥ al-Maqāṣid wohl auch daher nur einmal wieder auf. Die beiden in diesem und dem vorherigen Abschnitt beschriebenen Tendenzen greifen logisch ineinander: Eine Abkehr von den māturīditischen Beteiligungsmöglichkeiten für den Menschen und dem menschlichen Vermögen (istiṭāʿa) hin zu einer strikt ašʿaritischen Position und zugleich eine weniger starke Ablehnung der Lehre vom Zwang, auf die manchmal als Ideengeber verwiesen wird. Beides scheint sich den jeweiligen Werken klar zuordnen zu lassen und eine veränderte Position von Taftāzānī widerzuspiegeln. Daher lässt sich Gimarets Worten nur folgen, es handele sich bei seiner theologischen Biographie um „moins éclectisme qu’évolution.“337 Allerdings spart Gimaret den Tahḏīb in seinen Betrachtungen aus. Nun war im Fall der Auferstehungslehre ja gerade hier am ehesten eine systematisierte Lehre Taftāzānīs zu finden, weshalb abschließend der entsprechende Teil des Tahḏīb einbezogen werden soll.
5.2.3 „Die ʿAqîda der Argumente“ – Tahḏīb al-kalām Der handlungstheoretische Abschnitt im Tahḏīb trägt die Überschrift „Über Seine Handlungen“ (faṣl fī afʿālihī).338
5.2.3.1 Das Handlungsvermögen Taftāzānī beginnt, indem er sich zunächst dem Handlungsvermögen zuwendet: Zur Existenz bringt die Handlung des Menschen Gott und dem Menschen bleibt nur die Aneignung (kasb). Dies ist eine rein ergänzende Angelegenheit, die zwar notwendig von Seiten des Menschen, aber nicht notwendig für die Existenz des von Gott Beschlossenen ist. Vielmehr beschreibt sie nur den Handelnden. Dies ist identisch mit der Festlegung einer der beiden Seiten, ihrem Überwiegen (tarǧīḥ) [durch einen ausschlaggebenden Grund] und der Aufwendung (ṣarf) des Handlungsvermögens (qudra) dafür.339
337 Gimaret, Théories, 162. 338 Taftāzānī, Tahḏīb, 88. 339 Taftāzānī, Tahḏīb, 88.
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Der Einstieg in die Handlungstheorie erfolgt mit dieser knappen und präzisen Definition des ašʿaritischen Terminus der Aneignung in philosophischen Begriffen (Notwendigkeit, Überwiegen) ohne koranischen Bezug. Da zugleich der klassische Begriff des Handlungsvermögens und auch der māturīditische Ausdruck der Aufwendung einen Platz finden, erscheinen zentrale Aspekte verschiedener Argumentationsmuster in dieser Definition verbunden. Sie erhalten dabei den Ort, der systematisch passt, und werden nicht im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des Arguments abgehandelt. Im Anschluss stellt Taftāzānī die Gegenthese der Muʿtazila vor: Gemäß der Muʿtazila verhilft der Mensch seinen Handlungen zu ihrer Existenz. Sie benutzen sogar das Prädikat Schöpfer für ihn, was es, [würde man ihnen hierin folgen], mit sich brächte, dass das Attribut Schöpfer dann auch jedem Tier zukommen müsste.340
Zur Entgegnung geht er direkt zu dem Koranvers über, nach dem Gott Schöpfer jeder Sache ist und führt einzelne Verse aus fünf der sechs Kategorien vom Šarḥ al-Maqāṣid auf (s. o.). Dort aber waren die rationalen Beweise vor den Offenbarungsbeweisen genannt worden, was er hier umkehrt, und was besser in den Fluss des Gedankengangs passt. Dabei gibt Taftāzānī alle drei kurzen Versteile der ersten sehr allgemeinen Kategorie wieder (6,101–102 sowie 54,49), deren Aussage es ist, dass Gott Schöpfer aller Dinge ist. Es folgt Vers 37,96, der davon spricht, dass Gott auch geschaffen hat, was die Menschen tun und Vers 11,107, wo es heißt, dass Gott tut, was er will. Aus der sechsten Kategorie stammen wieder drei Verse (4,53, 58,22, 53,43), die Gottes Schaffung von Einzelhandlungen, wie den Glauben einzelner Personen oder das Lachen und Weinen, beschreiben.341 Die vierte Kategorie aus dem Šarḥ al-Maqāṣid, in der sich Menschen, besonders Propheten, spezifische Rechtleitung wünschen, spart er aus. Vielleicht erschien ihm die Kluft zwischen einer ethisch motivierten Bitte um richtiges Handeln und einer Analyse des ontologischen Status von Handlungen doch auch so groß, dass diese Kategorie nicht mehr zur Systematik des Tahḏīb passt (s. 3.3.3). Analog zum Hauptwerk erfolgt auch ein kurzer Verweis auf ein Hadith, was er nun aber in einem fortlaufenden Satz mit dem Argument verbindet: Jedes Geschöpf besteht nur durch das göttliche Handlungsvermögen (Hadith) und falls ein Handeln des Menschen durch sein eigenes Handlungsvermögen möglich wäre, müsste man von einer Vereinigung der beiden Einflussfaktoren ausgehen, da Gottes Handlungsvermögen allumfassend ist [und daher bei jeder Handlung einfließt]. Zudem würde es bedeuten, dass
340 Taftāzānī, Tahḏīb, 88. 341 Für die Übersetzungen der Koranverse s. o.
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der Mensch die Details seiner Handlungen kennt. Er müsste die Handlung ebenso unterlassen können, obwohl das Ausschlaggebende dann bei der Handlung ohne einen ausschlaggebenden Grund zustande kommen müsste. Weiterhin wäre es nötig, dass die Handlung bei ihm [verortet] ist, obwohl doch in Gottes Wissen [der Grund für] ihre Realisierung liegt. Möglicherweise ergibt sich noch ein weiterer Hinweis, wenn man bedenkt, dass der Mensch – wenn er ein Handlungsvermögen hätte – in der Lage sein müsste, die Handlung wiederkehren zu lassen (qudra ʿalā iʿādatihī), eine ähnliche Handlungen hervorzubringen oder sogar Körper zu schaffen. Dann wäre seine Handlung zu glauben, also eine „Schöpfung“ des Glaubens vorzunehmen, besser als die Handlung Gottes, als er den Teufel schuf. Weshalb sollte man dann noch nach dem Glauben fragen oder dem Schöpfer dafür danken.342
Fast geschmeidig wirkt hier der Übergang vom Textbeweis des Hadith zum weiteren rationalen Argument. Es folgen Überlegungen zum potentiellen Handlungsvermögen des Menschen und zu den Konsequenzen einer solchen Annahme. Bemerkenswert ist, dass Taftāzānī hier einen Gedankengang aus dem Šarḥ alMaqāṣid (s. o.) übernimmt, der darin besteht, dass man vom menschlichen Vermögen zu einer Handlung auch auf die Fähigkeit, diese H andlung wiederkehren zu lassen, folgern müsste. Damit bedient er sich explizit des Ausdrucks (iʿādatihī), der auch dazu dient, die göttliche zweite Schöpfung des Jenseits als Wiederkehr der ersten Schöpfung zu beweisen (s. 4.2.2.1). Die Furcht, dass Handlungsfreiheit Gottes Alleinstellung gefährden könnte, gehört also mit zum Kernbestand der Argumentationskette. Nun umreißt Taftāzānī die Position der Muʿtazila: Einige von ihnen behaupten, dass das menschliche Handlungsvermögen notwendig sei, da jeder zwischen der Bewegung des Fallens und des Aufsteigens einen Unterschied anerkennen müsse. Es gebe auch Verhaltensweisen des Menschen, bei denen seine Motive und Absichten eine Rolle spielen. Dabei entscheide er, was er will oder ablehnt und was er wünscht oder was ihn erstaunt, weshalb er seine Handlungen auch selbst vollbringt. Doch darauf ist zu antworten, dass dies alles das Wesen seiner Handlung nicht als Ergebnis seiner Schöpfung (ḫalqihī) und seines Handlungsvermögens (qudratihī) und seiner Fähigkeit zur Hervorbringung (īǧādihī) ausweist. Die Beispiele besagen nur, dass das Wesen der Handlung mit dem menschlichen Handlungsvermögen und seinem Willen verbunden ist und im Einklang mit seiner Absicht (qaṣdihī) und seinen Motiven (dawāʿīhi) eintritt.343
Soweit kann also das, was der Mensch mit seiner Handlung assoziiert, nur Teil seines Geistes sein und nichts über die tatsächliche Verursachung aussagen. Während er damit zunächst den Einwand, der von der menschlichen Alltagserfahrung ausgeht, dargestellt hat, kommt er sodann auf denjenigen m uʿtazilitischen
342 Taftāzānī, Tahḏīb, 88f. 343 Taftāzānī, Tahḏīb, 89.
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Einwand zu sprechen, der menschliche Handlungen nicht gemäß allgemeiner Erfahrung, sondern im Kontext des spezifisch islamischen Verständnisses mit dem Menschen als Handelndem verbunden wissen will. Andere von ihnen [den Muʿtaziliten] argumentierten Verstandesüberlegungen folgend, dass doch ohne eine Unabhängigkeit des Menschen Lob und Tadel, Aufforderung [zum Guten], Abwehr [des Schlechten], Lohn und Strafe und schließlich auch der Sinn von Verheißung und Drohung hinfällig würden. Zudem sei es nicht zulässig anzunehmen, dass alle schändlichen Handlungen des Menschen wie Unrecht, Böses und Widersetzlichkeit von Gott, dem Weisen (al-ḥakīm), geschaffen seien. Es würde sogar erforderlich machen, den Schöpfer mit Dingen zu beschreiben, die sich für ihn nicht gehören, wie „der Ungläubige“, „der Frevler“, „der Essende“, „der Sitzende“ und vieles mehr. Die Entgegnung lautet, dass die Aneignung und die Verknüpfung von Handlungsvermögen und Willen reichen, [um die Tat und ihre negativen Attribute dem Menschen zuzuschreiben]. Falls dies [als Argument] nicht ausreicht, sollte kein Disput darüber bestehen, dass der ausschlaggebende Grund für eine Handlung, der sie notwendig oder unmöglich macht, das ewige Vorwissen Gottes ist. Ein weiterer Einwand muss lauten, dass das Hässliche die hässliche Tat selbst ist und nicht Seine Schöpfung. Oder sieht man denn nicht, dass Gott nur die Wurzel allen Übels geschaffen hat und dass dies der Teufel ist? Der Handelnde aber, in dessen Person sich die Handlung zuträgt, ist der Täter, und nicht derjenige, der sie anderen Orts hervorgebracht hat.344
Auf das erste allgemeine und eher alltagsbezogene Argument folgt hier im Tahḏīb ein rationales Argument, das für seine Gültigkeit den Rahmen der islamischen Religion voraussetzt. Es fragt nach dem Gottesbegriff einer rein am Schöpfer orientierten Handlungstheorie. Dasselbe Argument, das sich hier systematisch zwischen dem allgemein rationalen und dem noch folgenden direkt offenbarungsbezogenen Argument findet, hatte im Šarḥ al-Maqāṣid weitaus prominenter ganz zu Beginn des handlungstheoretischen Teils gestanden. Dort hatte es Taftāzānī dazu gedient, direkt und offensiv die Qadarīya anzugreifen und von hier weitere Wege in die Diskussionen mit philosophischen und muʿtazilitischen Positionen zu weisen. Diente es dort als Argument am Tor zu einer Diskussionslandschaft, erhält es im Tahḏīb seinen Platz im Gang der Argumentation. Er greift auf die Verknüpfung des göttlich ewigen Wissens mit dem Argument vom ausschlaggebenden Grund zurück und erwähnt den Teufel als geschaffene Wurzel allen Übels. In den knappen Worten des Tahḏīb treten die Verknüpfung der Ursächlichkeit allen Handelns mit Gott und die alleinige ethische Verantwortung des Menschen dem Leser besonders klar vor Augen.
344 Taftāzānī, Tahḏīb, 89.
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5.2.3.2 Offenbarungsbeweise und Hadith Wiederum schließen sich unmittelbar muʿtazilitische Beweise, die sich auf den Koran stützen, an. Ohne Verse aus den ersten beiden Kategorien (s. o.) zu nennen, beginnt Taftāzānī direkt mit der dritten Kategorie muʿtazilitischer Offenbarungsbeweise: Einige Verse verweisen auf eine Hervorbringung von Handlungen durch den Menschen, so z.B. 16,97: „Wer Gutes tut, […]“,345 2,197: „Was ihr an Gutem tut: […]“,346 23,14: „[…] Voller Segen ist Gott, der beste Schöpfer.“347
Damit referiert er hier drei der acht Verse, die im Šarḥ al-Maqāṣid die dritte Kategorie bilden. Es folgen zwei Bespiele derjenigen Verse, die den Ungläubigen tadeln: Andere Verse zeigen, dass es keinen Hinderungsgrund für den Glauben und den Gehorsam und keine Zuflucht bei Unglauben und Ungehorsam gibt, wie 17,94: „Es hinderte die Menschen nichts daran zu glauben, […]“348 und 2,28: „Wie könnt ihr nur an Gott nicht glauben? […]“349
Auch in der fünften Kategorie, in der es um den für die Handlungen relevanten Willen geht und die Frage, ob dieser bei Gott oder beim Menschen anzusiedeln sei, trifft er eine Auswahl: „Eine weitere Gruppe von Versen verweist auf die Verbindung der menschlichen Handlungen mit dem, was sich die Menschen wünschen. Hierzu zählen: 41,40: „Tut, was immer ihr wollt!“350 und 18,29: „Wer will, der glaube, […]“.351 Die Antwort lautet, dass einige Verse unumstritten sind und manche allegorisch auszulegen sind. Der Wille des Menschen besteht dabei nur durch den Willen Gottes, wie es auch in Vers 76,30 heißt: „Aber ihr werdet es nicht wollen – außer, dass Gott es will.“352 Die Wahrheit ist, dass es [beim Handeln] weder Zwang noch eine Überantwortung gibt, sondern die Angelegenheit zwischen beidem anzusiedeln ist. Es gibt naheliegende Prinzipien, die für die Wahl sprechen, und abstraktere Prinzipien, die für die Notwendigkeit sprechen. Daher gilt, dass der Mensch ein Gezwungener in der Form des frei Wählenden ist.
345 Bobzin, 238. 346 Bobzin, 32. 347 Bobzin, 297. 348 Bobzin, 250. 349 Bobzin, 12. 350 Bobzin, 423. 351 Bobzin, 255. 352 Bobzin, 539.
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Seine Handlungen erfolgen nach dem göttlichen Gesetz (qaḍāʾ) und seinen Beschlüssen (qadar). Gott erschafft und beschließt (taqdīr) die Handlungen also, sei es von sich aus oder durch ein notwendiges Mittel.353
In seiner Antwort auf solche Offenbarungsbeweise zeigt er wieder mehr Äquidistanz zu den Extremen der Überantwortung von Handlungsfreiheit und dem direkten Zwang. Er bringt die Wahl als ein Fundament relevanter Prinzipien ins Spiel, die er im Šarḥ al-Maqāṣid gerade bei der Besprechung der ersten Versgruppe von pro-muʿtazilitischen Versen verworfen hatte (min ġayr iḫtiyār, s. o.).354 Auch wenn der Weg zwischen Überantwortung und Zwang hier im Tahḏīb wieder etwas weiter weg vom Extrempol der Ǧabrīya zu verlaufen scheint, so mündet sein Gedankengang doch auch hier in das von Ibn Sīnā entlehnte Bild des gezwungenen Menschen, der die Form des Wählenden hat. Die Zufriedenheit Gottes ist daher notwendig vom göttlichen Gesetz (qaḍāʾ) her und nicht vom Geschehenen (maqḍīy).355 Doch bei der Muʿtazila wird die Bestimmung durch das göttliche Gesetz nicht in dieser Bedeutung verstanden. Das göttliche Gesetz besteht nur als Benachrichtigung und Klärung [in der Offenbarung], als himmlische Urschrift auf der Tafel sowie in Verbindung mit den Notwendigkeiten (ilzām fī-l-wāǧibāt).356 Keine Meinungsverschiedenheit besteht über die Tadelswürdigkeit der Qadarīya. Ihre Anhänger wurden so benannt, weil sie darin übertrieben haben die göttliche Macht (qadar) [im Bezug auf die Handlungen der Menschen] zu verneinen. Sie gaben außerdem nicht zu, dass Mardūd357 eigentlich derjenige gewesen ist, auf den die Lehre eher zurückgeführt werden muss, da der Prophet gesagt hat, die Qadarīya seien die Magier der muslimischen Gemeinschaft.358 Ein weiteres Hadith besagt, dass bei der Auferstehung ein Rufer laut fragen werde, wo die Gegner Gottes seien, worauf die Qadariten auferstehen würden.359 Wer für sich selbst die [eigentlich göttliche] Macht reklamiert, der sollte auch damit bezeichnet werden.360
Damit finden einige Aspekte aus dem Tadel der Qadarīya im Ṣarḥ al-Maqāṣid wie die polemische Interpretation des Namens als Selbstanmaßung göttlicher Macht und auch ihre angebliche, historische Verankerung bei Mardūd nochmals
353 Taftāzānī, Tahḏīb, 89f. 354 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 260. 355 Diese Formulierung ist auch in den Mawāqif anzutreffen: Īǧī, Mawāqif, 322. 356 Taftāzānī, Tahḏīb, 90. 357 Mardūd ist eine Figur der vorislamischen iranischen Geschichte, die auch von Niẓām alMulk kritisiert wurde. 358 Das entsprechende Hadith ließ sich nicht auffinden. 359 Das Hadith findet sich in folgender Sammlung: Ibn Abī Ḥātim, ʿAbd ar-Raḥmān, ʿIlal al-Hadith, Abschnitt ʿilal al-aḫbār al-marwīya fī l-qadar, (nr. 2810), Kairo 1343/1924, 435. 360 Taftāzānī, Tahḏīb, 90f.
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Erwähnung. Auffällig ist auch, dass Taftāzānī hier zwei Hadithe zur Qadarīya heranzieht, die sich in keiner der großen kanonischen Sammlungen finden. Der explizite Bezug zum Zoroastrismus (s. o.) bleibt aber aus. Im Tahḏīb fährt Taftāzānī fort: Zudem weisen unzählige Texte augenscheinlich darauf hin, dass alles nach dem Willen Gottes geschieht, dass dies sogar sprichwörtlich werden konnte < Was Gott will, das ist und was Gott nicht will, das ist nicht. > Wie kann man da sagen, dass es nicht feststeht, dass er der Schöpfer von allem ist und der, der es will und der, der auch weiß, was nicht realisiert werden wird, so wie er es will. Die Muʿtazila war fest überzeugt, dass Gott das Böse nicht will, sondern das Entgegengesetzte, selbst wenn es nicht realisiert wird. Damit aber ließen sie den Großteil dessen, was in Seinem Machtbereich (mulkihī) [der Welt] geschieht, gegen seinen Willen ablaufen, indem sie sagten, dass der Wille des Bösen schon böse ist. Wenn Gott also das Böse wollte, würde Gottes Strafe für das böse [Handeln des Menschen] zum Unrecht. Sie fügten hinzu, dass eine Anordnung dessen, was er [Gott] ablehnt und nicht will, Unsinn sei, und dass der Wille [Gottes], das Gebieten des Guten, Zufriedenheit und Liebe erforderlich mache. Doch dies alles ist nichtig.361
Taftāzānī spart sich hier eine ausführliche Entgegnung auf diese Position der Muʿtazila. Er fährt fort, indem er dieser Haltung den extremsten Aspekt einer Lehre gegenüberstellt, die den Willen Gottes auf alles Tatsächliche und die größten Sünden ausdehnt: Einige sagen unter Berufung auf Vers 6,148: „[Die Beigeseller werden sagen:] „Hätte Gott gewollt, so hätten weder wir [noch unserer Väter] beigesellt, […]““362 Doch solche Rede ist übler Spott mit dem Ziel, [durch den Wortlaut des Verses] eine Entschuldigung für sich selbst vorzugaukeln. Diejenigen, die solches vorbringen, sind keine Lügner sondern solche, die der Lüge beschuldigen. Das Urteil über sie ist schon in Vers 16,9 gefällt worden, wo es heißt: „Hätte er gewollt, hätte er euch rechtgeleitet – allesamt“363 und in Vers 17,38: „All dieses Böse ist verhasst bei deinem Herrn“,364 das heißt, verhasst wie bei den Menschen nach dem gewöhnlichen Gang der Dinge (maǧārī l-ʿādāt).365
Taftāzānī tritt hier zwar beherzt die Flucht nach vorne an, doch letztendlich erscheint diese größte Sünde des Polytheismus doch Gottes Wille gewesen zu sein. Denn Vers 16,9 schließt ja nicht aus, dass er anders gekonnt hätte und obwohl es
361 Taftāzānī, Tahḏīb, 91. 362 Bobzin, 126 (Auslassungen gemäß dem Tahḏīb). 363 Bobzin, 231. 364 Bobzin, 245. 365 Taftāzānī, Tahḏīb, 91f.; ebenso: Īǧī, Mawāqif, 322.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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verhassenswert ist, wie Vers 17,38 aussagt, hat Gott es doch zugelassen. Es ist nicht zu sehen, wie die beiden Verse, die Taftāzānī präsentiert, den Einwand, der auf Vers 6,148 beruht, entkräften sollen. Damit endet der erste Abschnitt im Tahḏīb zur Handlungstheorie.
5.2.3.3 Gut und Böse Es folgt ein weiterer Abschnitt, der explizit der Frage nach dem Guten und dem Bösen gewidmet ist: Das Gute und das Böse bedeutet, dass etwas gemäß dem Urteil Gottes nach Seinem offenbarten Gesetz (šarʿ) Lob oder Tadel, Lohn oder Strafe verdient. Er selbst hat gesagt (17,15): „Und wir straften niemals, ehe wir nicht einen Gesandten schickten.“366 Denn wäre all dies schon aus dem Wesen der Handlung selbst abzuleiten, dann würde sie nicht ausbleiben. [Sie wäre dann notwendig.] Zudem ist der Mensch in seiner Handlung nicht unabhängig. Lob und Tadel auszusprechen bedarf allerdings – rational betrachtet – der Unabhängigkeit.367 Doch die Muʿtazila sagte, sie seien sehr wohl mit dem Verstand zu erkennen, denn beeinflusse sei das Gute die gute Tat und das Böse die feindliche Tat. Der Verstand beeinflusst bei Gleichwertigkeit (tasāwin) [der Alternativen] zum wahrhaftigen Reden und zur Rettung des Ertrinkenden und gegen die Lüge und das Untergehenlassen des Ertrinkenden. Zudem wäre, wenn der Verstand ein Scheinwunder des Lügners nicht als schändlich enttarnen könne, die Prophetie nicht abgesichert.368 Die Antwort lautet in den ersten beiden Fällen, dass das Umstrittene hier nicht getroffen werde und im Fall einer Gleichwertigkeit der Alternativen die Wirklichkeit dagegen spreche, [was die Muʿtaziliten hier an guten Taten annehmen.] Im dritten Fall lautet die Antwort, dass es zu „unbedingt verlässlichen Dingen bei den Gewohnheiten Gottes“ (qaṭʿīyāt ʿādīya) gehöre, dass einem Scheinpropheten in der Realität nie Glauben geschenkt werde.369
366 Bobzin, 243. 367 Taftāzānī, Tahḏīb, 92. 368 Taftāzānī, Tahḏīb, 92. Die Prophetie baut in der Lehre des sunnitischen kalām auf einem Wunder (muʿğiza) auf, das den Propheten als solchen beglaubigt und es den Menschen so ermöglicht, die Wahrheit seiner Botschaft zu erkennen. Damit sind sie dann auch verpflichtet, dieser Botschaft Gehorsam zu leisten. Vergleiche hierzu Grunebaum, der sogar die Definition aus Taftāzānīs Šarḥ al-ʿAqāʾid bei seiner Darstellung der Lehre zitiert: „Sein Kommentator atTaftazānī [sic] (gest. 1389) erklärt diese These in der folgenden Weise: « (Eine muʿğiza ist) ein Ding, das von dem gewöhnlichen Ablauf der Dinge abweicht; es tritt in Erscheinung durch denjenigen, der behauptet, ein Prophet zu sein, als seine Herausforderung an die Leugner dieses (Anspruchs); und es ist von solcher Art, daß es ihnen unmöglich gemacht ist, selbst etwas dergleichen hervorzubringen. Es ist Allāhs Bezeugung der Aufrichtigkeit Seiner Gesandten.»“ Grunebaum, G. E., Der Islam im Mittelalter, Zürich & Stuttgart 1963, 125; im Original: Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 18. 369 Taftāzānī, Tahḏīb, 92.
