Intertextualität und die Entstehung des Psalters: Methodische Reflexionen - Theologiegeschichtliche Perspektiven 9783161563430, 9783161563447, 3161563433

In der Psalmenforschung hat in den letzten Jahrzehnten überkonfessionell und international eine Neuorientierung stattgef

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German Pages 236 [245] Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Alma Brodersen/ Friederike Neumann/ David Willgren: Einführung
Inhalt
Teil I: Methodische Reflexionen
Alma Brodersen: Quellen und Intertextualität. Methodische Überlegungen zum Psalterende
David Willgren: A Teleological Fallacy in Psalms Studies? Decentralizing the “Masoretic” Psalms Sequence in the Formation of the “Book” of Psalms
Johannes Bremer: Armentheologie und Intertextualität. Zum Zusammenspiel von Thema, Textbezügen und Entstehung des Psalters
Teil II: Theologische Perspektiven
Martin Leuenberger: Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76. Intertextuelle Befunde und redaktionsgeschichtliche Auswertungen
Friederike Neumann: Ein Loblied Jerusalems. Der theologiegeschichtliche Hintergrund von Psalm 147 und dessen Bedeutung für den Abschluss des Psalters
Markus Saur: Der gerechte König. Überlegungen zum Zusammenhang von Königspsalmen und Jhwh-König-Psalmen
Nancy Rahn: Reich Gottes in der Liturgie. Liturgische Kontextualisierungen von Psalm 145 als Zeugen seiner Intertextualitätsgeschichte
Teil III: Kompositorische Zusammenhänge
Bernd Janowski: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge
Kathrin Liess: „Und all sein Tun geschieht in Treue“ (Ps 33,4). Zur Komposition der Teilsammlung Psalm 25–34
Johannes Schnocks: Psalm 40 and the Construction of Individual and Collective Identity
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Stellenregister
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Intertextualität und die Entstehung des Psalters: Methodische Reflexionen - Theologiegeschichtliche Perspektiven
 9783161563430, 9783161563447, 3161563433

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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) ∙ Mark S. Smith (Princeton) Hermann Spieckermann (Göttingen) ∙ Andrew Teeter (Harvard)

114

Intertextualität und die Entstehung des Psalters Methodische Reflexionen – Theologiegeschichtliche Perspektiven Herausgegeben von

Alma Brodersen, Friederike Neumann und David Willgren

Mohr Siebeck

Alma Brodersen, geboren 1986; Studium der Ev. Theologie in Mainz, München und Oxford; 2016 Promotion in Oxford; seit 2019 Postdoktorandin und Assistentin am Institut für Altes Testament der Theologischen Fakultät der Universität Bern. orcid.org/0000-0002-3350-8869 Friederike Neumann, geboren 1982; Studium der Ev. Theologie in Göttingen und Jerusalem; 2015 Promotion in Göttingen; seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Altes Testament der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. orcid.org/0000-0001-5543-3530 David Willgren, geboren 1983; Studium der Theologie an der Örebro School of Theology; 2016 Promotion in Lund; seit 2016 Lecturer an der Akademi för Ledarskap och Teologi und der Örebro School of Theology; seit 2019 Postdoktorand an der Umeå University. orcid.org/0000-0002-7523-7585

ISBN 978-3-16-156343-0 / eISBN 978-3-16-156344-7 DOI 10.1628/978-3-16-156344-7 ISSN 1611-4914 / eISSN 2568-8367 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Minion gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Vorwort In der wissenschaftlichen Forschung kommt es von Mal zu Mal vor, dass ein und dasselbe Thema unabhängig an verschiedenen Orten und von verschiedenen Personen gleichzeitig bearbeitet wird. Einen solchen Fall erlebten wir bei der Arbeit an unse­ ren Dissertationen in Oxford, Göttingen und Lund, die 2015/16 unabhängig von­ einander abgeschlossen wurden und die sich alle auf unterschiedliche Weise mit dem Werden der Endgestalt des Psalters beschäftigten. Umso mehr freut es uns, dass wir die Spannung zwischen den verschiedenen Arbeiten gemeinsam in einen produktiven Austausch umsetzen konnten. Dieser produktive Austausch fand in einer internationalen Konferenz, die unter dem Titel „Intertextualität und die Entstehung des Psalters“ am 13. und 14. April 2018 an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand, seinen ersten öffentlichen Ausdruck. Unser besonderer Dank gilt Dr. Nancy Rahn und Dr. Johannes Bremer, die mit uns die Konferenz initiiert und organisiert haben. Ebenso danken wir Prof. Dr. Friedhelm Hartenstein für seine Unterstützung und Mitwirkung bei der Konferenz (sein Beitrag zur Entstehung der Komposition Ps 15–24 wird gesondert publiziert). Sehr herzlich danken wir allen Referentinnen und Referenten, die mit uns die Diskussion um Intertextualität und die Entstehung des Psalters weitergeführt und mit ihrer Forschungserfahrung bereichert haben. Der vorliegende Band enthält nun die für die Veröffentlichung überarbeiteten Vorträge. Die Finanzierung der Konferenz wurde ermöglicht durch die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Graduate School Distant Worlds der LudwigMaximilians-Universität München, das Doktoratsprogramm der Theologischen Fakultäten der Universitäten Basel, Bern und Zürich und das Mentoring-Programm der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die Unterstützung bei der Durchführung der Konferenz danken wir Katharina Schäfer und Leonie Wingberg und für alle Hilfe bei der Erstellung des Bandes danken wir Isabella Reinmold und Dorothea von Böhlen sehr herzlich. Den Herausgebern der Reihe „Forschungen zum Alten Testament“ und den Mitarbeitenden des Verlags Mohr Siebeck gilt unser großer Dank für die Möglichkeit, die Ergebnisse der Konferenz und die produktive Spannung neuester Psalmenforschung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im August 2019

Alma Brodersen / Friederike Neumann / David Willgren

Inhalt Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �   V Alma Brodersen / Friederike Neumann / David Willgren Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �   1

Teil I: Methodische Reflexionen Alma Brodersen Quellen und Intertextualität. Methodische Überlegungen zum Psalterende  . . . . �   7 David Willgren A Teleological Fallacy in Psalms Studies? Decentralizing the “Masoretic” Psalms Sequence in the Formation of the “Book” of Psalms  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �   33 Johannes Bremer Armentheologie und Intertextualität. Zum Zusammenspiel von Thema, Textbezügen und Entstehung des Psalters  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �   51

Teil II: Theologische Perspektiven Martin Leuenberger Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76. Intertextuelle Befunde und redaktionsgeschichtliche Auswertungen  . . . . . . . . . . �   75 Friederike Neumann Ein Loblied Jerusalems. Der theologiegeschichtliche Hintergrund von Psalm 147 und dessen Bedeutung für den Abschluss des Psalters  . . . . . . . . . . �   93 Markus Saur Der gerechte König. Überlegungen zum Zusammenhang von Königspsalmen und Jhwh-König-Psalmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 119 Nancy Rahn Reich Gottes in der Liturgie. Liturgische Kontextualisierungen von Psalm 145 als Zeugen seiner Intertextualitätsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 137

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Inhalt

Teil III: Kompositorische Zusammenhänge Bernd Janowski „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 155 Kathrin Liess „Und all sein Tun geschieht in Treue“ (Ps 33,4). Zur Komposition der Teilsammlung Psalm 25–34  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 185 Johannes Schnocks Psalm 40 and the Construction of Individual and Collective Identity  . . . . . . . . . . � 207 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 221 Stellenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 223

Einführung Alma Brodersen/​Friederike Neumann/​David Willgren Die Psalmenforschung hat in den letzten Jahrzehnten eine neue Richtung eingeschlagen: Psalmenexegese wird ergänzt durch Psalterexegese. Die Psalterexegese bezieht sich auf die Auslegung des hebräischen masoretischen Psalters als zusammenhängendes Buch. Die diachrone Psalterexegese versucht dabei insbesondere Linien der Entstehung des Psalters nachzuvollziehen. Diese Forschungsrichtung wurde in den letzten Jahrzehnten prominent durch Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger vertreten, etwa in den Kommentarreihen „Neue Echter Bibel“ und „Herders Theologischer Kommentar“. In neuesten Monographien wurde diese Richtung zum einen weiterentwickelt, zum anderen aber auch unter der Frage nach dem Verhältnis des masoretischen Textes zu den Psalmen in Qumran und in der Septuaginta problematisiert. Beispielhaft sind hier die Arbeiten von Friederike Neumann, „Schriftgelehrte Hymnen“ (2016), auf der einen Seite sowie von David Willgren, „The Formation of the ‚Book‘ of Psalms“ (2016), und Alma Brodersen, „The End of the Psalter“ (2017), auf der anderen Seite zu nennen. Ergänzt wird die neueste Forschung an den Psalmen durch sozio-ökonomische Studien, etwa „Wo Gott sich auf die Armen einlässt“ (2014) von Johannes Bremer, und rezeptionsgeschichtliche Arbeiten wie „Ein Königtum aller fernsten Zeiten“ (2020) von Nancy Rahn. Alle diese Arbeiten zeigen das aktuelle Interesse an der Frage nach der Entstehung des Psalters und nach seiner Komposition und Intention. Dabei werden aber nicht nur einheitliche Ergebnisse präsentiert, sondern es zeigen sich durchaus auch Kontroversen im Hinblick auf die Zugangsweisen sowie im Hinblick auf die Erträge. Das Ziel dieses Bandes ist es, diese Kontroversen produktiv zu nutzen, um weitere Impulse für das Feld der Psalmenforschung zu erzeugen. Von besonderer Bedeutung sind dabei Fragen zu Intertextualität, Redaktion und Entstehung des Psalters. Diese Fragen werden in drei zusammenhängenden Teilen behandelt: „Methodische Reflexionen“, „Theologische Perspektiven“ und „Kompositorische Zusammenhänge“. Der Band beginnt im ersten Teil „Methodische Reflexionen“ mit grundlegenden methodischen Überlegungen zum Umgang mit historischen Quellen in der Psalmenforschung. Alma Brodersen zeigt in „Quellen und Intertextualität. Methodische Überlegungen zum Psalterende“, warum die Wahl unterschiedlicher Quellen und Methoden zur Feststellung von Intertextualität zu divergierenden Forschungsergebnissen führt. David Willgren stellt in „A Teleological Fallacy in Psalms Studies? Decentral-

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Alma Brodersen/Friederike Neumann/David Willgren

izing the ‚Masoretic‘ Psalms Sequence in the Formation of the ‚Book‘ of Psalms“ die Rolle der masoretischen Psalmenreihenfolge in ein neues Licht, indem er die Varianz von Paratexten in den ältesten Psalmenhandschriften aufzeigt. Johannes Bremer analysiert in „Armentheologie und Intertextualität. Zum Zusammenspiel von Thema, Textbezügen und Entstehung des Psalters“ das Verhältnis von Synchronie und Diachronie anhand von intertextuellen Bezügen der Armentheologie und ihrer Verbindung mit sozio-ökonomischen historischen Hintergründen der achämenidischen und hellenistischen Zeit. Im zweiten Teil „Theologische Perspektiven“ werden zwei in den Psalmen zentrale Themen behandelt: Zion/​Jerusalem und das Königtum Gottes. Das Thema Zion/​ Jerusalem behandeln Martin Leuenberger in „Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76. Intertextuelle Befunde und redaktionsgeschichtliche Auswertungen“ und Friederike Neumann in „Ein Loblied Jerusalems. Der theologiegeschichtliche Hintergrund von Psalm 147 und dessen Bedeutung für den Abschluss des Psalters“. Die Beiträge, von Leuenberger zu den Psalmen 46, 48 und 76 im 4. Jh. v. Chr. und von Neumann zu Psalm 147 im 3. Jh. v. Chr., zeigen dabei jeweils die theologische Bedeutung von Zion/​Jerusalem im Kontext von Psalmen- und Psalterkomposition sowie im Hinblick auf die Entstehung des Psalters auf. Markus Saur in „Der gerechte König. Überlegungen zum Zusammenhang von Königspsalmen und Jhwh-KönigPsalmen“ und Nancy Rahn in „Reich Gottes in der Liturgie. Liturgische Kontextualisierungen von Psalm 145 als Zeugen seiner Intertextualitätsgeschichte“ widmen sich dem Thema des Königtums Gottes. Saurs Beitrag nimmt dabei die Zusammenhänge königstheologischer Texte im Psalter in den Blick; Rahns Beitrag lenkt den Blick über den Psalter hinaus auf jüdische und christliche gottesdienstliche Rezeptionen des Königtums Gottes in Psalm 145. Im dritten Teil „Kompositorische Zusammenhänge“ wird das erste Buch des masoretischen Psalters (Psalm 1–41) an drei Beispielen näher beleuchtet. Bernd Janowski in „‚Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?‘ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge“ zeigt, wie Psalm 8 als Hoffnungsbotschaft inmitten von Klage- und Bittgebeten einen Höhepunkt der Psalmengruppe 3–14 darstellt. Kathrin Liess in „‚Und all sein Tun geschieht in Treue‘ (Ps 33,4). Zur Komposition der Teilsammlung Psalm 25–34“ erläutert den Aufbau und die diachrone Entwicklung der Psalmen 25–34. Johannes Schnocks zeichnet in „Psalm 40 and the Construction of Individual and Collective Identity“ die Entstehung von Psalm 40 als Teil der Psalmengruppe 35–41 am Ende des ersten Buches des Psalters nach. Zusammengenommen zeigen die Beiträge des Bandes übergreifende Themen, die – wie auch die Schlussdiskussion der zugrundeliegenden Konferenz zeigte – für die weitere Diskussion zu Intertextualität und der Entstehung des Psalters von besonderer Bedeutung sind.



Einführung3

In der alttestamentlichen Forschung hat der Begriff Intertextualität mehrere Verwendungsmöglichkeiten.1 Intertextualität kann leserorientiert gebraucht werden, etwa in rezeptionsgeschichtlichen Studien. Hier werden Bezüge, die durch die Lesenden von Texten in ihrer jeweiligen Zeit entstehen, betrachtet.2 In Bezug auf die Entstehung des Psalters liegt aber meist eine autorenzentrierte Verwendung des Begriffs Intertextualität vor. Hier werden Bezüge zur Entstehungszeit des Textes in den Blick genommen. Bei einer autorenzentrierten Intertextualität sind drei Ebenen zu beachten: Bezüge zwischen Texten können zufällig (auf Alltagswissen basierend), traditionsgeschichtlich (auf einer bestimmten Traditionsprägung einschließlich Textgattungen basierend) oder verfasserintendiert (mit einem absichtlichen Bezug zu einem konkreten anderen Text) sein.3 Während bei verfasserintendierten Bezügen klare Text-Text-Bezüge vorliegen (von jüngeren zu älteren oder zwischen gleichzeitig entstandenen Texten),4 kann es auch Thema-Thema-Bezüge zwischen Texten geben. Themen sind häufig textlich verfasst und Texte häufig themengebunden, so dass eine klare Trennung zwischen Text-Text- und Thema-Thema-Bezügen nicht möglich ist. Dies gilt insbesondere für Traditionsliteratur. Bei thematischen Bezügen zwischen Texten ist daher im Einzelfall zu klären, ob sie als traditionsgeschichtlich oder verfasserintendiert erklärbar sind. Neben dem oft gebrauchten Begriff „Schriftgelehrsamkeit“, der die Präsenz von verfasserintendierten Text-Text-Bezügen impliziert, ist „Traditionswissen“ ein hilfreicher Begriff, der Thema-Thema-Bezüge sowie die antik zentrale Bedeutung von mündlicher Weitergabe mit einschließt. Das Spannungsfeld von schriftlicher und mündlicher Tradition zeigt sich in neueren Publikationen zur zentralen Bedeutung der Mündlichkeit5 und einer professionellen Schriftpraxis6 für die Überlieferung von Texten der hebräischen Bibel. Schriftgelehrsamkeit muss nicht nur als professionelle Schreibergelehrsamkeit verstanden werden, sondern kann auch eine Textvertrautheit durch außerprofessionelle mündliche Tradition meinen, wobei sich diese beiden Möglichkeiten nicht ausschließen. Zu beachten ist ferner, dass verschiedene Gruppen dafür verantwortlich gewesen sein können, Traditionen weiterzugeben.7 Insgesamt erscheint es wichtig, die historischen Hintergründe der Entstehung des Psalters weiter zu erhellen.8

1  Vgl. zur Verwendung des Begriffs Intertextualität in der alttestamentlichen Forschung Miller, Intertextuality. 2  Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Rahn (bes. Abschnitt 1). 3  Vgl. in diesem Band den Beitrag von Leuenberger (bes. Abschnitt 2.2.2 und 2.2.3). Die „konzeptionelle Intertextualität“ im Beitrag von Saur in diesem Band (bes. Abschnitt 4) lässt sich der zweiten Ebene traditionsgeschichtlicher Bezüge zuordnen. 4  Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Brodersen (bes. Abschnitt 3). 5  Vgl. beispielsweise Carr, Tablet. 6  Vgl. u. a. insgesamt die Studie Schmid, Traditionsliteratur, bes. 35–60. 7  Vgl. z. B. Hossfeld/Bremer/Steiner (Hg.), Trägerkreise. 8  Vgl. in diesem Band die Beiträge von Bremer (bes. Abschnitt 4) und Neumann (bes. Abschnitt 3.1).

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Alma Brodersen/Friederike Neumann/David Willgren

Eine synchrone Lesung des masoretischen Psalters wird häufig als Grundlage für die Forschung zur Entstehung des Psalters gewählt. Eine solche Lesung zeigt thematische Bögen und Wortgleichheiten auf, die auf eine absichtliche Komposition von Psalmengruppen und des Gesamtpsalters hindeuten. Zu fragen bleibt in jedem Einzelfall, ob die betreffenden Psalmengruppen bereits von denselben Autoren verfasst wurden, ob sie erst später von Redaktoren zusammengestellt wurden, und/oder ob es Veränderungen, Ergänzungen und Neuschreibungen von Psalmen bei der Komposition gab.9 Zu beachten bleibt, dass in antiken Handschriften der masoretische Psalter als Buch nicht belegt ist, und es vielmehr unterschiedliche Kompositionen von Psalmenabfolgen gibt.10 Die drei Hauptthemen des vorliegenden Bandes – Methode, Theologie und Komposition – sind grundlegend miteinander verbunden und beeinflussen die gesamte Interpretation des Psalters. Der Band präsentiert durch die verschiedenen Aufsätze ein breites Spektrum von Fragen der aktuellen Psalmenforschung. Die Veröffentlichung möchte sich somit in die aktuellen Diskussionen einreihen und dazu beitragen, den weiteren Austausch über Intertextualität und die Entstehung des Psalters in seinen verschiedenen Dimensionen zu bereichern.

Literatur Bremer, J., Wo Gott sich auf die Armen einlässt. Der sozio-ökonomische Hintergrund der achämenidischen Provinz Yəhūd und seine Implikationen für die Armentheologie des Psalters, BBB 174, Göttingen 2016. Brodersen, A., The End of the Psalter. Psalms 146–150 in the Masoretic Text, the Dead Sea Scrolls, and the Septuagint, BZAW 505, Berlin/​Boston 2017. Carr, D. M., Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005. Hossfeld, F.‑L./​Zenger, E., Psalm 1–50, NEB 29, Würzburg 1993. –/​–, Psalmen 51–100, HThKAT, Freiburg u. a. 2000. –/​–, Psalmen 101–150, HThKAT, Freiburg u. a. 2008. Hossfeld, F.‑L./Bremer, J./Steiner, T. M. (Hg.), Trägerkreise in den Psalmen, BBB 178, Göttingen/​Bonn 2017. Miller, G. D., Intertextuality in Old Testament Research, in: CBR 9 (2011), 283–309. Neumann, F., Schriftgelehrte Hymnen. Gestalt, Theologie und Intention der Psalmen 145 und 146– 150, BZAW 491, Berlin/​Boston 2016. Rahn, N., „Ein Königtum aller fernsten Zeiten“. Studien zu Text und Kontexten von Ps 145 und seiner Bedeutung für die Rezeptionsgeschichte des „Reiches Gottes“, HBS 94, Freiburg 2020. Schmid, K., Schriftgelehrte Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftaus­legung im Alten Testament, FAT 77, Tübingen 2011. Willgren, D., The Formation of the ‚Book‘ of Psalms. Reconsidering the Transmission and Canonization of Psalmody in Light of Material Culture and the Poetics of Anthologies, FAT II/88, Tübingen 2016. 9  Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von Janowski (bes. Abschnitt 2), Liess (bes. Abschnitt 4) und Schnocks (bes. Abschnitt 5). 10  Vgl. in diesem Band den Beitrag von Willgren (bes. Abschnitt 3).

Teil I: Methodische Reflexionen

Quellen und Intertextualität Methodische Überlegungen zum Psalterende Alma Brodersen 1. Das Psalterende: Die Psalmen 146–150 1.1 Widersprüchliche Forschungsergebnisse Zu den Psalmen 146–150, die am Ende des masoretischen Psalters stehen und häufig als „Schlusshallel“ oder „Kleines Hallel“ bezeichnet werden, sind 2016/17 unabhängig voneinander drei neue Monographien erschienen, deren Ergebnisse sich direkt widersprechen. Das Ergebnis der Untersuchung von Friederike Neumann in „Schriftgelehrte Hymnen“ (2016) lautet, „dass Ps 145 und die Psalmen des kleinen Hallels für den ihnen vorliegenden Psalter verfasst worden sind“.1 Meine eigene Untersuchung „The End of the Psalter“ (2017) kommt zum entgegengesetzten Schluss: „Psalms 146– 150 are originally separate texts. They were not originally written to end or frame the Psalter as a unit.“2 Ein ähnliches Ergebnis findet sich auch bei David Willgren in „The Formation of the ‚Book‘ of Psalms“ (2016): „I explicitly addressed the notion of Pss 145.146–150 as an intentional unified composition and concluded that in light of the attested artifactual variations, the arguments for such a notion were all quite unconvincing.“3 Was nun zeichnet die Psalmen 146–150 aus und wie kann es zu so unterschiedlichen Thesen kommen? 1.2 Die Psalmen 146–150 im masoretischen Text Die letzten fünf Psalmen des masoretischen Psalters, Ps 146–150, beginnen und enden alle mit ‫„ הללו יה‬Halleluja“.4 Ps 146–150 werden häufig als „Schlusshallel“5 oder „Kleines Hallel“6 (von hebräisch ‫„ הלל‬loben“) bezeichnet, da alle fünf Psalmen Lob 1 

Neumann, Hymnen, 429. Brodersen, End, 270. Ansätze dazu finden sich 2013 in dies., Bedeutung, 18. 3  Willgren, Formation, 281. 4  Zu Ps 146–150 als Psalterende vgl. ausführlicher Brodersen, End, 1–11. 5 So Ballhorn, Telos, 299 („Schlußhallel“); Leuenberger, Konzeptionen, 344.355 („Schlußhallel“); Zenger/​Hossfeld, Buch der Psalmen, 440 („Schlusshallel“); Hossfeld /​Zenger, Psalmen 101–150, 807 („Schluss-Hallel“, auch „Kleines Hallel“). 6 So Kratz, Schema῾, 632–633; Millard, Komposition, 144; Neumann, Hymnen, 3; We2 

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Alma Brodersen

enthalten.7 Das Schlusshallel wird häufig als zusammenhängende Einheit angesehen, die das Ende des gesamten Psalters bildet. Zusammen mit Ps 1–2 wird es auch oft als Rahmen des Psalters verstanden.8 Inhaltlich ist eine Einheit der Ps 146–150 aber nicht unmittelbar offensichtlich. Zwar enthalten alle fünf Psalmen Lob, aber auf doch recht unterschiedliche Weise. Eine kurze Zusammenfassung der fünf Psalmen könnte folgendermaßen lauten: Ps 146: Ich lobe Gott, er hilft Schwachen. Ps 147: Lobt Gott für die Wiederherstellung Jerusalems und seine Beherrschung der Natur! Ps 148: Alle Natur und alle Menschheit, lobt Gott! Ps 149: Israel, lobe Gott mit Musik, und übe gewaltsam Rache! Ps 150: Aller Atem, lobe Gott mit Musik!

1.3  Psalter­exe­gese Der Grund, Ps 146–150 trotz der inhaltlichen Unterschiede als Einheit zu sehen, liegt in der Methode der Psalter­exe­gese. Psalter­exe­gese bezeichnet allgemein die Auslegung von Psalmen im Kontext des Psalters, d. h. des hebräischen masoretischen Buchs der Psalmen. Die diachrone Psalter­exe­gese9 analysiert die Entwicklung des Psalters als komplexes Wechselspiel von Einzelpsalmen und Editionsprozessen. Jeder Psalm wird nicht nur als Einzeltext, sondern auch in seinem Kontext im Psalter interpretiert.10 Ein Hauptvertreter der diachronen Psalter­exe­gese, Erich Zenger, betont ausdrücklich, dass Psalter­exe­gese Psalmenexegese nicht ersetzt, sondern sie ergänzt und zusätzliche Bedeutungsschichten findet.11 Im speziellen Fall der Ps 146–150 ersetzt Zenger aber weitgehend Psalmenexegese durch Psalter­exe­gese. Er argumentiert, dass diese fünf Psalmen zu weiten Teilen für das Schlusshallel verfasst wurden12 und daher nur im ber, Werkbuch III, 200; Witte, Psalter, 416; Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 807 (auch „Schluss-Hallel“). 7  Die nur in der Bibelwissenschaft verwendeten Begriffe „Schlusshallel“ oder „Kleines Hallel“ unterscheiden Ps 146–150 vom „Ägyptischen Hallel“ Ps 113–118, dem „Großen Hallel“ Ps 136 und dem „Täglichen Hallel“ Ps 145–150, vgl. Millard, Art. Hallel, sowie den Beitrag von Rahn in diesem Band (Abschnitt 2). 8 Vgl. Hartenstein/​Janowski, Psalmen, 51; Lange, Endgestalt, bes. 111; Miller, End, 110; Scaiola, End, bes. 701–705; Weber, Werkbuch III, 28–43.200–212; Zenger, Der jüdische Psalter, bes. 99.104–105; ders., Psalter als Buch, bes. 31.35–40. Allerdings ist die Anzahl von zwei Psalmen am Anfang und fünf am Ende des Psalters ungleich, und manchmal werden nur Ps 1–2 und 149– 150 als Psalterrahmen angesehen, vgl. Barbiero, Psalmenbuch, 50–51; Loretz, Psalm 149.355; Witte, Psalter, 417, oder nur Ps 1 und 150, vgl. Brueggemann, Obedience, 68. 9  Zu synchroner und diachroner Psalter­exe­gese vgl. Brodersen, End, 2–3; Hossfeld  /​Steiner, Problems, bes. 247–249; Hossfeld, Synchronie, 235–238.246. 10 Vgl. Hartenstein, Recht, 229–236, bes. 235; Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 26– 27.35. 11 Vgl. Zenger, Einführung, 1–3; ders., Psalmenexegese, bes. 24–27.64: „Die Psalter­exe­gese will die Psalmenexegese nicht ersetzen, sondern baut auf ihr auf und führt sie weiter“ (64). 12  Zenger nimmt an, dass Ps 146; 147,1–11; 148,14; 149 und 150 von der Schlussredaktion des Psalters verfasst wurden, vgl. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 807–809. Ebenso stammen



Quellen und Intertextualität9

Kontext des Schlusshallels und nicht als Einzelpsalmen verstanden werden können.13 Auch andere Studien zeigen Gesamtergebnisse, nach denen die Ps 146–150 ursprünglich zusammenhängen: Egbert Ballhorn14 und Martin Leuenberger15 argumentieren für eine weitgehend gleichzeitige Entstehung dieser Psalmen; Friederike Neumann16 für eine sukzessive, aufeinander und auf den Gesamtpsalter bezogene Entstehung der Ps 146–150. Gemäß solcher Forschungsergebnisse wurden die Ps 146–150 weitgehend für das Psalterende verfasst und stehen im historischen Kontext des Endes der Entstehung des Psalters, speziell seiner Endredaktion, die um das 2. Jh. v. Chr. datiert wird.17 Daraus ergibt sich auch die Datierung der Einzelpsalmen 146–150 ins 2. Jh. v. Chr.18 Die drei Hauptbegründungen für einen ursprünglichen Zusammenhang der nach Zenger die Hallelujarahmen der Ps 146–150 von der Psalterschlussredaktion, vgl. a. a. O., 66; Zenger, Psalmenexegese, 61–64. 13  Vgl. z. B. Zenger zu Ps 149: „Der Psalm muss im Zusammenhang von Ps 145.146–150 gelesen werden, für den er verfasst wurde“ (Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 860–861). 14  Ballhorn geht von einer synchronen Lesung des Psalters aus, schließt aber immer wieder diachrone Schlussfolgerungen mit ein, vgl. Ballhorn, Telos, 18–19.28–29.32–33.36–37, bes. die Zusammenfassung 36–37: „Die Verfolgung der Leserichtung des Psalters … entspricht … auf diachroner Ebene auch weitgehend der Wachstumsrichtung des Buches“. Ps 146–150 sieht Ballhorn als späte Psalmen an, die teilweise für das Schlusshallel verfasst wurden an, vgl. a. a. O., 304.306 (Ps 146 schriftgelehrt, psalterzusammenfassend, spät), 310–311 (Ps 147 für das Schlusshallel zusammengestellt, Ps 147,12–20 jüngerer Teil), 327–330 (bes. 329: Ps 149 spät wie Ps 146–150). 15  Leuenberger nimmt die Redaktionsgeschichte des Psalters in den Blick, vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 6–7. Für Ps 146–150 schließt er, dass Ps 146; 147,1–11.20c; 148 (außer V. 14) und 150 von der Endredaktion des Psalters verfasst wurden, vgl. a. a. O., 347 (Ps 146 redaktionell), 350 (Ps 147,1–11.20c redaktionell), 352–353 (Ps 148 redaktionell außer V. 14), 356 (Ps 149 nachkompositionell zusammen mit Ps 148,14), 360 (Ps 150 redaktionell), 364 (Übersicht). Wie Zenger argumentiert Leuenberger also für die Identität von Verfassern und Redaktoren für über die Hälfte der fünf Psalmen am Psalterende – allerdings schließt er, im Gegensatz zu Zenger, dass Ps 148 (aber nicht V. 14), aber nicht Ps 149 redaktionell ist. 16  Neumann, Hymnen, 284 (zu Ps 148,6) sowie 432–444.470–477.481–483, argumentiert für eine sukzessive Fortschreibung von Ps 145; 146; 147; 148,1–5.7–13; 148,6.14; 149 und 150 in dieser Reihenfolge als literarischem Abschluss des Psalters. Ps 146–150 seien damit nicht als Gruppe, aber sukzessiv aufeinander bezogen für das Psalterende verfasst worden. Vgl. bes. a. a. O., 483: „Aufgrund der beobachteten Fortschreibungstendenz in der Psalmenabfolge 145–150, die sich an Wiederaufnahmen von Stichworten und an Weiterführungen von Themen festmachen lässt, ist von einer sukzessiven Entstehung dieser Psalmengruppe auszugehen. Dies widerspricht zugleich der Annahme einer von vornherein homogen komponierten Halleluja-Gruppe. Damit ist auch die These verbunden, dass mit Ps 145 und den Psalmen des kleinen Hallels ehemalige Abschlusstexte des Psalters vorliegen. Durch die Rezeption anderer Psalmen kommt so am Ende des Psalters sein gesamter Horizont in den Blick. Auch aus diesem Grund ist anzunehmen, dass die Psalmen 145.146–150 auf der Endtextebene vermutlich als letzte Texte dem Psalter zugefügt worden sind, der insgesamt als literarisches Produkt zu verstehen ist.“ 17 So Ballhorn, Telos, 327 (Ps 149 vor 100 v. Chr.), 330 („spätalttestamentlich/​früh­jüdisch[e] Datierung des Schlußhallel“); Leuenberger, Konzeptionen, 388–389 (Anfang 2. Jh. v. Chr.); Neumann, Hymnen, 475 (Anfang 2. Jh., um 200 v. Chr.); Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 809 (zwischen 200 und 150 v. Chr., ggf. schon 3. Jh. v. Chr.). 18 So Leuenberger, Konzeptionen, 388–389 („die letzte Phase vielleicht noch in den ersten Dezennien des 2. Jh.s v. Chr. … die nachkompositionelle Einschreibung [Ps] 149 … wohl kurz vor oder um die Mitte des 2. Jh.s v. Chr.“); Neumann, Hymnen, 475 („Die Endgestalt des Psalters kann da-

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Ps 146–150 sind Rahmen, Reihenfolge und intertextuelle Bezüge der Ps 146–150 im masoretischen Psalter:19 (1) Ps 146–150 beginnen und enden alle mit „Halleluja“, haben also einen gemeinsamen Halleluja-Rahmen. (2) Ps 146; 147; 148; 149; 150 stehen in dieser Anordnung ganz am Ende des Psalters. (3) Ps 146–150 enthalten intertextuelle Bezüge zueinander und zu gemeinsamen Bezugstexten (wie Jesaja oder Ps 104) durch gemeinsame Wörter und Themen. Alle drei Begründungen – Halleluja-Rahmen, Anordnung am Ende des Psalters und intertextuelle Bezüge – erweisen sich aber als problematisch, wenn man die folgenden methodischen Überlegungen zu Quellen und Intertextualität einbezieht.

2. Quellen 2.1 Masoretischer Text und Textkritik Die drei Begründungen beziehen sich ausschließlich auf den masoretischen Text als Quelle.20 Der masoretische Text (MT) ist die älteste vollständig erhaltene Quelle der hebräischen Bibel in ihrer Originalsprache.21 Die meisten Handschriften des masoretischen Texts stammen aus der Zeit ab dem 10. Jh. n. Chr.22 Dazu zählt die älteste vollständig erhaltene Handschrift der gesamten hebräischen Bibel, der Codex Leningradensis aus dem 11. Jh.,23 der die Grundlage der verbreiteten Edition der „Biblia Hebraica Stuttgartensia“ bildet.24 Die im 20. Jh. wiederentdeckten Qumranschriften (Q) mit für das beginnende 2. Jh. angenommen werden … Damit ergibt sich eine Abfassung der Psalmen 145–150 ebenfalls grob um 200 v. Chr.“); Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 822 („Datierung nicht nur von Ps 146, sondern der Schlussredaktion des Psalters, da Ps 146 ja von dieser Redaktion geschaffen wurde: diese muss demnach vor 100 v. Chr. erfolgt sein“). 19 Vgl. Ballhorn, Telos, 299 (masoretische Anordnung, Halleluja-Rahmen), 359 (masoretische Anordnung, intertextuelle Bezüge); Leuenberger, Konzeptionen, 346 (zudem Genre und Inhalt: „Das sog. kleine Hallel, die Psalterschlußkomposition 146–150, wird durch die gemeinsame Gattung, Stichwortverbindungen und insbes. das sich ins Unermeßliche weitende Sachgefälle eng zusammengehalten.“ [Hervorhebungen im Original]); Neumann, Hymnen, 22–26 (masoretische Anordnung, Halleluja-Rahmen, intertextuelle Bezüge, zudem Gattung), 444–449 (Halleluja-Rahmen), 481–483 (masoretische Anordnung, intertextuelle Bezüge); Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 807–810 (zudem Genre), bes. 807 („Es sind zwar fünf Einzelpsalmen mit je eigenem Textprofil, aber sie klingen in ihrer hymnischen Grundstimmung zusammen [es sind fünf imperativische Hymnen] und sind durch vielfältige Stichwortbezüge eng miteinander verwoben. Sie sind nicht durch Überschriften voneinander abgegrenzt, sondern durch das jeweils an ihrem Anfang und an ihrem Schluss positionierte ‚Hallelu-Ja‘ so zusammengebunden, dass sie – musikalisch gesprochen – eine fünfteilige Halleluja-Kantate bilden, deren Teile jeweils mit Halleluja beginnen und schließen“). Als Beispiel für gemeinsame andere Bezugstexte vgl. z. B. a. a. O., 814 (zu Ps 146); 827–828 (zu Ps 147). 20  Zu Quellen für Ps 146–150 vgl. ausführlicher Brodersen, End, 11–21. 21 Vgl. Fischer, Text, 51. 22 Vgl. Fischer, Text, 51; Tov, Textual Criticism, 24–26. 23 Vgl. Fischer, Text, 53–54; Tov, Textual Criticism, 45, sowie das Faksimile Freedman (Hg.), Leningrad Codex. 24 Vgl. Elliger/​Rudolph (Hg.), BHS, III. Zu Editionen der hebräischen Bibel allgemein vgl.



Quellen und Intertextualität11

sind über tausend Jahre älter,25 und auch die griechischen Handschriften der Septuaginta (LXX)26 sind um Jahrhunderte älter als die des masoretischen Texts.27 In der Textkritik ist nun für die hebräische Bibel allgemein umstritten, wie man mit diesen drei Textformen – dem masoretischen Text, den Qumranschriften und der Septuaginta – umgehen soll.28 Manche Forschende rekonstruieren einen gemeinsamen Urtext,29 andere lesen die Textformen separat und parallel.30 Speziell für den Psalter wird diskutiert, ob die große Psalmenrolle aus Qumran (11QPsa) und der Septuagintapsalter vom masoretischen Psalter abhängen: 11QPsa könnte vom masoretischen Text (bzw. seiner protomasoretischen Vorform) abhängen31 oder davon unabhängig sein.32 Für den Septuagintapsalter ist es wahrscheinlich, dass ein dem masoretischen Text ähnlicher Text übersetzt wurde,33 aber auch dies wird aufgrund von Unterschieden manchmal in Frage gestellt.34 Für die Ps 146–150 zeigen die Quellen der Qumranschriften und der Septuaginta einige auffällige Unterschiede zum masoretischen Text.

Tov, Textual Criticism, 344. Die BHS und der Codex Leningradensis bilden die Grundlage des hebräischen WTT‑Texts in BibleWorks. 25 Vgl. Berger, Qumran, 21–29; Lange, Art. Qumran, bes. 1873.1884. Der Begriff Qumranschriften wird hier für alle Textfunde vom Toten Meer verwendet. 26  Zum Namen Septuaginta und der Abkürzung LXX vgl. Ziegert/ ​K reuzer, Art. Septuaginta. 27 Vgl. Fischer, Text, 126–146, bes. 143; Tov, Textual Criticism, 132–133. 28  Eine Textform kann auf mehreren Handschriften überliefert sein, vgl. Ulrich, Editions, 91. Die Textform der Qumranschriften ist umstritten, vgl. Debel, Editions, 165–171. Der masoretische Text, die Qumranschriften und die Septuaginta bilden jedoch die Hauptquellen der Textkritik der hebräischen Bibel, vgl. Tov, Textual Criticism, 19. 29 Vgl. Fischer, Text, 200–201; Tov, Textual Criticism, 167–169.264–265, sowie die Edition „The Hebrew Bible. A Critical Edition“ (Fox, Proverbs), die in der Regel einen kritischen Obertext enthält. 30 Vgl. Tov, New Editions, 382–383; Ulrich, Editions, 98–99, sowie die Edition „Biblia Qumranica“ (Ego/​L ange/​Lichtenberger/​De Troyer [Hg.], Minor Prophets), die in parallelen Spalten mehrere Textformen nebeneinander enthält. 31 So Dahmen, Psalmen, 313–315; Jain, Psalmen, 278; Pajunen, Perspectives, 156. Dies wird auch von Forschenden vertreten, die einen ursprünglichen Zusammenhang der Ps 146–150 annehmen, vgl. Ballhorn, Telos, 336; Leuenberger, Konzeptionen, 15.20; Neumann, Hymnen, 451.483; Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 810. 32 So Sanders, Dead Sea Psalms Scroll, 12–14; ders., Qumran Psalms Scroll, 96–99; Flint, Psalms Scrolls, 226; Lange, Handbuch, 434–436; Mroczek, Imagination, 25–26.195, bes. 25 („the major scholarly consensus has become that 11QPsalmsa does indeed represent a scriptural collection. It is not secondary to an already existing authoritative Psalter, because no one such text had yet been established“); dies., Psalms, 46; ähnlich Wilson, Qumran, 388; dazwischen Willgren, Forma­ tion, 18.129–130 (Anordnung des MT nicht unbedingt älter), 383–384 (aber LXX‑Anordnung im 2. Jh. v. Chr. setzt doch weitgehend die Anordnung des MT voraus). 33 So Bons, Psalmoi, 750–751. 34 So Siegert, Bibel, 306–307; Debel, Editions, 173–190.

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2.2 Qumranschriften In den Qumranschriften sind Teile der Ps 146–150 auf 11QPsa, 4QPsd und MasPsb erhalten.35 Diese Handschriften werden auf etwa 50 v. Chr. bis 50 n. Chr. datiert36 und sind somit etwa tausend Jahre älter als die meisten Handschriften des masoretischen Texts. Die Ps 146–150 haben in den Qumranschriften keinen konsistenten HallelujaRahmen. Wo die Anfänge und Enden der Psalmen erhalten sind, fehlt zweimal (in Ps 148 und 150 in 11QPsa) das Halleluja am Anfang.37 Vor allem aber finden sich die Ps 146–150 in den Qumranschriften in völlig anderen Anordnungen: in 4QPsd ist die Reihenfolge Ps 147 → 104 zu finden,38 in 11QPsa auf Fragment E Ps 104 → 147 → 105,39 auf der Rolle selbst Ps 105 → 146 → 148 → 120 und Ps 143 → 149 → 150 → Hymn to the Creator und ganz am Ende Ps 151A, B.40 MasPsb enthält Ps 150 und wenige Buchstaben von Ps 147; das untere Ende des Fragments ist nicht erhalten.41 Die Reihenfolge der Psalmen unterscheidet sich somit auch innerhalb der Qumranschriften zwischen 4QPsd und 11QPsa (Ps 147 → 104 und 104 → 147). 2.3 Septuaginta Die griechische Septuaginta (LXX) ist die älteste vollständige Quelle für Ps 146–150. So sind etwa die ältesten Quellen der Göttinger Septuaginta für diese Psalmen, der Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jh. n. Chr.,42 um Jahrhunderte älter als der hebräische Codex Leningradensis aus dem 11. Jh. n. Chr.43 Die Übersetzung des Septuagintapsalters wird meist sogar ins 2. Jh. v. Chr. datiert44 und ist damit älter als die meisten Qumranschriften.45 Für die Ps 146–150 finden sich in der Septuaginta auffallende Unterschiede zum masoretischen Text. Ps 147 entspricht in der Septuaginta den beiden Psalmen 146LXX (= 147,1–11) und 147LXX (= 147,12–20);46 Ps 146–150 im masoretischen Text entspricht damit Ps 145–150LXX. In den Septuagin35  Vgl. für die Editionen und Faksimiles von 4QPsd Skehan/​Ulrich/​Flint, 4QPsd; von 11QPsa Sanders, Psalms Scroll, und ders., Dead Sea Psalms Scroll; von MasPsb Talmon, Fragments, 91–97. 4QPse enthält nicht Ps 147, 4QPsd.e nicht Ps 146, vgl. dazu Brodersen, End, 209.254– 256. 36 Vgl. Skehan/​Ulrich/​Flint, 4QPsd, 64 (4QPsd Mitte 1. Jh. v. Chr.); Sanders, Psalms Scroll, 9 (11QPsa erste Hälfte 1. Jh. n. Chr.); Talmon, Fragments, 92 (MasPsb 2. Hälfte 1. Jh. v. Chr.). 37 Vgl. Brodersen, End, 63.152. 38 Vgl. Skehan/​Ulrich/​Flint, 4QPsd, 63. 39 Vgl. Sanders, Dead Sea Psalms Scroll, 155–165. 40 Vgl. Sanders, Psalms Scroll, 5–6.54–64. 41 Vgl. Talmon, Fragments, 91–97. 42 Vgl. Rahlfs (Hg.), Psalmi, 10–11.333–339. 43  Siehe Anm. 23. 44 Vgl. Bons, Psalmoi, 752; Gzella, Lebenszeit, 49–52; Schaper, Eschatology, 44–45; Siegert, Bibel, 41–43; Williams, Date, bes. 263.276. 45  Siehe Anm. 25. 46  Brodersen, End, 202, argumentiert für eine sekundäre Trennung in der Septuaginta; nach Siegert, Bibel, 315, lagen dagegen den Septuagintaübersetzern zwei separate Psalmen vor.



Quellen und Intertextualität13

tapsalmen Ps 145–150LXX finden sich mit der Ausnahme von Ps 150LXX keine Hallelujas am Ende der Psalmen (im Gegensatz zu 11QPsa, wo sie am Anfang fehlen). Ps 145– 148LXX sind als eine Gruppe von vier Psalmen durch die gemeinsame Überschrift αλληλουια· Αγγαιου καὶ Ζαχαριου „Halleluja von Haggai and Sacharja“ verbunden. Die zwei Psalmen 149–150LXX haben die gemeinsame Überschrift αλληλουια „Halleluja“ – allerdings in Ps 149LXX nur als Überschrift, in Ps 150LXX auch am Ende und damit als Rahmen. Am Ende der Abfolge der sechs Psalmen 145–150LXX steht (wenn auch als „außerhalb der Zahl“ gekennzeichnet) in der Septuaginta stets Ps 151LXX (wie ähnlich am Ende von 11QPsa).47 2.4 Fazit Der masoretische Text ist damit die einzige der drei ältesten Quellen, in der Halleluja-Rahmen und Anordnung der Ps 146–150 eine zusammenhängende Gruppe von fünf Psalmen am Psalterende kennzeichnen. Möglich ist das sonst nur für die Handschrift MasPsb, die aber zu fragmentarisch ist, um dies zu bestätigen.48 In den ältesten erhaltenen Quellen von Ps 146–150 werden die fünf Psalmen also weder durch einen Rahmen noch durch ihre Anordnung verbunden, aber die Einzelpsalmen existieren sehr wohl. Dieser Quellenbefund stellt in Frage, ob Ps 146–150 ursprünglich zusammenhängen. Zumindest wurden jedenfalls Halleluja-Rahmen und Anordnung nicht als unverzichtbarer Bestandteil der Ps 146–150 angesehen,49 so dass eine Auslegung als Einzeltexte und in anderen Kontexten als Ps 146–150 möglich gewesen sein muss. Methodische Überlegungen zu Quellenauswahl und Textkritik haben somit große Auswirkungen auf Schlussfolgerungen zur Entstehung der Psalmen.

3. Intertextualität 3.1 Stichwortverbindung als Kriterium Zusätzlich zu Reihenfolge und Rahmen bilden intertextuelle Bezüge ein Hauptargument für den ursprünglichen Zusammenhang von Ps 146–150. Intertextualität meint dabei von den Autoren beabsichtigte Text-Text-Bezüge.50 47 Vgl. Rahlfs (Hg.), Psalmi, 339: ἔξωθεν τοῦ ἀριθμοῦ „außerhalb der Zahl“ in Ps 151,1LXX. Vgl. zur Qumran- und LXX‑Fassung von Ps 151 Dahmen, Psalmen, 257–265; Salvesen, Psalm 151, 862; Sanders, Psalms Scroll, 54–64, Plate XVII. 48 Vgl. Brodersen, End, 65; Jain, Psalmen, 211–216, bes. 214 Anm. 549. 49 Auch Neumann, Hymnen, 449, stellt für die Septuaginta und 11QPsa fest: „Die HallelujaRahmung wird demnach durchgehend als sekundäres Element wahrgenommen.“ 50  Vgl. zu autorenzentrierter (diachroner) im Unterschied zu leserzentrierter (synchroner) Intertextualität Miller, Intertextuality, 283–288. Autorenzentrierte Intertextualität beschreibt in der Regel diachrone Bezüge von jüngeren auf ältere Texte, vgl. a. a. O., 284, kann aber auch Bezüge zu gleichzeitig durch dieselben Autoren entstandenen Texten einschließen, z. B. nennt Leuenberger, Konzeptionen, 308, u. a. die Ps 146–148.150 „die redaktionell gleichzeitigen Texte“. Siehe zu Intertextualität auch die Einführung von Brodersen/​Neumann/​Willgren in diesem Band.

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Zu den Ps 146–150 werden manchmal Texte, die ähnliche Wörter oder Themen haben, ohne klare methodische Begründungen einfach aufgelistet. Ein Paradebeispiel für den masoretischen Text findet sich im Psalmenkommentar von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger. Hier finden sich lange Listen von Bibelstellen, die zum Teil gar keine Begründung für einen intertextuellen Bezug, zum Teil nicht methodisch erläuterte gemischte Begründungen wie beispielsweise „Stichwortbeziehungen“, „Motivverwandtschaft“ oder einfach „Anspielung“ enthalten.51 Für die Septuaginta gibt es ähnliche, allerdings ausdrücklich vorläufige unkommentierte Listen möglicher intertextueller Bezüge in Eberhard Bons’ Übersetzung der Psalmen in der „Septuaginta Deutsch“.52 Auch andere Forschende nennen listenhaft intertextuelle Bezüge ohne oder mit nicht methodisch erläuterten gemischten Begründungen, etwa John S. Kselman und Joseph Reindl für Ps 146.53 Wo für dasselbe Argument eines ursprünglichen Zusammenhangs von Ps 146– 150 aufgrund von intertextuellen Bezügen klare methodische Begründungen gegeben werden, ist das entscheidende Kriterium für einen intertextuellen Bezug stets die sogenannte „Stichwortverbindung“, d. h. das Vorkommen gleicher Wörter. So nennt Ballhorn speziell die concatenatio, die Verkettung zweier im Psalter aufeinanderfolgender Psalmen, durch Stichwortverbindungen.54 Leuenberger nennt ebenfalls Stichwortverbindungen (der Begriff wird hier synonym mit concatenatio auch für nicht aufeinanderfolgende Psalmen verwendet) als Kriterium für absichtlich geschaffene Text-Text-Bezüge,55 wobei zusätzlich „Häufigkeit, Länge und Eigenprofil der Sequenz, die Position im Text sowie das inhaltliche Gewicht der in Frage stehenden Ausdrücke zu beachten“56 seien. Neumann nimmt „gemeinsame Lexeme, Wörter und Wortverbindungen in mindestens zwei Texten, andernorts auch als Stichwortverbindung bezeichnet“57 als Kriterium für intertextuelle Bezüge an, wobei Seltenheit oder Häufigkeit der Verbindungen sowie die Untersuchung der Abhängigkeitsrichtung zu beachten seien.58 3.2 Erweiterte Kriterien Dagegen kritisiert Willgren Stichwortverbindungen als unzureichendes Werkzeug zur Feststellung intertextueller Bezüge.59 Er bezieht in seine Kriterien für die Feststel51 

Vgl. z. B. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 814.827–828.861. Bons (Hg.), Psalmoi, 894–898, zusammen mit der Erläuterung in Kraus/​K arrer, Einführung, XXII. 53 Vgl. Reindl, Gotteslob, 123–125 (Begründungen z. B. „Anklänge“, „ähnlich formuliert“, „nur inhaltliche Entsprechung“); Kselman, Psalm 146, 589 (ohne Begründungen). 54 Vgl. Ballhorn, Telos, 16.28–29. 55 Vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 36–37. 56  Leuenberger, Konzeptionen, 37. 57  Neumann, Hymnen, 24. 58 Vgl. Neumann, Hymnen, 24–25. 59  Willgren, Formation, 277: „the actual basis for regarding Pss 146–150 as a unified collec52 Vgl.



Quellen und Intertextualität15

lung intertextueller Bezüge auch syntaktische Ähnlichkeit mit ein,60 wobei allerdings zu Ps 146–150 eine ausführliche Untersuchung anhand dieser Kriterien fehlt.61 Auch ich selbst verwende Kriterien für die Feststellung intertextueller Bezüge, die über Stichwortverbindungen hinausgehend die syntaktische Ähnlichkeit mit einschließen. Ein intertextueller Bezug ist meines Erachtens umso wahrscheinlicher, je höher die Anzahl gemeinsamer Wörter ist (Wortgleichheit, auch Stichwortverbindung genannt), je mehr gemeinsame Wörter auch in syntaktischer Ähnlichkeit (insbesondere in der gleichen Reihenfolge oder Form) verwendet werden (Syntaxähnlichkeit) und je seltener gemeinsame Wörter sind (Wortseltenheit).62 Die drei Hauptkriterien sind also Wortgleichheit, Syntaxähnlichkeit und Wortseltenheit. Beim ersten Kriterium der Wortgleichheit sind absolute Zahlen wenig entscheidend: Manche Wörter (wie ‫„ אל‬Gott“, ‫„ ארץ‬Erde“ oder ‫„ הלל‬loben“) sind sehr häufig, so dass eine hohe Anzahl gleicher Wörter nicht unbedingt für einen Text-Text-Bezug spricht. Die Seltenheit gleicher Wörter ist aber ebenfalls nicht notwendig ausreichend. So gibt es Stellen, wo ein in der hebräischen Bibel nur zweimal verwendetes Wort auch im hebräischen Sirach auftaucht und damit durch wiederentdeckte Handschriften weniger selten geworden ist.63 Beispielsweise findet sich das Wort ‫„ מנים‬Saiten“ in der hebräischen Bibel nur in Ps 45 und 150, aber auch im hebräischen Sirach 39.64 Insgesamt können die drei Kriterien von Wortgleichheit, Syntaxähnlichkeit und Wortseltenheit allerdings auch auf Formeln oder gemeinsame Quellen hinweisen, vor allem wenn die Gemeinsamkeiten in mehr als zwei Texten auftreten. Dies ist in der Analyse zu berücksichtigen. Die Anwendung dieser Kriterien muss in jedem Einzelfall explizit abgewogen werden, dazu kommt dann eine Analyse der Richtung der festgestellten intertextuellen Bezüge durch absolute Datierung oder relative Datierung.65 3.3 Quellen im Vergleich In „The End of the Psalter“ habe ich nun Listen möglicher intertextueller Bezüge in Ps 146–150 anhand der eben genannten erweiterten Kriterien überprüft. Dabei habe ich dieselben Kriterien für masoretische Nachbarpsalmen und alle anderen Texte verwendet. Ferner habe ich nicht nur im masoretischen Text, sondern auch in der Septuaginta (sowie den Qumranschriften, wo sie nicht zu fragmentarisch sind) intertextuelle tion is far less impressive than what might have been suspected. Ultimately, it rests on the identification of keywords and shared themes, but if they are unsatisfactory tools, not only because many of Zenger’s suggestions are quite common terms in the Hebrew Bible but more so in light of the arti­ factual diversity, not much remains of the foundation for a sequential reading of the five psalms.“ 60 Vgl. Willgren, Formation, 291 (viertes von sechs Kriterien: „Shared phrases establish a stronger connection than shared words“). 61  Vgl. z. B. Willgren, Formation, 254.383. 62  Das Kriterium der Wortseltenheit findet sich auch bei Neumann, Hymnen, 24. 63  Zur Wiederentdeckung hebräischer Sirachhandschriften vgl. Witte, Jesus Sirach, 562. 64 Vgl. Brodersen, End, 40–41.50; Clines (Hg.), Dictionary V, s. v. ‫ מֵ ן‬I. 65  Siehe zu diesen Intertextualitätskriterien ausführlich Brodersen, End, 22–28.

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Bezüge überprüft und (meines Wissens erstmals) die Intertextualität der verschiedenen Quellen von Ps 146–150 miteinander verglichen.66 Ein kurzes Beispiel sei hier aufgeführt:67 Für Ps 150 im masoretischen Text wird häufig angenommen, dass ein intertextueller Bezug auf Davids Tanz vor der Lade in 2 Sam 6,5 vorliegt.68 Gemeinsame Wörter sind ‫„ כל‬jeder“, ‫„ כנור‬Leier“, ‫„ נבל‬Harfe“, ‫תף‬ „Trommel“ und ‫„ צלצלים‬Zimbeln“, wobei das letzte Wort ein seltenes ist und in der hebräischen Bibel nur in Ps 150 und 2 Sam 6,5 vorkommt.69 Allerdings gibt es kaum syntaktische Ähnlichkeit: Zwar werden jeweils die vier Instrumente mit der Präposition ‫„ ב‬mit“ verbunden, aber die Reihenfolge der Instrumente sowie die Verwendung von Singular- und Pluralformen sind unterschiedlich. Das seltene Wort ‫מנענעים‬ „Rasseln“ steht in der ganzen hebräischen Bibel nur in 2 Sam 6,5 und genau nicht in Ps 150. Ferner kommen in anderen mit Musik befassten Texten alle anderen Instrumente in verschiedenen Kombinationen zumindest paarweise vor; die Wortgleichheit kann also auch an einem gemeinsamen Thema „Musik“ liegen. In der Septuaginta ist nun ein Bezug noch weniger wahrscheinlich: ‫„ כל‬jeder“ fehlt völlig, ‫„ כנור‬Leier“ ist in 2 Sam 6,5LXX mit κινύρα „Leierinstrument“ statt wie in Ps 150LXX mit κιθάρα „Leier“ übersetzt, ‫„ נבל‬Harfe“ mit νάβλα „Harfeninstrument“ statt mit ψαλτήριον „Harfe“, und das seltene Wort ‫„ צלצלים‬Zimbeln“ mit αὐλός „Doppelrohrflöte“, was in Ps 150LXX überhaupt nicht vorkommt. Lediglich ‫„ תף‬Trommel“ ist in beiden Texten mit τύμπανον „Trommel“ übersetzt. Gleiche Wörter sind sonst nur noch κύμβαλα „Zimbeln“, das aber in 2 Sam 6,5LXX ‫„ מנענעים‬Rasseln“, in Ps 150LXX ‫„ צלצלים‬Zimbeln“ übersetzt, und ὄργανον „Instrument“, das ebenfalls verschiedene hebräische Wörter übersetzt, nämlich ‫„ עץ‬Holz“ in 2 Sam 6,5LXX und ‫„ עוגב‬Pfeife“ in Ps 150LXX. In der Septuaginta findet sich also anders als im masoretischen Text fast gar keine Wortgleichheit zwischen den beiden Texten, ebenso wenig syntaktische Ähnlichkeit oder gemeinsame seltene Wörter. Das Gesamtergebnis der Analyse möglicher intertextueller Bezüge in Ps 146–150 nach den obigen Kriterien ist das folgende:70 Im masoretischen Text enthalten Ps 148– 150 überhaupt keine intertextuellen Bezüge. Ps 146 enthält Bezüge zu Ex 20, Ps 103– 104 und 145. Ps 147 enthält Bezüge zu Dtn 4, Jes 40, Ps 33, 104 und 135. Es gibt also auch nach strengen Kriterien Bezüge zu anderen Psalmen in Ps 146 und 147, aber entgegen Konzepten des Psalterendes und -anfangs nicht innerhalb von Ps 146–150 oder zu Ps 1–2. Auch Bezüge von anderen Texten auf Ps 146–150 sind neu zu bewerten:

66 Vgl. Brodersen, End, 35–41 (Ps 150MT), 70–73 (Ps 150LXX), 93–98 (Ps 149MT), 119–123 (Ps 149LXX), 137–142 (Ps 148MT), 158–165 (Ps 148LXX), 179–186 (Ps 147MT), 215–220 (Ps 146– 147LXX), 234–240 (Ps 146MT), 260–265 (Ps 145LXX). 67  Siehe dazu ausführlich Brodersen, End, 37–38.71. 68 Vgl. Mathys, Psalm CL, 336; Neumann, Hymnen, 408; Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 876. 69 Vgl. Clines (Hg.), Dictionary VII, s. v. ‫צֶ ְלצֶ ִלים‬. 70 Vgl. Brodersen, End, 276–277.



Quellen und Intertextualität17

1 Makk 2,63 bezieht sich nicht auf Ps 146,71 Sir 39,15 nicht auf Ps 150.72 Dagegen findet sich tatsächlich ein Zitat von Ps 148 in Sir 51,12o.73 In den Qumranschriften, soweit eine Untersuchung im fragmentarischen Zustand möglich ist, zeigen sich wenig Unterschiede zur Intertextualität des masoretischen Texts. Allerdings findet sich zweimal Ps 104 als Nachbarpsalm von Ps 147,74 und es findet sich im masoretischen Text keine stärkere Zusammengehörigkeit der Ps 146–150 über intertextuelle Bezüge als in den Qumranschriften.75 An Bezügen von anderen Texten auf Ps 146–150 findet sich ein wörtlicher Bezug von 4Q521 auf Ps 146.76 Die Septuaginta unterstreicht das Fehlen von intertextuellen Bezügen in Ps 146–150: Generell ist die Septuagintaübersetzung der Ps 146–150 wörtlich nah am masoretischen Text. Tatsächlich sind auch in Ps 145LXX wie in Ps 146 im masoretischen Text Bezüge zu Ex 20LXX, Ps 102–103LXX und 144LXX zu finden.77 Gleichzeitig sind Bezüge, die für den masoretischen Text häufig angenommen werden, aber unwahrscheinlich sind, in der Septuaginta noch unwahrscheinlicher. Die Septuaginta zeigt aber auch Unterschiede in ihrer Intertextualität. So sind in Ps 146–147LXX Bezüge zu Jes 40LXX, Ps 32LXX und 135LXX schwächer als im masoretischen Text von Ps 147. Zu Ps 103LXX gibt es nur in Ps 146LXX einen Bezug, zu Dtn 4LXX nur in Ps 147LXX.78 Ferner enthält Ps 146LXX einen zusätzlichen Vers­teil über Schöpfung, der sich wörtlich auch in Ps 103LXX (Ps 104MT) findet, Ps 148LXX enthält einen zusätzlichen Versteil über Schöpfung, der sich wörtlich auch in Ps 32LXX (Ps 33MT) findet. Insgesamt finden sich in keiner der drei ältesten Textformen intertextuelle Bezüge der Ps 146–150 untereinander. Mit der Ausnahme von Ps 104, auf den sich sowohl Ps 146 als auch 147 (in der Septuaginta allerdings nur Ps 145LXX und 146LXX, nicht 147LXX) beziehen, finden sich auch keine gemeinsamen anderen Referenztexte. Dieses Ergebnis stellt in Frage, ob Ps 146–150 ursprünglich zusammenhängen.