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Handlungstheorie
Hier wandelt sich der Tahḏīb weg von einer wirklichen Präsentation der Argumente in knapper Form zu einer eher auf Argumente anspielenden Darstellungsform. Dies gilt auch für den folgenden Abschnitt: Doch die Muʿtazila hielt daran fest, dass jemand, der Gott in seinem Wesen und mit allen seinen Eigenschaften erkannt habe, ihm dann aber doch andere Götter beigeselle und Mangelhaftigkeit mit Gott assoziiere, sicher wisse, dass er der [jenseitigen] Strafe ausgesetzt werde. Und wir sagen, wenn er es nicht wegen der Erklärung des göttlichen Rechts wüsste, dann würden durch das göttliche Gesetz die Propheten zum Schweigen gebracht und die Antwort darauf wurde schon gegeben.370
5.2.3.4 Rechtliche Verpflichtung Im nächsten Abschnitt kommt die Rede wieder auf die Verpflichtung zur Befolgung des göttlichen Rechts: Es besteht keine Meinungsverschiedenheit darüber, dass niemand zu etwas verpflichtet werden darf, das seinem Wesen nach unmöglich ist, wie die Vereinigung zweier sich ausschließender Gegensätze. Ebenso wenig streitet man darüber, dass es keine solche Verpflichtung zu etwas gibt, das dem [göttlichen] Vorwissen widerspricht, oder von dem Gott schon mitgeteilt hat, dass es nie eintreten werde. Die Meinungsverschiedenheit beginnt vielmehr bei dem, das ontologisch möglich ist, aber in Folge einer grundsätzlichen Unfähigkeit des menschlichen Handlungsvermögens nicht realisierbar ist, wie die Erschaffung von Körpern. Hinzu kommt das, was dem Menschen gewöhnlich nicht möglich ist, wie der Aufstieg in den Himmel. Dies ist bei uns [den Ašʿariten] erlaubt, da es nichts gibt, das allein vom Verstand her als Böses angesehen werden kann. Es wird aber nicht stattfinden, da Gott es ausgeschlossen hat. So heißt es in Vers 2,286: „Gott belastet keinen Menschen mit mehr, als er tragen kann.“371 Doch bei der Muʿtazila und den Schiiten ist es nicht erlaubt, da es Unsinn und sinnloses Spiel Gottes wäre. Zu uns gehören diejenigen [mutakallimūn], die in der Verpflichtung des Abū Lahab, dass er alles für wahr hält, was der Prophet gebracht hat [also vor allem den Koran], woraus aber dann hervorgeht, dass er eben dies nicht für wahr hält (s. Sure 111), eine Verpflichtung der Art sehen, die bedeutet, zwei sich ausschließende Gegensätze zu vereinen, [was das Kennzeichen des ontologisch Unmöglichen ist]. Ich antworte, dass es ausreicht, den Glauben zu erlangen, was eine in sich selbst m ögliche Sache ist. Unmöglich ist sie nur wegen des Vorwissens oder der Mitteilung [Gottes im Koran], dass er nicht glauben werde.372
370 Taftāzānī, Tahḏīb, 92f. 371 Übersetzung T. W., s. o. 372 Taftāzānī, Tahḏīb, 93.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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Nach einer kurzen Erläuterung in ašʿaritischem Geist, dass man Gott keine Form der Verpflichtung rational verbieten kann, greift er die Frage nach dem Glauben von Abū Lahab auf. Die Verpflichtung zu etwas ontologisch Unmöglichem hatte Taftāzānī zu Beginn des Abschnitts ausgeschlossen, weshalb er die Erlangung des Glaubens durch Abū Lahab als möglich in sich selbst qualifiziert, die erst durch Gottes Vorwissen und seine Benachrichtigung von seinem Unglauben unmöglich geworden sei. Doch auch diesen Fall hatte Taftāzānī, wenn er hier richtig verstanden wurde, am Beginn des Abschnittes ebenfalls ausgeschlossen, weshalb die Problematik wie im Šarḥ al-Maqāṣid ungelöst bleibt. Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, dass Gott im Moment der Handlung wirkt. Doch hatte sich schon im Šarḥ al-Maqāṣid eine Abgrenzung der rechtlichen Verpflichtung durch den Koran vom Handlungsmoment abgezeichnet. Denn diese Verpflichtung spielt sich vor der Handlung ab. Im Kommentar zu den ʿAqāʾid war dies sogar noch mit Anklängen an das erste natürliche Handlungsvermögen nach Māturīdī verbunden und im Šarḥ al-Maqāṣid hatte er die rechtliche Verpflichtung ebenfalls vom Handlungsmoment unterschieden. Wenn diese rechtliche Verpflichtung nun durch die Akzeptanz der koranischen Anweisungen geschieht, so erscheint dieser Vorgang trotz des sonst sehr umfassenden Handlungsbegriffs von der menschlichen Einzeltat abgegrenzt. Diese Abgrenzung lässt sich schwer mit den anderen handlungstheoretischen Aussagen im ašʿaritischen kalām verbinden, da Hören oder Lesen des Korans auch menschliche Handlungen sind. Doch wie dem auch sei, bleibt für Taftāzānī der Befund, dass er hier augenscheinlich einen Unterschied gesehen hat. Daraus leitet er eine ethische Verantwortung trotz der göttlichen Ursächlichkeit im Handlungsmoment ab. Dies wird auch dadurch erhärtet, dass eben Abū Lahab zu einem zentralen Problem wird, da ihn die Akzeptanz einer rechtlichen Verpflichtung durch den Koran erst recht zum Ungläubigen macht. Die Tatsache, dass sein Eigenname im Koran vorkommt (s. o.), lässt ihn noch mehr als Mohammads Rivalen Abū Ǧahl als ein höchst individuelles Problem erscheinen: Wenn jemandem gemäß ašʿaritischer Handlungstheorie und der Überlegung zu einer davon unabhängigen Verpflichtung auf den Glauben an die koranische Botschaft keine Freiheit zukommt, dann ihm. Selbst wenn man seinen Unglauben als historischen Moment sieht, der sich in seinem weiteren Lebensverlauf noch hätte ändern können, spricht hier dagegen, dass ja auch sein Jenseitsschicksal als Hölleninsasse im Koran kurz angerissen wird. Doch solche exegetischen Überlegungen finden sich in den hier untersuchten Werken nicht. Festzuhalten bleibt, dass Taftāzānī selbst in der Systematik des Tahḏīb keine überzeugende Antwort mehr weiß und sich in dem Abschnitt selbst widerspricht, wenn er eine Verpflichtung Abū Lahabs annimmt, obwohl sie von Gott durch Benachrichtigung doch schon als unmöglich ausgewiesen wurde.
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Handlungstheorie
Es folgt ein Abschnitt, der sich mit möglichen Zielen von Handlungen beschäftigt: Die Wahrheit ist, dass die Analyse eines Teils Seiner Handlungen durch die [jeweiligen] Ziele autoritativer Texte und den Konsens der Gelehrten feststeht. Darauf gründet sich das Gebäude des Analogieschlusses. Doch man sollte die Kontroverse in der Sache nicht so deuten, dass Ziele [daher in jeder Hinsicht] unbedingt notwendig sind. Sie sind eher ein Teil ganz allgemeiner Aussagen. Davon zeugt auch ihre eigene Beweisführung, dass etwas notwendig zu seinem Ende kommen muss, wenn es kein Ziel mehr dafür gibt, da sonst ein infiniter Regress droht. Es ist auch nicht rational einzusehen, warum in der Verewigung der Ungläubigen ein Nutzen [und damit ein Ziel] liegen sollte. Die Muʿtazila tendierte dahin zu sagen, dass das Ziel der rechtlichen Verpflichtung der in Aussicht gestellte Lohn sei, wofür Vers 4,13 steht: „Wer Gott und Seinem Gesandten gehorcht, den führt er in Gärten, […].“373 Sie führten auch an, dass die Schädigung ohne Verdienst und ohne Nutzen ein Unrecht sei. Die Entgegnung darauf lautet, dass die Anordnung möglicherweise eine Gunst von Gott ist und dass er der König ist, so dass von ihm kein Unrecht ausgeht. Und würde man die Notwendigkeit eines Ziels zugestehen, dann könnte es auch die Prüfung oder der Dank oder die Bewahrung der Ordnung oder noch etwas anderes sein. Insgesamt ist es nicht vorstellbar, dass man mit einem bloßen Wort ewige Wohltaten erfährt und wegen eines einzigen Schlucks Wein ewige Pein erleiden muss.374
Diese Zweiteilung einer Abweisung von Zielen und einer Argumentation unter Annahme dieser hatte Taftāzānī schon öfters vorgenommen (s. o.). hat es schon öfters gegeben.
5.2.3.5 Verzweigungen der Handlung Ab hier präsentiert der Tahḏīb in vier kurzen Abschnitten noch Inhalte, die im Šarḥ al-Maqāṣid in einem vom handlungstheoretischen Hauptteil abgegrenzten Kapitel mit dem Titel „Über die Verzweigungen der Handlungen“ (fī tafārīʿ al-ʾafʿāl) abgehandelt wurden (s. 5.2.2.1). Dies bedeutet nicht, dass er hier diese inhaltliche Differenzierung und Abstufung in den Teilen der Handlungstheorie zurücknimmt, da die Unterteilung zwischen allen Abschnitten und damit auch zwischen den großen Themenfeldern wie Handlungstheorie und Prophetie nur durch eine Klammer mit dem Wort Kapitel (faṣl) erfolgt, wie es auch hier der Fall ist. Nach den grundlegenden Debatten über das Wesen menschlicher Handlungen geht es in den letzten handlungstheoretisch relevanten Kapiteln des Tahḏīb
373 Bobzin, 71. 374 Taftāzānī, Tahḏīb, 93f.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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darum, wie verschiedene Formen der direkten Zuwendung Gottes zum Menschen zu verstehen sind, wenn doch alle Handlungen von Gott geschaffen sind. Wie passt es in dieses Schema, wenn Gott zum Beispiel eine helfende Gunst erweist.375 Und wie verhält es sich damit, dass er bei einigen Menschen Sündlosigkeit gewährt, andere aber nach den Worten des Korans in die Irre führt.376 Alle diese Begriffe legen eigentliche eine Abstufung bei Gottes Eingriffen in die Geschicke der Menschen nahe, doch diese Abstufung passt nicht recht zur fundamentalen Geschaffenheit aller Handlungen durch Gott. Der Tahḏīb fasst die Problematik in folgende Worte: Im Buch [der koranischen Offenbarung] und der Sunna wird eine Beziehung zwischen Rechtleitung und Irreführung sowie natürlicher Veranlagung und Versiegelung der Herzen bei den Ungläubigen, also menschlichen Zuständen, einerseits und Gott andererseits hergestellt. Wir [die Ašʿariten] verstehen dies so, dass er die Rechtleitung und die Irreführung geschaffen hat, da er der alleinige Schöpfer ist. Bei der Muʿtazila ist die Rechtleitung eine Führung, die zum Ziel des Wunsches leitet und die Erklärung über die Aufstellung der Beweise. Zugleich ist sie ein Verbot von Gunstbezeugungen (alṭāf), da man weiß, dass sie nicht nützlich sind oder die Zuschreibung (isnād) [einer Wohltat auf Gott] metaphorisch gemeint ist. Was aber die Gunstbezeugung (luṭf), den Erfolg (tawfīq) und den Schutz vor Sünde (ʿiṣma) angeht, so resultieren sie aus einem von Gott geschaffenen Handlungsvermögen zum Gehorsam. Das im Stich gelassen Werden (ḫiḏlān) folgt analog aus einem Handlungsvermögens zur Widersetzlichkeit.377 Es hieß in den Debatten auch, dass die Sündlosigkeit darin bestehe, dass Gott in diesem Menschen keine Sünde schaffe oder man brachte vor, sie bestehe in einer Besonderheit (ḫāṣṣīya), durch die das Hervortreten der Sünde verhindert werde. Bei der Muʿtazila aber ist die Gunstbezeugung das, was der rechtlich Verpflichtete auswählt, wenn er gehorsam ist oder sich dem Gehorsam mit seinem eigenen Vermögen (tamakkun) annähert. Dabei gibt es zwei Fälle, die Erreichung (maḥṣal) und Annäherung (maqrab) genannt werden, wobei diejenige Art von Gunstbezeugung, die zur Erreichung des Notwendigen [der Erfüllung der rechtlichen Verpflichtung] führt, Verleihung von Erfolg (tawfīq) genannt wird. Das im Stich gelassen Werden (ḫiḏlān) ist die Verhinderung einer Gunstbezeugung. Die Sündlosigkeit schließlich ist diejenige Gunstbezeugung, bei der es möglich wird, das Böse [komplett] zu unterlassen.378
375 Gimaret, La doctrine, 412f. 376 Gimaret, La doctrine, 421. 377 Diese beiden Formulierungen für das Handlungsvermögen finden sich bereits bei Ǧuwaynī: Iršād, 254. 378 Taftāzānī, Tahḏīb, 94f.; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, fī l-luṭfi wa-t-tawfīq, 312f.
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Handlungstheorie
5.2.3.6 Todeszeitpunkt, Lebensunterhalt und das „Optimale“ Nach dieser Differenzierung verschiedener Arten göttlicher Zuwendung folgen die beiden ganz konkreten Aspekte der Vorherbestimmung menschlichen Handels, die Ernährung und Sterben betreffen. Dieses Erbgut der altarabischen Tradition findet damit auch Eingang in den Tahḏīb: Der Todeszeitpunkt (aǧal) ist der Zeitpunkt, an dem das Leben eines jeden Lebewesens endet und den Gott kennt. Dabei handelt es sich um einen einzigen Zeitpunkt. Der Ermordete stirbt zu seinem Todeszeitpunkt, doch wurde sein Tod von Gott als Folge der Handlung des Menschen, [der ihn ermordet hat,] geschaffen. Die ausgleichende Bestrafung des Mörders ist notwendig, da er sich diese Tat angeeignet und damit eine Sünde aus Ablehnung [des Gesetzes] begangen hat. Die Bedeutung einer besonders großen Frömmigkeit im Leben liegt in einer Vergrößerung [des jenseitigen] Heils, da es ganz eindeutige textliche Hinweise gibt, dass der Todeszeitpunkt [auch bei großer Frömmigkeit] nicht früher oder später [als festgelegt] eintritt.379
Hier gibt Taftāzānī wieder eine sehr konzise knappe Darstellung der klassischen Lehre zum festgelegten Todeszeitpunkt. In dem Vermerk, dass der Todeszeitpunkt einer sei, lässt sich allenfalls die Spur einer Replik gegen Kaʿbī herauslesen, der die Lehre von zwei Todeszeitpunkten vertreten hatte (s. o.). Er fährt fort: Der Lebensunterhalt besteht darin, womit Gott ein Lebewesen versorgt und wovon es Nutzen hat. Jedes Lebewesen verzehrt seinen Lebensunterhalt und niemand verzehrt den Lebensunterhalt eines anderen. Es wurde auch gesagt, er bezöge sich auf alles, wovon man Nutzen hat und wäre vielleicht durch das Gegessene nur mehr präzisiert worden. Die Muʿtazila band den Lebensunterhalt an dasjenige, das nicht schon jemandem anderen rechtmäßig gehört, so dass das Verbotene (al-ḥarām) nicht darunter fällt. Doch dann würde derjenige nie seinen Lebensunterhalt erhalten, der sich nur von Verbotenem ernährt. Zudem weisen die Texte darauf hin, dass Gott die den Lebewesen zugemessenen Einheiten an Lebensunterhalt (arzāq – Plural von rizq) garantiert.380
Auch hier bleibt Taftāzānī der alten Lehre treu. Den Abschnitt beschließt er mit einem im Kommentar zu Nasafī unbekannten Thema, das aber schon im Šarḥ al-Maqāṣid vorkam, nämlich der Preisfestsetzung (tasʿīr) durch Gott. Hier ist sie direkt an den Abschnitt zum Lebensunterhalt angefügt:
379 Taftāzānī, Tahḏīb, 95; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, fī l-aǧali wa-l-waqt, 314f. 380 Taftāzānī, Tahḏīb, 95f.; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, ar-rizqu mā sāqahū llāhu fa-ntafaʿa bihī, 318f.
Die Handlungstheorie im Werk Taftāzānīs
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Die Preisfestsetzung ist ein Beschluss (taqdīr), der besagt, für wie viel eine Sache verkauft wird, wobei Teuerung oder Ermäßigung sich durch Gründe vollziehen, die von Gott kommen, der ganz alleine die Preise festsetzt.381
Somit tritt wie bei Īǧī und in den eigenen Ausführungen Taftāzānīs im Šarḥ alMaqāṣid auch in der mehr auf Wesentliches zentrierten „ʿAqīda der Argumente“ ein drittes Element auf, was allein von Gott bestimmt wird. Hiermit greifen die beiden spätzeitlichen Theologen etwas auf, dass sich schon bei Ǧuwaynī finden lässt.382 Man könnte annehmen, dass hier zunächst unlauter erscheinende Preise gemeint waren. Solche Preise könnten Fragen nach der Gottgefälligkeit provoziert haben. Doch während der Todeszeitpunkt und der Lebensunterhalt zentrale Faktoren jeder menschlichen Existenz sind, so prägen die Preise erst ab einer bestimmten Kulturstufe das Leben in den großen Städten. Die jahrhundertealte – im Grunde altarabische Tradition –, Lebensspanne und Lebensunterhalt gesondert hervorzuheben scheint also im Rahmen der Handlungstheorie mit den Preisen um eine für Städter und Händler existentiell wichtig gewordene Kategorie ergänzt worden zu sein und hat zwischen der Zeit des Wirkens von Ǧuwaynī im 11. Jahrhundert bis zum 14. Jahrhundert keine Relevanz verloren. Am Ende kommt Taftāzānī nochmals auf die Gunstbezeugungen zu sprechen, verbindet sie nun aber mit der die Handlungstheorie üblicherweise abschließenden Frage nach der besten aller Welten: Die Muʿtazila hat Gott zu gewissen Angelegenheiten verpflichtet und geriet in Verwirrung bezüglich der Bedeutung von Notwendigkeit. Zu diesen Angelegenheiten gehört die Gunstbezeugung (luṭf). Denn würde sie den Menschen vorenthalten, dann würde sie zur Erlangung eines Zieles oder immerhin zur Annäherung an das Ziel fehlen oder würde zum Eintreten der Widersetzlichkeit führen. Das Notwendige aber wird nicht vollkommen außer mit dieser [zusätzlichen Gunstbezeugung]. Folgt man diesem Verständnis von Notwendigkeit, wäre es aber ebenso notwendig, dass kein Mensch Ungläubiger oder Frevler bleibt und dass keine Epoche ohne Propheten und Helfer auskommen muss. Es müsste eine Entschädigung (ʿiwaḍ) für das Erleiden von Schmerz und Ähnlichem mehr geben, weil die Unterlassung all dessen ein Unrecht (ẓulm) wäre.383 Sie [die Muʿtaziliten] stritten darüber, ob dieser Ausgleich im Jenseits notwendig sei, ob er durch Sünden hinfällig würde oder ob er für Ungläubige, Frevler und Einsichtslose im Diesseits oder im Jenseits zu geschehen habe. Sie debattierten auch, ob Tiere ins Jenseits gelangen können und Gott dort für sie Wissen schaffe.384
381 Taftāzānī, Tahḏīb, 96; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, as-saʿru taqdīru mā yubāʿu š-šayʾ, 320; Īǧī, Mawāqif, 320. 382 Ǧuwaynī, Iršād, 366. 383 Īǧī, Mawāqif, 330. 384 Diese Vorstellung findet sich bei dem Muʿtaziliten Baġdādī in den Uṣūl ad-Dīn: Baġdādī, Uṣūl, 236f.
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Handlungstheorie
Zu diesen Dingen, [in denen die Muʿtazila von Notwendigkeit spricht,] gehört auch die Frage, ob Gott das Beste (al-aṣlaḥ) für den Menschen in der Religion (dīn) [gemeint ist das Jenseits, T. W.] schaffen muss. Manche vertraten diesen Standpunkt sogar für das Diesseits. Als sicher galt ihnen diese [Verpflichtung Gottes] für die göttlichen Beschlüsse (aqdār) und die grundsätzliche Ermöglichung [guten Handelns] (tamkīn) zu gelten, weil deren Auslassung Geiz (buḫl) und Unsinn (safah) wären. Doch dann hätte der mittellose Ungläubige (al-kāfir al-faqīr) nicht geschaffen werden dürfen und er dürfte auch nicht ewig im Höllenfeuer bleiben. Der Gute (muḥsin) dürfte nicht getötet werden. Es bliebe in diesem Fall auch kein schlechter Mensch übrig, nicht einmal der Teufel (Iblīs) und seine Nachkommenschaft.385
In diesem letzten Absatz des Tahḏīb geht Taftāzānī nochmals auf die schon bekannte Frage ein, ob es Notwendigkeit für Gott gebe, was er wiederum verneint. Auch die Ablehnung, dass Gott die beste aller Welten geschaffen hätte, erfährt mit praktischen Beispielen eine Ablehnung. Der mittellose Ungläubige ist dabei ein schon bekanntes Beispiel.386 Die Leugnung des Teufels scheint ein kurzer Hinweis auf theologische Probleme, die aus der Lehre von der Notwendigkeit resultieren würden und die über Fragen der Handlungstheorie hinausreichen.
5.3 Schlussbetrachtung zur Handlungstheorie Ähnlich wie auch bei der Auferstehungslehre ergibt sich beim Blick auf Taftāzānīs theologische Schriften ein Bild, in dem das Hauptwerk Šarḥ al-Maqāṣid die ganze Bandbreite der Diskussion aufzeigt. Dabei lassen sich bei der internen Anordnung der Verstandes- und der Offenbarungsargumente Systematiken entdecken, die noch stärker an den Arten von Argumenten orientiert sind, als es im Auferstehungskapitel der Fall war. Eine kohärente Entwicklung der ašʿaritischen Handlungstheorie aus der Vielzahl der vorgestellten Argumente heraus wird im Šarḥ al-Maqāṣid aber nicht geboten. Aspekte der māturīditischen Lehre, die den Kommentar zu Nasafīs ʿAqāʾid geprägt hatten, kommen im Hauptwerk kaum noch vor. Demgegenüber bestätigt sich das Bild einer weitaus größeren Systematik im Tahḏīb. Hier möchte Taftāzānī eine schlüssige Handlungstheorie vorlegen. Wie auch im Auferstehungsteil werden die Argumente zumindest am Anfang nach ihrer inhaltlichen Passgenauigkeit im Gedankengang präsentiert. Dies zeigt sich auch an der Entscheidung, den zentralen Begriff der Aneignung (kasb), den er
385 Taftāzānī, Tahḏīb, 96; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „idʿāʾu l-muʿtazilati fī ʾumūrin taǧibu ʿalā l-bārīy“, 321f. 386 Īǧī, Mawāqif, 330.
Schlussbetrachtung zur Handlungstheorie
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im Kommentar zu den ʿAqāʾid erst gegen Ende eingebracht hatte und der im Šarḥ al-Maqāṣid sporadisch auftaucht, in den Vordergrund zu stellen. Die Offenba irekter rungsbeweise, die Taftāzānī vorher eher isoliert betrachtet hatte, sind hier d in die Argumentation verwoben. Andererseits fehlt bei den Unterthemen wie dem Todeszeitpunkt, dem Lebensunterhalt und der göttlichen Preisfestsetzung eine gewisse Reflexion über ihr Verhältnis zur allgemeinen H andlungstheorie. Im Fall der Verpflichtung Abū Lahabs blieb der Befund eines unmittelbaren Widerspruchs in den Aussagen des betreffenden Abschnitts auch im Tahḏīb. Gimaret, der in seinen Erörterungen nur den Kommentar zu Nasafī und den Šarḥ al-Maqāṣid berücksichtigt, hatte Taftāzānī eine evolutionäre Entwicklung von der māturīditischen zur ašʿarītischen Position attestiert und gegen Ende sogar ǧabritische Tendenzen ausgemacht. Diese Schwierigkeiten, Taftāzānī mit Blick auf beide Schriften eine Lehre zuzuordnen, hatte er am Ende auch mit einer Bemerkung verbunden, dass bei Taftāzānī keine originellen Beiträge zur Handlungstheorie zu finden seien, ja dass Taftāzānī in einem kalām gefangen sei, der mit fertigen Formeln arbeite, von wo er unfähig gewesen sei, sich zu entscheiden und eine klare und neue Position zu beziehen.387 Auch im Lichte des Tahḏīb lässt sich schwerlich von einer Originalität Taftāzānīs in handlungstheoretischen Fragen sprechen, doch immerhin eine übersichtlichere Systematisierung der Argumente in ašʿaritischen Begriffen erkennen. Ǧabritische Anklänge fehlen hier und ebenso unterbleibt die zum Teil schroffe Kritik vom Šarḥ al-Maqāṣid an der Qadarīya, womit die Einbeziehung des Tahḏīb gegenüber der Studie von Gimaret es als ausgeschlossen erscheinen lässt, ihn als Neo-Ǧabriten zu bezeichnen. Zudem formuliert er hier eine klare Position, die Gimaret in den anderen Werken vermisst hatte. Ein philosophischer Einfluss ist in der Benutzung der Terminologie ebenso wie in der Auferstehungslehre auch in der Handlungstheorie deutlich erkennbar. Die Abhandlung der Thematik und die vorkommenden Argumente sind aber anders als in der Auferstehungslehre nicht von einer Debatte mit Vertretern der Philosophie geprägt. Zumindest gilt dies für die hier betrachteten Teile, die sich mit dem Handeln des Menschen beschäftigen. Ein inhaltlicher Einfluss geht aber von der immer wieder anklingenden philosophischen Lehre einer umfassenden kosmologischen Notwendigkeit aus. Diese Lehre macht sich bei der Thematik des göttlichen Handelns (qudrat Allāh) schon bemerkbar, weist aber über die Theorie der göttlichen Verursachung menschlicher Handlungen hinaus auf die allgemeine Schöpfungslehre, welche im nächsten Kapitel betrachtet wird.
387 Gimaret, Théories, 168.
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Handlungstheorie
Blicken wir aber zuvor nochmals auf die menschliche Handlungslehre selbst, so könnte eine Interpretation von Taftāzānīs und auch Īǧīs Darstellung dahin gehen, dass in ihrer Lehre die Betonung einer Handlung als Sache stärker wird. Hierfür spricht, dass von ihnen z. B. šayʾ im Koran ganz selbstverständlich auf Handlungen bezogen wird, was Zamaḫšarī allem Anschein nach nicht getan hatte (s. o.). Der Gegenstandscharakter von Handlungen kommt zudem darin zum Ausdruck, wenn Taftāzānī bei den Verstandesargumenten die Handlung komplett als Punkt in der Raum-Zeitdimension analysiert und dem ethischen Aspekt, der ja dem Bewusstsein viel eher gegeben ist, keinen Raum gibt. Neben dem Gehen oder Sprechen oder Schlafen, die einer solchen naturwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden, kommen hier andere Handlungen, die als Taten des Gehorsams oder der Sünde im Rahmen einer theologischen Handlungstheorie zu erwarten wären, kaum vor. Zugleich ist es immer ein Zeitpunkt, den er analysiert, und keine sich in der Zeit erstreckende Kombination von zwei Momenten, mit denen Handlungen beschrieben werden. Somit wird der Gegenstand der Handlung nicht nur aus dem Ethischen herausgelöst sondern ebenso aus der Chronologie und in eine abstrakte Ontologie der Kausalitäten verrückt. Die kausalitätstheoretische Rückbindung an den Schöpfer dominiert in dieser theologischen Handlungstheorie die Thematik der Lebensführung eindeutig. Es zeichnet sich in dieser Thematik ein umgekehrter Befund zu dem ab, was Hourani für die spätere Umdeutung der koranischen Ethik durch die islamische Tradition festgestellt hatte: „In particular from traditionalism in knowledge voluntarism in ethical ontology has been inferred.“388 Auf dem Feld der Handlungstheorie scheinen metaphysisch grundierte Überlegungen zur Kausalität das eigene Wissen und Wollen des Menschen bei seinen Handlungen in den Schatten gestellt zu haben. Ein Ausgleich für diese Tendenz ließ sich aber in den Erörterungen zur rechtlichen Verpflichtung ausmachen. Dieser Vorgang scheint für Taftāzānī vom direkten Handeln abgekoppelt zu sein. Ihm steht hier wohl eine Wahrnehmung der koranischen Inhalte vor Augen, zu denen man sich dann akzeptierend oder ablehnend in Beziehung setzt. Wem aber hier sein Schicksal auch schon entgegentritt, wie es bei Abū Lahab der Fall ist, dem ist eigentlich auch gegenüber dieser Verpflichtung – und nicht nur in Bezug auf die Einzelhandlungen – keine Verantwortung zuzuschreiben. Menschliche Handlungen sind sowohl für das Jenseitsschicksal als auch für die Handlungstheorie von besonderer Relevanz. Dies wurde schon ganz zu Beginn des Kapitels erwähnt. Doch ließ sich im Verlauf der Untersuchung fest-
388 Hourani, Ethical Presuppositions, 25.
Schlussbetrachtung zur Handlungstheorie
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stellen, dass es für Taftāzānī wie für die anderen mutakallimūn seiner Zeit kaum Brückenschläge gibt. Der einzige direkte Brückenschlag, der erfolgt, ist aber keine Verstärkung der Position menschlicher Freiheit. Er betont im Gegenteil, dass ein Mensch, der seine Taten hervorbringen würde, diese Taten auch ein zweites Mal hervorbringen müsste, wie Gott es mit der Schöpfung des Jenseits tut. Dieses Postulat führt dazu, dass dem Menschen im Hinblick auf diese Konsequenz eine Ursächlichkeit für sein Handeln auch aus diesem Grunde abgesprochen werden muss. Doch für den Leser, der an seiner theologischen Lehre interessiert ist, mag es nicht unerheblich erscheinen, das Handlungskonzept aus der Handlungstheorie und der Auferstehungslehre stärker in Beziehung zu setzen, was zu folgendem Bild führen kann: Leuchtet in der Auferstehungslehre die ethische Relevanz von Handlungen im Schein des Jüngsten Gerichts, flackert auf der Seite ihrer Entstehung nur spärlicher Widerschein einer kleinen Flamme menschlichen Beitrags zu den eigenen Handlungen. Dieser Beitrag findet handlungstheoretisch kaum seinen Platz in allumfassender göttlicher Ursächlichkeit und damit Schöpfertätigkeit. Beides verweist nun am Ende dieser Überlegungen auf den Einfluss Gottes oder – in der Sprache der späteren mutakallimūn – des notwendig Seienden auf die Welt insgesamt. Im Übergang von der Auferstehungslehre zur Handlungstheorie waren es die Urteile für Handlungen des Menschen beim Jüngsten Gerichts, die nach den Handlungen im Diesseits fragen ließen. Jetzt aber führt Gottes Schöpfung der Handlungen auch zur Frage nach seiner allgemeinen Schöpfertätigkeit und damit nicht chronologisch, aber logisch zur Frage nach der Schöpfung der Welt.
6 Schöpfungslehre Das letzte Kapitel hat mit der Frage geschlossen, welche Verbindung zwischen Gott als Schöpfer menschlicher Handlungen und der Schöpfung der Welt durch Gott besteht. Ein Schlüsselbegriff ist hier erneut das Handlungsvermögen (qudra). Es geht dabei aber nicht mehr um die Frage nach Art und Umfang des menschlichen Handlungsvermögens, sondern um das Handlungsvermögen als Eigenschaft Gottes. Es ist schon deutlich hervorgetreten, dass Taftāzānī und andere mutakallimūn der Spätzeit dem Menschen kein wirklich eigenes Handlungsvermögen zuerkennen, dies hatte sich auch daran ablesen lassen, das derjenige Begriff, der früheren mutakallimūn zur Kennzeichnung des distinkt menschlichen Handlungsvermögens gedient hatte, nämlich istiṭāʿa, keine Rolle mehr gespielt hatte und gänzlich durch qudra ersetzt worden war. Denn sobald man davon ausging, dass ohnehin nur Gott Handlungsvermögen habe, konnte man den zunächst für göttliches Handlungsvermögen reservierten Terminus, nämlich qudra, auch für das Potential zur Handlung beim Menschen benutzen. Wenn nur Gott wahres Handlungsvermögen hat, ist der Bedarf für eine begriffliche Unterscheidung verschwunden. Die Relevanz des Begriffs qudra für die Schöpfungslehre zeigt sich allein schon daran, dass die Werke von Īǧī und Taftāzānī Abschnitte zur göttlichen Eigenschaft des Handlungsvermögens enthalten, in denen ein schöpferischer Bezug Gottes zur Welt behandelt wird (s. o.). Hierbei war es Taftāzānī besonders darum gegangen, die Schöpfungskraft Gottes gegenüber der Welt herauszustellen. Wisnovsky erblickt in seiner Analyse von Avicennas Metaphysik eine ähnliche Verbindung von Körper und Seele sowie Schöpfung und Schöpfer: The two pairs of questions are similar because any claims I make about how the soul causes the body will inevitably shape how I define the soul, just as any claims I make about how God causes the world will inevitably shape how I define God.1
Auch wenn, wie gesehen, handlungstheoretisch die Seele aus der theologischen Argumentation herausfällt, bleibt der Befund einer Verklammerung von schöpferischer Makroebene (Welterschaffung durch Gott) und individuellen Hervorbringungen (Körper durch die Seele bzw. Handlungen aufgrund göttlicher qudra) auf der Mikroebene, was die Parallelen in den philosophischen und theologischen Überlegungen nochmals verdeutlicht.
1 Wisnovsky, Metaphysics 3.
Koranische und philosophische Lehren zur Schöpfung
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Daneben tritt in den Darlegungen Taftāzānīs und anderer mutakallimūn ein Abschnitt hervor, der direkt der Schöpfung gewidmet ist und die Existenz der Welt unter dem Blickwinkel der Frage thematisiert, ob sie urewig (qadīm) oder zeitlich entstanden (muḥdaṯ) sei. Darin schließt sich die Darstellungsweise des kalām wiederum an die philosophisch-theologischen Debatten an, die von Ġazālī zugespitzt wurden (s. 3.1.4). Die folgenden Ausführungen zur Schöpfungslehre werden daher einen Seitenblick auf die Gotteslehre enthalten. Insofern Schöpfungsgedanke und Gotteslehre trotz der Dominanz späterer ontologischer Konzepte letztlich im Koran und frühen kalām wurzeln, wird zunächst nach der themenspezifischen Vorgeschichte gefragt (6.1), um daran anschließend die Lehre im Werk von Taftāzānī vorzustellen (6.2).
6.1 Koranische und philosophische Lehren zur Schöpfung Wie die Auferstehungslehre ist auch die Schöpfungslehre eine der Kernkontroversen zwischen einem offenbarungsbasierten Weltbild und den Lehren der islamischen Philosophen. Daher lohnt es sich, zunächst die Schöpfungslehre des Korans vorzustellen (6.1.1), bevor diese mit der Weltewigkeitsvorstellung kontrastiert wird, die von Aristoteles ausging und die später auch von den islamischen Philosophen übernommen und weitergedacht wurde (6.1.2). Wie auch in den bisherigen Themenfeldern wird anschließend kurz umrissen, welche Positionen im kalām vor Taftāzānī vertreten wurden (6.1.3).
6.1.1 Schöpfung im Koran Das Wort Schöpfung und seine Verwendung im Koran sind in dieser Untersuchung indirekt bereits Thema gewesen. In der Auferstehungslehre haben koranische Belegstellen, die aus der ersten Schöpfung auch die Möglichkeit einer zweiten Schöpfung im Jenseits zu erweisen suchen, eine Rolle gespielt. Bei den handlungstheoretischen Erörterungen wurden zahlreiche Koranverse als Beweis für eine göttliche Schaffung aller menschlichen Handlungen und ebenso für die Gegenthese einer menschlichen Hervorbringung von Handlungen diskutiert. An dieser Stelle sollen demgegenüber die Aussagen des Korans zur ursprünglichen Schöpfung der Welt in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Im Koran ist Gott eindeutig Schöpfer des Himmels und der Erde. Es finden sich zudem mehrfache Affirmationen von Gottes direktem Schöpfersein für den
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Schöpfungslehre
Menschen aber auch einzelner Dinge in der Welt.2 Die Bedeutung der Tatsache, dass Gott Schöpfer ist, schlägt sich auch darin nieder, dass insgesamt acht der neunundneunzig Gottesnamen eine Konnotation des Erschaffens haben.3 In der Betonung der Tatsache, dass Gott nicht nur die großen kosmischen Grundgegebenheiten geschaffen hat, sondern auch die kleinen Dinge oder Instrumente menschlicher Fortbewegung wie z.B. Schiffe, lässt sich eine Tendenz ablesen, Schöpfung nicht nur auf ein Urereignis, wie es bei dem biblischen Genesisbericht der Fall ist, zu beschränken. Allerdings ist der spätere Atomismus der islamischen Theologie, der von einer permanenten Neuschöpfung aller Dinge ausging, keineswegs zwingend vorgezeichnet. Eine wesentliche Aussage des Korans über Gott als Schöpfer besteht darin zu sagen, dass die Schöpfung Gott leicht gefallen sei und etwas entstehe, wenn er nur „Sei!“ sage.4 Diese Leichtigkeit legt zwar die Assoziation nahe, dass es sich um eine Schöpfung wie aus dem Nichts, eine Creatio ex nihilo handle, doch zeigt eine Analyse der betreffenden Koranverse, dass der koranische Text diese nicht unbedingt nahelegt.5 Bei vielen Vorgängen, die im Koran mit dem zentralen Begriff des Schöpfens (ḫalaqa) beschrieben werden, wird auch ein Ausgangsmaterial, oft Lehm,6 genannt, das als Grundlage dieses Schöpfungsvorgangs gedient habe.7 Manchmal scheint der Schöpfungsbefehl auch eher eine Verwandlung zu bezeichnen: There seems to be an underlying and pre-existing substrate to which the divine imperative is addressed as clearly is the case in the story of the Sabbath-breakers who are told „Be apes!“ (kānū qiradatan, Q 2:65; 7:166; […]). The command kun! would therefore seem to be rather more determinative or constitutive than productive out of utter nothingness.8
Die Lehre einer zeitlichen Schöpfung aus dem Nichts wurde aber nichtsdestotrotz später fester Bestandteil der Lehren der mutakallimūn und stand damit im
2 Petersen, Daniel, Creation. In: EQ (1), 472–480, 472. 3 Burrell, David, Creation. In: Winter, Tim (Hg.): The Cambridge Companion to Classical Islamic Theology, Cambridge 2008, 141–160, 160. 4 Koranische Belege hierfür finden sich an den folgenden Stellen: 3,47;59 / 6,73 / 16,40 / 19,35 / 36,82 / 40,68 / 54,49–50) Petersen, Creation, 474f. 5 Griffel, Apostasie und Toleranz, 278; O’Shaughnessy, Thomas, Creation and the teaching of the Qur’ān, Rom 1985, 1. 6 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 15f.; Robinson, Neal, Clay. In: EQ (I), 339–341, 339f. 7 Madigan, Daniel, Themes and topics. In: McAuliffe, Jane, The Cambridge Companion to the Qur’ān, Cambridge 2010, 79–95, 81; O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 10; Petersen, Creation, 476. 8 Petersen, Creation, 475.
Koranische und philosophische Lehren zur Schöpfung
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egensatz zur Lehre der islamischen Philosophen. Es ist daher nicht verwunG derlich, dass der Philosoph Ibn Rušd (st. 1198) aus diesem koranischen Befund bereits ein Argument gegen die Lehre der Creatio ex nihilo formte. Allerdings ist es möglich, aus zwei Stellen in Sure 19 auf eine Schöpfung aus dem Nichts zu schließen (19,9 und 19,66–67).9 Letztere lautet: Es spricht der Mensch: „Wenn ich gestorben bin, werde ich dann lebend hervorgehen?“ Ja, denkt der Mensch denn nicht daran, dass wir ihn vorher schufen und er nichts war [wa-lam yakun šayʾ]?10
Eine einzige weitere Stelle, in der sonst „aus nichts“ (min ġayr šayʾ) und „erschaffen“ (ḫuliqū) in Kombination vorkommen,11 ist Sure 52 Vers 35: „Oder sind sie aus Nichts geschaffen?“12 Doch dieser Vers liest sich eher wie eine rhetorische Frage gegen die Creatio ex nihilo.13 Somit lässt sich aus dem Koran keine eindeutige Lehre ableiten, zumal auch die Synonyme für Schöpfung im Koran keine Schöpfung aus dem Nichts nahelegen.14 Netton schlägt daher vor, dem Koran aus der Rückschau keine einheitliche Lehre abzuringen, sondern ein Paradigma zu skizzieren, das die göttliche Schöpfertätigkeit im Koran hinreichend beschreibt. Ein solches Paradigma umfasst dann sowohl eine Creatio ex nihilo wie auch göttliche Handlungen in der Geschichte und die Rechtleitung von Menschen und konstatiert zudem, dass Gott indirekt durch die Schöpfung erkannt werden kann.15 Die Schöpfung aller Dinge und Lebewesen durch Gott jedenfalls geschieht unabhängig davon, wie man sich ihren genauen Vollzug konkret vorstellt, nicht zum Vorteil des Schöpfers, denn er bedarf der Schöpfung nicht. Es sind vielmehr die Geschöpfe, die von der Schöpfung profitieren.16 Ihrem Wohl dient auch die Tatsache, dass die Schöpfung planmäßig eingerichtet wurde.17 Besonders im Fall des Menschen, aber auch der Geistwesen, tritt als Zweck der Schöpfung auch die
9 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 4. 10 Bobzin, 266, (Hervorhebungen und Einschub, T. W.). 11 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 4. 12 Bobzin, 468. 13 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 5. 14 Petersen, Creation, 478f. 15 Burrell, Creation, 143f; Netton, Ian, Allāh Transcendent. Studies in the Structure and Semiotics of Islamic Philosophy, Theology and Cosmology, New York 1989, 22. 16 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 53. 17 Petersen, Creation, 473.
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Schöpfungslehre
Anbetungswürdigkeit Gottes hervor18: „Ich schuf die Dschinnen und die Menschen nur, damit sie mir dienen.“19 Insofern der Mensch ein ganz wesentliches Ziel Gottes bei der Schaffung der Welt war, kann man die göttliche Schöpfungstätigkeit im Koran auch als anthropozentrisch bezeichnen.20 Zum einen ist die irdische Welt für den Menschen angenehm, doch zum anderen sind auch Elemente des Kosmos wie Sonne und Mond für den Menschen nützlich, so bieten z.B. die Sterne in der Nacht Orientierung.21 Die Verse 71 bis 74 in Sure 56 legen den genannten Zusammenhang besonders klar dar: Seht ihr denn nicht das Feuer, welches ihr zum Brennen bringt? Habt ihr den Baum dafür wachsen lassen – oder waren wir es? Wir machten es zur Mahnung und Gebrauch bei Wüstenreisen. Preise darum den Namen deines mächtigen Herrn!22
Damit hat die anthropozentrische Schöpfungslehre aber noch nicht ihr Bewenden, denn Gott hat die Welt und den Menschen in ihr auch geschaffen, um den Menschen auf eine Bewährungsprobe zu stellen: „[…] as the divine purpose in creating is God’s making man in order to test him. He tests him in turn that He may requite him justly.“23 Als Stellvertreter Gottes in der Welt24 schuldet er Gott Dank, was ja auch schon als Aspekt der koranischen Handlungslehre hervorgetreten ist (s. 5.1.1). Die bisherigen Aspekte haben verschiedene Überlegungen zum Umfang, zur Art und zum Zweck der Schöpfung hervortreten, aber noch keinen Ablauf in Form eines Schöpfungsberichts erkennen lassen. Auf ein ursprüngliches Schöpfungsgeschehen spielt der Koran eher mit der Nennung der sechs Tage als Zeitraum der Erschaffung an, als dass chronologisch berichtet würde.25 So lautet Sure 7 Vers 54: „Siehe, euer Herr ist Gott, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen schuf, sich dann hoch oben auf dem Thron niederließ. […]“26 In Sure 41,9–12 ist das Schöpfungsgeschehen etwas chronologisch differenzierter dargestellt. Dort wird Gottes Schöpfertätigkeit in zwei, vier und nochmals zwei Tagesabschnitte unterteilt. Nachdem die Erde in den ersten zwei Tagen geschaffen ist, folgt eine
18 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 58f.; Petersen, Creation, 472. 19 Bobzin, 466. 20 Madigan, Themes and topics, 81; Petersen, Creation, 473. 21 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 59. 22 Bobzin, 481. 23 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 61. Koranische Belege hierfür sind: 11,7–9 und 67,2. 24 Koran, 2,30; Petersen, Creation, 474. 25 O’Shaughnessy, Creation and the teaching, 53. 26 Bobzin, 134. Weitere Belegstellen für den Zeitraum von sechs Tagen sind: 11,7 / 25,59 / 32,4 / 50,38 / 57,4.
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viertägige Einrichtung der Erde, wobei nur die Stichworte „Berge“ (rawāsī min fawqihā) und „Nahrung“ (qaddara fīhā aqwātahā) genannt werden. Es folgt eine Ordnung des Himmels zu sieben Himmeln in weiteren zwei Tagen.27 Laut van Ess setzt der Koran den biblischen Schöpfungsbericht als bekannt voraus, wenn er sich darauf bezieht.28 Dass dieser Bericht nicht im Koran steht, wurde nur selten als Mangel empfunden. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Ibrahīm al-Biqāʿī (st. 1480) dar, der in seinem Korankommentar zu Sure 2,32–34 die ersten drei Kapitel des Buchs Genesis und damit den biblischen Schöpfungsbericht zitiert.29 Man kann daher resümieren, dass eher Ausgangspunkt, Art und Zweck der Schöpfung Kernelemente einer koranischen Schöpfungslehre bilden, wohinter die Funktion des Schöpfungsberichts deutlich zurücktritt. Im Übergang zur philosophischen Kosmologie ist es noch sinnvoll, drei Aspekte hervorzuheben, an denen die Unterschiede in den Grundannahmen zwischen der koranischen Lehre und der philosophischen Schöpfungs- bzw. Emanationslehre klar hervortreten. So dienen zunächst Einzelaspekte der materiellen Natur im Koran als Zeichen für Gott, während die aus den vier Elementen zusammengesetzte Materie in der Lehre Ibn Sīnās einen eher geringen Stellenwert hat. Weiterhin geht der einzige etwas ausführlichere Schöpfungsbericht aus Sure 41 im Schöpfungsablauf ganz klar von der Erde aus, während die Emanationslehre der islamischen Philosophen den Ursprung der Schöpfung oberhalb aller Gestirns-Sphären ansiedelt. Sodann tritt die Differenz vor allem in Bezug auf Gottes Transzendenz zu Tage. Während das koranische Paradigma Gott sowohl mit immanenten als auch transzendenten Zügen darstellt,30 akzentuiert die philosophische Lehre einen rein transzendenten Gott.31 Diese Lehre soll etwas eingehender vorgestellt werden, da nur vor ihrem Hintergrund die spätere Ausarbeitung der Thematik bei Taftāzānī verständlich werden kann.
6.1.2 Die Lehre von der Ewigkeit der Welt In der islamischen Philosophie ist nach Abū Yaʿqūb al-Kindī (st. ca. 870), der in seiner Schrift „Über die erste Philosophie“ (fī l-Falsafa al-ūlā) noch eine Lehre
27 Koran, 41,9–12. 28 van Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 448. 29 Al-Biqāʿī, Ibrahīm, Naẓm ad-durar I, Kairo 2006, 263; Saleh, Walid, A Fifteenth Century Muslim Hebraist: Al-Biqāʿī and His Defense of Using the Bible to Interpret the Qurʾān. In: Speculum 83 (2008), 629–654, 637. 30 Netton, Allāh Transcendent, 22. 31 Netton, Allāh Transcendent, 27.