71 Vgl. Brodersen, End, 264.

72 Vgl. Brodersen, End, 40–41.72–73. 73 Vgl. Brodersen, End, 141–142. 74 Vgl. Brodersen, End, 206.209.

75  Vgl. z. B. Brodersen, End, 253 (Ps 146 hat in 11QPsa eine gegenüber dem masoretischen Text zusätzliche Stichwortverbindung mit Nachbarpsalm 148). Dagegen stellt Leuenberger, Aufbau, 201, fest, „dass in den rezipierten und neu arrangierten Texten von 11QPsa – mit Ausnahme redaktioneller Formulierungen – ebenso enge intertextuelle Bezüge wie im MT in der Regel fehlen.“ Bei Willgren, Formation, 276, findet sich die genau gegenteilige Aussage für Ps 147: „the MT sequence revealed the least number of lexical links. Consequently, the possibility of using lexical links to establish notions of intended sequential readings of psalms is shown to be problematic“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. ausführlicher dazu ders., David, bes. 226. 76 Vgl. Brodersen, End, 253–254. Nach Willgren, Formation, 336, ist dies (ohne weitere Begründung) nicht auf literarische Abhängigkeit, sondern auf „a general influence of Hebrew Bible psalmody“ zurückzuführen. 77 Vgl. Brodersen, End, 265. 78 Vgl. Brodersen, End, 220.

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3.4 Fazit Methodisch zeigt sich zunächst, dass es wichtig ist, überhaupt Kriterien zur Feststellung intertextueller Bezüge zu verwenden und diese explizit zu machen. Allerdings stellen sich auch dann zwei grundlegende Fragen. Die erste Frage ist, ob als Kriterium für die Feststellung intertextueller Bezüge Wortgleichheit ausreicht oder auch syntaktische Ähnlichkeit einbezogen werden muss. Die zweite Frage ist, welche Bezugstexte angenommen werden können, vor allem ob zum Entstehungszeitpunkt der Ps 146–150 der hebräische Psalter in der heutigen masoretischen Form als Bezugstext zur Verfügung stand. Die erste Frage nach Kriterien für die Feststellung intertextueller Bezüge ist nicht objektiv beantwortbar.79 Es gibt aber den Forschungskonsens, dass Wortgleichheit als Voraussetzung für intertextuelle Bezüge angesehen wird.80 In neuerer Literatur zu Intertextualität in der hebräischen Bibel und der Septuaginta wird manchmal syntaktische Ähnlichkeit miteinbezogen,81 manchmal nicht,82 manchmal nur manchmal.83 Zentral für einen intertextuellen Bezug ist in jedem Fall – wie der Begriff „intertextueller Bezug“ schon sagt – der Bezug auf einen konkreten anderen Text84 (wobei dieser eventuell auch mündlich statt schriftlich überliefert sein kann).85 Oft wird daher zwischen Text-Text-Bezügen und allgemeineren gemeinsamen Themen unterschieden.86 79 So Miller, Intertextuality, 298: „The data proposed as evidence of intertextuality will be evalu­ated differently by different scholars, and what seems to be evidence of intentional allusion for one reader might appear to be a cluster of coincidences for another“. 80 Vgl. Miller, Intertextuality, 295: „All scholars utilizing the author-oriented approach agree that similar wording is a telltale sign of intertextuality, and many regard it as most important … The author of a later text might include an entire verse or passage without citing the source, cull one or more key phrases, or borrow only one or a few words from the earlier text.“ 81 Vgl. Carr, Uses, 524 („sustained verbatim agreement [beyond isolated shared vocabulary]“); Kynes, Psalm, 37 („Syntactical similarity may or may not be present, but greatly strengthens an allusion when combined with lexical and thematic affinities.“); Leonard, Allusions, 246 („Shared phrases suggest a stronger connection than do individual shared terms.“). 82 Vgl. Ngunga, Messianism, 49–50 (u. a. 50 „verbal links, words [lexemes], phrases, clauses or sentences“). 83 Vgl. Lange/​Weigold, Quotations, 13–35, bes. 25–26 (Wortreihenfolge für Anspielungen faktisch als Kriterium genutzt), anders 33 (Wortreihenfolge für Anspielungen faktisch nicht wichtig). Für implizite Zitate ist dagegen die Wortreihenfolge immer wichtig, vgl. a. a. O., 26. 84 Vgl. Ben-Porat, Poetics, 108: „The marker [of a literary allusion, A. B.] is always identifiable as an element or pattern belonging to another independent text.“ 85  Vgl. zur Debatte um Mündlichkeit und Schriftlichkeit z. B. Edenburg, Intertextuality, 147 („intertextual devices that evoke particular associations are dependent upon literary, rather than aural, competence“ [Hervorhebung im Original]) gegen Derico, Tradition, 265 (auch mündlich überlieferte Erzählungen haben starke wörtliche Übereinstimmungen). 86  Carr, Uses, bezeichnet daher Text-Text-Bezüge nur als „influence“, während „intertextuality“ breiter thematisch gefasst wird (irreführenderweise bezieht sich dabei „influence“ immer auf Texte, während „intertextuality“ sich nicht unbedingt auf Texte bezieht). Ähnlich unterscheidet auch ­R isse, Gott, 55–98, zwischen „Intertextualität“ und „Wort- und Motivgeschichte“. Kynes, Psalm, 20, argumentiert für den Gebrauch des Intertextualitätsbegriffs für Text-Text-Bezüge.



Quellen und Intertextualität19

Die zweite Frage hängt mit der Datierung der Ps 146–150 sowie der Datierung des Psalters zusammen. Die Antwort auf die zweite Frage hängt dabei stark von den Antworten auf die erste Frage ab, wie ich in abschließenden methodischen Überlegungen zeigen möchte.

4. Methodische Schlussfolgerungen Eine Analyse von Ps 146–150, die über den masoretischen Text hinaus die Qumranschriften und die Septuaginta eigenständig einbezieht, spricht dafür, dass Ps 146–150 ursprünglich eigenständige Texte waren, die erst sekundär und nur im masoretischen Text das Psalterende bilden. Zumindest wurden in den antiken Quellen Rahmen, Anordnung und intertextuelle Bezüge der Ps 146–150 nicht als unverzichtbar angesehen. Die Idee, Ps 146–150 als ursprünglich nicht aufeinander bezogene Einzelpsalmen zu verstehen, ist nicht neu. So hat beispielsweise Erhard Gerstenberger Ps 146–150 als Einzelpsalmen mit unterschiedlichen kultischen Ursprüngen verstanden.87 Neu ist aber die methodische Fundierung dieses Ergebnisses auf Quellen- und Intertextualitätsanalyse. Dies führt zu einigen grundsätzlicheren methodischen Überlegungen zu Quellen, Intertextualität und Psalter­exe­gese anhand der Ps 146–150. 4.1 Quellen In der Textkritik allgemein ist das Verhältnis der drei wichtigsten Textformen – des masoretischen Texts, der Qumranschriften und der Septuaginta  – umstritten. Für weitreichende Schlüsse ist die Basis von fünf Psalmen zu gering. Dennoch unterstreicht das Psalterende die Umstrittenheit dieser Frage und die Bedeutung der Pluralität von Textformen. 4.1.1 Masoretischer Text und Qumranschriften Für die Verhältnisbestimmung des masoretischen Texts und der Qumranschriften muss die Fragmentarität der Qumranschriften ernst genommen werden. So hat MasPsb nicht zwingend mit Ps 150 geendet und kann nicht als Datierungsargument für den masoretischen Psalter verwendet werden.88 Ferner wird häufig die Dekomposition oder Auflösung des Schlusshallels in 11QPsa als ein Argument für die Abhängigkeit von 11QPsa vom masoretischen Psalter genannt.89 Dieses Argument setzt aber wiederum eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit dieser fünf Psalmen in ihrer masoretischen Reihenfolge voraus, die vielleicht gar nicht gegeben ist. Insgesamt setzt 87 Vgl. Gerstenberger, Psalms, 440–441.

88  Siehe Anm. 48. Gegen Willgren, Formation, 92.375.383. Ebenso ist Ps 149 in MasPsb nicht belegt, gegen a. a. O., 111. 89 So Dahmen, Psalmen, 309.315; Jain, Psalmen, 256; Leuenberger, Aufbau, 200; Neumann, Hymnen, 451–452.461.467–468.483.

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für den Fall der Ps 146–150 der P ­ salmenbefund in den Qumranschriften den masoretischen Psalter nicht voraus. 4.1.2 Masoretischer Text, Septuaginta und Qumranschriften Ps 146–150 zeigen zwischen dem masoretischen Text und der Septuaginta eine große Nähe, die die Abhängigkeit der Septuaginta von einer dem masoretischen Text ähnlichen Vorlage nahelegt. Fraglich bleiben in Bezug auf die Septuaginta auch im Vergleich mit den Qumranschriften vor allem die folgenden drei Punkte. (1) Die Datierung von Ps 145–150LXX ins 2. Jh. v. Chr. hängt allein von der Datierung des Septuagintapsalters ab. Griechische Psalmenhandschriften sind aber erst ab dem 1./2. Jh. n. Chr. erhalten,90 vollständige Psalterhandschriften erst ab dem 4. Jh. n. Chr.91 Die Septuagintahandschriften könnten somit theoretisch eine spätere, „nachqumranische“ hebräische Textform widerspiegeln oder sogar nachträglich an den später masoretischen Text angepasst worden sein.92 Der Septuagintapsalter als Datierungsargument für das 2. Jh. v. Chr.93 ist materiell in dieser Zeit nicht belegt. (2) In Ps 145–150LXX unterstreichen eindeutige intertextuelle Bezüge innerhalb des Septuagintapsalters dessen Einheitlichkeit und sprechen eher gegen die Übersetzung der Einzelpsalmen durch verschiedene Übersetzer.94 Gleichzeitig bilden die vorhandenen intertextuellen Bezüge innerhalb des Septuagintapsalters gerade nicht die Reihenfolge des masoretischen Psalters ab. Vielmehr gibt es bezüglich der Psalmenanordnung sogar mit einem eindeutigen Bezug zwischen Ps 146LXX und Ps 103LXX und dem Psalterende mit Ps 151LXX Gemeinsamkeiten mit den Qumranschriften gegen den masoretischen Text.95 Dies muss nicht heißen, dass die Vorlage der Septuaginta eine Nähe zu den Qumranschriften hatte. Es weist aber zumindest darauf hin, dass die Septuagintapsalmen nicht zwingend in der Reihenfolge des MT Psalter übersetzt wurden,96 90 Vgl. Rahlfs/​Fraenkel, Verzeichnis, 489–497; Siegert, Bibel, 96–97, in Verbindung mit Septuaginta-Unternehmen, Verzeichnis (bes. Nr. 2227 = P. Oxy. 5101 aus dem 1./2. Jh. n. Chr. als älteste Psalmenhandschrift). 91 Vgl. Rahlfs (Hg.), Psalmi, 10–12. Willgren, Formation, 412–413, argumentiert, dass die frühen Septuagintapsalmenhandschriften bereits die Psalmenreihenfolge des masoretischen Psalters belegen (412: „these scrolls include translations of psalms also attested in the MT collection, and always in an order congruent with it“); der fragmentarische Zustand der frühen Handschriften macht dies allerdings zu einer Hypothese, vgl. z. B. zu P. Oxy. 5101 Colomo/​Henry, 5101, Plates II–III. Zu Ps 145–150LXX mit Handschriften ab dem 4. Jh. n. Chr. siehe Anm. 42. 92  Zu Letzterem so Siegert, Bibel, 307; Ulrich, Dead Sea Scrolls, 334.336. Zur Hebraisierung in der Geschichte der Septuaginta vgl. Kreuzer, Entstehung, 54–61. 93 So Dahmen, Herr, 2–3; Pajunen, Perspectives, 151–153; Willgren, Formation, 383; Zenger/​Hossfeld, Buch der Psalmen, 451. 94  Vgl. zur Einheitlichkeit des Septuagintapsalters Siegert, Bibel, 306, 311–312 (Einheit und Uneinheit im Septuagintapsalter kann für eine spätere partielle Vereinheitlichung oder für eine ursprüngliche Übersetzung durch mehrere Personen sprechen). 95  Zu weiteren Gemeinsamkeiten gegen den masoretischen Text vgl. Brodersen, End, 228. 96  So auch Bons, Psalmoi, 752. Willgren, Formation, 383, schreibt zu frühen Septuagintamanuskriptfragmenten „there is nothing in these manuscripts that suggests that the psalms of the LXX were once found in entirely different sequences“, aber auch a. a. O., 383–384, zu einer Septua-



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und dass wenigstens für Ps 151LXX die Vorlage nicht der masoretische Text sein kann, da dieser Ps 151 nicht enthält.97 (3) Es ist umstritten, ob die Überschriften des masoretischen Texts oder der Septuaginta bzw. der Qumranschriften als älter anzusehen sind.98 4.1.3 Fazit Die parallele Auslegung des masoretischen Texts, der Qumranschriften und der Septuaginta führt zu Entdeckungen, die bei einer Konzentration auf den masoretischen Text oder einen kritischen Urtext auf Basis des masoretischen Text verborgen bleiben. Das von Emanuel Tov (entgegen seines eigenen früheren Lehrbuches) vorgeschlagene Modell, Exegese auf mehreren Spalten mit dem masoretischen Text, den Qumranschriften und der Septuaginta zu basieren,99 könnte auch für andere Psalmengruppen zu neuen Ergebnissen führen. Zumindest muss sich Psalter­exe­gese ihrer Begrenzung auf den masoretischen Psalter als „den“ Psalter stärker bewusst sein.100 4.2 Intertextualität Intertextuelle Bezüge auf konkrete andere und ebenfalls erhaltene Texte unterscheiden sich von anderen Ähnlichkeiten zwischen Texten. Letztere sind nicht weniger wichtig für die Gesamtinterpretation von Texten, aber mit intertextuellen Analysemethoden schlecht zu erfassen.101 Thematische oder formale Ähnlichkeit sind gegebenenfalls eher mit Methoden beispielsweise der Traditionsgeschichte oder Formgeschichte zu erklären als durch die Annahme von Bezügen auf konkrete andere Texte.102 Die gintapsalterdatierung ins 2. Jh. v. Chr. „such a formative stage did not imply a fixation of every psalm in the sequence … but the selection of psalms“ [Hervorhebung im Original]. 97  Zu Ps 151 allgemein siehe Anm. 47. 98  Für die chronologisch aufsteigende Reihenfolge MT – LXX argumentieren Pietersma, Exegesis, 100.113–118.137–138; Willgren, Formation, 192–193; für MT  – LXX/Q Dahmen, Psalmen, 118–119. Dagegen argumentieren für die Unabhängigkeit von Q Willgren, Formation, 191 (implizit); für Q – LXX – MT Brütsch, Psalmen, 199–210; für LXX – MT Bons, Psalmoi, 750. ­Gauthier, Psalms, 245–256, bes. 256, hält die Frage im Fall von Ps 145LXX für nicht entscheidbar. 99 Vgl. Tov, Hebrew Scripture Editions, 266–269, bes. 268–269 („Such an edition would present MT, LXX, the SP, and some Qumran texts, on an equal basis in parallel columns … This equality is needed for literary analysis and exegesis“ [Hervorhebung im Original]); ders., New Editions, 382 („I am not happy with the attempted reconstruction and perpetuation of an Ur­text that in my view never existed“), 383 („I would like Bible scholars to be able to work simultaneously with MT, the LXX, SP [Samaritan Pentateuch, A. B.], and some Qumran scrolls on an equal footing. For that purpose, one needs a device that would enable us to visualize groups of variants and alternative literary editions in parallel columns. Only in this way will we be able to teach our readership an egalitarian approach toward all textual sources“); anders ders., Textual Criticism, 167–169.264–265, bes. 265 (Ziel der Textkritik: „reconstruction of elements included in the original or determinative text[s] of the Bible“). 100  So auch Willgren, Formation, 393. 101  Siehe auch Anm. 50 und 86. 102  Vgl. zur Traditionsgeschichte Steck, Exegese, 126–149, v. a. 127 („Übereinstimmungen, die nicht aus ü[berlieferungs]g[eschichtlich]er oder literarischer Abhängigkeit der Belegtexte voneinander stammen“) [Hervorhebung im Original], zur Formgeschichte a. a. O., 98–125.

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Analyse intertextueller Bezüge stellt insgesamt einen Teilaspekt der Textinterpretation dar, der zwar gesondert betrachtet, nicht aber von anderen Interpretationsaspekten völlig getrennt werden kann.103 4.2.1 Kriterien Das Beispiel der Ps 146–150 zeigt, dass eine auf offengelegten Kriterien basierende Analyse intertextueller Bezüge sinnvoll ist: Verschiedene Kriterien führen zu verschiedenen Ergebnissen, die nur bei einer Offenlegung gut nachvollziehbar sind. Zu diskutieren sind dann die verwendeten Kriterien für die Feststellung intertextueller Bezüge: Wenn Wortgleichheit als ausreichend angesehen wird, finden sich mehr intertextuelle Bezüge.104 Auffällig ist, dass bei Forschungsansätzen, die Wortgleichheit (auch Stichwortverbindung genannt) als Hauptkriterium für intertextuelle Bezüge ansehen, der „Kanon“ oder die „Schrift“ eine wichtige Rolle spielen und die hebräische Bibel in ihrem masoretischen Text im Zentrum steht. So spricht Ballhorn von der „Kanonizität“ des Psalters und der „Kanonform“ des masoretischen Texts als Grundlage der Exegese.105 Für Leuenberger gilt „der gegebene (textkritisch von späteren Veränderungen befreite) masoretische Psalter“ als „Endtext“106 als Textgrundlage. Diese Urform des masoretischen Psalters wird von Leuenberger als älter als die masoretischen Manuskripte erachtet107 und in schriftgelehrten Kreisen verortet.108 Neumann nimmt an, dass 103  Zur Unterscheidung und Zusammengehörigkeit der drei Ebenen von zufälligen, traditionsgeschichtlichen und verfasserintendierten Gemeinsamkeiten zwischen Texten siehe den Beitrag von Leuenberger in diesem Band, Abschnitte 2.2.2 und 2.2.3. 104  Dies habe ich auch im Vergleich mit meiner eigenen früheren Arbeit festgestellt, vgl. Brodersen, End, 179, Anm. 36 (Bezug auf Kriterien in dies., Bedeutung, 73–75). 105 Vgl. Ballhorn, Telos, 36: „Der Psalter ist ein Buch von kanonischer Dignität. … Kanonizität heißt sinnvermutende Bejahung der vorfindlichen Struktur durch die ekklesiale Größe: Israel, und später: Kirche. … Die Reihenfolge der Psalmen ist Bestandteil seiner Kanonizität, seiner Buchgestalt. Daher ist die Leserichtung zu beachten. Die lineare Abfolge hat Vorrang vor anderen Strukturen, die stärker von subjektiver Wahrnehmung abhängig sind.“ Vgl. ferner a. a. O., 38 Anm. 83 („eine streng am MT orientierte kanonische Exegese“), 40 („Kanonform von MT“). 106  Leuenberger, Konzeptionen, 18: „Wie aus den angestellten Überlegungen zur Methodik und zum Vergleich mit den Qumran-Psalmenmanuskripten folgt, bildet der gegebene (textkritisch von späteren Veränderungen befreite) masoretische Psalter die sachgemäße exegetische Textgrundlage der folgenden Untersuchung. Von diesem Endtext als einem buchweiten hat, und das ist methodisch von entscheidendem Gewicht, jede historische Untersuchung (der masoretischen Psalmensammlung – und sie ist es ja, die zumeist behandelt wird) prinzipiell auszugehen.“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch a. a. O., 5–6 (masoretischer Psalter, Endtextkomposition). 107 Vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 9–10 Anm. 17: „Die mit dem gebräuchlichen und handlichen Ausdruck ‚masoretischer Psalter‘ bezeichnete Größe, die (im Konsonantenbestand) zum Einen ausweislich MasPsb (2. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr.) für die Makrostruktur … sowie ausweislich der Qumran-Psalmenmanuskripte für weite Bereiche der Textfassung wesentlich älter ist als die masoretischen Handschriften und zum Andern mit letzteren lediglich die Text ‚version‘ gemeinsam hat, wäre terminologisch genauer als in masoretischer Tradition überlieferter Psalter zu bezeichnen“. 108 Vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 37, bes. Anm. 116: „In unserem Fall kann man unterscheiden, ob Beziehungen zwischen verschiedenen Psalmen als Einzeltexten (Intertextualität) oder innerhalb eines Textganzen (Intratextualität), z. B. des Psalters oder seiner Teilsammlungen, vorliegen.



Quellen und Intertextualität23

den Psalmenverfassern die „Schrift“ bekannt war: „Die Psalmen verweisen auf andere Psalmen und sie verweisen auf das übrige Alte Testament. Daraus folgt: Die alttestamentlichen Texte wollen selbst intertextuell gelesen werden und das kann nur jemand, der die Schrift selbst gut kennt und in dieses intertextuelle Lesen (und Schreiben!) eingeübt ist. Das Publikum fällt also im Wesentlichen mit der Autorenschaft zusammen.“109 Die „Schrift“ und das „Alte Testament“ werden hier gleichgesetzt. Das Alte Testament wiederum wird faktisch mit dem hebräischen masoretischen Text gleichgesetzt,110 wenngleich Neumann auch protomasoretische Textformen,111 andere Textformen und Texte außerhalb des masoretischen Texts berücksichtigt.112 Allerdings könnten der masoretische Psalter (und auch die hebräische masoretische Bibel insgesamt) auch in Vorformen im 2. Jh. v. Chr. als Bezugstext noch gar nicht existiert haben.113 Auch die Autoren- und Trägerkreise des Psalters sind weitgehend unbekannt und umstritten,114 so dass unklar ist, welche Bezugstexte ihnen verfügbar sein konnten. Es stellt sich daher die Frage, ob Wortgleichheit wirklich als Kriterium für intertextuelle Bezüge ausreicht, wenn es Datierungsunsicherheiten und Unklarheit bezüglich der verfügbaren Bezugstexte gibt. Es ist vielmehr möglich, dass Stichwortverbindungen nur dann ins Auge fallen, wenn Texte in einer bestimmten heute erhaltenen Quelle aufeinanderfolgen, während sie bei weiter entfernten Texten nicht als Indiz für einen intertextuellen Bezug ausreichen würden.115

Psalterspezifisch ist auch, daß häufig jegliche Markierung einer Bezugnahme fehlt …; das ist ein Indiz für einen exklusiven, kundigen Leserkreis, für einen ‚in-group-text‘ also, was mit dem neueren Verständnis des Psalters als Lese- und Meditationsbuch (schriftgelehrter) Frommer konvergiert“. 109  Neumann, Hymnen, 18. Vgl. auch a. a. O., 16–18, bes. 17 („schriftgelehrte Autorenschaft“). 110  Vgl. z. B. Neumann, Hymnen, 104 Anm. 49 („‫ עׁשתון‬ist ein Hapaxlegomenon im Alten Testament“). A. a. O., 252, steht: „Das Alte Testament beginnt mit dem Satz: ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (‫)בראׁשית ברא אלהים את הׁשמים ואת הארץ‬.‘ (Gen 1,1).“ Auch im Stellenregister steht „Altes Testament“ nicht für Septuaginta- oder Qumrantexte, vgl. a. a. O., 503–513. 111  Vgl. z. B. Neumann, Hymnen, 449 („Somit handelt es sich bei MT, LXX und 11Q5 um drei verschiedene Kompositionen oder auch Interpretationen des protomasoretischen Schlusshallels, deren Individualität unter anderem an der Neugestaltung der Halleluja-Rahmung festzumachen ist.“), 468 („11Q5 setzt den protomasoretischen Psalter in seiner Endgestalt voraus“). 112  Vgl. z. B. Neumann, Hymnen, 221 Anm. 269 (zur „Apostrophe to Zion“), 279 (zur Septuaginta). 113  Siehe dazu unten 4.3.2 Datierung des masoretischen Psalters. 114 Vgl. Hossfeld/​Bremer/​Steiner (Hg.), Trägerkreise, darin z. B. Weber, Verbindungslinien, 98: „Diese Tagung fragt nach ‚Trägerkreisen‘. Der damit angezielte Versuch, Literatur soziohistorisch zu verankern, ist zu begrüssen. Für eine Zuordnung von Texten zu geschichtlichen und institutionellen Gegebenheiten fehlt es freilich öfters an hinreichenden Informationen, so dass wir uns weithin im Bereich von Annäherungen und Plausibilitäten bewegen.“ 115  So auch Leuenberger, Konzeptionen, 355, Anm. 310 („nur aufgrund der Positionierung überhaupt auffallender Rückbezug“); Willgren, Formation, 260 („many of the shared terms are either very common or used in different ways … it seems as if many of the overlaps do not provide firm support for a joint composition as much as they proceed from such an idea.“ [Hervorhebung im Original]).

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4.2.2 Quellen im Vergleich Der Vergleich intertextueller Bezüge in antiken Quellen außerhalb des masoretischen Texts kann zu neuen Erkenntnissen führen. So findet sich im masoretischen Text keine stärkere Zusammengehörigkeit der Ps 146–150 über intertextuelle Bezüge als in den Qumranschriften, wobei deren Fragmentarität der Analyse Grenzen setzt. Die Septuaginta hat als älteste vollständige antike Quelle das Potential, für den masoretischen Text angenommene intertextuelle Bezüge zu bestätigen oder weniger wahrscheinlich zu machen. Ein solcher Vergleich ist freilich nicht unproblematisch: Die den Septuagintaübersetzern zur Verfügung stehenden Bezugstexte in hebräischer und griechischer Sprache sind weitgehend unbekannt. Ferner können intertextuelle Bezüge unabsichtlich oder absichtlich geändert worden sein.116 Zumindest für Ps 146– 150 führt die Septuaginta aber insgesamt zur Bestätigung wahrscheinlicherer und zur Infragestellung unwahrscheinlicherer intertextueller Bezüge im masoretischen Text. 4.2.3 Fazit Bei der Analyse intertextueller Bezüge führen die Unterscheidung von thematischen Ähnlichkeiten, die Offenlegung verwendeter Kriterien sowie der Vergleich mit antiken Quellen außerhalb des masoretischen Texts zu neuen Erkenntnissen. 4.3  Psalter­exe­gese Neben den Ergebnissen zu Quellen und Intertextualität ergeben sich weitere methodische Impulse zur Psalter­exe­gese aus Ps 146–150. 4.3.1 Kollokation Die Psalter­exe­gese kann auch im Fall von Ps 146–150 die Psalmenexegese nicht ersetzen. So sind Datierungsversuche von Einzelpsalmen notwendig.117 Neben einer Komposition muss auch eine Kollokation erwogen werden: Stichwortverbindungen können in Ps 146–150 auch den Grund für eine Nebeneinanderstellung statt eigens verfasste Verbindungen darstellen.118 Dies könnte auch für andere Psalmengruppen gelten.119 Kollokationen in verschiedener Reihenfolge sind in der Antike auch außerhalb der Psalmen belegt, etwa im Zwölfprophetenbuch.120 Auch im masoretischen Text selbst, in 1 Chr 16, findet sich mit Ps 105 → 96 → 106 eine Abfolge, die nicht der 116 Vgl. Brodersen, End, 23–24. 117  Diese

fehlen z. B. bei Neumann, Hymnen, siehe Anm. 17. Im Gegensatz dazu finden sich ausführliche Datierungen der Einzelpsalmen z. B. zu Ps 150 in Brodersen, End, 59–61.84; Gerstenberger, Psalms, 460. 118 Vgl. Brodersen, End, 96.277–278; Willgren, Formation, 278.282 (zu Ps 146–150: „the presence of shared vocabulary and themes could still be appropriately interpreted as providing the basis for their juxtaposition, a juxtaposition suggested to have been intended to create a final doxology to the MT ‚Book‘ of Psalms“). 119 Vgl. Willgren, Formation, 311 (zu Ps 103–104). 120 Vgl. Willgren, Formation, 46–47 (Zwölfprophetenbuch), 45 (Hodajot: „it is primarily



Quellen und Intertextualität25

des masoretischen Psalters entspricht.121 Ähnliches gilt für Psalmenzitate in den Qumranschriften, etwa Ps 37 → 45 in 4Q171.122 Eine Lesung des Psalters als fortlaufendes Buch ist antik nicht belegt.123 4.3.2 Datierung des masoretischen Psalters Ps 146–150 sind für die Datierung des masoretischen Psalters in seiner Endgestalt von besonderer Bedeutung: Die Gründe für die Datierung der Endgestalt des masoretischen Psalters ins 2. Jh. v. Chr. beziehen sich häufig auf Ps 146–150.124 Dabei stellen sich aber zumindest drei Probleme. (1) Wenn Ps 146–150 nicht ursprünglich zusammengehören, weist das Zitat von Ps 146 in der Handschrift 4Q521 (deren Inhalt ins 2. Jh. v. Chr. datiert wird)125 nur auf die Existenz von Ps 146, nicht des Psalterendes oder des gesamten masoretischen Psalters hin. Gleiches gilt für das Zitat von Ps 148 in der mittelalterlichen Handschrift von Sir 51,12o (deren Inhalt ebenfalls in 2. Jh. v. Chr. datiert wird).126 Psalmenzitate, auch von Ps 146–150, sind also nicht gleich Psalterzitate.127 (2) Die häufig angenommenen Anspielungen auf Ps 146 in 1 Makk 2,63 (ein ins 2./1. Jh. v. Chr. datierter Text)128 sowie auf Ps 150 in Sir 39,15 (datiert ins 2. Jh. v. Chr.)129 sind unwahrscheinlich und somit für Datierungszwecke zu hinterfragen. (3) Mit einzubeziehen sind ferner die materiellen Möglichkeiten der antiken Texterstellung. Eine Rolle mit allen 150 Psalmen wäre zumindest außergewöhnlich lang, wenn nicht technisch unmöglich.130 Tatsächlich finden sich vollständige Psalter erstmals in Kodexform in den Septuagintakodizes des 4. Jh. n. Chr.131 clusters of psalms rather than individual psalms that are found in various sequences“), zu weiteren Beispielen vgl. a. a. O., 37–49. Zu Hodajot vgl. auch Lange, Collecting, 307. 121 Vgl. Willgren, Formation, 295. 122 Vgl. Willgren, Formation, 317–318, zu weiteren Qumranzitaten a. a. O., 313–324. 123 Vgl. Hartenstein, Recht, 232–233. 124 Vgl. Zenger/​Hossfeld, Buch der Psalmen, 450–451 (4 von 6 Gründen auf Ps 146–150 bezogen, weitere Gründe auf Ps 1–2 sowie den Septuagintapsalter); ähnlich Jain, Psalmen, 237–240. Zu Ps 1–2 vgl. Willgren, Formation, 158–171. 125 Vgl. Puech, Qumrân, 3–5 (Handschrift in paläographischer Datierung 100–80 v. Chr., in Radiokarbondatierung 93 v. Chr.–80 n. Chr.), 36–38 (Inhalt der Handschrift 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr.). 126 Vgl. Di Lella, Sirach, 101–105; Skehan, Complex, 203 Anm. 29. 127 Ähnlich Willgren, Formation, 356. 128 Vgl. Engel, Makkabäer, 397–397. 129 Vgl. Witte, Jesus Sirach, 565–566. 130 Vgl. Pajunen, Perspectives, 143 (ca. 10 Meter); mit Bezug auf Pajunen: Willgren, Formation, 31–32 (über 15 Meter und damit zu lang); ders., Psalm 72:20, 49–52; Mroczek, Imagination, 31.197 (zu lang). Jesaja 1–66 mit ca. 7000 Wörtern (zur Wortzählung vgl. Wtt Context in BibleWorks) ist in Qumran auf eine Rolle von ca. 7 Metern (vgl. Tov, Dimensions, 71–72) geschrieben. Der masoretische Psalter hat ebenfalls ca. 7000 Wörter, allerdings werden Psalmen als poetische Texte in weniger platzsparendem Layout geschrieben (vgl. Pajunen, Perspectives, 143). Die längste in Qumran erhaltene Rolle, die Tempelrolle, ist fast 9 Meter lang (vgl. Tov, Dimensions, 71–72). Selbst wenn technisch möglich, wäre doch eine einzige Psalmenrolle mit 150 Psalmen sehr aufwändig und ungewöhnlich (vgl. Pajunen, Perspectives, 143). 131  So auch Willgren, Formation, 83.

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Es ist daher fraglich, ob der masoretische Psalter wirklich ins 2. Jh. v. Chr.132 zu datieren ist. Möglich wären auch eine spätere Datierung ins 1. Jh. n. Chr.133, eine graduelle Stabilisierung des Psalters mit einer Instabilität des 4. und 5. Psalterbuches134 noch im 1. Jh. n. Chr. (der Abfassungszeit von 11QPsa)135 oder – entgegen der Vorstellung einer linearen Entwicklung – ein langer Prozess der Sammlung einzelner Psalmen und Psalmengruppen,136 der spätestens im 2. Jh. n. Chr. zum Abschluss kam.137 4.3.3 Fazit Psalter­exe­gese muss – neben Quellen außerhalb des masoretischen Psalters und kriterienbasierten intertextuellen Analysen – die Möglichkeiten von Kollokation und anderen Datierungen des masoretischen Psalters miteinbeziehen.

5. Gesamtergebnis Die widersprüchlichen Forschungsergebnisse zu Ps 146–150 ergeben sich durch verschiedene methodische Ansätze vor allem bei der Quellenauswahl und den Intertextualitätskriterien. Bei der Quellenauswahl wird entweder vorrangig der masoretische Text gewählt oder die Qumranschriften und die Septuaginta gleichrangig bearbeitet. Bei Intertextualitätskriterien ist die Hauptfrage, ob nur Wortgleichheit (auch Stichwortverbindung genannt) oder auch syntaktische Ähnlichkeit für die Feststellung eines intertextuellen Bezugs nötig sind. Der Hauptwiderspruch ergibt sich in der Frage nach der Entstehung von Ps 146–150, während inhaltliche Einzelauslegungen durchaus starke Gemeinsamkeiten aufweisen.138 Die grundlegenden Fragen nach 132  Siehe Anm. 17 und 124. Dahmen, Herr, 2–4.24 (nach der Endredaktion allerdings weitere Zusätze möglich). Willgren, Formation, 382–384, datiert die Auswahl wenn auch nicht die Reihenfolge der 150 masoretischen Psalmen in das 2.–1. Jh. v. Chr. 133 So Wilson, Editing, 121; ders., Date, 139.143; Yarchin, Psalms Collections, 779.784. Vgl. auch Flint, Psalms Scrolls, 149; ders., Unrolling, 240–241; Mroczek, Imagination, 45. Auch der Titel ‫„ ספר התהלים‬Das Buch der Lobpreisungen“ ist in der 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. erstmals belegt, vgl. Willgren, Formation, 342. Allerdings ist umstritten, ob die Quelle sich auf die Psalmen bezieht, vgl. Mroczek, Hegemony, 14–15; dies., Imagination, 33–34.197–198. Das Neue Testament scheint eine bekannte Sammlung von Psalmen im 1. Jh. n. Chr. vorauszusetzen, vgl. a. a. O., 44–45; Willgren, Formation, 359. 134 Vgl. Sanders, Dead Sea Psalms Scroll, 12–14, bes. 13 („to think of the Psalms Scroll not as a deviation from a rigidly fixed canon of the latter third of the Psalter but rather as a signpost in the multi-faceted history of the canonization of the Psalter“); ders., Qumran Psalms Scroll, 99; Flint, Psalms Scrolls, 149; ders., Unrolling, 240–241; vgl. auch Wilson, Editing, 121. 135  Siehe Anm. 36. 136 Vgl. Willgren, Formation, 117–121.132; ähnlich Pajunen, Perspectives, 139.145–148 (nichtsdestotrotz wird a. a. O., 151, für Septuaginta und 11QPsa der protomasoretische Psalter vorausgesetzt); Mroczek, Psalms, 60. 137 So Willgren, Formation, 363, siehe aber oben Anm. 132. 138  Vgl. z. B. Heiligkeit statt Heiligtum in Ps 150,1 bei Brodersen, End, 44–47, und Neumann, Hymnen, 394–397.



Quellen und Intertextualität27

Quellen, Intertextualität und Entstehungsgeschichte benötigen mehr als eine vergleichende Einzelexegese der Ps 146–150. Dennoch gibt das Psalterende grundlegende methodische Impulse für die Exegese anderer Psalmen und biblischer Texte.

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A Teleological Fallacy in Psalms Studies? Decentralizing the “Masoretic” Psalms Sequence in the Formation of the “Book” of Psalms* David Willgren 1. Teleological Reconstructions Every reconstruction of the formation of the “Book” of Psalms needs an appropriate starting point, and as with much research on the Hebrew Bible, the starting point has usually been the Masoretic Text, often proceeding from Codex Leningradensis, as it is printed in Biblia Hebraica Stuttgartensia. It serves as the point of departure for text critical work, which is used with the aim to establish a base text to be analysed, and once this is done, reconstructions of possible earlier stages can proceed. Evidently, this process is very familiar, and there is little need to expand on it in any great detail, although some examples might be appropriate to set the stage for the ensuing discussion. Consider, for one, the work of Frank-Lothar Hossfeld and Erich Zenger, two scholars who have had a tremendous impact on the discussion of the formation of the “Book” of Psalms.1 In the second volume of their commentary on the psalms, they sketch a general outline of the origin and growth of Ps 51–100: “The book of Psalms did not originate as a disorderly archive of individual texts or as an antho­ logy organized in some fashion or other. Rather, it is a collection of partial groupings or parts of a psalter, each of which has its own history of development … The several partial psalters put together at different times from individual psalms were not collected in the book of Psalms as we now have it in a single action, but in a many-layered process (analogous to the origins of the *  This work was supported by the Crafood Foundation under Grant 20170668. 1  They have presented their approach in numerous studies, but it is sufficient here to mention only a few: Zenger, Psalmenauslegung; idem, Psalter; idem, Von der Psalmenexegese; idem, Psalmen­ exegese und Psalter­exe­gese; Hossfeld/​Zenger, Wege; Hossfeld/​Steiner, Problems. As for the discussion of the formation of the “Book” of Psalms, many more studies could be referred to, not least since issues relating to its “final shape” have become common features of almost any study on the psalms. For recent book-length treatments of compositional aspects of either parts of, or the whole of the “Book” of Psalms, see Snearly, Return; Neumann, Hymnen; Willgren, Formation; Brodersen, End, and Hensley, Covenant. Two recent anthologies that deal with issues related to formation include Hossfeld/​Bremer/​Steiner (ed.), Trägerkreise, and Tucker Jr./​Bellinger Jr. (ed.), Psalter.

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David Willgren

Pentateuch) … This history extended over several centuries and only ended with the so-called ­final redaction of the Psalter between 200 and 150 BCE, because the successive addition of ‘new’ partial collections was accompanied by redactional interventions in ‘old’ partial collections.”2

Following this general point of entry, they sketch the contours of growth, speaking of Ps 52–68 as “the oldest collection”, of Ps 51–72 as “the davidic Psalter”, Ps 50–83 as “the Asaphite Theological Work”, Ps 42–83 as “the so-called Elohist Psalter”, Ps 2–89 as the “Messianic Psalter”, Ps 90–92 as “the partial composition”, and so on.3 Briefly put, the language used in describing the stages in this model of growth reveals not only that Hossfeld and Zenger are mainly interested in the identified collections to the extent that they cast light on the final product, but also, and more importantly, that they conceive these collections as having the final product as the primary interpretive context, therefore functioning similarly. The very notion of “partial Psalters” seems to indicate that they are not to be seen as independent, but as part of a formation process of an ever-expanding collection that is moving steadily towards its goal: the MT “Book” of Psalms.4 But how do synchronic observations in (primarily) Codex Leningradensis relate to the diachronic growth of collections of psalms in the late Second Temple period? Imbedded in most reconstructions is an idea that the Second Temple collections would be quite similar to what is now called the “Book” of Psalms, that is, that the psalms sequences can both be presupposed and conceived of as similar to the MT “Book” of Psalms in terms of stability, function, and authority. But what is the basis for such an idea?

2 

Hossfeld/​Zenger, Psalms II, 1. Hossfeld/​Zenger, Psalms II, 1–7 [all emphases D. W.]. 4  See, for example, the way the function of the “partial composition Psalms 90–92” is described: “it establishes a transition from the Messianic Psalter to the equally weighty group of ‘Yhwh is king’ psalms, 93–100, and prepares the terrain for its statements about the royal sovereignty of Yhwh” (Hossfeld/​Zenger, Psalms II, 6). As a further example of this scholarly tendency to regard possibly earlier collections as mainly performing functions related to the final “Book” of Psalms, consider Seybold, Psalms, 19–21. In his well-known introduction, Seybold proposes that the “Book” of Psalms has grown out of previously independent collections, where Ps 3–41 – a sequence he labels “the first DavidPsalter” (ibid., 21) – would have formed the “basis of the whole collection” (ibid., 19), with “the second David-Psalter” or “David’s Prayer-book” (Ps 51–72) first joined with Asaph Psalms (Ps 74–82; 73; 83) and a collection of Korach Psalms (Ps 42–49), and in subsequent stages, they were all joined into a larger collection (Ps 3–89) introduced by Ps 2. Similar to Hossfeld and Zenger, Seybold uses terms like “collection”, “part-collection”, and “Psalter” interchangeably. He also speaks of “structural” significance as well as chronological priority in the same argument (for example, the notion that Ps 3–41 is “structurally … the basic material of the Psalter” is followed by a claim that they “once formed an indepen­dent unit”, hence implying that “basic material” is also understood diachronically). More examples could be adduced, since the habit of designating sequences in the MT “Book” of Psalms as “collections” or “Psalters” is quite widespread (for studies on Ps 3–41, or parts of it, see, e. g., Hossfeld/​Zenger, Armen; Hossfeld, Profile; Barbiero, Psalmenbuch [Ps 1–41]; Hartenstein, Recht [Ps 3–14]; Bremer, Gott; and the studies by Janowski, Liess, and Schnocks in this volume). As I will attempt to argue below, such a use of terms needs further reflection. 3 



A Teleological Fallacy in Psalms Studies?35

As is clear from the title of this paper, I understand the approach just introduced as being too teleological. Formulated in such a way, I do not mean to say that the approach is unwarranted, only that it conceives the process of formation in a way which is too linear, so that all stages of formation are seen as eventually leading to what is now the “Book” of Psalms. Put differently, I will argue that the “final product” shapes the way in which the material is interpreted to an extent that cannot be substantiated by the manuscripts at hand. More specifically, the approach tends to deal only with psalms included in the current collection, and only sequences found in the current book are accounted for. Ultimately, then, the reconstructed history of transmission runs the risk of being slim-lined into a single tradition and traced backwards from a certain point in time. The material is arranged to meet the needs of the questions asked, and the envisaged process is a Masoretic Text that is simply stripped and disseminated in smaller and smaller – yet still recognizable – pieces until its genesis, and through the entire process, the concept of the “Book” of Psalms is ever present. It is in relation to this concept that all reconstructed additions and possible rearrangements are made. But is it reasonable to assume that redactors worked with similar conceptions of collections and books as they are understood today? And is current terminology precise enough to describe the sorts of texts and compilations that are encountered in the earliest manuscripts? In what now follows, I will attempt to present what I recognize as being some of the problems with the approach of recent research by putting insights from new philology in dialogue with Ps 106.5 Framed in such a way, the article relates especially to those strands of research that commonly go under the designations of “shape and shaping”, the “canonical approach” or Psalter­exe­gese.6 5 

By speaking of “insights”, two things are stressed. First, I do not attempt to give a full overview of research related to new (or material) philology. Rather, I want to highlight some aspects of it that are relevant for my purposes. For a good overview of new philology as it relates to biblical studies, I refer the reader to Lied/​Lundhaug, Snapshots. Secondly, I do not use this perspective as my main tool. My approach can rather be understood as being more in line with Najman, Authority, 23: “It is important to note that the approach that I am recommending moves beyond the distinction between what has come to be called ‘old philology’ and ‘new philology.’ … While ‘old philology’ seeks to freeze the text in a reconstructed or imagined past from which the author is summoned, ‘new philology’ freezes the text in a single concrete moment, objectifying it in a particular manuscript. In In Praise of the Variant: A Critical History of Philology, Bernard Cerquiglini tries to expose the limitations of both old and new philology. But the question on which I want to insist is: How can we understand and exhibit the source of the text’s dynamism, of its life over time? This is especially pressing in the case of texts that enjoy – at some point in time, within some community – scriptural authority.” In line with Najman’s observations, it can be said that the focus of this article will not be on any manuscript in particular. Instead, I will use insights from new philology to include material aspects more consciously into the discussion of the formation of the “Book” of Psalms than has been done by studies proceeding from mainly old philology perspectives. 6  These terms are to be understood as roughly synonymous; cf. the use made of them in deClaissé-Walford, Canonical, or the more recent Ballhorn, Psalter; see also the overview in Willgren, Formation, 3–18.

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2. Insights from New Philology In 1989, about the same time as the canonical approach to the “Book” of Psalms started to gain momentum following the work of Gerald H. Wilson,7 Bernard Cerquiglini published his “Éloge de la variante: Histoire critique de la philologie”.8 As can be gleaned from the main title, his work was both in dialogue with, and attempted to critique, the classical philology, especially in terms of its dealings with variants. If describing the aim of the classical approach as an attempt to get as close as possible to an assumed early text, with the result that what is presented is a quite polished text that is not attested in any of the existing manuscripts, it follows that variants are dealt with as deviations of that original text. The underlying idea is that at a certain point in time, be it when it left the hands of an “author” or some final editors, the text became finalized and fixed, and all changes after that point would be regarded as corruptions.9 In light of what he found in medieval manuscripts, Cerquiglini opposed this view, and claimed that “medieval writing does not produce variants, it is variance … because the variance of medieval work is its primary characteristic, the concrete otherness of discursive mobility, the figure of a pre-modern written word, editions must give it priority, following it closely.”10

A year later, Stephen G. Nichols wrote an introductory piece to a themed issue of “Speculum” called “Introduction: Philology in a Manuscript Culture” in which he pointed out some characteristics of the new philology (although he preferred to speak of it as a “renewal”):11 “If we accept the multiple forms in which our artefacts have been transmitted, we may recognize that medieval culture did not simply live with diversity, it cultivated it. The ‘new’ philology of the last decade or more reminds us that, as medievalists, we need to embrace the consequences of that diversity, not simply to live with it, but to situate it squarely within our methodology.”12

Rather than as deviations from a fixed text, variance was seen as integral to the transmission process, a process which was, moreover, increasingly seen as overlapping with reception history, and manuscripts were to be treated as snapshots of evolving traditions that were “never linear, but sometimes broken, interrupted and fundamentally 7 

Most significantly Wilson, Editing. Cerquiglini, Éloge. 9  Cf. the introduction in Lied/​Lundhaug, Snapshots, 9–10. 10  Cerquiglini, Praise, 77–78 [emphasis in original]. 11  Nichols, Introduction, 1: “What is ‘new’ in our enterprise might better be called ‘renewal’, renovatio in the twelfth-century sense. On the one hand, it is a desire to return to the medieval origins of philology, to its roots in a manuscript culture … On the other hand, … [it seeks, D. W.] to minimize the isolation between medieval studies and other contemporary movements in cognitive methodologies … by reminding us that philology was once among the most theoretically avant-garde disciplines” [emphases in original]. 12  Nichols, Introduction, 9 [emphasis D. W.]. 8 



A Teleological Fallacy in Psalms Studies?37

transformed along the way. New works grow out of older ones, writings are re-identified, and excerpted passages start circulating autonomously.”13 Such a change of perspective also meant that scholars began to look more closely at features of manuscripts that had previously been largely ignored – paratextual information such as what texts were included on the same manuscript, what marginalia and other interventions looked like,14 and how such factors provided indications about social, political, economic, and other processes through which manuscripts come into being. Put briefly, it was argued that “a literary work does not exist independently of its material embodiment, and that this physical form is part of the meaning of the text”.15 Trying to capture this variance, which for many also implied that works were not only the products of authors, but rather “the accumulation of a series of readers”,16 John Dagenais made a distinction between the treatment of manuscripts as products and dealing with their process of creation: “Perhaps our suppression of the manuscript culture that lies hidden beneath critical editions begins with an uncritical focus on the manuscript book as product. Seen from this perspective, manuscript literacy resembles print literacy. A  manuscript looks like a printed book … If we focus on the process, however, manuscript culture takes on features of orality. Each manuscript is unique (as is each oral performance). It is the work of one or more human individuals … The handwritten text as product resembles the mechanically reproduced book; the process of its creation mimics the unique, occasional nature of oral tradition and oral performance.”17

As will be made clear below, I believe this observation to be important, since a failure to distinguish properly between process (the formation of the “Book” of Psalms) and product (the Masoretic sequence) is intrinsic to many of the current reconstructions of the formation of the “Book” of Psalms. Consequently, this constitutes one of the main reasons I consider these reconstructions to be too teleological.

3. Paratextual Instability Turning now more directly to the issue of the formation of the “Book” of Psalms, it is evident that an appropriate starting point for the study would be not a reconstructed possible original sequence which is not found in any of the earliest manuscripts, but rather the earliest manuscripts themselves.18 More specifically, it would be important to pay close attention to paratextual features of the manuscripts.19 The reason for this 13  Lied/​Lundhaug, Snapshots, 9–10 (the notion of snapshots is taken from the main title of that book). 14  The overview here depends on Lied/​Lundhaug, Snapshots, 3. 15  Lied/​Lundhaug, Snapshots, 6. 16  Penn, Monks, 251. 17  Dagenais, Ethics, 17. 18 Cf. Lied/​Lundhaug, Snapshots, 1. 19  For a definition, see Genette, Paratexts, 1–2. I also introduce paratextuality in relation to the study of the formation of the “Book” of Psalms in Willgren, Formation, 29–32.

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is that what is found in these manuscripts is a fairly stable text, but quite a far-reaching paratextual instability.20 That is, while the individual psalms themselves do not always exhibit great differences if comparing manuscripts from the Second Temple period with medieval manuscripts, their paratexts, on the other hand, do (not least as it comes to superscriptions and the sequences in which psalms are found). Framed in such a way, the distinction – between textual stability and paratextual instability – becomes quite important, since theories regarding the formation of the “Book” of Psalms are primarily paratextual in focus. That is, they deal with specific functions of psalms within the larger collection, with the fixation of sequences and their role for interpreting individual psalms, and the framing of psalms by means of superscriptions, postscripts, etc. To return to Hossfeld and Zenger, when they conclude that “the successive addition of ‘new’ partial collections was accompanied by redactional interventions in ‘old’ partial collections”,21 this can be taken as a description of paratextual activity. The urgent question is, then, how such an instability can be accounted for and interpreted. 3.1 Dealing with Deviant Manuscripts Before introducing three questions that I think may be worthy of consideration when dealing with the issue of paratextual instability, I will briefly rehearse some examples of this instability in the Dead Sea psalms scrolls that, if left unconsidered, may result in theories of formation characterized by what I have chosen to call a teleological fallacy. In light of the notion of variance rather than variants, an observation to be made is that the psalms scrolls have often been treated as means to an end, rather than as interesting in their own right. They have been viewed as keys to the history of the formation of the “Book” of Psalms and arranged in relation to the reconstructed processes.22 That said, some scrolls have been more difficult to fit into the larger scheme than 20 Similar observations, but in relation to the Hebrew Bible, have been made recently by ­Yarchin, Psalms. 21  Hossfeld/​Zenger, Psalms II, 1. 22  The earliest examples can be found in, for example, Wilson, Qumran; idem, Editing, 63–138 (see also idem, Qumran Psalms Scroll), and Sanders, Variorum; idem, Cave 11; idem, Qumran (see also idem, Scrolls), and their conclusions were later developed into a “Qumran Psalm Hypothesis” by Flint (for the designation, see Flint, Dead Sea Psalms Scrolls, 8). In focus here was whether or not the most well-preserved psalms scroll, 11Q5, should be regarded as a true Davidic, scriptural collection, or if it was only secondary to the Masoretic sequence. Here, Wilson, Sanders and Flint agreed on the former, against, for example, Talmon, Pisqah; Goshen-Gottstein, Psalms, and Skehan, Complex (see also idem, Qumran; idem, Name). Both positions are problematic, however, since they use the concept of a “Book” of Psalms as structuring of the material artefacts, both as to their reconstruction and interpretation. With the MT “Book” of Psalms as a constant and primary dialogue partner – instead of the other psalms scrolls from the same period of time, who are rather brought into the dialogue as evidence for or against the status of 11Q5 – it is assumed that the MT was conceived as an (the most?) important collection during this period of time, so that manuscripts containing deviant sequences should primarily be analysed in relation to it. Inevitably, then, discussion came to focus on whether 11Q5 was chronologically secondary (thus not canonical), or prior (thus pointing to an ear-



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others, and if differences in content and order have been deemed too large, scrolls have been set aside the linear reconstructions and categorized as separate branches. The result, then, is an affirmation of fundamental methodological presuppositions and a safeguarding of main features of linear reconstructions. That is the case despite the observed paratextual instability. Three aspects of this instability could be mentioned: 1.  A first aspect concerns the nature of the material. It is often repeated that the “Book” of Psalms is among the most (if not the most) represented biblical books in Qumran, since it is found in a total of 45 scrolls.23 Consider, for example, Peter W. Flint’s introduction to the scrolls found in the “Oxford Handbook of the Psalms”: “Among the scrolls found in the Judaean desert, forty-five were Psalms manuscripts or ones that incorporate Psalms … Only Deuteronomy is represented by a comparable number of copies.”24 A number of problems can be found with such a proposal. Evidently, we must speak of matters so that they are relevant for the questions asked, but we should not use language that obscures what the manuscripts actually contain. Ignoring for now the somewhat problematic notion of “biblical” books,25 the fact is that there are not 45 copies of the “Book” of Psalms in Qumran; indeed, far from it. Firstly, a number of manuscripts are too fragmentary to reconstruct with certainty (1Q12, 3Q2, 4Q93, 4Q97, 4Q98c, 4Q98d, 4Q98e, 4Q98f, 4Q98g, pap6Q5, and 11Q9 feature only one psalm).26 Secondly, others have been reconstructed to have included only a couple of psalms (1Q10, 1Q11, 2Q14, 4Q84, 4Q88, 4Q91, 4Q92, 4Q94, 4Q98, 4Q98b, 4Q448, 8Q2, 11Q5, 11Q11, and Mas1e).27 Thirdly, others have lier stage, or separate branch of formation), to the MT “Book” of Psalms, and many have concluded with, for example, Dahmen, Psalmen, that 11Q5 should be considered secondary (cf., e. g., Leuenberger, Aufbau). However, since quite fundamental issues are running the risk of being side-stepped, the conclusions drawn in relation to the function and nature of 11Q5 need to be reconsidered. For one, the possibility that the collection did not start with Ps 101 is not always taken into consideration (for the critique of the view of Skehan, Complex, that the collection contained psalms from Ps 101 and onwards, see Jain, Psalmen, 251; cf. Lange, Handbuch, 397, 441; Puech, Review, 280–281, and the discussion in Willgren, Formation, 94–96), and the notion that a later collection could not be canonical just because it is later is not convincing. 23  So, in various ways, Tov, Criticism, 105; Flint, Psalms, 31; Brooke, Canon, 244–245; Abegg Jr./​Flint/​Ulrich (ed.), Scrolls, 505–511; Flint, Scriptures, 296, although the number of scrolls listed vary. For more nuanced views, see for example Fabry, Psalter; Lange, Psalms; Pajunen, Perspectives; Yarchin, Psalms. 24  Flint, Unrolling, 229 [emphases D. W.]. The first part of the quotation shows awareness that the scrolls are not necessarily copies of the “Book” of Psalms, but the comparison in the second half makes it clear that such a relation is still permeating the discussion. 25  For a discussion, see Mroczek, Hegemony. 26  To take but one example from the scrolls mentioned here, consider 4Q98c, which features Ps 88:17–18. It was first thought to be part of 4Q98b (see the overview in Ulrich et al. [ed.], Qumran, 155), but was singled out on the basis of, amongst other things, the leather. In its current fragmentary state, no conclusion about the nature of the original scroll can be drawn. It could, for example, contain the remains of only a quotation of the psalm, cf. Lange, Handbuch, 392. 27  See, for example, 4Q88, which features Ps 22 [→ ?] 107 [→ 108 →] 109 [→] Apostrophe to Zion [→] Eschatological Hymn [→] Apostrophe to Judah [→], and based on column height and width, it

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been reconstructed to include only a single psalm (4Q89, 4Q90, and 5Q5, Ps 119).28 Finally, only a few would have had a theoretical possibility to have contained a collection of a size comparable to the Masoretic “Book” of Psalms (4Q83, 4Q85, 11Q7, 11Q8, Mas1f, and 5/6Hev1b).29 Consequently, the vast majority of scrolls actually ˙ reveal quite different kinds of collections. It would perhaps be tempting to refer to some of these as part-collections anyway, but is that really doing justice to the artefacts themselves? Ultimately, we end up finding pieces of the book here and there, but forgetting that in fact we do not have it as a whole at all in the Dead Sea Scrolls.30 2.  Second, and related to the nature of the material, I would argue that the study of the scrolls needs to take the physical shape and layout of the actual manuscripts into fuller consideration. To take one example from the discussion of the status and authority of 11Q5, much attention was given to DavComp. While some argued that this prose piece was unfit for a canonical collection of psalms,31 many have suggested that it performed the function of a paratext within the collection, so that it could be seen as an epilogue.32 However, there is nothing with the actual layout of the text in 11Q5 that indicates such a function. With the exception of Ps 119, all compositions are laid out as prose, and as suggested by Eva Mroczek, the suggestion that DavComp functioned as a conclusion to the scroll relies too little on the actual manuscript and too much on the critical edition by Sanders, where it is placed last in a section which includes only compositions which were not found in the MT “Book” of Psalms, a section where all compositions except DavComp are laid out stichometrically.33 3.  If the material is as complex as mentioned, it becomes quite clear that the understanding of deviant sequences and readings must be understood in relation to the function and use of the actual scroll, rather than to a supposed Urtext or Ursammlung, that is, in relation to the product and not only to the process. A case in point would has been proposed that it would not have contained an extensive collection, see, e. g., Jain, Psalmen, 111.296. 28  It is uncertain whether these scrolls featured only Ps 119, although it has been deemed likely. As for 4Q89, for example, Fabry, Psalter, 146, has suggested that if containing only Ps 119, and in light of the stichometric layout, it might have had a liturgical function. 29  Of these scrolls, only 11Q8 contains psalms from all five “books” (ranging from 6–116), although there is much uncertainty as to the placement of the fragments, and it is clear that the MT sequences have been fundamental in the reconstruction, see Willgren, Formation, 102. 30  Also of relevance to this aspect of instability is the way in which psalms appear in the pesharim. For a general overview, see Willgren, Formation, 316–317. Several pesharim are found which use psalms, see, for example, 1Q16 (Ps 57; 68), 4Q171 (Ps 37; 45; 60); 4Q173 (Ps 127; [128?]; 129; 118); 4QMidrEschata.b (Ps 1; 2; 5?; 10; 11; 12; 13; 16; 17; 6?, for an analysis of the use made of psalms in this composition, see idem, Book); and 11Q13 (Ps 82; 7, for a discussion of the use made of Ps 82 in particular in this composition, see idem, Songs). 31  So, e. g., Talmon, Pisqah, 13. 32  See, e. g., Flint, Dead Sea Psalms Scrolls, 194; Fabry, Psalter, 144. Presumably at the end of an earlier version of the collection, so Leuenberger, Aufbau, 194–197; Dahmen, Psalmen, 306– 312. 33  Mroczek, End, 305. See the edition in Sanders (ed.), Psalms, 53–94.



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be 11Q11, which features Ps 91 in a sequence different from the Masoretic one.34 This manuscript possibly contains four compositions,35 where the last is Ps 91, and according to Puech, it comprised a “rituel d’exorcisme”.36 Much indicates that this scroll – or its content – was used for apotropaic purposes, and this relates also to the text of Ps 91.37 If reasonable, this scroll should not be taken as yet another copy of the “Book” of Psalms, therefore underlining the importance of taking into account the function of a scroll in order to assess its part in the discussion on the formation of the “Book” of Psalms. Ultimately, I believe that imposing the notion of a fixed sequence of psalms to which all other scrolls can be related (or even derived) is quite contrary to what is actually seen throughout the Dead Sea Scrolls. The scrolls are not variants of a MT “Book” of Psalms. The Dead Sea psalms scrolls rather reveal variance, and this needs to be situated more squarely within our methodology, to borrow the words of Nichols quoted above. 3.2 Asking Questions Anew To move forward, I would like to suggest that to tackle the challenges posed by the Dead Sea Scrolls in particular, and to situate variance squarely within our methodology, the studies dealing with the formation of sequences in the “Book” of Psalms (regardless of length) would benefit from asking the following questions prior to assessing purpose or intentionality. As introduced here, the questions relate to the three aspects of instability mentioned above. 1. Are the relevant paratexts stable over time (or at least similar to the ones found in the MT)? If not, what kind of variation is seen, and how can it best be accounted for? Phrased in such a way, this question relates not only to superscriptions, subscripts, prefaces, epilogues and the like, but also to, for example, the way in which psalms are placed in sequence. 2. What kind of paratext is it? How can its function best be understood? What is important when answering such a question is to relate the answer to the issue of how the paratext functions within the collection as a whole, and this would, in turn, require a notion of the nature of the collection.38 34  For analyses of this scroll, see, for example, Van der Ploeg, Rouleau; Puech, 11QPsApa; idem, Psaumes; Sanders, Liturgy. 35 Cf. García Martínez/​Tigchelaar/​Van der Woude (ed.), Qumran, 183: “at least three”. 36  Puech, 11QPsApa, 400. 37  See the discussion in Eshel, Prayers, 72–74, cf. Sanders, Liturgy, 231. 38  Consequently, it does not suffice to relate to the “Book” of Psalms as a book, since such a term does not explain how the various parts of the book relate to each other. More precision is needed, and in an attempt to do just that (to discuss in what way the “Book” of Psalms can best be under­stood as a “book”) I devoted a part of my study on the formation of the “Book” of Psalms to introduce the concept of anthology (Willgren, Formation, 21–33). As I explained there, it is not to be seen as either/

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3. How is the psalm used? Can support for the proposed readings be found in the ancient contexts? Although these questions are usually difficult to answer, they are important since they can shed light on possible anachronisms in suggested intentions behind the compilations and situate the formation processes more firmly in the ancient material and scribal cultures. Formulated in such a way, the first two questions address the interplay between pro­ cess and product introduced above, while the third relates to ancient hermeneutics. To briefly illustrate how these three questions could assist an analysis of paratextual instability and formation processes, I will now turn to Ps 106, which is argued to have great significance for understanding the final “shape” of the “Book” of Psalms, not least by means of being one of the psalms with a “book” dividing doxology, a Hallelujah framework, and a ‫הודו‬-phrase. These features, alongside its placement in the “Book” of Psalms, have led scholars to conclude that it has a paratextual function within the collection as a whole.