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der zeitlichen Entstehung der Welt vertreten hatte,32 die auf Aristoteles zurückgehende Lehre einer Ewigkeit oder auch Urewigkeit der Welt vorherrschend geworden. Diese wird im Folgenden in der auch für den späteren kalām maßgeblichen Form von Ibn Sīnā dargestellt, wobei seine Ontologie als Ausgangspunkt dient. In der Ontologie Avicennas ist die Unterscheidung von notwendig Seiend und möglich Seiend zentral (s. 3.1.3). Gott ist notwendig Seiend, da seine Essenz – das, was er ist – darin besteht, dass er sich selbst Existenz verleiht, dass er also ohne äußeren Grund ist. Gott ist dabei reine Wahrheit und Verkörperung des Guten.33 Alle anderen nur möglich Seienden Dinge haben eine Essenz, die sie ausmacht, doch ihre Existenz kommt von einer äußeren Ursache und ist damit anders als bei Gott nicht Teil ihrer Essenz.34 In der neuplatonischen Lehre trägt das notwendig Seiende zugleich auch deutliche Züge des „Einen“.35 Betrachtet man diese ontologischen Kategorien unter dem Aspekt von Schöpfungsvorstellungen, so ist das notwendig Seiende ein Äquivalent zum Schöpfer und das nur möglich Seiende ein Äquivalent zur Schöpfung bzw. den Geschöpfen. Ibn Sīnā verwendet selbst sowohl den neuplatonisch geprägten Begriff der Emanation (fayḍ)36 als auch das bereits eingeführte koranische Wort ḫalq, das bei ihm aber in seiner Bedeutung auf messbare und körperliche Dinge reduziert ist und dem theologischen Schöpfungsbegriff daher nicht entspricht.37 Allerdings führt er mit dem Wort „Entstehen-Lassen“ (ibdāʿ) einen weiteren Begriff ein, der den Versuch bedeutet, die theologische Dimension einer Schöpfung aus dem Nichts einzubeziehen: “Out of the preceding analysis, it becomes evident that Ibn Sīnā is willing to combine a theory of creation out of nothing with an emanative scheme.“38 Die Lehre der Weltentstehung umfasst alle drei begrifflichen Aspekte und soll im Folgenden näher beschrieben werden.39 Aus Gott, dem notwendig Seienden (wāǧib al-wuǧūd), geht von Ewigkeit her ein Intellekt hervor. Dieser erste Intellekt ist für sich betrachtet nur möglich, da er
32 Endress, Gerhard & Adamson, Peter, 4. Abū Yūsuf al-Kindī. In: Rudolph, Ulrich (Hg.): Philosophie in der islamischen Welt 1, Basel 2012, 92–147, 129. 33 Nasr, Hossein, An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines, Cambridge 1964, 199. 34 Rudolph, Islamische Philosophie, 49. 35 Netton, Allāh Transcendent, 163; Janssens, Creation and Emanation, 455. 36 Janssens, Creation and Emanation, 460; Nasr, Cosmological Doctrines, 202. 37 Janssens, Creation and Emanation, 469. 38 Janssens, Creation and Emanation, 476. 39 Die Weltentstehung nach Ibn Sīnā war in einem anderen Kontext bereits Thema (a. 4.2.2.1). Dort diente ihre Darstellung dazu, den Begriff der „Rückkehr“ zu kontextualisieren. Da hier ein anderer Zusammenhang vorliegt, muss sie nochmals dargestellt werden, auch wenn sich kleinere Überschneidungen ergeben.
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den Grund seines Existierens nicht in sich trägt, aber zugleich notwendig, insofern er aus dem Denken Gottes hervorgeht, also nicht inexistent sein kann. Er weist keine Verbindung zum Materiellen auf und ist daher völlig losgelöste Substanz (muǧarrad).40 Dem ersten Intellekt kommt im Übergang von dem absolut Einen Gott zur Vielheit eine zentrale Funktion zu. Während aus Gott nicht direkt Vielheit hervorgehen kann, da er nicht kontingent ist, ist der erste Intellekt von Gott als dem notwendig Seienden abhängig und damit kontingent.41 Aus ihm heraus nimmt die Emanation der Vielheit folglich ihren Verlauf. Der erste Intellekt hat drei Gedanken, aus welchen drei Dinge hervorgehen. Dadurch, dass der erste Intellekt Gott denkt, entsteht der zweite Intellekt. Insofern er sich selbst als notwendigerweise von Gott verursacht denkt, entsteht eine Seele. Wenn er sich aber als nur möglich Seiend (mumkin al-wuǧūd) denkt, da er ja nicht wie Gott selbst die Ursache seiner Existenz ist, sondern von Gott abhängt, entsteht der erste Himmel.42 Dieser ist die gestirnlose Sphäre, aus irdischer Perspektive der äußerste Rand des Kosmos. Während sich der Intellekt durch reines Denken und Wissen auszeichnet, kommt im Wesen der Seele immer auch das Begehren hinzu. Der zweite Intellekt und alle folgenden Intellekte vollziehen diese drei Gedanken, die drei Dingen Existenz verleihen. Unter dem Intellekt entsteht jeweils wieder eine materielle himmlische Sphäre (falak bi-māddatihī), deren Form die der Sphäre zugehörige Seele ist (ṣūratuhū llatī hiya n-nafs), und ein Intellekt (ʿaql).43 Beim zweiten Intellekt ist diese Sphäre die äußerste Himmelssphäre, beim dritten Intellekt die Sphäre der Tierkreiszeichen (falak al-burūǧ), bei den folgenden Intellekten sind es dann je die sieben Himmel vom Saturn bis zum Mond, der aus dem 9. Intellekt hervorgeht.44 Aus dem 10. Intellekt erst entsteht die irdisch materielle Welt. Da diese gesamte himmlische Welt von Avicenna als ewige Wirkung des notwendig Seienden gedacht wird, müssen alle Intellekte, Seelen und Sphären des Kosmos existieren. Da sie aber den Grund dafür nicht in sich tragen, sind sie doch zugleich im Unterschied zu Gott als dem einen notwendig Seienden nur möglich Seiende. Diese zwei Seiten der Betrachtung aller himmlischen Substanzen (muǧarradāt) sind identisch mit dem oben erwähnten Grund, warum aus jedem Intellekt eine Seele und eine Sphäre hervorgehen, wenn er sich selbst betrachtet. Die Gesamtheit der kosmischen Sphären ist bei Ibn Sīnā gegenüber der materiellen Welt unterhalb des Mondes ausgezeichnet, da es einfache Substanzen
40 Nasr, Cosmological Doctrines, 200. 41 Netton, Allāh Transcendent, 163. 42 Nasr, Cosmological Doctrines, 203; Netton, Allāh Transcendent, 164. 43 Ibn Sīnā, al-Ilāhīyāt min aš-Šifāʾ, 406. 44 Nasr, Cosmological Doctrines, 204; Netton, Allāh Transcendent, 165.
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Schöpfungslehre
sind, während die irdische Welt zusammengesetzt ist. Zwischen dem irdischen, materiellen Bereich und dem notwendig Seienden liegt somit der himmlische Teil des Kosmos (ʿālam al-aflāk). Der 10. Intellekt wird auch aktiver Intellekt (al-ʿaql al-faʿʿāl – im koranischen Lichtvers (24,35) nach Ibn Sīnā mit „Feuer“ (nār) ausgedrückt) genannt. Als Formengeber wirkt er bei der Schaffung der Welt mit, indem er ihr Prinzipien gibt. So leitet er auch den Menschen bei der Erkenntnis der Welt bzw. ihrer Prinzipien an. Dieser Prozess der Emanation geht mit einem Verlust an Reinheit einher. Die letzte körperliche Emanation kann nicht mehr die Form einer kreisrunden himmlischen Sphäre annehmen, wie es bei der Mondsphäre noch der Fall war und wird so zur Materie der irdischen Welt, die Gegenstand von Entstehung und Verfall ist.45 Diese Materie war heiß und trocknete bald, woraus das heiße und trockene Element Feuer entstand. Die materiellen Reste fielen weiter abwärts und kühlten aus und wurden ebenfalls trocken, woraus die Erde als trockenes und kaltes Element resultierte. Zwischen Feuer und Erde sammelte sich oben nahe dem Feuer ein warmes Gemenge, das feucht blieb und zum warm-feuchten Element der Luft wurde. Nahe der Erde sammelte sich ein kaltes und feuchtes Gemenge, das Wasser.46 An diesem Punkt endet der Prozess der Emanation. Es folgt sodann eine Umkehrung der bisherigen Entwicklung, die gleichzeitig als Verlängerung des Schöpfungsvorgangs gesehen werden kann.47 Materielle Substanzen beginnen Kombinationen größerer Reinheit auszubilden.48 Der Mensch ist reiner als Pflanzen und Tiere und in ihm kann daher die intellektuelle Seelenkraft Platz finden. Wenn sich Teile derjenigen Seele, die nach dem oben beschriebenen Vorgang zusammen mit der Mondsphäre entstanden ist, mit solchen materiellen menschlichen Körpern verbinden, entstehen Individuen. Der materielle Körper ist dabei Bedingung der Individuation, allerdings nicht sein Grund, denn beide entstehen zeitgleich.49 Wäre der Körper der Grund, müsste er der Individuation zeitlich vorausgehen. Im Fortgang der Entwicklung dient der Körper der Seele als Instrument, um sich zu vervollkommnen.50 Mit der Vervollkommnung der Seele ist auch derjenige Punkt der philosophischen Lehre erreicht, auf den Taftāzānī Bezug nimmt, wenn er den kalām neben der falsafa als
45 Nasr, Cosmological Doctrines, 205f. 46 Nasr, Cosmological Doctrines, 206. Diese Lehre wird von Rāzī referiert. Rāzī, Muḥaṣṣal, 322f. 47 Michot, La destinée, 11. 48 Nasr, Cosmological Doctrines, 207. 49 Druart, Thérèse-Anne, The Human Soul’s Individuation and its Survival after the Body’s Death: Avicenna on the Causal Relation between Body and Soul. In: Arabic Sciences and Philosophy, 10 (2000), 259–273, 263. 50 Druart, The Human Soul’s Individuation, 263.
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ein Mittel zum Ziel der Vervollkommnung definiert (s. 1.1). Zudem wird an dieser Stelle der Wendepunkt zu den Fragen des menschlichen Handelns und seiner Relevanz für das Jenseitsschicksal erreicht, welches Ibn Sīnā, wie bereits gesehen (s. 4.2.2.3/4.2.2.4), als geistige Auferstehung verstanden hatte. Im Zusammenhang mit der Schöpfungslehre muss aber der beschriebene Emanationsprozess nochmals unter einer anderen Perspektive in den Blick genommen werden. Es fragt sich nämlich, wie sich diese Entfaltung der Welt insgesamt zu ihrem göttlichen Ursprung verhält. Nasr fasst den Sachverhalt in folgende Worte: According to Ibn Sīnā, creation itself is intellection by God of His own Essence. It is his intellection (taʿaqqul) and the knowledge (ʿilm) of His own Essence that brings all things into being.51
Für Ibn Sīnā bedeutet die kausale Verknüpfung der möglichen Dinge mit dem notwendig Seienden aber auch, dass diese Dinge gleichzeitig mit Gott existieren müssten, und insofern Gott ewig sei, müssten auch die Dinge und damit die Schöpfung ewig sein.52 Anderenfalls hätte Gott zu einem Zeitpunkt ohne die Entscheidung zur Schöpfung der Welt existiert und zu einem späteren Zeitpunkt mit der Entscheidung und der aus dieser Entscheidung hervorgehenden Existenz der Schöpfung, ohne dass aber erwiesen werden könnte, was für diese Veränderung bei Gott den Ausschlag gegeben habe.53 Es folgt, dass die Welt schon von Ewigkeit her mit Gott existiert haben muss. Hier erscheint das Argument des ausschlaggebenden Grundes in seiner kosmologischen Form, das schon bei der Handlungstheorie mehrfach eine Rolle gespielt hatte. Auch dort war die Notwendigkeit eines ausschlaggebenden Grundes (tarǧīḥ) als Argument gegen menschliche Handlungsfreiheit angeführt worden (s. 5.2.2.3). Historisch knüpft die Lehre von der Ewigkeit der Welt zudem an die griechische Philosophie an, auch wenn sie dort etwas anders formuliert und begründet wurde. In der antiken Tradition hatte Aristoteles im Gegensatz zu Anaximander und Platon davon gesprochen, dass die Welt zeitlich unbegrenzt und damit auch von ihrem Beginn an ewig sei.54 Insofern die Lehre von der Ewigkeit der Welt in seinen Werken mehrfach zum Ausdruck kommt, gilt Aristoteles für Behler als der
51 Nasr, Cosmological Doctrines, 213. 52 Rudolph, Islamische Philosophie, 47; Verbeke, Gérard, Avicenna, Grundleger einer neuen Metaphysik, Opladen 1983, 18. 53 Wolfson, Philosophy, 445; Ġazālī, Tahāfut, 51. 54 Höffe, Ottfried, Aristoteles, München 2006, 106. Die Abgrenzung von Platon und Aristoteles in der Frage nimmt auch Ġazālī zu Beginn des ersten Kapitels im Tahāfut vor. Ġazālī, Tahāfut, 51.
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„eigentliche Denker der Weltewigkeit“.55 Die Schönheit des Kosmos und seine Vollkommenheit machten für ihn auch seine Ewigkeit notwendig.56 Auch wenn hier wie bei Ibn Sīnā Ewigkeit und Notwendigkeit eng verwoben sind,57 ist Aristoteles’ Lehre nicht identisch mit der von Ibn Sīnā vertretenen Form der Weltewigkeitslehre: Während sich die Anfangslosigkeit des Kosmos für Aristoteles bereits aus der Natur der den Kosmos konstituierenden Elemente ergab, erscheint die Welt hier [bei Ibn Sīnā, T. W.] nicht mehr aus sich heraus, sondern aus ihrer Abhängigkeit von der ersten Ursache als notwendig und ewig; während wir bei Aristoteles auf eine naturalistische Begründung von Weltewigkeit stießen, erhebt sich hier eine theologisch fundierte Lehre von der Ewigkeit der Welt.58
Wie Behler weiter ausführt, impliziert der Unterschied auch einen ganz anderen Bezug von Schöpfer und Schöpfung. Argumentiert Aristoteles aus dem Bestand der Welt und damit aus einer „Einschränkung der göttlichen Tätigkeit“, so resultiert die Ewigkeitslehre bei Ibn Sīnā aus der radikalen Abhängigkeit der Welt von ihrem Schöpfer und bedeutet eine „Steigerung des höchsten und notwendigen Sein in seiner schöpferischen Fülle“.59 Obwohl diese Lehre von Theologen als Einschränkung Gottes in seiner Freiheit, den Schöpfungsakt zu einem Zeitpunkt seines Willens zu vollziehen, kritisiert wurde, sah Avicenna in der Ewigkeit der Welt eine „ständige Offenbarung von Allahs [sic!] Güte und Mildtätigkeit.“60 Somit lassen sich durchaus Unterschiede zwischen der aristotelischen und der islamisch-philosophischen Lehre ausmachen. Auch wenn dem Schöpfer in der Lehre der islamischen Philosophie eine größere Bedeutung gegeben wird, so geriet sie doch in scharfen Widerspruch zu den Schöpfungsvorstellungen der islamischen Theologen, denn diese lehrten die zeitliche Entstehung der Welt.
6.1.3 Schöpfungslehre im kalām Vor dem Hintergrund des oben kurz skizzierten koranischen Schöpfungsberichts aus Sure 41, nach welchem die Erde Ausgangspunkt der Schöpfungstätigkeit ist
55 Behler, Ernst, Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit im Mittelalter, München, Paderborn & Wien 1965, 37. 56 Behler, Ewigkeit der Welt, 38f. 57 Behler, Ewigkeit der Welt, 44. 58 Behler, Ewigkeit der Welt, 77. 59 Behler, Ewigkeit der Welt, 88. 60 Verbeke, Grundleger, 19.
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und sich Gott erst danach dem Himmel zuwendet, könnte man in diesem Punkt eine zentrale Differenz zur Emanationslehre ausmachen, die oberhalb aller Himmelssphären ihren Ausgang nimmt. Allerdings wurde dieser Aspekt in der theologisch-philosophischen Kontroverse nicht zentral. Im kalām lassen sich von Beginn an weitaus abstraktere Überlegungen beobachten, die zum Verständnis des göttlichen Schöpferseins als notwendig erachtet wurden. Wie im einleitenden Zitat von Wisnovsky (s. o.) angedeutet, spielte in der Theologie weniger der koranische Schluss von der Schöpfung auf ihren Schöpfer eine Rolle, sondern die Überlegung, wie man sich einen Schöpfer vorstellen muss, um die Welt zu ihm in eine logisch akzeptable Beziehung setzen zu können. Angelpunkt der Frage war der Begriff der Ewigkeit. Existiert alleine Gott von Ewigkeit her, die Schöpfung aber erst von einem bestimmten Zeitpunkt an oder ist beides ewig? In der früheren Tradition des kalām lässt sich eine Wandlung der Definition von Ewigkeit als „ohne Vorzeit“ hin zu „Existenz ohne Grund“ ausmachen, wobei im Werk von Ǧubbāʾī beide Erklärungen des Begriffs von Ewigkeit vorkommen.61 Für Muʿtaziliten wie Ǧubbāʾī war eine strikte Trennung zwischen einer solchen Ewigkeit (qidam), die nur Gott zukommt, und einer Zeitlichkeit (ḥudūṯ) aller Geschöpfe ausreichend. Auch der Ašʿarit Ibn Fūrak beließ es bei seiner Definition der Welt dabei, deren Nachordnung zum Schöpfer auf der zeitlichen Ebene zu begründen: „Sie ist das, dessen Existenz zeitlich später ist, gegenüber der Existenz dessen, was nicht aufhört.“62 Mit dem Vorläufer ašʿaritischer Kritik an muʿtazilitischen Positionen, Ibn Kullāb, zeichnete sich aber bereits zuvor eine Tendenz ab, Ewigkeit nicht nur als eines von Gottes Attributen zu sehen, sondern als das zentrale göttliche Attribut, das alle anderen göttlichen Attribute wie Wissen oder Rede erst als ewig ausweist.63 Gott gilt als ewig in sich selbst (qadīm bi-nafsihī), alle anderen Dinge können als zeitlich in sich selbst (muḥdāṯ bi-nafsihī) bezeichnet werden. Auf Gottes ewige Attribute, worin die Ašʿarīya die kullābitische Position übernahm, passt aber nichts von beidem. Sie scheinen eine Zwischenposition einnehmen zu müssen.64 Diese Frage führt uns allerdings zu tief in die Attributenlehre selbst, wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass mit den Kategorien „urewig“ und „zeitlich entstanden“ ein wichtiges Unterscheidungskriterium gewonnen war, um den Schöpfer von der Schöpfung abzugrenzen. Dieses Anliegen war in der Formulierung der ašʿaritischen Lehre zentral (s. 3.1.1).65
61 Wisnovsky, Metaphysics, 228. 62 Ibn Fūrak, Muǧarrad: „annahū huwa llaḏī taʾaḫḫara wuǧūduhū ʿan wuǧūdi mā lam yazil“, 38. 63 Wisnovsky, Metaphysics, 231. 64 Wisnovsky, Metaphysics, 234. 65 Gimaret, La doctrine, 248f.
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Zudem kam die schon beschriebene s. 3.1.3 philosophische Lehre Ibn Sīnās ins Spiel, die in ihrem Emanationsmodell alles möglich Existierende eng und, wie gesehen, auch auf ewig mit Gott, dem notwendig Seienden, verband. Doch einer solchen Theorie, die auch implizierte, dass für Gott das Schöpfungshandeln notwendig sei, 66 widersprach für Ġazālī die Lehre, dass Gott einen Willen (irāda) habe, aus dem heraus er den Moment der Schöpfung frei festlegen könne.67 Im Tahāfut al-falāsifa (s. 3.1.4), argumentierte er auf vielen verschiedenen Ebenen gegen diese Lehre, wie auch in Taftāzānīs Hauptwerk zu sehen sein wird (6.2.2.2). Ein zentrales Argument von Ġazālī war, dass die Lehre des kalām von der zeitlichen Erschaffenheit widerspruchsfrei bleibe, wenn man sage, dass die Zeit nicht schon vor der Welt existiert habe und der Schöpfungsakt selbst nicht mit der Kategorie der Zeit betrachtet werden dürfe.68 Auch die māturīditische Schule vertrat die Lehre von der zeitlichen Geschaffenheit der Welt, wofür sich Māturīdī auf sechs zentrale Argumente stützte: Er begründete die Lehre vom Koran her, ergänzte sie durch das Wissen des Menschen um seine eigene Zeitlichkeit und die Endlichkeit aller Dinge um ihn herum. Er kombinierte dies mit der Beobachtung, dass Körper Unterschiedliches in sich vereinen, weshalb sie nicht autonom sind. Ebenso wechseln sich Ruhe und Bewegung ab, was eine ewige Bindung an einen Gegenstand ausschließt. Letztlich kann es daher keinen infiniten Regress geben, weshalb man eine erste Ursache als Anfang annehmen muss.69 Im Anschluss an Māturīdī bildete sich dann die Lehre heraus, dass man zwischen Schöpfungsvorgang (takwīn) und Geschöpf (mukawwan) unterscheiden müsse, die bei Māturīdī bereits angelegt war70 und später von Pazdawī (st. 1099) weiterentwickelt wurde,71 weshalb sie für Nasafī, der in dieser Tradition steht, zum Bestandteil seines Glaubensbekenntnisses wurde.
6.2 Die Schöpfungslehre im Werk Taftāzānīs Die Vorstellung sowohl der koranischen, der philosophischen als auch theologischen Lehren zur Schöpfung hat gezeigt, dass der Koran eher von der Schöpfung als dem Geschaffenen ausgeht, die Argumentationslinien im kalām aber wie
66 Marmura, Avicenna and the kalām, 181. 67 Watt & Marmura, Der Islam II, 369. 68 Watt & Marmura, Der Islam II, 369. 69 Rudolph, Māturīdī, 263f. 70 Gimaret, Théories, 189. 71 Gimaret, Théories, 190.
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die philosophischen Emanationslehren ihren Ausgang vom aktiven Schöpfer nehmen. Von daher bietet es sich an, auch hier der argumentativen Logik zu folgen und mit der Thematisierung der Art von Gottes Einflussmöglichkeit auf die Welt zu beginnen. Dabei werden sich Unterschiede zwischen der māturīditischen Lehre vom ewigen Attribut des Erschaffens (takwīn) und der ašʿaritischen Konzeption von Gottes Handlungsvermögen (qudrat Allāh) zeigen (6.2.1). In einem zweiten Schritt erfolgt die Darstellung der Schöpfung selbst (6.2.2).
6.2.1 Das Handlungsvermögen Gottes Die Einflussnahme Gottes auf seine Schöpfung wird bei Māturīditen und Ašʿariten etwas anders definiert. Während die Aussagen zur Schöpfungslehre in den Glaubensartikeln des Nasafī ihren Ausgang bei einem ewigen göttlichen Attribut des Erschaffens (takwīn) nehmen, thematisiert die ašʿaritische Lehre dies eher unter dem bekannten Begriff des Handlungsvermögens (qudra). Beide Begriffe spielen in den verschiedenen Werken Taftāzānīs eine Rolle. Wie auch in den vorherigen Kapiteln folgt zunächst ein Abschnitt zu Taftāzānīs Kommentar der ʿAqāʾid des Nasafī.
6.2.1.1 Der Kommentar zu den ʿAqāʾid an-Nasafīya „Erschaffen ist ein göttliches Attribut von aller Ewigkeit her,“72 so leitet Nasafī seinen Glaubensartikel ein. „Dabei schafft er die Welt und alle Teile in ihr, dies aber zum Zeitpunkt ihrer Existenz,“73 also nicht von Ewigkeit her, und zwar „wenn es seinem Willen und Wissen entspricht.“ „wie Taftāzānī solgleich ergänzt.“74 Schon hier finden sich Elemente der oben geschilderten Tradition. Nasafī verbindet die Ewigkeit des spezifischen göttlichen Attributs mit der Zeitlichkeit der Welt. Taftāzānī kommentiert zum Stichwort „Erschaffen“ (takwīn), dass Gott in der Tradition und gemäß rationaler Überlegungen Schöpfer sei, ein Attribut erhalte, das man nur von demjenigen aussagen könne, der eben diese Fähigkeit auch in sich verkörpere.75 Hier erfolgt die Bestätigung des Attributs zunächst durch sprachliche Logik. Wenig später geht Taftāzānī dann aber bei seinem Kommentar zu dem Stichwort „urewig“ (azalīya) auf die genaue Qualifizierung des Attributs als ewiges
72 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 62. 73 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 64. 74 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 64. 75 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 62.
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Attribut ein. Taftāzānī legt Wert auf die Feststellung, dass alles, was in Gott existiert, von Ewigkeit in ihm existiert haben müsse. Zudem habe Gott ja in seiner Rede, also dem ungeschaffenen Koran, bereits von sich als Schöpfer gesprochen.76 Diese Aussage, er sei immer schon der Schöpfer, dürfe man keineswegs metaphorisch nehmen, denn dann könne man alle Selbstaussagen Gottes metaphorisch nehmen und dies auch für seine Macht verallgemeinern (iṭlāq ʿalā lā yaqdir).77 Hinzu kommt ein dritter Grund: Wäre die Fähigkeit Gottes zu schaffen zeitlich entstanden, würde sie einen Moment des Erschaffens benötigen, woraus sich ein infiniter Regress ergeben würde. Letztlich wäre dann die Erschaffung der Welt unmöglich, obwohl sie augenscheinlich erschaffen ist.78 Hier zeigt sich eine große Nähe zwischen der philosophischen Argumentation für die Weltewigkeit und der māturīditischen Position, dass es ein ewiges Attribut des Erschaffens geben müsse. Schließlich greift Taftāzānī in seinem Kommentar den Einwand auf, das Erschaffen komme erst in dem Moment zu Gottes Macht hinzu, in dem auch etwas Geschaffenes entstehe,79 wie ein Schlag nicht existiere, ohne dass es auch einen Geschlagenen gebe. Als Antwort auf diese Frage bringt Taftāzānī nun die nächsten bereits zitierten Worte Nasafīs ins Spiel. Während die göttliche Eigenschaft des Erschaffens ewig ist, sind die Geschöpfe in der Zeit entstanden (wa-mukawwan ḥādiṯ) im Moment ihrer Verbindung mit dem Erschaffen, ganz so wie es sich auch beim Wissen und bei der Macht Gottes verhält, die beide ewig bestehen, auch wenn die Objekte der beiden göttlichen Attribute erst zeitlich entstehen. Der Moment einer Verbindung des Geschaffenen mit dem ewigen Erschaffen ermöglicht es, das Geschaffene vor der Verbindung als inexistent zu denken. Somit zeigt sich auch, dass diese Lehre nicht die Ewigkeit der Welt impliziert,80 weshalb sich die Lehre des māturīditischen kalām von der Lehre der islamischen Philosophen abhebt. Doch auch wenn das „zeitlich geschaffene Ding“ (mukawwan) sich klar vom Attribut des „ewigen Erschaffens“ unterscheidet,81 wie es ebenfalls den Traditionen māturīditischer Lehre entspricht, so heißt dies für „wäre“ Taftāzānī nicht, dass dieses Erschaffen ohne die Schöpfung nicht vorstellbar ist. Es handelt sich nämlich nicht um eine relative Eigenschaft (ṣiffa iḍāfīya) wie beim Schlagen, die nur durch den Schlagenden und den Geschlagenen etabliert wird, sondern um eine wahre Eigenschaft (ṣiffa ḥaqīqīya), die als
76 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „innahū waṣafa ḏātahū fī kalāmihī l-azalīyi bi-annahū l-ḫāliq“, 62. 77 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 63. 78 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „wa-yalzimu […] istiḥālatu takwīni l-ʿālami maʿa annahū mušāhad“, 63. 79 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „al-qāʾilūna bi-ḥudūṯi t-takwīni bi-annahū lā yataṣawwaru bidūna l-mutakawwin“, 64. 80 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 64. 81 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 66.
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Ausgangspunkt der Relation dient, die in der Herausführung von Dingen aus dem Nichts in die Existenz besteht.82 Es wird sehr deutlich, dass Taftāzānī hier im Kommentar der ʿAqāʾid das Attribut des ewigen Erschaffens (takwīn) schätzt, um Gottes Ewigkeit und die zeitliche Schöpfung gedanklich zu verbinden. Die Darstellung dessen, was Taftāzānī zur māturīditischen Lehre sagt, ist auch im Detail wichtig, da er in seinem späteren Werk, wie noch zu sehen sein wird, explizit auf ašʿaritische Argumente zurückgreifen wird, um die Lehre vom göttlichen Attribut des ewigen Erschaffens (takwīn) abzulehnen.83
6.2.1.2 Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid In Taftāzānīs Hauptwerk finden wir seine Auseinandersetzung mit der Entstehung der Welt in Relation zu den wesensmäßigen Attributen Gottes (fi ṣ-ṣiffāt alwuǧūdīya),84 zu denen Taftāzānī das Handlungsvermögen Gottes (qudrat Allāh) zählt. Hier wird das Handlungsvermögen Gottes neben den anderen göttlichen Attributen wie dem Wissen, dem Willen, dem Leben, dem Sehen und Hören sowie dem Sprechen aufgezählt. Damit verbleibt er in der ašʿaritischen Spur, wobei allerdings das Attribut des Bleibens (baqāʾ) fehlt,85 was Taftāzānī explizit in Abgrenzung von Ašʿarī begründet.86 Ebenfalls grenzt sich Taftāzānī jetzt vom Attribut des ewigen Erschaffens (takwīn) ab, das er im Kommentar zu den ʿAqāʾid noch explizit verteidigt hatte (s. 6.2.1.1): Einige Rechtsgelehrte hielten daran insofern fest, als dass Gott – der Erhabene – dem Konsens nach Schöpfer sei und eines seiner Attribute auf das Erschaffen, das Ernähren, das Beleben und das Sterbenlassen namentlich hinweisen müsse […] und dass es [das Attribut] wie die anderen Attribute ewig sei. Doch dies wird abgelehnt, da jene [die Ewigkeit] nur auf die wirklichen Attribute zutrifft und nicht auf das Hervorbringen angewandt werden kann, welches man nicht ohne die Verbindung des Beeinflussten und des Einflussfaktors denken kann. Dies aber spielt sich im Bereich dessen ab, was nicht ewig ist.87
82 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid: „at-takwīnu ṣiffatun ḥaqīqīyatun hiya mabdʾu l-iḍāfati llatī hiya iḫrāǧu l-maʿdūmi mina l-ʿadami ilā l-wuǧūd“ , 65f. 83 Gimaret, Théories, 164. 84 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 67. Einen eigenen Abschnitt zum göttlichen Handlungsvermögen findet man auch bei Īǧī. Īǧī, Mawāqif, 100f. 85 Gimaret, La Doctrine, 267. 86 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „al-baqāʾu aṯbatahū š-šayḫu al-Ašʿarī“ […] li-anna l-baqāʾa laysa min as-sulūbi wa-l-iḍāfāti wa-huwa ẓāhirun […] wa-ḏahaba l-akṯarūna ilā annahū laysa ṣiffatan zāʾidan ʿalā l-wuǧūd“, 165. 87 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „aṯbata baʿḍu l-fuqahāʾi tamassukan bi-annahū taʿālā ḫāliqu iǧmāʿan fa-lā budda min qiyāmi ṣiffatin bihī yusammīhā ilā t-taḫlīqi wa-t-tarzīqi wa-l-iḥyāʾi wa-l-imātati wa-naḥwi ḏālika bi-ḥasabi ḫtilāfi l-mutaʿallaqāt wa-takūnu azalīyata ka-sāʾiri
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Damit lehrt er hier das Gegenteil dessen, was er im Kommentar geschrieben hatte, wo es hieß, dass ja das ewige Attribut des Erschaffens (takwīn) die Brücke zwischen dem ewigen Wesen Gottes und dem zeitlichen Wesen der Dinge bilde. Den Einwand, die Dinge seien zeitlich und könnten daher nicht mit einem ewigen göttlichen Attribut in Verbindung gebracht werden, hatte er dort noch abgelehnt, da dies sonst auch auf Gottes Willen zutreffen würde. An der Kennzeichnung des Nicht-Ewigen im Zitat durch die Verbindungen von Einflussfaktor (muʾaṯṯir) und Einfluss (aṯr) werden auch Elemente des Sprachgebrauchs von Rāzī deutlich, der die Lehre vom takwīn in seinem Muḥaṣṣal ebenfalls ablehnt.88 Wenig später qualifiziert Taftāzānī das Erschaffen im Gegensatz zur göttlichen Rede nochmals explizit als tätige Zugaben (iḍāfāt fiʿlīya) und grenzt den Schöpfungsvorgang von den wahren Attributen ab. Er behält allerdings den māturīditischen Begriff des „Erschaffenen“ (mukawwan) bei. Doch von diesem Erschaffenen sagt er, dass es im Falle eines ewigen Attributs des Erschaffens selbst urewig werden müsse. Es sei dann notwendigerweise nicht mehr Gegenstand der Zerteilung89 und damit der Vergänglichkeit, die für alle irdischen Dinge gilt, wie man anfügen möchte. Auch die Einbeziehung des Attributs der Rede hatte im Kommentar noch dazu gedient, die Ewigkeit von Gottes Schöpfer-Sein zu untermauern. Dort hatte Taftāzānī gesagt, der Koran als ewige Rede Gottes bestätige Gottes Schöpfersein, doch will er diese Verbindung von koranischer Aussage und ontologischer Realität im Šarḥ al-Maqāṣid nicht mehr aufrecht erhalten. Darin zeigt sich, dass Taftāzānī in dieser Frage einen noch stärkeren Bruch mit der māturīditischen Tradition vollzieht, als es sich bei der Handlungstheorie feststellen ließ. Hatte man dort vieles erst herauslesen müssen, scheut sich Taftāzānī hier nicht, die verworfene Position explizit mit Māturīdī zu verbinden.90 Dabei muss aber daran erinnert werden, dass Taftāzānī zugleich in Bezug auf das Attribut des Bleibens auf Distanz zu Ašʿarī gegangen war (s. o.). Die Meinung von Ansari, dass māturīditische Lehre und ašʿaritische Lehre zur Zeit Taftāzānīs damit ununterscheidbar geworden sind, die er vor allem auf Grundlage der handlungstheoretischen Abschnitte im Kommentar zu Nasafī gebildet hatte, erweist sich damit für das Hauptwerk und die Attributenlehre als nicht haltbar.91
ṣ-ṣiffāt. Wa-raddun bi-anna ḏālika fi ṣ-ṣiffāti l-ḥaqīqīya wa-laysa l-īǧāda illā maʿnā yaʿqilu min taʿalluqi l-muʾaṯṯiri bi-l-aṯri wa-ḏālika fī mā lā yazāl“, 168. 88 Gimaret, Théories, 164. 89 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 169. 90 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „at-takwīn. ištahara l-qawlu bihī ʿani š-Šayḫi Abī Manṣūri lMāturīdī wa-atbāʿihī.“, 169. 91 Ansari, Taftāzānī’s Views, 66.
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An die Stelle des ewigen Erschaffens (takwīn) tritt im Šarḥ al-Maqāṣid das Handlungsvermögen Gottes (qudra). Wie schon vorher gesehen (s. 6.2.1), spielt der handlungstheoretisch wichtige Begriff des Handlungsvermögens aber nicht nur im entsprechenden Abschnitt des Šarḥ al-Maqāṣid über die Handlungen des Menschen (afʿāl al-ʿibād) gemäß göttlichem Vermögen eine zentrale Rolle, sondern ist auch Teil der Abhandlungen über die Entstehung der Welt. Ibn Fūrak hatte schon betont, dass Gott allein die Macht zum Handeln und Schöpfen hat. Sie kommen ihm zufolge in seinem Handlungsvermögen zum Ausdruck.92 Taftāzānī kann es aber bei dieser Feststellung nicht bewenden lassen, denn – wie gesehen – hatte die philosophische Lehre zwar nicht den Ursprung aller Dinge in Gott in Frage gestellt, sehr wohl aber eine zeitliche Unterscheidung zwischen Gott und der Existenz der Welt abgelehnt. Genau diesen Einwand greift Taftāzānī direkt auf, wenn er davon spricht, dass es eben das Handlungsvermögen sei, das die Ewigkeit des Schöpfers (ṣānʿ) und die Zeitlichkeit des Erschaffenen (ṣinʿ) möglich mache, da der Begriff die Macht zum Tun (fiʿl) und zum Unterlassen (tark) umfasse.93 Gäbe es kein solches Handlungsvermögen, dann würde sich der Einfluss des Schöpfers auf die Welt allein gemäß der Notwendigkeit gestalten, von der die Philosophen sprechen. Doch gegenüber einer Notwendigkeit muss dem göttlichen Handlungsvermögen das Attribut der Wahl (iḫtiyār) zukommen. Wie bereits dort zitiert, sagt Taftāzānī hierzu: Der Einfluss des Notwendigen [Gottes] auf die Existenz der Welt vollzieht sich notwendigerweise so, dass es auf dem Weg des Handlungsvermögens und der Wahlfreiheit geschieht.94
Der māturīditisch geprägte Begriff des (iḫtiyār) erscheint hier um das philosophische Argument der Notwendigkeit abzuweisen. Es ergibt sich ein Befund, der auch schon bei der Auferstehungslehre zu beobachten war. Auch wenn Taftāzānī das in der māturīditischen Tradition wichtige Attribut des ewigen Erschaffens hier ablehnt, zögert er nicht wenig später den māturīditischen Begriff der Wahl im Kontext der Debatte mit der philosophischen Position zu verwenden. Bei der Auferstehungslehre hatte er zum Teil philosophische Konzepte benutzt, um eine muʿtazilitische Lehre anzugreifen (s. 4.2.2.3). Hier nun hilft Gottes Wahlfreiheit gegen Implikationen der Emanationslehre. Einen besonders anschaulichen Grund für das Erfordernis eines bestimmenden Schöpfers gibt Taftāzānī, wenn er sagt, dass alles, das mit Notwendigkeit
92 Ibn Fūrak, Muǧarrad: „iḥdā qawāʿidi l-uṣūli fī t-tawḥīdi ʿindahū iṯbātū ǧumlati l-ḥawādīṯi muntasabatan ilā qudratin wāḥidatin aḥdaṯahā „mina l-w“ al-ʿadami ilā l-wuǧūd“, 38. 93 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 89. 94 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV, 93.
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aus dem Ewigen hervorgehe, Eigenschaften des Vollkommenen (kamālāt) haben müsse. Dies würde aber bedeuten, dass auch die Lebewesen und ihre Organe wie die himmlischen Sphären eine runde Form haben müssten.95 Bei diesem Beispiel wird aber deutlich, dass Taftāzānī die Defizienz der materiellen Welt unterhalb der Mondsphäre, die ja den Unterschied zwischen der Gestalt der runden himmlischen Sphären (aflāk) und der anderen Gestalt der irdischen Körper bei Ibn Sīnā erklärt (s. 6.1.2), außer Acht lässt, um hier mit „runden Lebewesen“ ein eher anschauliches Argument gegen die Vorstellung einer Weltentstehung aus dem Prinzip der Notwendigkeit heraus ablehnen zu können. Auf die Thematik der Schöpfung geht Taftāzānī auch in der knappen Zusammenfassung des Tahḏīb an zwei Stellen ein.
6.2.1.3 Der Tahḏīb96 In einem Abschnitt über die Wesenseigenschaften Gottes wird das Handlungsvermögen Gottes auch im Tahḏīb erwähnt. Es schließt sich an die Diskussion des Wissens an: Sie sprachen von der Ähnlichkeit Seines Handlungsvermögens mit dem des Sehenden, insofern sich ihre Merkmale nicht unterscheiden würden. Wir aber lehnten es ab, denn auf eines dieser beiden Handlungsvermögen stützt sich die Hervorbringung der zeitlich entstandenen Dinge, weil die Erhöhung [im Rang] des Hervorgebrachten auch die Erhöhung des Hervorbringers erfordert.97 Und möglicherweise bedienen sie sich auch einiger Offenbarungsbeweise, dass das Handlungsvermögen und andere Eigenschaften vollkommene Eigenschaft seien und ihr Gegenteil die Mangelhaftigkeit sei. Sie sagten, dass die Perfektion der Welt und ihre Ordnung nicht vorstellbar seien, als aus der Hand eines mächtigen und wissenden Schöpfers. Diejenigen, die dem widersprachen, hielten fest, dass die Verbindung des Handlungsvermögens [mit der Welt] nicht ohne einen ausschlaggebenden Grund geschehen könne, was zum infiniten Regress führe, da der ausschlaggebende Grund entweder urewig sei, weshalb dann auch der Grund [für die Welt] ewig wäre, oder der ausschlaggebende Grund wäre zeitlich entstanden, was dann in den Regress führe. Doch ich antworte, dass der ausschlaggebende Grund eine wesensmäßige Verbundenheit mit dem [göttlichen] Willen hat, so dass kein infiniter Regress entsteht, da sich der Wille ja in der Ewigkeit mit der Hervorbringung der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt (fī waqtihī) verbunden gewesen sein kann.98
95 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid IV: „iḏ law kāna […] amran ḫāriǧīyan mūǧiban lazima an yakūna l-ḥayawānu ʿalā šakli l-kurrāt“, 94. 96 Anders als in den beiden vorherigen Kapiteln stellt der Tahḏīb keine systematische Zusammenfassung dar, weshalb hier auch schwerlich von einer „ʿAqīda der Argumente“ gesprochen werden kann. 97 Taftāzānī, Tahḏīb, 80f. 98 Taftāzānī, Tahḏīb, 81.
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Einige Rechtsgelehrte sprechen vom Attribut des ewigen Erschaffens, da er in seiner Rede selbst [schon von der Schöpfung] gesprochen habe, weshalb auch dieses Attribut ewig sein müsse. Doch entweder ist sein Konzept das der Schöpfung und so ist es synonym mit allem Erschaffenen (maḫlūq) oder es bezieht sich auf den Einfluss, [der zur Schöpfung führt], so ist mit dem Attribut der Grund gemeint, [der Ausfluss des göttlichen Willens ist].99
In wenigen Zeilen verbindet Taftāzānī hier die Ablehnung der muʿtazilitischen Position, dass es sich bei menschlichem und göttlichem Handlungsvermögen um etwas Ähnliches handeln könne und weist auch die Argumentation gegen die philosophische Lehre von der Ewigkeit der Welt ab. Die Diskussion um das Attribut des ewigen Erschaffens (takwīn) kommt wieder vor, doch etwas anders als im Šarḥ al-Maqāṣid. Die umfangreiche Argumentation entfällt wahrscheinlich wegen der auf Kürze angelegten Struktur des Textes und Taftāzānī begnügt sich damit, takwīn als frei von zusätzlichen Informationen zu betrachten. Eine abermalige neue Positionierung des Gelehrten in der Frage muss dies nicht bedeuten.
6.2.2 Urewigkeit oder zeitliche Geschaffenheit der Welt Aus dem Bisherigen ist deutlich geworden, dass die Schöpfungslehre eng mit der göttlichen Attributenlehre verbunden ist. In jeder der beiden theologischen Traditionslinien ließ sich ein göttliches Attribut ausmachen, das in besonderer Weise für den Schöpfungsvorgang relevant war. Taftāzānī hat, wie gesehen, das māturīditische Attribut des ewigen Erschaffens zunächst akzeptiert und später abgelehnt. Im Hauptwerk bildet das Attribut des Handlungsvermögens Gottes (qudra) die Brücke von der allgemeinen Handlungstheorie zur Frage nach Gottes schöpferischer Aktivität generell, worunter auch die Schaffung der Welt und aller in ihr enthaltenen Körper fällt. Der zweite Teil der Schöpfungslehre geht demgegenüber eher von der Schöpfung selbst aus und fragt nach ihrem Status, der sowohl im Kommentar zu den ʿAqāʾid als auch im Šarḥ al-Maqāṣid nochmals unabhängig von der Attributenlehre behandelt wird.
6.2.2.1 Der Kommentar zu den ʿAqāʾid an-Nasafīya In den ʿAqāʾid des Nasafī heißt es zu Beginn des entsprechenden Abschnitts „der Erschaffer der Welt in der Zeit ist Gott, der Erhabene.“100 Während also Gott das Attribut des ewigen Erschaffens zugeordnet worden war, folgt hier bezüglich der
99 Taftāzānī, Tahḏīb, 85. 100 Nasafī, ʿAqāʾid. In: Salāma (Ed.), 31.
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Welt (ʿālam) direkt die Charakterisierung als in der Zeit entstanden. Taftāzānī kommentiert, indem er der Welt neben der Affirmation von Gottes Ewigkeit und notwendiger Existenz die Rolle zuweist, mit allem in ihr Enthaltenen auf den Schöpfer hinzuweisen.101 Auch wenn die Notwendigkeit einer Ewigkeit, wie schon gesehen, von der Welt ferngehalten wird, so bekräftigt Taftāzānī sogleich die absolute Abhängigkeit aller geschaffenen, nur möglichen Dinge von ihrer notwendigen Ursache, dem Schöpfer. Nasafīs Attribut „der Eine“ (al-wāḥid), schickt Taftāzānī die Erklärung hinterher, dass sich ja mehrere Schöpfer gegenseitig behindern würden, wobei er auf die Koranstelle 21,22 zurückgreift,102 wo es heißt: „Gäbe es in beiden [Himmel und Erde] Götter außer Gott, dann würden beide verfallen.“103 In seiner Erklärung der Relevanz dieses Verses für die Schöpfung geht Taftāzānī vom Beispiel eines Individuums, über dessen Bewegungsabläufe sich die beiden theoretisch angenommenen Götter nicht einig würden, zu der Möglichkeit von zwei Gouverneuren über und kommt schließlich erst zur Diskussion der Frage, wie sich die Existenz von zwei Göttern auf die Schöpfung insgesamt auswirken würde. Hier wiederholt er die bekannten Argumente, nach denen allein die Möglichkeit einer Willenskollision beider Götter die Nicht-Erschaffung der Welt zur Folge hätte.104 In der Folge diskutiert Taftāzānī die anderen Attribute Gottes, die hier nicht mehr zur Thematik gehören.
6.2.2.2 Das Forum der Diskussion – Šarḥ al-Maqāṣid Im Šarḥ al-Maqāṣid wird die Kernfrage der zeitlichen Entstehung oder Ewigkeit der Welt umfassender dargestellt. Da sich hier eine vergleichsweise kurze, doch aufschlussreiche Bemerkung Taftāzānīs zur philosophischen Vorgeschichte findet und die Diskussion der Argumente demgegenüber weniger Neues bringt, wird der historische Rückgriff etwas ausführlicher vorgestellt. Der Bezug auf die Vorsokratiker Während sich Taftāzānī in den Fragen zur körperlichen Auferstehung vornehmlich mit den Argumenten der muslimischen Philosophen beschäftigt hat und die antike Philosophie allenfalls im Hintergrund stand, findet sich bei Taftāzānī wie auch bei Īǧī praktisch zu Beginn der Ausführungen zur zeitlichen Entstehung oder Ewigkeit der Welt eine vergleichsweise differenziertere Darstellung antiker
101 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 31. 102 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 33. 103 Bobzin, 280. 104 Taftāzānī, Šarḥ al-ʿAqāʾid, 33.
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philosophischer Lehren, die allerdings, wie Taftāzānī selbst sagt, auf Rāzī zurückgeht105 und sich im Muḥaṣṣal ausmachen lässt.106 Zunächst skizziert Taftāzānī die gemeinsame Basis der Schöpfungslehre in verschiedenen Religionsgemeinschaften (milal), wobei er aber nur die Muslime namentlich nennt,107 während Rāzī, Samarqandī und Īǧī hier neben den Muslimen Juden, Christen und Magier (magūs) aufzählen.108 Nach dieser Lehre sind alle Körper (aǧsām) mit ihrem Wesenhaften (ḏawāt) und den Eigenschaften (ṣifāt) in der Zeit entstanden.109 Die gegenteilige Lehre, dass Wesenheiten und Eigenschaften ewig seien, bringt Taftāzānī wie Rāzī mit Aristoteles in Verbindung. Während Rāzī noch Theophrast,110 Themistios111 und Proklos aufzählt und auch als spätere Vertreter der Lehre noch Fārābī und Ibn Sīnā nennt, fasst Taftāzānī wie Samarqandī alle Erwähnten als Anhängerschaft von Aristoteles zusammen (šīʿatuhū), wobei Samarqandī mit Anhängern (atbāʿuhū) ein etwas anderes Wort wählt.112 Ihre Lehre besagt in der Darstellung Taftāzānīs, die sich hier von Rāzī unterscheidet,113 folgendes: Die himmlischen Körper sind urewig in Bezug auf ihre Stoffe, ihre Formen und ihre Akzidenzien wie Licht, Gestalt und Ursprung der Bewegung und Lage, was bedeutet, dass sie von einer einzigen fortgesetzten Bewegung von anfänglicher Ewigkeit zu künftiger Ewigkeit bewegt sind.114
Dagegen wendet Taftāzānī ein, „dass jedoch jede Bewegung von ihren [gehe] Bewegungen bestimmt werde und ihr eine andere Bewegung vorausgeht, so dass sie in der Zeit entstanden sei.“115 Dieses Argument liefert einen V orgeschmack auf
105 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 106 Rāzī, Muḥaṣṣal, 276f. 107 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 107. 108 Rāzī, Muḥaṣṣal, 276; Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 400; Īǧī, Mawāqif, 244. 109 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 107. 110 Schüler des Aristoteles (st. 288 v. Chr.). 111 Spätantiker Rhetoriker (st. nach 388). 112 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 107; Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 400. 113 Rāzī, Muḥaṣṣal, 276f. 114 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III: “anna l-aǧsāma l-falakīyata qadīmatun bi-mawāddihā waṣuwarihā wa-aʿrāḍihā min aḍ-ḍawʾi wa-š-šākli wa-aṣli l-ḥarakati wa-l-waḍʿi bi-maʿnā annahā mutaḥarrakatun ḥarakatan wāḥidatan muttaṣilatan mina l-a al-azali ilā l-abad“, 108. Rāzī hebt weniger auf die Bewegung ab, sondern nimmt kurz Bezug auf den Hylemorphismus. Rāzī, Muḥaṣṣal, 276f. 115 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III: „illa anna kulla ḥarakati tufraḍu min ḥarakātihā fa-hiya musbūqa bi-uḫrā fa-takūn ḥādita“, 108.