4. Some Ways Forward, as Related to Psalm 106 4.1 Are the Paratexts Stable over Time? Turning first to the issue of paratextual stability, there are a number of relevant points to consider, with Psalm 106’s placement in sequence and the presence of frameworks being the more obvious. What, then, can be found in relation to this particular psalm? Throughout the Dead Sea Scrolls, Ps 106 is not attested in full anywhere, but there are some possible traces, albeit weak ones. The first is in 4Q86, a manuscript which is reconstructed from 14 fragments dating to the mid-first century BCE, and which preserves three psalms.39 The last two are possible to reconstruct as Ps 147 and 104, but the identification of the first is uncertain. What remains on the manuscript are parts or (either a book, or an anthology), as some reviewers have understood it (see, for example, Klein, Review, 305; McKelvey, Review, 161, and also Graham, Psalm, 24). On the contrary, I use the concept of anthology as a theoretical framework in relation to which the notion of a book can be understood. Consequently, I do not replace the notion of a book with the notion of an anthology, but define the book as an anthology. And to further make the reader aware of this need for precision, I consequently put “book” within quotation marks. As a flexible and dynamic concept, I also argue that anthologies could have various degrees of coherence. In fact, the view that the “Book” of Psalms would have a specific message developing throughout its seams (so esp. Wilson, Editing, 11) can be readily understood in relation to such a concept. However, as I have argued at length, there are many problems with such a view, and so I concluded that the “Book” of Psalms is probably a far more loosely compiled anthology (Willgren, Formation, 385–392). Ultimately, then, the important question is not whether the “Book” of Psalms has been intentionally organized or not, but rather how to understand such intentionality. So put, the analysis of paratexts becomes central, since they are the very elements that bring a book together (ibid., 30). 39  Flint, Edition, 95; Ulrich et al. (ed.), Qumran, 64; cf. Jain, Psalmen, 90. A description of this manuscript is also found in Willgren, Formation, 88.



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of a ‫הללויה‬, as well as a final letter that extends below the line (either ‫ך‬, ‫ן‬, or ‫)ץ‬.40 Since Ps 146:10 ends with ‫ודר‬, it has been suggested that the most likely candidate would be Ps 106, given that it ends with ‫אמן‬.41 Evidently, the remains could just as well be from a non-MT text, but if correct, this would mean that the first time Ps 106 is encountered in a manuscript is in a sequence different from the Masoretic sequence. This being the strongest of the possible attestations, it might also have been present in 4Q87 and 11Q5. In 4Q87, a mid-first century CE manuscript consisting of 26 fragments, the remains of up to twenty psalms can be found.42 Some of these are juxtaposed in a way different from the MT “Book” of Psalms, but some overlap might be found with sequences in 11Q5.43 Of interest to my purpose here is that a ‫ הללויה‬follows after Ps 105, and while it could be the first ‫ הללויה‬of Ps 106, Flint opts for Ps 146, as this psalm follows Ps 105 in 11Q5.44 If reconstructing Ps 106, however, it would be juxtaposed to Ps 105 in a way similar to the MT sequence, but the entire sequence would still be in conflict, since the psalms preceding Ps 105 are Ps 118, 104 and probably 147. Last, according to Eva Jain, there is a theoretical possibility that Ps 106 was attested in 11Q5, following Ps 103 (Ps 101 → 102 → 103 [→ 106(?) → 107(?) → 108(?) →] 109), although that is entirely hypothetical.45 In sum, then, throughout the Dead Sea Scrolls, Ps 106 is not found in any sequence agreeing with the MT one, and does not seem to perform any paratextual function in the scrolls in which it might have been attested. Looking more broadly at the psalms to which Ps 106 is juxtaposed in the MT, it can be further observed that Ps 103–106 (109), 118–119, and 133–150 are most often found in sequences conflicting with that of the MT, while, for example, Ps 120–132 is preserved several times without any conflict.46 The suggestion that Ps 106 had no significant paratextual function is also somewhat strengthened if looking at the presence of the Hallelujah. Unfortunately, little is known from the Dead Sea Scrolls, where a possible attestation is found only in 4Q86, but in the LXX, the Hallelujahs are relocated, so that the sequence does not end with Ps 106 but with Ps 107, with each of Ps 105–107 beginning with a Hallelujah.47

40 Cf. Lange, Handbuch, 380.

41 So Flint, Dead Sea Psalms Scrolls, 165, with note 52; idem, Edition, 98; Ulrich et al. (ed.), Qumran, 66. Cf. Skehan, Qumran, 165–166, with note 10. 42  Ulrich et al. (ed.), Qumran, 73. There are also a number of unidentified fragments (Lange, Handbuch, 381). 43 So Flint, Dead Sea Psalms Scrolls, 160–164. The arguments are repeated in Ulrich et al. (ed.), Qumran, 74–76. 44  Jain, Psalmen, 176. 45 See Willgren, Formation, 111–112. 46 See Willgren, Formation, 111–112. 47  For a table illustrating this, see Willgren, Formation, 283.

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4.2 What Kind of Paratext? As to the second question, one of the features of Ps 106 that has been understood as having paratextual function beyond its function in the psalm itself is the first verse: ‫הודו ליהוה כי־טוב כי לעולם חסדו‬. As the phrase is featured in a prominent place in a number of psalms, scholars have argued that it has structural significance within the “Book” of Psalms as a whole.48 However, little consensus is found as to how the phrase functions. The relation to Ps 107 is perhaps the most urgent, since Ps 107 has a similar first verse. The problem is that the presence of this phrase, which I have called a levitical stock-phrase,49 should presumably indicate that it functioned as an introduction, but the Hallelujah frameworks, as well as the doxology, rather point to it having a concluding function. Consequently, instead of indicating that Ps 106:1 serves as an introduction to a new sequence or segment of psalms, these features point to an easier conclusion – that the ‫הודו‬-phrase is in fact not a paratext, but an integral part of the psalm. The same would apply to the concluding doxology. As I have argued elsewhere, the historical overview in v. 7–46 probably aims to prepare for and evoke a communal response and confession of sin.50 If so, the Amen uttered by the people can best be understood as an affirmation of the whole psalm. Consequently, the doxology would not have been composed as a “literary response to the fourth book of the Psalms”,51 but was initially a part of the psalm itself. This does not mean, however, that the doxology never performed paratextual functions, only that it was not originally intended to.52 What this shows, then, is the importance of inquiring into each possible paratext, not only as it stands, but also in relation to possible developments of use. 4.3 How is the Psalm Used in Contemporaneous Settings? As with many of the psalms now found in the “Book” of Psalms, not much can be said about any specific use, but in the case of Ps 106, there are at least two examples of how it was understood in the Second Temple period, and a brief overview will show that none of these compositions are aware of any book-dividing function.53

48 See in particular Wilson, Editing, esp. 186–190.220–228; Zenger, Psalmenauslegung; Levin, Psalm; Ballhorn, Telos, 198; Kratz, Tora, 297–298. 49  Cf. my discussion in Willgren, Formation, 305–309. 50  Willgren, Formation, 210. So also Gerstenberger, Psalms, 244; Goldingay, Psalms, 222, cf. Gärtner, Geschichtspsalmen, 236. 51  The expression is from Allen, Psalms, 74. 52  In fact, much speaks in favour of this doxology having attained paratextual functions over time. See, for example, Midrash Tehillim: “You find that whatever Moses did, David did … As Moses gave five books of laws to Israel, so David gave five Books of Psalms to Israel” (translation from Braude [ed.], Midrash, 2:5). The notion of five books is likely to refer to the four doxologies which now divide the Masoretic “Book” of Psalms into five parts. 53  For a fuller treatment, see Willgren, Formation, 211–216.295–296.327–331.



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The first passage is the well-known 1 Chron 16, where Ps 106 is quoted only in part, at the end of a longer psalm consisting of Ps 96 and 105. The whole composition is attributed to David and given to the Asaphites. Without entering into a lengthy discussion, a couple of observations can be made. First, it seems as if 1 Chron 16 presupposes a transmission of a larger corpus of psalms attributed to David and Asaph of which Ps 96, 105, and 106 were part, but that either the sequence of these psalms seemed to play little significance, or that 1 Chron 16 preserves a paratextual arrangement of the three psalms that is different from the Masoretic one. Either way, the use provides a clear example of what I  referred to as variance above. Second, it is clear that 1 Chron 16 understands the concluding ­doxology and possibly also the final Hallelujah as intrinsic parts of Ps 106, that is, not as performing any paratextual functions within a collection of psalms. Although this does not necessarily mean that it never had such a function, it at least makes the case for such a conclusion a bit weaker. Third, in light of this composition being placed in the mouth of the Asaphites, it can be suggested that the psalm is related to a liturgical context, rather than a literary one, thus indicating a liturgical or some kind of performative use.54 The second text in which Ps 106 is found is 4Q380. This manuscript, consisting of seven fragments, contains a psalm focusing on Zion that has some overlaps with Ps 106:2–5 in lines 1–12.55 In fact, these overlaps have caused some discussion as to the direction of dependence between the two. Although it is commonly assumed that Ps 106 is prior to 4Q380, Mika Pajunen has recently expanded on an early suggestion by George Brooke that Ps 106 in fact depends on the version attested in 4Q380.56 Although many of the differences are inconclusive when it comes to direction of dependence, I believe a case can be made for the opposite direction, that 4Q380 reuses Ps 106.57 If so, Corinna Körting is probably correct when she proposes that the writer has “strategically reappropriated the older text material and the biblical traditions about Jerusalem and Zion for a new purpose”.58 However, regardless of the direction of dependence, this manuscript provides an interesting example of a common use made of psalms in the Second Temple period, namely as inspiration for new prayers.59 Similarly, psalms could also be the subject of pesher commentaries, they could be used in liturgies, and so on, and in these new compositions, very little (if anything) is seen as to the impact of paratextual positioning in sequences resembling the Masoretic sequence. Rather, psalms seem to be used and related to as indi54  So, e. g., Gese, Entstehung, 166. On the function of the stock-phrase, see also Mathys, Dichter, 209; Kratz, Tora, 293. 55  For an analysis, see Brooke, Psalms; Schuller, 4Q380; Eshel et al. (ed.), Qumran, 75– 172; Pajunen, Connection. 56  Brooke, Psalms; Pajunen, Connection. 57 See Willgren, Formation, 329–331. 58  Körting, Jerusalem, 219. 59  Another clear example of this use would be the reworking of Ps 51 in 4Q393, see Falk, Adaptation.

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vidual compositions, regardless of which collection they were taken from (this is further underlined by the possible reuse of Ps 106:37, 40–41 in 4Q243 13 2–3, as well as in 4Q244 12 2).60

5. Side-Stepping Fallacy In sum, the challenge presented by the Dead Sea Scrolls can be formulated like this: What we have is all we’ve got, but what we have is not all there was. As has been shown with the help of Ps 106, the scrolls reveal a significant paratextual instability. So, how can such a variance be situated squarely within our methodology? As a possible way forward, I suggested that three questions were important to ask: 1. Are the relevant paratexts stable over time (or at least similar to the ones found in the MT)? If not, what kind of variation is seen, and how can the variation best be accounted for? 2. What kind of paratext is it? How can its function best be understood? 3. How is the psalm used? Answered briefly in light of Ps 106, some tentative conclusions can be drawn. First, it would be safe to assume that different collections were continuously compiled throughout the Second Temple period. These collections cannot be easily arranged into a linear scheme, but reveal a far “fuzzier” reality where it is not possible to distinguish clearly between transmission, formation, canonization, and reception of psalms. Second, it would be appropriate not to conceive of “stabilization” as a deliberate process, but rather as the result of an organic process where certain clusters of psalms were more prone to rearrangement than others, depending on their use. Returning to the main focus of this article, what I suggest as a teleological fallacy is when scholars extrapolate ideas of fixed, final forms of text backwards so that each succinct stage of formation that precedes the latter is constituted similarly. Seen in light of the actual manuscripts, this procedure emanates as problematic, but by asking the three questions introduced above, I believe that some of the fallacies could be avoided. When more of the frozen snapshots of the formative processes are taken into consideration, the “Masoretic” psalms sequence becomes somewhat decentralized.

Bibliography Abegg Jr., M./​Flint, P. W./​Ulrich, E. (ed.), The Dead Sea Scrolls Bible: The Oldest Known Bible, Translated for the First Time into English, San Francisco 1999. Allen, L. C., Psalms 101–150: Revised ed., WBC 21, Nashville 2002. 60 

The only examples of occasions where sequences seem to have mattered are liturgies. Consider, for example, the way m. Pesah. 5,7 relates to Ps 113–118. ˙



A Teleological Fallacy in Psalms Studies?47

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Armentheologie und Intertextualität Zum Zusammenspiel von Thema, Textbezügen und Entstehung des Psalters* Johannes Bremer 1. Hinführung Das Konzept der „Theologie des Psalters“1 nach Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger legt sechs thematische Ebenen zugrunde, die den gesamten Psalter durchziehen und seine Struktur wesentlich prägen.2 Dabei führen nach zunächst synchronem Blick deduktiv am Masoretischen Psalter gewonnene Beobachtungen zu theologischen Themenebenen des Psalters: (1) (2) (3) (4) (5) (6)

die Spannung von Klage und Lob, das Echo auf die Geschichte, das Thema der Präsenz Gottes in Raum und Zeit, David als Autorität des Psalters, die Armentheologie und die kanonische Bedeutung des Psalters.3

In einem zweiten Schritt gelangen Fragen der Redaktion des Psalters ins Spiel und die zunächst synchrone Herangehensweise wird diachron reflektiert. „Die synchrone Betrachtung der Struktur des Psalters führt zur Suche nach diachronen Lösungen für die vorfindlichen Spannungen.“4 Wie verhalten sich Fragen der Theologie eines Textkorpus – hier: des Psalters bzw. seiner Teilbereiche – und die Entstehung der Texte zueinander?5 Die Verbindung beider, der syn- und der diachronen Frage, zielt auf das Zusammenspiel von Thema, Intertextualität und Entstehung des Psalters. *  Der Autor schreibt diesen Beitrag als Research Associate am Department of Old Testament and Hebrew Scriptures, Faculty of Theology and Religion der University of Pretoria. 1  Vgl. hierzu den Sammelband Berges/​​Bremer/​​Steiner (Hg.), Theologie. 2  Vgl. hierzu zuletzt das den Wortlaut Hossfelds wiedergebende Vorwort zum Band Berges/​​ Bremer/​​Steiner (Hg.), Theologie. 3  Zur näheren Ausführung vgl. Berges/​​Bremer/​​Steiner (Hg.), Theologie. 4  Berges/​​Bremer/​​Steiner (Hg.), Theologie, 11. 5 Vgl. Berges/​​Bremer/​​Steiner (Hg.), Theologie.

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Johannes Bremer

Die hier nur kurz angerissene Hermeneutik wurde zunächst zu Beginn der 90er Jahre in Publikationen formuliert6 und danach wiederholt in Aufgriff auf Diskus­sion, Anfragen und Kritik7 dargelegt.8 Zuletzt wurde der Ansatz hermeneutisch insb. durch die Arbeiten von Alma Brodersen und David Willgren angefragt.9 Willgren wendet sich mit seiner Arbeit, die u. a. auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Thesen Gerald H. Wilsons10 und Peter W. Flints11 darstellt, wider die Vorannahme eines masoretischen Textes als alleinigem Ausgangspunkt der exegetischen Auseinandersetzung mit dem Psalter und mahnt, sowohl materielle Ausdrucksmöglichkeiten zur Zeit der Entstehung von Psalmen und Psalter als auch die historischen Entwicklungen und den Gebrauch des Psalters mit in die Analyse einzubeziehen. Seine Kernfragen des „How“ und „Why“ des Prozesses der Psalterformation leisten dabei wichtige Impulse zur Beschäftigung mit Psalmen und Psalter. Sofern die materielle Evidenz auf eine Diversität an Kanones verweist, tangiert dies die Hermeneutik einer Rückfrage des Prozesses der Psalterformation alleine gemäß der Argumentation an seiner (masoretischen) Makrostruktur.12 Der hier vorgelegte Beitrag möchte hierauf eingehen, sich bewusst orientierend an dem o. g. Zusammenspiel von Syn- und Diachronie nach Hossfeld und Zenger, welches auch meiner Monographie zur Armentheologie vor ihrem sozio-ökonomischen Hintergrund der achämenidischen Provinz Yəhūd zugrunde liegt.13 Diese versteht sich als gewinnbringender Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Armenthematik als eine der sechs o. g. Themenebenen des Psalters als Buch zu Gunsten der Kernfrage einer Theologie des Psalters.14 Das Zusammenspiel von Thema, Intertextualität und Entstehung des Psalters wird nachfolgend an drei Beispielen des Themenbereiches der Armentheologie aufgezeigt: (1) intertextuelle Bezüge zwischen „Armenpsalmen“ am Ende des 1. Davidpsalters: Ps 25; 34 und 35 im Zusammenspiel; 6  Zum Ansatz der sog. Neueren Psalmen- und Psalter­exe­gese vgl. etwa den ersten Kommentarband von Hossfeld und Zenger aus dem Jahre 1993: Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29). Der Ansatz ist 1996 in BibInt in Auseinandersetzung mit dem redaktionskritischen Entwurf von Matthias Millard (vgl. Millard, Komposition) diskutiert worden, vgl. Millard, Psalmenexegese, 311– 328; Rendtorff, Anfragen, 329–331; Hossfeld/​​Zenger, Wege, 332–343; Millard, Response, 344–345. 7  Vgl. etwa die Kritiken von Kuckhoff, Werden, 73 u. ö.; Adam, Held, 131–133; Saur, Königspsalmen, 72 Anm. 86, u. a. 8 Vgl. Zenger, Psalter als Buch, 1–57; ders., Psalter als biblisches Buch, 324–334; ders., Psalmenexegese, 17–66; Hossfeld/​ders., Psalmenauslegung, 237–257; Schnocks, Psalmen, 31– 33.50–67. Vgl. auch die Veränderungen der Darstellung innerhalb der „Einleitung in das Alte Testament“, zuletzt Zenger, Buch der Psalmen, 431–455. 9 Vgl. Brodersen, End; Willgren, Formation. 10 Vgl. Wilson, Manuscripts; ders., Evidence. 11  Vgl. u. a. Flint, Psalters. 12 Vgl. Willgren, Formation, 391–392. 13 Vgl. Bremer, Armen. 14  Vgl. zuletzt auch Bremer, Theology.



Armentheologie und Intertextualität53

(2) die Dopplungen Ps 14 und 53 sowie (3) Ps 107 als paradigmatischer Eröffnungspsalm des 5. Psalmenbuches.

2. Analyse Im Psalter spielen 39 Psalmen auf „Armut“15 an.16 Für die Frage nach einer Theologie des Psalters kann auf die Frage nach „Armut“ insofern zurückgegriffen werden, als Psalmen auf unterschiedliche Weisen armentheologische Aussagen treffen. Dabei weisen zum einen unterschiedliche Nomen auf unterschiedliche Ausprägungen von „Armut“17: Sie reichen vom Ausdruck tendenziell primär materieller (‫„[ דל‬Hilfloser“/„hilflos“], ‫„[ רׁש‬Armer“/„arm“]) über mit körperlicher Gewalt verbundene Armut (‫„[ דך‬Zerschlagener“/„zerschlagen“]) bis hin zu von einem spirituellem Armutsverständnis nicht a priori unterscheidbarer Armut (‫„[ עני‬Elender“/„elend“], ‫„[ אביון‬Bedürftiger“/„bedürftig“] u. a.).18 Bisweilen werden unterschiedliche Bedeutungen für Singular- und Pluralnennungen angenommen. Kombinationen von Nomen (‫„[ בני אביון‬bedürftige Kinder“], ‫„[ עם־עני‬elendes Volk“] u. a.) und Doppelausdrücke (‫[ עני ואביון‬adjektivisch: „elend und bedürftig“], ‫[ דל ואביון‬adjektivisch: „hilflos und bedürftig“] u. a.) können spezifische Intentionen tragen; ebenso sind die personae miserae (‫„[ אלמנה‬Witwe“], ‫„[ יתום‬Waise“] und ‫„[ גר‬Fremder“]) zu berücksichtigen. Darüber hinaus wird Armut im Psalter auch ohne Verwendung eines expliziten Armenterminus zum Ausdruck gebracht.19 Neben Nomen weisen zum anderen Verben auf verschiedene Aspekte von Armut, insofern sie beschreiben, wie, d. h. in welcher Art und Weise, auf Armut reagiert wird. Dies kann u. a. an den Reaktionen Gottes auf den oder die „Armen“ ersehen werden: Das Spektrum des Handelns Gottes an den „Armen“ reicht dabei von einem verbalisierten Wahrnehmen (vgl. die Verben ‫ ׁשמע‬Qal [„hören“, Ps 22,25; 34,7; 40,2], ‫ראה‬ Qal [„sehen“, Ps 31,8], ‫ ידע‬Qal [„erkennen“, Ps 31,8; darüber hinaus Ps 69,6 u. a.]) über ein in Aktion tretendes Zugewandtsein (vgl. die Verben ‫ קום‬Qal [„aufstehen“, Ps 12,6]/​ Hif῾il [„(ihn) aufstellen“, Ps 40,3], ‫ עמד‬Hif῾il [„stellen“, Ps 31,9], ‫ נצר‬Qal [„behüten“, 15 

Die u. g. unterschiedlichen Ausprägungen von „Armut“ führen zur Setzung des Terminus in signum citationis, um Missverständnissen zu enger Verständnisweisen vorzubeugen. Zu Gunsten des besseren Leseflusses wird gleichsam bisweilen auf Setzung in signum citationis verzichtet. 16  Ps 4; 9; 10; 12; 14; 18; 22; (24;) 25; 31; 34; 35; 37; 40; 41; 68; 69; 70; 72; 74; 76; 79; 82; 86; 102 (nur nach der Überschrift!); 103; 107; 109; 112; 113; 116; 119; 132; 138; 140; 142; 146; 147; 149. Vgl. zum Überblick Bremer, Armen, 473–478. 17  Vgl. meinen Hinweis Anm. 15. 18 Vgl. Botterweck, Art. ‫אֶ ְביֹון‬, 28–43; Kraus, Psalmen, 109; Berges/Hoppe, Arm und reich, 13–14; Gerstenberger, Art. ‫ עָ נָה‬II, 247–270; Gillingham, Poor, 17–19; MartinAchard, Art. ‫῾ ענה‬nh, 342–344; Groenewald, Psalm 69, 147–149; ders., Psalms 69:33–34, 428–431; Fabry, Art. ‫ ַדּל‬, 211–244; SÆbø, Art. ‫ ;רוׁש‬Rhode, ʽani, 1–5, sowie Bremer, Armen, 318– 327, mit weiteren Verweisen und Angaben der entsprechenden Referenzverse. 19  So etwa bezogen auf Ps 4. Vgl. Hossfeld, Profile, 66; ders./​Zenger, Psalmen 51–100, 63; Janowski, Konfliktgespräche, 58–60.

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Ps 40,12], ‫ חׁשב‬Qal [„sorgen für“, Ps 40,18] u. a.), Rechtshandeln (‫ ידרך ענוים במׁשפט‬Hif῾il [„er leitet die ‫ ענוים‬im Recht“, Ps 25,9]) bis zu einem expliziten Retten (‫ יׁשע‬Hif῾il, ‫נצל‬ Hif῾il [Ps 12,6; 18,28; 35,10; 40,18//70,6; 109,31; 142,7 u. a.; vgl. aber auch z. B. Ps 113: (‫)]רום )מאׁשפת( ;קום )מעפר‬, woraus Motive wie das der Rettung oder der Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen erschlossen werden können.20 Zur ersten, synchronen Analyse sind die unterschiedlichen Ausprägungen der Armenthematik herauszustellen und in Beziehung zueinander zu setzen. Die o. g. Fragestellungen werden an dieser Stelle zur Betrachtung der nachfolgenden drei Beispiele konkretisiert: Inwieweit und an welchen Positionen im Psalter wird „Armut“ zum Thema gemacht? Lässt sich zum einen über die zum Ausdruck gebrachte Art von „Armut“ und zum anderen über die Reaktion Gottes auf diese Armut etwas zur Formation und Redaktion des Psalters aussagen? Wo zeigen sich Bezüge innerhalb des Psalters? Lässt sich darüber der Schritt zu Fragen der Entstehung des Psalters gehen? 2.1 Intertextuelle Bezüge zwischen „Armenpsalmen“ am Ende des 1. Davidpsalters Innerhalb des 1. Davidpsalters weisen die auf „Armut“ anspielenden Psalmen insgesamt neben ihren individuellen Charakteristika als Einzelpsalmen Ähnlichkeiten auf. So sind zur Armentheologie der Psalmen des 1. Davidpsalters im Allgemeinen sechs Aspekte festzuhalten: (1) Die Davidpsalmen zeigen durchweg keine mit dem Kult verbundene armentheologische Ausrichtung, sondern eine auffallende solidarische Nähe des Beter-Ichs zu den „Armen“ und beschreiben ein Gottesbild, das nicht kultische Verehrung, sondern Empathie und Affinität für „Arme“ als Jhwhs erste Wesenseigenschaften erkennen lässt. Der vorherrschende Terminus ist hier ‫„( עני‬Elender“/ „elend“).21 (2) Der 1. Davidpsalter zeigt eine Verschärfung der armentheologischen Akzentuierungen, die Indiz für ein Wachstum der Sammlung Ps 3–41 „von vorne nach hinten“ ist. (3) Die im weiteren Verlauf herausgestellten Motive der Rettung und Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie das Motiv eines „Armenethos“ finden sich nur am Ende des 1. Davidpsalters oder in sekundären Zufügungen. Sie werden auch durch einen entsprechend unterschiedlichen Gebrauch des Armenvokabulars wie durch verwendete Verbformen zum Ausdruck gebracht, welche die Empathie Gottes zu den „Armen“ beschreiben. (4) Die armentheologische Ausrichtung der Psalmen des letzten Teiles des 1. Davidpsalters scheint den Psalmen konstitutiv, wohingegen sie in Psalmen der ersten und zweiten Gruppe des 1. Davidpsalters (Ps 3–14; 15–24) auch sekundär ein20 Vgl. Bremer, ‫ ;אֶ ְביֹון‬hier und in weiteren Publikationen verwende ich auch den Begriff des „Revolutionsmotivs“, sofern es um die Umkehrung gesellschaftlicher Strukturen (top to bottom und bottom to top) geht. 21  Vgl. unten die Ausführungen in Zusammenhang mit dem Blick auf Ps 25.



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getragen wurde bzw. Psalmen mit konstitutiver armentheologischer Ausrichtung, teilweise mit deutlichen Beziehungen zueinander, sekundär ergänzt wurden. Dies geht einher mit der Annahme einer gezielten armentheologischen Komposition des 1. Davidpsalters, welche die armentheologische Ausrichtung an strukturrelevanten Positionen investiert hat. (5) Selbstbezeichnungen des Beter-Ichs mit einem Armenterminus (bei nicht exklusivem, doch abzugrenzendem Vokabular) finden sich primär am Ende des 1. Davidpsalters; sie lassen nicht auf eine sozial-materielle Armut schließen, sondern zeigen ein weisheitliches Armutsverständnis eines nachdenklichen und selbstreflektierten Beter-Ichs. Dies lässt Vermutungen zu einem Trägerkreis des 1. Davidpsalters zu, der bei einer Verschärfung sozio-ökonomischer Gegebenheiten (s. u. zu 4.) „von hinten“ in den 1. Davidpsalter redaktionell eingriff und eine dergestaltige Solidarität mit den „Armen“ der Gesellschaft hegte, dass er sich über die durchgehende Solidarisierung hinaus verbal selbst den Armen zurechnet. (6) Indizien sprechen für die Annahme eines kultkritischen Trägerkreises der Armentheologie des 1. Davidpsalters, der nicht vermochte die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern, jedoch in der Lage war seine Stimme für die „Armen“, mit denen er sich solidarisierte, zu erheben.22 In Ps 25 rechnet sich das Beter-Ich selbst den „Armen“ zu und bezeichnet sich als ‫„( יחיד ועני‬einsam und elend“, V. 16) und spricht von ‫„( עניי‬mein Elend“, V. 18). Diese Selbstprädikationen mit Armentermini heben den ersten Psalm der dritten Gruppe Ps 25–34 von den – bis auf den Doppelpsalm Ps 9/10 – vorherigen ab.23 Das von der Wurzel ‫ ענה‬II abgeleitete Nomen und Adjektiv ‫ עני‬gehört zu den Armentermini, die nicht auf eine Grundbedeutung engzuführen sind,24 und gerade hier changieren sozial-materielle und spirituell-religiöse Bedeutungsnuancen, wobei die Derivate, insbesondere die Nomen und Adjektive, zu den quantitativ häufigsten „Armen“-termini im Psalter zählen.25 Hier geht es um Statusminderung, Unterdrückung und erzwungene Abhängigkeit, verbunden mit dem „Appell an Jhwh, der als Gott der Befreiung eingreifen soll“.26 Die Formen tauchen insb. in den 22 Vgl. Bremer, Armen, 412–413.479–482; ders., Armentheologie, 360–368; ders., Theology. Zur Auseinandersetzung mit der hier nicht verfolgten Trägerkreisfrage vgl. ders., Armenredaktion, 181–205. 23 Vgl. Bremer, Armen, 319–322. 24 Vgl. Gerstenberger, Art. ‫ עָ נָה‬II, 251; Berges/​​Hoppe, Arm und reich, 14, u. a. 25  Während das Verb 15-mal im Psalter vorkommt, vgl. Ps 35,13; 55,20; 88,8; 89,23; 90,15; 94,5; 102,24; 105,18; 107,17; 116,10; 119,67.71.75.107; 132,1, treten Nomen und Adjektive häufiger auf: ‫עָ נָו‬ ausschließlich im Plural ‫ ֲענָוִ ים‬, insgesamt 12-mal in Ps 9,13 (Qere); 10,12 (Qere).17; 22,27; 25,9 (2-mal); 34,3; 37,11; 69,33; 76,10; 147,6; 149,4; ‫עָ נִ י‬, insgesamt 29-mal in Ps 9,19 (Qere); 10,2.9 (2-mal); 12,6; 14,6; 18,28; 22,25; 25,16; 34,7; 35,10 (2-mal); 37,14; 40,18//70,6; 68,11; 69,30; 72,2.4.12; 74,19.21; 82,3; 86,1; 88,16; 102,1; 109,16.22; 140,13 sowie das abgeleitete Nomen ‫עֳנִ י‬, 11‑mal in Ps 9,14; 22,25; 25,18; 31,8; 44,25; 88,10; 107,10.41; 119,50.92.153. 26  Berges/​​Hoppe, Arm und reich, 14.

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David- sowie den Asafpsalmen auf, weniger jedoch in dem ansonsten stark armentheologisch affinen 5. Psalmenbuch. Wie Ps 34 (s. u.) ist Ps 25 seiner Form nach ein Akrostichon, bei welchem der ‫ו‬-Vers fehlt und am Ende ein ‫פ‬-Vers ergänzt wurde. Die Verse Ps 25,12 und 34,13; 25,15 und 34,16; 25,16 und 34,17 sowie 25,22 und 34,23 beginnen wortgleich. Inhaltlich fällt seine gegenüber den Psalmen der ersten und zweiten Gruppe weisheitliche Konnotation auf. Das Beter-Ich wirkt nachdenklich, reflektiert, was nach hinten, zur zweiten Hälfte des 1. Davidpsalters, an Ps 31; 3727 (dort ebenfalls Selbstbezeichnungen) und 40/41 erinnert.28 Bereits in Ps 25,2 bittet er, nicht zuschanden zu werden (‫אל־אבוׁשה‬, V. 2); der Psalm greift die Wurzel in V. 3 auf, betonend, dass alle auf Jhwh Hoffenden (‫כל־קויך‬, V. 3) nicht zuschanden werden. V. 4 und 5 bringen die Wegmetaphorik ein (‫דרכיך יהוה הודיעני ארחותיך‬ ‫למדני‬, V. 4); in V. 5 bittet der Betende um Geleit in Wahrheit und Treue (‫הדריכני‬ ‫באמתך ולמדני‬, V. 5aα). Diese Aussagen prägen das Gottesbild des Psalms wesentlich. Wie in keinem der Psalmen, in denen sich das Beter-Ich selbst mit einem Armenterminus belegt, legt sich in Ps 25 dabei keine primär sozial-materielle Konnotation nahe und vielmehr wird neben der nur allgemein gehaltenen Schilderung der Bedrängnissituation des Beter-­Ichs durch seine Feinde seine individuelle Schuld betont (vgl. auch Ps 34,19),29 die die Feindbedrängnis zurücktreten lässt, was paradigmatisch in V. 7aα „Denk nicht an meine Jugendsünden“ (‫ )חטאות נעורי ופׁשעי אל־תזכר‬und 21a „Unschuld und Redlichkeit mögen mich behüten“ (‫ )תם־ויׁשר יצרוני‬zum Ausdruck gelangt. In Ps 34 bezeichnet sich das Beter-Ich im Gegensatz zu Ps 25 nicht selbst als „arm“, jedoch wird auch hier die für alle Davidpsalmen typische solidarische Nähe des BeterIchs zu den „Armen“ betont. Der Psalm spricht dabei explizit nur ‫( ענוים‬V. 3) und ‫עני‬ (V. 7) an, was als besondere Affinität des Beter-Ichs zu diesen zu interpretieren ist; die ‫ ענוים‬sind die einzige Gruppe, die vom Beter-Ich direkt angesprochen wird,30 was dieser eine exponierte Position in der Theologie des Psalms zukommen lässt. Beide Psalmen, Ps 25 und 34, erwähnen also von ‫ ענה‬II abgeleitete Termini, bei denen – wie zu Ps 25 herausgestellt – sozial-materielle und religiös-spirituelle Armut changieren. Die formale Ähnlichkeit zu Ps 25 wurde bereits herausgestellt: Wie Ps 25 bietet sich Ps 34 als Akrostichon31 „als eine umfassende … und eine die auseinanderstrebende Lebenssituation ordnende … Lebenshilfe an“.32 27 Vgl. Botha, Relation, 546–550.

28 Vgl. Craigie, Psalms 1–50, 217–218.222; Kraus, Psalmen 1–59, 351–352; Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 161–163; Oeming, Buch, 163; Weber, Werkbuch I, 133; Brueggemann/​​Bellinger Jr., Psalms, 133; Bremer, Armen, 351.415. 29 Vgl. Kraus, Psalmen 1–59, 351–352. 30  Zum Verständnis der von ‫ ענה‬II abgeleiteten Derivate vgl. oben Anm. 25. 31  Vgl. zur Interpretation Kraus, Psalmen 1–59, 417; Seybold, Psalmen, 141; Hossfeld/​​ Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29); Botha, Psalm 34, 57–65. 32  Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 211. Weber, Werkbuch I, 166, vermutet mit Verweis auf Ceresco und Eriksson eine bewusste Auslassung des ‫ו‬- und Zufügung des (auf diese Weise in das formale Zentrum des Psalms rückenden) ‫ל‬-Verses, um mit den Anfangsbuchstaben des ersten, mittleren und letzten Verses die Verbwurzel ‫ אלף‬in der Bedeutung „lernen“ (Qal) bzw. „lehren“ (Pi῾el),



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Ps 34 hat zwei Teile: Der erste (V. 2–11) ist ein Danklied des Beter-Ichs für seine Rettung (‫אברכה את־יהוה בכל־עת תמיד תהלתו בפי‬, V. 2); der zweite (V. 12–23) erscheint als „weisheitlicher Lehrvortrag“:33 „Kommt, Kinder, hört mir zu; die Furcht Jhwhs will ich euch lehren.“ (‫לכו־בנים ׁשמעו־לי יראת יהוה אלמדכם‬, V. 12). Im ersten Teil (V. 2–11) möchte das Beter-Ich Jhwh allezeit preisen (‫ברך‬, Pi῾el) und immerfort soll sein Lob (‫ )תהלה‬in seinem Munde sein (V. 2), seine Lebenskraft (‫ )נפׁש‬soll sich in Jhwh rühmen (‫ הלל‬Hitpa῾el, V. 3a). Dies mögen die ‫ ענוים‬hören und sich freuen (‫יׁשמעו ענוים ויׂשמחו‬, V. 3b). Zenger beobachtet innerhalb der V. 2–4 einen „Prozeß der Solidarisierung“,34 der sprachlich durch die Abfolge „ich [‫;בפי ;אברכה‬ ‫נפׁשי‬, J. B.] – die Armen [‫ענוים‬, J. B.] – ihr [‫גדלו‬, J. B.] – wir [‫ונרוממה‬, J. B.]“35 Ausdruck findet. In V. 5b findet sich die zentrale Aussage über die erfahrene Rettung des BeterIchs: Dieses hat Jhwh gesucht und er hat ihm geantwortet ‫„( ומכל־מגורותי הצילני‬und aus allem mich fürchtend Machendem36 hat er mich entrissen“). V. 6 spielt wie V. 3 erneut auf die ‫ ענוים‬an.37 In V. 7 stellt das Beter-Ich, angezeigt durch das Demonstrativpronomen ‫זה‬, einen ‫ עני‬paradigmatisch heraus. Zenger versteht den Rettungsbericht in V. 7 als „paradigmatische Fallbeschreibung“,38 als Anweg zu der generalisierenden Aussage in V. 8 über die Befreiung aller Jhwh-Fürchtenden durch den ‫מלאך־יהוה‬ („Boten Jhwhs“).39 Peter C. Craigie spricht von einem „personal testimony“.40 Ein direkter Bezug der beiden im Text benannten Rettungen – des Beter-Ichs selbst in V. 5 und des Elenden in V. 7 (Hans-Joachim Kraus versteht etwa V. 7 als Interpretation von V. 5)41 – ist nicht gegeben. Hier ist auch auf die divergierenden Verbformen ‫ נצל‬Hif῾il in V. 5 und ‫ יׁשע‬Hif῾il in V. 7 hinzuweisen.42 Beide Verbformen weisen auf ein „Retten“ hin und können entsprechend übersetzt werden, wobei ‫ נצל‬Hif῾il etymologisch auf ein „Entreißen (aus)“ und ‫ יׁשע‬Hif῾il direkt auf ein „Retten“ verweisen.43 V. 10b hält fest, dass alle Jhwh-Fürchtenden (vgl. bereits die Ausweitung in V. 8) keianalog der Verbwurzel ‫( למד‬im Mittelvers 12) bilden zu können. Auf diese Weise würde der Lehrcharakter der Psalmen deutlicher unterstrichen. Vgl. Botha, Psalm 34, 61; anders Kraus, Psalmen 1–59, 417. 33  Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 210. 34  Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 213, vgl. auch Botha, Social Setting, 184–193. 35  Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 213. 36  Hier abgeleitet von ‫גֹורה‬ ָ ‫ ְמ‬, vgl. Ges18, 627. 37  Bremer, Armen, 354. 38  Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 213. 39 Zum Motiv des ‫ מלאך־יהוה‬in Ps 34 vgl. u. a. Craigie, Psalms 1–50, 279; Kraus, Psalmen 1–59, 419. Beide gehen von einem sehr alten Motiv aus, was sicher zutreffend ist. Vgl. dagegen ­Oeming, Buch, 196. 40  Craigie, Psalms 1–50, 279. 41  Kraus, Psalmen 1–59, 419, sieht in V. 7 eine Interpretation des kurzen Rettungsberichtes des Beter-Ichs in V. 5. Dies ist jedoch vom Text her nicht belegbar. Der Psalm legt eine große Nähe des Beter-Ichs zu den ‫ ענוים‬nahe (In-Group), nicht jedoch eine explizite Identifikation desselben als Elenden. 42  Vgl. zur Verwendung auch u. a. Ps 54,9 (‫ נצל‬Hif῾il); Ps 143,11 (‫ יצא‬Hif῾il) und außerhalb des Psalters 1 Sam 26,24 (‫ נצל‬Hif῾il); Jes 46,7 (‫ יׁשע‬Hif῾il). 43 Vgl. Bremer, ‫אֶ ְביֹון‬, 53–82.

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nen Mangel erleiden (‫כי־אין מחסור ליראיו‬, V. 10b). Diese Aussage wird in V. 11b unterstrichen: ‫ודרשׁי יהוה לא־יחסרו כל־טוב‬. Für den Kontext der Armentheologie wichtig ist dazu die Vershälfte 11a: ‫כפירים רׁשו ורעבו‬. Eine wörtliche Übersetzung lautet: „Junglöwen darben und hungern“. Das Motiv der ‫„( כפירים‬Junglöwen“) steht für Gefräßigkeit und permanenten Raub.44 Walter Brueggemann und William H. Bellinger, Jr. sehen sie als „examples of self-sufficency“ und ergänzen: „Even these lords of the jungle will go without food and will suffer …“.45 Dies legt eine armentheologische Konnotation nahe. Noch deutlicher wird sie durch die Übersetzung der LXX, welche mit πλούσιοι („Reiche“) übersetzt. Dies würde das armentheologische Verständnis vereindeutigen, hieße dabei aber von einer Konjektur auszugehen. Zumal MT hier die lectio difficilior bietet, ist diese Konjektur nicht zu übernehmen. Sowohl das wörtliche Verständnis der LXX als auch das metaphorisch zu verstehende Bild des masoretischen Textes verweisen damit auf ein Motiv, welches sich innerhalb des 1. Davidpsalters ansonsten nur in einem sekundären Zusatz in Ps 1846 und in Ps 3747 findet und auf Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen zielt. Der zweite Teil (V. 12–23) betont in weisheitlicher Ausrichtung das Motiv der Gerechtigkeit: ‫„( עיני יהוה אל־צדיקים‬die Augen Jhwhs [sind gerichtet] auf die Gerechten“, V. 16a); V. 18 betont das Hören der Schreie der Gerechten durch Jhwh und das Entreißen aus aller Bedrängnis (‫ומכל־צרותם הצילם‬, V. 18b, erneut gebildet mit ‫נצל‬ Hif῾il), entsprechend V. 20b: ‫ ;ומכלם יצילנו יהוה‬V. 22 parallelisiert den ‫ רׁשע‬mit dem ‫ׂשנאי צדיק‬. Im Zusammenhang beider Teile werden die ‫ צדיקים‬in die o. g. In-Group des Betenden hineingenommen. Im finalen V. 23 wird die In-Group kollektiv ausgeweitet, indem der Psalm auf die Knechte anspielt: ‫„( פודה יהוה נפׁש עבדיו‬Jhwh erlöst die Lebenskraft seiner Knechte“, V. 23b) und alle sich bei ihm Bergenden werden nicht büßen.48 Ps 25 und 34 weisen also je eigene Akzente auf und unterscheiden sich auch bezüglich der Armentheologie durch Eigenständigkeiten. Für die Armentheologie wurde auf der einen Seite formal auf die Selbstbezeichnung des Beter-Ichs als „arm“ in Ps 25 und nicht in Ps 34 verwiesen und auf der anderen Seite inhaltlich auf Rettungsmotiv und das Motiv der Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen („Revolution“, dazu s. u. 2.3 und 3.), die Ps 34, nicht aber Ps 25 inne sind. In ihrer je eigenen Individualität sind beide jedoch „Armenpsalmen“, die die Gruppe Ps 25–34 rahmen. Ihre formale Verwandtschaft durch das die identischen Individualisierungen aufweisende Akrostichon ist auffällig; und auch inhaltlich weisen sie deutliche Ähnlichkeiten im Gottesbild auf sowie einen weisheitlichen Charakter, der auch in den Armentheologien zum Ausdruck kommt. 44 So Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 212. 45 

Brueggemann/​​Bellinger Jr., Psalms, 169.

46 Vgl. Adam, Held, 131–133.

47 Vgl. Lohfink, Psalm 37, 47–65; Sticher, Rettung, 33–39; Tiquillahuanca, Armen, 161–305. 48 Vgl. Berges, Knechte, 153–178.



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Ps 35 ist als Nachfolgepsalm (so bereits in 4Q83/​4QPsa)49 von Ps 34 der erste Psalm der vierten Gruppe des 1. Davidpsalters Ps 35–41. Auf die Rahmungen der dritten und vierten Gruppe (Ps 25–34; 35–41) durch Psalmen mit armentheologischem Profil wurde bereits verwiesen: Ps 35 rahmt mit Ps 41 die vierte Gruppe. Ps 35 ist ein Paradebeispiel für eine Solidarisierung des Beter-Ichs mit den „Armen“, wie sie auch für Ps 34 (Ps 25 führt die Selbstbezeichnung, s. o.) beobachtet wurde (vgl. V. 10.13b). Es wurde angedeutet, dass ein solch hohes Maß an Solidarisierung, wie sie Ps 35 bezeugt, eine strenge Differenzierung zwischen der Selbstbezeichnung des Beter-Ichs mit einem Armenterminus und dem Sprechen über „Arme“ als Dritte anfragt. Der Psalm beginnt nach der Davidzuschreibung in V. 1a–b mit dem Aufruf an Jhwh, für ihn Recht zu erstreiten gegenüber denen, die gegen ihn rechtstreiten (‫ריבה יהוה את־יריבי‬, V. 1aβ), und mit denen zu kämpfen, die gegen ihn kämpfen (‫לחם את־לחמי‬, V. 1b). Hier kommen bereits Rechtsstreitigkeit und körperliche Auseinandersetzung zusammen. Der erste Imperativ ist dabei durch die enklitische Zufügung eines ‫ה‬-adhortativums sogar verstärkt worden. Wie Ps 34,8 spielen auch Ps 35,5–6 auf den ‫„( מלאך יהוה‬Boten Jhwhs“) an, der für den Betenden kämpfen möge. Nach seinem Jubel (V. 9) ist Jhwhs Erretten (‫ נצל‬Hif῾il) des ‫ עני‬vor dem Stärkeren und des ‫ עני ואביון‬vor dem Beraubenden die erstgenannte Wesenseigenschaft Gottes für das selbst bedrängte Beter-Ich. Nach dem für die Armentheologie zentralen V. 10 werden alle Knochen des Betenden (‫ )כל עצמותי‬sagen: ‫יהוה מי כמוך‬ ‫מציל עני מחזק ממנו ועני ואביון מגזלו‬. Hier zeigt sich die Nähe des Beter-Ichs zu den Armen ohne eine Selbstprädikation: Seine Lebenskraft (‫ )נפׁש‬wird frohlocken über seine eigene Rettung, seine Gebeine aber nicht wegen seiner Rettung oder ob etwas, was Jhwh an ihm tut, sondern wegen Jhwhs Rettung (‫ נצל‬Hif῾il) der „Armen“.50 Für den Terminus ‫ עני‬wurde bereits notiert, dass materielles und spirituelles Armutsverständnis changieren. Zum ersten Mal wird in einem Psalm – und zwar im ersten Psalm der vierten Gruppe des 1. Davidpsalters! – der Doppelausdruck ‫ אני ואביון‬verwandt (s. o.). Dieser wird innerhalb der Gruppe Ps 35–41 dann erneut in Ps 37 und 41 genannt; er bringt die Bedürftigkeit des Beter-Ichs im oben skizzierten Changieren von sozial-materiellem und spirituell-religiösem Verständnis zum Ausdruck. Das Verb ‫ נצל‬Hif῾il wurde, bezogen auf das „arme“ Beter-Ich, innerhalb des 1. Davidpsalters bereits in Ps 25,20 u. a. verwandt. Ihm kommt ähnlich dem Verb ‫ יׁשע‬Hif῾il eine besondere Bedeutung für die Armentheologie zu, insofern beide auf Rettung verweisen. In Korrespondenz zu V. 1 verweisen V. 9–10 auf einen gewaltbehafteten Kontext (vgl. V. 10: ‫מגזלו‬, das aktive Partizip verweist auf ein „Berauben“ im Sinne eines „mit Gewalt zu Unrecht Wegnehmens“, auch ‫מחזק ממנו‬, V. 10 ist in der Parallelität mit ‫מגזלו‬ im Sinne körperlicher Überlegenheit zu verstehen). Der Betende berichtet über seine eigene Bedrohungssituation.51 In der anschließenden an Jhwh gerichteten Bitte 49 

Vgl. auch Willgren, Formation, 85–86, u. a. Zum Motiv der Rettung Jhwhs an den Armen vgl. Bremer, ‫אֶ ְביֹון‬. 51 Vgl. Kraus, Psalmen 1–59, 427; Craigie, Psalms 1–50, 285–286; Hossfeld/​​Zenger, 50 

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geht es auch um Rechtshilfe (V. 23–24a.26 u. a.). Der abschließende V. 28 bringt das Motiv der ‫ צדקה‬ein: Seine Zunge möge Jhwhs Gerechtigkeit hersagen (‫ הגה‬Qal). Vordem bringt V. 27b das Motiv der ‫ עבדים‬ein: Die sich freuen, dass das Beter-Ich im Recht ist (V. 27a), mögen immerfort Jhwhs Größe preisen (‫ויאמרו תמיד יגדל יהוה‬, V. 27aβ), der das Wohlergehen seines Knechtes will (‫החפץ ׁשלום עבדו‬, V. 27b).52 Ps 34 und 35: Ps 35 zeigt damit zum einen individuelle Züge und eine entsprechend individuelle Ausprägung seiner „Armentheologie“. In der Armentheologie von Ps 35 sind zum anderen gleichsam deutliche inhaltliche und semantische Bezüge zu seinem Vorgängerpsalm 34 als letztem Psalm der dritten Gruppe zu finden: Das Motiv des ‫„( מלאך יהוה‬Botens Jhwhs“) in Ps 34,8; 35,5–6 haben beide Psalmen gemeinsam. Dies ist im Psalter singulär. Eine Gemeinsamkeit ist auch durch das Motiv des ‫עבד‬ bzw. der ‫„( עבדים‬des Knechts“/„der Knechte“) in Ps 34,23 und 35,27 und das Motiv der ‫„( צדקה‬Gerechtigkeit“/„des Gerecht-Seins“) in Ps 34,16.18.20.22; 35,27 gegeben. Im Motiv der Rettung des Armen begegnen sich beide Psalmen in ihrer armentheologischen Konnotation: Jhwh rettet den Armen in Ps 34,18; 35,10; die Psalmen treffen sich im Lob Jhwhs in Ps 34,2; 35,27 und der Preisung der Größe Jhwhs in Ps 34,4; 35,27 und der Freude in Ps 34,3; 35,27. Dazu tritt die deutlich verbalisierte Nähe des Beter-Ichs zu den Armen (In-Group), vgl. Ps 34,7 und 35,10. Darüber hinaus kommen weitere Motive zusammen, welche eingangs generell für Psalmen des 1. Davidpsalters ausgemacht werden konnten (vgl. oben 1.). 2.2 Die Dopplungen Psalm 14 und 53 Ps 14 wird ausschließlich durch V. 6 zu einem „Armenpsalm“. Mit Zenger ist anzunehmen, dass V. 1–5 eine derartige Geschlossenheit aufweisen, dass V. 6 als sekundäre Zufügung anzusehen ist.53 Eben dies gilt auch für V. 7, der den Psalm um eine explizite Zionsperspektive erweitert. In V. 6 heißt es gemäß masoretischem Text: ‫עצת־עני תביׁשו כי יהוה מחסהו‬. Der Vers ist textkritisch weniger schwierig als von seiner Bedeutung her: ‫ תביׁשו‬kann zumal aufgrund des Anschlusses in V. 6b kaum mit „zuschanden werden lassen“ verstanden werden. Wieso würde der grammatikalisch nicht bestimmte Ratschluss eines oder des Elenden zuschanden werden, weil (‫ )כי‬Jhwh seine Zuflucht ist? Anzunehmen ist die Bedeutung des zuschanden Werdens (Hif῾il I) gegenüber des zuschanden Machens (Hif῾il II) und ein Verständnis des Verses im Sinne von „(am) Plan des Elenden [nicht determiniert] werdet ihr zuschanden, denn Jhwh ist seine Zuflucht“.54 „Weil und Psalmen 1–50 (NEB 29), 216; Oeming, Buch, 199–200; Brueggemann/​​Bellinger Jr., Psalms, 174. 52 Vgl. Berges, Knechte, 153–178. 53 Vgl. Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 100. 54  So auch der Vorschlag Zengers, vgl. Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 101. Kraus, Psalmen 1–59, 246, hält den Text für verderbt; Crüsemann, Ort, 39 Anm. 6, hält am Hif῾il I fest, muss aber eine freie Übersetzung des hebräischen ‫ כי‬mit „doch“ zu Beginn von V. 6b in Kauf nehmen, was auch zu Lasten der Parallelität von V. 6b zu V. 5b geht.



Armentheologie und Intertextualität61

wenn Jhwh sich selbst als uneinnehmbare und ‚seine‘ Armen schützende Zufluchtsburg erweist …, werden die Gottlosen scheitern – und zwar gerade ‚am Plan des Armen‘ … .“55 Was unter ‫ עצת־עני‬explizit zu verstehen ist, lässt der Psalm unbeantwortet; die Wendung ist in der Hebräischen Bibel singulär. Der hier wörtlich wiedergegebene Ausdruck lässt dabei eine allgemeine Aussage vermuten, da die constructus-Verbindung grammatikalisch nicht determiniert ist. Die fehlende Konkretion ist auffällig; der Elende (‫ )עני‬ist paradigmatische Person. In Verbindung mit dem Vorgängervers 5 steht V. 6 in Juxtaposition zu dem ebenfalls paradigmatischen ‫צדיק‬.56 V. 7 bringt den Wunsch nach der ‫ יׁשועת יׂשראל‬im Anschluss an V. 6 zum Ausdruck. Zenger sieht hier eine Verbindung zwischen Armen- und Zionsperspektive – die beide sekundär hinzugefügt wurden.57 Für Ps 14 gilt damit, dass neben der Zionsperspektive in V. 7 der letzte Psalm der ersten Gruppe des 1. Davidpsalters bewusst kompositorisch-redaktionell eine Armenperspektive erhält, auf die zumindest im synchronen Lesefluss des masoretisches Texts die erste Gruppe zuläuft. Es kann an dieser Stelle kein eingehender Vergleich von Ps 14 und 53 erfolgen. Zenger kategorisiert vier wesentliche Unterschiede: (1) Die in Ps 53 abweichend zu Ps 14 ausführlichere Überschrift; (2) die Bezeichnung Gott in Ps 53 gegenüber Jhwh in Ps 14; (3) kleinere syntaktische und semantische Unterschiede; (4) die unterschiedlichen Verse Ps 14,5–6 und Ps 53,6: V. 5 und dem o. g. armentheologischen Akzent steht mit Ps 53,6 ein Akzent der Verfolgung und des Kampfes gegenüber, der charakteristisch für die gesamte Gruppe Ps 51–58 ist.58 Die Differenzen der Doppelüberlieferungen werden nach Charles C. Torrey und Karl Budde59 als bloße Überlieferungsvarianten eines „Urtextes“, als absichtliche oder unabsichtliche Veränderungen einer vorliegenden Version60 oder redaktionsgeschichtlich im Hinblick auf den Kontext erklärt. Hier setzt auch die u. g. Interpretation an (vgl. unten 3.). 2.3 Psalm 107 als paradigmatischer Eröffnungspsalm des 5. Psalmenbuches Das 5. Psalmenbuch setzt gegenüber dem 4. Psalmenbuch (Ps 90–106) gleich mit seinem ersten Psalm einen deutlichen armentheologischen Akzent; es beginnt mit dem Toda-Psalm 107 in konzeptionellem Anschluss an das 4. Buch. Auf den Zusammenhang zwischen Ps 106 und 107 und damit die Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem 4. und 5. Psalmenbuch ist verschiedentlich verwiesen worden.61 Sieht 55 

Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 103.

56 Vgl. Brueggemann/​​Bellinger Jr., Psalms, 80.

57 Vgl. Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 1–50 (NEB 29), 100. 58 Vgl. Hossfeld/​​Zenger, Psalmenauslegung, 75–79. 59 

Vgl. hierfür Torrey, Archetype; Budde, Psalm 4. Bennett, Wisdom Motifs; Crüsemann, Ort, 32–41; Eerdmans, Psalm XIV, 258–

60 Vgl.

267.

61 Vgl.

Ballhorn, Telos, 127–138; Steinberg, Ketuvim, 258–261; Gärtner, Geschichts-

62

Johannes Bremer

man Ps 107 als (weitestgehend) einheitlich an,62 so begegnet er deutlich als Rettungspsalm: Bereits in V. 1a heißt es hier: ‫הדו ליהוה כי־טוב כי לעולם חסדו‬. Jhwhs GutSein (‫ )טוב‬wie seine Güte (‫ )חסד‬werden als seine programmatischen Eigenschaften Ps 107 als dem ersten Psalm des 5. Psalmenbuches vorangestellt. Im Psalm finden sich vier nicht explizit auf den „Armen“ bezogene Rettungserzählungen: in der Wüste (V. 4–9), aus der Finsternis (V. 10–16), vor der Scheol (V. 17–22) und aus dem Meer (V. 23–32).63 Ihnen vorangestellt ist eine Einleitung (V. 1–3) als hymnische Aufforderung zum Dank für seine ‫( חסד‬V. 1) durch die Erlösten Jhwhs (‫גאולי יהוה‬, V. 2) aus der Hand des Bedrängers (‫מיד־צר‬, V. 2). Der Ausdruck ‫ גאולי יהוה‬verweist zunächst auf (aus Knechtschaft, Not o. ä.) Befreite Israels, legt aber durch seine einzige direkte Parallele in Jes 62,12 eine Anspielung auf die aus dem Exil Befreiten nahe.64 „Other than Ps 107:2, the only other use of the phrase ‫ּגְ אּולֵ י יהוה‬, the ‚redeemed of Yahweh,‘ is found in Isa 62:12, a text which promises the people deliverance from the ‫‚( אֺיְ ִבים‬enemies‘) and the ‫‚( ְבנֵי־נֵכָ ר‬foreigners‘). The political overtones are clear in Isa 62 …, and no doubt such language in Ps 107 carries similar overtones.“65

Eine historisch-politische Konnotation kommt auch ‫ צר‬zu. W. Dennis Tucker, Jr. sieht in der Sprache eine Interpretationsmöglichkeit gegeben, die über eine Verortung des Psalms in Bezug auf die Rückkehr von Exulanten hinausgeht: „The nuanced language used in the opening lines of Ps 107 does more than simply connect Ps 107 to the historical reviews found in the two preceding psalms. To the contrary, such language serves to construct an image of Israel and the nations, one that highlights the role of empire within Israel’s storied past. Israel’s identity is bound up with the acknowledgement that the ‫יָד־צָ ר‬ has been (and continues to be) a threat to its existence, and the deliverance from such forces comes only from Yahweh.“66

Diesen „perpetual threat of the powerful“67 sieht er als Konstante im 5. Psalmenbuch an. Die Nennungen von Sonnenauf- und Sonnenuntergang, Norden und Meer sipsalmen, 284–287; u. a. Die materielle Evidenz bezeugt den Zusammenhang in 4Q86/​4QPsa, vgl. auch Willgren, Formation, 88. 62  So u. a. mit Weiser, Psalmen 61–150, 685–686, Dahood, Psalms 101–150, 80–91; Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 145; Bremer, Ps 107, 27–38. Dagegen haben formen- und gattungsgeschichtlich ausgerichtete Studien und Kommentare die hymnischen V. 33–43 von der Einleitung V. 1–3 und den vier Rettungserzählungen V. 4–32 als Danklied abgesondert, vgl. Gunkel, Psalmen, 468–474; Kraus, Psalmen 60–150, 909; Weber, Werkbuch II, 206–209; Becker, Israel, 53–55; Crüsemann, Studien, 73–74. Beyerlin, Werden, partim, macht in seiner Studie zu Ps 107 gar vier Wachstumsstufen aus: I: V. 1.4–22; II: V. 23–32; III: V. 2–3; IV: V. 33–43. Abweichend nimmt Allen, Psalms 101–150, 62, ebenfalls ein mehrstufiges Wachstum an: „It is hardly possible to resist an impression of the composite nature of the psalm.“ 63  So u. a. Dahood, Psalms 101–150, 80; Beyerlin, Werden, 7–12; Allen, Psalms 101–150, 60–63; Auffret, Qui est sage?; Kraus, Psalmen 60–150, 909–910; Weber, Werkbuch II, 206– 209; Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 142–144. 64  Dies wird durch Parallelen mit den Vorgängerpsalmen untermauert, vgl. hierzu die Zusammenstellung Zengers in Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 144–146. 65  Tucker Jr., Power, 60; vgl. ebenso Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 148. 66  Tucker Jr., Power, 61. 67 Vgl. Tucker Jr., Power, 61.



Armentheologie und Intertextualität63

tuieren das Beter-Ich in der topographischen Mitte seiner Erzählung und damit der Rettungen Jhwhs.68 Sie unterstreichen Jhwhs Rolle als Retter und seine kosmische Macht, die er an den ‫ גאולי יהוה‬erweist.69 Mit V. 33 setzt nach den vier Rettungserzählungen ein neuer Abschnitt an, der erneut hymnischen Charakter trägt und in dem Jhwh implizit als handelndes Subjekt auftritt. In diesem Abschnitt (V. 33–41) finden sich in der Schlussposition Aussagen über die Vornehmen (‫ )נדיבים‬gegenüber dem Bedürftigen (‫)אביון‬: Auf die ersten schüttete Jhwh Verachtung (‫ׁשפך בוז על־נדיבים‬, V. 40a) und ließ sie umherirren in Öde ohne Weg (‫ויתעם בתהו לא־דרך‬, V. 40b); im Gegenzug hob er den zweiten empor aus dem Elend (‫ויׂשגב אביון מעוני‬, V. 41a) und machte wie die Herden (seine) Sippen (‫ויׂשם כצאן מׁשפחות‬, V. 41b). Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine Verkehrung der gesellschaftlichen Struktur („Revolution“). Die Aussagen über das Schicksal der Vornehmen (‫ )נדיבים‬in Form von „Verachtung“ (‫בוז‬, V. 40a) und „Irren in Öde ohne Weg“ (‫בתהו לא־דרך‬, V. 40b) und das anschließende Rettungshandeln am ‫ אביון‬stehen in Parallelität zueinander. Hier wird der ‫ אביון‬klar gegenüber den ‫ נדיבים‬abgegrenzt und ihnen entgegengestellt.70 Dem ‫ אביון‬kommt in Ps 107 eine rein passive Rolle zu. Entscheidend ist die Potenz Jhwhs, die im Psalm in verschiedener Weise verbal aufgezeigt wird. V. 42–43 als letzte Verse des Psalms sind von diesem Abschnitt wiederum abzugrenzen.71 Das hier zum Ausdruck kommende Rettungsmotiv und das auf Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen verweisende Motiv („Revolutionsmotiv“) sind programmatisch für das 5. Psalmenbuch: In Ps 109 geht es um die Rettung des Beter-Ichs aus Rechtsnot und die Bekundung der Rettung des Bedürftigen durch Gott, ausgedrückt durch die Wurzel ‫ יׁשע‬Hif῾il.72 In Ps 113 geht es um das in die Gesellschaft hinein wir68  Es bedarf dazu nicht der bisweilen vorgeschlagenen Textkonjektur, die in V. 3c nicht ‫„( ומים‬und vom Meer“), sondern ‫„( ומימין‬und von Süden“) liest. Eine eindeutige Vervollständigung der Himmelsrichtung durch diese Konjektur wird jedoch zum einen von MT nicht gedeckt, zum anderen ist sie nicht dem Kontext des Psalms konform, die in der vierten Rettungserzählung nicht vom Süden, sondern vom Meer ausgeht, wie auch Zenger bemerkt: „Allerdings passt das wenig zur Abfolge der im Psalm erzählten ‚Rettungsgeschichten‘, wo die vierte Rettungsgeschichte (V 23–32) im bzw. auf dem ‚Meer‘ (und nicht im Süden!) spielt“ (Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 141). Eine Textkonjektur von ‫( ומים‬MT) ist abzulehnen. 69 Vgl. Hossfeld/​​Zenger, Psalmen 101–150, 148. Zu Ps 107 in seiner programmatischen Funktion für das 5. Psalmenbuch vgl. auch Bremer, Ps 107, 27–38. 70  Zu den ‫ נדיבים‬vgl. meine Ausführungen in Bremer, Armen, 389–391. 71  Es ist hier ein Wechsel vom Narrativ zum Imperfekt (oder Jussiv) zu beobachten, zudem liegt ein Subjektwechsel vor, der die Folge des im Psalm thematisierten rettenden Handelns Jhwhs von einer Außenperspektive durch die Geraden (‫יׁשרים‬, V. 42) im Gegensatz zu aller Bosheit (‫כל־עולה‬, V. 42) kommentiert. V. 43 schließt dann als Lehrsatz den Psalm ab, wobei mit ‫ חסדי יהוה‬eine Rahmung mit V. 1 (‫ )חסדו‬zu beobachten ist. Vgl. hierzu Girard, Psaumes, 126–140. Pierre Auffret legt 2006 eine umfassende strukturanalytische Betrachtung vor, die weitgehende Übereinstimmung mit der Marc Girards aufweist. Über die Vierteilung des Psalms in V. 1–3.4–32.33–41.42–43 hinaus findet er zwei parallele Strukturen: V. 1–3.4–32.33–43 sowie nach V. 1 die V. 2–3.4–9.10–16.17–22.23– 32.33–41.42–43, vgl. Auffret, Qui est sage? 72 Vgl. Bremer, Armen, 392–393.

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Johannes Bremer

kende Rettungshandeln Gottes. Jhwh bringt den ‫ דל‬zum Aufstehen (‫ קום‬Hif῾il) und erhöht (‫ רום‬Hif῾il) den ‫( אביון‬V. 7), um ihn thronen zu lassen (‫ יׁשב‬Hif῾il) bei den ‫נדיבי‬ ‫עמו‬, womit hier die gleiche Gruppe benannt wird wie in Ps 107, nicht jedoch in der negativen Konnotation von Ps 107 (V. 8). Die ‫ נדיבי עמו‬werden auch nicht ihrer Stellung beraubt, weshalb vom sog. Revolutionsmotiv in V. 13 nicht gesprochen werden darf. Gleichsam werden der Aussage des Psalms gemäß ‫ דל‬und ‫ אביון‬vom untersten Ende der Gesellschaft an das obere gesetzt – und zwar durch den handelnden Jhwh.73 Auch Ps 116 spielt auf die Rettung des Beter-Ichs selbst an, wenngleich hier nicht von sozial-materiell konnotierter Armut auszugehen ist.74 In Ps 140 geht es um Rechtshilfe durch Jhwh,75 in Ps 142 um die Rettung des Beter-Ichs, ausgedrückt durch die Verbwurzel ‫ נצל‬Hif῾il.76 Das Schluss-Hallel betont in besonderer Weise das Wesen Jhwhs und sein rettendes Handeln in der Welt (vgl. Ps 146,7–9; 147,1–6; 149,4). Insgesamt zeigt sich das 5. Psalmenbuch als der Armentheologie besonders affin. Handeln Gottes an den Armen, welches nicht explizit auf Rettung zielt, tritt zurück. Reines Wahrnehmen Gottes bezeugende Verben treten hier nur bezogen auf den Einzelnen in Ps 116, der nach V. 6 gerettet wurde, auf; wo Gott im 5. Psalmenbuch handelt, handelt er errettend!77

3. Ergebnis Es wurde an drei die Struktur des Masoretischen Psalters prägenden Beispielen das intertextuelle Zusammenspiel am Thema der Armentheologie dargelegt: (1)  Ps 25 und 34 rahmen die dritte Gruppe des 1. Davidpsalters. Auf intertextuelle Bezüge zwischen beiden wurde eingegangen (formal vor allem die besondere Form des Akrostichons, dazu tritt die Nähe des Beter-Ichs zu den Armen und der deutlich weisheitliche Charakter). Im weiteren Verlauf wurde Ps 35 als unmittelbarer Nachfolgepsalm von Ps 34 fokussiert und auf die Ähnlichkeiten zwischen diesem und dem Vorgängerpsalm 34 verwiesen. Es zeigte sich das Zusammenspiel je zweier Psalmen in der zweiten Hälfte des 1. Davidpsalters, welche die Struktur des Masoretischen Psalters prägen, indem alle drei Psalmen an seine Struktur prägenden Positionen stehen. Alle drei dieser Psalmen weisen dabei wiederum nicht nur Merkmale auf, die für die Davidpsalmen typisch, sondern explizit für die zweite Hälfte des 1. Davidpsalters charakteristisch sind, in welcher eine qualitative Verschärfung der Armenfrage gegenüber der ersten Hälfte des 1. Davidpsalters – bis auf den redaktionellen Doppelpsalm 9/10 – deutlich zu beobachten ist und sich Motive wie Rettung, Umwälzung gesell73 Vgl. Bremer, Armen, 395–398.

74 Vgl. Bremer, Armen, 399–400.

75 Vgl. Bremer, Armen, 403–404.

76 Vgl. Bremer, ‫אֶ ְביֹון‬, 53–82; ders., Armen, 404–405. 77 Vgl. Bremer, Armen, 406–409.



Armentheologie und Intertextualität65

schaftlicher Strukturen („Revolution“), Armenethos und Selbstcharakterisierungen des Beter-Ichs mit einem Armenterminus finden. (2)  Das zweite Beispiel der Parallelüberlieferungen Ps 14 und 53 zeigt, wie die Armenperspektive, die durch V. 6 sekundär in Ps 14 eingebracht wurde, in Ps 53 gerade nicht vorhanden ist und an derer statt eine Kriegs- und Verfolgungsthematik steht. In Ps 14 ist die Armenfrage redaktionell eingefügt, wodurch der Schlusspsalm der ersten Gruppe des 1. Davidpsalters (Ps 3–14) nachträglich eine armentheologische Perspektive erhält, die der gesamten Gruppe an ihrem Schluss eine (erneute) Armenperspektive einbringt. (3)  Anhand von Ps 107 wurde aufgezeigt, wie in das 5. Psalmenbuch programmatisch eingeführt wird, da für das 5. Buch charakteristische Akzentuierungen – aufgezeigt an den Motiven von Rettung und Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen („Revolution“)  – schon im Eröffnungspsalm vorkommen. Dass dabei dynamische Motive wie Rettung und „Revolution“ aufgenommen werden, die bereits an anderer Stelle im Psalter anklangen – etwa das Rettungsmotiv in der letzten Gruppe des 1. Davidpsalters (Ps 34,7; 35,10 [s. o.]; 40,18//70,6) und ebenfalls im hinteren Teil des 2. Davidpsalters (Ps 69,30; 70,6; 72,12; im Asafpsalm 76,10; und im Davidsolitär Ps 86,13)  –, zeigt darüber hinaus die intertextuelle Vernetzung des Masoretischen Psalters, aufgewiesen am Motiv der Armentheologie.

4. Ein Beitrag zur Entstehung des Psalters? Dem Thema des vorliegenden Sammelbandes und der diesem zugrunde liegenden Tagung entsprechend bleibt abschließend zu diskutieren, inwieweit die aufgezeigten intertextuellen Bezüge auf die Entstehung des Psalters verweisen können. Dabei ist zum einen zu bedenken, dass die Betrachtung eines Einzelaspektes bereits aus hermeneutischen Gründen ebenso wenig zu einer These zur Ausbildung des Gesamtpsalters führen kann wie explizite Datierungen einzelner Psalmen möglich sind. Zum anderen wird der These Willgrens Rechnung getragen, dass der Aufweis des materiellen Befundes der Fragmente vom Toten Meer vor einer vorschnellen These zur Formation des Psalters mahnt, gleichwohl der stets fragmentarische Befund seine Mahnung erschwert, was sich u. a. auch an der Diskussion zwischen ihm und den Thesen Wilsons und Flints zeigt, die ihrerseits auf Basis der Funde vom Toten Meer auf einen Formationsprozess des Psalters verweisen. In meiner im Jahre 2016 erschienenen Dissertation stelle ich – nach einer einführenden Diskussion der Frage, inwieweit die Armutsthematik in den Psalmen auf ein sozial-materielles gegenüber spirituell-religiöses Verständnis verweist78  – die sozioökonomische Situation der achämenidischen Provinz Yəhūd dar, wozu zunächst jeweils separiert der literarische, archäologische und numismatische Befund betrach78 

Vgl. zu dieser Diskussion auch Bremer, Armutsverständnis, 83–95.

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tet und ausgewertet wird. Dabei findet auch die Frage der Bevölkerungsentwicklung Yəhūds zu achämenidischer Zeit wesentliche Berücksichtigung. Ich stelle einen erkennbaren Wandel der sozio-ökonomischen Situation der Bevölkerung heraus, der sich in der Zeit zwischen Babylonischem Exil und der hellenistischen Epoche auftut. Wenngleich es hier ob stetiger Bewegung im Sinne einer longue durée nicht möglich ist, einzelne Perioden explizit gegeneinander abzugrenzen, können in der Zusammenschau des biblischen und archäologischen – einschließlich der Fragen nach Siedlungsstruktur und Bevölkerungsentwicklung  – Befundes sowie aufkommender Münzen drei Stufen der Entwicklung zwar nicht ausdrücklich voneinander abgegrenzt, so doch vorsichtig voneinander unterschieden werden, in denen Differenzierungen der sozioökonomischen Situation der Armen möglich sind: (I. Stufe)  Der Beginn der achämenidischen Herrschaft ist geprägt ob geographischer und kultureller Abgeschiedenheit der Provinz Yəhūd, seiner Landwirtschaft trotz topographischer Hindernisse und politisch und militärisch friedlicher Verhältnisse sowie einer nur geringen Quantität der Bevölkerung. Hier sind jedoch regionale Differenzen entscheidend: So ist nicht nur die Bevölkerungssituation in Benjamin mit der des südlicheren judäischen Berglandes nicht vergleichbar; auch Jerusalem ist nicht als Stadt für sich, sondern unter Einbezug seines unmittelbaren Umlandes zu betrachten. Die Stadt selbst war während der gesamten achämenidischen Zeit kein ökonomisch potentes Zentrum und von einer größeren Besiedlung ist selbst für die spätachämenidische Zeit nach 400 v. Chr. nicht auszugehen; zu dieser Zeit zeichnet sich gleichsam eine Tendenz hin zu Jerusalem als politischem Zentrum ab (s. u. III. Stufe). Keine architektonischen Hinterlassenschaften deuten auf gehobenere Bevölkerungsschichten, ebenso wenig Keramik, Kleinfunde und Bestattungsformen. Vielmehr verweisen archäologische Untersuchungen von Gebäuden und Architektur auf landwirtschaftliche Gehöfte und Installationen (vgl. in Tell en-Nasbe II, Tel Goren IV, Hîrbet Abū t-Twēn, u. a.). ˘ ˙ ˙˙ Hag 1,6.10–11; 2,16–17a verweisen auf eine andauernde Knappheit landwirtschaftlicher Güter, zurückzuführen auf Topographie und Witterungsverhältnisse, die auch zu gestiegenen Preisen führte, deuten aber nicht auf einen Gegensatz zwischen Arm und Reich oder Ausbeutung eines Teiles der Bevölkerung durch einen anderen Teil hin. Jedoch nach redaktionsgeschichtlicher Analyse später datierte Sacharja-Passagen zeigen die an ethische und soziale Maximen gebundene Umkehr zu Jhwh an.79 Gemäß der Theologie Sacharjas ist Rettung nicht allein an den Tempelbau geknüpft, sondern nach Sach 7,5–7 an die Umkehr, die nach Sach 7,9–10 mit sozialen Forderungen verbunden ist. Hier benennt der Text das gegenseitige Tun von Erbarmen und Barmherzigkeit am Nächsten (‫וחסד ורחמים עׁשו איׁש את־אחיו‬, V. 9b), den mit ‫ אל־‬gebildeten Vetitiv, Witwe, Waisen, Fremden und Elenden nicht zu unterdrücken (‫ואלמנה ויתום גר ועני‬ ‫ אל־תעשׁקו‬V. 10a) sowie den ebenfalls mit ‫ אל־‬gebildeten Vetitiv, ein jeder solle seinem Anderen nichts Schlechtes im Herzen ersinnen (‫אל־תחׁשבו בלבבכם‬, V. 10b). 79  Vgl.

hier u. a. auch die Argumentation Jakob Wöhrles zur Ansetzung der von ihm erschlossenen „Wort-Redaktion“, Wöhrle, Sammlungen, 264–265.280–285.



Armentheologie und Intertextualität67

(II. Stufe)  Folgt man der These eines Nehemia-Memoires bzw. einer Entsprechung von Erzähl- und erzählter Zeit für Abschnitte des Nehemia- (und Esra-)Buches, verweisen diese bereits auf eine strukturelle Krise zur Mitte bis zweiten Hälfte des 5. Jh.s, die nicht aufgrund schlechter Witterung, sondern ob Steuerforderungen und strafferer einheitlicherer Administration sowie daraus erwachsener gegenseitiger Ausbeutung das Volk belastet. Bei den in Neh 5,4 benannten Silberabgaben handelt es sich um Steuern, welche insofern eine starke und veränderte Belastung darstellten, als dass es sich entgegen einer prozentualen Abgabe des Ertrages („Zehnter“ u. a.) um fixe Abgabesummen handelt, die bei guten ebenso wie schlechten Ernten zu entrichten waren, was wesentlich zu den in Neh 5 dargelegten Ver- und Überschuldungen führte. Im Gegensatz zur Verschuldung weist Überschuldung auf eine tiefgreifende und strukturelle Problematik hin, aus welcher sich ein Schuldner nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann. Neh 5,2–4 nennen drei Schuldnergruppen, die auch als Phasen der Verschuldung verstanden werden können: (i) die ihre Söhne und Töchter verpfänden müssen, um zu überleben (Neh 5,2); (ii) die zum Überleben Felder, Weinberge und Häuser verpfänden müssen (Neh 5,3); (iii) die auf ihre Felder Silber zum Zahlen der Königssteuer leihen müssen (Neh 5,4). In diese Verhältnisse fällt das Aufkommen (nur) vereinzelter Großmünzen in der Provinz, die im Gegensatz zu verkehrsfähigen Kleinmünzen Kreditkontrakte sichern und ermöglichen konnten (vgl. die sehr geringen Quantitäten griechisch-archaischer Funde in Tell el-Fūl, Ketef Hinnom, der Davidsstadt und Aseka, die attische Tetradrachme in Beth-Zur, die 2011 als erste Yəhūd-Prägung vorgeschlagene 3,54g schwere Drachme und wenige weitere, teilweise noch als Drachmen angesehene Yəhūd-Münzen geringfügig geringeren Gewichts). Während gemäß biblischem Text Teile der Bevölkerung (vgl. etwa den Jh-haltigen Namen Tobija [Neh 3 u. ö.] u. a.) mit der achämenidischen Verwaltung kollaborierten (‫אל־אחיהם‬ ‫היודים‬, Neh 5,1), beschreiben die Texte Nehemia als eine von außen kommende Autorität, die als Sympathisant und „Anwalt“ des einfachen Volkes auftritt. Dass es dieser gelang, die beschriebenen Zustände zu ändern, ist den Texten nicht zu entnehmen; eine nachhaltige Verbesserung der sozialen Zustände in Jerusalem ist nicht erwartbar. (III. Stufe)  Veränderungen in der Typologie sog. Yəhūd-Stempelsiegel in Form, Stil, Paläographie und Orthographie als Hinweise auf eine einheitliche Administration sowie das Aufkommen kleiner, verkehrsfähiger sog. Yəhūd-Silbermünzen, denen eine Rechenmittel-, Wertaufbewahrungsmittel- und Tauschmittelfunktion zugesprochen werden konnte, stellen die beiden deutlichsten Anzeichen dar, nach 400 v. Chr. eine weitere nicht explizit abgrenzbare Stufe der sozio-ökonomischen Entwicklung der Provinz anzunehmen, in welcher sich eine weiter differenzierende Gesellschaft und zu erschließender Reichtum eines Teiles und Armut weiterer Teile der Bevölkerung entwickeln konnten. Die Fundorte der Stempelsiegel deuten dabei auf die o. g. Tendenz eines Erstarkens und ggf. Wachsens Jerusalems (Hauptfundort der Stempelsiegelabdrücke bleibt jedoch Rāmat Rāhēl). Legenden, Motive, Gewichtsstandards, Silberfeingehalte ˙ und Deteriorationen sowie mögliche Prägeautoritäten und -orte der Münzen geben

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darüber hinaus Hinweise auf eine kulturelle Eingebundenheit Jerusalems und der Provinz Yəhūd in spätachämenidischer und hellenistischer Zeit.80 Vor dem Hintergrund dieser hier vorgestellten Entwicklungen gemäß meiner Untersuchung der Sozio-Ökonomie Yəhūds in meiner Dissertation Schlussfolgerungen für die Entstehung des Psalters zu ziehen, stellt keine Rekonstruktion des Formationsprozesses des Psalters dar, wie sie von Willgren (zurecht) zurückgewiesen wird.81 Vielmehr geht sie mit der hermeneutischen Problematik einher, von der zeithistorischen Realienfrage auf theologische Konzepte zu schließen. Dabei ist festzuhalten: „Der Verlauf der historischen Entwicklung und … Entwicklungslinien armentheologischer Aussagen vermögen … in keiner Weise auf eine Kongruenz schließen zu lassen. Eine solche Annahme erschiene von vornherein sowohl hermeneutisch unzulässig als auch aus historisch-kritischer Perspektive naiv. Der Inhalt legt auch keine dergeartete Vermutung nahe. Wenngleich die Korrelation von Geschichte und biblischem Text keine direkte Kongruenz aufzeigt, lassen sich gleichwohl Dependenzen zeigen und Interdependenzen vermuten.“82

Es erlauben diese Dependenzen keine expliziten Datierungen von Psalmen. Die Gesamtbetrachtung armentheologischer Aussagen zeigen hingegen Entwicklungen armentheologischer Aussagen auf, die ihrerseits auf den Formationsprozess des Psalters verweisen, was nachfolgend für die im Kontext dieses Beitrags diskutierten Psalmen dargelegt wird: (1)  Für den 1. Davidpsalter wurde bereits auf eine deutlich erkennbare qualitative Entwicklung armentheologischer Aussagen hingewiesen. Entscheidend ist nicht, dass die Psalmen armentheologische Züge aufweisen, sondern wie Armut zum Thema gemacht wird. In der zweiten Hälfte des 1. Davidpsalters zeigt sich diese qualitative Veränderung  – bis auf den spät zu datierenden Doppelpsalm 9/1083 und sekundärer Zusätze in Ps 1884 – u. a. an armentheologischer Motivik (Rettung und Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen [„Revolution“]) sowie an der Selbstprädikation des Beter-Ichs, wie hier an Ps 25; 34 und 35 aufgezeigt. Formal wurde auf die Rahmung der dritten und vierten Gruppe Ps 25 und 34; Ps 35 und 41 durch armentheologische Akzentuierung verwiesen. Der Vergleich der armentheologischen Akzente von Ps 25 und 34 erweist deutliche Parallelen, die eine bewusste Setzung des 1. Davidpsalters bzw. des 1. Psalmenbuches aufzeigen. Die Ähnlichkeiten sind nicht zufällig und die makrostrukturelle Setzung im Psalter bewusst. Die weitere Auseinandersetzung mit Ps 35 zeigte die deutliche Verzahnung durch armentheologische Aussagen von Ps 34 als letztem Psalm der dritten und Ps 35 als erstem Psalm der vierten Gruppe. Im Maso80  Vgl. hierzu Analyse, Auswertung und Ergebnis meiner Studie zur sozio-ökonomischen Entwicklung Yəhūds in Bremer, Armen, 61–301.301–316. Für die Frage nach Aussagekraft der aufkommenden Münzen vgl. darüber hinaus zuletzt Frevel, Reichsinteresse. 81 Vgl. Willgren, Formation, 391–392. 82  Bremer, Armen, 410. Zur Diskussion vgl. a. a. O., 19–59.410–411. 83  Vgl. detailliert Sager, Polyphonie, 23–40.128–129, sowie auch für weitere Verweise Bremer, Armen, 339 Anm. 1110. 84 Vgl. Adam, Held, 131–133.



Armentheologie und Intertextualität69

retischen Psalter zeigt sich darin nicht nur eine armentheologische Akzentuierung. Armentheologie findet sich an den die Psalterstruktur prägenden Marken. Diese kompositionellen Setzungen zeigen sich bereits in 4Q83/​4QPsa und verweisen auf ein redaktionelles Wachstum des 1. Davidpsalters vor dem Hintergrund sich verschärfender sozio-ökonomischer Entwicklungen im postexilischen Yəhūd. Gerade indem der Mahnung Willgrens Rechnung zu tragen ist, die Materialität – bei ihrer Fragmentarität – der Schriftrollen vom Toten Meer und seine gezogene Conclusio des Vorbehalts bezüglich der Psalterformation nicht zu übergehen,85 findet sich die These ob 4Q83/​ 4QPsa gestärkt. (2)  Das Beispiel der Gegenüberstellung von Ps 14 und 53 zeigt die sekundäre Zufügung eines armentheologischen Verses am Ende der ersten Gruppe des 1. Davidpsalters an, die sich in Ps 53 explizit nicht findet. Insofern es sich – wie dargelegt – um eine redaktionelle Zufügung handelt, wurde die erste Gruppe sekundär so verändert, dass sie armentheologisch (und im weiteren Verlauf ebenfalls zionstheologisch) schließt – und auch hier der Armentheologie eine für den Masoretischen Psalter makrostrukturrelevante Bedeutung zukommt, die die Relevanz der Armenfrage anzeigt. Die Zufügung eines armentheologischen Verses, der die Intention des Gesamtpsalms tangiert und die sich durch eine Struktur im Masoretischen Psalter auszeichnende erste Gruppe des 1. Davidpsalters schließt, ist in einer Zeit sich verschärfender sozialer Spannungen anzusetzen und kann vor ihrem Hintergrund interpretiert werden. Anzeichen zeigen sich deutlich in der oben beschriebenen zweiten und weiter der dritten Stufe sozio-ökonomischer Entwicklungen.86 (3)  Das 5. Psalmenbuch bezeugt eine gegenüber dem Gesamtpsalter quantitativ und qualitativ veränderte armentheologische Akzentuierung, bei welcher nicht nur Rechtssorge und Rettungsmotiv verstärkt auftreten, sondern das Bild eines direkt in die Welt für „Arme“ Partei ergreifenden, aktiv handelnden, Gesellschaftsstrukturen verkehrenden Gottes aufgewiesen wird – das programmatisch für das gesamte 5. Psalmenbuch mit Ps 107 schon im Eröffnungspsalm Ausdruck findet. Der Gebrauch des Rettungsmotives, das Motiv der Rechtssorge durch Jhwh und die Vorstellung eines in das Weltgeschehen aktiv eingreifenden errettenden Gottes reflektieren die ausbleibende Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation der „Armen“ durch die machthabende weltliche Oberschicht, angestiegene sozio-ökonomische Schwierigkeiten und ein höheres Maß an materieller Armut. Die oben (vgl. zu 2.3) für das 5. Buch herausgestellten Charakteristika wie auch die im Zitat wiedergegebene Argumentation Tuckers weisen erkennbare Dependenzen zur o. g. III. Stufe sozio-ökonomischer Entwicklungen auf. Die Analyse der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zeigt, dass durch Nehemia keine nachhaltigen Verbesserungen erreicht wurden, sondern im weiteren Verlaufe des 5. und des 4. Jh.s v. Chr. von einer Verschärfung wirt85  Vgl. weiterführend Bremer, Armen, 419–426.479–484. Zu 4Q83/​4QPsa vgl. Willgren, Formation, 85–86.104–121, sowie den Beitrag von Willgren in diesem Band. 86  Vgl. weiterführend Bremer, Armen, 419–426.433–436.479–484.

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schaftlicher und sozialer Spannungen ausgegangen werden muss, wesentlich bedingt durch fixe Abgaben an die achämenidische und zu späterer Zeit hellenistische Verwaltung und die Ausbreitung verkehrsfähiger Kleinmünzen, welche sich ob ihrer Alltagstauglichkeit und ihrer Funktion als Rechen-, Wertaufbewahrungs- und Tauschmittel positiv auf Marktentwicklungen auswirkten, doch gleichsam verschärfende soziale Spannungen evozierten.87

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Vgl. weiterführend Bremer, Armen, 454–470.479–484.



Armentheologie und Intertextualität71

–, Eine „Armenredaktion“ im 1. Davidpsalter? Impulse vor dem Hintergrund sozio-ökonomischer Entwicklungen, in: Hossfeld, F.‑L./​ders.,/​Steiner, T. M. (Hg.), Trägerkreise in den Psalmen, BBB 178, Göttingen 2017, 181–205. –, The „Theology of the Poor“ as a Constructive Contribution to the Theology of the Psalter, in: Berges, U./​ders./​Steiner, T. M., Zur Theologie des Psalters und der Psalmen. Beiträge in memoriam Frank-Lothar Hossfeld, BBB 189, Göttingen 2019, 319–356. Brodersen, A., The End of the Psalter. Psalms 146–150 in the Masoretic Text, the Dead Sea Scrolls, and the Septuagint, BZAW 505, Berlin/​​Boston 2017. Brueggemann, W./​Bellinger Jr., W. H., Psalms, NCBiC, New York 2014. Budde, K., Psalm 4 und 53, in: JBL 47 (1928), 160–283. Craigie, P. C., Psalms 1–50, WBC 19, Waco 1983. Crüsemann, F., Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, Neukirchen-Vluyn 1969. –, Gottes Ort. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bibel, in: Bail, U./​Jost, R. (Hg.), Gott an den Rändern. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bibel, FS W. Schottroff, Gütersloh 1996, 32–41. Dahood, M., Psalms III. 101–150, AncB 17,1, Garden City/​​New York 1970. Eerdmans, B. D., Psalm XIV, LIII and the Elohim-Psalms, in: OTS 1 (1942), 258–267. Fabry, H.‑J., Art. ‫ ַדּל‬, in: ThWAT 2 (1977), 221–244. Flint, P. W., The Psalters at Qumran and the Book of Psalms (Ph.D.), Notre Dame 1993. Frevel, C., Reichsinteresse und Lokalpolitik in der Levante im Spiegel der materiellen Kultur, in: Achenbach, R. (Hg.), Persische Reichspolitik und lokale Heiligtümer. Beiträge einer Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in Vormoderne und Moderne“ vom 24.–26. Februar 2016 in Münster, BZAR 25, Wiesbaden 2019, 209–255. Gärtner, J., Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter, FAT 84, Tübingen 2012. Gerstenberger, E. S., Art. ‫ עָ נָה‬II, in: ThWAT 6 (1989), 247–270. Gillingham, S., The Poor in the Psalms, in: ET 100 (1988), 15–19. Girard, M., Les Psaumes redécouvertes. De la structure au sens, III. 101–150, Montréal 1994. Groenewald, A., Psalm 69. Its Structure, Redaction and Composition, ATM 18, Münster 2003. –, Psalms 69:33–34 in the Light of the Poor in the Psalter as a Whole, in: VeEc 28 (2007), 425–441. Gunkel, H., Die Psalmen, HKAT 2,2, Göttingen 61986. Hossfeld, F.‑L., Die unterschiedlichen Profile der beiden Davidsammlungen Ps 3–41 und Ps 51– 72, in: Zenger, E. (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum, HBS 18, Freiburg u. a. 1998, 59–73. –/​Zenger, E., Die Psalmen I. Psalm 1–50, NEB 29, Würzburg 1993. –/–, Neue und alte Wege der Psalmenexegese. Antworten auf die Fragen von M. Millard und R. Rendtorff, in: BibInt 4 (1996), 332–343. –/–, Psalmenauslegung im Psalter, in: Kratz, R. G./​Krüger, T./​Schmid, K. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift, FS O. H. Steck, BZAW 300, Berlin/​​New York 2000, 237–257. –/–, Psalmen 51–100, HThKAT, Freiburg u. a. 2000. –/–, Psalmen 101–150, HThKAT, Freiburg u. a. 2008. Janowski, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013. Kraus, H.‑J., Psalmen. 1. Teilband: Psalmen 1–59, BKAT 15,1, Neukirchen-Vluyn 72003. –, Psalmen. 2. Teilband: Psalmen 60–150, BKAT 15,2, Neukirchen-Vluyn 72003. Kuckhoff, A. T., Zum Werden des ersten Davidpsalters. Eine kritische Bearbeitung des redaktionsgeschichtlichen Entwurfs von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger (Diplomarbeit, masch.) Bonn 2002. Lohfink, N., Psalm 37. Vorlesungsskript. Sankt Georgen – Wintersemester 1994/95 und Sommersemester 1995 (mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von N. Lohfink).

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Teil II: Theologische Perspektiven

Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 Intertextuelle Befunde und redaktionsgeschichtliche Auswertungen Martin Leuenberger 1. Einleitung 1.1 Der Psalter als Komposition eigener Art In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten hat sich mit Recht die gegenwärtige Mehrheitsposition durchgesetzt,1 wonach das biblische Buch der Psalmen eine wohlgeordnete Gesamtkomposition – eben den (masoretischen) Psalter – bildet. Nur angemerkt sei an dieser Stelle, dass damit eine bestimmte literaturgeschichtliche Linie in den Vordergrund rückt; daneben sind aber bes. in Qumran (11QPsa u. a.) und namentlich, aber nicht nur im Blick auf den Abschluss auch in der Septuaginta und der Peschitta abweichende Psalterien erhalten, die qualitativ in ähnlicher Weise komponiert sind, aber abweichende – und entstehungsgeschichtlich vermutlich auch jüngere – Abfolgelogiken aufweisen. Gerade im Blick auf das Tagungsthema lohnte sich ein umfassenderer Vergleich des masoretischen Psalters mit diesen Psalterien.

Im Horizont der Hebräischen Bibel (HB) fällt auf, dass es sich beim Psalter in vielerlei Hinsicht um eine eigene Art von Komposition handelt, die sich etwa durch die (vielschichtigen) Schlagworte „Poetizität“, „Einzelpsalm und Psalmenabfolge“, „Pragmatik von Psalmen und Psalter“, „Traditionsliteratur“ andeuten lässt.2 So gibt es gegenwärtig – wenn auch innerhalb eines schmaleren Spektrums als noch vor einer Generation – berechtigterweise nach wie vor eine wichtige Forschungsdiskussion über das Verständnis des komplexen Gesamtbefundes des Psaltertextes: Inwieweit und auf welche Weise ist er als intendierte Komposition zu verstehen? Für jede textwissenschaftliche Zugangsweise, die ihre semiotischen und historischen Implikationen hermeneutisch reflektiert, stellt sich dabei unabwendbar die Frage nach der Entstehung des Psalters. Denn nur auf dieser Grundlage lässt sich überhaupt klären, inwiefern der Psalter sowohl für die Verfasser, produktiven Tradenten und Redaktoren als auch für die Adressaten, Rezipienten und Leser eine planvolle Komposi1  2 

Jüngst nicht zuletzt durch die Arbeiten der Band-HerausgeberInnen (siehe unten Anm. 5). Siehe dazu die Lit. unten Anm. 5 sowie Leuenberger, Konzeptionen, 31–40.

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tion darstellt. Das bedeutet umgekehrt, dass jedes Verständnis von Einzelpsalmen und Gesamtpsalter bestimmte Annahmen über die Textentstehung und -komposition voraussetzt, trifft oder impliziert. Es führt m. E. daher methodisch kein Weg an der Frage nach der Entstehung des Psalters vorbei, auch wenn die textgestützten Antworten oftmals allzu rasch an ihre Grenzen stoßen. 1.2 Intertextualität und Entstehung des Psalters Dem so knapp umrissenen Rahmen von Komposition und Genese des Psalters widmet sich dieser Band mit seinen beiden (elliptischen) Brennpunkten „Intertextualität“ und „Entstehung“ des Psalters. Beide Stichworte verweisen bekanntlich auf umfangreiche und komplexe Problembereiche, die hier nur schlagwortartig angedeutet seien. – Dies gilt namentlich für das Stichwort der Intertextualität, das auf umfassende Literatur- und Kulturtheorien verweist, welche intertextuelle Befunde interpretieren. Gegenüber diesen umfassenden Interpretationsmodellen, die vielfach auch fachspezifische und positionsbedingte Ausprägungen aufweisen, setzen meine Überlegungen im Horizont des hiesigen Bandes schlichter bei den als solchen unstrittig konstatierbaren Sachverhalten ein, die als inter- (oder auch intra-)textuelle Befunde bezeichnet werden können und die in ihrer Gesamtheit eben als Intertextualität von Texten/​Textcorpora verstanden werden können. Ich setze also ganz basal beim Phänomen konkreter und – so ergänze ich im Sinne einer Präzisierung und zugleich einer Problemanzeige – verfasserintendierter3 Text-Text-Beziehungen an. Damit kommt Intertextualität im Anschluss an Gérard Genette als „die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ in Form von Zitat, Plagiat oder Anspielung in den Blick.4 Diese Befunde werden erhoben und beschrieben, im Folgenden dann aber im Kontext dieses Bandes literar- und redaktionsgeschichtlich ausgewertet  – womit unter Berücksichtigung der eigentümlichen soziohistorischen Gegebenheiten der biblischen Literatur eine spezifische Auswertungs- und Interpretationsperspektive verfolgt wird, die sich in verschiedener Hinsicht von den genannten modernen literatur- und kulturwissenschaftlichen Intertextualitätstheorien unterscheidet und dazu differenziert ins Verhältnis gesetzt werden muss. 3 

So jetzt etwa für Ps 146–150 auch Brodersen, End, 22–27. Genette, Palimpseste, 10; dabei steht Intertextualität neben Para-, Hyper-, Meta- und Architextualität, welche Phänomene zusammengenommen als Transtextualität bezeichnet werden. Siehe als aktuelle Einführung Berndt/​Tonger-Erk/​M eixner (Hg.), Intertextualität. Im Blick auf die antike Traditionsliteratur, insb. in der HB, „verbindet sich damit häufig die Frage, welche Texte überhaupt als eine literarische Einheit gelesen werden wollen“, wie Blum, Pentateuch, 67, mit Recht unterstrichen und für den Penta-/Hexa-/Enneateuch ausgeführt hat. Mutatis mutandis stellen sich diese Probleme auch im poetischen Horizont der Psalmen, des Psalters und der Ketubim. 4 



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 77

– Denn der durch den vorliegenden Band vorgegebene zweite Hauptbegriff der Entstehung legt den Fokus dezidiert auf die literatur- und redaktionsgeschichtliche Genese von Einzelpsalm, Psalmengruppen und Gesamtpsalter. Materialiter sind auf diesem Feld in neuerer Zeit ja eine Fülle von Hypothesen entwickelt worden; sie zeigen grundsätzlich, dass die Fragestellung fruchtbar ist und ein Desiderat bearbeitet; sie machen aber zugleich auch klar, dass unsere Rekonstruktionsmöglichkeiten text- und quellenbedingt offenkundig begrenzt sind.5 In dem so skizzierten aktuellen Forschungskontext gewinnt das Thema dieses Bandes seinen unverwechselbaren Charme und seine weiterführenden Perspektiven m. E. gerade dadurch, dass Intertextualität und Entstehung des Psalters pointiert aufeinander bezogen werden, was sich durch einen Blick auf die einschlägige neuere Forschungsliteratur leicht substantiieren und flächendeckend illustrieren ließe. 1.3 Beobachtungen an Zionspsalmen als Testfall Im Folgenden wende ich mich dieser zentralen Fragestellung nach dem Verhältnis von Intertextualität und Entstehung des Psalters exemplarisch zu. Ich bearbeite sie anhand eines Beispiels aus den Zionspsalmen, das sich mir bei der Arbeit an diesen Texten erschlossen hat. Es basiert ganz wesentlich auf terminologischen bzw. thematischen Text-Text-Beziehungen (2.2.2) und wertet diese Befunde sodann redaktionsgeschichtlich aus (2.2.4–5). Dabei ist es mir im vorliegenden Rahmen darum zu tun, anhand dieses Beispiels die methodische Argumentation permanent transparent zu machen: Wie präsentieren sich die Befunde? Was sind – in unterschiedlichen Rahmenparadigmen – mögliche Auswertungen? Wo erfolgen die methodisch und inhaltlich entscheidenden Weichenstellungen und mit welchen Gründen? Schließlich: Welche redaktionsgeschichtlichen Folgerungen lassen sich so (mit welcher Wahrscheinlichkeit) entwickeln?

2. Jhwhs universal Frieden und Gerechtigkeit stiftendes Wirken in Psalm 46,9–12; 48,10–12; 76 – eine zionstheologische Fortschreibung im werdenden Psalter Wenden wir uns also der spezifischen Kerngruppe der zionstheologischen Psalmen 46, 48 und 76 zu, die man als eigentliche Zionshymnen bezeichnen kann.6 Wie zahlreiche Jerusalemer Psalmen oder etwa auch die Zionstexte in Jesaja beruhen sie auf 5  Vgl. dazu das Forschungsspektrum bei Zenger (Hg.), Composition, und jetzt Willgren, Formation, 11–20, mit seinen kompositionskritischen Anfragen; exemplarisch zeigt sich dies am Psalter-Ende einerseits bei Neumann, Hymnen, 5–7.429–432, und andererseits bei Brodersen, End, 2–11. Methodisch etwas anders gewendet fokussiert Bremer, Armen, auf armentheologisch ausgerichtete Redaktionsprozesse im Psalter. 6  Siehe für diese Umgrenzung bereits Steck, Friedensvorstellungen, 9 Anm. 5, und zur Definiti-

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dem zions- und tempeltheologischen Basisaxiom der Gegenwart des Königsgottes Jhwh in Zion; sie entfalten dabei namentlich die Grundüberzeugung, dass ZionJerusalem deswegen ein heilvoller Sonderstatus als Gottes Berg, Stadt und Tempel zukommt.7 Wiewohl die Akzente je unterschiedlich gesetzt werden, repräsentieren diese Zionspsalmen somit – während einer langen Zeitspanne der vor- und nachexilischen Zeit – eine genuin affirmative Zionstheologie, die sie von den kritischen Transformationen der unheilsprophetischen Zionstheologie scharf abhebt. 2.1 Die These Auch innerhalb dieser affirmativen Zionstheologie lassen sich nun verschiedene theologiegeschichtliche Entwicklungen feststellen; eine zentrale Rolle spielt dabei natürlich wie sonst die Verarbeitung der Exilserfahrung,8 die freilich in den hier interessierenden Psalmen 46, 48 und 76 bemerkenswerterweise keine grundlegenden Infragestellungen oder Transformationen ausgelöst hat. Dennoch treten auch hier, so meine These, theologiegeschichtliche Errungenschaften der späteren Perserzeit (vielleicht des 4. Jh.) hervor, und zwar im spezifischen Vorstellungs- und Aussagebündel, dass Jhwh in Gegenwart und Zukunft universal für Frieden und Gerechtigkeit sorgt. Ich möchte zeigen, dass es signifikante intertextuelle Befunde gibt, die sich redaktionsgeschichtlich am besten so auswerten lassen, dass hier eine zionstheologische Fortschreibung vorliegt, die die älteren Psalmen 48 und 46 in 48,10–12 und 46,9–12 entsprechend fortschreibt sowie den gleichläufigen Redaktionspsalm 76 in den Kontext der Asaphpsalmen einschreibt. 2.2 Die Argumentation Bei der Begründung dieser These muss ich mich im vorliegenden Rahmen auf die methodisch entscheidenden Schritte beschränken, dabei aber einige Vorannahmen machen, die gut etabliert, aber nicht allgemeiner Konsens sind. Ich schicke aber vorweg, dass sich der Fokus auf gerade diese intertextuellen Beobachtungen und redaktionsgeschichtlichen Auswertungen erst aufgrund von Einsichten umfangreicherer Vorarbeiten aufdrängt, diese dann aber umgekehrt weiter abzustützen vermag, sodass die resultierende Gesamthypothese eine sonst nicht erreichbare, erhöhte Plausibilität gewinnt. Diese Interdependenz stellt im Rahmen on der Zionshymnen anhand der wichtigsten konzeptionellen, motivischen und formal-strukturellen Gemeinsamkeiten (und Differenzen) knapp etwa Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 386–387. In einem zweiten Schritt lässt sich diese Kerngruppe um Ps 84, 87, 122 und (Teile des Königspsalms) 132 ergänzen und in einem dritten Schritt kommen dann die zahlreichen zionstheologischen Passagen bzw. Aussagen in weiteren Psalmen hinzu. Sowohl thematisch als auch kompositionell und redaktionsgeschichtlich präsentieren sich diese Übergänge fließend, sie können hier jedoch nicht genauer erörtert werden. 7  Siehe dazu demnächst Leuenberger, Zion, Kap. IV. 1 und I. 3.1 (Lit.). 8  Vgl. statt vieler van Oorschot, Korachpsalmen, 427 ff, und umfassend Körting, Zion (Lit.).



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exegetischer Modellbildung nichts Außergewöhnliches dar und ist m. E. auch methodisch gerechtfertigt; es gilt allerdings, diese wechselseitigen Verflechtungen unterschiedlicher Beobachtungen und (Vor-)Annahmen permanent transparent und damit immer auch problematisierbar zu halten. 2.2.1 Vorannahmen Im konkreten Fall haben meine Vorarbeiten9 folgende Einsichten erbracht, die als Vor­annahmen für die folgenden Überlegungen fungieren: – Die beiden zionstheologischen Zwillingspsalmen 46 und 48, deren Datierung insb. aufgrund des Völkerkampfmotivs strittig ist, werden bei einem Bezug auf den Sanherib-Feldzug 701 am besten verständlich. Das Ereignis wird – mithilfe älterer zionstheologischer Vorstellungen und aus Sicht einer offiziell-staatlichen Trägerschaft des Jerusalemer Tempels  – so verarbeitet, dass im früheren 7. Jh. die charakteristische affirmative Zionstheologie der beiden Psalmen im Grundbestand resultiert. – Näherhin ist Ps 48 konzeptionell und literargeschichtlich vermutlich ein wenig älter als sein jüngerer Zwillingsbruder 46, der ihn rezipiert und punktuell weiterführt; dies kann hier aber auf sich beruhen. – Der Grundbestand von Ps 48 umfasst V. 2–9.13–15 und gliedert sich in drei Strophen, welche den Großkönig Jhwh in seiner Stadt Zion, die Abwehr des Völker„sturms“ sowie die Inspektion Zions behandeln.

I. II. III. IV.

V. 2–4 V. 5–9 V. 10–12 V. 13–15

Der Großkönig Jhwh und sein Berg/seine Stadt Zion Zusammenrottung und Flucht der Könige Tempelzentrierte, heilvolle Wirkgrößen Gottes Inspektion Zions und Erzählen von unserem Gott

Diese nachgerade klassische Zionstheologie fügt sich historisch, religions- und theologiegeschichtlich sehr gut in die skizzierte (womöglich auch kultisch-liturgisch vollzogene) offizielle Jerusalemer Tempeltheologie des 7. Jh.10   Demgegenüber weist die jetzt dritte Strophe V. 10–12 markante Wandlungen auf, wenn hier die bis ans Ende der Welt ausgreifenden Wirkgrößen Gottes (Gnade, Name, Ruhm, Gerechtigkeit, Gerichtsvollzüge) im Zentrum stehen. Daher hat sich über die nachexilische Einschreibung von V. 10–12 in der neueren Forschung ein ziemlich solider Konsens etabliert. Er stützt sich neben den genannten, weltweit ausgreifenden Wirkgrößen (1) auf die Du-Anrede (2), die auf den Tempel zentrierte Perspektive (3) und den veränderten Sinn von „Zion“ und den „Töchtern Judas“ (4); all diese Züge unterscheiden sich vom älteren Grundbestand im Kontext deutlich. 9 

Siehe dazu demnächst ausführlich Leuenberger, Zion (Lit.). Literargeschichtlich wird diese Verortung unter anderem dadurch gestützt, dass der exilische Klagevers Klgl 2,15 den Untergang der „Freude für die ganze Welt (‫ “)משׂושׂ לכל־הארץ‬beklagt. Damit wird offensichtlich Ps 48,3 als etablierter Topos zitiert (‫ משׂושׂ ]ל[כל־הארץ‬ist in der HB nur an diesen Stellen belegt), welcher Vers daher (deutlich) älter sein muss. 10 

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Martin Leuenberger

– Analog präsentiert sich der Befund in Ps 46, dessen älterer Kern wahrscheinlich in V. 2–8, der jetzt ersten Strophe, vorliegt. Obwohl der Leitbegriff „Zion“ nominell fehlt, zeigt sich nahezu dieselbe Grundkonzeption wie in Ps 48, die bekräftigt, dass Gott sich in seiner Jhwh-Präsenz in der Gottesstadt als Zufluchtsort vor ChaosBedrohungen im Bereich der Natur und der Völker bewährt hat. I. V. 2–8 Jhwhs Präsenz im Tempel (V. 5–6): in Kosmos (V. 3–4) Zufluchtsort gegen Chaos und Völkerwelt (V. 7) II. V. 9–12 Jhwh Zebaot mit uns/​Gott Jakobs für uns (V. 12 = V. 8): Kriegsbeendigung (V. 9–10) weltweite Erkenntnis: Jhwh ist Gott (V. 11)

Abermals zeigt die zweite Strophe V. 9–12 eine deutliche Weiterentwicklung, die sie literargeschichtlich als Fortschreibung zu erkennen gibt: Gegenüber V. 2–8 spielt die Gottesstadt keine tragende Rolle mehr (1) und es gewährleistet auch nicht mehr Gottes dortige Gegenwart als solche den Schutz, sondern allererst dessen übermächtiges Wirken in Gestalt der Zerstörung von Kriegsgerät11 (2) – und zwar in der gesamten Völkerwelt (3). Damit verschiebt sich, freilich weniger auf der syntaktischen Ebene als der Sache nach, die Zeitperspektive zusehends in die Zukunft, die als weltweite Friedenszeit in den Blick kommt (4). – Ps 76 entfaltet im Vergleich zu Ps 46 und 48 eine eigentümliche Variante der Zionstheologie: Jhwh (V. 12, vgl. V. 2.1012), der Gott Israels und Judas, hat im Tempel auf dem Zion Wohnung genommen; von dort aus hat er in der gesamten Völkerwelt Kriege beendet und sein Gerichtsurteil zugunsten der „Elenden/​Armen“ kundgetan, was weltweit Anerkennung finden muss und wird.

I. II. III. IV.

V. 2–4 V. 5–7 V. 8–10 V. 11–13

Gottes bekannte Präsenz in Zion und kriegsbeendende Taten dort Seine Übermacht hat Feinde und Kriegswagen gebändigt Gottes weltweites Gerichtsurteil zugunsten der Elenden Menschliche Anerkennung des Gerechtigkeit durchsetzenden Jhwh

So fügt sich Ps 76 ins Gesamtgefüge der affirmativen Zionstheologie ein, fokussiert aber auf die zionszentrierte Weltbefriedung durch den übermächtigen („furchteinflößenden“) und richtenden Gott Jhwh, der seine Taten „von seiner ‚Wohnstatt auf dem Zion‘ aus vollbringt“.13 Damit stellt er sicherlich den jüngsten Exponenten 11  Die Kriegsbeendigung durch Jhwhs Übermacht läuft implizit, der Sache nach aber eindeutig darauf hinaus, dass Jhwh sich als „universaler Friedensstifter“ erweist (so Janowski, Wohnung, 47). 12  Wenn Ps 76 tatsächlich von Haus aus ein Redaktionstext ist – sei es für den Asaphpsalter 73– 83 oder m. E. eher für den korachitisch eingeleiteten elohistischen Psalter 42–83 –, dann dürfte die theologische Programmatik, dass Jhwh der völker- und weltweit agierende Gott (‫ )אלהים‬ist, bereits ursprünglich sein. Entsprechend ist dann V. 2 (und V. 10) auch textkritisch nicht zu beanstanden (anders als beim „vorelohistischen“ Grundbestand in Ps 46 und 48). 13 So Lutz, Völker, 171.



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der drei zionstheologischen Kernpsalmen dar, was bereits Edzard Rohland zutreffend gesehen hat und bis heute weithin anerkannt ist.14  Literargeschichtlich gibt der Psalm, wenn man ihn in seinem kompositionsund redaktionsgeschichtlichen Kontext liest, weder Anlass zu tendenzkritischen Schichtungen in V. 2b.3b15 noch Grund zur Annahme einer armentheologischen Fortschreibung des vom Himmel ergehenden Gerichtsurteils in V. 9–10.16 Vielmehr stellt er wahrscheinlich einen in den Asaphkontext eingeschriebenen Redaktionspsalm dar, wie ich im Folgenden anhand intertextueller Befunde und redaktionsgeschichtlicher Auswertungen plausibilisieren möchte. 2.2.2 Kernbeobachtungen zu den intertextuellen Befunden Nach dieser letzten Vorbemerkung können nun ausführlicher die eigentlichen Kernbeobachtungen erörtert werden. Der Einsatz erfolgt mit Textdaten, die als solche weitestgehend unstrittig sind. Auch ihre Deutung als intertextuelle Befunde im weiteren Sinn dürfte  – trotz der oben in 1.2 angedeuteten Methoden- und Theoriedebatten im Hintergrund – exegetisch konsensfähig sein, auch wenn diese Befunde in der Forschung aufgrund anderweitiger Vorannahmen lange Zeit (zu) wenig Beachtung gefunden haben. So ist in der Mitte des 20. Jh. für den schon genannten Rohland innerhalb seines überlieferungs- und traditionsgeschichtlichen Zugangs völlig klar, dass bei Ps 46, 48 und 76 eine „literarische Abhängigkeit aber durch den jeweils eigenständigen Kontext ausgeschlossen“ ist.17 Demgegenüber lohnt sich m. E. im Rahmen neuerer kompositions- und redaktionsgeschichtlicher Modelle ein genauerer Vergleich der beiden ergänzten (Fortschreibungs-)Passagen 46,9–12 und 48,10–12 sowie des insgesamt jüngeren Ps 76. – Im Blick auf die Text-Text-Beziehungen mit am prägnantesten ist die Aussage, dass Jhwh Bogen(blitze) zerbricht (‫ )ׁשבר ]רׁשפי־[קׁשת‬in Ps 76,4 und 46,10:

14  Rohland, Erwählungstraditionen, 123, hält Ps 46 für den ältesten Text und datiert ihn „in verhältnismäßig frühe Zeit“ (a. a. O., 143), während Ps 76 „erst verhältnismäßig spät entstanden“ sei (ebd.). Für die neuere Forschung siehe statt vieler Jeremias, Königtum, 179 Anm. 51 (allerdings mit revisionsbedürftigen Datierungen), und insb. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, z. St. Freilich gilt dies nur für die Kerngruppe aus Ps 46, 48 und 76, während die genauere Verhältnisbestimmung zu den weiteren Zionspsalmen 84, 87, 122 und (Teilen von) 132 komplizierter ist – insb. innerhalb von Buch III des Psalters im Blick auf die korachitischen Zionspsalmen 84, 87 und die weiteren zionstheologischen Aussagen etwa in Ps 74,2–3.7; 78,68 usf. 15 So Seybold, Psalmen, 295–296. Siehe zum Ganzen Leuenberger, Psalm 76. 16  So im Horizont des Asaphpsalters Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 388–389; dies., Psalm 51–100 (NEB 40), 431; ebenso Gärtner, Geschichtspsalmen, 124; einen Nachtrag vermuten auch Seybold, Psalmen, 295.297; ders., Psalmenauslegung, 144; Burger, Zionslied, 83–88. 17  Rohland, Erwählungstraditionen, 143 [Hervorhebung M. L.]. Selbst Hossfeld/​Zenger, Psalm 1–50 (NEB 29), 284, nehmen die Psalmengruppe primär traditionsgeschichtlich in den Blick (siehe dazu schon Steck [siehe oben Anm. 6]), auch wenn sie für manche auch im Folgenden zu besprechenden Passagen erstmals deutlich redaktionsgeschichtliche Perspektiven entwickeln.

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Ps 46,10aβ [Schaut Jhwh …:] Bogen zerbricht er b und zerschlägt Speere, (Kriegs-)Wagen verbrennt er im Feuer. Ps 76,4a b

Dort hat er [sc. Jhwh] zerbrochen Bogen-Blitze, Schild und Schwert und Krieg(sgerät). Sela.

‫קשׁת ישׁבר‬

[… ‫]חזו יהוה‬ ‫וקצץ חנית‬

‫עגלות יׂשרף באׁש‬ ‫ׁשמה ׁשבר רׁשפי־קׁשת‬ ‫מגן וחרב ומלחמה סלה‬

Die Wendung findet sich im Psalter18 sonst nur noch – ohne Jhwh als Subjekt – in anderem Zusammenhang von den Frevlern in Ps 37,15b (‫וקשׁתותם תשׁברנה‬: „und ihre [sc. der Frevler V. 14] Bogen werden zerbrochen werden“).   Wie ist dieser Befund zu deuten?   (1)  Zunächst ist immer zu fragen, ob solche Textübereinstimmungen zufällig sind. Das ist umso unwahrscheinlicher, je seltener und je länger eine Formulierung(sübereinstimmung) ist. Im vorliegenden Fall besteht, wie in den meisten Fällen, ein gewisser Deutungsspielraum. So dürfte sich die Formulierung in Ps 37,15 dem Erfahrungshintergrund verdanken, dass Bogen aufgrund von Alterung, Materialfehlern oder Überspannung eben zerbrechen können und damit nutzlos werden. Auf diese allgemeine Weise scheint sich die Textentsprechung von Ps 37,15 passend zu erklären, wofür auch das unterschiedliche Subjekt spricht, das zu einem ganz anderen Aussagezusammenhang führt. Ein intendierter Text-Text-Bezug liegt daher wahrscheinlich nicht vor.   (2)  Im nächsten Schritt gilt es zu prüfen, ob eine form-/gattungsgeschichtliche oder traditionsgeschichtliche Erklärung überzeugt. Eine solche drängt sich dann auf, wenn nicht nur ein allgemein lebensweltlich vertrauter Sachverhalt ausgesagt wird, sondern eine geprägte oder formelhafte Wendung vorliegt. Zwar sind solche Formulierungen oft nicht trennscharf zu identifizieren, sie werden aber dann wahrscheinlicher, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Traditionsströmung als gängig nachweisen lassen.   Das trifft im Falle der Zionstheologie etwa für die Bezeichnung Zion-Jerusalems als (heiliger/höchster) Berg Jhwhs zu, wie es in einschlägigen Texten häufig der Fall ist;19 dabei zeigt eine Belegdurchsicht zugleich den typischen Sachverhalt, dass das gemeinsame Vorstellungselement oder Motiv im Detail sehr oft sprachlich variierend formuliert wird. Stets ist bei derartigen Vergleichen zudem auch die Überlieferungsdichte der uns erhaltenen Texte in Rechnung zu stellen.   Im konkreten Fall liegt eine solche traditionsgeschichtliche Verwurzelung des Bogen-Zerbrechens durch Jhwh innerhalb der Zionstheologie sicherlich vor, wie nur schon der Zions-Horizont von Ps 46 und 76 (im Unterschied zu Ps 37) zeigt. So stellt sich die Frage, ob eine solche traditionsgeschichtliche Erklärung ausreicht. – Ich denke nicht, und damit kommt die dritte Option ins Spiel: 18  Siehe daneben noch – jeweils mit nationaler Perspektive – die prophetischen Belege: Jer 49,35 ( Jhwh zerbricht den Bogen Edoms); Hos 1,5 ( Jhwh wird den Bogen Israels zerbrechen); 2,20 ( Jhwh wird Bogen, Schwert und Krieg im Land zerbrechen). 19  Siehe zum Ganzen Keel, Geschichte I, 71–72; Otto, Art. ‫ ִצּיֹון‬, 1007–1026; Leuenberger, Zion, Kap. IV. 2.1a.



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 83

  (3)  Es liegt eine intendierte literarische Beziehung vor, also eine von den Verfassern bewusst hergestellte Text-Text-Beziehung. (Natürlich ist damit literargeschichtlich noch wenig gewonnen, denn die konkrete Beziehungsart – Abhängigkeit von a zu b oder von b zu a oder aber gleichzeitige Abfassung von a und b – ist damit noch nicht festgelegt [dazu siehe unten 2.2.4].)   Beim vorliegenden Beispiel plädiere ich  – trotz der leichten Formulierungsabweichung mit Bogen bzw. Bogen-Blitzen  – für eine solche verfasserintendierte Textentsprechung. Auch hier kann im Einzelfall kein exaktes, objektives Urteil gefällt werden, sondern es bedarf einer „qualitativen“ Evaluation:20 Der Entscheid hängt im Kontext davon ab, wie eng die Formulierungsübereinstimmung angesetzt wird und wie markant die Wendung hervortreten muss im Vergleich zur generellen Verteilung der sie bildenden Wörter (unter Beachtung der Beleglage). Insofern ist die Aussage, dass Jhwh Bogen(blitze) zerbricht, rein „quantitativ“ und isoliert für sich genommen kaum stringent als intendierte Textbeziehung von Ps 46,10 und 76,4 aufzuweisen. Diese Deutung gewinnt aber erheblich an Wahrscheinlichkeit, wenn man zusätzlich ihre Konvergenz mit weiteren intertextuellen und thematischen Bezügen einbezieht. – Zunächst fügt sich die Aussage, dass Jhwh Bogen zerbricht, in den weiteren Vorstellungshorizont der generellen Vernichtung von Krieg(sgerät) durch Jhwh ein. Das belegen schon die Parallelformulierungen in den beiden Versen. Hinzu kommt das Kriegswagen lähmende Schelten in Ps 76,7 am Ende von Strophe II, was strukturell genau V. 4 als Abschluss von Strophe I entspricht. Ps 76,7

Von deinem Schelten, Gott Jakobs, sind benommen Wagen wie Ross.

‫מגערתך אלהי יעקב‬ ‫נרדם ורכב וסוס‬

Auf dieser grundsätzlichen Beendigung von Krieg – siehe ‫ מלחמה‬in Buch II–III des Psalters (nur) in Ps 46,10; 76,4 sowie 89,44 – durch Jhwh (zugunsten der Armen [V. 8–10], welche Gerechtigkeitsordnung weltweit Anerkennung findet [V. 11–13]) liegt nachgerade der Hauptakzent von Ps 76. Und dies gilt exakt auch für die Fortschreibung in 46,9–12, die an das die Erde beben lassende Stimme-Geben V. 7b anschließt (vgl. 76,9b) und dieses bezüglich Jhwhs weltweiter Kriegsbeendigung ausführt: Ps 46,7b

Er [sc. Gott V. 6] hatte seine Stimme hören lassen, (sodass) die Erde erbebte.