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die sich anschließende Diskussion um diese Lehre, die eine umfassende Ewigkeit der Welt postuliert. Zunächst lohnt es sich aber, die Beschreibung der Gruppe näher anzusehen, die anders als die Anhänger der Religionsgemeinschaften und die Aristoteliker bezüglich der Wesenheiten einerseits und der Eigenschaften andererseits jeweils verschiedene Annahmen über deren Ewigkeit und Zeitlichkeit postulierten. Diese Gruppe geht nämlich von einem ewigen Wesen und zeitlich gewandelten Eigenschaften aus. Da diese Lehre mit Philosophen aus der Zeit vor Aristoteles in Verbindung gebracht wird, zeigt ihre Erwähnung zugleich, dass Taftāzānī, wie auch Īǧī, eine gewisse Vorstellung der Geschichte antiker Philosophie hatte, die wohl im Grundsatz durch Rāzīs Muḥaṣṣal vermittelt war, wobei Taftāzānīs Darstellung zusätzlich auch durch Samarqandī beeinflusst zu sein scheint. Um nun Taftāzānī und Īǧī hinsichtlich ihres jeweiligen Umgangs mit dieser Vorlage zu vergleichen, bietet es sich an, zunächst Rāzīs Darstellung, die wohl den Ausgangspunkt für alle späteren Theologen darstellt, zusammenzufassen. Im Muḥaṣṣal werden diejenigen, die ein ewiges Wesen und wandelbare Eigenschaften annehmen, von Rāzī zunächst benannt. Es handelt sich um die Philosophen vor Aristoteles, wie Thales (Ṯālīs), Anaxagoras (Anaksāġūras), Pythagoras (Fīṯāġūras) und Sokrates (Suqrāṭ), die also hier als „Voraristoteliker“ erscheinen, bei denen es sich aber, wie noch deutlich werden wird, um die Vorsokratiker handelt.116 Er nimmt die Dualisten noch hinzu und teilt die gesamte beschriebene Gruppe in zwei Strömungen. Die erste vertritt, dass der Urstoff materiell sei (al-mādda ǧism).117 Auffällig ist dabei, dass hier ein „materialer Monismus“ zum Ausdruck kommt, den man auch außerhalb der islamischen Tradition mit den naturphilosophischen Überlegungen der milesischen Philosophen in Verbindung bringt, der aber auch auf Aristoteles zurückgehen kann.118
116 Die hier vorgestellten Personen werden – bis auf Sokrates – gemeinhin als Vorsokratiker definiert. Ihre Reihe beginnt mit Thales von Milet um das Jahr 600 v. Chr. und endet mit Demokrit von Abdera (st. 399 v. Chr.), der Sokrates um einige Jahre überlebt hat. Rapp, Christof, Die Vorsokratiker, München 2007, 13. 117 Rāzī, Muḥaṣṣal, 277. 118 Rapp, Vorsokratiker, 32. Solche Systematisierungen des Aristoteles bei der Betrachtung der Vorsokratiker haben auch die westliche Philosophiegeschichte im Hinblick auf die Vorsokratiker geprägt. Allerdings hat Aristoteles dabei wohl seine eigene Lehre in inhaltlicher Übereinstimmung mit den früheren Lehren gesehen und in seinen Zitaten oft in eigener Terminologie klarer ausdrücken wollen, was aber feine Unterschiede gerade verschütten kann. Rapp, Vorsokratiker, 22f. Bisher liegt zur arabischen Rezeption der Vorsokratiker die Studie von Hans Daiber vor. Daiber, Hans, Aetius Arabus. Die Vorsokratiker in arabischer Überlieferung, Wiesbaden, 1980. Diese beruht auf der Übersetzung der Placita des Aetius (st. ca. 100 n. Chr.) ins Arabische, die viel zur Kenntnis
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Rāzī beginnt ganz im Sinne einer Philosophiegeschichte mit Thales, dem er zutreffend als Grundelement das Wasser zuschreibt, das jede Form annehmen könne.119 Verfestigt werde es zu Erde, verdünnt zu Luft, aus der sich dann das Feuer bilde. Rāzī schließt, aus dem Rauch [des Feuers?] habe sich der Himmel gebildet.120 Bei Thales ist Wasser jedoch eher in der Weise als Grundlage alles anderen ausgezeichnet, als dass auf ihm die Erde wie ein Holz treibt bzw. wird in einer etwas abstrakteren Variante als ein Leben spendendes Prinzip verstanden..121 Daher nimmt man heute an, dass aus Thales’ Lehre vom Wasser als Ursprung wohl nur in der Rekonstruktion des Aristoteles ein stoffliches Prinzip geworden ist.122 Rāzī bringt direkt im Anschluss, anders als bei den folgenden Skizzen vorsokratischer Lehren, noch eine historische Erklärung für die Lehre des Thales. Er berichtet von einer Erzählung, nach der Thales seine Idee aus der Thora gewonnen habe, von der er auf einer Reise erfahren habe: Gott, der Erhabene, schuf eine Substanz (ǧawhar)123 und blickte mit würdigem Ernst darauf, woraufhin sie in ihre Teile zerfloss, weshalb sie Wasser wurde. Daraufhin erhob sich [vom
vorsokratischer Philosophie bei den Arabern beigetragen hat. Doch daneben hebt Daiber auch auf die Bedeutung der direkten aristotelischen Überlieferung ab. Daiber, Aetius Arabus, 2. Als Monographie zu einem einzelnen vorsokratischen Philosophen liegt zudem die Studie von Daniel De Smet zu Empedokles vor, in der es heißt: „Les témoignages d’Aristote et de ses commentateurs sont la source principale pour la connaissance d’Empédocle dans la falsafa.“ De Smet, Daniel, Empedocles Arabus. Une lecture néoplatonicienne tardive, Brüssel 1998, 25. Da auch die Darstellung von Rāzī, Īǧī und Taftāzānī für die hier vorkommenden vorsokratischen Philosophen Systematisierungen des Aristoteles enthalten, kann man vermuten, dass Rāzī, von dem die beiden letzteren abhängen, über hier nicht näher zu bestimmende Zwischenstationen Kenntnis der aristotelischen Rekonstruktion der vorsokratischen Philosophie bezogen hat. Rāzīs Schlüsselstellung für die Verschmelzung von falsafa und kalām wurde ja bereits erläutert (s. 3.3.2.2). 119 An diesem Punkt ergibt sich eine Ähnlichkeit zur Doxographie des Pseudo-Ammonios, der ebenfalls von einem rezeptiven Charakter des Wassers bei Thales ausgegangen ist. Rudolph, Ulrich, Die Doxographie des Pseudo-Ammonios. Ein Beitrag zur neuplatonischen Überlieferung im Islam, Stuttgart 1989, 162. Der Text des Pseudo-Ammonios stellt zwar eine wichtige Station bei der Vermittlung des antiken Gedankenguts in die islamische Geistesgeschichte dar, doch werden dort fast ausschließlich diejenigen Vorsokratiker behandelt, die in Rāzīs Abriss fehlen. Rudolph, Doxographie, 7f. Heraklit und Demokrit werden zwar auch in beiden Texten erwähnt, doch ist Thales der einzige Philosoph, bei dem hier mögliche Parallelen aufscheinen. 120 Rāzī, Muḥaṣṣal, 277. 121 Rapp, Vorsokratiker, 29f. 122 Rapp, Vorsokratiker, 31. 123 Der Begriff ǧawhar wurde auch zur Übersetzung einer „göttlichen fünften Substanz“ im Text von Aetius gebraucht. Dies würde zur Verwendung des Begriffs hier im Übergang vom göttlichen
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Wasser] Dampf wie Rauch, woraus Er die Himmel schuf. Auf dem Wasser bildete sich Schaum, aus dem Er die Erde erschuf.124
Im Hintergrund kann man vielleicht die Bestrebungen erkennen, die Lehre des Thales mit theistischen Konzepten in Verbindung zu bringen.125 Hieran schließt Rāzī die Lehre des Anaximenes an, der Luft als Grundstoff auserkoren hatte, aus der Feuer durch Verdünnung und Erde und Wasser durch Verdichtung hervorgegangen seien.126 Hier stimmt die Darstellung Rāzīs deutlich mehr mit der rekonstruierbaren Lehre des Anaximenes überein: „Wenn die Luft sich verdünnt, wird sie zu Feuer; verdichtet sie sich, wird sie zunächst Wind, dann Wolke, dann Wasser, dann Erde, dann Stein.“127 Es folgt die Lehre des Heraklit (Ibrīlīṭas), dass der Urstoff Feuer sei, aus dem alles durch Verdichtung entstanden sei, was sich ebenfalls im Einklang mit dem heutigen Stand der Philosophiegeschichte befindet: Diesen Kosmos (derselbe für alle) schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern es war immer und ist und wird sein immer lebendes Feuer, entflammend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.128
Damit sind diejenigen Lehren referiert, die eines der vier Elemente zum Grundelement machten. Wenn Rāzī zudem auch die Erde aufzählt, zeigt dies wohl eine Tendenz zur Systematisierung. Bezeichnenderweise nennt er in diesem Fall keinen Namen, sondern sagt nur: „Und andere sagten, dass es die Erde sei.“129 Indem er auch den Rauch aufzählt, geht er sogar über die vier klassischen Elemente hinaus. In Einhaltung des historischen Ablaufs spricht Rāzī eine weitere Lehre an, nämlich die des Anaxagoras.130 Rāzī kennzeichnet den Urstoff dieser Lehre als
Schöpfer zu den vier irdischen Elementen passen. Allerdings bleibt dies hier Vermutung, da den Vorlagen von Rāzī hier nicht systematisch nachgegangen werden soll. Daiber, Aetius Arabus, 11. 124 Rāzī, Muḥaṣṣal: „Allāh – taʿālā – ḫalaqa ǧawharan wa-naẓara-d ilayhi naẓara l-haybati faḏābat aǧzāʾuhū fa-ṣārat maʾ. Tumma irtafaʿa minhū buḫārun ka-d-duḫḫāni fa-ḫalaqa minhu s-samawāt. wa-ẓahara ʿalā waǧhi l-māʾi zabadun fa-ḫalaqa minhu l-arḍ.“ 277f. 125 Rudolph, Doxographie, 162f. 126 Rāzī, Muḥaṣṣal, 278. 127 Ricken, Friedo, Philosophie der Antike, Stuttgart 2000, 27. 128 Rapp, Vorsokratiker, 79. 129 Rāzī, Muḥaṣṣal, 278 (Hervorhebung von T. W.). 130 Während Thales und Anaximenes im 6. Jahrhundert vor Christus lebten, wirkte Heraklit um das Jahr 500 v. Chr. und Anaxagoras im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Rapp, Vorsokratiker, 232.
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„unendliche Mischung, die aus unbegrenzten Körpern besteht.“131 In einem Fragment des Anaxagoras heißt es ganz ähnlich: „Zusammen waren alle Dinge, unbegrenzt sowohl der Anzahl als auch der Kleinheit nach; denn auch das Kleine war unbegrenzt.“132 Rāzī will die Lehre noch genauer skizzieren, indem er sagt, die Teile der Mischung gehörten entweder zur Natur des Brotes oder zur Natur des Fleisches.133 Diese beiden Dinge sind aber von Anaxagoras nicht als Urstoffe angesehen worden, doch finden sie sich immerhin in einer Diskussion über das Beispiel der Ernährung für die angesprochene Mischung: Jedenfalls nehmen wir Nahrung zu uns, die einfach und einförmig ist, etwas Brot und Wasser, und daraus ernähren sich Haar, Ader, Luftröhre, Fleisch, Sehnen und Knochen und die übrigen Teile des Körpers. […] In der Nahrung gibt es somit Teile, die Blut, Teile, die Sehnen, Teile die Knochen, und Teile, die die übrigen Teile des Körpers hervorbringen.134
Mit Brot und Fleisch ist zwar ein Transformationsbeispiel aus der Lehre des Anaxagoras135 als Angabe zweier Urstoffe missverstanden worden, doch bleibt die Lehre immerhin erkennbar.136 Schließlich erwähnt Rāzī, wiederum der historischen Abfolge entsprechend, Demokrit. Dieser habe gesagt, die Welt bestehe aus kleinen runden Teilen, die nur im Geiste, nicht aber tatsächlich teilbar seien und sich in ständiger Bewegung befänden.137 Aus ihren Bewegungen und den resultierenden Zusammenstößen sei dann die Welt entstanden.138 In den kleinen Teilen sind sicher die Atome der Lehre von Demokrit und seines Lehrers Leukipp zu erkennen, deren Beiträge zum Atomismus nicht immer klar zu trennen sind.139 Sie gelten als unteilbar,140 doch wird ihnen eigentlich keine runde Form zugesprochen, sondern verschiedene
131 Rāzī, Muḥaṣṣal: „annhū al-ḫalīṭu lā nihāyata lahū wa-huwa aǧsāmun ġayru mutanāhīy“, 278. 132 Kirk, Geoffrey, Raven, John, u.a., Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart & Weimar 2001, 392 (Fragment 467). 133 Rāzī, Muḥaṣṣal: „aǧzāʾu ʿalā ṭabīʿati l-laḥmi wa-aǧzāʾu ʿalā ṭabīʿati l-ḫubs“, 278. 134 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 410 (Fragment 496). 135 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 410f.; Ricken, Philosophie der Antike, 55. 136 In der Darstellung des Aetius Arabus gibt es auch ein kurzes Referat der Lehre des Anaxagoras, aber auch wenn hier die Thematik der Ernährung recht ausführlich beschrieben wird und Beispiele für Nährendes und das aus Ernährung Entstehende genannt werden, sind doch Brot und Fleisch nicht darunter. Daiber, Aetius Arabus, 98f. 137 Rāzī, Muḥaṣṣal, 279. 138 Rāzī, Muḥaṣṣal: „fa-ḥaṣala min taṣādumihā ʿalā ḏālika l-waǧhi ḥaḏā l-ʿālam“, 279. 139 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 441; Rapp, Vorsokratiker, 188. 140 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 452 (Fragment 557); Rapp, Vorsokratiker, 196.
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Formen.141 Vielmehr ist es Demokrit wichtig gewesen, dass sie seiend und voll sind.142 Die Unterscheidung zwischen physischer und theoretischer Unteilbarkeit geht dann wohl erst auf Epikur zurück.143 Die Entstehung größerer Gebilde durch Zusammenstöße entspricht wiederum Aspekten der Lehre, wie sie auch Aristoteles referiert, wobei aber die verschiedenen Formen der Atome eine Rolle spielen,144 weshalb Rāzīs Rundheitsbehauptung eine Fehlinformation zu sein scheint. Dies ist besonders interessant, da hier die einzige ergänzende Modifikation Taftāzānīs in Bezug auf den „Vorsokratiker-Bericht“ bei Rāzī auszumachen sein wird. Am Ende der Behandlung der Gruppe derjenigen, die einen ewigen körperlichen Urstoff angenommen haben, nennt Rāzī die Dualisten, die davon ausgegangen seien, die Welt bestehe aus Licht und Dunkelheit, was er einleitend auch mit den Manichäern in Verbindung gebracht hatte.145 Im Folgenden geht Rāzī zu denen über, die ein nicht-körperliches ewiges Wesen ausgemacht haben.146 Hier soll sich der Blick aber auf die vergleichbaren Passagen bei Īǧī und Taftāzānī richten. Taftāzānīs Konzept bekommt durch den direkten Vergleich mit Īǧī nochmals mehr Konturen, denn Īǧīs Bezugnahme auf diejenigen, die eine der anderen Positionen vertreten haben, unterscheidet sich von dem Konzept Taftāzānīs, was zeigt, dass beide Rāzīs historische Rekonstruktion für wichtig erachten und wesentliche Teile übernehmen, dabei aber je etwas anders vorgehen, wobei Taftāzānī, wie schon angedeutet, Samarqandīs Schema stärker einbezieht. 147 Ein erster Unterschied fällt sofort auf, da Īǧī die Namen der fraglichen Philosophen vor Aristoteles (man taqaddama Aristū min al-ḥukamāʾ)148 komplett weglässt. Statt mit der Lehre vom Wasser als Urstoff zu beginnen, greift er zuerst den Bericht aus der Thora auf,149 ohne ihn aber mit Thales in Verbindung zu bringen,
141 Ricken, Philosophie der Antike, 57. 142 Rapp, Vorsokratiker, 196. 143 Rapp, Vorsokratiker, 200; Die Bedeutung des Unterschieds liegt in Folgendem: „Unteilbare Körper müssen deshalb angenommen werden, weil die Grenze der mathematischen Teilbarkeit unausgedehnte Punkte sind, die nicht letzte Bestandteile ausgedehnter Körper sein können.“ Ricken, Philosophie der Antike, 58. 144 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 464 (Fragment 583, 584). 145 Rāzī, Muḥaṣṣal, 279, 277. 146 Rāzī, Muḥaṣṣal, 280f. In diesem Zusammenhang bezieht er sich dann auch auf Pythagoras, den er einleitend bereits namentlich genannt hatte. Rāzī, Muḥaṣṣal, 284. 147 Daiber gibt für Rāzī und Īǧī Šahrastānī als Bezugspunkt an. Taftāzānī berücksichtigt er nicht. Daiber, Aetius Arabus, 88. 148 Īǧī, Mawāqif, 244f. 149 Īǧī, Mawāqif, 245.
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wie Rāzī es getan hatte, als er ausführte, die geschmolzene Substanz sei Ausgangspunkt für die Entstehung von Wasser gewesen. Stattdessen nennt Īǧī gleich im Anschluss die Erde als Urstoff, woraus die übrigen Dinge durch Verfeinerung entstanden seien (al-bawāqī bi-t-talṭīf).150 Wie schon erwähnt, war aber gerade die Erde in der vorsokratischen Philosophie als einziges der vier klassischen Elemente nicht als Ausgangspunkt für die Entstehung der übrigen Elemente angesehen worden. Rāzī hatte sie auch als Urstoff mit in die Übersicht aufgenommen, allerdings an letzter Stelle und ohne sie mit einem Namen in Verbindung zu bringen. Bei Īǧī folgt sodann das Feuer, aus dem die übrigen Dinge durch Verdichtung hervorgegangen seien (wa-qīla n-nāru wa-l-bawāqīyu bi-t-takṯīf).151 Er nennt im Anschluss noch den Dampf, aus dem das Übrige durch Verdünnung und Verdichtung entstanden sei. Abschließend erwähnt er die Mischung aus Fleisch und Brot,152 wobei er Rāzīs Bericht nochmals verkürzt und die Frage nach der Nahrungstransformation von Brot zu Fleisch bei Anaxagoras endgültig mit dem materiellen Urstoff verwechselt. Die möglichen Urstoffe werden in Īǧīs Skizze also weder mit Namen von Philosophen in Verbindung gebracht, noch lässt sich bei ihm, anders als bei Rāzī, die philosophiegeschichtliche Chronologie wiederfinden. Allerdings beginnt er mit dem Schöpfungsbericht, der die Lehren grob an die Thora bindet und der bei Rāzī speziell Thales zugeordnet war. Īǧī nutzt ihn als Einstieg in die Thematik der materiellen Urstoffe insgesamt und fängt dann die Aufzählung der möglichen Stoffe mit einem dichten Extrem (Erde) an, stellt dem ein feinstoffliches Extrem (Feuer) entgegen und nennt dann einen Stoff in der Mitte (Dampf, Gas). Den Abschluss bildet die Lehre einer Mischung von Substanzen. Der Aufbau scheint weit weniger als bei Rāzī einer historischen Rekonstruktion einzelner Positionen dienen zu wollen, sondern eher einem abstrakten Systematisierungsstreben (extrem dichtes Element, extrem feinstoffliches Element und anschließend ein Element mittlerer Dichte) geschuldet zu sein. Īǧī ordnet anders als Rāzī den Dualismus (ṯanawīya), dem die Lehre einer Zusammensetzung des Kosmos aus Licht (nūr) und Finsternis (ẓalma) zugeschrieben wird, einer nichtkörperlichen Vorstellung (laysa bi-ǧism) des Urstoffes zu.153 Taftāzānī schließlich erwähnt wie Īǧī und anders als Samarqandī keine Namen der Vorsokratiker, sondern spricht von den früheren Philosophen (al-mutaqaddimūn min al-falsafa), denen er, wie alle hier erwähnten Theologen vor ihm,
150 Īǧī, Mawāqif, 245. 151 Īǧī, Mawāqif, 245. 152 Īǧī, Mawāqif: „wa-qīla l-ḫalīṭu min kulli šayʾin laḥmun wa-ḫubz“, 245. 153 Īǧī, Mawāqif, 245.
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die Position zuschreibt, die Wesenheiten seien ewig, aber die Eigenschaften erst zeitlich entstanden.154 Das Wesen beruhe dabei auf einem urewigen Stoff (madda qadīma).155 Wie seine Vorläufer differenziert er, ob dieses Wesen (ḏāt) körperlich (annahā bi-ǧism) oder nicht körperlich (laysat bi-ǧism) zu denken sei.156 Im Fall der Körperlichkeit nennt Taftāzānī wiederum einen Unterschied, der darin bestehe, ob es eine Kombination der vier Elemente sei (al-ʿanāṣir al-arbāʿa ǧumlatuhā) oder je ein einzelnes Element (aw wāḥid minhā), oder eine Substanz, aus der die Elemente erst entstanden seien.157 Weiterhin könne das ewige Wesen auch aus kleinen harten Körpern bestehen, die sich nur gedanklich teilen lassen.158 An dieser Stelle zeigt sich nun eine wesentliche Ergänzung bei Taftāzānī, wenn er sagt, es sei strittig, ob es sich dabei um runde (kurrāt) oder polygone (muḍallaʿāt) Teile handle.159 Taftāzānī scheint ebenso wie Īǧī die Skizze des abstrahierten Systems wichtiger gewesen zu sein als die geschichtliche Abfolge. Rāzī und Īǧī folgend spricht er von allen vier Elementen, die als Urstoff angenommen worden seien und zählt auch die Erde auf. Die Transformation in andere Elemente durch Verdichtung und Verdünnung abstrahiert er weiter, indem er nur das Prinzip erwähnt, aber nicht mehr sagt, bei welchem Element welche Transformation zur Schaffung eines anderen Elements nötig ist. Er verzichtet ganz auf die Mischung aus Brot und Fleisch, wofür Samarqandī, der sie ebenso weglässt, sein Vorbild gewesen zu sein scheint.160 Die bei Rāzī und Īǧī vorkommende mythologische Bezugnahme auf eine gänzlich andere Substanz (ǧawhara), die der Thora entstamme oder bei Thales anzusiedeln sei (s. o.), streift er nur kurz. Insofern Taftāzānī aber die Kombination aller Elemente als Urstoff (al-ʿanāṣir al-arbāʿa ǧumlatuhā) anspricht, könnte Empedokles gemeint sein, der davon ausging, dass die vier Elemente „ewig, unvergänglich im Kreislauf sind“161, indem sich ihr Mischungsverhältnis ändert.162 Doch würde dies bedeuten, dass Taftāzānī hier einen bei Rāzī oder Samarqandī nicht erwähnten Philosophen einbezieht, weshalb dies sehr spekulativ bleibt.