‫נתן בקולו‬ ‫תמוג ארץ‬

20  So auch Brodersen, End, 26, in Ergänzung der vorab quantitativen Übereinstimmungskriterien (wozu nicht nur die Anzahl und die Signifikanz der Wortübereinstimmungen zählen, sondern etwa auch stilistische oder gattungsspezifische Entsprechungen), wie sie auch in der neueren Psalmenforschung gängigerweise herangezogen werden (siehe z. B. Neumann, Hymnen, 26). Erst auf der Basis einer solchen qualitativen Evaluation lassen sich m. E. dann auch literar- und redaktionsgeschichtliche Folgerungen ziehen (siehe unten 2.2.4–5); demgegenüber will Süssenbach, Psalter, 39, intertextuelle Stichwortverbindungen anhand „der diachronen Frage nach dem Entstehungsprozess … sowie den theologischen Intentionen ihrer Träger“ beurteilen.

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Diese Vorstellung bildet also den thematischen Rahmen für den oben diskutierten spezifischen Textbezug des Bogen-Zerbrechens durch Jhwh; methodisch verschiebt sich damit der Blick von der Textoberfläche zur sachlichen Tiefendimension; sie wird begrifflich mit dem Stichwort ‫ מלחמה‬nur allgemein angegeben, variiert in den konkreten Aussagen jedoch, was man durchaus als Regelfall bezeichnen kann. – In Ps 48, der in einer Bahnlesung ja auf Ps 46(f ) folgt, fehlt diese negative Thematik der Kriegsabschaffung zwar. Die Einschreibung 48,10–12 führt jedoch, diese Grundlage implizit voraussetzend, als positives Gegenstück breit die Durchsetzung von Gerechtigkeit (‫ )צדק‬und den Vollzug von Gericht (‫ )מׁשפט‬aus (V. 11), was den gesamten Abschnitt V. 10–12 dominiert (siehe auch die weiteren Wirkgrößen Jhwhs: Gnade, Name und Ruhm). Dagegen fehlt diese positive Folgerung der Kriegsbeendigung in Ps 46 noch, sodass sich die beiden Psalmen auch diesbezüglich wechselseitig ergänzen. – Die direkte Verbindung beider Seiten des Jhwh-Handelns stellt Ps 76 her, wenn er die Kriegsbeendigung in V. 4 und V. 5–7 in der dritten Strophe durch das positive Pendant weiterführt und Jhwh sein Gerichtsurteil und Rechtsspruch (‫)מׁשפט‬ vom Himmel her verkündet, es also weltweit durchsetzt und zwar zugunsten der Armen der Erde (V. 9–10): Ps 76,9

Vom Himmel her hast Du (das) Gerichtsurteil verkündet: ‫מׁשמים הׁשמעת דין‬ (die) Erde ist in Furcht geraten und stumm geworden, ‫ארץ יראה וׁשקטה‬ 10 als Gott sich erhob zum Rechtsspruch, ‫בקום־למׁשפט אלהים‬ um zu retten alle Armen der Erde. ‫להוׁשיע כל־ענוי־ארץ‬ Sela. ‫סלה‬

Die thematische Entsprechung der weltweiten Rechtsdurchsetzung verbindet also Ps 76 offenkundig eng mit Ps 48; die intertextuelle Verknüpfung – siehe lediglich das allgemeine ‫מׁשפט‬ – bleibt hingegen wiederum dürftig. – Derselbe Sachverhalt, dass sich die thematische Verbindung auf der Textoberfläche nur eingeschränkt greifen lässt, zeigt sich bei der völker- bzw. weltweiten Geltung dieses ganzen Jhwh-Wirkens:   In Ps 76 erfolgt ja die Bekanntmachung von Jhwhs Gerichtsurteil vom Himmel her, sodass die ganze Erde verstummt und alle Armen der Erde gerettet werden (V. 9–10). Die universale Dimension ist der Sache nach also betont und prägt auch die folgende letzte Strophe durchgängig, wenn hier alle Menschen Jhwh preisen müssen (V. 11), der auch Fürsten und Weltkönige in ihre Schranken weist (V. 13). Ps 76,13

Er erniedrigt (den) Geist von Fürsten, er ist furchteinflößend für die Erden-Könige.

‫יבצר רוח נגידים‬ ‫נורא למלכי־ארץ‬

Dem entspricht konzeptionell ziemlich exakt die welt- und völkerweite Erhabenheit Jhwhs in Ps 46,11:



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 85

Ps 46,11

Haltet inne und erkennt: „Ich bin Gott, ich bin erhoben unter den Völkern, ich bin erhoben auf der Erde.“

‫הרפו ודעו כי־אנכי אלהים‬ ‫ארום בגוים‬ ‫ארום בארץ‬

Diese weltweite Gotteserkenntnis bildet das Ziel der „Taten Jhwhs“ (V. 9),21 die erdenweit Entsetzen bewirken, indem sie Kriege bis ans Ende der Welt beenden (V. 10). Ps 46,9 Kommt, schaut die Taten Jhwhs, 10aα der Entsetzen bewirkt hat auf der Erde, der beendet die Kriege bis ans Ende der Erde.

‫לכו־חזו מפעלות יהוה‬ ‫אׁשר־ׂשם ׁשמות בארץ‬ ‫מׁשבית מלחמות עד־קצה הארץ‬

Das weltweite Entsetzen wegen der Kriegsbeendigung durch Jhwh entspricht präzis der wegen Jhwhs Gerichtsurteil in Furcht geratenden und verstummenden Erde in Ps 76,9; intertextuell schlägt sich dies indes wiederum nur im unspezifischen ‫ ארץ‬nieder.   Etwas signifikanter ist hingegen die Aussage zur Reichweite bis ans Ende der Erde in Ps 46,10, die sich auch in 48,11a findet: Ps 48,11a

Wie dein Name, Gott, so dein Ruhm bis an die Enden der Erde.

‫כׁשמך אלהים‬ ‫כן תהלתך על־קצוי־ארץ‬

Mit Nominalbildungen des Lexems ‫ קצה‬wird die universale Reichweite nahezu identisch formuliert, dennoch bleibt der intertextuelle Konnex auf der termino21  Ps 46,9a ist in intertextueller Hinsicht ein weiteres interessantes Beispiel: Das göttliche Tun stellt sicherlich ein stehendes Motiv dar (siehe ‫אלהים‬/‫פעל יהוה‬: „Jhwhs/Gottes Tun“ Ps 64,10; Jes 5,12 [siehe ‫פעל אדם‬: „das Tun des Menschen“ Hi 34,11] neben den hier und Ps 66,5 belegten „Taten Jhwhs/​Gottes“ sowie dem ‫פעלת יהוה‬: „Tun Jhwhs“ Ps 28,5 bzw. dem p῾lt.᾽l[h]n: „Tun der Götter“ in Deir῾Alla, Komb. 1,5 [siehe Blum, Wandinschriften, 466–467; siehe ders., Traditionsliteratur, 33]). Die genauere imperativische Aufforderung, dieses Tun zu „sehen“, deutet hingegen vermutlich auf einen weitergehenden hymnisch-theophanen Traditionshintergrund (siehe in der HB exklusiv ‫לכו־חזו‬ Ps 46,9 und ‫ לכו וראו‬Ps 66,5 sowie in Deir ῾Alla r᾽w, also wie in Ps 46,9 mit ‫ ראה‬formuliert). Ob nun der doppelte Imperativ in den beiden Psalmen als „enge Parallele“ (Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 223) sogar eine intertextuelle Vernetzung indiziert, kann man fragen, aber kaum sicher entscheiden: (1) Trotz der Parallelstruktur variiert der zweite Imperativ bei semantischer Synonymität. (2) Auch der Wechsel der Gottesbezeichnung innerhalb des elohistischen Psalters fällt auf und ist ebenfalls am ehesten kontextbezogen zu erklären. (3) Analog zu Ps 46 und 48 ist auch Ps 66 imperativisch strukturiert (V. 1–3.5.8, aber nur in V. 5 liegt ein eigentlicher Doppel-Imperativ vor [so mit Süssenbach, Psalter, 210–211, die aber nur auf die furchtbaren Taten Jhwhs in Ps 65,6–7 verweist, ohne Ps 46 in den Blick zu nehmen]). (4) In Ps 66 liegt bereits von V. 1 an eine völkerweite Perspektive vor, die Gottes furchterregendes Tun (V. 3.5, siehe V. 16) in seinem Schöpfungswirken (V. 6.9) und der Durchsetzung seiner Gerechtigkeitsordnung (V. 7.9–12) entfaltet. Diese Befunde erlauben m. E. keine klaren Folgerungen. Zieht man eine bewusst angelegte Text-Text-Beziehung in Betracht, bleiben literargeschichtlich wiederum alle Optionen offen, zumal eine nähere Datierung von Ps 66,5 in der nachexilischen Zeit schwierig ist (siehe zu Ps 66 mit seinem geschichtstheologischen Rückblick auf das Exil insgesamt etwa Süssenbach, Psalter, 215, während Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 29, den Psalm ihrer exilischen Kernsammlung des 2. Davidspsalters zuordnen). Insofern könnte man im Zuge redaktionsgeschichtlicher Modellbildung über eine Zuordnung von Ps 66(,5) zur hier herausgearbeiteten zionstheologischen Fortschreibung in Ps 46,9–12; 48,10–12; 76 spekulieren, müsste dies aber umfassender überprüfen und substanziell begründen.

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logischen Oberflächenebene alles andere als exklusiv. Und auch die Entsprechung der Taten Jhwhs (Ps 46,9) mit seinen Wirkgrößen des Namens, des Ruhms und der Gerechtigkeit (Ps 48,11) ist nur auf der semantischen Tiefenebene zu erschließen.   Somit resultiert wiederum ein komplexes Verhältnis von terminologischen Bezügen und thematisch-konzeptionellen Entsprechungen. Letztere würde ich – zumal angesichts der kompositionellen Nachbarschaft – ohne Zögern als verfasserintendiert einschätzen und hier im literarisch-kompositionellen Ablauf von Ps 46 und 48 sowie 76 eine thematische Höhenlinie ausmachen. Gleichwohl lässt sich dies lediglich anhand der terminologischen Bezüge nicht oder nur eingeschränkt aufweisen. Wenn man Intertextualität also strikt oder mindestens relativ eng auf diese terminologische Oberflächenebene beschränkt, lassen sich bei Weitem nicht alle verfasserintendierten Text-Text-Beziehungen (und zwar sowohl intratextuell innerhalb wie intertextuell außerhalb eines literarischen Werkes oder „Großtextes“) erheben; das gilt jedenfalls dann, wenn eine Text-Text-Beziehung sich nicht in der Terminologie erschöpft, sondern auch die (häufig terminologisch variierend formulierten, für uns immer nur in konkreten Texten, Bildern oder weiteren kulturellen Artefakten greifbaren) semantisch-symbolischen Thema-Thema-Beziehungen umfasst. Hier liegt m. E. eine methodische Grenze der Intertextualitätsanalyse, die namentlich bei einer (allzu) technischen Handhabung mithilfe von auf die Textoberfläche beschränkten (elektronischen) Begriffs-Konkordanzen erhebliche Defizite aufweist (bzw. auch umgekehrt lediglich auf der Textoberfläche liegende Bezüge aufdeckt, deren verfasserbezogene Signifikanz im historischen Kontext des alten Israel zu hinterfragen ist). Es ist in diesem Zusammenhang daher wichtig, eine Eigenart israelitischer (wie altorientalischer) „Schrift“kultur und „Text“gelehrsamkeit in Erinnerung zu rufen, die man als „memoriertes Zitieren“ umschreiben kann:22 Es handelt sich um eine wesentlich gedächtnisgestützte und weniger bzw. oft nur indirekt literarisch-textgestützte „Intertextualität“; sie stellt in der Sache ein Teilphänomen der seit einiger Zeit als für die HB fast flächendeckend zentral erkannten Prozesse innerbiblischer Schriftauslegung dar.23 – Komplementär zur weltweiten Durchsetzung von Jhwhs kriegsbeendender Gerechtigkeitsordnung kommt auch eine nationale Perspektive auf Juda und Israel zur Sprache. Innerhalb der Zionstheologie mit ihrer grundlegenden Spannung zwischen städtischem bzw. universalem Horizont nimmt sie eine Mittelposition ein, die von bes. Interesse ist, weil sie vermutlich den historischen Erfahrungsbezug am sensibelsten spiegelt. Sie fällt dann im Einzelnen auch unterschiedlich aus: Der formelhafte Rekurs auf den schützenden Gott Jakobs (Ps 46,8.12) stellt wohl die 22  So betont Schmid, Hiob, 34, im Anschluss an Carr, Tablet, „wie stark der altorientalische und auch altisraelitische Literaturbetrieb durch das Memorieren von Texten geprägt war“ und führt dies dann für das Hiobbuch aus. 23  Siehe hierzu Schmid, Schriftauslegung; ders., Traditionsliteratur (Lit.).



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 87

Rezeption der israelitischen Gottesbezeichnung im Jerusalem des 7. Jh. dar, die dann auch in nachexilischer Zeit Gültigkeit behält: Ps 46,8/12

Jhwh Zebaot ist mit uns, eine Fluchthöhe ist uns der Gott Jakobs. Sela.

‫יהוה צבאות עמנו‬ ‫מׂשגב־לנו אלהי יעקב סלה‬

Demgegenüber bringt der Jubel der Töchter Zions in Ps 48,12  – korrespondierend zur traditionskonformen Freude des Zionsbergs – die partikulare Nationalperspektive als Ziel des universalen Jhwh-Handelns zum Ausdruck und verleiht damit wohl der im persischen Weltreich randständigen Provinz Jehud eine herausgehobene Dignität. Ps 48,11b 12

Mit Gerechtigkeit gefüllt ist deine Rechte – es freut sich der Berg Zion, es jubeln die Töchter Judas – wegen deiner Gerichte.

‫צדק מלאה ימינך‬ ‫יׂשמח הר־ציון‬ ‫תגלנה בנות יהודה‬ ‫למען מׁשפטיך‬

Genau denselben Duktus besitzt auch Ps 76,2, wenn das im Folgenden entfaltete, weltweit „Frieden“ stiftende Wirken Jhwhs in seiner – zionstheologisch begründeten (V. 3) – Bekanntheit in Juda und Israel verankert wird. Ps 76,2 3

Bekannt in Juda ist Gott, in Israel ist groß sein Name. Und es entstand in Šalem seine Hütte und seine Wohnstätte in Zion.

‫נודע ביהודה אלהים‬ ‫ביׂשראל גדול ׁשמו‬ ‫ויהי בׁשלם סכו‬ ‫ומעונתו בציון‬

An der Textoberfläche ist so wiederum nur die Spitze des Eisbergs sichtbar, während sich die Substanz dieser partikular-nationalen Zielperspektive in einer semantischen Tiefendimension bewegt. – Ähnlich gelagert ist die letzte Beobachtung, die hier angeführt sei: Intertextuell verbindet die Rede von Gottes Namen Ps 48,11 und 76,2 miteinander, doch kommen hier einerseits zahlreiche weitere Belege in Buch II–III (von Ps 44,6.9.21 bis 89,13.17.25) hinzu, andererseits steht die Wendung sachlich parallel zur Nennung der göttlichen Wirkgrößen in Ps 48,10–12 sowie zur schon genannten Bezeichnung Jhwhs als Gott Jakobs (neben Ps 46,8.12 auch 76,7), die wiederum mit einer asaphitisch-korachitischen Linie in Buch III (Ps 75,10; 81,2.5; 84,9) verbunden ist. 2.2.3 Zwischenfazit Überblickt man diese Einzelbeobachtungen zu intertextuellen und thematischen Bezügen zwischen Ps 46, 48 und 76, so fällt das Ergebnis vielschichtig aus: – In vielen Fällen lässt die Deutung der intertextuellen Befunde einen gewissen Spielraum zu. In heuristischer Absicht kann man versuchen, anhand des Übereinstimmungsgrades zu klassifizieren: (1) Bezüge, die sich einem allgemein lebensweltlichen oder kulturellen Erfahrungshintergrund verdanken und daher „zufällig“ sind; (2) Bezüge, die einer bestimmten Traditionsprägung entstammen und insofern aufschlussreich sind, aber keinen intertextuellen Konnex anzeigen; (3) Bezü-

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ge, die nur als literarische Entsprechung erklärt werden können und mithin eine verfasserintendierte Text-Text-Beziehung darstellen. Dies sind in unserem Zusammenhang die sowohl kompositionell wie redaktionsgeschichtlich bes. interessanten Fälle. Allerdings gestalten sich die Übergänge, wie wir gesehen haben, häufig fließend und kaum objektivierbar. – Dies hängt v. a. damit zusammen, dass in antiker Traditionsliteratur – und diesbezüglich dürfte unser Beispiel zumindest für die poetische Literatur durchaus repräsentativ sein – Text-Text-Bezüge offenbar nicht nur auf der Oberflächenebene, wie sie durch gängige intertextuelle Vergleiche in den Blick kommt, angesiedelt sind, sondern ganz wesentlich auch – näherungsweise formuliert – die semantischsymbolisch-konzeptionelle Tiefendimension umfassen, die es erfordert, mit Begriffsgruppen, Motiven und Vorstellungselementen etc. zu operieren. Insofern ergeben sich aus den obigen Überlegungen auch Einschränkungen in Bezug auf die Leistungsfähigkeit intertextueller Analysemethoden. – Als Faustregel kann man festhalten, dass sich der Wahrscheinlichkeitsgrad von Text-Text-Beziehungen sowohl auf der Oberfläche wie in der Tiefendimension mit der Anzahl konvergierender Befunde steigert, zumal wenn sich diese auf unterschiedlichen textlichen und thematischen Ebenen bewegen. 2.2.4 Redaktionsgeschichtliche Auswertungen An diese Beobachtungen zu den intertextuellen Befunden können sich nun in einer knappen Auswertung redaktionsgeschichtliche Erwägungen anschließen. Sie setzen voraus, dass die markanten Entsprechungen in den Fortschreibungen von Ps 46, 48 und in Ps 76, die teils terminologisch, v. a. aber thematisch-konzeptionell bestehen, weder rein zufällig sind, noch sich bloß traditionsgeschichtlich erklären lassen (wie als Gegenprobe ein Vergleich mit weiteren zionstheologischen Texten im Psalter sofort zeigen würde, wo die traditionsgeschichtlichen Bezüge eben wesentlich weniger prägnant ausfallen).24 Vielmehr weist die Reihe von Einzelentsprechungen in ihrer übergreifenden Konvergenz m. E. mit einer hohen Evidenz auf verfasserintendierte Text-Text-Beziehungen hin, d. h. auf literarisch-redaktionsgeschichtliche Verbindungen. Welcher Art sind diese Verbindungen? Gegenüber vielschichtigen Abhängigkeitshypothesen, die mit diachron deutlich gestuften Spender- (v. a. Ps 46 und 48) und Rezeptionstexten (v. a. Ps 76*) arbeiten, legen die erörterten Befunde als einfachstes und überzeugendstes Erklärungsmodell eine gemeinsame Fortschreibung in Ps 46,9– 12, 48,10–12 und 76 nahe. Entscheidend dafür ist die anhand einer literarkritischen Einzelanalyse von Ps 46 und 48 gewonnene Einsicht, die oben als Vorannahme vorausgeschickt werden musste, dass es sich bei Ps 46,9–12 und 48,10–12 mit großer Wahrscheinlichkeit um im 24  Vgl.

gen, 13–25.

dazu nur die klassische traditionsgeschichtliche Studie von Steck, Friedensvorstellun-



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 89

Vergleich mit dem vorexilischen Grundbestand der beiden Psalmen deutlich jüngere, nachexilische Zusätze handelt. Im Rahmen dieser literargeschichtlichen Hypothese gewinnen dann die oben eingehend behandelten intertextuellen Befunde zusätzliche Bedeutung für die diachrone Erklärung der jetzt vorliegenden Textentsprechungen: Wenn die genannten Passagen allesamt vergleichsweise jung und ungefähr zeitgenössisch sind, lässt sich mit guten Gründen die Hypothese prüfen, ob man sie als literarisch einheitliche Fortschreibung bzw. Redaktion verstehen kann. Methodisch hängt der Entscheid natürlich auch hier vom geforderten Kohärenzgrad ab und ist insofern wiederum nur begrenzt objektivierbar. Dennoch meine ich im konkreten Fall, dass der Gesamtbefund entstehungs- (und d. h. literar- bzw. redaktions-)geschichtlich am einfachsten und insofern am besten mit einer solchen Fortschreibung in Ps 46,9–12, 48,10–12 und 76 zu erklären ist. Zudem zeigt sich im Verhältnis zum Grundbestand in Ps 46 und 48 auch nochmals die Differenz zu traditionsgeschichtlichen Bezügen. Die Dinge lassen sich m. E. also am überzeugendsten wie folgt rekonstruieren: Gegenüber den hymnischen Preisungen des Zion als Berg, Stadt und Tempel des dort anwesenden Königsgottes Jhwh im vorexilischen Grundbestand von Ps 48 und 46 verlagern die nachexilischen Fortschreibungen Ps 48,10–12 und 46,9–12 den Fokus je auf Jhwhs Frieden und Gerechtigkeit stiftendes Wirken, das von Zion aus in Gegenwart und Zukunft völker- und weltweit ausstrahlt. Und auch in Ps 76 kommt der Gottesstadt per se keine tragende Rolle (mehr) zu, sondern es wird  – nach einem knappen Bericht über die (freilich für das Folgende grundlegende) Wohnsitznahme Jhwhs in Zion (V. 2) – ebenfalls breit das dort stattfindende Gotteshandeln entfaltet, das weltweit Kriege beendet und Gericht vollzieht (V. 4.5–13). Damit weisen diese Passagen begrifflich, motivisch und konzeptionell einen Grad an Kohärenz auf, der für eine literarisch einheitliche Redaktionsebene spricht. Die Verfasserkreise wissen sich dabei offensichtlich der Zionstradition verpflichtet: Sie übernehmen den vorexilischen Grundbestand und aktualisieren ihn im Horizont der (fortgeschrittenen) perserzeitlichen Verhältnisse zu der zionstheologischen Friedens- und Gerechtigkeitskonzeption für die Völker und die Welt in Gegenwart und Zukunft, wie sie jetzt in Ps 46,9–12, 48,10–12 und 76 vorliegt. 2.2.5 Redaktionsgeschichtlicher Ausblick Soweit fußt die hier skizzierte These auf Einzelbeobachtungen zu intertextuellen Befunden in Ps 46, 48 und 76, an die sich redaktionsgeschichtliche Auswertungen angeschlossen haben. Weitergehend müsste nun überprüft werden, ob sich diese zionstheologische Fortschreibung auf die analysierten Textbestände beschränkt oder ob sie sich mit weiteren Texten verbinden und so in umfassendere literarische Horizonte des werdenden Psalters einzeichnen lässt. Dazu bedarf es einer größer angelegten redaktionsgeschichtlichen Untersuchung, die zumindest die Asaph- und (vorderen) Korachpsalmen im Rahmen des elohis-

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tischen Psalters 42–83* umfasst; wegen der Problematik der hinteren Korachpsalmen25 muss dabei vermutlich auch der sog. messianische Psalter 2–89* mit in den Blick kommen.26 Dies kann hier nicht ausgearbeitet werden, aus den erörterten Einzelbeobachtungen ergeben sich aber perspektivisch die folgenden Vermutungen: Das spezifische zionstheologische Profil der Fortschreibungen in Ps 46,9–12 und 48,10–12 entspricht eng der Gesamtkonzeption der vorderen Korachpsalmen 42– 4927 und lässt sich daher plausibel dieser Redaktionsebene zuordnen: So vermutet Eckart Otto eine Verbindung der Fortschreibungen in Ps 4628 und 48 mit „der redaktionellen Gesamtkonzeption der Korachpsalmen“.29 Namentlich für Ps 48,10–12 teilen diese Einschätzung auch Frank-Lothar Hossfeld/​Erich Zenger,30 und Claudia Süssenbach spricht bei dieser Passage prägnant von der „die gesamte Psalmengruppe prägenden reflektierenden Grundhaltung“.31 Auch bei Ps 76 kann man eine entsprechende Verortung im Zuge der Vorschaltung des vorderen Korachpsalters vermuten: Wenn es zutrifft, dass die Fortschreibungen in Ps 48,10–12 und 46,9–12 sich begrifflich, motivisch und konzeptionell aufs Engste mit Ps 76 berühren, legt sich dies redaktionsgeschichtlich nahe. Dafür spricht gleichfalls der strukturell-kompositionelle Befund, dass Ps 76 im Asaphpsalter eine „[ä]hnliche Funktion wie die Zionslieder in der Korachsammlung hat“.32 Selbstverständlich müsste auch hier eine breit abgestützte redaktionsgeschichtliche Analyse des Asaphpsalters erfolgen und gefragt werden, ob sich diese Redaktion neben Ps 76 auch in weiteren Ein- und Fortschreibungen greifen lässt. 25 

Siehe unten Anm. 27. Dies stellt immer noch ein Desiderat der gegenwärtigen Psalmenforschung dar (siehe die nicht mehr ganz aktuellen Skizzen von Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 28–32; Leuenberger, Konzeptionen, 102–123; Süssenbach, Psalter; Millard, Art. Psalter, Kap. 4). 27  Hier müsste auf der Grundlage einer eingehenderen redaktionsgeschichtlichen Analyse des vorderen Korachpsalters eine genauere Verortung unserer Fortschreibung erfolgen. Insb. das Verhältnis zu weiteren mutmaßlichen Redaktionstexten wie Ps (42–)43, 44,25–26 oder 49,16 müsste dabei geklärt werden (siehe dazu bes. Süssenbach, Psalter, 364.372–373, die etwa Ps 49 einer Redaktion zuschreibt, „die den übergreifenden Spannungsbogen des gesamten elohistischen Psalters im Blick hatte“ [a. a. O., 372], damit aber wohl noch nicht alle, bis in die hellenistische Zeit zu verfolgenden [siehe Ps 49,16] Fortschreibungen erfasst hat). Darüber hinaus hat sich mit Recht eine starke Forschungstendenz etabliert, die besagt, dass die hinteren Korachpsalmen 84–85.87–88 bzw. 89 einen nochmals späteren (m. E. auf den messianischen Psalter 2–89* am Ende des 4. Jh. zulaufenden) „Anhang“ darstellen (siehe etwa Otto, Art. ‫ ִצּיֹון‬, 1015; van Oorschot, Korachpsalmen, 418; Süssenbach, Psalter, 378–379). Forschungsgeschichtlich sei angemerkt, dass derart Wanke, Zionstheologie, 113–114, mit seiner Bestreitung der grundsätzlichen Priorität der Zionspsalmen gegenüber der (eschatologischen) Prophetie immerhin für Ps 76 – allerdings nicht auch für Ps 48 und 46 – Recht erhält. 28 Ähnlich charakterisiert van Oorschot, Korachpsalmen, 419, das Kernbekenntnis des „Jhwh mit uns“, das m. E. schon den Grundbestand prägt, als „Mitte und Zielpunkt der Sammlung“. 29  Otto, Art. ‫ ִצּיֹון‬, 1014; in Ps 48 umfasst sie nach ihm allerdings V. 2bβ–9. 30  Hossfeld/​Zenger, Psalm 1–50 (NEB 29), 294. 31  Süssenbach, Psalter, 375, die die Korachpsalmen im Anschluss an Hartmut Gese auf levitisches Tempelpersonal aus der zweiten Hälfte des 5. Jh. zurückführt. 32  So mit Otto, Art. ‫ ִצּיֹון‬, 1015. 26 



Eine zionstheologische Fortschreibung in Psalm 46, 48 und 76 91

3. Zusammenfassung Zwischen Ps 46,9–12, 48,10–12 und 76 besteht eine Reihe von intertextuellen Bezügen (auf der Textoberfläche und in der thematischen Tiefendimension), die im Einzelnen  – begleitet von kurzen methodischen Reflexionen zu den auftretenden Problemstellungen  – analysiert wurden. Die konkreten Gegebenheiten weisen auf verfasserintendierte Text-Text-Beziehungen hin, die sich sodann redaktionsgeschichtlich am besten als literarisch einheitliche Fortschreibung erklären lassen und vermutlich in großräumigere Zusammenhänge der Etablierung des elohistischen Psalters durch die vorderen Korachpsalmen gehören. Ihr zionstheologisches Profil hebt auf Jhwhs universal Frieden und Gerechtigkeit stiftendes Wirken in Gegenwart und Zukunft ab und lässt sich theologiegeschichtlich am ehesten in der späteren Perserzeit (des 4. Jh.) einordnen. Trifft diese Deutung zu, so liegt hier nicht nur konzeptionell eine markante Vorstellung vor, sondern diese bildet ein kleines, aber feines Kapitel der nachexilischen Geschichte der Zionstheologie, das in seinem theologiegeschichtlichen Zusammenhang näher zu beschreiben sich lohnte.

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Ein Loblied Jerusalems Der theologiegeschichtliche Hintergrund von Psalm 147 und dessen Bedeutung für den Abschluss des Psalters Friederike Neumann 1. Einleitung „Jerusalem, preise Jhwh! Lobe deinen Gott, Zion!“ (Ps 147,12). Ps 147 ist ein Loblied Jerusalems, das die von Jhwh her bewirkte neue Heilszeit besingt. Der Psalmist hat Grund zu loben, denn Jhwh baut Jerusalem wieder auf, die Stadt erhält sichere Mauern. Das verstreute Volk wird von Jhwh gesammelt. Frieden und Segen wirken inmitten des Volkes. Regen befeuchtet die Erde und lässt Gras wachsen. Jhwh schenkt überreiche Nahrung für Tier und Mensch. Als Hymnus strotzt der Psalm nur so von positiven Aussagen, mit denen die heilvollen und lebensförderlichen Taten Jhwhs, die den Menschen zugutekommen, gelobt werden. Schon oft wurde über diese Motive ein Bezug von Ps 147 zur prophetischen Tradition gesehen.1 Denn auch die prophetische Überlieferung kennt solche Motive zur Beschreibung einer neuen, einer kommenden Heilszeit. Der Psalm liest sich somit geradezu wie eine prophetische Heilsvision für die Zeit nach dem Exil. Aufgrund der Nähe zur Prophetie wird der Psalm oft eschatologisch verstanden; seine hoffnungsvolle Perspektive wird in die noch ausstehende Zukunft, in eine Zeit nach der Wende der Zeiten verlegt.2 So versteht Bernhard Duhm Ps 147 als rein eschatologische Zukunftshoffnung.3 Ähnlich meint Hermann Gunkel, dass der Wiederaufbau Jerusalems von der Zukunft her zu verstehen ist, als Ankündigung des noch Ausstehenden. Für den Abfassungshintergrund von Ps 147 schließt er: „Die Stadt muß also zur Zeit des Psalmisten noch Trümmerfelder enthalten haben.“4 Für Gunkel gehört Ps 147 1  Zumeist wird insbesondere auf die Verbindung zu Jes 40–66 hingewiesen, vgl. u. a. Hossfeld/​ Zenger, Psalmen 101–150, 827–828, sowie auch z. B. jüngst die Studie von Brodersen, End, 183– 185. 2  Damit gerät die eschatologische Deutung in große Nähe zur Apokalyptik, vgl. zur Klärung der Bezeichnung „eschatologisch“ z. B. Koenen, Art. Eschatologie (AT); kritisch auch Albertz, Religionsgeschichte, bes. 486–487. 3 Vgl. Duhm, Psalmen, 477: „Die Sammlung der Versprengten Israels ist nie erfolgt.“ 4  Gunkel, Psalmen, 615.

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aufgrund von V. 2 zu den „eschatologischen Hymnen“.5 Der Psalm bleibt demnach, wie die eschatologischen Weissagungen der Propheten, bei dem Blick in die heilvolle Zukunft stehen.6 Im Gegensatz dazu stellt jedoch Klaus Koch fest, „daß es im gesamten Psalter keinen einzigen eindeutigen eschatologischen Satz gibt.“7 In der Forschung wurde demnach das eschatologische Potential des Psalms unterschiedlich bewertet.8 Mit der Bewertung der eschatologischen Perspektive hängt die Frage nach dem zeit- und theologie- sowie entstehungsgeschichtlichen Hintergrund des Psalms zusammen. Der Beitrag wird darum der Frage nachgehen, woher diese überbordende Hoffnung kommt. Woher stammt diese Zuversicht auf das Heil für Jerusalem? Rechnet der Psalm noch mit einer ausstehenden Heilszeit oder sieht er sie schon gegenwärtig vor sich? Die Diskussion um die Eschatologie in Ps 147 orientiert sich vorrangig an der Aufnahme heilsprophetischer Verkündigung. Somit scheint im Verhältnis von Prophetie und Hymnus auch der entscheidende Punkt für die Bestimmung einer eschatologischen Perspektive sowie für die Bestimmung des entstehungsgeschichtlichen Hintergrunds des Psalms insgesamt zu liegen. Das Heil für Zion besteht nach Ps 147 wesentlich in folgenden Aspekten: Jerusalem wird zur sicheren Stadt wiederaufgebaut, in der Frieden herrscht (V. 2.13–14). Die Vertriebenen werden gesammelt und die Leidenden werden geheilt (V. 2–3). Vor allem aber gehören die erneute Fruchtbarkeit und die daraus resultierende übermäßige Sättigung des Volkes, welche letztlich Frieden und Sicherheit in Zion überhaupt erst ermöglicht (V. 8–9.13–14), elementar zur Hoffnungsperspektive des Psalms. Ps 147,2 Der, der Jerusalem aufbaut, ist Jhwh, die Vertriebenen Israels sammelt er. 3 Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und er verbindet ihre Wunden. … 8 Er bedeckt den Himmel mit Wolken, er bereitet der Erde Regen, er lässt wachsen auf den Bergen Gras. 9 Er gibt dem Vieh seine Nahrung, den jungen Raben das, wonach sie rufen. … 13 Denn stark gemacht hat er die Riegel deiner Tore, gesegnet hat er deine Kinder in deiner Mitte (‫)בקרבך‬. 14 Er gibt deinem Gebiet Frieden, mit fettem Weizen sättigt er dich. 5  Zur Gattung „eschatologischer Hymnus“, deren Besonderheit in der Abhängigkeit und Aufnahme von prophetischen Weissagungen besteht, vgl. Gunkel/​Begrich, Einleitung, 52.79–80.346. 6  Zur eschatologischen Deutung von Ps 147 vgl. auch Deissler, Ende, 77–81. Nach Zenger, Weisheitstheologie, 144, wartet der Psalm dabei auf die „eschatologische Vollendung“ des Wiederaufbaus; außerdem zielt der Vorgang weniger „auf den ‚äußeren‘ Wiederaufbau Jerusalems …, sondern auf dessen innere Erneuerung“. 7  Koch, Psalter, 244 [im Original kursiv]. 8  Vgl. zu der Frage des eschatologischen Potentials in Ps 147 unten Kap. 3.1.



Ein Loblied Jerusalems95

In Ps 147 sind diese Motive dann eingebunden in die mehrfache Aufforderung zum Lobpreis Gottes, der von Zion/​Jerusalem aus erklingen soll, wie es beispielsweise V. 12 formuliert: Ps 147,12 Jerusalem, preise Jhwh, lobe deinen Gott, Zion!

Zion als Ort, von dem das Heil ausgeht, steht dabei im Mittelpunkt. Der Psalm präsentiert geradezu eine Zions-Theologie: Zion wird präsentiert als Ort der Nähe Gottes, als Ort des Segens verstanden als umfassende Fruchtbarkeit, als Ort des Friedens und als Ort des Lobpreises.9 Zur Klärung des traditionsgeschichtlichen Hintergrunds ist nun nach Texten zu suchen, die eine solche Heilsperspektive in ähnlicher Form präsentieren, um dann nach möglichen Verbindungen zu fragen. Ähnliche Hoffnungsperspektiven und die Erwartung neuen Heils für Zion, wie es Ps 147 formuliert, finden sich insbesondere im Zwölfprophetenbuch. Der Beitrag wird deshalb das Verhältnis von Prophetie und Hymnus verhandeln und aufzeigen, dass Ps 147 das Hoffnungspotential aus perserzeitlicher Prophetie rezipiert und zugleich eine Transformation prophetischer Motive im Hymnus vollzieht. Für die Darstellung der perserzeitlichen Prophetie werden Beispiele aus Joel, Amos und Zefanja angeführt (Kap. 2). Ebenso wird der sozialund theologiegeschichtliche Hintergrund dieser nachexilischen Heilsprophetie vorgestellt. Anschließend wird zunächst Ps 147 für sich in Anlage und Intention sowie in Blick auf verschiedene Formen von Transformationen der Prophetie behandelt (Kap. 3). Ebenso werden beispielhaft Bezüge von Ps 147 zu anderen Texten und Traditionen dargestellt. Abschließend wird das literarische Profil von Ps 147 betrachtet, insbesondere auch in Hinblick auf Ps 147 als (vorläufigem) Schlusspsalm des Psalters (Kap. 4).

2. Neue Hoffnung für Zion im Zwölfprophetenbuch Besonders in Texten des Zwölfprophetenbuches finden sich Heilsperspektiven für Zion, die ganz ähnliche Motive wie Ps 147 verwenden. Um Ps 147 theologiegeschichtlich einordnen zu können, erscheint es daher lohnenswert, Textausschnitte aus Joel, Amos und Zefanja beispielhaft für die perserzeitliche Prophetie anzusehen und mögliche Motiv- und Textbezüge zu prüfen. Als erster Text ist Joel 1–2 näher zu betrachten. In drastischen Worten beschreibt der Prophetentext eine Dürrekatastrophe, deutet dieses Unheil als den kommenden Tag Jhwhs und ruft das Volk zu Klage und Buße auf. In Joel 2 wird sodann mitgeteilt, dass Jhwh sich erneut dem Volk zuwenden wird.

9 

Vgl. zur Jerusalemer Zionstheologie unten Anm. 29.

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Joel 2,21 Fürchte dich nicht (‫)אל־תיראי‬, du Erdboden, juble (‫ )גילי‬und freue dich (‫)ושׂמחי‬, denn (‫ )כי‬Jhwh hat Großes getan! 22 Fürchtet euch nicht (‫)אל־תיראו‬, ihr Tiere des Feldes, denn (‫ )כי‬die Weideflächen in der Steppe sind ergrünt, denn (‫ )כי‬der Baum trägt seine Frucht, Feigenbaum und Weinstock geben ihren Ertrag. 23 Und ihr, Kinder Zions, jubelt (‫)גילו‬ und freut euch (‫ )ושׂמחו‬an Jhwh, eurem Gott, denn (‫ )כי‬er hat euch Frühregen zur Gerechtigkeit gegeben, und er lässt Regen fallen für euch, Frühregen und Spätregen wie früher. 24 Und die Tennen füllen sich mit Korn, und die Keltern fließen über von Wein und Öl. …

In V. 21–24 gehen die Aufrufe zur Furchtlosigkeit an den ganzen Erdboden sowie an die Tiere des Feldes (‫אל־תיראו ;אל־תיראי‬, V. 21.22) über in Aufforderungen zum Jubel an die Kinder Zions (‫)גילו ;שׂמחו‬, die mit heilvollen Gnadentaten Jhwhs begründet werden (vgl. ‫ כי‬in V. 21.22.23). Diese Zuwendung Gottes konkretisiert sich in der Fruchtbarkeit aufgrund des Regens, den Jhwh schicken wird. Damit ist die Abwendung der Dürrenot im Blick und neue Hoffnung auf gute Ernte wird möglich. Die Reaktion der Kinder Zions auf das rettende Erbarmen Gottes soll der Lobpreis Jhwhs sein. Das ist zugleich der Schlusspunkt des ganzen Kapitels,10 das auf diesen Jubel zuläuft und die ausreichende Nahrung ganz eng mit dem Lobpreis Gottes korreliert (vgl. V. 26a): Joel 2,26a Und ihr werdet genug essen und satt werden, und ihr werdet loben (‫ )והללתם‬den Namen Jhwhs, eures Gottes, der wunderbar an euch gehandelt hat.

Das Ziel aller erneuten Zuwendung Gottes zu seinem Volk ist demnach die Freude der Kinder Zions: Sie sollen jubeln (‫ )גיל‬und Jhwh loben (‫( )הלל‬V. 21.26).11 Bemerkenswerterweise begegnet diese Kombination von Regen, Fruchtbarkeit (welche sich besonders in der Nahrung für die Tiere manifestiert) und Lob für Gott sehr vergleichbar in Ps 147 (bes. V. 7–9), worauf später zurückzukommen ist. In ähnlicher Perspektive beschreibt auch Am 9,13–14 eine neue fruchtbare Heilszeit anhand von „Bergen, die vom süßen Wein triefen“ (Am 9,13). Die Anlage von neuen Gärten wird hier zudem mit dem Wiederaufbau von Städten verbunden. Die existentiellen Nöte finden nach der entbehrungsreichen Zeit des Exils ein Ende.

10  Vgl. zur Anlage von Joel 2,18–27 und zum ursprünglichen Ende des Abschnittes in V. 26a auf der Ebene der Grundschicht des Joelbuches Wöhrle, Sammlungen, 402–407. 11  Joel 2,26 ist der einzige Beleg von ‫„( הלל‬loben“) im Zwölfprophetenbuch; vgl. die Prägung der Schlusspsalmen durch das Lexem ‫הלל‬, dazu Neumann, Hymnen, bes. 381–384.



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Jhwh selbst wird eine neue Heilszeit heraufführen und das Geschick seines Volkes wenden. Am 9,13 Siehe, es kommen Tage, Spruch Jhwhs, da geht, wer pflügt, hinter dem, der erntet, und wer die Trauben tritt, hinter dem, der sät, und die Berge triefen vom süßen Wein, und alle Hügel fließen über davon. 14 Und das Geschick meines Volkes Israel werde ich wenden: Sie werden verwüstete Städte aufbauen und darin wohnen und Weinberge pflanzen und ihren Wein trinken und Gärten anlegen und ihre Früchte essen. 15 Und ich pflanze sie ein in ihren Boden, und nie wieder werden sie ausgerissen aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe, spricht Jhwh, dein Gott.

Am 9,14 verspricht, dass sich die Arbeit der Menschen für Nahrung wieder lohnen wird. Die Ernte wird wieder erfolgreich und ertragreich sein. Am 9,15 fügt dann noch den Aspekt des sicheren Wohnens hinzu: Das Volk Israel wird nie wieder ausgerissen werden aus seinem Land. Missernten wird es nicht mehr geben, die zur Bedrängung des Volkes (durch Großmächte) und damit letztlich zum Verlust des Landes führen können.12 In einem weiteren Text, in Zef 3, schließt die Heilswende dezidiert das Ende des Gerichts Gottes mit ein. Wieder begegnet der Schutz vor Feinden und damit der Frieden in Zion als Inhalt der hoffnungsvollen Perspektive. Gleichzeitig sagt Jhwh seine Gegenwart in der Mitte Israels, in Zion, zu. Und all das steht unter der Aufforderung zum Lobpreis: Die Tochter Zion wird zum Freudenjubel aufgerufen (Zef 3,14–17; vgl. bes. V. 14 mit Ps 147,12). Zef 3,14 Juble (‫)רני‬, Tochter Zion, jauchze (‫)הריעו‬, Israel. Freue dich (‫ )שׂמחי‬und sei glücklich (‫ )ועלזי‬mit ganzem Herzen, Tochter Jerusalem. 15 Aufgehoben hat Jhwh die Urteile über dich, deinen Feind hat er fortgeschafft. Der König von Israel, Jhwh, ist in deiner Mitte (‫)בקרבך‬, du wirst kein Unheil mehr fürchten! 16 An jenem Tag wird zu Jerusalem gesagt: Fürchte dich nicht! Zion, mögen deine Hände nicht erschlaffen! 17 Jhwh, dein Gott, ist in deiner Mitte (‫)בקרבך‬, ein rettender Held, … 12 

Vgl. dazu Wöhrle, Joel, 132.

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In der Fortsetzung des Textes wird auch die Rückführung des Volkes aus dem Exil in die Heilsperspektive eingeschlossen. So formuliert Zef 3 besonders eindrücklich den Zusammenhang von der Sammlung des Volkes als der Sammlung von Hinkenden und Versprengten und dem erneuten Lobpreis Israels (Zef 3,18–20). Zef 3,18 Die traurig sind, fern von der Festversammlung, habe ich gesammelt, sie waren fern von dir, dir eine Last, eine Schande. 19 Siehe, in jener Zeit nehme ich mir all die vor, die dich unterdrücken, und das Hinkende werde ich retten, und das Vertriebene (‫ )והנדחה‬werde ich sammeln, und zum Lobpreis und zu einem Namen mache ich ihre Schande im ganzen Land. 20 In jener Zeit bringe ich euch heim, und in eben jener Zeit sammle ich euch, denn ich werde euch Namen und Lobpreis verschaffen bei allen Völkern der Erde, wenn ich euer Geschick wende vor euren Augen, spricht Jhwh.

Ganz Israel soll sich über Jhwh freuen, der das Unheil von seinem Volk abgewandt hat. Aus der Schande ist nun Lobpreis geworden (Zef 3,19–20). Jhwh ist präsent auf dem Zion, seine Gegenwart „in der Mitte“ des Volkes (‫ בקרבך‬in Zef 3,15.17; ebenso auch in Ps 147,13: ‫ )בקרבך‬ermöglicht die Wende zum Guten, zum Heil. Von Zion selbst geht neue Kraft und Freude aus (vgl. Zef 3,16). Eine Konsequenz dieser neuen Präsenz Gottes auf dem Zion ist die Sammlung der Versprengten (V. 19: ‫והנדחה‬, vgl. auch Ps 147,2). Jhwh handelt zudem an den Unterdrückern Israels so, dass das Gericht an den Feinden die Rettung aus der Diaspora ermöglicht (Zef 3,18.19.20; vgl. Mi 4,6–7).13 Die oben angesprochenen Texte in Joel, Amos und Zefanja beschreiben die Erwartung neuen Heils, das von Zion ausgehen wird. Zwischen diesen Texten lassen sich zahlreiche Motivverbindungen erkennen (vgl. bes. Joel 2,21–24.26; Am 9,13–15; Zef 3,14–17). Gemeinsam ist ihnen die Hoffnung auf das erneute Gelingen von agra­ rischer Arbeit nach Überwindung einer Dürreperiode sowie die Hoffnung auf den Aufbau der zerstörten Städte und damit die Möglichkeit eines sicheren Wohnens im Land. Zudem wird in den Texten immer wieder Zion/​Jerusalem angesprochen, geradezu personifiziert und zu freudigem Jubel aufgerufen. Bemerkenswert an diesen Texten des Zwölfprophetenbuches sind aber nicht nur die Verbindungen über ähnliche Motive und Heilsaussichten. Vielmehr lässt sich da13 Vgl. zur Zusammenstellung der Motive „Völkergericht“ und „Rettung aus der Diaspora“ Wöhrle, Sammlungen, 215. Zef 3,19 hat eine fast wörtliche Parallele in Mi 4,6–7: „An jenem Tag, Spruch Jhwhs, will ich das Hinkende sammeln (‫ )אסף‬und das Versprengte zusammenbringen (‫)קבץ‬, jene, über die ich Unheil gebracht habe. Dann mache ich das Hinkende zum Rest und das Versprengte zur mächtigen Nation, und Jhwh wird König sein (‫ )ומלך יהוה‬über sie auf dem Berg Zion von nun an bis in Ewigkeit.“ Vgl. zu „Jhwh als König vom Zion“ auch Ps 146,10, dazu siehe Kap. 3.2.



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rüber hinaus zeigen, dass diese Texte als redaktionelle Fortschreibungen aus nachexilischer Zeit zu verstehen sind, wie Jakob Wöhrle überzeugend dargelegt hat. Die Textausschnitte lassen sich vor allem einer Redaktion zuordnen, die die Grundschicht im Joelbuch verfasst sowie Fortschreibungen in Amos, Micha und Zefanja eingefügt hat.14 Diese hoffnungsvollen Auslegungen überlieferter Gerichtsprophetie entstanden wohl im 5. Jh. sowie in der Zeit der Wende zum 4. Jh.15 Die Datierung dieser Texte in das 5. Jh. wird inzwischen auch von neuen archäologischen Erkenntnissen wahrscheinlich gemacht. In einer Reihe kürzlich erschienener Artikel präsentiert Dafna Langgut neue Erkenntnisse über die klimatischen Bedingungen während der Perserzeit.16 So lässt sich anhand von pollenkundlichen und sedimentologischen Untersuchungen zeigen, dass im späten 6. bis zum mittleren 5. Jh. (etwa von 540–450 v. Chr.) in der südlichen Levante besonders trockene Klimabedingungen vorherrschend waren. Da schon leichte Schwankungen in der Niederschlagsmenge in dieser Region, die durch semiarides Klima geprägt ist, sich massiv auswirken können, führt ein zwischenzeitlicher Rückgang der Niederschlagsmenge zu einer länger andauernden Trockenperiode, die signifikante Auswirkungen für die gesamte Region hat.17 Somit lässt sich anhand der in den Texten vorausgesetzten Dürrezeit (vgl. bes. die Grundschicht in Joel 1–2*) tatsächlich gut eine Datierung dieser Textgruppe in das 5. Jh. postulieren. Diese Erfahrung einer andauernden Dürrezeit sowie die persische Steuerpolitik, die großen Druck auf die Wirtschaft ausübte, der sich in Kombination mit Mangelernten zudem noch vergrößerte, führten zu Krisenerfahrungen der judäischen Bevölkerung.18 Die wirtschaftlich angespannte Situation rief zudem soziale Spannungen 14  Vgl. dazu Wöhrle, Sammlungen, 387–460, der dem von ihm sog. Joel-Korpus als Bearbeitung des exilischen Vierprophetenbuches neben der Grundschicht des Joelbuches ( Joel 1,1–3.5.8.20; 2,1.2*.3.6.10.11b.15–17.21–24.26a) noch folgende Texte zuordnet: Am 9,13aα.14–15; Mi 7,8–10a; Zef 3,14–17; das Joel-Korpus wird von ihm in das 5. Jh. datiert. Die auf das Joel-Korpus redaktionsgeschichtlich folgende buchübergreifende von ihm sog. Fremdvölkerschicht I datiert Wöhrle auf der Wende vom 5. zum 4. Jh., ihr lassen sich ihm zufolge von den oben erwähnten Texten Joel 2,18– 20.25.26b.27; Mi 4,6–7; Zef 3,18–19 zuordnen, vgl. dazu ders., Abschluss, 139–171. Zur Diskussion um die Funktion und Bedeutung des Joelbuches innerhalb des Zwölfprophetenbuches vgl. auch u. a. Nogalski, Joel; Sweeney, Place; Wöhrle, Joel; Ebach, Joel. 15 Vgl. Wöhrle, Sammlungen, 453–456; ders., Abschluss, 161–164; Albertz, History, bes. 314–315. Ähnlich ordnet auch Jeremias, Propheten, 2, zumindest das Joelbuch in die Spätzeit der alttestamentlichen Prophetie ein, d. h. in das beginnende 4. Jh. 16  Vgl. u. a. Langgut/​Finkelstein/​Litt, Climate, und Langgut/​Lipschits, Dry Climate. 17  So führte ausbleibender Niederschlag z. B. bis hin zu Veränderungen in der Bevölkerungssituation der südlichen Levante, wie Langgut/​Lipschits, Dry Climate, 150, beschreiben: „This zone enables a combination of dry-farming and pastoral subsistence economy. Years of improved precipitation have pushed it to the south and east, while dry years have driven it to the north and west. Settlements situated near perennial sources of water may have managed to survive longer in periods of increasing aridity, whereas other sites may have been abandoned.“ 18  Die abhängigen Völker wurden von Darius I. mit einer festen Abgabe belastet, deren Höhe unabhängig von den jeweiligen Ernteerträgen war. Somit bedrohten besonders in Dürrezeiten neben dem Ernteausfall an sich auch die Repressionen der Fremdmacht die Bewohner Judas. Vgl.

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hervor, die die Aufspaltung der Gesellschaft in einige wenige reiche, großbürgerliche Familien, die von der wirtschaftlichen Situation profitierten, und in zahlreiche arme Kleinbauern verstärkte.19 Hinzu kam die Erfahrung, dass die zahlreichen großen Verheißungen der exilischen Heilsprophetie (vgl. etwa Deuterojesaja und die Grundbestände der Bücher Haggai und Sacharja) noch immer unerfüllt waren.20 In historischer Perspektive lässt sich also das 5. Jh. als desolate und hoffnungslose Zeit beschreiben.21 Alles in allem ist das Leben im Juda der fortschreitenden Perserzeit weder in politischer noch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht als besonders prachtvoll zu bezeichnen. Auch wenn oftmals die persische Religionspolitik als tolerant bezeichnet wird22 – auch in theologischer Perspektive war das Leben in Juda alles andere als heilvoll und sorgenlos, das Gegenteil war der Fall: Die angekündigte Heilszeit ließ auf sich warten.23 Diese Verzögerungen der Heilswende in der nachexilischen Zeit ziehen sich als soziales und theologisches Problem durch die Jahrhunderte und haben entsprechend in den prophetischen Texten ihre Spuren hinterlassen. In den folgenden Jahrhunderten sind verschiedene Strömungen zu erkennen, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen wurde. Eine in den Texten zentrale Entwicklung ist dabei die Eschatologisierung der Heilshoffnungen.24 Damit wird die Erfüllung der Hoffnung aber vornehmz. B. Neh 5,4 als Beispiel für das Leiden der Bevölkerung unter der Steuerlast der Perser; dazu auch Wöhrle, Sammlungen, 454–455; Frevel, Geschichte, 333–337. 19  Vgl. dazu Albertz, Religionsgeschichte, 474–475; Frevel, Geschichte, 337; zur Situation im perserzeitlichen Juda vgl. insgesamt auch jüngst Bremer, Gott, bes. 463.466–467. 20  Selbst von der heißersehnten Tempeleinweihung gibt es keine zeitgenössische Dokumentation, was darauf schließen lässt, so Albertz, Religionsgeschichte, 483, „daß die Fertigstellung eher von deprimierenden Erfahrungen begleitet war“. 21  Auch die archäologischen Untersuchungen zeigen: Alle Hoffnung auf eine neue Blütezeit, wie sie die Texte beschreiben, steht kontrafaktisch zu den Funden; Jerusalem war in der Perserzeit klein und unbedeutend – von politischer Macht und agrarischem Erfolg weit entfernt. So fällt das Urteil, das sich bei Finkelstein, Jerusalem, 514, über Jerusalem findet, vernichtend aus: „The finds indicate that in the Persian and Early Hellenistic periods Jerusalem was a small unfortified village that stretched over an area of c. 20 dunams, with a population of a few hundred people – that is, not much more than 100 adult men. This population – and the depleted population of the Jerusalem countryside in particular and the entire territory of Yehud in general – could not have supported a major reconstruction effort of the ruined Iron II fortifications of the city. In addition, there is no archaeolo­ gical evidence whatsoever for any reconstruction or renovation of fortifications in the Persian period.“ Vgl. ders., Territorial Extent, wo Finkelstein argumentiert, dass Juda und damit auch Jerusalem erst in hasmonäischer Zeit (d. h. ab etwa 140 v. Chr.) wieder eine bedeutsame Größe erreichen, etwa vergleichbar mit dem Juda des 7. Jh. vor dem Untergang. Auch wenn man mit Lipschits, Finds, bes. 20; ders., Demographic Changes, bes. 326–334, von einer etwas größeren Besiedlungsfläche Jerusalems und entsprechend auch von mehr Einwohnern ausgehen möchte, so bleibt die wirtschaftliche und politische Bedeutung Jerusalems in der Perserzeit doch recht gering, vgl. auch Bremer, Gott, 201–205; Frevel, Geschichte, 337–342. 22  Vgl. dazu Frevel, Geschichte, 331–332. 23  Vgl. zur Situation in Juda und zum Ausbleiben der Heilswende Wöhrle, Sammlungen, 459; Albertz, Religionsgeschichte, 462–487; ders., Restauration. 24  Vgl. dazu Albertz, Religionsgeschichte, 550.574–575, und auch schon Plöger, Theokratie, 134–137.



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lich in eine andere Zeit verlagert, die eine vollständige Wende der Zeiten voraussetzt. Der Beginn der Heilszeit wird als wundersames Geschehen verstanden, das universalistische Dimensionen hat (vgl. z. B. Jes 45; 51).25 Die oben angesprochenen Prophetentexte scheinen demgegenüber stärker an einer realisierbaren Änderung der Zeit orientiert zu sein; sie verlagern die Hoffnung nicht allein in eine ferne, in eine eschatologische Zukunft. Angesichts der desolaten Situation der realen Lebenswelt der Menschen als einer sozialen Notlage und vor dem Hintergrund der unerfüllten Hoffnungen als einer theologischen Notlage legen die Texte die überlieferte Gerichtsprophetie neu aus. Sie formulieren eine realistische Hoffnung auf Besserung der landwirtschaftlichen Erträge (geradezu konträr zu den Erfahrungen von dürrebedingten Mangelernten, vgl. Joel 1,10–12 mit 2,21–23) und verbinden damit eine Hoffnung auf Abwendung der außenpolitischen Bedrohung (vgl. Am 9,13– 15). Ansatzpunkt für diese umfassende Hoffnung ist die Möglichkeit der Umkehr des Volkes zu Gott (vgl. Joel 2,15).26 Joel 2,15

Blast das Horn auf Zion! Heiligt das Fasten, ruft einen Bußtag aus!

Denn wesentlicher Inhalt und Anklage der Gerichtsprophetie war ja die Abkehr des Volkes von Gott, woraufhin Jhwh mit Strafe reagierte. Somit handelt es sich hier „geradezu um eine geschichtstheologische Deutung einer Naturkatastrophe unter Auslegung bereits vorliegender Prophetenbücher“, so Wöhrle.27 Diese „Synthese aus … ethischen Ermahnungen der Gerichtsprophetie und … [exilischen] Verheißungen der Heilsprophetie“28 zeigt somit einen Weg auf, der durch das Gericht hindurch zur Hoffnung auf neues Heil führt. Gleichzeitig wird damit an der Gültigkeit des Wortes Gottes festgehalten und seine Wahrhaftigkeit bekräftigt, auch wenn die Erfüllung noch aussteht. Somit wird anhand der alten Gerichtsprophetie – und in Anlehnung an alte Vorstellungen von Zion als Ort des Heils29 – eine neue Hoffnung entfaltet, deren Grundlage die Umkehr des Volkes zu seinem Gott ist. Wird Gott Recht gegeben, dann wird er sich auch wieder für sein Volk einsetzen, Regen und Fruchtbarkeit senden, ihm so vom Zion her neuen Wohlstand und Frieden verschaffen – und im Gegenzug alle feindliche Fremdmacht vernichten. Gegen allen äußeren Anschein und im Gegen25 

Vgl. dazu z. B. Koenen, Art. Eschatologie. Wöhrle, Sammlungen, 459; Jeremias, Propheten, 6. So auch schon Weiser, Propheten, 206: „Die Heilszusagen Gottes gelten unter der Voraussetzung der Anerkennung seines Gerichts …“. 27  Wöhrle, Sammlung, 457, vgl. dazu auch Nogalski, Joel, bes. 146–151. 28 Vgl. Wöhrle, Sammlung, 460. 29  Vgl. die traditionelle Zionstheologie, die Zion als den Ort der unverbrüchlichen Gegenwart Gottes versteht; dazu u. a. Steck, Friedensvorstellungen; Hartenstein, Archiv; Körting, Zion – Heiliger Berg; Schmid, Zion; Paganini/​Giercke-Ungermann, Art. Zion/​Zionstheologie; Leuenberger, Großkönig; ders., Jhwh, sowie Leuenbergers Beitrag im vorliegenden Band. Im Zusammenhang des erwarteten Eingreifens Jhwhs ist in den späten Texten des Zwölfprophetenbuches auch der Zion wieder von Bedeutung; vgl. u. a. Biddle, Dominion; Gärtner, Jerusalem. 26 Vgl.

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satz zur eigenen Ohnmacht der Bevölkerung,30 also kontrafaktisch zur erlebten Welt der Menschen, wird neues Heil ausgehend vom Zion erwartet, so dass schließlich von Zion her der Lobpreis für Jhwh (wieder) erklingen kann (vgl. Joel 2,21–23; Zef 3,14). Die Texte halten an der Hoffnung auf Jhwh fest – aber nicht unbedingt als einer ins Eschatologische projizierten Hoffnung. Sondern vielmehr wird die Realisierung im Jetzt erwartet, auch wenn die desolate Situation dem entgegensteht. Darin besteht das Hoffnungspotential dieser Fortschreibung der Gerichtsprophetie.31

3. Neue Hoffnung für Zion in Psalm 147 Dieses Hoffnungspotential aus den vorgestellten prophetischen Texten wird nun in Ps 147 aufgenommen und transformiert. So begegnet insbesondere in Ps 147,7–9 der gleiche Zusammenhang von Lobpreis, Regen und Fruchtbarkeit (welche sich manifestiert in ausreichender Nahrung für die Tiere) wie er auch in den Texten des JoelKorpus erscheint. Ps  147,7 8 9

Singt Jhwh mit Lob, lobsingt unserem Gott zur Leier(begleitung)! Er bedeckt den Himmel mit Wolken, er bereitet der Erde Regen, er lässt wachsen auf den Bergen Gras. Er gibt dem Vieh seine Nahrung, den jungen Raben das, wonach sie rufen.

Und wie Joel so formuliert auch Ps 147, dass diese Heilstaten Jhwhs gerade denjenigen zugute kommen, die umkehren und Gott die Ehre geben (vgl. u. a. Joel 1,13–14; 2,15–17.21–23 mit Ps 147,11). Die Aufnahme des prophetischen Hoffnungspotentials wird durch die Rezeption anderer Texte ergänzt. So entsteht mit Ps 147 am Ende des Psalters ein neuer Hoffnungstext für Zion. Inwieweit diese Transformation und Rezeption von Texten und Motiven als wesentlich für die Entstehung von Ps 147 anzusehen sind, ist nun weiter auszuführen. 3.1 Psalm 147 und Transformationen von Prophetie Im Folgenden sind drei verschiedene Aspekte von Ps 147 und seiner literarischen Gestaltung unter dem Stichwort „Transformationen“ darzustellen: Zunächst der entstehungsgeschichtliche Hintergrund des Psalms, sodann die Gattung des Textes und schließlich der Aufbau von Ps 147. 30 Vgl. Wöhrle, Abschluss, 171.

31  Der Grundbestand der Gerichtsprophetie lässt sich vor allem im sog. exilischen Vierprophetenbuch finden, zu dem Hosea, Amos, Micha und Zefanja gehören, vgl. dazu ausführlich z. B. Albertz, Exilszeit, 164–185.



Ein Loblied Jerusalems103

Wie schon bei den prophetischen Texten soll auch für den Psalm die Frage nach dem zeit- und theologiegeschichtlichen Hintergrund der Abfassung gestellt werden. So wird Ps 147 mehrheitlich in die hellenistische Zeit datiert, genauer in das späte 3. Jh.; vermutlich ist der Psalm erst um 200 v. Chr. entstanden.32 Auch im 3. Jh. gab es aufgrund harter Steuerpolitik große soziale Spannungen, da der Besitz vornehmlich wenigen einflussreichen Familien zukam und entsprechend die Verarmung der Unterschicht, insbesondere der Landbevölkerung, weiter zunahm. Verstärkte Landflucht und Urbanisierung waren die Folgen. Somit setzte sich die „Zerklüftung des Gemeinwesens“ aus der persischen in der hellenistischen Zeit weiterhin fort.33 Was die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen vieler Generationen anging, hatte sich, so lässt sich zusammenfassend sagen, eigentlich gar nichts geändert. Von der Perspektive der überlieferten Prophetie her war die hellenistische Zeit wie schon die Perserzeit als anhaltende Gerichtssituation zu interpretieren;34 das Heil stand nach wie vor aus! Auch die bereits in der Perserzeit ansetzende Herausbildung theologischer Gruppierungen setzt sich in hellenistischer Zeit fort.35 Neben den daraus resultierenden Tendenzen der Bildung von frommen Zirkeln ist vor allem die Entwicklung eines beruflichen Standes von sogenannten „Schriftgelehrten“ zu rekonstruieren.36 Dabei stand auch immer wieder die Frage nach der Auslegung und Bewertung des prophetischen Erbes im Mittelpunkt, die sich auch in der Rezeption der Prophetie in den Psalmen widerspiegelt.37 Die immer mehr zunehmenden Spannungen im politischen, sozialen, kulturellen und religiös-theologischen Bereich führten schließlich zur Eskalation in den Makkabäer-Kriegen, die aber schon nach dem hier relevanten Zeitraum für die Frage nach der Entstehung von Ps 147 liegen und darum nicht weiter thematisiert werden müssen. 32  Der Abschluss der vorliegenden Endgestalt des Psalters kann mit guten Gründen für das beginnende 2. Jh. angenommen werden, da der protomasoretische Psalter in Qumran vorausgesetzt ist. So ergibt sich für die Psalmen 145 und 146–150 insgesamt eine Abfassungszeit grob um 200 v. Chr., vgl. die weiteren Ausführungen z. B. bei Neumann, Hymnen, bes. 475; nur für Ps 147 Brodersen, Bedeutung, 75–78; dies., End, 199–201; ähnlich auch schon z. B. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 809; Leuenberger, Konzeptionen, 260. 33 Vgl. Albertz, Religionsgeschichte, 594; sowie Hengel, Judentum, 106; Frevel, Geschichte, 380–381; vgl. zu sozialgeschichtlichen Entwicklungen in der hellenistischen Zeit insgesamt ebenfalls die genannten Studien sowie auch den Beitrag von Bremer im vorliegenden Band (bes. Abschnitt 4). 34 Vgl. Schmid, Literaturgeschichte, 179. 35  Vgl. dazu Albertz, Religionsgeschichte, 549–555.597. 36  Vgl. dazu Albertz, Religionsgeschichte, 597–599.630. „So ist damit zu rechnen, daß sich in der spätpersischen und frühhellenistischen Zeit … ein fester Berufsstand der Schriftgelehrten herausbildete, dem nicht nur die Aufgabe zukam, für die Überlieferung und Ausarbeitung der religiösen Schriften zu sorgen, sondern auch die kanonisch gewordene Mose-Tora auszulegen und verbindlich zu interpretieren.“ (Zitat a. a. O., 599). Vgl. zum Phänomen der Schriftauslegung und Schriftgelehrsamkeit auch die Ausführungen u. a. bei Hengel, Judentum, 143–152; Kratz, Exegese; Schmid, Literaturgeschichte, bes. 48–49; ders., Traditionsliteratur; Neumann, Hymnen, 16–21; Leuenberger, Jhwh-König-Theologie, bes. 86–91. 37 Vgl. Albertz, Religionsgeschichte, 554.573–576.

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Bemerkenswert ist in jedem Fall die Verwandtschaft der Aussagen des Psalms mit Motiven der späten Heilsprophetie (vgl. v. a. das Zwölfprophetenbuch sowie auch Deuterojesaja). Die Intention dieser prophetischen Redaktionen war es, gegen eine desolate Situation der spätnachexilischen Zeit anzuschreiben und so in der Fortschreibung der Texte ein neues Heilspotential zu entwickeln. Diese Hoffnungsperspektive wird nun im Psalm – als Fortschreibung des Psalters – aufgenommen. Vor dem Hintergrund der eigenen desolaten Situation wird erneut das Hoffnungspotential der Prophetie zur Entfaltung gebracht. Auch wenn die eigentliche „Restitution Jerusalems“ auf den ersten Blick weit zurück liegt, präsentiert der Psalm – wie schon die prophetischen Texte aus dem 5. und 4. Jh. – immer noch die Hoffnung auf eine Erneuerung Jerusalems durch Jhwh. Und wie schon die Heilsprophetie in Joel, Amos und Zefanja lässt sich auch Ps 147 somit nicht in erster Linie eschatologisch verstehen, wie oftmals angenommen wird.38 Vielmehr wird die Gegenwart wahrgenommen und gerade gegen die gegenwärtige und erlebte Lebenswirklichkeit das Konzept einer (realisierbaren) Hoffnung auf das heilvolle Handeln Jhwhs entwickelt. Damit wird ein erster Transformationsprozess in Ps 147 greifbar: aus einer früheren Zeit werden Motive aufgenommen und auf die eigene Situation hin angewandt und so neu zur Entfaltung ihrer Hoffnung gebracht. Eine zweite Transformation findet sich mit Blick auf die Textgattung. Während die Prophetie vorwiegend Verheißungen und Ankündigungen formuliert, überführt der Psalmist seine Aussagen durch die Verwendung des Partizips in eine Beschreibung der Gegenwart.39 Die Aussagen sind dann nicht mehr nur Ausblick auf die (nahe) Zukunft, sondern werden als Handeln Gottes verstanden, das bereits in Gang gesetzt ist, und das in der Gegenwart bereits begonnen hat. Mit den heilsprophetischen Motiven geschieht also mehr als nur eine bloße Rezeption. Die Motive werden aufgenommen und bei der Integration in den Psalm kommt es zu einer Transformation – man könnte sagen „Hymnisierung“ – der prophetischen Ankündigung. Der Verfasser von Ps 147 hat die Sammlung des Volkes und die Sättigung von Tier und Mensch bereits vor Augen – zumindest drückt dies die hymnische Formulierung aus. Im Hymnus vergegenwärtigt sich alle Ankündigung, jeder hoffnungsvolle Wunsch und jede Verheißung. Der Hymnus verliert damit den Modus der Ankündigung,40 wie es den prophetischen Texten eigen ist, und preist das vergegenwärtigte und damit das präsentische Heils38  Vgl. zur Diskussion um eine eschatologische Deutung von Ps 147 ausführlicher Neumann, Hymnen, 243–249. 39  Schon Hermann Gunkel hat prägnant formuliert: „Die Propheten reden von der Zukunft, die Psalmisten von der Gegenwart.“ (Gunkel/​Begrich, Einleitung, 36). Als Beispiel zum Phänomen der Vergegenwärtigung der prophetischen Ankündigung im hymnischen Lob des Psalms vgl. z. B. Joel 2,19a.26a (Sättigung des Volkes als Verheißung formuliert) mit Ps 147,14b (Sättigung als bereits im Vollzug befindliches Geschehen) sowie Zef 3,19 (Ankündigung der Sammlung der Vertriebenen) mit Ps 147,2–3 (Lobpreis der bereits geschehenen Sammlung). Vgl. zum Folgenden und zum Vorgang der „Hymnisierung“ insgesamt Neumann, Hymnen, 223–226. 40  Vgl. dazu Kratz, Gnade, 260–261 Anm. 62, der noch entschiedener formuliert: „Die sprachlichen Anleihen aus den Propheten in Ps 147 sind damit ihrer eschatologischen Perspektive beraubt.“



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handeln Gottes. Dies bedeutet nicht, dass die Sammlung des Volkes aus allen Völkern nicht noch weiterhin geschehen muss oder dass die Sättigung von Mensch und Tier nicht eine bleibende Hoffnung ist. Es geht im Hymnus auch nicht notwendig um das abgeschlossene Handeln Gottes. Trotzdem ist der Hymnus ganz und gar auf die Gegenwart ausgerichtet: Jetzt wird gelobt, jetzt wird die Zuwendung Gottes gerühmt. Im Rückgriff auf die Prophetenworte und durch die Transformation der prophetischen Ankündigung in die Form des Hymnus erhält die Verheißung Gegenwartscharakter. Für den Lobenden ist damit die gnädige Zuwendung Gottes, von der er singt, schon jetzt Realität.41 Somit kann die „Hymnisierung“ der prophetischen Motive in Ps 147 als eine weitere Transformation neben der Aktualisierung des Hoffnungspotentials angesehen werden. Die kompositorische Anlage des Psalms lässt drei Abschnitte (V. 1–6.7–11.12– 20) erkennen, die jeweils mit einem Lobaufruf beginnen,42 im Mittelteil dann Taten Jhwhs in Schöpfung und Geschichte loben und schließlich mit einer Gegenüberstellung in Form einer abgrenzenden Aussage enden.43 Ps  147,1 Lobet Jh, denn gut ist ein Lobsingen für unseren Gott, denn angenehm ist schöner Lobgesang. … 7 Singt Jhwh mit Lob, lobsingt unserem Gott zur Leier(begleitung)! … 12 Jerusalem, preise Jhwh, lobe deinen Gott, Zion!

Neben dem dreifachen Lobaufruf in V. 1, 7 und 12 findet sich ein weiteres paralleles strukturierendes Element: Dreimal, jeweils am Ende einer Einheit des Psalms, wird ein Vergleich bzw. eine Gegenüberstellung zwischen zwei Menschengruppen formuliert. Dabei profitiert die eine Gruppe von Jhwhs Handeln (V. 6a.11.19), während die andere Gruppe von ihm benachteiligt wird und die negativen Folgen seines machtvollen Handelns erfährt (V. 6b.10.20). Der Kontrast zwischen den Gruppen wird jeweils durch sprachliche Verknüpfungen betont, die die antithetische Verbindung hervorhebt. So wird in V. 6 eine Opposition zwischen Demütigen und Gottlosen formuliert.44 41 

Vgl. dazu Neumann, Hymnen, 472; ähnlich auch Körting, Israel, 316.319. V. 1 eröffnet den Psalm mit einer Lobaufforderung (‫ )הללו‬und lässt eine doppelte reflektierende Begründung des Lobens folgen, die das Loben selbst gutheißt. Die erneuten, zweifachen Aufforderungen in V. 7 und V. 12 (‫ענו‬/‫שׁבחי ;זמרו‬/‫ )הללי‬dienen dann als Einleitungen zu je neuen Abschnitten. 43  Vgl. für eine ausführliche Analyse der Gestalt von Ps 147 Neumann, Hymnen, 167–178, dort auch weitere Literatur. Die Annahme einer dreiteiligen Struktur des Psalms ist weit verbreitet und findet sich u. a. auch schon bei Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 828–830; Leuenberger, Konzeptionen, 348, sowie auch in den jüngsten Studien bei Brodersen, End, 173–177; Willgren, Formation, 256. 44  Verbunden sind beide Teilverse in V. 6 durch eine parallele Satzstruktur bei gleichzeitig gegensätzlicher Aussage: „aufrichten“ (‫ )עוד‬vs. „erniedrigen“ (‫)שׁפל‬. 42 

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Ps 147,6 Der, der die Demütigen aufrichtet (‫)מעודד ענוים‬, ist Jhwh, er erniedrigt die Gottlosen (‫ )משׁפיל רשׁעים‬bis zur Erde.

In V. 10–11 wird das Vertrauen auf Pferdestärke und Manneskraft mit der Hoffnung auf Jhwh und seine Gnade verglichen.45 Ps 147,10 11

Nicht an der Stärke des Pferdes hat er Gefallen, nicht an den Schenkeln des Mannes hat er Wohlgefallen (‫)ירצה‬. Wohlgefallen (‫ )רוצה‬hat Jhwh an denen, die ihn fürchten, an denen, die harren auf seine Gnade.

Und am Ende des Psalms, in V. 19–20, wird Jakob-Israel durch die besondere Gabe des göttlichen Rechtes ausgezeichnet. Dieses Verkündigungshandeln Jhwhs geschieht exklusiv an Israel und markiert so den Unterschied zwischen Gottesvolk und Völkern.46 Ps 147,19 Er verkündigt sein Wort Jakob, seine Rechtsordnungen und seine Gesetze (‫ )חקיו ומשׁפטיו‬Israel. 20 Nicht hat er so an allen Völkern gehandelt, und Gesetze (‫ )ומשׁפטים‬haben sie nicht gekannt. Halleluja!

Der jeweils positive Teil der Gegenüberstellung am Ende jeden Abschnitts stellt eine Zusammenfassung des zuvor gerühmten Handelns Gottes dar; gleichzeitig wird dieses heilvolle Handeln eingeschränkt: Jhwh richtet das Niedergeworfene auf – aber nur unter der Voraussetzung der Demut (V. 6a); Jhwh versorgt und erhält alles Leben – aber nur, wenn allein auf Jhwh vertraut und gewartet wird (V. 11); Jhwh offenbart sein kraftvolles Wort – aber nur Israel (V. 19). So tritt neben das umfassende Wirken Gottes in Schöpfung und Geschichte eine Dimension von Separation und Gericht, die eine Grenze zieht. Damit werden die Gottlosen (V. 6b), die Eigenmächtigen (V. 10) und sogar alle Völker abseits des Gottesvolkes (V. 20) aus dem heilvollen Machtbereich Gottes ausgeschlossen. Gerade auch in diesen abgrenzenden Aussagen lassen sich erneut Verbindungen zu prophetisch geprägtem Gedankengut erkennen.47 So wird in Ps 147 nun die von den Propheten geforderte Umkehr vorausgesetzt (vgl. u. a. Joel 1,13–14; 2,15–17). Die frömmigkeits-theologische Perspektive zeigt sich in der Verwendung der Termini wie „demütig“ (‫ )עני‬und „gottesfürchtig“ (‫ירא‬, vgl. V. 11) im Gegenüber zu „gottlos“ (‫רשׁע‬, 45  Die Verknüpfung wird dabei durch den Begriff „Wohlgefallen“ (‫ )רצה‬Jhwhs geschaffen, welches zuerst in V. 10 negativ und dann in V. 11 positiv ausfällt. Die Reihenfolge der verneinenden Abgrenzung und bejahenden Zuwendung Jhwhs ist in V. 10–11 (zugleich die Mitte des Psalms!) im Vergleich zu V. 6 und 19–20 umgekehrt, so dass die Aussage über das Wohlgefallen Jhwhs über die ihn Fürchtenden am Ende des Abschnitts besonders herausgestellt und betont wird. 46  Die Verbindung zwischen beiden Aussagen wird in V. 20 durch die rückbezogene Partikel „so“ (‫ )כן‬und die Wiederaufnahme von ‫ משׁפטים‬aus V. 19 hergestellt. 47  Vgl. dazu unten Anm. 61 sowie zur Abgrenzung Israels von den Völkern in Ps 147 Neumann, Israel, bes. 308–311.



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V. 6).48 Der Psalm versteht sich somit als ein Lied der Frommen,49 denen die erneute Zuwendung Jhwhs zugutekommt. Dabei wird auch auf indirekte Weise durch die Begriffe „Rechtsordnungen“ (‫ )חוקים‬und „Gesetze“ (‫ )משׁפטים‬in V. 19–20 auf die Tora angespielt, die exklusiv Israel verkündet ist. Gerade dieser indirekte Tora-Bezug verweist zusammen mit den typischen frommen Selbstzuschreibungen auf einen frömmigkeits-theologischen und schriftgelehrten Kontext, der hinter diesem späten Psalm aus hellenistischer Zeit zu vermuten ist. Auffällig ist dabei, dass in Ps 147 (wie auch in den anderen Psalmen am Ende des Psalters) in keinerlei Weise der Tempel vorkommt. So wird zur Darstellung der Bedeutung des Zion gerade nicht die klassische Jerusalemer Tempel-Theologie rezipiert (es lassen sich kaum Bezüge von Ps 147 zu den typischen Zionspsalmen herstellen!50). Vielmehr wird die bereits transformierte Theologie der Restitution Jerusalems, die neues Heil ausgehend vom Zion erwartet, aus der Prophetie aufgenommen. Bemerkenswerterweise sind Ps 147,12 und Zef 3,14 die einzigen Stellen (neben Sach 9,9) innerhalb der hebräischen Bibel, wo Zion und Jerusalem in paralleler Nennung und zudem in personifizierter Gestalt zum Lobpreis aufgerufen werden. An beiden Textstellen wird außerdem der Lobpreis mit einer Hoffnung auf ganz grundlegende Änderungen der Umstände verbunden, die wesentlich mit der Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes verbunden sind (vgl. die Gegenwart Gottes in der „Mitte“ des Volkes [‫ ]בקרבך‬in Zef 3,15.17 sowie in Ps 147,13). Aber auch dabei wird der Tempel als Ort der Gegenwart Gottes oder eine andere kultische Lokalität nicht erwähnt. Der Lobpreis soll von Zion/Jerusalem selbst und ganz umfassend ausgehen, ohne jegliche kultische Begrenzung. Infolgedessen lässt sich Ps 147 doch geradezu als „Oppositionsliteratur“ bezeichnen, die aus frommen Kreisen hervorgeht, deren Orientierungspunkt aber nicht der Tempel, sondern die überlieferte Schrift selbst bildet.51 Gegen den Zweifel an der Zu48  Diese Kombination von „arm“ (‫ )עני‬und „gottlos“ (‫ )רשׁע‬ist im Alten Testament selten vertreten; neben Ps 147,6 nur noch Hi 36,6; Ps 10,2; 37,14; Jes 11,4. Viel häufiger werden den Gottlosen die Gerechten (‫ )צדיקים‬gegenübergestellt: so auch in Ps 146,8–9, vgl. dazu die Ausführungen bei Neumann, Hymnen, 139–148. Zu Ps 147,6 und der frömmigkeits-theologischen Deutung vgl. a. a. O., 187–194, sowie z. B. auch Bremer, Gott, 408. Zur Opposition von Gerechten und Frevlern im kleinen Hallel vgl. außerdem Leuenberger, Jhwh-König-Theologie, bes. 78–84. 49  Bereits im 5. Jh. setzte die Herausbildung der Opposition von Gerechten und Frevlern als eine Scheidung innerhalb des Gottesvolkes ein und schlägt sich auch in manchen prophetischen Texten nieder (vgl. u. a. Koenen, Heil, 22–42; Wöhrle, Sammlungen, 205–208), vor allem aber in den Psalmen, vgl. dazu Albertz, Religionsgeschichte, 569–576, sowie schon Wellhausen, Geschichte, 202–205; Levin, Gebetbuch; ders., Amosbuch. Diese frömmigkeits-theologische Entwicklung lässt sich sodann in den folgenden Jahrhunderten mit wachsender Bedeutung für die hellenistische Zeit weiter beobachten und setzt sich bis zu den Texten von Qumran fort, vgl. dazu jüngst Kratz, Gerechte, sowie insgesamt die ausführliche Studie zur Armentheologie von Bremer, Gott. 50  Vgl. dazu auch Körting, Zion, in deren Untersuchung zu den Zionspsalmen auffälligerweise Ps 147 als „Zions-Psalm“ nicht vorkommt! 51  Ähnlich versteht Zenger, Weisheitstheologie, 154 (vgl. 151), Ps 147 und mit ihm das ganze kleine Hallel als „hymnische[n] Entwurf einer kontrafaktischen und antizipatorischen Gegenwelt“, deren konkrete Umsetzung und Vollendung aber eben erst eschatologisch (!) im Rahmen des kommenden Königreiches Gottes erwartet werden kann.

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verlässigkeit des Wortes Gottes wird ein Loblied in Aufnahme des Hoffnungspotentials der Prophetie formuliert und vergegenwärtigt so im hymnischen Gesang bereits die angekündigte Heilszeit. Wie schon die Heilsprophetie auf ihre Weise so wird auch Ps 147 am Ende des Psalters zu einem Oppositionstext – gegen die gegenwärtige Situation selbst und die scheinbar hoffnungslose Realität, aber auch gegen die herrschenden Mächte und Verantwortlichen dem Volk gegenüber, die der Meinung der Verfasser nach zu wenig zur Besserung der Lage tun. Die Mächtigen handeln damit gegen Gott und sind so zu den Gottlosen zu rechnen. Diesen Eigenmächtigen, die auf Pferdestärke und Manneskraft vertrauen, hält der Psalm das demütige Vertrauen auf Jhwh entgegen (vgl. Ps 147,10–11). So zeigt auch die kompositorische und theologische Anlage des Psalms, dass der Text sich nicht vornehmlich als Lied über die eschatologische Zukunft versteht, sondern vielmehr an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegenwart interessiert ist.52 Durch die Transformation und Aufnahme der prophetischen Überlieferungen, insbesondere ihrer  – aus unserer heutigen Sicht späteren  – heilsprophetischen Fortschreibungen aus persischer Zeit formuliert Ps 147 somit ein parteiergreifendes Loblied, das von Jerusalem ausgehen soll. 3.2 Psalm 147 im Kontext des Psalters Der Psalmist von Ps 147 verarbeitet und transformiert aber nicht nur Motive der Prophetie, sondern greift ebenso auch vorangehende Psalmen auf und stellt somit gezielt Verbindungen zu seinem direkten literarischen Kontext her. Aufgrund dessen, dass vorangehende Psalmen vorausgesetzt sind, legt sich die Annahme nahe, dass Ps 147 für seinen literarischen Kontext verfasst wurde.53 Auch in der Rezeption anderer Psalmen ist demnach das konservative Anliegen von Ps 147 zu erkennen: Das überlieferte Wort behält seine Gültigkeit. Aber zugleich werden die Aussagen weiterentwickelt und transformiert. Zwei Rezeptionsvorgänge sollen stellvertretend für die zahlreichen intertextuellen Bezüge des Psalms vorgestellt werden.54 52  Ähnlich auch Leuenberger, Jhwh-König-Theologie, 87, der den Psalter insgesamt als weitestgehend „alltagsbezogen“ und „uneschatologisch“ charakterisiert. 53 Vgl. Neumann, Hymnen, bes. 429.436–437.443–444; ähnlich auch schon Kratz, Gnade, 276; anders Brodersen, End, 201. 54  In diesem Beitrag kann auf die Fülle von Textbezügen von Ps 147 nicht eingegangen werden, vgl. dazu ausführlich Neumann, Hymnen, 178–243. Vgl. auch die Übersicht zu den intertextuellen Bezügen bei Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, bes. 827–828, der allerdings nur auf den Abschnitt V. 1–11 eingeht. Anhand der unterschiedlich wahrgenommenen Dichte der intertextuellen Bezüge geht Leuenberger, Konzeptionen, 349–351 (ihm folgt Zenger in Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 827), von einer zweistufigen Entstehung von Ps 147 aus, wobei der Primärpsalm in V. 12–20 zu finden ist und V. 1–11 – aufgrund der Textbezüge – als Erweiterung in Orientierung auf den Kontext von Ps 147 zu verstehen sei. Demgegenüber spricht viel für Ps 147 als einheitlichen und kohärenten Text; gerade aufgrund der großen Anzahl an Textbezügen, die sich auf alle Abschnitte des Psalms bezieht, vgl. ausführlich dazu Neumann, Hymnen, 174–178. Zu einer anderen Einschätzung kommt Brodersen, End, 179–186, die nur wenige intertextuelle Bezüge bei Ps 147 feststellt



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Für Ps 147 konkretisiert sich die neue Heilszeit unter anderem in der Sicherung der Nahrungsversorgung,55 wie oben schon ausgeführt wurde. So lautet Ps 147,14b: Ps 147,14b

mit fettem Weizen sättigt er dich (‫)חלב חטים ישׂביעך‬.

Das Motiv weist zwar insgesamt Verbindungen zur Prophetie auf, die Formulierung selbst findet sich jedoch nur noch einmal im Alten Testament. Nur in Ps 81,17 ist der Ausdruck „Fett des Weizens“ (‫ )חלב חטה‬noch einmal belegt, zudem in Verbindung mit dem Verb „sättigen“ (‫)שׂבע‬. Der Geschichtspsalm Ps 81 ist eine leidenschaftliche Klage Gottes über sein untreues Volk (Ps 81,7–12), die mit dem wehmütigen Wunsch endet, dass Gott seinem Volk so gerne helfen würde, wenn es sich denn helfen ließe, d. h. wenn es Jhwh wieder gehorsam wäre (Ps 81,14). Der Psalm ist als prophetische Rede gestaltet, die zur Umkehr ruft,56 und schließt mit der Ankündigung Gottes: Ps 81,17

Ich würde es [das Volk] speisen mit dem Fett des Weizens (‫)חלב חטה‬, und mit Honig aus dem Felsen würde ich es sättigen (‫)שׂבע‬.

Wie die Prophetie erhofft Ps 81 Heil durch das Gericht hindurch. Durch das Zitieren dieser Hoffnung aus Ps 81,57 die auf ähnlicher Ebene wie die prophetischen Hoffnungsaussagen liegt, vollzieht Ps 147 eine Interpretation dieses Psalms. Denn für Ps 147 ist die Bedingung auf Seiten des Volkes, das geforderte (erneute) Hören auf Gott, bereits erfüllt (vgl. die frömmigkeits-theologischen Termini in Ps 147,6.11). Darum löst Gott sein Versprechen der verschwenderischen Speisung ein. Während Ps 81 die zerbrochene Beziehung zwischen Gott und Volk aufgrund der Schuld Israels beklagt, schildert Ps 147 das bereits geheilte Gottesverhältnis anhand der Restitution von Zion-Jerusalem (vgl. bes. Ps 147,2–3). Somit verhalten sich Ps 81 (zusammen mit der Umkehrprophetie) und 147 wie Ankündigung und Erfüllung. Ein ähnliches Verhältnis liegt auch zwischen Ps 147 und 102 vor. So klagt der Beter von Ps 102 über das zerstörte Jerusalem und hofft zugleich auf die gnädige Zuwendung Gottes zum Zion, die sich in seinem Wiederaufbau durch Jhwh selbst zeigen wird. Im Anschluss an die Neuschaffung des Zion gilt dem dort versammelten Volk der Lobpreis als Verheißung: „und das Volk, das er schafft, wird Jh loben (‫“)יהלל־יה‬ (Ps 102,19b).58

(und insb. auch zu Ps 146 keine Verbindung sieht); sie hält Ps 147 aber ebenfalls für einheitlich (vgl. a. a. O., 201–204). 55  Vgl. dazu auch die Bezüge von Ps 147 zu Ps 104, vgl. Neumann, Hymnen, bes. 208 Anm. 217; zu Jhwh als Lebensspender und Versorger vgl. u. a. auch Kratz, Gnade. 56  Vgl. dazu auch Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 473. 57  Vgl. neben V. 14 folgende Bezüge von Ps 147 zu Ps 81: V. 7 mit Ps 81,3; V. 19 mit Ps 81,5. Zur Verbindung von Ps 81 und 147 vgl. Neumann, Hymnen, 225–226; so auch schon Kratz, Gnade, 261 mit Anm. 64; Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 835. 58  Zum Motiv der Restitution Jerusalems mit dem Lobpreis Gottes zum Ziel vgl. bes. Ps 51,17–21; 69,35–37; 102,17–19. Zu Auslegung und Zusammenhang von Ps 51; 69 und 102 vgl. Körting, Zion, 32–60. Zur Verbindung dieser Psalmen mit Ps 147 vgl. Neumann, Hymnen, 189–190.194–196.

110 Ps 102,17 18 19

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Denn Jhwh wird Zion aufbauen, und erscheinen in seiner Herrlichkeit. Er wird sich dem Gebet der Verlassenen zuwenden, und er wird ihr Gebet nicht verachten. Dies sei aufgeschrieben für das künftige Geschlecht, und das Volk, das er schafft (‫)ועם נברא‬, wird Jh loben (‫)יהלל־יה‬.

In Ps 102,19 wie auch in Ps 147,1 wird zum Lob Jhwhs aufgerufen; in beiden Psalmen wird dies mit einer Form von ‫ הלל‬und der Kurzform des Gottesnamens Jh formuliert.59 Ps 147 löst nun aber gegenüber Ps 102 den Lobaufruf ein, indem er ebenfalls die Restitution Jerusalems thematisiert und damit aber die Hoffnung von Ps 102 schon als erfüllt betrachtet. Damit kann Ps 147 dezidiert als das Loblied des „neugeschaffenen Volkes“ (‫ )עם נברא‬von Zion aus verstanden werden. Ps 147 führt so die Hoffnung und Erwartung von Ps 102 am Ende des Psalters zu einem guten Ende: nämlich zu einem hymnischen Ende, das in das Loben Gottes mündet. Ps 147 formuliert am Ende des Psalters ein Loblied Jerusalems. Dafür nimmt der Psalm die Erwartung des Lobs aufgrund neuen Heils aus anderen Texten auf (vgl. Ps 81 und 102 sowie die prophetischen Hoffnungstexte) und sieht die Bedingungen für dieses erwartete Loblied erfüllt: Das neue Heil wird im Hymnus vergegenwärtigt. Neben der Rezeption von Psalmen im weiteren Kontext des Psalters – hier eingegrenzt dargestellt mit Blick auf die Abfolge von Ankündigung und Erfüllung  –, bezieht sich Ps 147 auch auf den ihm direkt vorangehenden Psalm. So führt Ps 147 durch die Fokussierung auf Zion/​Jerusalem Ps 146 weiter, der mit dem Lob Jhwhs als König vom Zion endet: Ps 146,10 König sei Jhwh bis in Ewigkeit, dein Gott, Zion, von Generation zu Generation. Halleluja!

Für Ps 147 ist Zion nicht nur der Ort des Königsgottes, sondern auch Ort der Präsenz neuen lebensförderlichen Heils, wie oben ausgeführt. Und während in Ps 146 erst im letzten Vers Zion explizit benannt wird, ist Ps 147 als ganzer von einer Zions-theologischen Heilsperspektive geprägt (vgl. bes. V. 2–3.12–14). Zudem lässt sich auch in Ps 146 bereits eine Rezeption prophetischer Heilsverheißungen erkennen;60 diese wird aber in Ps 147 verstärkt, indem der Psalm über das von Jhwh her offenbarte Wort selbst reflektiert (vgl. V. 15–20). Dabei wird die Of59  An beiden Stellen ist der Lobaufruf in den Satzkontext eingebettet. Der Halleluja-Ruf lag vermutlich zuerst in literarischer Form vor; möglicherweise findet sich der erste Beleg auf der Endtextebene in Ps 102,19 sowie dann in Aufnahme von Ps 102 in Ps 147,1; vgl. dazu Klein, Geschichte, 303, mit Verweis auf Leuenberger, Konzeptionen, 207; ähnlich auch Ballhorn, Pragmatik, 246. Insgesamt lässt sich zeigen, dass in Ps 147 der Hallel-Aufruf Bestandteil des Psalmkorpus und keine sekundäre Rahmung ist; vgl. dazu Neumann, Hymnen, 163–164.167.179.444–449; ähnlich auch Willgren, Formation, 254–256. 60  Vgl. z. B. den Bezug von Ps 146,7b–8a zu Jes 35,5; 42,6–7, dazu ausführlich Neumann, Hymnen, 134–139.



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fenbarung des göttlichen Wortes zugleich zum Unterscheidungskriterium zwischen Israel und den Völkern.61 Ps 147,15 16 17 18 19 20

Er sendet seinen Spruch zur Erde, in Eile läuft sein Wort (‫)דברו‬. Er gibt Schnee wie Wolle, Reif wie Staub zerstreut er. Er wirft sein Eis wie Brocken, vor seiner Kälte – wer kann bestehen? Er sendet sein Wort (‫ )דברו‬und lässt sie schmelzen, er lässt wehen seinen Geist, es fließen die Wasser. Er verkündigt sein Wort (‫ )דברו‬Jakob, seine Rechtsordnungen und seine Gesetze Israel. Nicht hat er so an allen Völkern gehandelt, und Gesetze haben sie nicht gekannt.

Im Vergleich mit vom Himmel ausgehenden Wetterphänomenen wie Regen und Schnee, die die Erde befeuchten, wird die Zuverlässigkeit des Wortes Gottes bekräftigt. Wie der Regen, der unaufhaltsam die Erde befeuchtet und dann neues Wachstum ermöglicht, kann auch das Wort Gottes nicht ohne Wirkung bleiben. Solche Formulierungen finden sich ähnlich auch schon bei Deuterojesaja (vgl. Jes 55,10–11).62 Ps 147 verweist auf die Reflexion über die Zuverlässigkeit des Wortes Gottes (allein der Begriff ‫ דבר‬kommt dreimal im Psalm vor, vgl. V. 15b.18a.19a). Damit rezipiert der Psalmist zum einen die prophetische „Worttheologie“ selbst,63 zum anderen bekräftigt er die Heilszusagen der Prophetie, auch in Verbindung mit der Aufnahme pro61  Die in Ps 147,19–20 festzustellende Abgrenzung von den Völkern lässt sich auf ähnliche Weise bereits in den prophetischen Hoffnungstexten finden. So sind die Heilserwartungen der nachexilischen Zeit mit der Hoffnung verbunden, dass sich Jhwh auch gegen die feindlich erlebte Völkerwelt machtvoll erweist; vgl. Wöhrle, Abschluss, 171. Gerade die erwähnten redaktionell hinzugesetzten Heilsperspektiven im Zwölfprophetenbuch aus persischer Zeit weisen starke Abgrenzungstendenzen zu fremden Völkern auf. Denn mit der Aussicht auf neues Heil für das eigene Volk ist das Gericht und die Vernichtung der fremden Völker verbunden. Die besondere Konzeption der sog. Fremdvölkerschicht I, der einige der oben genannten Texte zugehören (vgl. oben Anm. 14), besteht nach Wöhrle darin, dass „nun die Vernichtung der fremden Völker und von hier aus neues Heil für das eigene Volk angesagt“ wird. Insbesondere das Joelbuch zeigt somit folgenden Ablauf, der „vom Gericht am eigenen Volk über das Eingreifen Jhwhs gegen die äußeren Feinde zu einer neuen heilvollen Zukunft des Volkes“ führt (a. a. O., 164–165). So wie Jhwh einst sein eigenes Volk aufgrund seiner Untreue und Verfehlungen bestraft und gerichtet hat, so werden nun auch die Fremdvölker zur Verantwortung gezogen; vgl. dazu a. a. O., bes. 168. Während das eigene Volk aus den Völkern zu neuem Heil gesammelt wird (Zef 3,18–19), werden die Völker zum universalen Gericht versammelt (vgl. Zef 3,8b). Es wäre zu erwägen, ob in der durch Jhwh vollzogenen „Erniedrigung der Gottlosen“, wie Ps 147,6 es formuliert, nicht auch die Fremdvölker mitgemeint sein können, die Jhwh bis zum Boden erniedrigt und damit entmachtet, und die im Gegenüber zu Israel dann in V. 19–20 noch einmal in den Blick kommen. Vgl. zum Gegenüber von Israel und den Völkern im kleinen Hallel auch Neumann, Israel. 62  Zu den Bezügen von Ps 147 zu Jes 55,10–11 vgl. u. a. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 835, sowie auch Neumann, Hymnen, 229–231. 63  Vgl. dazu van Oorschot, Babel, 273–283, der den Begriff „Worttheologie“ in Bezug auf Deuterojesaja verwendet; zur Theologie des Wortes Gottes in Ps 147 Neumann, Hymnen, 227–243.

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phetischer Heilsmotive und deren Integration in den Hymnus. Ja, mehr noch, nicht nur die Heilsaussagen an sich, auch das dahinterstehende Hoffnungspotential wird rezipiert. Dieses Hoffnungspotential, das in einer desolaten Situation als Perspektive gegen alle Realität entwickelt wurde, wird nun auf die eigene desolate Situation angewandt, mit der Erwartung, dass es sich erneut entfalten kann. Diese Erwartung drückt sich in den hymnisch transformierten Formulierungen aus. So wie zuvor schon gegen allen Zweifel am Prophetenwort festgehalten wurde (vgl. die Aktualisierung der Prophetenworte innerhalb der Prophetie), so hält auch der Psalmist an den Worten der Prophetie fest und gibt ihnen in seinem Hymnus einen neuen Wirkbereich. Aktualisierung der Überlieferung in Verbindung mit Fortschreibung und Transformierung sind somit ganz zentrale Phänomene, die sich sowohl innerhalb der Prophetie als auch in den Psalmen als auch beide Textbereiche überschneidend beobachten lassen. Somit lässt sich also über den theologiegeschichtlichen Hintergrund der neuen Hoffnung für Zion in Ps 147 sagen, dass der Psalm Verbindungen zu prophetischen Hoffnungstexten aufweist – mindestens auf Ebene der Motivik. Denn in Ps 147 erscheint dieselbe Kombination der Motive, wie sie auch beispielsweise in Joel zu finden ist (vgl. bes. Joel 2,23–24.26a): Neue Fruchtbarkeit und erneuter Ernteerfolg werden hervorgerufen durch den von Jhwh gegebenen Regen. Die Umkehr zu Jhwh und das erneute Vertrauen auf seine Hilfe allein bilden die Voraussetzung für die Überwindung der desolaten Situation. Die wiederhergestellte Sicherung der Nahrungsversorgung bedeutet auch den Schutz vor feindlichen Übergriffen und die Abwendung von äußerer Bedrohung sowie Frieden für die Stadt und ihre Bewohner. Und schließlich ist die gesamte Hoffnungsperspektive in die Aufforderung zum Lobpreis eingebunden, der vom Zion aus erklingen soll (vgl. hierfür auch Ps 147,12 mit Zef 3,14!). Sowohl in Joel 2 als auch in Ps 147 erscheint Jhwh somit als derjenige, der bereits Regen und Nahrung gibt sowie Sicherheit und Frieden schafft. Ausgangspunkt für diesen neuen und heilvollen Segen ist der Zion. Darüber hinaus finden sich wörtliche Verbindungen zwischen Joel 2 bzw. Zef 3 und Ps 147.64 Außerdem ist Ps 147 mit anderen Psalmen eng verbunden (vgl. die oben aufgeführten Bezüge zu Ps 81; 102; 146). Diese Motivaufnahmen und Textbezüge bilden den Hintergrund für den neuen, gottwohlgefälligen Hymnus, zu dem Ps 147 aufruft und der er zugleich selbst schon ist. Somit lässt sich Ps 147 als Psalm beschreiben, der auf Grundlage und im engen Kontext mit der überlieferten Schrift entstanden ist, indem er die Tradition rezipiert und in einen neuen Text transformiert. Rezeption und Transformation sind auf diese Weise dann auch als Phänomene von Intertextualität verstehen.

64  Vgl.

das Lexem ‫ הלל‬in Joel 2,26 sowie u. a. das Motiv der Gegenwart Gottes „in der Mitte“ (‫ )בקרבך‬in Zef 3,15.17, dazu oben Kap. 2.



Ein Loblied Jerusalems113

4. Psalm 147 als schriftgelehrter Hymnus und der Abschluss des Psalters Abschließend ist das schriftgelehrte Profil des Psalms nun so zu beschreiben:65 Im Rückgriff auf die Schrift formuliert der Psalmist am Ende des Psalters einen neuen Text. Darin reflektiert er zunächst das Loben an sich zu Beginn des Psalms, das als angenehm und schön definiert wird (vgl. Ps 147,1). Die dann folgenden Lobinhalte werden durch die Aufnahme der prophetischen Wort-Gottes-Theologie bekräftigt (vgl. bes. Ps 147,15–20). Das göttliche Wort – insbesondere in Gestalt der prophetischen Ankündigungen – hat nach wie vor Gültigkeit, allen desolaten und krisenhaften Zuständen des Lebens zum Trotz. Damit positioniert sich der Psalm zudem eindeutig pro-prophetisch und betont die Verlässlichkeit der Heilsverheißungen im prophetischen Erbe  – im Kontext theologischer Auseinandersetzungen seiner (eigenen) Zeit.66 So lässt sich der Text einem schriftgelehrten Milieu der hellenistischen Zeit zuordnen, die die Schrift und weniger Tempel und Kult als Orientierung hat.67 Vertreter solcher frömmigkeits-theologischer Prägung sahen offensichtlich Anlass, am Ende des Psalters ein Loblied Jerusalems anzufügen, das im Horizont der Schrift verfasst ist und das insbesondere das Hoffnungspotential der Prophetie neu zum Leben erweckt. Gleichzeitig ist dieser Lobpreis auf die eigenen frommen Kreise, namentlich die Demütigen und Gottesfürchtigen (vgl. Ps 147,6.11), bezogen und formuliert die Abgrenzung von den Gottlosen. Als Ursprungsort des göttlichen Heils bleibt auch für diese Frömmigkeit der Zion bestehen, auch wenn eine explizit kultische Ausrichtung fehlt. Ps 147 ist im masoretischen Psalter Teil des sog. kleinen Hallels. In der Psalmenforschung wird das kleine Hallel zumeist als einheitliche redaktionelle Komposition als Abschluss des Psalters gesehen, deren Teilpsalmen, auch wenn einzelne Ergänzungen angenommen werden, doch größtenteils auf einer entstehungsgeschichtlichen Ebene 65  Ps 147 und in ähnlicher Weise die anderen Psalmen des kleinen Hallels legen überlieferte (Schrift-)Traditionen aus und formulieren vor ihrer eigenen (desolaten) Situation der hellenistischen Zeit eine Zusammenschau dieser Traditionen in einem neuen hymnischen Text. Diese Psalmen können darum als „schriftgelehrte Hymnen“ bezeichnet werden, vgl. zusammenfassend Neumann, Hymnen, 472.481–483. Ps 147 legt dabei den Schwerpunkt auf die Restitution Jerusalems in Aufnahme und Transformation des Hoffnungspotentials der Heilsprophetie. Zum schriftgelehrten Charakter der Psalmen am Ende des Psalters und ihrem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund vgl. auch schon Kratz, Gnade, bes. 276, sowie Leuenberger, Jhwh-König-Theologie. 66  Vgl. die Auseinandersetzungen um das prophetische Erbe, dazu oben Kap. 3.1; insgesamt auch Steck, Abschluß, bes. 147–148. Die Nähe zur Prophetie zeigt sich sodann auch in der Rezeptionsgeschichte der Psalmen. So verstand man in der Gemeinschaft von Qumran die Psalmen selbst als Prophetie, vgl. dafür insbesondere die Pescharim; dazu jüngst Kratz, Gerechte. Ebenso werden vor allem Propheten und Psalmen im Neuen Testament zitiert. 67  Vgl. zur Diskussion der Trägerkreise jüngst Leuenberger, Jhwh-König-Theologie, bes. 74– 78.85.88, sowie den gesamten Sammelband Hossfeld/​Bremer/​Steiner (Hg.), Trägerkreise. Eine Reflexion über die Bedeutung der Tora in persischer Zeit, wie sie sich in verschiedenen Psalmen widerspiegelt, beschreibt auch Brettler, Role, bes. 290–293, allerdings sieht er in Ps 147 eine Vermittlung zwischen Tempel und Tora.

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Friederike Neumann

liegen, so der verbreitete Konsens.68 Der Zusammenhang dieser Psalmen ist auch gar nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl ist aber zu fragen, ob dieser Zusammenhang ursprünglich ist, das heißt, ob diese Psalmen am Ende des Psalters von vornherein als Gruppe an die Psalmensammlung angeschlossen worden sind oder ob nicht eher von einer Fortschreibung und somit von einer gestuften Entstehung auszugehen ist, wie sie für den Psalter insgesamt angenommen wird.69 Denn neben vielen verbindenden Elementen und Motiven finden sich signifikante Widersprüche zwischen den Psalmen des kleinen Hallels. So wird beispielsweise die Frage nach der Gemeinschaft mit den Völkern im Lobpreis sehr unterschiedlich, geradezu gegensätzlich beantwortet.70 Gleichwohl werden auch Motive aus dem vorangehenden Psalm aufgenommen, umgedeutet und erweitert, was sich als Fortschreibung im engen Sinne des Wortes verstehen lässt. So greift Ps 147 z. B. auf Ps 146 zurück, indem die dort bereits vorliegenden Bezüge zur prophetischen Tradition in Ps 147 noch verstärkt werden. Was in der Prophetie noch Zukunftsperspektive ist, erscheint im Hymnus bereits als Gegenwart und ist Gegenstand des Lobes von Ps 147. Und nachdem Ps 146 bereits die Zions-Perspektive eingenommen hat (vgl. Ps 146,10), wird diese in Ps 147 ebenfalls noch weiter verstärkt. Neben der starken Fokussierung auf Zion-Jerusalem als dem Ort neuen Heils ergänzt Ps 147 gegenüber Ps 146 außerdem noch die Wort-Gottes-Theologie.71 Ps 147 ist somit als Fortführung der bestehenden Psalmensammlung zu verstehen, dessen Intention in der Schriftrezeption, der Transformation heilprophetischer Motive in den Hymnus sowie in einer spezifischen Zions-Theologie liegt. Der Lobpreis Gottes wird dann als angenehm und gut empfunden, wenn er vor diesem schriftgelehrten und gottesfürchtigen Hintergrund geschieht. Und dies gilt mit Ps 147 im Rückblick auch für den ganzen Psalter, dessen Abschluss und Telos – zumindest in einer bestimmten Vorstufe – Ps 147 als Loblied Jerusalems gebildet haben mag.

5. Fazit Die Ausführungen haben das Verhältnis von Prophetie und Hymnus in den Blick genommen und die Rezeption prophetischer Heilshoffnungen in Ps 147 aufgezeigt. Dabei erweist sich der Psalm als ein schriftgelehrter Text: Aus früherer desolater Si68  Vgl. zur These der Einheit des kleinen Hallels den Überblick bei Zenger, Komposition, 14– 19; den Zusammenhang der Gruppe macht auch u. a. Leuenberger, Konzeptionen, 360–364, stark. 69  Weitere Ausführungen dazu bei Neumann, Hymnen, 430–432. 70  Vgl. nur die Gegensätze zwischen Ps 147,19–20 mit der Perspektive der Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern, Ps 148 mit der Vorstellung eines universal-kosmischen Lobpreises und Ps 149,6–9 als Aufruf zum Rachehandeln an den Völkern im Kontext des Lobpreises. Dies lässt sich geradezu als Diskurs zwischen verschiedenen Meinungen zum Thema „Israel und die Völker“ beschreiben, die jeweils eine Fortschreibung durch einen weiteren Psalm provoziert haben; vgl. dazu ausführlich Neumann, Israel. 71  Vgl. zu Ps 147 als Fortschreibungstext von Ps 146 und als zwischenzeitlichem Abschluss des Psalters Neumann, Hymnen, 436–437.



Ein Loblied Jerusalems115

tuation werden die Hoffnungsworte der Propheten aufgenommen und auf die eigene desolate Situation bezogen; dabei werden die Worte aktualisiert und transformiert. Denn ähnlich wie schon Zef 3,14 ruft auch Ps 147,12 Zion/​Jerusalem dazu auf, Jhwh für die neue Heilszeit zu loben (vgl. auch Joel 2,21–24.26a). Dabei ist Ps 147 aber schon selbst das Lob dieser neuen Heilszeit im Jetzt. Während Zef 3 noch auf das Lob vom Zion her hofft, versteht sich Ps 147 als genau dieser erhoffte Lobpreis und besingt nun antizipierend die Gegenwart einer neuen Heilszeit. Der Hymnus selbst wird so zum Hoffnungsträger – gerade angesichts und inmitten einer kontrafaktisch erlebten Realität. Denn was für das 5. Jh. galt, ist ja auch immer noch für das 3. Jh. anzunehmen: komplexe desolate soziale und politisch instabile Zustände. Ebenso knüpft Ps 147 an den vorliegenden Psalter an, nimmt Erwartungen an das göttliche Heilshandeln auf und integriert sie in seinen Hymnus (vgl. die Bezüge zu den Klagen in Ps 81 und 102). Durch die Aufnahme anderer Psalmen werden die Zusagen Gottes und die Wahrhaftigkeit seines Wortes bekräftigt, ähnlich wie es schon durch die Rezeption der Prophetie intendiert ist. Gegen allen Zweifel und mithilfe der tradierten Worte wird neues Heil von Zion verkündet, dessen Ziel der Lobpreis Jerusalems ist. Dabei ist aber nur am Rande eine eschatologische Zukunft im Blick, vielmehr wird die Wende der Zeiten im Jetzt und Hier erwartet und preisend vergegenwärtigt. Was in der Prophetie noch Zukunftsperspektive ist, erscheint im Hymnus bereits als Gegenwart und ist Gegenstand des Lobes von Ps 147. Was in der Prophetie noch erwartet wird (vgl. Joel 2,26), wird im Psalm schon umgesetzt. Ps 147 nimmt in seiner Reflexion über das Loben Jhwhs und die Verlässlichkeit des Wortes Gottes insbesondere die neue Heilszeit Jerusalems in den Blick. Zion wird dabei neu zum Ort des Heils und der Gegenwart Gottes. Die gnädige Zuwendung Jhwhs konkretisiert sich für den Psalmisten in der Restitution Jerusalems als neuem Lebensort für die Demütigen und Jhwh-Fürchtigen (V. 2–6.12–14) sowie in der exklusiven Wortoffenbarung an Jakob-Israel (V. 15–20). Im Hymnus erhält jede Ankündigung der Schrift bereits jetzt ihre Gültigkeit, und zugleich bietet die Schriftüberlieferung die Grundlage für das bereits jetzt erfolgende hoffnungsvolle Lob Jhwhs.

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Der gerechte König Überlegungen zum Zusammenhang von Königspsalmen und Jhwh-König-Psalmen Markus Saur 1. Einführung Die Vorstellungen von Königtum und Königsherrschaft spielen im Psalter eine tragende Rolle. Die mit König und Königtum verbundenen „geprägten Sachgehalte“1 bilden ein Ensemble von Zeichen und Bedeutungen, das als Tradition bezeichnet werden kann. Diese Königstradition wird im Psalter wie auch im Alten Testament insgesamt unterschiedlich ausgestaltet und ist daher zum einen auf ihre Traditionsgeschichte und zum anderen auf ihre Trägergruppen hin zu befragen. Am deutlichsten verdichtet sich die Königstradition oder besser: verdichten sich die Königstraditionen innerhalb des Psalters in zwei Psalmengruppen, die einerseits deutlich voneinander unterschieden werden müssen, die andererseits aber doch auch deutlich aufeinander bezogen sind. Auf der einen Seite finden sich in allen fünf Büchern des Psalters sogenannte Königspsalmen, also Psalmen, in denen das Königtum auf dem bestehenden, dem zerstörten oder dem erhofften Thron (Davids) auf die eine oder andere Weise thematisiert wird.2 Auf der anderen Seite ist der Psalter zentral bestimmt vom Topos der Königsherrschaft Jhwhs, die vor allem, aber nicht nur in den sogenannten Jhwh-König-Psalmen verhandelt wird.3 Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Psalmengruppen finden sich bereits auf lexematischer Ebene: Abgeleitet von der Wurzel ‫מלך‬,4 die insbesondere die Jhwh-König-Psalmen bestimmt,5 finden sich die Lexeme ‫ מלך‬und ‫ מלכות‬in beiden Psalmengruppen und prägen das semantische Feld.6 Wo vom Königtum auf dem Thron Davids in Jerusalem die Rede ist, ist 1 

149.

Zu diesem Begriff und zur traditionsgeschichtlichen Fragestellung vgl. Steck, Exegese, 126–

2  Vgl. dazu Eaton, Kingship, und Saur, Königspsalmen. Zu den religionsgeschichtlichen Kontexten vgl. Salo, Königsideologie. 3 Vgl. dazu Jeremias, Königtum, und Leuenberger, Konzeptionen. Zu den religionsgeschichtlichen Hintergründen vgl. Müller, Jahwe, insb. 244–248. 4  Zu Lexematik und Semantik vgl. grundlegend Ringgren/​Seybold/​Fabry, Art. ‫מֶ לֶ ְך‬. 5  Vgl. Ps 47,9; 93,1; 96,10; 97,1; 99,1; 146,10. 6  Vgl. für das Lexem ‫ מלך‬u. a. Ps 2,2.6.10; 18,51; 20,10; 21,2.8; 24,7–10; 45,2.6.10.12.14–16; 47,3.7–

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zugleich der Vorstellungshintergrund des Königtums Jhwhs präsent – und wo vom Königtum Jhwhs gehandelt wird, werden über die geprägte Begrifflichkeit zugleich auch Theologumena aus dem Umfeld des Jerusalemer Königtums eingespielt. Diese These geht davon aus, dass geprägte lexematische Ensembles semantische Räume konstitutieren. Julia Kristeva spricht in ihrem Aufsatz „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“ von 1967, in dem sie – ausgehend von Mikhail Bakhtins Studien – den Begriff der Intertextualität in die sprach- und literaturwissenschaftliche Debatte einführt, von einem „Mosaik von Zitaten“, aus dem jeder Text sich konstruiere: „[T]out texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double. Ainsi le statut du mot comme unité minima du texte s’avère être le médiateur qui relie le modèle structural à l’environnement culturel (historique), de même que le régulateur de la mutation de la diachronie en synchronie (en structure littéraire). Par la notion même de statut, le mot est mis en espace: il fonctionne dans trois dimensions (sujet-destinataire-contexte) comme un ensemble d’éléments sémiques en dialogue ou comme un ensemble d’éléments ambivalents.“7

Dass sich poetische Sprache mindestens doppelt lesen lässt und dass die Worte eines Textes in einem dialogischen und ambivalenten Prozess der Konstitution von Bedeutung oder sogar Sinn begriffen sind, sind für die Interpretation von Texten elementare Einsichten, die auch bei der Exegese alttestamentlicher Texte weiterführende Horizonte erschließen. Dabei können sich durchaus unterschiedliche Texte in demselben durch Worte oder Lexeme konstituierten Bedeutungsraum befinden. Die Dialogizität und Ambivalenz der Lexematik führt dann allerdings dazu, dass die gleichzeitige Verortung von Texten in sich entsprechenden semantischen Räumen die Verstehenshorizonte dieser Texte wechselseitig beeinflusst und ihr Referenz- und Bedeutungsrahmen im Rezeptions- und Auslegungsprozess transformiert und erweitert wird. Einfacher und im Blick auf das Thema gesagt: Wer mit ähnlicher Begrifflichkeit vom irdischen wie vom himmlischen bzw. vom menschlichen wie vom göttlichen Königtum spricht, schafft über die gemeinsame Sprache eine konzeptionelle Durchlässigkeit zwischen den beiden Formen der Rede vom Königtum. Die Unschärfe, die hier erzeugt wird, ist dabei insbesondere auf ihre Leistungsfähigkeit hin zu befragen: Das 8; 72,1.10–11; 89,19; 95,3; 98,6; 99,4; 145,1; 149,2; für das Lexem ‫ מלכות‬vgl. Ps 45,7; 103,19; 145,11–13; das Lexem ‫ ממלכה‬wird nur mit Bezug auf fremde Königreiche in Ps 46,7; 68,33; 79,6; 102,23; 105,13; 135,11 verwendet. 7  Kristeva, Bakhtine, 440–441 [Hervorhebungen im Original]. Im Folgenden wird das von Kristeva entwickelte breitere Verständnis von Intertextualität zugrunde gelegt, weil es hier nicht nur um Bezüge zwischen verschiedenen literarischen Darstellungen von Königtum gehen soll, sondern um die hinter den literarischen Gestaltungen liegenden semantischen Räume, die ihrerseits immer auch über die literarische Ebene hinaus verweisen. Diesen Bezug auf metaliterarische Kommunikationsräume hat Kristeva deutlich im Blick, wohingegen etwa das Konzept von Genette, Palimpsestes, 7–14, mit seiner Unterscheidung von Intertextualität (verstanden als Zitat, Plagiat oder Allusion bzw. Anspielung), Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität sich vorrangig auf der literarischen Ebene bewegt. Vgl. zu diesem Problemfeld insgesamt Fauser, Einführung, 139– 157, und Kynes, Psalm, 13–60.



Der gerechte König121

Reden vom irdischen und vom himmlischen bzw. vom menschlichen und vom göttlichen Königtum in einem gemeinsamen semantischen Raum bewirkt in seiner Pragmatik eine Vermittlung zwischen davidischem Königtum auf der einen und Königsherrschaft Jhwhs auf der anderen Seite. Die Texte in ihren Kontexten bzw. in ihrer Intertextualität legen vor allem die Frage nach dem Nebeneinander, dem Miteinander und dem Ineinander der beiden Königtumsformen nahe. Das Königtum in den Königspsalmen und in den Jhwh-König-Psalmen kann daher nur dann sachgemäß verstanden werden, wenn man die doppelte Königstradition breiter kontextualisiert und in ihr die Spuren einer theologischen Diskussion um die Bestimmung des Verhältnisses von Königsherrschaft Jhwhs und Königtum auf dem Thron Davids sieht. Um diesen zentralen Diskussionspunkt der nachexilischen Theologiegeschichte innerhalb des Psalters genauer profilieren zu können, ist ein Umweg über einige prophetische Texte nötig, deren Profil dazu beitragen kann, das Neben-, Mit- und Ineinander der doppelten Konzeption des Königtums im Psalter angemessen einzuordnen.

2. Herrschaft Davids und Herrschaft Jhwhs in prophetischen Konzeptionen Es ist weitgehend unbestritten, dass die Komposition des Psalters in nachexilischer Zeit erfolgte. Für einen Vergleich zwischen dem Psalter und prophetischen Konzeptionen legt es sich daher nahe, ein besonderes Augenmerk auf exilisch-nachexilische Prophetentexte zu richten. Ein erstes Beispiel aus dem Michabuch hat seinen literatur- und theologiegeschichtlichen Ort in den mehrschichtigen Fortschreibungen des Michabuches in (nach-)exilischer Zeit.8 In Mi 2,12–13 wird das Nebeneinander von Königtum und Königtum Jhwhs in einer bemerkenswerten literarischen Verdichtung greifbar. Mi 2,12 13

Sammeln, sammeln werde ich dich, Jakob, insgesamt, zusammenbringen, zusammenbringen werde ich den Rest Israels, ich werde sie zusammenführen wie Schafe im Pferch, wie eine Herde auf ihrer Trift – ein Tosen von Menschen. Es zog der Durchbrecher vor ihnen hinauf, sie durchbrachen und zogen vorüber – ein Tor, sie zogen durch es hindurch. Und es schritt ihr König vor ihnen her – und Jhwh an ihrer Spitze.

V. 12 setzt eine Situation der Zerstreuung voraus, die den Text mindestens als exilische, möglicherweise sogar als nachexilische Stimme innerhalb des Michabuches ausweist. Der Gedanke eines Restes Israels in der ersten Vershälfte steht in gewisser Span8 

156.

Vgl. dazu die Ausführungen von Kessler, Micha, 136–143, und Jeremias, Propheten, 154–

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nung zu der offenkundig großen Menschenmenge, die die zweite Vershälfte bestimmt. In V. 13 ist zunächst von einem „Durchbrecher“ die Rede, dann von „ihrem König“ und zuletzt von Jhwh: Der König schreitet – im Verbalsatz – voran, Jhwh steht – im Nominalsatz – an ihrer Spitze. Versteht man Jhwh als epexegetische Erschließung des „Königs“, steht hier einer an der Spitze des Volkes.9 Der Text lässt aber auch eine Lesart zu, derzufolge zunächst der König und dann auch noch Jhwh dem Volk vorangehen bzw. ihm vorstehen.10 Hier könnte sich eine Zuordnung der Führung durch einen König auf der einen Seite und der Herrschaft durch Jhwh auf der anderen Seite spiegeln; das Verhältnis zwischen König und Jhwh wird nicht genauer bestimmt. Erkennbar ist aber, dass in nachexilischer Zeit neben der Herrschaft Jhwhs mit einer führenden Königsgestalt gerechnet wird. Eine gleichermaßen komplexe Textkonstellation findet sich in Sach 9,1–10. Während in Sach 9,1–8 von Jhwh bzw. seinem Wort die Rede ist, das die syro-palästinische Landbrücke Alexander dem Großen gleich durchschreitet und damit Jhwh als bestimmende Macht ausweist,11 wird in Sach 9,9–10 dieser Macht Jhwhs ein offenkundig irdischer König zugeordnet, der einerseits als demütiger Herrscher gezeichnet wird, der andererseits aber eine umfassende Herrschaft ausüben soll.12 Sach 9,9 Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem, siehe, dein König kommt zu dir, gerecht ist er und lässt sich helfen, demütig ist er und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, einem Eselsfohlen. 10 Und ich werde ausrotten den Streitwagen aus Efraim und das Pferd aus Jerusalem. Und der Kriegsbogen wird ausgerottet werden. Und er redet Frieden zu den Völkern. Und sein Herrschen reicht von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der  [Erde.