154 Rāzī, Muḥaṣṣal, 276; Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III: „qidamuhā bi-ḏawātihā dūna ṣifātihā wa-ilayhi ḏahaba l-mutaqaddimūn min al-falāsifa“, 108. 155 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 107. 156 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 108. 157 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 108f. 158 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 159 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 160 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 401. 161 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 317. 162 Ricken, Philosophie der Antike, 53.
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In Bezug auf die Atomlehre des Demokrit spricht er von kleinen harten Körpern, bei denen man stritt, ob sie „rund“ (kurrāt) oder „polygon“ (muḍallaʿāt) seien.163 Hier lässt sich erstmals ein Begriff ausmachen, der weder bei Rāzī noch bei Samarqandī oder Īǧī vorkommt, der aber die Lehre treffender wiedergibt, insofern die Atome sich nach Demokrit auch verhaken können und so größere Körper bilden, was gegen ihre Rundheit spricht.164 Taftāzānī fügt dies aber nicht als Berichtigung der früheren Darstellungen sondern, nur als Referat eines Streits (iḫtalafū fī annahā kurrāt aw muḍallaʿāt) ein.165 Allerdings bleibt der Befund, dass der Begriff polygon (muḍallaʿāt) sich nicht bei Rāzī und Īǧī findet und in Kenntnis der Philosophiegeschichte „gut informiert“ klingt.166 In einem folgenden Passus kommen auch bei Taftāzānī diejenigen zur Sprache, die sich die Wesenheiten unkörperlich vorstellten, wobei er wie alle seine Vorläufer von denen spricht, die von einer Zusammensetzung der Welt aus Licht und Finsternis ausgehen, den Dualismus oder Manichäismus hier anders als Rāzī, Samarqandī und Īǧi aber nicht nennt.167 Wie Īǧī und Samarqandī aber anders als Rāzī begreift er Licht und Finsternis als unkörperlich. Das zusätzliche Vorbild Samarqandīs wird auch deutlich, insofern er noch von einer Lehre berichtet, nach der sich kleinste „Einsheiten“ (waḥdāt) zu einem Punkt (nuqṭa) zusammengezogen hätten, woraus sich eine Linie (ḫaṭṭ), schließlich eine Oberfläche (saṭḥ) und daraufhin Körper (ǧism) gebildet hätten.168 Diese Lehre schildert Samarqandī fast wortgleich, verbindet sie aber wie bei den anderen Lehren auch mit dem Namen eines Vorsokratikers, nämlich Pythagoras.169 Der Ausgangsbegriff, der den Begriff der „eins“ aufnimmt, ist wohl der Bezug zur Zahlenlehre des Pythagoras, die in seinem System eine wichtige Rolle spielte.170 Der Vergleich dieses kurzen Abschnitts zu Beginn ihrer Ausführungen zur Entstehung der Welt zeigt, dass Īǧī und Taftāzānī ähnlich vorgehen, insofern die Thematik an derselben Stelle des Gesamtwerks vorkommt. Weiterhin machen beide aus der historischen Skizze Rāzīs eine abstraktere Systematik derer, die ein ewiges Wesen und wandelbare Eigenschaften annehmen. Während Īǧī die
163 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 164 Kirk, Die Vorsokratischen Philosophen, 464 (Fragment 583); Ricken, Philosophie der Antike, 57. 165 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 166 In den arabischen Fragmenten des Empedokles in der Auswahl von De Smet ist von der Körperlichkeit der Elemente die Rede, was einen Bezug weder ausschließt noch untermauert, da der Halbsatz bei Taftāzānī zu knapp ausfällt. De Smet, Empedocles Arabus, 165, 190f. 167 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 168 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 109. 169 Samarqandī, Ṣaḥāʾif, 403. 170 Rapp, Vorsokratiker, 89.
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erschiedenen Elemente kombiniert und nicht zurückschreckt, die Geschichte v von der schmelzenden Substanz zu übernehmen und die Brot-Fleisch-Mischung zu thematisieren, scheint Taftāzānī eher das Bild einer beliebigen Kombination der vier Elemente mit den Alternativen eines vorausliegenden Urelements oder der Atomlehre im Kopf gehabt zu haben. Abschließend nimmt Taftāzānī gegenüber der vorsokratischen oder für ihn sicher eher voraristotelischen Philosophie eine Beobachterposition ein und charakterisiert ihre Lehren als „Andeutungen und Symbole, wie es Gewohnheit der frühen Weisen gewesen sei.“171 Der Bezug auf die früheren Denker zeigt sich somit weniger in einer empirischen Bestandsaufnahme mit Namensnennung der Philosophen, die er ja bei zwei seiner Hauptreferenzen, nämlich Rāzī und Samarqandī, finden konnte, sondern eher in dieser ansatzweise ideengeschichtlichen Einordnung. Die Zuordnung der Vorsokratiker deckt sich zudem mit der Darstellung, die Behler in seiner Rekonstruktion der antiken Vorgeschichte der Diskussion um die Ewigkeit der Welt gibt. Während die voraristotelische Philosophie inklusive Platon eine Ewigkeit des „Weltstoffs“ (ḏawāt in Taftāzānīs Begriffen), aber eine Zeitlichkeit der Formung der gegenwärtigen Welt mit ihren Eigenschaften, also der ṣifāt, annahm,172 ging Aristoteles, wie gesehen, von einer Ewigkeit aus, die Wesenheiten und Eigenschaften umgreift. Auf diese historische Abgrenzung folgt nun die Untersuchung der Beweise für die von Taftāzānī als mutakallim vertretene Schöpfungslehre. Die Diskussion der Beweise Die ganz zu Beginn dieser historischen Einordnung von allen mutakallimūn angesprochene Hauptdiskussionslinie verlief jedoch zwischen der Lehre der Ewigkeit der Welt einerseits und der Lehre ihrer kompletten zeitlichen Entstehung andererseits, wie sie die Theologen vertraten. Substantiell hatte hier Ġazālī argumentiert (s. 3.1.4 und 6.1.3). Die Diskussion der Beweise für die Lehre von der Ewigkeit der Welt und die theologische Ablehnung der Lehre mit ihren Gegenbeweisen ist daher auch bei Taftāzānī stark durch Ġazālī vorgeprägt. Ġazālīs Argumentation gegen die Lehre von der Anfangsewigkeit der Welt findet sich dabei in der ersten Diskussion (masʾala) seines Werkes Tahāfut al-Falāsifa.173 Er verknüpft in seinen recht komplexen Darlegungen viele Argumente, hebt aber vier Kernfragen heraus.
171 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III: „annahā rumūzun wa-išārātun ʿalā mā huwa daʾbu l-mutaqaddimīn min al-ḥukamāʾ“, 109. 172 Behler, Ewigkeit der Welt, 40. 173 Marmura, Michael, Al-Ghazālī. In: Adamson, Peter & Taylor, Richard (Hg.), The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge 2005, 137–154, 145.
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Die erste ist die Widerlegung, dass aus dem Urewigen nichts Zeitliches hervorgehen kann, da das Ewige immer schon Bestand hatte und es für den Moment, in dem aus ihm etwas zeitlich hervorgeht, eines ausschlaggebenden Grundes bedürfte, der aber selbst ewig sein müsste.174 Die zweite Frage hebt darauf ab, dass eine zeitliche Vorordnung von Gott vor der Entstehung der Welt es nötig mache, dass Gott der Welt essentiell vorausgehe wie die Eins der Zwei, oder aber zeitlich. Hierauf antwortete Ġazālī, dass Gott der Zeit vorausgehe.175 Einen dritten Diskussionspunkt liefert für ihn die Überlegung, dass die Welt bevor sie möglich wurde, ja nicht unmöglich war, sie also von Ewigkeit her möglich war.176 Schließlich hebt er hervor, dass im Fall einer Welt, die in der Zeit aus etwas anderem geschaffen würde, die Materie aus der sie geschaffen werde, ihr vorausgehen müsste.177 Die Hauptargumentation zum zeitlichen Entstandensein der Welt beginnt Taftāzānī mit der Frage nach Ruhe und Bewegung.178 Als nächstes führt Taftāzānī er einen Beweis dafür auf, dass die zeitlich entstandenen Dinge sich nicht ohne Anfang und Ende aneinanderreihen können. Nur wenn dies der Fall wäre, müsste man von einer Ewigkeit der Welt sprechen. Der Aufweis des zeitlichen Entstehens eines jeden einzelnen Dinges (ḥudūṯ kull) macht das zeitliche Entstandensein des Ganzen (ḥudūṯ al-kull) nötig.179 Hiergegen wurde eingewandt, dass dann auch im Fall, dass man sagen kann, jeder Zengi180 sei ein Löwe (kull zanǧī usūd), auch das Ganze [der Welt] notwendigerweise ein Löwe (al-kull usūd) sein müsse. Dies weist Taftāzānī entschieden zurück, da jeder Zengīde immer noch einen eingrenzbaren Teil einer Gruppe meint. Eine Eigenschaft wie Löwenähnlichkeit werde nur von diesem Teil ausgesagt, weshalb es hier nicht um ein Attribut wie Z eitlichkeit gehe, das von jedem Dinge ausgesagt werde.181 In diesem Argument nimmt Taftāzānī den umgekehrten Weg von Ibn Sīnā, der ja eher von der Notwendigkeit ausgegangen und von daher auf das Mögliche geschlossen hatte.
174 Ġazālī, Tahāfut, 52f. 175 Ġazālī, Tahāfut, 64f. 176 Ġazālī, Tahāfut, 70. 177 Ġazālī, Tahāfut, 71. 178 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 111. 179 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 114. 180 Die Zengidendynastie ging der Ayyubidendynastie voraus und hatte ihr Zentrum im Norden des heutigen Irak und Syrien. Ihr Begründer Zengī eroberte 1144 Edessa und zerschlug damit einen Kreuzfahrerstaat. Sein Sohn Nūr ad-Dīn wurde Emir von Aleppo und leistete wichtige Vorarbeit für Saladins erfolgreichen ğihād gegen die Kreuzfahrer in den folgenden Jahren. Halm, Heinz, Die Fatimiden. In: Haarmann, Ulrich (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1994, 166–199, 196f. 181 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 115.
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Anschließend widmet sich Taftāzānī dem Aufweis der Unmöglichkeit dessen, was die Philosophen über die Ewigkeit der Himmelssphären sagen.182 Er differenziert zwischen der Auffassung derjenigen Philosophen von der Ewigkeit der Sphären und der Ewigkeit der Bewegungen und anderen Philosophen, die die Urewigkeit über die kleinsten Teile, die sich praktisch nicht teilen lassen, einführen wollten. Auf die zuvor referierte Position des Atomismus als einer Lehre zwischen der Weltewigkeitslehre und der Lehre der Religionsgemeinschaften (s. o.) geht er nicht mehr ein. Einen eigenen Abschnitt widmet Taftāzānī der Erörterung, dass der Körper (ǧism) der sichtbare Einfluss des willentlich Tätigen (al-fāʿil al-muḫtār),183 also Gottes sei, wodurch sich eine Querverbindung zum ersten für die Schöpfungslehre relevanten Abschnitt im Šarḥ al-Maqāṣid ergibt. Dort war es, wie gesehen, um die Charakterisierung des göttlichen Handlungsvermögens mit dem Attribut der Wahl (iḫtiyār) gegangen, das für Taftāzānī eine Rolle spielt und was auch zeigt, dass es ihm nicht nur darum geht, die Argumente von Ġazālī in abgewandelter Reihenfolge zu wiederholen, sondern dass eigene Aspekte, die aus dem Zusammenhang des Šarḥ al-Maqāṣid resultieren, ebenfalls Berücksichtigung finden. Erst jetzt kommt Taftāzānī zu einem zentralen Argument, das auf Ġazālī zurückgeht. Er sagt, die Zeit sei nicht generell das Maß der Bewegung. In der philosophischen Lehre seien Ewigkeit der Körper und die Zeit als Maß ihrer Bewegung verbunden. Doch auch wenn die Zeit diese Funktion haben kann, ist es nicht ausgeschlossen, dass ihr nicht auch das Nichts vorausgehen kann. Denn, so Taftāzānī: […] der Unterschied zwischen dem Vorausgehen und dem Nachfolgen fällt unter das [subjektive] Konzept der Teile von Zeit, ohne dass deshalb das Nicht-Existieren des zeitlich Entstandenen und seine Existenz [als zwei verschiedene Stufen des Seins vor und nach der Schöpfung] verboten wären,184
wie es die Philosophen sagen. Damit hat Taftāzānī zentrale Argumente gegen die Urewigkeit der Welt dargelegt, wie es dem Diskussionsstand nach der Ablehnung der philosophischen Lehre durch Ġazālī entspricht. Eine gewisse Verzahnung der Erörterungen mit dem vorher dargestellten Teil der Schöpfungslehre, der direkt mit dem göttlichen
182 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 117. 183 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III, 119. 184 Taftāzānī, Šarḥ al-Maqāṣid III: „wa-l-farqu bayna t-taqaddumi wa-t-taʾaḫḫuri dāḫilāni fī mafhūmi aǧzāʾi z-zamāni dūna ʿadami l-ḥādiṯi wa-wuǧūdihī mamnūʿ“, 125.
Die Schöpfungslehre im Werk Taftāzānīs
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Attribut des Handlungsvermögens verbunden war, wird im mittleren Abschnitt zu Körpern als Wirkung eines willentlich tätigen Schöpfers deutlich. Der Tahḏīb gibt demgegenüber eher die philosophisch geprägte Kosmologie wieder, ohne ihr aber den für die Theologen problematischen Aspekt der Ewigkeitsvorstellung zuzuschreiben.
6.2.2.3 Der Tahḏīb In der kurzen Zusammenfassung der Lehre im Tahḏīb findet sich zwar auch analog zum Kommentar der ʿAqāʾid und zum Šarḥ al-Maqāṣid noch eine Stelle, an der es weniger um die Schöpfung aus der Perspektive des Schöpfers, sondern eher um die Betrachtung der Schöpfung geht, doch bleibt dieser Abschnitt frei von der Diskussion um Ewigkeit der Welt oder ihrer Entstandenheit in der Zeit. Dafür referiert Taftāzānī an der entsprechenden Stelle die Lehre der Weisen bzw. Philosophen zu den Körpern. Diese Darstellung trägt zum Teil kosmologische Züge und soll hier nur in Umrissen dargestellt werden, da ja bereits eine ausführliche Diskussion der Bezugnahme auf die Vorsokratiker erfolgt ist: Die Weisen sagten, entweder seien die Körper aus verschiedenen Körpern zusammengesetzt (murakkab) oder aus einfachen (basīṭ) Teilen kombiniert. Diese einfachen Teile seien dann entweder kosmisch sei elementar [im Sinn der vier klassischen Elemente]. Das einfache kosmische [Element] ist über allem anzusiedeln und es umfasse alle Seiten in einer einzigen Form, die rund sein müsse.185 Sie behaupteten, dass es aus neun Sphären bestehe und sich von Osten nach Westen bewege […] und sich darunter die Fixsternsphäre (falak aṯ-ṯawābit) befinde. Darunter sei der Saturn, dann folge Jupiter, danach der Mars, dann die Sonne, schließlich Venus, der Merkur und der Mond.186 Sie sagten, unter der Mondsphäre befinde sich zunächst das Element des Feuers: heiß, trocken und durchsichtig. Daran schließe sich das Element der Luft an, die heiß, feucht und durchsichtig sei, darauf das Wasser, welches kalt, feucht und durchsichtig sei. Schließlich sei die Erde erreicht, die als kalt und trocken gekennzeichnet werden müsse. Jedes Element verwandele sich in das angrenzende und dies sei Sein und Vergehen (huwa al-kawn wa-lfasād).187
Hieran schließt Taftāzānī noch die Beschreibung meteorologischer Phänomene an, die sich aus dem Wechselspiel der Elemente ergeben. Ein namentlicher Bezug
185 Taftāzānī, Tahḏīb, 63. 186 Taftāzānī, Tahḏīb, 64f. 187 Taftāzānī, Tahḏīb, 65.
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auf Ibn Sīnā, dessen kosmologische Lehre ja gut wiederzuerkennen ist, erfolgt nicht. Mit Blick auf die Akzeptanz der Philosophie erscheint sich der Befund zu ergeben, dass anders als die Lehre von der Ewigkeit der Welt die kosmologische Entwicklung ohne die Behauptung ihrer Ewigkeit doch Anklang bei den späten mutakallimūn gefunden hat. Taftāzānī selbst legt die Lehre zwar anderen in den Mund (qālat al-ḥukamāʾ),188 distanziert sich aber nicht.
6.3 Schlussbetrachtung zur Schöpfungslehre Anders als bei der Auferstehungslehre und bei der Handlungstheorie zeigt sich für die Schöpfungslehre eine Zweiteilung der Thematik innerhalb aller theologischen Werke von Taftāzānī. Zum einen wird die Schöpfung vom Schöpfer her gedacht, sie entspringt Seiner ewigen, im Koran angekündigten Schöpfertätigkeit oder Seinem Willen und wird durch Sein Handlungsvermögen Realität. Man könnte in dieser Hinsicht auch von einer „Schöpferlehre“ sprechen. Zum anderen geht die Diskussion um die Ewigkeit oder die Zeitlichkeit der Welt von der Schöpfung aus und verbleibt klassische „Schöpfungslehre“. In den theologischen Konzeptionen zur „Schöpferlehre“ wurden zuvor unterschiedliche göttliche Attribute postuliert. Die māturīditische Tradition entschied sich für ein ewiges Attribut des Erschaffens (takwīn), für das Taftāzānī, als er Nasafī kommentiert, gute Gründe findet, die ihn aber später selbst nicht mehr überzeugt zu haben scheinen. So lehnt er dieses Attribut im Hauptwerk vehement ab. An die Stelle dieses Attributs trat in der ašʿaritischen Tradition das Handlungsvermögen (qudra), welches zum Schlüssel dafür wurde, wie sich der Einfluss des Schöpfers auf die Schöpfung verstehen ließ. Dieser Einfluss wird im Koran einfach angenommen und es liegt vor allem beim Menschen, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen, nämlich das Gesetz einzuhalten und Gott zu verehren. Im späteren kalām geht es vielmehr um die Bestätigung der willentlichen Schöpfertätigkeit gegenüber dem von den Philosophen postulierten Prinzip der Notwendigkeit. Das Handlungsvermögen Gottes, das als „Allursächlichkeit“ in der Handlungs theorie Taftāzānīs jede menschliche individuelle Handlung ausschließt, gerät dabei in der Schöpfungslehre selbst unter den Druck der Notwendigkeit eines seit aller Ewigkeit ablaufenden Emanationsprozesses. Die Begrifflichkeit der Wahl findet beim Schöpfer auch in der späteren Theologie weiterhin Anwendung, um den Willensakt der Schöpfung von der mit Notwendigkeit ablaufenden Emanationslehre abzugrenzen.
188 Taftāzānī, Tahḏīb, 63.
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Wie auch schon vorher deutlich wurde, zeigt sich bei der Behandlung dieses Themenfeldes die Dominanz der philosophischen Sprache. In der Beschreibung der kosmologischen Weltentstehung scheint das philosophische Konzept zudem viel eher gedanklicher Ausgangspunkt für die Darlegungen bei Taftāzānī zu sein, als es die wenigen Aspekte einer koranischen Schöpfungslehre sind. Zudem zeigt sich auf diesem Themenfeld ein gewisses philosophiegeschichtliches Bewusstsein Taftāzānīs, wenn er die Lehren einiger Vorgänger von Aristoteles referiert. Dabei geht es ihm jedoch wohl mehr um eine abstrakte Systematisierung gedanklicher Möglichkeiten bei der Annahme eines Urstoffes, als um eine historische Rekonstruktion der voraristotelischen Philosophie.