Bemerkenswert ist hier insbesondere V. 10. Zu Beginn wird aus der Perspektive der 1. Person – wohl im Anschluss an V. 7–8 – die Ausrottung von Streitwagen und Pferd angekündigt, die dann folgende Wendung ‫ ונכרתה קשׁת מלחמה‬bleibt aufgrund der Nif῾alform ambivalent und am Ende des Verses wird in 3. Person vom angekündigten 9  So etwa Kessler, Micha, 142, und Jeremias, Propheten, 155–156. Ob man das ‫ ו‬zu Beginn von ‫ ויהוה בראשׁם‬aber unübersetzt lassen (so Kessler, Micha, 136) oder mit „ja“ wiedergeben sollte (so Jeremias, Propheten, 146), bleibt zu fragen – näher liegt in jedem Fall die koordinierende Übersetzung mit „und“. 10  Vgl. dazu Gressmann, Messias, 211–212, demzufolge der Text zeigt, „daß der göttliche König den irdischen keineswegs ausschließt; es ist kein Grund vorhanden, unter dem ausdrücklich genannten König Jahve zu verstehen, da beide auch sonst nebeneinander erwähnt werden“ [Hervorhebung im Original]. Wöhrle, Sammlungen, 152, versteht ‫ ויהוה בראשׁם‬als „Zusatz“: „Mit dem zuvor genannten König wäre dann also ursprünglich nicht Jhwh, sondern der König des Volkes gemeint, wobei dessen Auszug insgesamt in die Szenerie von Mi 2,12–13 paßt, wenn es denn als Gerichtswort verstanden wird.“ 11  Vgl. dazu Saur, Gegenwart, 77–84, und umfassend Willi-Plein, Deuterosacharja, 15–52. 12  Zu Sach 9,9–10 vgl. Willi-Plein, Deuterosacharja, 53–76.



Der gerechte König123

König geredet, der nach V. 9 als gerechter König Zions und Jerusalems zu verstehen ist. Dieses angekündigte Jerusalemer Königtum wird eng mit der Herrschaft Jhwhs, die V. 1–8, aber auch V. 10a prägt, verknüpft. Der erwartete König wirkt ganz im Horizont der Herrschaft Jhwhs, die ihrerseits aber offenkundig auf diesen König nicht verzichten kann: Die Herrschaft Jhwhs vollendet sich erst in der Herrschaft des Königs auf dem Zion.13 Dass insbesondere der Königspsalm Ps 72 in der Fortschreibung V. 8–11 intertextuell mit Sach 9,9–10 verbunden ist,14 weist mindestens darauf hin, dass den Trägergruppen des Psalters dieses im Modus der Erwartung gestaltete Konzept einer Verbindung der Herrschaft Jhwhs mit der Herrschaft eines Königs in Jerusalem nicht fremd war. In Ez 34 wird diese Konstellation noch deutlicher profiliert. Auch wenn hier nicht explizit Begriffe aus dem lexematischen Umfeld von ‫ מלך‬Verwendung finden, wird doch implizit das Thema „Herrschaft“ verhandelt. Nach einer umfassenden Kritik an der fehlgeleiteten Herrschaft der falschen Hirten kündigt Jhwh in einer geschlossenen Einheit in V. 11–15 an, dass er selbst als Hirte über seine Schafe herrschen wird: Ez 34,11 12 13 14 15

Ja, so spricht der Herr, Jhwh: Siehe, ich selbst, ich werde fragen nach meinen Schafen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirte sich um seine Herde kümmert am Tag, da er inmitten seiner Schafe ist, die zerstreut worden sind, so werde ich mich kümmern um meine Schafe, und ich werde sie retten aus allen Orten, an die sie zerstreut worden sind am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den Völkern und sie sammeln aus den Ländern und ich werde sie bringen auf ihren Boden, und ich werde sie weiden auf den Bergen Israels, an den Flussbetten und an allen Wohnorten des Landes. Auf guter Weide werde ich sie weiden, und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein; dort werden sie lagern auf gutem Weideplatz und auf fetter Weide werden sie weiden auf den Bergen Israels. Ich selbst werde meine Schafe weiden und ich selbst werde sie lagern lassen! Spruch des Herrn, Jhwhs.

Diese Argumentationslinie wird in V. 16–22 weiter ausgezogen, bevor der Gedankengang in V. 23–24 signifikant um einen Knecht David erweitert wird: 13  Vgl. dazu Willi-Plein, Deuterosacharja, 71: „,Wer ist nun unser König?‘ – Auf eine solche ratlose Frage antwortet, freilich in ganz ungewöhnlicher Form und mit einer noch ungewöhnlicheren Botschaft, unser Text. Er tut es in der Form des Heroldsrufes, der Gottes Kommen erwarten lässt, aber er spricht gerade in dieser Form von einem irdischen König, wie er allein als neuer, von Gott autorisierter König über Jerusalem gelten kann.“ 14  Vgl. dazu Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 322–324.

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Markus Saur

23 Und ich werde über sie einen Hirten auftreten lassen und er wird sie weiden: meinen Knecht David. Er wird sie weiden und er wird ihnen Hirte sein. 24 Und ich, Jhwh, werde ihnen Gott sein, und mein Knecht David wird Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, Jhwh, habe geredet.



Noch einmal: Der Text gebraucht die mit ‫ מלך‬verbundene Begrifflichkeit nicht. Das in beiden Passagen verwendete Hirtenbild verbindet allerdings die Ebene göttlicher und die Ebene davidischer Herrschaft: Beide sind als aufeinander bezogen zu verstehen.15 Versteht man V. 23–24 als integralen Bestandteil von Ez 34, prägt diese Vorstellung einer Zuordnung beider Herrschaften den gesamten Text bereits von Anfang an; deutet man V. 23–24 als eine Fortschreibung, würde damit die Stimme einer Trägergruppe laut, die den zunächst dominierenden Akzent auf der Herrschaft Jhwhs durch eine davidisch-königliche Signatur bricht und eigenständig profiliert.16 Erkennbar wird in jedem Fall, dass in nachexilischer Zeit um das Verständnis der Zuordnung von davidisch-königlicher Herrschaft und Herrschaft Jhwhs gerungen wird. Eine Analyse des Psalters kann in diesem Zusammenhang zu weiteren Einsichten in die nachexilische Theologiegeschichte führen. Denn das in der Prophetie bezeugte Neben-, Mit- und Ineinander von Jhwh-König-Vorstellungen und davidisch-messianischen Erwartungen bestimmt auch den Psalter und wird hier in unterschiedlicher Weise ausgestaltet.

15  Anja

Klein interpretiert Ez 34,23–24* als eine Fortschreibung, mit der „die Einsetzung des davidischen Hirten in das Kapitel eingetragen wird. Der Text reflektiert auf diese Weise eine andere Konzeption der Heilszeit, insofern nicht Jhwh, sondern der Knecht David der eine Hirte für das Volk sein wird.“ (Klein, Schriftauslegung, 57–58). Demgegenüber erhebt sich nach Zimmerli, Ezechiel 25–48, 843, die Frage, „wie dieses kommende Herrschertum eines Menschen mit dem Herrschertum Jahwes zu verbinden sei. Der abschließend zusammenfassende 24 will diese Frage beantworten. … ‚Jahwe ihr Gott und David ihr König‘.“ Aufgrund der vorliegenden Textkonstellation bleibt tatsächlich zu bedenken, wie die fortschreibenden Redaktoren, die hinter Ez 34 stehen, das Verhältnis zwischen Jhwh und David bestimmt sehen wollen – Fortschreibungen im Ezechielbuch zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie die jeweils vorangehenden Ausführungen nicht obsolet machen, sondern deren Anliegen weiter entwickeln. Man muss daher davon ausgehen, dass in Ez 34 die Vision einer Herrschaft Jhwhs in Verbindung mit der Herrschaft eines wie auch immer zu verstehenden davididischen Königs konzeptualisiert wird. 16  Vgl. dazu Pohlmann, Buch, 468–469: „Nachdem zuvor von der Ablösung der verantwortungslosen Hirten und der Übernahme des Hirtenamtes durch Jahwe selbst die Rede gewesen ist und sich somit hier die Erwartung einer künftig uneingeschränkten Theokratie im Lande artikuliert hat, äußert sich in V. 23–24 eine Stimme, die auf die Restitution der Daviddynastie hofft und auch im Vorausblick auf Ez 37,25 ff. einen Hinweis auf den künftigen Stellenwert der Davididen für wichtig hält. Offensichtlich war in nachexilischer Zeit offen oder gar umstritten, welche ‚Verfassung‘ für Juda und Jerusalem maßgeblich sein sollte.“



Der gerechte König125

3. Der gerechte König (David) und der gerechte König Jhwh im Psalter Auf der Ebene des Textmaterials der Königspsalmen und der Jhwh-König-Psalmen gibt es insbesondere im Blick auf die Gerechtigkeit (‫)צדק‬,17 das Gerechtigkeitshandeln (‫)צדקה‬18 und das Recht (‫)משׁפט‬19 des Königs sprachliche Überschneidungen, die sich aus dem gemeinsamen lexematischen Feld bzw. dem gemeinsamen semantischen Raum erklären, in dem die Königstradition steht. Der für die Komposition des Psalters besonders wichtige Königspsalm Ps 72 stellt den Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Ebene innerhalb der Königstradition in seinen ersten Versen deutlich heraus. Hier heißt es in V. 1: Ps 72,1 Für Salomo. Gott, dein Recht (‫ )משׁפטיך‬gib dem König und dein Gerechtigkeitshandeln (‫ )וצדקתך‬dem Königssohn.

Recht und Gerechtigkeitshandeln sind demnach Gott zu eigen. Gott wird nun aber aufgefordert, dieses Eigene dem König zu übergeben.20 Dem König wird damit gewünscht, einen Anteil an dem zu bekommen, was Gott auszeichnet. Dass mit den Topoi „Recht“ und „Gerechtigkeitshandeln“ nicht nur juridische Dimensionen im engeren Sinne im Blick sind, sondern vielmehr eine umfassende Verantwortung für die Ordnung der Welt impliziert wird, zeigt sich im unmittelbar folgenden V. 2: Ps 72,2 Er richte (‫ )ידין‬dein Volk in Gerechtigkeit (‫)בצדק‬ und deine Elenden in Recht (‫)במשׁפט‬.

Mit ‫ צדק‬fällt hier der zentrale Leitbegriff für das umfassende Ordnungsdenken, in dessen Horizont die Herrschaft des Königs stehen soll.21 Mit der lexematischen Trias 17  Vgl. zu ‫ צדק‬Michel, Begriffsuntersuchung, 17: „‫ צֶ ֶדק‬ist eine Schwundstufenbildung nach der Form qitl.“ ‫ צֶ ֶדק‬als Verbalabstraktiv wäre „also die ‚Als-Gerecht-Dastehung‘ oder die ‚Sich-als-Ge˙ recht-Erweisung‘. Sicherlich sind dies gräßliche Wortungetüme, aber sie können doch klarmachen, daß die übliche Übersetzung ‚Gerechtigkeit‘, die ja ein Eigenschaftsabstraktiv ist, den im Hebräischen auch mitschwingenden verbalen Klang nicht ausdrückt.“ (Michel, Begriffsuntersuchung, 18). 18  Vgl. dazu Gulkowitsch, Bildung, 50: „Bei der Gruppe der guten, (schlechten) bzw. törichten Handlungsweise, d. i. ‫צֶ ֶדק‬, ‫ ֶרׁשַ ע‬usw. wird in allen Fällen auch das Femininum gebildet, das dann im Gegensatz zum Maskulinum mehr die Einzelhandlung, den individuellen Vorgang im Gegensatz zur Handlungsweise bzw. dem Verhalten bezeichnet. Genau genommen hat danach das Femininum keine Abstraktbedeutung mehr, sondern ist reines nomen actionis.“ Michel schlägt dementsprechend vor, ‫ צֶ ֶדק‬mit „Rechterweisung“ und ‫ ְצ ָדקָ ה‬mit „Rechterweisungstat“ zu übersetzen – das soll „keine schöne, sondern eine sachgemäße Wiedergabe sein.“ (Michel, Begriffsuntersuchung, 110–111). Im Anschluss daran soll hier ‫ צדק‬zwar mit „Gerechtigkeit“ übersetzt werden, ‫ צדקה‬wird aber mit „Gerechtigkeitshandeln“ wiedergegeben, um den mit dem Lexem verbundenen Handlungsaspekt hervortreten zu lassen. 19  Vgl. zur Wurzel ‫ שׁפט‬umfassend Niehr, Herrschen. 20  Vgl. dazu Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 317–320. 21 Nach Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 320, ist ‫„ צדק‬das Ideal eines Zusammenlebens, das dem einzelnen das Optimum seiner Lebenserfüllung schenkt. Sie ist eine Leitvorstellung, die zu-

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Markus Saur

‫צדק‬, ‫ צדקה‬und ‫ משׁפט‬wird in Ps 72,1–2 das konzeptionelle Feld abgesteckt, in dem sich Gott bzw. Jhwh und der König gleichermaßen bewegen und innerhalb dessen der Handlungs- und Verantwortungsbereich dem König von Jhwh her zugeteilt wird, Jhwh also als Souverän erscheint, der allerdings zugleich die Souveränität des Königs begründet.

3.1 ‫צדק‬ Verfolgt man zunächst das Lexem ‫ צדק‬innerhalb der Königspsalmen und der JhwhKönig-Psalmen, ist diese Nähe zwischen Jhwh und dem König durchgehend zu erkennen. So wird in Ps 18 der Zusammenhang zwischen dem ‫ צדק‬des betenden Königs und dem Handeln Jhwhs am König herausgestellt:22 Ps 18,21 Es handelt an mir Jhwh meiner Gerechtigkeit entsprechend (‫)כצדקי‬, der Reinheit meiner Hände entsprechend vergilt er mir. … 25 Jhwh vergalt mir meiner Gerechtigkeit entsprechend (‫)כצדקי‬, der Reinheit meiner Hände entsprechend vor seinen Augen.

Der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen des Königs wird durch Jhwhs ‫שׁוב‬-Handeln sichergestellt. Grundlage ist dabei der ‫צדק‬, in dem sich das Handeln des Königs und das entsprechende Handeln Jhwhs verdichten. Wo von der Gerechtigkeit des Königs die Rede ist, steht die von Jhwh gewährleistete und gesicherte Gerechtigkeit im Hintergrund. Ps 18 spricht daher nicht nur von der Gerechtigkeit des Königs, sondern auch von der Gerechtigkeit Jhwhs: Im ‫ צדק‬sind Jhwh und der König miteinander verbunden. Diese Nähe zwischen göttlicher und menschlicher Ebene wird besonders dicht in Ps 45 ausgestaltet.23 Hier heißt es in V. 5–8: Ps 45,5 6 7 8

Und in deiner Pracht sei erfolgreich, reite auf Wahrheit und Demut, [und] Gerechtigkeit (‫)רכב על דבר אמת וענוה צדק‬. Es lehre dich Furchterregendes deine Rechte. Deine gespitzten Pfeile – Völker fallen unter dich! – in das Herz der Feinde des Königs! Dein Thron, Gott, stehe immer und ewig, ein Szepter des Rechten sei das Szepter deines Königtums. Du liebtest Gerechtigkeit (‫ )צדק‬und hasstest Frevel. Darum hat dich gesalbt Gott, dein Gott, mit Freudenöl vor deinen Gefährten.

gleich das Wohlergehen des Ganzen im Blick hat. … Als Instrument der göttlichen Gerechtigkeit soll der ideale König dafür Sorge tragen, daß die Armen und Besitzlosen als Mitglieder des Gottesvolkes nicht nur nicht Opfer des Unrechts, sondern ebenso nicht Opfer des Rechts werden.“ 22  Zu den redaktions- und theologiegeschichtlichen Problemen von Ps 18 vgl. Saur, Königspsalmen, 47–79, und Müller, Jahwe, 18–42. 23  Zur Entstehungs- und Kompositionsgeschichte von Ps 45 vgl. Saur, Königspsalmen, 113–131.



Der gerechte König127

V. 5 zufolge bewegt sich der König in Wahrheit, Demut und Gerechtigkeit. In V. 7 wird der König mit dem Vokativ ‫ אלהים‬angesprochen und in V. 8a seine Liebe zur Gerechtigkeit und seine Ablehnung des Frevels herausgestellt. Diese Haltung begründet V. 8b zufolge (‫ )על כן‬die Salbung des Königs durch Gott. Erneut wird das Lexem ‫ אלהים‬verwendet, hier nun auf Gott bezogen und durch die nachgestellte suffigierte Form ‫ אלהיך‬noch verstärkt. Mit ‫ אלהים‬wird in Ps 45 demnach der König angesprochen24 und zugleich Gott prädiziert. Die Gerechtigkeit des Königs als Tat hat die Salbung durch Gott zur Folge. Tat und Folge stehen in einem Konnex, das Fundament des Konnexes ist die Liebe des Königs zum ‫צדק‬. Die hier greifbare Verhältnisbestimmung zwischen König und Gott bewegt sich in einem differenzierten Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz. Die Souveränität Jhwhs, die das Verhältnis zwischen Jhwh und dem König bestimmt, wird vor allem in den Jhwh-König-Psalmen begründet. Bemerkenswert ist hier allerdings eine Entsprechung zwischen dem Königspsalm Ps 89 und dem JhwhKönig-Psalm Ps 97. In Ps 89,15 wird Jhwh direkt angeredet: Ps 89,15 Gerechtigkeit und Recht sind die Stütze deines Thrones (‫)צדק ומשׁפט מכון כסאך‬, Barmherzigkeit und Wahrheit stehen vor deinem Angesicht.

Und in Ps 97,2 ist über Jhwh zu lesen: Ps 97,2

Gewölk und Wolkendunkel ist rings um ihn her, Gerechtigkeit und Recht sind die Stütze seines Thrones (‫)צדק ומשׁפט מכון כסאו‬.

In Ps 89,15 wird angesichts der Zweifel an der Gerechtigkeit Jhwhs im Blick auf den Untergang der davidischen Dynastie Jhwhs ‫ צדק‬als Fundament seiner Herrschaft angeführt. Diese Vorstellung findet sich in nahezu wörtlicher Entsprechung in Ps 97,2 wieder, denn auch hier werden Gerechtigkeit und Recht als Stütze des Thrones Jhwhs verstanden. Die Gerechtigkeit, die Jhwh mit dem König teilt, wird hier in einem weiten Raum verortet: Während Ps 89,15 im Kontext des Chaoskampfes steht,25 führen die Bilder vom Gewölk und Wolkendunkel in Ps 97,2 in den Bereich der himmlischen Sphäre.26 Das wird im weiteren Verlauf des Psalms in Ps 97,6 aufgegriffen: Ps 97,6

Es verkünden die Himmel seine Gerechtigkeit (‫)צדקו‬, und es schauen alle Völker seine Herrlichkeit.

Die Himmel sind das Subjekt der Verkündigung des ‫ צדק‬und die Völkerwelt ist Betrachter der Herrlichkeit Jhwhs. ‫ צדק‬wird hier kosmologisch und universal gefasst.27 Mit der Vorstellung der in ‫ צדק‬begründeten Herrschaft Jhwhs liegt ein geprägtes Theologumenon vor, das in unterschiedlicher Gestalt in den beiden Psalmen Ps 89 24 

Vgl. zu den religionsgeschichtlichen Entsprechungen Salo, Königsideologie, 173–194. Vgl. dazu Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 591. 26 Vgl. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 678–681, die die sinai- und zionstheologischen Aspekte der Rede von „Gewölk und Wolkendunkel“ herausarbeiten. 27 Vgl. Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 682. 25 

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Markus Saur

und 97 Verwendung findet, aber trotz unterschiedlicher Kontextualisierungen eine Verbindung zwischen den Königspsalmen und den Jhwh-König-Psalmen schafft. Die kosmologischen und universalen Dimensionen des Königtums Jhwhs sind für die Jhwh-König-Psalmen ein leitendes Theologumenon. Das ist auch für das Verständnis des ‫ צדק‬von Bedeutung. So ist in Ps 96,12–13 zu lesen: Ps 96,12 Es frohlocke das Feld und alles, was es trägt; dann sollen jubeln alle Bäume des Waldes 13 vor Jhwh, denn er kommt, denn er kommt, zu richten die Erde; er richtet den Erdkreis in Gerechtigkeit (‫)ישׁפט תבל בצדק‬ und die Völker in seiner Treue.

Wenn hier in V. 13 vom Richten der Erde und des Erdkreises ‫ בצדק‬die Rede ist, dann geht es nicht um Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit im engeren Sinne, sondern dann geht es um das Ausrichten und Ordnen des Erdkreises an den Maßstäben des ‫ צדק‬in kosmologischen Dimensionen. Dieses Richten bezieht sich V. 13b zufolge nicht nur auf den Erdkreis, sondern auch auf die Völker, denen Jhwhs Treue zugute kommt. Was in Ps 72,2 mit der Wurzel ‫ דין‬im Blick auf das Richten des Königs ausgeführt wird, hat sein Fundament im umfassenden ‫שׁפט‬-Handeln Jhwhs. Ps 98,9 formuliert nahezu übereinstimmend mit Ps 96,13: Ps 98,8 Ströme klatschen in die Hand, gemeinsam jubeln Berge 9 vor Jhwh, denn er kommt, zu richten die Erde; er richtet den Erdkreis in Gerechtigkeit (‫)ישׁפט תבל בצדק‬ und die Völker in Geradheit.

Dass hier am Ende von V. 9 – anstelle des ‫ באמונתו‬aus Ps 96,13 – ‫ במישׁרים‬steht, reicht konzeptionell noch näher an ‫ צדק‬und ‫ שׁפט‬heran: Es ist das Begradigungshandeln Jhwhs, das sein richtendes Wirken bestimmt28 und das den Erdkreis und die Völkerwelt gleichermaßen umfasst.29 3.2 ‫צדקה‬ Neben dem Abstraktbegriff ‫ צדק‬wird mit dem korrespondierenden Lexem ‫ צדקה‬als einem nomen unitatis oder actionis der Handlungsaspekt in besonderer Weise hervorgehoben.30 Auch im Blick auf ‫ צדקה‬bzw. das „Gerechtigkeitshandeln“ lassen sich Verbindungen zwischen den Königspsalmen und den Jhwh-König-Psalmen erkennen. Im bereits erwähnten Ps 72 wird in V. 1 ja explizit nicht von ‫צדק‬, sondern von ‫ צדקה‬als dem gesprochen, was Gott dem König übergeben soll. Ps 72,3 greift das Lexem ‫צדקה‬ dann mit Blick auf die Hügel noch einmal auf: 28  Vgl. zu Ps 98,9 besonders Leuenberger, Konzeptionen, 161–162, der das Gerichtshandeln Jhwhs im Horizont des Wiederherstellens der Ordnung versteht. 29  Jes 9,6; 11,4 bieten möglicherweise intertextuelle Entsprechungen zu diesem Wirken Jhwhs, wobei die prophetischen Texte die Herrschaft auf dem Thron Davids adressieren. 30  Vgl. dazu oben Anm. 18.



Der gerechte König129

Ps 72,3

Es mögen tragen die Berge Frieden für das Volk und die Hügel (in) Gerechtigkeitshandeln (‫)בצדקה‬.

Frieden für das Volk und Gerechtigkeitshandeln auf den Hügeln sind die unmittelbaren Folgen des ‫צדק‬, in dessen Horizont der König nach V. 2 richtet. Mit ‫ לעם‬wird unterstrichen, dass Frieden und Gerechtigkeitshandeln nicht nur auf Bergen und Hügeln und damit sozial losgelöst herrschen, sondern zentral auf die soziale Gemeinschaft bezogen sind, was ja auch für V. 2 grundlegend ist. Dass Gerechtigkeitshandeln nicht nur auf Bergen und Hügeln bestimmend ist, sondern im Gerechtigkeitshandeln vor allem das Wohl des Volkes begründet liegt, zeigt – Ps 72,2–3 entsprechend – auch Ps 89,17. Nach den Ausführungen zur Verankerung der Herrschaft Jhwhs in ‫ צדק ומשׁפט‬in V. 15 heißt es in V. 17 vom Volk: Ps 89,17 In deinem Namen jubeln sie jeden Tag und in deinem Gerechtigkeitshandeln (‫ )ובצדקתך‬erheben sie sich.

Der Aspekt des alltäglichen Richtens der Erde klingt in der Wendung ‫ כל היום‬mit an. Dieses andauernde Gerechtigkeitshandeln Jhwhs begründet die Erhebung und hohe Stellung des Volkes. ‫ צדקה‬hat demnach eine grundlegend soziale Dimension, die nach V. 19 auch den König umfasst, von dem bekannt wird: Ps 89,19 Ja, Jhwh gehört unser Schild, dem Heiligen Israels unser König (‫)מלכנו‬.

Der von Jhwh abhängige König wird in der Sprachform des Bekenntnisses in den Raum des göttlichen Gerechtigkeitshandelns mit hineingenommen, auch wenn sein in Ps 89 beklagtes Schicksal eher vermuten ließe, dass er aus diesem Bereich der göttlichen ‫ צדקה‬herausgefallen sei. Ps 89 ist aber im beklagten Untergang der davidischen Dynastie getragen vom Vertrauen in Jhwhs ‫ צדק‬und ‫צדקה‬ – und zwar auch gegen allen äußeren Anschein. In Ps 98,2 wird die soziale Dimension des göttlichen Gerechtigkeitshandelns, die in Ps 72,2–3 und Ps 89,17 entwickelt wird, in universaler Perspektive entfaltet: Ps 98,2

Kundgetan hat Jhwh seine Hilfe, vor den Augen der Völker offenbart sein Gerechtigkeitshandeln (‫)צדקתו‬.

Die Treue zu Israel, die in Ps 98,3 betont wird, hindert Jhwh nicht daran, sein Gerechtigkeitshandeln auf den gesamten Erdkreis auszuweiten. In den Königspsalmen ist ein solcher Herrschaftsradius des Königs noch am ehesten in Ps 2,8 und Ps 72,8– 11 zu finden, bleibt dort aber deutlich hinter der in Ps 98 erwarteten Reichweite der Herrschaft Jhwhs zurück.31 In kosmologischen Dimensionen werden ‫ משׁפט וצדקה‬in Ps 99,4 schöpfungstheologisch fundiert, wie insbesondere die Formen ‫ כוננת‬und ‫ עשׂית‬zeigen: 31  Zur

hier erkennbaren Nähe zu Deuterojesaja vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 161–163, und Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 689.

130 Ps 99,4

Markus Saur

Es ist aber die Stärke des Königs, dass er das Recht liebt (‫)משׁפט אהב‬. Du hast Geradheit begründet (‫)כוננת מישׁרים‬, Recht und Gerechtigkeitshandeln (‫ )משׁפט וצדקה‬in Jakob hast du gemacht (‫)עשׂית‬.

Die kosmologisch-schöpfungstheologische Weite wird durch ‫ ביעקב‬zugleich konkretisiert und auf Jakob bzw. Israel bezogen.32 Eine königstheologische Signatur setzt der Vers zu Beginn in der auffälligen, einem Gleichspruch ähnlichen Wendung ‫ועז מלך‬ ‫משׁפט אהב‬.33 Die Wendung fällt aufgrund der Nominalstruktur und der vergleichsweise emotionalen Lexematik aus dem übrigen Verszusammenhang heraus. Dass mit ‫ מלך‬im Kontext des Jhwh-König-Psalms Jhwh bezeichnet wird, liegt auf der Hand. Die auf formaler und semantischer Ebene erkennbare Sonderstellung der Wendung zu Beginn des Verses ist aber möglicherweise als double34 zu lesen und stellt ein Scharnier innerhalb der Königstraditionen dar, das auf der Ebene des Psalters zu dem König ­hinüberleitet, der in Ps 101 nach der Sammlung der Jhwh-König-Psalmen das Wort ergreift35 und ebenfalls in durchaus emotionaler Sprachform Barmherzigkeit und Recht besingt und für Jhwh spielt: Ps 101,1 Von David. Ein Psalm. Barmherzigkeit und Recht (‫ )חסד ומשׁפט‬will ich besingen, dir, Jhwh, will ich spielen.

Psalterkompositionell sind die Jhwh-König-Psalmen jedenfalls von Ps 89 und Ps 101 her in einen königstheologischen Rahmen eingefasst, der als hermeneutischer Horizont nicht unterbestimmt werden darf: Die Zuordnung von davidischem Königtum auf der einen und Königsherrschaft Jhwhs auf der anderen Seite bleibt auch nach der Reihe der Jhwh-König-Psalmen ein bestimmendes Problem, wie neben Ps 101 ja auch die Königspsalmen Ps 110, Ps 132 und Ps 144 zeigen.

32  Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 691, übersetzen ‫ מישׁרים‬hier mit „(Welt-)Ordnung“ und folgern dann im Blick auf Ps 99,4: „Das Wortpaar macht Jhwh ausdrücklich zum königlichen Gesetzgeber. Damit ist der für Israel charakteristische Prozeß der zunehmenden Theologisierung des Rechts … als ein Spezifikum des biblischen Gottesverständnisses … auf den Punkt gebracht. Die Korrelation der beiden Aussagen über die ‚Weltordnung‘ und über die ‚Rechtsordnungen Israels‘ darf nicht als bloßes Nebeneinander oder Nacheinander verstanden werden, sondern unser Psalm versteht die Rechtsordnungen Israels als ‚Offenbarung‘ der verborgenen Weltordnung – und den Zion als ‚Erfahrungsort‘ dieses Königs der Gerechtigkeit.“ (Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 701–702). 33  Vgl. zur Übersetzung Hossfeld/​Zenger, Psalmen 51–100, 693. 34  So mit Kristeva (siehe oben Anm. 7). 35  Vgl. dazu Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 36: „Nach Klimax und Abschluss der Jhwh-König-Psalmen eröffnet Ps 101 den vierten Davidpsalter und setzt das Thema der vorhergehenden Königspsalmen fort, nämlich die Vermittlung der Königsherrschaft Jhwhs auf Erden.“ Genauer geht Leuenberger, Konzeptionen, 175, auf die in Ps 101 greifbare „Sachlinie ‚Rechtsordnung‘“ ein, die an Ps 93–100 anschließe: „Die einleitende Themaangabe weist unmittelbar nach oben (vgl. ‫ חסד‬direkt vorher 100,5a; ‫ משׁפט‬v. a. 99,4). Es geht also um Jhwhs Rechtsordnung (‫ )משׁפט‬und das dieser entsprechende Treue-Verhalten (‫ ;)חסד‬doch während diese in 93–100 v. a. Jhwhs Ordnung und Handeln beschreiben …, stehen sie hier absolut und werden in den Folgeversen als königliche resp. allgemein menschliche Aufgabe spezifiziert … .“



Der gerechte König131

3.3 ‫משׁפט‬ Blickt man abschließend noch etwas genauer auf ‫משׁפט‬, so kommen erneut Verbindungen zwischen den Königspsalmen und den Jhwh-König-Psalmen in den Blick. Denn dass ‫ צדק‬und ‫ צדקה‬eng mit ‫ משׁפט‬verbunden sind, zeigt sich nicht nur in Ps 72,1–2. So spricht etwa in Ps 18,23 der königliche Beter vom vor ihm stehenden göttlichen Recht: Ps 18,23 Ja, alle seine Rechte (‫ )כל משׁפטיו‬sind vor mir, und seine Satzungen lasse ich nicht weichen von mir.

Dass hier von ‫ משׁפטיו‬die Rede ist und damit das Recht, das dem König gegenüber steht, als Recht Jhwhs ausgewiesen wird, entspricht der engen Verbindung von König und Jhwh, die auch die anderen Königspsalmen prägt, hier aber – wie in Ps 72,1 – über den Begriff ‫ משׁפט‬verdichtet wird. Auch Ps 89 verortet ‫ משׁפט‬im Bereich Jhwhs, einerseits in V. 15 als Stütze seines Thrones, andererseits in V. 31 in der Form von Rechten, die nicht zu befolgen zur Strafe führen würde: Ps 89,31 32 33

Wenn seine Söhne meine Tora verlassen und in meinen Rechten (‫ )ובמשׁפטי‬nicht wandeln, wenn sie meine Satzungen entweihen und meine Gebote nicht bewahren, dann werde ich heimsuchen mit dem Stab ihr Vergehen und mit Schlägen ihre Schuld.

Die Rechte Jhwhs (‫ )משׁפטי‬fordern einen entsprechenden Wandel innerhalb der königlich-davidischen Dynastie – die Abwendung von ihnen wird als Schuld zur Strafe führen. Der Zusammenhang von Tat und Folge ist der konzeptionelle Rahmen der Deutung des Geschicks der davidischen Dynastie und so wie an anderer Stelle ‫צדק‬, so ist hier nun ‫ משׁפט‬der leitende Bewertungsmaßstab für den Konnex von Tat und Folge. In diesem Deutungsrahmen wird ‫ משׁפט‬auch in Ps 94,15 verortet: Ps 94,15 Ja, zur Gerechtigkeit (‫ )צדק‬wird zurückkehren das Recht (‫)משׁפט‬ und hinter ihm her alle, die aufrichtigen Herzens sind.

Gerechtigkeit und Recht stehen in einem Wechselverhältnis. Das Recht wendet sich durchgehend der Gerechtigkeit zu, als Handlung bewegt sich ‫ משׁפט‬im Horizont einer Ordnung, die durch ‫ צדק‬begründet wird und innerhalb derer sich Tat und Folge bzw. Tun und Ergehen entsprechen. Das ist genau die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Recht, die in Ps 97,2 als Fundament des Thrones Jhwhs verstanden wird. Dass ‫ משׁפט‬in emotional gefassten Kontexten Verwendung findet, zeigt sich zudem nicht nur in Ps 99,4, sondern auch in Ps 97,8, wo die Rechte Jhwhs, also seine durch Recht geprägte Königsherrschaft von Zion und den Töchtern Judas gefeiert und besungen wird: Ps 97,8

Es hörte und freute sich Zion und es jauchzten die Töchter Judas wegen deiner Rechte (‫)למען משׁפטיך‬, Jhwh.

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Dass dieser Jubel über die Rechte Jhwhs mit Zion und den Töchtern Judas als Subjekten im Raum der königstheologisch geprägten Semantik den Blick auf Sach 9,9 lenkt, wo ebenfalls die Wurzel ‫ גיל‬und das Toponym ‫ ציון‬auftauchen, wo die ‫בת ירושׁלם‬ konzeptionell den ‫ בנות יהודה‬aus Ps 97,8 entspricht und wo der König als ‫ צדיק‬und die mit Jhwh verbundenen ‫ משׁפטים‬aus Ps 97,8 dasselbe konzeptionelle Feld abstecken – das alles zeigt deutlich, wie eng die königstheologisch geprägten Lexeme und ihre semantischen Räume miteinander verwoben sind. Das soll abschließend noch als „konzeptionelle Intertextualität“ beschrieben werden.

4. Konzeptionelle Intertextualität zwischen Königtum und Königtum Jhwhs Wer nach Intertextualität fragt, befasst sich mit der Pragmatik von Texten. Im Begriff der Inter-Textualität ist das Bild eines Raumes angelegt – und mit diesem Bild des Raumes kann man sich dem Phänomen sprachlicher Vernetzung, also dem Phänomen Text durchaus sachgemäß nähern.36 Liegt der Text in einem Sprachraum vor, so erschließt er sich erst durch das Betreten dieses Raumes – einfacher gesagt: Erst ein gelesener Text ist ein Text. Im Prozess des Lesens setzt der Text aber bei seinen Leserinnen und Lesern Prozesse weiterer Textualisierung in Gang, die die Leser und Leserinnen in einen Raum zwischen den verschiedenen Textualisierungen versetzen: Der gelesene Text wird durch Para- und Hypertexte kontextualisiert  – und damit wird sein Verstehen bestimmt. Durch die subjektive Prägung jedes Lesers und jeder Leserin kann es keine einlinigen und schon gar keine eindeutigen Interpretationen geben. Interpretationen finden vielmehr im Raum des Textes statt, den die Leserinnen und Leser betreten und damit zugleich ihre Hintergründe und Rückräume in diesen Textraum mit hineintragen. In diesem „Inter“ der Leser und Leserinnen liegt der Erkenntnisgegenstand intertextueller Arbeit. 36  Vgl. zu dieser Metaphorik des Raumes die Ausführungen von Bernd Janowski zur Sprache des Menschen in den Psalmen, die er – mit Bezug auf den Altorientalisten Benno Landsberger und den Alttestamentler Hans Walter Wolff – auf den Begriff der Stereometrie bringt (vgl. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 13–21, sowie Landsberger, Eigenbegrifflichkeit, 17–18, und Wolff, Anthropologie, 29–31). Weiterführende Impulse gibt in diesem Zusammenhang, ebenfalls vor dem Hintergrund altorientalistischer Studien, Hilgert, Listenwissenschaft, 277–309. Hilgert bedient sich im Blick auf die Rekonstruktion der altorientalischen Formen der Wissensorganisation der „poststrukturalistischen Metapher eines rhizomorphen Geflechts multidimensionaler Interreferenzen und Interdependenzen, das in prinzipieller Offenheit stets über sich selbst hinaus auf das verweist, was es nicht ist“ (Hilgert, Listenwissenschaft, 305 [Hervorhebung im Original]), und bezieht sich hier insbesondere auf Texte, die Wissensbestände zusammenstellen und daher im weitesten Sinne der Weisheitsliteratur zuzuordnen sind. Das Phänomen, das er beschreibt, spiegelt allerdings eine Haltung, die nicht nur in der mesopotamischen „Listenwissenschaft“, sondern auch darüber hinaus ihre Spuren hinterlassen hat. Hinter dieser Haltung ist eine Weiträumigkeit des Denkens zu erkennen, die nicht daraufhin ausgerichtet ist, die Phänomene auf einen Begriff zu bringen, sondern die dazu führt, die Welt in ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Verwobenheit, also in ihrer Inter-Textualität abzubilden.



Der gerechte König133

Blickt man auf den durch königstheologische Lexematik, Semantik und Pragmatik bestimmten Raum, in dem sich neben den Königspsalmen und den Jhwh-KönigPsalmen weitere Texte aus dem konzeptionellen Umfeld der Frage nach dem Königtum befinden, darf man Vernetzungen wie die zuletzt geschilderte zwischen Ps 97,8 und Sach 9,9 nicht unterbestimmen: Wo im Psalter vom Königtum die Rede ist, steht zum einen der konzeptionelle Rahmen von ‫צדק‬, ‫ צדקה‬und ‫ משׁפט‬im Hintergrund. Dieser konzeptionelle Rahmen ist in Jhwhs Souveränität und seinem erhaltenden, alltäglichen Richten bzw. Ausrichten der Welt verankert. Dieser konzeptionelle Rahmen ist allerdings zugleich transparent auf das Jhwhs Handeln entsprechende Tun des Königs hin, wie es in den Königspsalmen, aber auch darüber hinausgehenden königstheologischen Reflexionen greifbar wird. Dass diese königstheologischen Reflexionen auch nach dem Untergang der davidischen Dynastie nicht abreißen, sondern sich über den Psalter in hebräischer und griechischer Fassung und über die Prophetenbücher hinaus bis in die Psalmen Salomos hinein verfolgen lassen, ist für die Rekonstruktion der Komposition des Psalters und ihrer sozial- und theologiegeschichtlichen Hintergründe in Rechnung zu stellen. Würde man dieses Grundthema der nachexilischen Theologiegeschichte lediglich in einer linearen Entwicklung von älteren messianischen Erwartungen hin zum jüngeren theokratischen Denken bezeugt sehen, bliebe das hinter dem Textbefund und vor allem hinter den beschriebenen Verbindungen zwischen den für das Problem wichtigsten Psalmengruppen, nämlich den Königspsalmen und den Jhwh-König-Psalmen, zurück. Was hier nur im Blick auf ‫צדק‬, ‫ צדקה‬und ‫ משׁפט‬gezeigt werden konnte, ließe sich ja durchaus auf weitere Lexeme – wie etwa ‫הוד והדר‬ – ausweiten.37 Das Neben-, Mit- und Ineinander von königstheologischen Texten, die ein irdisches und ein himmlisches bzw. ein davidisches und ein göttliches Königtum bezeugen, bestimmt den Psalter auf seiner gesamten Textfläche.38 Die vielschichtige Verhältnisbestimmung zwischen den Bildern vom Königtum Gottes und vom Königtum Davids bestimmt den Interpretationshorizont der Leserinnen und Beter des Psalters, die in der lectio continua immer wieder auf dieses Neben-, Mit- und Ineinander stoßen.39 Diesem rezeptionsorientierten Moment entspricht die königstheologische Prägung der Komposition des Psalters, die sich noch in dessen spätesten Formationsstufen erheben lässt, wie etwa das Nebeneinander der Königspsalmenanthologie Ps 144 und des Jhwh-König-Psalms Ps 145 zeigt. Dieses Nebeneinander schreiben die Psalmen Salomos in PsSal 17–18 ohne Bruch fort – das Ringen um die Bestimmung des Verhältnisses der Herrschaft Gottes zur Herrschaft seines Gesalbten bleibt 37  Vgl. für ‫ הוד והדר‬hier nur die Belege in Ps 8,2.6; 21,6; 29,4; 45,4–5; 96,6; 104,1; 110,3; 111,3; 145,5; 148,13; 149,9. 38  Vgl. dazu die gerade erschienene Studie von Krusche, Königtum, der das Themenfeld nun umfassend monographisch erschließt. 39  Ps 2 neben Ps 1, Ps 18 und Ps 20–21 als Rahmen von Ps 19, Ps 45 zwischen Ps 44 und Ps 46 und Ps 48, Ps 89 und Ps 101 als Rahmung von Ps 90–100, Ps 110 neben Ps 111–112 und Ps 144 neben Ps 145.

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eine dauernde theologische Aufgabe. Und die trinitätstheologischen Bestimmungen des Konzils von Nizäa zeigen ja nur, dass die Verhältnisbestimmung Gottes auch weiterhin der Interpretation und Auslegung bedarf.40

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Vgl. dazu Schwöbel, Gott, 25–51.



Der gerechte König135

Saur, M., Gedeutete Gegenwart. Ezechiel 26, Sacharja 9 und der Eroberungszug Alexanders des Grossen, in: Niemann, H. M./Augustin, M. (Hg.), „My Spirit at Rest in the North Country“­ (Zechariah 6.8). Collected Communications to the XXth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Helsinki 2010, BEATAJ 57, Frankfurt u. a. 2011, 77–84. –, Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie, BZAW 340, Berlin/​New York 2004. Schwöbel, C., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002. Steck, O. H., Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen, Neukirchen-Vluyn 141999. Willi-Plein, I., Deuterosacharja, BKAT 14,7.2, Neukirchen-Vluyn 2014. Wolff, H. W., Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski, Gütersloh 2010. Wöhrle, J., Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches. Entstehung und Komposition, BZAW 360, Berlin/​New York 2006. Zimmerli, W., Ezechiel 25–48, BKAT 13,2, Neukirchen-Vluyn 1969.

Reich Gottes in der Liturgie Liturgische Kontextualisierungen von Psalm 145 als Zeugen seiner Intertextualitätsgeschichte Nancy Rahn „… die Welt zu ordnen für das Königtum des Gewaltigen, dass alles Fleisches Kinder deinen Namen rufen; zu dir zu wenden alle Frevler der Erde.“

‫לתקן עולם במלכות ׁשדי‬ ‫וכל בני בׂשר יקראו בׁשמך‬ ‫להפנות אליך כל רׁשעי ארץ‬

Eine Zielbestimmung gemeindlichen Betens, wie sie Rav Abba Areka in seinem Alejnu-Gebet1 festgehalten hat, führt hinein in den Generationen umspannenden Diskurs über Macht und Ohnmacht Gottes und des Menschen im Weltgefüge. Es ist ein Diskurs über das Königtum Gottes, das Handeln des Menschen und seinen Ort in der Liturgie. Eine Verdichtung von Ps 145, dem Protagonisten dieses Artikels, könnte jener kurze, poetische Passus sein, Kondensat eines Kondensats antiker jüdischer Gebetstheologie, Fluchtpunkt des Psalters, der zur Grundlage des täglichen Betens dreier Weltreligionen in ihren verschiedensten Ausprägungen wurde. Ps 145,1 2 3

Ein Lob, David zugehörig. Ich will dich erheben mein Gott, der König/o König! Und ich will segnen deinen Namen für alle Zeit und immer. An jedem Tag will ich dich segnen, und ich will loben deinen Namen für alle Zeit und immer. Groß ist Jhwh und sehr gelobt, und seiner Größe ist kein Erforschen.

‫‏תהלה לדוד‬ ‫ארוממך אלוהי המלך‬ ‫ואברכה שׁמך לעולם ועד‬ ‫‏בכל־יום אברכך‬‎ ‫ואהללה שׁמך לעולם ועד‬

4 Generation für Generation soll rühmen deine Werke, und deine Machttaten sollen sie verkünden. 5 Die Pracht der Herrlichkeit deiner Hoheit, und die Geschehnisse deiner Wundertaten will ich bedenken. 6 Und die Kraft deiner zu fürchtenden Taten sollen sie aussprechen, und deine Großtat(en) will ich erzählen. 7 Die Erinnerung deiner vielfachen Güte sollen sie sprudeln lassen, und deine Gerechtigkeit sollen sie bejubeln.

‫‏גדול יהוה ומהלל מאד‬‎ ‫ולגדלתו אין חקר‬ ‫‏דור לדור ישׁבח מעשׂיך‬ ‫וגבורתיך יגידו‬ ‫‏הדר כבוד הודך ודברי‬‎ ‫נפלאותיך אשׂיחה‬ ‫‏ועזוז נוראתיך יאמרו‬‎ ‫וגדולתיך אספרנה‬ ‫‏זכר רב־טובך יביעו‬‎ ‫וצדקתך ירננו‬

1  „An uns …“: Ursprünglich der Einleitungs-Teil des Abschnitts Malchujoth der Liturgie für Rosch ha-Schana, später (ab dem 12. Jh.?) zum Abschluss des täglichen Gottesdienstes verwendet. Der erste Abschnitt betont den Zu- und Anspruch Gottes gegenüber Israel, der zweite Teil artikuliert die Hoffnung der Menschheit auf das Königtum Gottes.

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Nancy Rahn

8 Gnädig und erbarmend ist Jhwh, langsam zum Zorn und groß an Treue. 9 Gut ist Jhwh zu allen, und seine Erbarmungen über allen seinen Werken.



‫‏חנון ורחום יהוה‬‎ ‫ארך אפים וגדל־חסד‬ ‫‏טוב־יהוה לכל‬‎ ‫ורחמיו על־כל־מעשׂיו‬

10 Sie sollen dir danken, Jhwh, alle deine Werke, und deine Treuen sollen dich segnen. 11 Die Herrlichkeit deines Königtums sollen sie aussagen, und deine Macht(tat) aussprechen. 12 Um zu erkennen zu geben den Menschenkindern seine  Machttaten, und die Herrlichkeit der Pracht seines Königtums. 13 Dein Königtum ist ein Königtum aller fernsten Zeiten, und deine Herrschaft durch Generation und   Generation.

‫‏יודוך יהוה כל־מעשׂיך‬



14 Ein Stützender ist Jhwh allen Fallenden, und ein Aufrichtender allen Gebeugten. 15 Die Augen aller – auf dich warten sie, und du bist es, der ihnen gibt ihre Speise zu seiner  Zeit. 16 Öffnend deine Hand, und sättigend allem Leben den Willen. 17 Gerecht ist Jhwh in allen seinen Wegen, und treu in allen seinen Werken. 18 Nahe ist Jhwh allen seinen Rufern, allen, die ihn rufen in Wahrheit. 19 Den Willen derer, die ihn fürchten, tut er, und ihren Hilfeschrei hört er und rettet sie. 20 Ein Hüter ist Jhwh allen, die ihn lieben, aber alle Frevler vernichtet er/wird er vernichten.

‫וחסידיך יברכוכה‬ ‫‏כבוד מלכותך יאמרו‬‎ ‫וגבורתך ידברו‬ ‫להודיע לבני האדם‬ ‫גבורתיו‬ ‫וכבוד הדר מלכותו‬ ‫‏מלכותך מלכות כל־עלמים‬‎ ‫וממשׁלתך בכל־דור ודור‬

‫‏סומך יהוה לכל־הנפלים‬‎



‫וזוקף לכל־הכפופים‬ ‫‏עיני־כל אליך ישׂברו‬‎ ‫ואתה נותן־להם את־אכלם בעתו‬

21 Das Lob Jhwhs redet mein Mund und es soll segnen alles Fleisch den Namen seiner Heiligkeit für alle Zeit und immer.2



‫‏פותח את־ידך‬‎ ‫ומשׂביע לכל־חי רצון‬ ‫‏צדיק יהוה בכל־דרכיו‬‎ ‫וחסיד בכל־מעשׂיו‬ ‫‏קרוב יהוה לכל־קראיו‬‎ ‫לכל אשׁר יקראהו באמת‬ ‫‏רצון־יראיו יעשׂה‬‎ ‫ואת־שׁועתם ישׁמע ויושׁיעם‬ ‫‏שׁומר יהוה את־כל־אהביו‬‎ ‫ואת כל־הרשׁעים ישׁמיד‬ ‫תהלת יהוה ידבר־פי‬ ‫ויברך כל־בשׂר שׁם קדשׁו‬ ‫לעולם ועד‬

1. Hinführung Was gibt einem Text wie Ps 145 Textur? Zunächst sind da seine inhärenten Gestaltungsmerkmale  – im Falle von Ps 145 vor allem die Gestaltung als alphabetisches Akrostichon, das das zentrale Thema des Textes, Gottes Königtum, ins Zentrum stellt und hervorhebt. Zugleich sind es auch die im Text entfalteten Wortfelder, die sich um Gottes Handeln einerseits sowie andererseits um die Verfassung des Menschen und sein Handeln, vor allem sein Sprachhandeln, gruppieren. 2 

Alle Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, diejenigen der Autorin.



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Ebenso geben seine verschiedenen Kontexte und deren aktive Auswertung durch Leserinnen und Leser einem Text Textur. Diese Kontexte und ihre Auswertung – in Form des Psalters und anderer Psalter, aber auch in Form thematischer Kontexte oder späterer Rezeptionen des Psalms in Kunst, Liturgie und anderen Bereichen – partizipieren an den zahlreichen intertextuellen Bezügen von Ps 145 und schaffen neue produktive Intertextualität. Dieser Artikel widmet sich ausgewählten liturgischen Kontextualisierungen von Ps 145 und ihrer Bedeutung für seine zentrale theologische und anthropologische Aussage: Gott handelt durch seine Königsherrschaft und der Mensch ist aktiver Teil dieses Handelns. Beides, göttliches und menschliches Handeln, werden in Ps 145 vor einem universalen Horizont ausgesagt, der Erinnerung aktiviert und Zukunftshoffnung nahelegt, dadurch aber gleichermaßen die Gegenwart des Betenden und der aufgerufenen Gemeinde integriert. Dies ist Signatur des „Reiches Gottes“, der ‫ מלכות‬Gottes, wie Ps 145 sie versteht. Diese zentralen Aussagen werden verstärkt durch die Scharnierposition des Psalms zwischen dem letzten Davidspsalter und dem Schlusshallel des masoretischen Psalters,3 sowie durch seine poetische Form, seine Wortwahl und seinen dialogischen Charakter.4 Bisher wurde Ps 145 zunächst primär als ein Teil der Geschichte antiker Hymnen untersucht, als Teil verschiedener Psalmengruppen antiker Psalmensammlungen, als ein schriftgelehrtes Stück der Gebetsliteratur des sich formierenden Judentums in der Zeit des Zweiten Tempels. Doch die Intertextualitätsgeschichte eines Textes wie Ps 145 endet weder an Kanon- noch an Epochengrenzen. Die Geschichte eines Textes mitsamt seinen intertextuellen Beziehungen5 setzt sich in anderen Kontexten fort – im Falle der Psalmen sind besonders das Neue Testament, der Koran sowie Liturgien verschiedener Religionen und Konfessionen zu nennen. Bereits in seinen antiken Kontexten wird der für den Text von Ps 145 zentrale ‫מלכות‬-Begriff über Stichwortund Themenverbindungen des Psalms weiter ausgestaltet. Beispielhaft dafür seien V. 3 genannt, der einen Refrain der Zionstheologie aufruft, in der zweiten Vershälfte aber nicht auf die Gottesstadt, sondern auf die Größe Gottes hin perspektiviert, sowie V. 8, der mit der sogenannten Gnadenformel Gottes Königtum mit dem Exodus verbindet. Damit überlappen sich in Ps 145 bereits zwei große Themenbereiche, Zionstheologie und Exoduserinnerung, in die die Rede von Gott als König im Alten Testament kontextuell eingebunden wird. Sowohl Stichwort-, Sentenzen-, als auch Themenbezüge können in der fortschreitenden Geschichte des Textes durch andere Kontexte verschieden weiter entfaltet werden. Diese Intertextualitätsgeschichte zu ergründen bedeutet, die Geschichte der Fragen nachzuzeichnen, die zur Entstehung dieses Gebets führten, sowie jener, die es in 3 

Zur Position des Psalms in anderen Psalterkompositionen, siehe Neumann, Hymnen. als Überblick zu Ps 145 den Kommentar von Hossfeld/​Zenger, Psalmen 101–150, 789–807, sowie deClaissé-Walford, Psalm 145. 5  Wie vielfältig solche Beziehungen bestimmt werden können, zeigen die versammelten Artikel in diesem Band. 4  Siehe

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verschiedenen Kontextualisierungen, die auf je verschiedene Weise seine theologischen und anthropologischen Potentiale aktivieren, aus sich heraussetzte. Der vorliegende Artikel versteht sich als Stichprobe in diesem großen Aufgabenfeld. Schon in der Antike ist der – zumindest potentielle – liturgische Charakter des Textes zu greifen. Das betrifft den Inhalt, betrachtet man die Wichtigkeit der Lobthematik in diesem Text, unterstrichen durch das Kompendium an Lobvokabular, die Sprechrichtungswechsel, die Überschrift und das Ziel des Textes. Formal wird eine wie auch immer geartete liturgische Verwendung oder Verwendbarkeit besonders deutlich in der Version des Psalms in Qumran (11QPsa)6 mit ihrem nach jedem Vers eingefügten Kehrvers ‫ברוך יהוה וברוך ׁשמו לעולם ועד‬. Dieser ist inspiriert von V. 1 und V. 21 und unterstreicht den Aufruf des Psalms zum Segnen Gottes, des Königs, durch die Menschen, der in V. 21 seine Klimax findet. Der Einbezug von Texten wie den Schabbatliedern von Qumran sowie der Ausblick in neutestamentliche Schriften zeigt zusätzlich zum Psalter in seinen verschiedenen Traditionen, dass das zentrale Thema des Textes, Gottes Königtum, ausgedrückt als ‫מלכות‬/βασιλέια Gottes, eng mit dem Thema des Erzählens, Verkündigens, Bekennens verbunden und damit von jeher ein Thema von Gebet, religiöser Vermittlung und Liturgie ist. Wichtige Entwicklungen in dieser langen Tradition zeigen sich dort, wo, wie in Ps 145 und den Schabbatliedern, der Terminus ‫מלכות‬/βασιλέια mit Bezug auf Gott zu einem theologischen Reflexionsbegriff wird. Mit ihm werden Leitdifferenzen verhandelt, die für die Geschichte des „Reiches Gottes“ prägend bleiben und theologisch produktiv sind: Ist Gottes Königsherrschaft jetzt oder kommt sie noch? Ist sie hier oder im Himmel? Wie verhalten sich menschliches und göttliches Handeln im Reich Gottes? Und was leistet die Rede von Gottes Königtum für die Diskrepanz von Transzendenz und Immanenz Gottes? Als Träger solcher Fragen ist das Reich Gottes eine auffällige liturgische Konstante in der Geschichte von Konfessionen und Religionen und steht damit immer wieder auch im Dialog mit Entwicklungen im theologischen Diskurs verschiedener Zeiten. Ps 145 ist ein Paradetext dieser Vorstellung und gleichzeitig ein wichtiger liturgischer Text in verschiedenen Traditionen des Juden- und Christentums. Anhand ausgewählter Beispiele soll im Folgenden deutlich werden, wie verschiedene Orte eines Textes zu dessen theologischem Potential beitragen, das sich nicht in einer einzelnen Kontextualisierung und den mit ihr verbundenen intertextuellen Beziehungen erschöpft.7

6 

Siehe dazu Neumann, Hymnen. zum Bild der verschiedenen Orte eines Textes und ihrer Bedeutung Breed, Nomadic

7  Siehe

Text.



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2. Das Aschrei „Jede Segnung (‫)ברכה‬, in der das Königtum (‫ )מלכות‬nicht enthalten ist, ist keine Segnung (‫( “)ברכה‬bBer 40b), hält der Talmud in seiner babylonischen Form fest und verweist damit einmal mehr auf die zentrale Bedeutung der Vorstellung von Gottes Königsherrschaft für das Gebet, in dem sich theologische Reflexion kondensiert. Quer durch die rabbinische Literatur verbindet sich der Begriff der ‫ מלכות‬aber nicht nur mit Aussagen über Gott, sondern verweist ebenso auf zentrale Einsichten in anthropologischen Zusammenhängen.8 Sie speisen sich aus der Beschäftigung mit den biblischen Texten, der Neukontextualisierung und Aktualisierung derselben und ihrer Konfrontation mit der Lebenswirklichkeit von Autoren und Rezipienten. Eine besondere Rolle spielt in rabbinischer Theologie die Vorstellung, dass das Volk Israel am Sinai das göttliche Königtum gleich einem Joch auf sich genommen bzw. angenommen hat.9 Buber schreibt dazu in „Das Königtum Gottes“: „Die Tannaiten werden einst die persönliche tägliche Wiederholung dieses Aktes im Leben jedes Juden ‚die Annahme des Jochs des Himmelskönigtums‘ nennen“.10 Diese ereignet sich im täglichen Gebet auch als Akt der Aktualisierung der Geschichte Gottes mit Israel. Hier ist besonders zu erwähnen, dass die ‫ מלכות‬Gottes im Gebet nach dem Schema῾ genannt werden soll. Die Tosefta zu mBer 2 belegt die engste Verbindung von Schema῾, Exodusereignis und dem Königtum Gottes, das über diese Tradition eine besondere Verortung am Sinai erfährt. Der Dynamik von Verortung und Entgrenzung des Reiches Gottes prägt die Geschichte dieses Motivs seit der Antike. Gottes ‫ מלכות‬hat (wie Ps 145, wie wir gleich sehen werden) einen festen Platz im täglichen Gebet. Liturgisch ist sie zusätzlich verbunden mit besonderen Anlässen wie dem höchsten Fest des jüdischen Kalenders, dem Yom Kippur. In mYoma 3,8 hält die Mischnah als Antwort auf das Schuldbekenntnis des Priesters an Yom Kippur folgende Sentenz fest:11 „Und so antworteten sie nach ihm: Gesegnet der Name der Ehre seines Königtums für alle Zeit und immer.“

‫והן עונים אחריו‬ ‫ברוך שׁם כבוד מלכותו‬ ‫לעולם ועד‬

Auch für die Theologie der Kabbala spielt Gottes ‫ מלכות‬eine zentrale Rolle. Als zehnte Sefirah der 10 klassischen Sefiroth,12 der Emanationen Gottes, steht sie an einer Funk8  Im Folgenden geht es um die theologischen und anthropologischen Aspekte der ‫ מלכות‬Gottes. In der rabbinischen Literatur kann der Terminus ‫ מלכות‬auch für menschliche Herrschaft bzw. die weltliche Regierung verwendet werden, so beispielsweise in den Hinrichtungsvorschriften in bSanh 7 und 10. 9  Vgl. mBer 2,2.5. 10  Buber, Königtum, 142 mit Anm. 11. 11  Siehe auch mYoma 4,1 als Antwort auf die Auslosung Azazels. 12  Zum Teil begegnet als elfte Sefirah der Begriff der ‫דעת‬. Einhellig kommt ihr aber nicht der gleiche Rang zu wie den anderen Sefiroth, sie wird als „Schein-Sefirah“ oder „Nicht-Sefirah“ bezeichnet. Die zehn Sefiroth mit ihren 22 Pfaden im kabbalistischen Lebensbaum gehen auf Isaak Luria zurück (vgl. zur Einführung z. B. Maier, Kabbalah, oder klassisch Scholem, Kabbala). Sie sind in den

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tionsstelle kabbalistischen Denkens. Zu jeder Sefirah gehört eine Person, im Falle der ‫ מלכות‬handelt es sich dabei bezeichnenderweise um David. Anstelle von ‫ מלכות‬steht bisweilen auch ‫ׁשכינה‬. So werden Gottes ‫ מלכות‬und seine Präsenz in der Welt verbunden.13 Zwei weitere Sefiroth fungieren auch in Ps 145 als Zentralbegriffe: ‫ גבורה‬und ‫חסד‬. Außerdem findet sich als mit dem Königs-Motiv verbundene Vokabel ‫ הוד‬als achte Sefirah. Theologische Reflexion, die sich in Begriffen verdichtet, setzt sich, auch im Gefolge der maßgeblichen Tradition von Psaltertheologie, in dieser Strömung jüdischer Gelehrsamkeit fort. Als Erklärung für die herausgehobene Bedeutung von Ps 145 für die jüdische Liturgie wird häufig auf den Talmudtraktat bBer 4b verwiesen: „Wer die ‫תהלה לדוד‬ dreimal täglich betet“, heißt es da, „hat einen Anteil an/ist ein Kind der kommenden Welt“. „Dreimal“ wird in der Regel als spätere Hinzufügung angesehen, als sich der Brauch, den Psalm tatsächlich dreimal täglich zu beten, bereits entwickelt hatte. Im Anschluss an diese Betonung wiederholter Rezitation des Textes von Ps 145 sind auch beispielsweise die Hinweise im Sefer Shimmush Tehillim zu verstehen, die die mehrmalige tägliche Rezitation des Psalms mit heilvollen Folgen für den Menschen verbinden. So kann Ps 145 dreimal täglich gegen Angst rezitiert werden und zweimal täglich, um sich des göttlichen Erbarmens zu vergewissern. Festgeschrieben und so verewigt auf einem Amulett aus Elefantenhaut oder -knochen heilt der Psalm gar Fußfrakturen.14 Das Prinzip der Wiederholung, das schon für die Poesie des Textes selbst, sowie für seine Verortung in verschiedenen Kontexten wie dem Septuaginta-Psalter und 11QPsa eine wichtige Rolle spielt, findet hier eine Fortsetzung in der Rezeptionsgeschichte des Textes. Ps 145 wurde mit Rahmenversen versehen, die diesem so neu entstandenen liturgischen Text seinen Namen gaben: ‫אׁשרי‬. Als solches fand er Eingang in verschiedene Teile der Liturgie. Einmal als Teil der Gruppe Ps 145–150 zu Beginn der morgendlichen Liturgie, ein zweites Mal an deren Ende und zum Dritten als Eingang der Minchah, dem Nachmittagsgebet. Die Psalmengruppe 145–150 ist ein Kernstück der regulären morgendlichen Liturgie. Diese Gruppe ist eine der für die gesamte jüdische Liturgie, Fest- und Alltage, wichtigen Hallelgruppen.15 Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu vielen christSchriften kabbalistischer Tradition weit verbreitet, aber innerhalb dieser Tradition durchaus nicht unumstritten, sondern Gegenstand theologischer Auseinandersetzungen. 13  Zum Verhältnis von ‫ מלכות‬und ‫ ׁשכינה‬in rabbinischen Texten, sowie allgemein zur Bedeutung des Gott und Welt verbindenden Aspekts des ‫מלכות‬-Begriffes ließen sich noch weitere Forschungen anstellen. 14  Siehe zu allen diesen Verwendungsmöglichkeiten des Psalms Rebiger, Sefer. Die Anfänge der Kompilation des Sefer Shimmush Tehillim gehen zurück bis in die Spätantike. Das Buch, das Hinweise zum magischen Gebrauch ganzer Psalmen oder einzelner ihrer Verse enthält, ist ein wichtiger Teil der Rezeptionsgeschichte des Psalters in einem von der Forschung eher vernachlässigten Bereich, der Magie. Aus dieser Art der Verwendung der Psalmen lässt sich lernen, welche Wirkmacht den Worten dieser Texte zugeschrieben wurde. 15  Neben dem sog. „Ägyptischen Hallel“ (Ps 114,1) Ps 113–118, das schon früh bei den großen Pilgerfesten rezitiert wurde. Am Seder-Abend trat das (aus unbekannten Gründen) sog. „Große Hallel“



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lichen Kommentaren, in denen Ps 145 nicht zum Schlusshallel hinzugerechnet wird und deshalb eher selten in Verbindung mit Ps 146–150 zu finden ist. Rabbi Yose ben Halafta, ein jüdischer Gelehrter des 2. Jh. n. Chr., wird im Talmud mit den Worten zitiert: „Möge ich einen Anteil haben an denen, die jeden Tag ein Hallel vollmachen.“16 Heute wird dieses Hallel, genannt das „Tägliche Hallel“ (‫הלל שׁבכל יום‬, vgl. dazu Ps 145,2), unauflöslich mit der Psalmengruppe 145–150 verbunden.17 Das geht zurück auf die im 9. Jh. n. Chr. bezeugte babylonische Präferenz des Seder Rav Amram.18 Mit dem täglichen Gebet des Schlusshallels – der letzten Psalmen des Psalters – machen Beter und Beterin nun nicht nur „ein Hallel“, sondern gewissermaßen den ganzen Psalter „voll“, auch wenn sie nicht buchstäblich alle 150 Psalmen beten. Das letzte Hallel des Psalters, zu dem Ps 145 hinzugerechnet wird, steht damit pars pro toto für den ganzen Psalter. Die Bedeutung von Vollständigkeit geht aus verschiedenen jüdischen Auslegungen zu Ps 145 hervor und verbindet sich vor allem mit seiner Gestaltung als alphabetisches Akrostichon.19 Sehen wir uns das Aschrei als Teil dieses täglichen Hallels und Beispiel jüdischer liturgischer Rezeption des 145. Psalms also genauer an. Es besteht aus Ps 145 ohne Nun-Zeile, versehen mit zwei zusätzlichen Einleitungsversen und einem Schlussvers. Diese Rahmenverse kontextualisieren Ps 145 neu und erfüllen dabei eine besondere Aufgabe: Ps 84,5

Glücklich die Bewohner deines Hauses, die dich immer loben werden.