7 Schlussbetrachtung Auferstehungslehre, Handlungstheorie und Schöpfungslehre, auf diesen drei Themenfeldern konnte die theologische Lehre Taftāzānīs im Vorangegangenen ihre Konturen gewinnen. Zum Zweck der Textanalyse von Taftāzānīs Darstellung dieser Themen in seinen umfassenden theologischen Schriften hat sich der vermutete Bezug zu den Referenzwerken als wesentlich herausgestellt. Sowohl die späteren Werke der kalām-Literatur wie die Mawāqif des Īǧī, der Muḥaṣṣal und die Uṣūl des Rāzī, sowie die Tawāliʿ des Bayḍāwī und die Ṣaḥāʾif des Samarqandī spielen eine Rolle als auch der Iršād des Ǧuwaynī, der Tahāfut und die Īḥyāʾ des Ġazālī aus dem 11. Jahrhundert. Während die genannten Werke alle der ašʿaritschen Tradition zuzuordnen sind, auch wenn sie sich, wie gesehen, in Schwerpunkt und Gestaltung unterscheiden, spielte für die Einordnung von Taftāzānīs Werk bezüglich der māturīditischen Tradition neben den Glaubensartikeln des Naǧm ad-Dīn anNasafī auch die Tabṣira des Abū l-Muʿīn an-Nasafī eine wichtige Rolle. Ebenfalls war deutlich der Einfluss der philosophischen Schriften Ibn Sīnās zu sehen. Herauszuheben sind hier der Šifāʾ als wichtige Vorlage für die Terminologie bezüglich Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit und die Risālat al-aḍḥawīya fī l-maʿād für die unmittelbare Diskussion von körperlicher und geistiger Auferstehung. Sowohl die philosophischen Einflüsse als auch die innertheologischen Debatten spielen sich im Kontext von Zitaten aus den genannten Werken und oft in impliziten Abgrenzungen ab. Im Hinblick auf die philosophischen Einflüsse ließ sich bei Taftāzānī auf allen untersuchten Themenfeldern eindeutig feststellen, dass er den Prozess der Verschmelzung von kalām und falsafa weitertreibt. Die ontologischen Begriffe Ibn Sīnās bilden in jeder Argumentation sein Standardrepertoire, er verwendet die Lehre von notwendig Seiendem und möglich Seiendem auch gegen die Muʿtaziliten, um eine innertheologische Streitfrage besser für sich entscheiden zu können. In Bezug auf spezielle Konzepte, die die menschliche Auferstehung und das Jenseitsschicksal betreffen, lässt sich bei Taftāzānī eine konsequente Fortführung des bereits bei seinen Vorgängern vertretenen Weges konstatieren. Für das Jenseits postuliert er eine menschliche Seele und kann so auch Auferstehung als Rückkehr der Seele in den Körper annehmen. In der Frage der körperlichen Auferstehung gibt er dabei den naturphilosophischen Einwänden breiten Raum und reduziert den wiedererstehenden Körper auf wenige Bestandteile. Dabei geht er sogar soweit, gegen die Anhänger der exakten körperlichen Auferstehung ähnlich wie Ibn Sīnā gegenüber den Anhängern körperlicher Auferstehung insgesamt zu argumentieren. Doch es bleiben immer auch Grenzziehungen gegenüber
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den philosophischen Positionen sichtbar. Der Begriff maʿād (Rückkehr) hat zwar schon in den kalām-Werken vor Taftāzānī das koranische Wort qiyāma (Erhebung aus dem Grab) abgelöst und ist zum Fachbegriff für die Auferstehungslehre im kalām geworden, doch nimmt Taftāzānī mit seiner direkt gegen Ibn Sīnā ausgearbeiteten Definition der Rückkehr als „Rückkehr in die Körperliche Existenz“ dem philosophischen Begriff seine kosmologische Bedeutung. Ähnliche Wechselspiele von Differenzen und Annäherungen hatten sich auch im Rahmen der Schöpfungslehre gezeigt, wo Taftāzānī zwar die kosmologische Emanationslehre zu akzeptieren scheint, der Weltewigkeitslehre aber entschieden den Kampf ansagt. Allerdings finden die Konzepte nicht immer den Weg von einem Themenfeld in ein anderes. Dies war sehr augenfällig beim Begriff der Seele, denn diese spielt in den handlungstheoretischen Überlegungen bei Taftāzānī keine Rolle. Insofern Taftāzānī hier keine stärker philosophisch geprägte Neuausrichtung der handlungstheoretischen Ausführungen vornimmt, indem er die Seele als in irgendeiner Form relevant für das menschliche Handeln annähme, ergibt sich keine direkte Brücke zwischen den beiden Themenfeldern. Damit verbleibt die Vorstellung davon, wie Diesseits und Jenseits im individuellen Schicksal verklammert sind, etwas unbestimmt. Hier lässt sich auch eine deutliche Grenze des philosophischen Einflusses auf den kalām ausmachen. Die zentrale innertheologische Debatte im Werk von Taftāzānī ist sicher die Frage nach seiner Zugehörigkeit zur Ašʿarīya oder zur Māturīdīya. Hierbei ist die Auffassung zu revidieren, Samarkand sei zur Zeit Timurs noch māturīditisches Einflussgebiet gewesen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt in Samarkand schrieb Taftāzānī nämlich mit dem Šarḥ al-Maqāṣid und dem Tahḏīb seine beiden ausgeprägt ašʿaritischten Werke. In jedem Fall kann Taftāzānīs späterer Aufenthalt in Samarkand nicht mehr als Grund für seine Zurückhaltung, die ašʿaritisch geprägten Mawāqif des Īǧī zu kommentieren, gesehen werden. Eine māturīditische Auffassung, so ist anzunehmen, hatte er allenfalls gut zwanzig Jahre vorher, als er sich entschied, die ʿAqāʾid des Nasafī zu kommentieren. Hierbei übernahm und begründete er wie im Falle des takwīn, als ewigem göttlichen Attribut des Erschaffens, oder der Lehre von den zwei Handlungsvermögen und der daraus resultierenden Wahl des Menschen māturīditische Positionen. Doch auch in diesem früheren Kommentar der ʿAqāʾid bringt er ašʿartische Definitionen gemäß dem Konzept der Aneigung (kasb) herein. Auch den zentralen Offenbarungsbeweis von Abū l-Muʿīn für ein erst künftiges Handlungsvermögen, den er aus der Tabṣira hätte übernehmen können, lässt er unbeachtet. Weiterhin interpretiert Taftāzānī auch im Šarḥ al-ʿAqāʾid bei der Auferstehungslehre das Bassin (ḥawḍ) am Eingang des Paradieses materiell und damit ašʿaritisch und nicht als Symbol für „Fülle“, wie Māturīdī es getan hatte. Insofern trägt Šarḥ al-ʿAqāʾid sicher māturīditische Züge, verbleibt aber auch in einer gewissen Distanz zum kommen-
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Schlussbetrachtung
tierten Text. Wie schon einmal bei der Handlungstheorie angemerkt, kann dies dazu beigetragen haben, dass man den Šarḥ al-ʿAqāʾid als vermittelnde Schrift angesehen hat, die daher auch lange im Lehrbetrieb akzeptiert war. Taftāzānī wandelt sich später sogar eher zu einem Kritiker māturīditischer Positionen. Hierfür sprechen eindeutig die Ergebnisse der Untersuchung seiner handlungstheoretischen Ausführungen im Šarḥ al-Maqāṣid sowie seine Ablehnung, Gott weiterhin das Wesensattribut des Erschaffens (takwīn) zuzusprechen. In allen seinen Werken setzt sich Taftāzānī auch mit der Muʿtazila ausei nander. Darin folgt er gut bekannten Pfaden und weist die Auffassungen der Muʿtaziliten immer mit den ašʿaritischen Argumenten, die auch die anderen Autoren verwenden, zurück. Im Rahmen der Auferstehungslehre war aber immerhin zu beobachten, dass er einmal ein muʿtazilitisches Argument gegen die philosophische Position anwendet. Im Kommentar zu den ʿAqāʾid nimmt Taftāzānī die Muʿtaziliten gegen den Vorwurf des Abū l-Muʿīn an-Nasafī in Schutz, ihre Handlungstheorie würde jeden Menschen zum Schöpfer machen, was letztlich auf Vielgötterei hinausliefe. Am Rande dieser Studie zu Taftāzānī konnten öfters die von Taftāzānī kritisierten muʿtazilitischen Positionen auch im Korankommentar Zamaḫšarīs, dem Kaššāf, ausgemacht werden. Insofern im Kapitel zu den Referenzwerken neuere Forschung referiert wurde, die von der Analyse seines Kommentars zu zwei Suren auf eine kaum feststellbare muʿtazilitische Positionierung Zamaḫšarīs schließen zu können glaubte, ist es interessant, dass man bei einem gezielten Blick auf einzelne handlungstheoretische Verse zu einem anderen Ergebnis kommt. An einer Stelle im Kommentar vermutet Zamaḫšarī sogar explizit, dass Gegner der Muʿtaziliten in triumphierendes Geheul ausbrechen würden, wogegen er dann aus muʿtazilitischer Sicht andere Überlegungen anbietet. Auch im Fall der Grabesstrafe finden wir im Kaššāf eine explizite Argumentation zur Ablehnung dieser Bestrafung vor dem Jüngsten Gericht, der auch die Muʿtaziliten vorwiegend skeptisch gegenüber standen. Vom Befund der hier einbezogenen Stellen her scheint es in jedem Fall legitim zu sein, weiter von Zamaḫšarī als einem dezidiert muʿtazilitischen Korankommentator zu sprechen. Insgesamt lässt sich im direkten Vergleich der Texte von Taftāzānī und Īǧī sowie den anderen spätzeitlichen kalām-Werken zumindest bei der Auferstehungslehre und der Handlungstheorie ein stärkerer Koranbezug bei Taftāzānī feststellen. Hinzu kommen verstärkte Bezugnahmen auf das Hadith nach Vorlage des Iršād des Ǧuwaynī, wie es sich bei der Frage nach dem zwischenzeitlichen Verweilort der durch den Tod vom Körper getrennten Seelen gezeigt hat. Lediglich in der Schöpfungslehre beschränkt sich der Koranbezug auf sporadische Verse. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich hier die Darstellungsweise des kalām mit weitgehender Akzeptanz einer am Modell der Emanation orien-
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tierten Kosmologie am deutlichsten vom koranischen Paradigma gelöst hatte. Doch auch auf den beiden anderen Themenfeldern gewinnt Taftāzānī keinesfalls Struktur und zentrale Argumentation aus einer Rekonstruktion der koranischen Lehre. Er nutzt sie aber verstärkt als Argumentationskategorie im Schema des kalām, das er weitgehend von Īǧī übernommen hatte. Auch beim Gebrauch des Hadith ist Taftāzānī weniger zurückhaltend als andere mutakallimūn. Taftāzānī verbleibt damit in dem für den kalām charakteristischen Fahrwasser rationaler Spekulation und naturphilosophischer Betrachtung, ohne aber auf den Bezug zur koranischen Lehre und zu den prophetischen Traditionen ganz zu verzichten. Nimmt man hinzu, dass er auch den Kerntext seines Hauptwerkes auf die „Grundlagen der Religion“ (Uṣūl ad-Dīn) bezogen hatte, legt der geschilderte Befund einer punktuell stärkeren Einbeziehung traditioneller Texte den Schluss nahe, dass Taftāzānī in Richtung einer etwas traditionalistischeren Theologie auf keinen Fall neue Hürden aufzubauen bestrebt war. Im Gegenteil, man könnte ihm hier bei aller Fortführung des stark philosophisch geprägten kalām seiner Zeit eine gewisse Offenheit gegenüber einer Vorgehensweise attestieren, die an traditionalistische Verfahren erinnert. In Bezug auf Traditionsgebundenheit war bei allen Autoren klar zu sehen, dass es theologische Grundbestände gibt, die scheinbar in allen Darstellungen verbleiben müssen. Hierzu kann man den von Gott festgelegten Todeszeitpunkt und den Lebensunterhalt rechnen. In diesen beiden Punkten belassen es auch die späteren Autoren bei der zusätzlichen, expliziten Monopolisierung des Handlungsvermögens bei Gott. Die Integration der Preise in diese exklusive Liste der von Gott festgelegten Dinge lässt sogar eher vermuten, dass die städtisch kaufmännische Perspektive die schon im alt-arabischen Kontext existentiellen Fragen von Todeszeitpunkt und Lebensunterhalt ergänzt hat. Damit ist auch das einzige Beispiel genannt, das überhaupt die Vermutung zulässt, die historischen Umstände könnten an einer Stelle Einfluss auf Taftāzānīs Schriften gehabt haben. Ansonsten schlagen sich weder Geschichtliches noch seine Biographie in den theologischen Reflexionen nieder. Allenfalls müsste dies so subtil geschehen sein, dass es dem heutigen Leser zur Gänze entgeht. Dies mag gerade bei Taftāzānī erstaunen, insofern sein Lebensweg ihn nicht ganz freiwillig an den Hof Timurs geführt hat und er dort auch Kontroversen um seine Gelehrsamkeit ausgesetzt wurde, die er verlor. Weniger bei der Auferstehungslehre oder der Schöpfungslehre, doch weit mehr bei den handlungstheoretischen Überlegungen, würde der heutige Leser eine Reflexion der Handlungsmacht Timurs, der Durchsetzungskraft seines Rivalen Ǧurǧānī oder des Scheiterns der eigenen, vermutlich weiterhin für gut befundenen Argumente erwarten. Vielleicht hätte Taftāzānī aber daraufhin gesagt, „auf dieses Niveau begebe ich mich nicht“. Denn ervollkommnung seiner eigenen Definition des kalāms zufolge dient dieser der V
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der Seele, aber nicht zur Auslotung rein politischer Machtspiele und höfischer Eitelkeiten. Blicken wir daher abschließend nochmals auf die Frage nach einer im Rahmen des abstrakt räsonierenden kalām verbleibenden theologischen Lehre Taftāzānīs, so bietet es sich an, zwei Befunde aus der Handlungstheorie aufzugreifen. Hier ergibt die Argumentation, nach der ein frei handelnder Mensch rivalisierender Schöpfer wäre, was das klassische islamische Argument gegen einen zweiten kosmischen Schöpfer in den handlungstheoretischen Rahmen stellt, in Kombination mit der Argumentation, nach der ein frei handelnder Mensch damit auch die Fähigkeit zur zweiten Schöpfung haben müsse, eine hypothetische Vergöttlichung des Menschen für den Fall seiner Handlungsfreiheit. Aus der Abwehr einer solchen Vergöttlichung resultiert im Umkehrschluss die klare Einschränkung eben jener menschlichen Handlungsfreiheit. In der Zusammenschau mit der Schöpfungslehre bleibt es aber nicht nur bei dem Befund einer weiteren Einschränkung der menschlichen Handlungsfreiheit in der späten ašʿaritischen und durch Rāzī auch ǧabritisch gefärbten Handlungstheorie des kalām. Die Übertragung des alleinigen Handelns auf Gott hat nämlich nicht nur die Funktion der Entmächtigung des Menschen, sondern auch die der Verteidigung des göttlichen Schöpfungswillens und der Handlungsfreiheit Gottes gegenüber einem Konzept der unbedingten Notwendigkeit. Auch wenn dieses Prinzip des ursprünglich notwendig Seienden (wāǧīb al-wuǧūd), wie es von islamischen Philosophen entwickelt wurde, zugleich auch auf den Einen Gott des Korans und damit den islamischen Monotheismus zugeschnitten ist und von daher auch gut in den späteren kalām integriert wurde, rief es doch auch Probleme für die Lehre von einem wollenden Gott hervor. Ein wollender und handelnder Gott manifestiert sich nämlich vor allem in seinem Wunsch zur Schöpfung, unabhängig von ihrer notwendigen Emanation. In dieser Kombination kann das Resultat einer gemeinsamen Untersuchung von Handlungstheorie und Schöpfungslehre daher auch besagen, dass die Einschränkung menschlicher Handlungsfähigkeit nicht nur in der Dynamik der handlungstheoretischen Debatte des kalām begründet sein muss, wie Gimaret folgerte. Es ließe sich ebenso formulieren, dass eine Gotteslehre, die göttliche Willensfreiheit gegenüber dem Prinzip ewiger Notwendigkeit verteidigt und die göttliche Fähigkeit zur zweiten Schöpfung gegen die philosophischen Einwände behaupten will, letztlich zu einem Konzept der Handlung kommen muss, das nur noch auf den zweimaligen Einen Schöpfer passt. Raum für einen geschaffenen Menschen, der seine Taten dennoch frei hervorbringt, gäbe es dann nicht mehr. Insofern könnte der Druck, den die philosophischen Debatten in den Themen der Schöpfungslehre und auch der Auferstehungslehre ausgeübt haben, auch Einfluss auf die zunächst innertheologische Debatte der Handlungstheorie gehabt haben, ohne dass Autoren
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wie Taftāzānī diesen Zusammenhang explizieren. Auf dem Gebiet der Attributenlehre könnte dies letztlich auch die Akzentverschiebung von takwīn zu qudra in Taftāzānīs persönlicher theologischer Biographie mitverursacht haben. Obschon Taftāzānī kaum ein großer neuer theologischer Wurf gelingt, gibt die Textanalyse doch Einblick in seinen Umgang mit anderen Werken, wobei er vorgezeichnete Wege weitergeht oder eigene Wege im Ansatz aufzeigt. Auch wenn in dieser „Querlesung“ einiger Themenfelder aus dem gesamten Gebäude des kalāms ein allmächtiger, willentlicher Schöpfer von Diesseits und Jenseits deutlich vor Augen tritt, bleibt das menschliche Subjekt unterbestimmt: Einmal hat es eine Seele, dann aber kaum mehr Handlungsvermögen, jede seiner einzelnen Handlungen erscheint mehr und mehr direkt aus der Hand des Schöpfers hervorzugehen, sein Körper aber zugleich Gegenstand der jenseitigen Resultate dieses Handelns zu sein. Dies sind wenig neue Beobachtungen, doch wurde ihr Gültigkeitsrahmen für Taftāzānī bestätigt. Zugleich adressiert Taftāzānī das menschliche Subjekt als Leser und somit als denjenigen, in dessen Geist sich die von ihm dargelegten, aus rationaler Argumentation und Offenbarung gewonnenen Lehren als Überzeugungen letztlich manifestieren sollen. So hatte er sich zu Beginn der Auferstehungslehre direkt an den Leser gewandt und hatte eine Fremdheit (aǧnabīya) der Lehre von der Wiederkehr aus dem Nichts gegenüber manchen konkreteren Glaubenslehren konstatiert. Nehmen wir einen solchen Bezug auf den Adressaten nicht nur als Rhetorik, sondern als beabsichtigte Aussage zum Verhältnis von Lehre und Gläubigem, so existiert manchmal zwischen den Zeilen eine Dimension in Taftāzānīs Werk, die ihn etwas aus der Tradition weg und näher an den Leser führt.
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Lehrpläne und Studienbücher Dalīl kullīya Uṣūl ad-dīn bi-l-Qāhira, Kairo o. J. Al-Ḫann, Saʿīd Muṣṭafā, Mabādiʾ al-ʿaqīda al-islāmīya, Damaskus 2008.
Register ʿAbd al-Ǧabbār 40, 45, 129, 137 Abū Ḥanīfa 43f. 160, 165, 188 Abū Lahab 190, 219f., 232f., 239f., 290 Abū l-Huḏayl 40, 129, 136, 154, 162, 172, 184, 190, 194 Anaximander 251 Anaximenes 266 Aristoteles 8, 35, 46, 66, 243, 248, 251f., 263f., 268, 272, 277, 289 Ašʿarī, Abū Ḥasan 37f., 41f., 44, 47, 58, 60, 66, 90f., 93, 97, 104, 153, 162f. , 166, 189, 193, 196, 198, 257f., 285 Ašʿarīya, Ašʿariten 5f., 10, 13, 38f., 41f. , 51f., 54, 59, 61f., 70, 83, 91, 112, 127, 136, 157, 161f., 170f., 174, 179, 184, 213, 215, 217, 220, 223f., 232f., 235, 238f., 253, 255, 257, 276, 278f. Auferstehung (-slehre) 2f., 11f., 14, 39, 41, 44f., 48f., 56f., 65, 67, 71, 80, 83f., 85-148, 149, 155f., 158, 163, 165, 173, 195f., 200, 205, 214, 217, 224, 229, 238f., 241, 243, 251, 259, 262, 276, 278f. Azhar (Universität) 2, 12, 23, 38, 61, 82f., 107, 109f., 286 Bagdad 17, 40, 66 Bayḍāwī, ʿAbdallāh b. ʿUmar 17f., 38, 51, 53, 65f., 70, 91, 93, 100, 105, 109, 111, 113, 123, 140, 147, 177, 196, 211, 278, 285 Chorasan 16, 20f., 26, 43, 54, 63 Demokrit 264f., 267f., 271 Ḍirār b. ʿAmr 40, 136, 144, 164 Elder, Edgar 58f., 61, 71, 96, 98, 175f., 188, 207, 287 Empedokles 265, 270f., 280 Ess, Josef van 4, 10f., 24f., 30, 33f., 40f., 48, 50, 58f., 62, 64, 67f., 86, 90, 92, 98, 100, 105, 123f., 129, 136, 140, 142f., 148,
154, 156, 160, 162, 165, 172, 190f., 193, 195, 223, 247, 287f. Fārābī, Abū an-Naṣr 8, 45, 121, 125, 263, 287 Ġazālī, Abū Ḥāmid 3, 17, 38f., 44, 47f., 59, 62f., 66, 83, 87, 89, 93, 110, 116f., 199, 204, 243, 251, 254, 272f., 278, 285, 288 Ġazān, Il-Khān 17f., 68 Glaubensbekenntnis 2, 13, 26, 37, 57-62, 85, 165, 254, 280 Grabesstrafe 91, 94f., 142f., 148, 152f., 280 Ǧubbāʿī, ʿAbd al-Wahhāb 40f., 66, 137, 163, 168 Ǧurǧānī, ʿAlī b. Muḥammad 12, 28f., 32f., 71, 78, 281 Ǧuwaynī, Imām al-Ḥaramayn 4, 39f., 53, 62f., 127, 144, 162, 205, 211, 219, 222, 235, 237, 278, 280, 285 Ḥawḍ (Wasserbecken im Jenseits) 91, 97, 279 Himmel (-sphären) 78, 98, 102, 127, 136, 140f., 151, 206, 232, 243, 246f., 249, 253, 262, 265f., 274 Hölle (Höllenfeuer) 137, 139f., 151f., 159, 163, 183, 210, 219, 233, 238 Ibn Fūrak, Abū Bakr 41, 91f., 104, 196, 223, 253, 259, 285 Ibn Kullāb 41, 253, 287 Ibn Sīnā, Avicenna 5, 8f., 14, 17, 35, 38f., 44f., 64, 66, 83, 93f., 101f., 107, 111, 114, 116, 119f., 131, 134, 139f., 167, 170, 173, 199, 214, 221, 229, 242, 248f., 260, 263, 273, 276, 278f. Īǧī, ʿAḍud ad-Dīn 4f., 11, 13f. 17f., 23f., 38, 50, 61f., 64, 67f., 82, 91, 93, 100, 105, 111, 113f., 123, 128f., 131, 135f., 144, 148, 161, 164, 177, 196f., 203f., 211, 219, 222, 229f., 237f., 240, 242, 257, 262f., 268f., 278f., 285
294
Register
Il-Khān (-iden) 17f., 21, 26, 66, 68f. Istiṭāʿa (Handlungsvermögen) 160, 162, 165, 180f., 183f., 187, 196, 218, 223f., 242 Jenseits (-orte, -schicksal) 7, 11, 39, 41, 47, 56, 59, 70, 76, 79f., 83f., 94f., 103f., 113, 117, 119, 124, 135f., 138f., 142, 144, 146f., 153f., 158, 160, 164, 181, 196, 205, 211, 217, 226, 233, 237f., 240f., 243, 278f., 283 Kaʿbī, Abū l-Qāsim 40, 116, 130, 184, 191f., 194, 236 Kairo 2f., 12, 61 Karrāmīya 54, 117, 165, 191, 287 Kart, Muʿizz ad-Dīn 16, 19, 26f., 34 Kasb (Aneignung) 164, 176, 179, 199, 213, 224, 238, 279 Koran 8, 11, 14f., 36, 41f., 48, 50f., 67, 69f., 72f., 85f., 93, 95, 99, 101, 103f., 112, 119f., 125f., 130, 132f., 143-162, 164, 167, 169f., 175, 177, 181f., 187f., 191, 193, 206, 208f. 225, 228, 232f., 243f., 256, 258, 262, 276f., 279f., 286f. Korankommentar 14, 34, 36f., 50f., 63, 66f., 105, 155, 169, 184, 247, 280 Lebensunterhalt (rizq) 80, 191f., 236 Logik 2f., 13, 24, 27, 33, 35, 44, 48, 63f., 81f., 94, 223, 255, 289f. Maʿād (Arabisch für Auferstehung) 47, 80, 86, 91, 93f., 101f. 114f., 120f.,138, 152, 196, 278f. Madelung, Wilferd 2, 7f., 12f., 22f., 26f., 30, 34f., 41f., 47, 59, 65, 72, 81f., 107, 162, 287 Marquard, Odo 9, 290 Māturīdī, Abū Manṣūr 13, 43f., 51, 59f., 97, 165f., 171, 180f., 186f., 223, 233, 254, 258, 279 Māturīdīya 5f., 38f., 41, 43f., 60, 83, 165f., 171, 176, 195, 255, 257, 279 Mohammad (Prophet) 16, 55, 58, 80, 85, 87f., 94, 106, 120, 158, 194, 211, 219, 233 Muʿtazila - Muʿtaziliten 5, 38f., 45, 52, 79f., 83, 97, 108, 116, 119f., 129f., 136f., 144, 157, 161f., 168, 170f., 176, 180, 182, 189,
191f., 197, 208, 211, 215, 217, 220f., 225f., 229f., 234f., 253, 278, 280 Nasafī, Abū l-Muʿīn 51, 57f., 173f., 179f., 186f., 190, 192, 217f., 278f., 285 Nasafī, Naǧm ad-Dīn 3, 13, 26, 37, 57f., 98, 166, 171f., 175f., 178, 180, 184f., 190f., 218, 254f., 261f., 276, 278 Naẓẓām, Abū Isḥāq 40, 129, 154, 194 Offenbarung 2, 8, 11f., 15f., 41f., 46, 50f., 55, 63, 67, 79f., 91f., 106, 108, 120, 130, 132, 136, 138, 140, 147f., 157, 159, 161, 169f., 177, 187, 205f., 210f., 216f., 219, 222, 225, 227f., 235, 238f., 243, 252, 260, 279, 283 Platon 75, 251, 272 Plotin, Neuplatonismus 12, 44, 102, 167, 248, 265, 290 Prophetie 2, 7, 55, 67, 80, 92f., 103, 231, 234 Qadarīya 161f., 178, 198, 210, 220, 222, 227, 229f., 239 Qudra (Handlungsvermögen) 68, 162, 167f., 180f., 188, 197, 199f., 204, 221f., 226, 239, 242, 255, 257, 259, 261, 276, 283 Rāzī, Faḫr ad-Dīn 3f., 17, 38, 44f., 49f., 54, 59, 62f., 72, 91, 93, 100, 103f., 111f., 117f., 123, 127f., 136, 139, 143f., 146, 155, 157, 164f., 175, 177, 183f., 189, 196, 198, 203f., 212, 214, 219f., 250, 258, 263f., 278, 282, 285f., 291 Rhetorik 2, 24, 26, 28, 33f., 263, 283 Samarkand 2, 12, 16, 18f., 25, 27f., 31, 33, 35, 58, 63, 73, 135, 195, 279, 290 Samarqandī, Šams ad-Dīn 62f., 70, 115f., 123, 196, 204f., 211, 263f., 268f., 278, 285 Schiras 28, 66, 68f. Seele (Seelenlehre) 5,7, 44, 46, 63, 78, 87f., 93, 96, 101f., 107f., 116f., 121, 124, 126f., 140f., 149, 153f., 158, 164, 188, 213, 242, 249f., 278f., 282 Ṣirāṭ (Brücke im Jenseits) 88, 91, 97
Register Täbris 16f., 66f. Taftāzān 1, 21 Takwīn (Attribut des Erschaffens) 171, 176, 254f., 276, 279f., 283 Thales 264f., 268f., 280 Tiere 88, 124, 192f., 225, 237, 250 Timur 2, 14, 16f., 25, 27f., 135, 279, 281, 286, 288f. Todeszeitpunkt (aǧal) 191, 196, 236, 242 Ulus Tschagatai 18f. Vorsokratiker 8, 262, 264f., 270f., 275, 289f.
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Wahl (-möglichkeit beim Handeln) (iḫtiyār) 163, 165f., 171, 173f., 176, 178f., 190, 193f., 203f., 214f., 222, 228f., 259, 274, 276, 279 Wiederkehr aus dem Nichts 92, 108f. 114f., 125, 128, 152, 283 Zamaḫšarī, Ǧār Allāh 30, 34, 36, 51f., 97, 106, 133f., 137, 144f., 175, 182f., 206, 210, 219, 240, 280, 286 Zwang (ǧabr) 121, 164f., 169f., 179, 182, 189, 203f., 212, 220f., 224, 228f.