Ps 144,15 Glücklich das Volk, dem es so ergeht/von dem dies gilt, glücklich das Volk dessen Gott Jhwh ist. Ps 145

… [ohne Nun-Zeile]

Ps 115,18 Wir aber, wir segnen Jh von jetzt an und ewig, Hallelu-Jh.

Die Rahmenverse nehmen einerseits wichtige Elemente von Ps 145 auf, so die Lobthematik, die Gottesbezeichnungen und den zeitlichen Horizont des ‫עולם‬. Zusätzlich bringen sie Ps 145 in Verbindung mit Elementen, die der Psalm selbst nicht nennt: hinzu, bestehend aus Ps 136 oder Ps 23 (verschiedene Zuschreibungen im Talmud). Siehe zum Folgenden die Informationen bei Hoffman, Hallels. 16  Zitiert nach Hoffman, Hallels, 35. 17  Eine andere Tradition (erhalten auf einem Genizah-Fragment) fordert die Ps 120–150 als Einleitung des Morgengebets. Das heißt die Morgenliturgie beginnt mit den Wallfahrtspsalmen – vielleicht mit dem Ziel einer ähnlichen Dynamik, wie sie sich aus der in Qumran belegten Anordnung der Psalmen, in der die Wallfahrtspsalmen quasi in Ps 145 münden, ergibt. 18  Damit ist bereits der zeitliche Hiatus angesprochen, der sich auftut, wenn wir uns mit der Geschichte jüdischer Liturgie beschäftigen. Viele traditionelle Gebete lassen sich zeitlich nicht sicher verorten. Hier sehen wir uns mit einem methodischen Problem konfrontiert, das aber nicht daran hindern muss, nach dem theologischen Beitrag dieser Texte und Textzusammenstellungen für die Geschichte eines Psalms und seines zentralen Themas zu fragen. 19  Siehe die Verweise bei Feuer, Tehillim, 1687.

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Gottes Haus, also den Tempel, und, besonders betont, das Volk. Auch die GlücklichPreisung ‫אׁשרי‬, die diesem liturgischen Arrangement seinen Namen gab, taucht im Psalm selbst nicht auf, schlägt aber einen Bogen zum Beginn des masoretischen Psalters in Ps 1 und unterstreicht so noch einmal die bereits erwähnte angestrebte Vollständigkeit der Psalmenrezitation. Die rahmenden Verse, die in der Liturgie mit Ps 145 verwachsen sind, schaffen einen Kontext, der Rezipienten neue intertextuelle Bezüge nahelegt. Ps 145 wird, wie viele andere liturgische Texte, in den Rahmen des wechselseitigen Segnens von Gott und Mensch gestellt. Das dreimalige ‫ אׁשרי‬wurde später auf die Aussage des dreimaligen Rezitierens zum Eingang in die kommende Welt bezogen, was die segenhafte Wirkung, die das Gebet haben soll, noch verstärkt. Die Betenden werden in diesem neuen Kontext als Bewohner des Hauses Gottes und als sein Volk angesprochen. Nimmt das dem Psalm etwas von seinem universalen Charakter? Die ausdrückliche Nennung des Volkes Gottes fokussiert den Text, wendet ihn an – die Gottesfürchtigen, die Gott-Treuen, die Psalm 145 nennt, werden so identifiziert. Zusätzlich unterstreicht es gerade durch den Kontrast noch einmal die Zielrichtung des Textes: „Alles Fleisch“, „alle Werke“ Gottes sollen in den Gottesdienst einstimmen. Der abschließende Rahmenvers Ps 115,18, der im Übrigen auch in einigen Handschriften des masoretischen Psalters als doxologischer Zusatz von Ps 145 belegt ist, verstärkt affirmierend diese Zielrichtung, ebenso, wie die in der Morgenliturgie an das Aschrei anschließenden Hallel-Psalmen. Neben dieser neuen Kontextualisierung des Psalms ist auch der Ort dieses Gebets in der Liturgie entscheidend. Im Schacharit-Gebet steht es zunächst, gemeinsam mit der Psalmengruppe 146–150, im Zentrum der Pesukei Dezimra (Verse des Singens/​ Preisens), die den unmittelbaren Nahkontext des Psalms innerhalb des SchacharitGebets darstellen. Um dieses Zentrum der Pesukei Dezimra herum, das von Aschrei plus Schlusshallel gebildet wird, wurden weitere Texte gewoben. Vor dem Aschrei wird das aus (in der aschkenasischen Version) 18 verschiedenen Psalmenversen zusammengesetzte Yehi Kevod gebetet, mit dem es inhaltlich in enger Verbindung steht. So spielt in diesem Gebet der Gottesname, der parallel zur Anzahl der Verse von Ps 145 21-mal auftaucht, sowie die Rede von verschiedenen Machtbereichen Gottes20 und seinem Himmel und Erde verbindenden Handeln eine wichtige Rolle. Auf die Psalmen des Schlusshallels folgt das ebenfalls aus verschiedenen Psalmenversen konzipierte Baruch Adonai l’Olam. Das Leitthema dieses Teils der Liturgie, der Pesukei Dezimra, ist Gottes königliches Handeln, sein Königtum in Schöpfung und Geschichte, zwei Bereiche, die aufeinander hin transparent und schon in Ps 145 selbst eng verwoben sind. Die Antwort 20  Grob vereinfacht ließen sich hier „Natur/​Schöpfung“ und „Geschichte“ als zwei Macht-/ Handlungsbereiche Gottes nennen, die auch für Ps 145 eine wichtige Rolle spielen. Hier wie dort sind diese Machtbereiche, zum Beispiel über die verwendeten hebräischen Handlungsmachttermini, eng verbunden.



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des Menschen auf dieses Königtum ist das preisende Erinnern und Bezeugen – diese Grunddynamik von Ps 145 wird innerhalb der Pesukei Dezimra entfaltet. Interessant ist auch hier, wie sich bereits in Ps 145 beobachten lässt, die Bedeutung des zeitenumspannenden ‫עולם‬: Dadurch, dass das Wort im rabbinischen Hebräisch nicht nur als zeitliche Angabe, sondern auch bzw. vor allem als „Welt“ gebraucht wird, werden weitere Aspekte addiert. Nicht zuletzt der ausdrücklich hoffende Ausblick auf die „kommende Welt“, die schon Berakot 4b mit der Rezitation des 145. Psalms verbindet. Hier begegnet uns eine eschatologische Interpretation des Textes, die sich auch in der christlichen Tradition findet.21 Für das kunstvolle liturgische Arrangement der Pesukei Dezimra und ihrer königstheologischen Höhenlinie sind vor allem Anfang und Ende des Abschnitts instruktiv, die durch zwei Texte, das Baruch Schäamar und das abschließende Jischtabach, markiert werden. Die Segenssprüche des Baruch Schäamar, die zunächst in der dritten Person formuliert sind, gipfeln in der Anrufung Gottes in seiner Funktion als König. Der zweite Teil des Gebets widmet sich dem menschlichen Handeln, der Aufgabe der ‫חסידים‬, dem ewigen Lob, der Erinnerung und Aktualisierung des göttlichen Königtums und greift so auf das Aschrei und die Hallel-Gruppe insgesamt vor. „Mit den Liedern Davids, deines Knechtes loben wir dich, Jhwh unser Gott, mit Preisungen und Liedern …“ usw. Das Jischtabach gegen Ende der Pesukei Dezimra kombiniert noch einmal die Thematik des alle Zeiten umspannenden Gotteslobs mit der auf wenige Attribute (ähnlich Ps 145) eingedampften Grundlage dieses Lobes: das Handeln Gottes. Liturgie ist, wie sich hier ausschnitthaft zeigt, ein weiteres Beispiel für die rabbinische Methode des Midrasch und Ausdruck der dieser Technik zugrundliegenden Hermeneutik, dass jeder Buchstabe, jedes Wort des TaNaK mit den anderen verbunden ist. Die Verwendung von Schriftzitaten dient einem theologischen Zweck. Eng damit verbunden ist auch das Thema von Ästhetik der Liturgie auf verschiedenen Ebenen: akustisch, visuell, vor allem auch intellektuell. Schön ist das, was verbunden, was eingebunden ist. Das zeigen im Laufe der jüdischen Liturgiegeschichte beredt die Tradition liturgischer Dichtung in den Pijutim, aber auch schon liturgische Kompositionen wie die angesprochenen Pesukei Dezimra. Gebetspraxis und theologischer Diskurs wirken aufeinander ein und lassen sich nicht trennen. Gebet ist Studium der Schriften ist Gebet. Dieser Ausflug in ein Stück Liturgiegeschichte des Judentums zeigt, wie mit den Psalmen und ihrem intertextuellen Potential Theologie geschrieben wird. Ps 145 wird als ein Grundtext für die Vorstellung von Gottes Königtum erkannt, als ein ABC dieses Motivs und seiner Bedeutung für menschliches Beten. Als solches wird es eingebettet in Texte, die seine Aussagen in verschiedene Richtungen, zum Teil wieder mit Psalmversen, weiter elaborieren. Dies geschieht zum Beispiel, indem sie die in Ps 145 nur angedeuteten Großtaten Gottes mit dem Zitat des Schilfmeerliedes wieder voll zum Leben erwecken, sein Schöpferhandeln zurückbinden an Zitate aus der Genesis, 21 

Vgl. z. B. den Kommentar von Delitzsch, Psalmen, 813.

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den Zeithorizont von Ps 145 über das Gegenwärtige hinaus weiterdenken. Man könnte dem im Detail noch wesentlich weiter nachspüren.22

3. Psalm 145 im Ritus der Ostsyrischen Tradition Die christliche Liturgiegeschichte teilt ihre Wurzeln mit denjenigen des Judentums. Die Rezitation von Psalmen begleitet die christliche Liturgie dabei seit ihren Kinderschuhen,23 der Psalter ist Sprachraum für Theologie und Liturgie früher christlicher Gemeinden. Wie steht es dabei konkret um Ps 145? Ps 145 wurde mehrfach als Vorläufer neutestamentlicher Hymnen und Gebete genannt. Vor allem wird hier an das Vaterunser gedacht, mit seinem Akzent auf dem „Reich Gottes“ und Gottes „Namen“, doch auch beispielsweise das Magnifikat ließe sich anführen. Die Ebene, auf der wir diese Verbindungen unter den Texten diskutieren, ist natürlich nicht diejenige geradliniger literarischer Abhängigkeiten. Vielmehr geht es um einen Schatz an Leitmotiven, sprachlichen Formen, theologischen Einsichten, die, in Kanonteilen gesprochen, späte alttestamentliche Psalmen und frühchristliche Hymnen verbinden. Ganz konkret geht es um theologische Reflexionen, die auch aus historischen Umständen und Herausforderungen erwachsen, die am Wurzelgrund der Geschichte des „Reiches Gottes“ in der Liturgie stehen. Außerdem verweist die enge thematische Verbindung von menschlicher Verkündigung und göttlichem Königtum geradezu auf eine liturgische Fortschreibung der Geschichte von Ps 145 und seinem zentralen Thema. Und die Geschichte geht weiter: Die Rede von Gott als König, seinem Reich, der Eucharistie als königlichem Bankett, der Liturgie allgemein als Gebet vor dem göttlichen Thron prägt über Jahrhunderte und bis heute verschiedenste Liturgien, besonders stark diejenigen der orthodoxen Kirchen. So wird die Liturgie immer wieder als vorwegnehmende Realisierung der zentralen Verse von Ps 145 gedeutet und erklärt24 und sein Text dient als Illustration zentraler theologischer Inhalte innerhalb des Gottesdienstes. Einzelne Verse von Ps 145 erfreuen sich besonderer Beliebtheit, so V. 2, 22  So steht das Aschrei gegen Ende des Schacharit ohne Schlusshallel als Übergang zwischen der Toralesung und Ps 20. In der Minchah steht das Aschrei ganz am Anfang und wird von der Toralesung gefolgt. Auf das „Tägliche Hallel“ kann die sogenannte Birkat Haschir folgen. Ihr exakter Wortlaut variiert, schon im Talmud gibt es eine Diskussion über verschiedene Versionen. Interessanterweise beginnt die Version des Talmuds Jeruschalmi mit einem Zitat aus Ps 145. Neben der dreimal täglichen Verwendung kommt das Aschrei auch anderweitig vor, z. B. als Teil der Yom-Kippur-Liturgie. Außerdem werden natürlich einzelne Verse von Ps 145 in der Liturgie verarbeitet. Eine besondere Wirkung entfalteten hier die V. 15–16, die die tägliche Versorgung durch Gott thematisieren. Diese Verse sollen im Gebet mit besonderer Konzentration gesprochen werden. Vgl. dazu bKet 67b. 23  Zweifelsfrei belegt ist die Verwendung alttestamentlicher Psalmen in christlichen Gottesdiensten mit den offenbar gegen Ende des 2. Jh. n. Chr. entstandenen Paulusakten (vgl. Brucker, Sitz im Leben, 577). Festzuhalten ist freilich aber auch die große Bedeutung der Psalmen und ihrer Sprache für das Neue Testament. 24  Vgl. z. B. Hatzidakis, Banquet.



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der das immerwährende Gebet zum Thema macht, aber auch der zentrale V. 13 mit seiner Klimax in der Beschreibung des göttlichen Königtums. V. 2 fand seinen Platz innerhalb der sogenannten „Großen Doxologie“, V. 13 spielt als Antiphon in monastischen Stundengebeten eine wichtige Rolle. Ich konzentriere mich im Folgenden auf ein ausgewähltes liturgisches Formular: die Eucharistiefeier nach ostsyrischem Ritus. Sie hat bis heute relativ unverändert Bestand, freilich mit Varianten und möglichen kleineren Neuerungen. Qurbana-Feiern25 des ostsyrischen Ritus, der hier im Mittelpunkt steht,26 stimmen untereinander weitgehend überein. Zur ostsyrischen Tradition gehören die nicht-unierte assyrische Kirche des Ostens, die mit Rom verbundene Chaldäische Kirche und die Syro-Malabarische Kirche als größte Gliedkirche. Das antike Zentrum dieser Tradition liegt in Edessa mit seiner großen Theologenschule. Aphrahat, Ephraim der Syrer und Theodor von Mopsuestia sind Namen, die sich mit ihr verbinden. Dort entwickelte sich in einem von verschiedenen Kulturen geprägten Kontext das antike syrische Christentum mit seiner Sprache, seiner Poesie und seiner Liturgie. Die Zweiteilung der Feier in Wortgottesdienst und Eucharistie, die wir aus anderen konfessionellen Traditionen kennen, liegt auch dem ostsyrischen Ritus zugrunde. Im Folgenden orientiere ich mich an der Grobstruktur einer Qurbana-Feier27 und frage nach der Einbettung und Bedeutung von Ps 145 mit seinem zentralen Thema, dem göttlichen Königtum. Nach einem feierlichen Einzug, der zunächst zum Altarraum, wo das Evangeliar abgelegt wird, und dann zur Bema führt, beginnt der Wortgottesdienst mit dem Thema des Gedenkens und Erinnerns im sogenannten Mandatum. Dies kann ein Wechselruf zwischen Zelebrant und Gemeinde sein, oder ein frei formuliertes Eingangswort, das an den Auftrag Jesu erinnert, dasjenige immer wieder zu seinem Gedächtnis zu tun, was er selbst am Abend vor seinem Tod seinen Jüngern auftrug. Dabei blicken alle in Richtung Osten, in Richtung Altar. Der Vorraum, der Altarraum und Schiff trennt, ist geschlossen. Biblische Zitate, die in diesem Kontext des Erinnerns häufig vorkommen sind Lk 22,19,28 sowie 1 Kor 11,24–25.29 So wird bereits hier der Höhepunkt der Feier, das Mahl, angesprochen. Beschlossen wird das Mandatum normaler25 

So der Name der Eucharistiefeier in der liturgischen Tradition der syrischen Kirchen. Qurbana bzw. westsyrisch Qurbono leitet sich ab vom aramäischen Terminus „qurbana“ (Wurzel ‫קרב‬, vgl. auch hebr. ‫ )קורבן‬und bezeichnet die (Opfer-)Gabe mit der sich die Beterin/die feiernde Gemeinde Gott nähert und schließlich auch die gesamte Feier, die dieses Element beinhaltet. 26  In der westsyrischen Tradition besteht der zentrale liturgische Text für die Eucharistie in der Jakobus-Liturgie, die aus der griechischen Sprache ins Syrische übertragen wurde. Vgl. zur Einführung in die Geschichte der syrischen Kirche(n) und ihrer Liturgien z. B. Lamb, Psalms, 46–79. 27  Siehe z. B. Yousif, Order, und Heinz, Licht, 142–196. 28  Lk 22,19: „Und er nahm Brot, dankte, brach es und gab es ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis.“ 29  1 Kor 11,24–25: „Und er dankte, brach es und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser ist der Kelch des neuen Bundes in meinem Blut. Tut dies, wann immer ihr davon trinkt, zu meinem Gedächtnis.“

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weise mit einer an den Engelgesang aus Lk 2,14 angelehnten Strophe, die mit „auf immer und ewig“ schließt. Zum Vaterunser, das nun folgt, gibt es in der hochfeierlichen Form der Messe (genannt „Raza“) eine für die Kontextualisierung von Ps 145 interessante Erweiterung des biblischen Textes. Durch einen mehrfach wiederholten Heilig-Ruf wird der erste Teil des Vaterunsers, der von Gottes Name, seinem Reich und seinem Willen spricht, eindrucksvoll hervorgehoben. Diese Neukontextualisierung sieht folgendermaßen aus:30 Z: R 1: R 2:

Himmlischer Vater von uns allen dein Name werde auf immer gesegnet dein Königreich komme zu allen Heilig, heilig, heilig bist du! Himmlischer Vater von uns allen Deine Herrlichkeit füllt Himmel und Erde. Menschen und Engel rufen laut: Heilig, heilig, heilig bist du! [Wiederholung der Abschnitte Z und R 1 am Ende des Vater Unsers] Himmlischer Vater von uns allen dein Name werde auf immer gesegnet, dein Wille geschehe …

Dann folgt der restliche Text des Vaterunsers. Der Einschub des wiederholten HeiligRufes steht nochmals am Ende des Gebets und verbindet so diesen Teil des Wortgottesdienstes mit der eigentlichen Eucharistiefeier. Nach einem Gebet des Priesters um die Befähigung der Anwesenden zu einer würdigen und fruchtbaren Feier treffen wir auf die Kontextualisierung von Ps 145. An der Schwelle von Wortgottesdienst zu Eucharistie steht nun nämlich ein Psalmengesang. Eine alte Bezeugung aus dem 9. Jh. nennt die Gruppe Ps 145–147 für diesen Ort, eine Tradition, die sich durch die Jahrhunderte gehalten hat. Wenn aus Gründen der Länge nur ein Psalm gesungen wird, dann bevorzugt Ps 145 mit Ergänzung der Nun-Zeile, also so, wie er in Septuaginta, Peshittah und weiteren Versionen überliefert ist. In heutigen Liturgiefeiern wird dieser Teil bisweilen ersetzt durch ein Psalmlied, das den Text von Ps 145 etwas freier wiedergibt. Die Bindung an diesen bestimmten Psalm bleibt aber in allen Variationen bestehen. Ostsyrische Theologen haben in ihrer Erklärung der Liturgie die Psalmodie an dieser Stelle der Feier als Symbol für die alttestamentliche Zeit vor dem Kommen Johannes des Täufers gedeutet. Stark am Wortsinn der drei Psalmen orientiert, wurden aber auch die Herrlichkeit und Großtaten Gottes, Gottes Ohr für Bedrängte und Gott als Retter seines Volkes als durch diese Psalmen ins Wort gesetzte, zentrale theologische Themen genannt.31 Der Psalmengesang fungiert hier als eine Art Schwellenritual, das sich im Wechsel zwischen Gemeinde und Zelebrant ereignet. 30  Im Folgenden steht Z für Zelebrant, R für Response, die entweder durch den Chor oder die Gemeinde erfolgt oder von Chor und Gemeinde abwechselnd gesungen wird, D steht für Diakon. 31 Vgl. Heinz, Licht, 146.



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In ostsyrischen Liturgien, zum Beispiel der syro-malabarischen Form, finden wir, ähnlich der jüdischen Tradition, einen weiteren Psalmvers zur Kontextualisierung von Ps 145 bzw. der Psalmengruppe 145–147, der die Psalmodie rahmt. Es ist Ps 35,18. Der Beginn des Psalmengesangs sieht dann beispielsweise so aus: Z: R 1: R 2: Z: R: Z:

Deine Güte will ich erzählen, mein Gott, der du mein König bist. Für immer will ich deinen Namen segnen, dein Lob singen Tag für Tag. Ich will dir danken, Herr, mein Gott in der großen Gemeinde. Mein Lob will ich dir singen inmitten aller Völker. (Ps 35,18) Groß ist der Herr und sehr zu preisen, seine Größe übersteigt alles Denken. … [hier folgt dann Ps 145/Ps 145–147/eine moderne Adaption dieser Texte] Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Geist zugleich, von Ewigkeit, jetzt und für immer. Amen. Ich will dir danken, Herr, mein Gott in der großen Gemeinde. Mein Lob will ich dir singen inmitten aller Völker. (Ps 35,18) Wie schön und herrlich ist dein Heiligtum, O Herr! Du bist es, O Gott, der alle Dinge heiligt.

Ps 35,18 fasst die Dynamik des Psalms zwischen Individuum und Kollektiv zusammen. Diese Dynamik prägt auch die Liturgie mit ihren Wechselgesängen und zieht sich durch die gewählten Texte. Sie verweist auf den Vermittlungsaspekt des Textes von Ps 145 sowie der Liturgie insgesamt. So wird die Aktualisierung, der Vollzug eines antiken Textes in gegenwärtig gefeierter Liturgie unterstrichen. Eine andere vorgeschlagene Psalmengruppe für diesen Ort in der Liturgie besteht aus Ps 15; 150 und 117. Auch das ist im Kontext der Frage nach Ort und Funktion von Ps 145 in der Liturgie interessant. Diese alternativen Texte lassen sich untereinander verbinden durch die Rede von Gottes Nähe an einem heiligen Ort, in seinem Zelt, in seinem Tempel. Kontextualisiert und in den christlichen Gottesdienst eingepasst wird das Psalmenensemble wiederum durch einen zusätzlichen Vers: „Preist Gott an seinem heiligen Ort! Preist ihn in seiner Feste! Lass uns mit reinen Gedanken an deinem heiligen Altar stehen, Herr.“ Gottes Nähe, seine Anwesenheit im Kult, in der Liturgie ist zentrales Aussageelement dieses Teils des Gottesdienstes. Offenbar wurde Ps 145 bzw. mit ihm seine zwei Folgepsalmen, dafür als passend empfunden, ebenso wie die alternative Psalmengruppe 15; 150; 117. Der Gesang Laku mara d’kolla zum bzw. nach dem Eintreffen des Bischofs nimmt sodann Gedanken von Ps 145 wieder auf. Dazu gehören die Lobthematik, sowie das

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Aufrichten. Dieses wird jetzt christologisch fokussiert als „Auferstehen lassen“ durch Gott. Vor allem aber fällt die Betonung der Universalität göttlichen Herrschens auf, die ganz in der Linie von Ps 145 steht. Dieser Gesang begleitet auch die Öffnung des Vorhangs des Allerheiligsten vor dem zentralen Teil der Eucharistie.

Laku mara d’kolla // Dir, Herr über alles!

R: D: R: Z: R:

Dir, Herr über alles danken wir, und dich, Jesus Christus preisen wir. Du bist es, der unsere Körper auferstehen lässt und du bist der erbarmende Erlöser unserer Seelen. Es ist recht, dir zu danken, O Herr und deinem Namen zu singen, O Höchster. Ich wusch meine Hände und schritt um deinen Altar, O Herr! Dir, Herr über alles danken wir, und dich, Jesus Christus preisen wir. Du bist es, der unsere Körper auferstehen lässt und du bist der erbarmende Erlöser unserer Seelen. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Geist zugleich, von Ewigkeit, jetzt und für immer. Amen. Dir, Herr über alles danken wir, und dich, Jesus Christus preisen wir. Du bist es, der unsere Körper auferstehen lässt und du bist der erbarmende Erlöser unserer Seelen.

Dazwischen steht ein Gebet, das in verschiedenen Ausformulierungen begegnet, dessen Inhalt aber gleich bleibt: Der Altar wird besungen als Ort der Gegenwart Gottes und Thron seiner Herrlichkeit, vor dem sich die Gläubigen gemeinsam mit den Engeln niederwerfen, was sich in die Linie des Königsthemas einreiht. Die Eucharistie im engeren Sinne folgt auf den Wortgottesdienst, zu dem Ps 145 gehört. Die Motivik von Psalm 145 zieht sich aber durch den gesamten Gottesdienst. Es geht um Teilhabe an Gottes Königtum durch konkrete Sättigung und Aufrichtung, immerwährendes Lob der Menschen, das die Erinnerung an Gottes Großtaten zum Thema hat, soll die Antwort darauf sein.

4. Zum Abschluss Ps 145 selbst ist, ebenso wie das eingangs zitierte Alejnu-Gebet, angelegt auf Vollzug, der sich in der Rezeption des Textes vor allem in seinem liturgischen Gebrauch materialisiert, welcher auch für die Vorstellung eines göttlichen Königtums allgemein zentral ist. Über dieses Thema ließen sich mehrere interessante Bücher schreiben, bis hin zur Unternehmung empirischer Studien in der vielfältigen Gottesdienstlandschaft unserer Zeit (aber nicht nur unseres Kulturkreises!), in der die Vorstellung von Gott als König und seinem Königtum als der das Heute und vor allem das Morgen bestimmen-



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den Größe besonders prägend im charismatisch-freikirchlichen Bereich zu finden ist. Als biblisches Grundmotiv wäre die Vorstellung vom Reich Gottes aber hinsichtlich ihrer Chancen und Grenzen in ihrer Bedeutung für die Theologie und ihren praktischen Anwendungsfeldern in der Breite liturgischer Wirklichkeit zu reflektieren. Der vorliegende Artikel konnte in diesem weiten Feld nur insofern Anstöße geben, als dass Ps 145, der in verschiedenen Liturgien an auffälligen Stellen zu Wort kommt und so die Vorstellung vom göttlichen Königshandeln in das Jetzt der feiernden Gemeinde einbringt, auf seine Funktionen an ausgewählten Stellen in der Liturgiegeschichte des Juden- und Christentums hin befragt wird. Die Zielrichtung, die uns in der liturgischen Rezeption wiederbegegnet, ist bereits dem Psalm selbst eingeschrieben. Es geht darum, das „Reich Gottes“ zu erzählen und damit zu erinnern, sowie seine Bedeutung für den Einzelnen und die Gemeinde im Jetzt zu aktualisieren. Dies lässt sich unter der Erkenntnis einordnen, die in ­ExRab 23,1 pointiert formuliert ist. Dort sagt Gott zu den Engeln: „Wenn mein Volk ablehnt, mich auf der Erde als König zu verkünden, wird auch im Himmel das Königtum enden.“ Dieses Ineinander von göttlichem Königtum und menschlichem (liturgischem) Handeln prägt die Geschichte von Ps 145 und seinem zentralen Thema auf besondere Weise, nicht nur in der jüdischen Tradition. Zudem zeigte sich die doppelte Verweisrichtung des Gebets, speziell des hier betrachteten 145. Psalms: Die Gemeinde und mit ihr der und die Einzelne wird auf die Wirklichkeit des „Reiches Gottes“ verwiesen, Gott auf seine königlichen Aufgaben gegenüber den Menschen. Die beiden Neukontextualisierungen des Psalms, denen dieser Beitrag gewidmet war, beleben auf ihre je eigene Art diesen Kern von Ps 145 neu und schreiben damit die Geschichte dieses Textes und mit ihr diejenige seiner intertextuellen Beziehungen fort.

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Teil III: Kompositorische Zusammenhänge

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge Bernd Janowski Hartmut Gese zum 90. Geburtstag Es gibt nur wenige biblische Texte, die theologisch und anthropologisch so gehaltvoll sind wie der kurze, zehn Verse umfassende Ps 8.1 Das belegt nicht zuletzt auch seine intensive Rezeption vom Neuen Testament (Mt 21,16; 1 Kor 15,27; Eph 1,22; Hebr 2,6–7)2 über die 2000-jährige Christentumsgeschichte bis hin zur theologischen Anthropologie der Gegenwart.3 Im Folgenden werden zunächst die kompositorischen, semantischen und motivlichen Aspekte des Textes (1) und sodann seine intertextuellen Bezüge untersucht (2). Den Schluss bildet eine Zusammenfassung der Hauptergebnisse (3).

1. Psalm 8 als Grundtext biblischer Anthropologie Ps 8 besteht aus zwei hymnischen Jhwh-Prädikationen (V. 2b–3 und V. 4–9), die in V. 2a und V. 10 von zwei Bewunderungsrufen auf den auf der ganzen Erde präsenten Gottesnamen gerahmt werden. Der kurze und schöne Text hat folgenden Wortlaut: Ps 8,1 Dem Musikmeister. Nach der gittitischen Weise. Ein Psalm Davids.

2 Jhwh, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!

Der du deine Hoheit gelegt (< gegeben) hast auf den Himmel – 3 aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht   gegründet um deiner Bedränger willen, um zum Aufhören zu bringen Feind und Rächer.

1  Die folgenden Überlegungen sind Hartmut Gese zu seinem runden Geburtstag gewidmet. In seiner großartigen Tübinger Psalmen-Vorlesung, die ich in meiner Studienzeit gehört habe, nahm Ps 8 einen zentralen Platz ein. Allzu gerne hätte man diese Ausführungen auch in schriftlicher Form zur Kenntnis genommen, denn der verehrte Lehrer besaß die Gabe, die Poetik und Theologie der Psalmen nachhaltig zum Leuchten zu bringen. Mögen diese wunderbaren Texte ihn auch im neuen Lebensjahr begleiten – ad multos annos! 2  Siehe dazu Brünenberg, Mensch, und Hartenstein/​Janowski, Psalmen, 328 ff. 3  Siehe dazu Schoberth, Einführung, 31 ff; Gillingham, Psalm 8, 167 ff, und Sauter, Leben, 38 ff.

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4 Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt hast – 5 was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und das Menschenwesen, dass du nach ihm siehst? 6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt. 7 Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: 8 Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die Tiere des Feldes, 9 die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was immer dahinzieht auf den Pfaden der Meere.



10 Jhwh, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!

Bemerkungen zum Text4 V. 1: Die unklare musikalisch-technische Angabe ‫„ על־הגתית‬nach der gittitischen (Weise)“ (?), „nach der Kelterlied-Melodie“ (?) (vgl. Ps 81,1; 84,1) wird in LXX als Pl. von ‫„ גת‬Kelter“ gedeutet („über die Keltern“), siehe dazu ausführlicher Hartenstein/​Janowski, Psalmen, 292.300. – V. 2a: Der masoretische Text ist eine berühmte crux interpretum, zum einen im Blick auf die Syntax der Relativpartikel ‫( אשׁר‬+ folgende Verbform) und zum anderen im Blick auf die Form und Vokalisation von ‫תנה‬. Zu den verschiedenen Lösungsvorschlägen siehe NeumannGorsolke, Herrschen, 22 ff, und Schnieringer, Psalm 8, 27 ff. Gegenüber den Versuchen, das Problem entweder literarkritisch (Spieckermann, Heilsgegenwart, 229–230; Köckert, „Wo warst du?“, 35 ff, u. a.) oder religionsgeschichtlich (Crüsemann, Macht, 57 ff; Görg, Eulogie, 299 ff, u. a.) zu lösen, empfiehlt es sich, mit Hupfeld, Psalmen I, 149 ff, und einem Teil der alten Versionen (Syr: djhbt/qui dedisti, σ’ ὃς ἕταξας, vgl. Hier, anders LXX: ἑπήρθη „erhoben ist“) eine Form von ‫ נתן‬zu konjizieren, und zwar entweder die AK‑Form ‫„ נתתה‬du hast gegeben“ (vgl. Irsigler, Frage, 5; Neumann-Gorsolke, Herrschen, 32–33, u. a.) oder die PK‑Form ‫„ תתן‬du gibst“ (vgl. Schnieringer, Psalm 8, 36–37.42–43). Für die Konjektur ‫„ נתתה‬du hast gegeben“ sprechen – allerdings ohne letzte Sicherheit zu erreichen! – mehrere Gründe: zum einen (1) die syntaktische Parallelität von V. 2b und V. 3aα und zum anderen (2) die gut bezeugte Wortfügung ‫„ נתן הוד על‬Hoheit legen auf jemanden“ (Num 27,20; 1 Chr 29,25; Dan 11,21, vgl. Ps 21,6). Und schließlich (3) ergibt sich auf diese Weise „ein Vorausverweis auf die Rede vom Schöpfungswirken Jahwes am Himmel in V. 4“ (Irsigler, Frage, 5). Danach ist V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a, sondern als „pendierender Subjektsatz am relativen Beginn einer hymnischen Sequenz“ (ebd.) zu V. 3 zu ziehen; zum anknüpfenden ‫אשׁר‬, das einen hymnischen Vers eröffnet, ist vor allem Ps 95,4–5 (weniger eindeutig Ps 71,19–20) zu vergleichen. – V. 5a: Im Unterschied zum Gattungsbegriff ‫„ אנושׁ‬Mensch, Menschen, Menschheit“ (42-mal im AT, nie mit Artikel) bedeutet das parallele ‫„ בן־אדם‬einzelner Mensch, Menschenkind“; das Syntagma bezeichnet also die Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch“, vgl. Gesenius, Handwörterbuch18, 156–157 s. v. ‫ בן‬Ziffer 8. – V. 6b: ‫ אלהים‬wird von LXX mit ἄγγελοι „Engel“ übersetzt, siehe dazu aber Schnieringer, Psalm 8, 19; Neumann-Gorsolke, „Ehre“, 60–61 mit Anm. 116, und Bons/​Brucker, Buch der Psalmen, 349. Im Übrigen spricht die Differenz zwischen Jhwh in V. 2a/10 und ‫ אלהים‬in V. 6a dafür, dass ‫ אלהים‬hier ein Gattungsbegriff ist, vgl. W. H. Schmidt, 4 

Die folgenden Bemerkungen stellen lediglich eine Auswahl dar, siehe dazu ausführlicher Hartenstein/​Janowski, Psalmen, 292–293.



„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“157

Schöpfungsgeschichte, 141 Anm. 5. – V. 9a: Das Ptz. Qal m. Sg. des semantisch unspezifischen ‫„ עבר‬einherziehen, seines Weges gehen, vorübergehen“ drückt eine andauernde Aktion, nämlich das ständige Dahinziehen der Meeresbewohner aus. Wegen der Numerusdifferenz kommt ein Bezug auf das vorhergehende Syntagma ‫„( דגי הים‬die Fische des Meeres“) nicht in Frage. Nach Schnieringer, Psalm 8, 283–284, tritt mit V. 9b neben den in V. 8.9a genannten Tierklassen keine neue Tierklasse (mythischer Meeresdrache o. ä.) auf. Vielmehr dürfte es sich um einen kollektiven Sg. handeln, der entweder additiv oder – wahrscheinlicher – explikativ an V. 9ab anschließt. Die fehlende Kopula vor V. 9b unterstützt diese Auffassung.

1.1 Zur Komposition von Psalm 8 Abgesehen von der Überschrift V. 1 besteht Ps 8, der so etwas wie ein „poetisches Kompendium klassischer psalmtheologischer Anthropologie“5 darstellt, aus zwei hymnischen Jhwh-Prädikationen (I: V. 2b–3 und II: V. 4–9), die von den beiden Bewunderungsrufen V. 2a und V. 10 gerahmt werden. Dabei spricht der inkludierende Refrain V. 2a/10 dafür, V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a zu verstehen, sondern als „pendierenden Subjektsatz am relativen Beginn einer hymnischen Sequenz“6 zu V. 3 zu ziehen.7 Während V. 4–9 vom königlichen Menschen und seiner Herrschaft über die Tierwelt sprechen, handeln V. 2b–3 vom Schöpfungswirken Jhwhs an den Kindern und Säuglingen, die zur Überwindung seiner (!) Feinde aufgeboten werden. Die beiden Abschnitte V. 2b–3 und V. 4–9 beginnen mit dem Motivwort „Himmel“ (V. 2b.4) und schildern jeweils Jhwhs Wirken auf der Erde, zum einen als Überwindung der Feinde durch den „Mund“ der Kinder und Säuglinge (V. 3) und zum anderen als Einsetzung des Menschen in die Königsherrschaft über die Tiere (V. 6–9). Diese oft beobachtete Parallelstruktur hat durch Odil Hannes Steck eine Zuspitzung erfahren, auf die kurz einzugehen ist. Nach Steck8 gliedern sich V. 2b–9 in die beiden sachlich parallelen Aussagenreihen V. 2b–3 und V. 4+5–9, wobei die Position von V. 4 analog zu derjenigen von V. 2b bestimmt und der Aspekt „Bändigung der Tiere“ (V. 5–9) als Entfaltung des Aspekts „Bändigung von Feinden“ verstanden wird: 2b–3 4–9

Jhwhs Schöpferwirken auf Erden zur Bändigung von Feinden Jhwhs Schöpferwirken auf Erden zur Bändigung der Tiere

Während Steck mit einer „stilistischen Zäsur zwischen V. 4 und V. 5“9 rechnet, sind die beiden Verse als Anakoluth (V. 4) und als verwunderte Frage (V. 5) aufeinander bezogen, was auch durch die korrespondierende Blickrichtung – vom Menschen zu Gottes Werken (‫„ ראה‬sehen“ V. 4) und von Gott zum Menschen (‫„ זכר‬gedenken“ // ‫„ פקד‬nachsehen, in Augenschein nehmen“ V. 5) – unterstrichen wird. Mit V. 6 beginnt dann eine bis V. 9 reichende Stanze, bei der die vergangenheitlichen Verbformen in V. 6a (wa=yiqtol) und V. 7b (x-qatal) eine rahmende Funktion haben und auch die Verbformen in V. 6b (w·=x-yiqtol) und V. 7a (yiqtol-LF) indivi5 

Spieckermann, Heilsgegenwart, 237. Irsigler, Frage 5. 7  Siehe dazu die Bemerkungen zum Text oben Abschnitt 1. 8  Siehe dazu Steck, Beobachtungen, 221 ff. 9  Steck, Beobachtungen, 222. 6 

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duelle Sachverhalte der Vergangenheit zum Ausdruck bringen.10 Die Klassifikation der Tierarten in V. 8–9 ist weltbildhaft angelegt und konkretisiert die Stellung des königlichen Menschen in der Schöpfung durch die Angabe der Herrschaftsbereiche: Ps 8,4 5

Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt hast – Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und das Menschenwesen, dass du nach ihm siehst?

6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt. 7 Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die  Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: 8 Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die Tiere des Feldes, 9 die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was immer dahinzieht auf den Pfaden der Meere.

Mensch → Gottes Werke Mensch ← Gott wa=yiqtol w·=x-yiqtol yiqtol-LF x-qatal Erde Himmel, Meer Meer

Die eigentliche Schwierigkeit der Ausführungen von Steck besteht allerdings in seiner These, dass V. 4–9 die „sachliche Entfaltung“11 von V. 2b–3 darstellen und „die Totalität von V. 3 … nur die Tierwelt auf Erden in ihrer Gesamtheit sein (kann)“12. Das überzeugt, wie die Kritik von Ute Neumann-Gorsolke gezeigt hat,13 weder im Blick auf V. 3 noch im Blick auf V. 6–9. Das muss hier nicht wiederholt werden. Nur soviel sei angemerkt, dass die Formulierung von V. 7b („alles hast du gelegt unter seine Füße“) nicht einen Akt der „Bändigung der Tiere“14 meint und auch die Haus­tiere (!) von V. 8a („Kleinvieh und Rinder, sie alle“) kaum als Feinde des Menschen gelten können. Es sprechen also gewichtige Einwände gegen Stecks These der sachlichen „Gleichsinnigkeit“ von V. 2b–3 und V. 4–9. Wie demgegenüber ihr Verhältnis zu profilieren ist, wird noch zu fragen sein.

Inhaltlich lassen sich V. 2b–3 als „ein Vorausverweis auf die Rede vom Schöpfungswerk Jahwes am Himmel in V. 4“15 verstehen. Die folgende Skizze, die auch Angaben zur Redesituation enthält, kann diese Struktur zusammenfassend verdeutlichen:16 10 Vgl. Irsigler, Frage, 13 Anm. 26, und Schnieringer, Psalm 8, 142.

11  Steck, Beobachtungen, 225; vgl. Görg, Mensch, 309 ff, der von einer „Kommentierung“ von V. 2–3 durch V. 4–9 spricht und für die Wendung „Kinder und Säuglinge“ (V. 3a) ein metaphorisches Verständnis im Rahmen ägyptischer Königsmythologie vorschlägt. Zu dieser auch von Steck, Beobachtungen, 221 ff, und Schnieringer, Psalm 8, 69–70.317 ff, vertretenen Deutung siehe aber Irsigler, Frage, 7 Anm. 16, und Neumann-Gorsolke, Herrschen, 28–29.69 ff. 12  Steck, Beobachtungen, 229. 13 Siehe Neumann-Gorsolke, Herrschen, 48 Anm. 37, 123 ff. 14 So Steck, Beobachtungen, 226. 15  Irsigler, Frage, 5. 16 Zu den unterschiedlichen Gliederungsvorschlägen siehe van der Lugt, Cantos, 142 ff; ­I rsigler, Frage, 10 Anm. 23, und ausführlich Schnieringer, Psalm 8, 106 ff. Für die Redesituation des Psalms ist kaum mit einem Wechselgesang von „Wir“ (V. 2a.10, auch V. 2b–3?) und „Ich“ (V. 4–9) zu rechnen. Denn auch die beiden Bewunderungsrufe in V. 2a und V. 10 sind „durchaus im Munde eines Einzelbeters, der sich mit der Israel-Gemeinde solidarisiert, vorstellbar … Wir werden daher situativ mit einem Einzelbeter zu rechnen haben, der in der Rolle eines typischen, nicht bio-



„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“159

1

Überschrift

Redesituation

2a

Bewunderungsruf in Anrede Jhwhs (Thema)

Wir-Rede

2b–3

Hymnische Jhwh-Prädikation I Jhwhs Schöpferwirken am Himmel (2b) Jhwhs rettendes Wirken auf der Erde (3): a Machtstellung von Kindern und Säuglingen b Überwindung der Feinde und Gottesleugner

Wir/​Ich-Rede (?)

4–9

Hymnische Jhwh-Prädikation II Verwunderte Frage: „Was ist der Mensch?“ (4–5) 4 Vordersatz zu 5: Blick zum Himmel 5 Fragesatz: Wesen des Menschen

Ich-Rede

Rühmende Antwort: Der königliche Mensch (6–9) 6 Ausstattung mit „Ehre“ und „Pracht“ 7 ff Herrschaft über die Tierwelt: Einsetzung in die Königsherrschaft (7) Taxonomie der Herrschaftsbereiche (8–9) 10

Bewunderungsruf in Anrede Jhwhs (Thema/​Resümee)

Wir-Rede

Es geht in Ps 8 demnach um die Position des Menschen in der Schöpfung (V. 6–9) angesichts des auf der ganzen Erde akklamierten Gottesnamens (V. 2a.10) und um die machtvolle Manifestation dieses Namens durch den Menschen (V. 2b–3) – obwohl dieser schwach und klein ist („Kinder und Säuglinge“). Beide Zusammenhänge geben eine Antwort darauf, was der Mensch von Gott her ist (V. 4–5). Allerdings: Ist für V. 2b–3 und V. 4–9 überhaupt mit einem ursprünglichen – und nicht erst sekundär hergestellten – Zusammenhang zu rechnen? Gegen die Annahme, dass V. 2b–3 und 4–9 eine spannungsfreie thematische Einheit darstellen, sind besonders von Helmut Schnieringer inhaltliche Einwände erhoben worden.17 Dazu zählen für ihn zum einen der Sachverhalt, dass das Handeln Jhwhs in V. 6–9 im Schöpfungskontext, in V. 3 dagegen im Geschichtskontext erfolge, eine „schöpfungshafte Ausstattung“18 der Kinder und Säuglinge mithin auszuschließen sei. Und zum anderen die Beobachtung, dass in V. 5 ff von einem heilvollen Handeln Jhwhs an allen Menschen (kollektiv), in V. 3 dagegen von einem Handeln an einer bestimmten Menschengruppe (exklusiv) gesprochen werde. Die Schwierigkeiten, V. 3 sinnvoll in den Grundtext einzuordnen, scheinen damit unüberwindlich zu sein. Dem hat allerdings Neumann-Gorsolke widersprochen und überzeugende Argumente zum Verständnis von V. 3 vorgetragen,19 die vom vorliegenden Text und seinem Kontext, nämlich der Teilkomposition Ps 3–14, ausgehen. Darauf wird zurückzukommen sein.20 graphischen ‚Ich‘ den Psalm insgesamt vorträgt“ (Irsigler, Frage, 36), vgl. auch Schnieringer, Psalm 8, 200, und Floss, Yhwh, 35.37–38, der im Übrigen für V. 2a–10 mit einem einzigen Sprecher rechnet. 17  Siehe dazu Schnieringer, Psalm 8, 97.100. 18  Schnieringer, Psalm 8, 98. 19  Siehe dazu Neumann-Gorsolke, Mund, 17 ff. 20  Siehe dazu unten Abschnitt 2. Als Entstehungszeit von Ps 8 kommt die frühnachexilische Epoche (5. Jh. v. Chr.?) und hier ein Datum in den Blick, für das Hi 7,17–18, wo Ps 8,5 rezipiert und auch

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1.2 Semantische und motivliche Aspekte 1.2.1 Bewunderungsruf (V. 2a/10) Mit den beiden Rahmenversen, die in V. 2a und V. 10 mit dem appositionell erweiterten Vokativ „Jhwh, unser Herr“ ein deutliches Aufmerksamkeitssignal setzen, wird die theozentrische Perspektive des Psalms markiert. Das zeigen auch die Suffixe der 2. Pers. Sg. (V. 2a.b; 3a; 4a[2-mal]; 7a; 10a) und die Verbalsätze, die Jhwh zum Subjekt haben (V. 2b; 3a; 4b; 5a.b; 6a.b; 7a.b). Es geht also „eindeutig um das, was der Mensch von Gott her ist“21, und nicht um die Selbstermächtigung des Menschen zu eigenem Tun. Die beiden Rahmenverse werden von einem „Wir“ gesprochen,22 das in einen Bewunderungsruf über die machtvolle Präsenz des Gottesnamens auf der Erde ausbricht. Ein derartiger, mit dem Modalwort ‫„ מה‬was“ gebildeter Bewunderungsruf begegnet auch in Ps 104,24, wo er am Ende des auf die Erde als Lebensraum bezogenen Abschnitts Ps 104,10–24 steht: Ps 104,24 Wie (‫ )מה‬zahlreich sind deine Werke, Jhwh, sie alle hast du in Weisheit gemacht, voll (ist) die Erde von deinem Erschaffenen!

Im Unterschied zu Ps 104,24 geht es in Ps 8,2a.10 aber nicht um die Quantität der Schöpfungswerke,23 sondern um die Qualität des Gottesnamens „auf der ganzen Erde“ (‫)בכל־הארץ‬.24 ‫ ארץ‬bezeichnet hier nicht „die gesamte Welt, den Kosmos, das All“25, sondern die Erde im Gegensatz zum Himmel.26 Hier hat der Gott, der seine „Hoheit“ auf den Himmel gelegt hat (V. 2b) und zu dessen Himmel der Beter ehrfürchtig aufschaut (V. 4), keinen anderen Herrn (‫ )אדון‬neben oder gar über sich (vgl. Jos 3,11.13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5). Die durch das prädikative Adjektiv ‫„ אדיר‬gewaltig, mächtig“ bezeichnete Eigenschaft, die dem „Namen“ (‫ )שׁם‬Jhwhs beigelegt wird, charakterisiert nicht das innere Wesen ihres Trägers, sondern dessen nach außen wirkende Präsenz auf der ganzen Erde. Der Name bezeichnet das, was von seinem Träger als machtvoll-wirksame Präsenz bekannt ist (objektive Gegebenheit), und zugleich das, was von ihm als Manifestation seines Wirkens wahrgenommen wird (subjektive Wahrnehmung). Die Gehalte des Gottesnamens, die dabei aktiviert werden, dürften am ehesten die mit dem Epitheton ‫„ אדון‬Herr“ (vgl. ‫ אדונו‬V. 2a), dem Prädikat ‫„ אדיר‬gewaltig, mächtig“ (V. 2a) und dem Schöpferwirken Jhwhs (V. 4) verbundenen Aspekte der Macht und Herrlichkeit sowie die mit der Zuwendung Gottes zum Menschen („gedenken“/„nach jemandem sehen“ transformiert wird (siehe dazu unten Abschnitt 1.2.3.1), einen terminus ante quem bildet, siehe dazu ausführlicher Hartenstein/​Janowski, Psalmen, 298 ff. 21  Irsigler, Frage, 11 [Hervorhebung im Original]. 22  Zur Redesituation siehe die Hinweise oben Anm. 16. 23  Siehe dazu Krüger, Lob, 53–54.297 ff. 24  Vgl. Ps 36,8 (Güte Gottes); Ps 66,3 (Werke Gottes); Ps 92,6 (Werke Gottes) und Ps 139,17 (Absichten Gottes). 25  Köckert, „Wo warst du?“, 38; vgl. Seybold, Psalmen, 50. 26 Vgl. Irsigler, Frage, 17; Schnieringer, Psalm 8, 203.207–208.



„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“161

V. 5) verbundenen Aspekte der Gnade und Hilfe sein. Dafür gibt es im Psalter und speziell in den Teilkompositionen Ps 3–14 und Ps 15–24 markante Vergleichstexte: Ps 7,18

Ich will Jhwh loben gemäß seiner Gerechtigkeit und preisen den Namen Jhwhs, des Höchsten.

Ps 9,2 3 4

Ich will dir danken, Jhwh, mit meinem ganzen Herzen, ich will erzählen alle deine Wundertaten. Ich will mich freuen und frohlocken über dich, ich will preisen deinen Namen, Höchster, während meine Feinde zurückweichen müssen, sie straucheln und gehen zugrunde vor deinem Angesicht.

Ps 23,1b 2 3

Jhwh ist mein Hirte, ich habe keinen Mangel, auf grünen Weiden lässt er mich lagern, an Wasser der Ruhe führt er mich, meine Lebenskraft erneuert er. Er führt mich auf Bahnen der Gerechtigkeit um seines Namens willen.27

Die Wirkmächtigkeit Gottes erweist sich nach Ps 8 nicht in gewaltigen Naturerscheinungen wie etwa in Hi 38,1 ff, sondern in der Überwindung der Feinde durch den „Mund“ von Kindern (V. 2b–3) und in der Einsetzung des Menschen in die Königsherrschaft über die Tiere (V. 4–5.6–9). Diese Qualität ist es, die die Bewunderung der „Wir“ in den Rahmenversen V. 2a.10 und die hymnische Explikation des Beters in V. 2b–9 auslöst. 1.2.2 Hymnische Jhwh-Prädikation I (V. 2b–3) Das Korpus des Psalms setzt in V. 2a mit einem abrupten Wechsel der Blickrichtung von der Erde zum Himmel ein, der als Ort der machtvollen Präsenz Gottes, nämlich seiner „Hoheit“ (‫)הוד‬, qualifiziert wird (V. 2b). Diese Hoheit Jhwhs ist königlich konnotiert (vgl. Ps 93,1; 96,6/1 Chr 16,27, ferner Ps 29,1; 96,7 u. ö.) und zugleich das Korrelat zu der von Jhwh auf Erden gegründeten „Macht“ (‫ )עז‬gegen seine Feinde (V. 3).28 Wenn man V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a, sondern als „pendierenden Subjektsatz“ zu V. 3 zieht,29 ergibt sich die Möglichkeit, V. 2b–3 zum Grundtext des Psalms zu rechnen und in dieser Hymnischen Jhwh-Prädikation I einen Vorausverweis auf die Rede vom Schöpferwirken Jhwhs in V. 4 zu sehen. Allerdings bleibt die notorische Schwierigkeit bestehen, wonach die „Gründung“ des Bollwerks seitens Jhwhs durch den „Mund“ von Kindern und Säuglingen vermittelt sein soll. Schon Bernhard Duhm hatte daran Anstoß genommen und den Vers kurzerhand für „mißlich“ erklärt: 27  Siehe

dazu Schnieringer, Psalm 8, 203–204. Zur Namenstheologie von Ps 23 siehe Janowski, Hirte, 162 ff. 28  Zur Bedeutung von ‫„ עז‬Macht, Bollwerk“ siehe im Folgenden. 29  Siehe dazu Irsigler, Frage, 5, und die Bemerkungen zum Text oben Abschnitt 1.

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„Wie kann ‚aus‘ dem Munde der Kinder, der Säuglinge, eine Macht ‚gegründet‘ werden, eine Macht ‚wegen‘ der Feinde Gottes! Aber selbst wenn man an der Hand von II Mak 3,18 ff. einen Fall konstruieren wollte, wo vorzüglich das Klagen der Säuglinge, also höchstens dreijähriger Kinder, die ‚Gemeinde‘ gegen Gottes Feinde beschützt hätte, so wüßte man noch nicht, was das in diesem Zusammenhang sollte, was es mit Gottes Lichtglanz am Himmel, mit den Gestirnen, mit Schafen, Rindern, Vögeln, Fischen und der Herrschaft der Menschen über sie zu tun hätte.“30

Wie die Forschungsgeschichte zeigt,31 ist dieses Problem nicht so einfach zu lösen. Zuletzt hat Schnieringer32 die These vertreten, dass V. 3 nicht sinnvoll in den Grundtext des Psalms einzuordnen ist. Da die von ihm dafür genannten Gründe aber weder der Metaphorik von ‫„ עז‬Macht, Bollwerk“ noch der Feindproblematik gerecht werden, ist die Frage nach dem Verständnis von V. 3 neu aufzurollen. Wichtige Hinweise dazu hat Neumann-Gorsolke gegeben,33 indem sie nicht den Umweg über die altorientalische Religionsgeschichte34 oder die moderne Kinderpsychologie35 nimmt, sondern vom vorliegenden Text und seinen Stichwort- und Motivverbindungen mit der Teilkomposition Ps 3–14 ausgeht.36 Zunächst: Wenn man an der masoretischen Verseinteilung von V. 3 festhält, ergibt sich ein synthetischer Parallelismus zwischen V. 3a und V. 3b, wobei der finale Sinn von V. 3b („um zum Aufhören zu bringen …“) der Aussageintention der präpositionalen Wendung ‫ למען‬in V. 3a („um deiner Bedränger willen“) entspricht, „während das ‫ להשׁבית‬die Gründung der Machtstellung (V. 3a) in ihrer Funktion präzisiert“:37 Ps 8,3a Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet um deiner Bedränger willen, b um zum Aufhören zu bringen Feind und Rächer.

Allerdings sind die beiden Kola mit dem Versmaß 3 + 2 + 2 (für V. 3a) und dem Versmaß 3 (für V. 3b) ungleich lang. Wie immer man hier gliedert,38 die Verständnisschwierigkeiten dieses Verses haften bekanntlich an der Umstandsangabe „aus dem Mund von Kindern und Säuglingen“. Da es keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine metaphorische Bedeutung des Binoms „Kinder und Säuglinge“ gibt,39 muss zunächst

30 

Duhm, Psalmen, 35 [Hervorhebung im Original gesperrt]. Siehe dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 67 ff. 32  Siehe dazu Schnieringer, Psalm 8, 97–98. 33  Siehe dazu Neumann-Gorsolke, Mund, 15 ff. 34  Dazu zählt die von Görg, Mensch, 309 ff, u. a., vertretene königsmythologische Erklärung, siehe dazu die Hinweise oben Anm. 11. 35  Dazu zählt die Interpretation von Crüsemann, Macht, 48 ff, siehe dazu die Kritik von Neumann-Gorsolke, Herrschen, 67 ff. 36  Zu Ps 8 im Kontext der Teilkomposition Ps 3–14 siehe auch unten Abschnitt 2. 37  Neumann-Gorsolke, Herrschen, 35–36. 38  Möglich wäre auch die Auffassung, V. 3 gegen die masoretische Verseinteilung zu gliedern in V. 3aα (3+2) und V. 3aβ.b (2+3), siehe dazu die Diskussion bei Schnieringer, Psalm 8, 72 ff.92 ff. 39  Siehe dazu Schnieringer, Psalm 8, 67 ff. 31 



„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“163

nach einer Erklärung für die Verbindung dieses Binoms mit dem Lexem ‫„ פה‬Mund“ (Metonym für eine artikulierte/unartikulierte Äußerung) gesucht werden. 1.2.2.1 „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen …“ In der Teilkomposition Ps 3–14 begegnet das Lexem „Mund“ an zwei Stellen (Ps 5,10; 10,7), die beide für das Verständnis von Ps 8,3 aufschlussreich sind. So bezieht sich die Bitte um göttlichen Rechtsentscheid in Ps 5,9–11 auf die Repräsentanten der Bosheit, der Verblendung, des Unrechts, der Lüge (‫„ דברי כזב‬Lügenredner“: V. 7!), der Bluttat und des Betrugs, die den Beter mit ihrem Treiben bedrängen (Ps 5,5–7) und darin dem Wesen des Gottes der Gerechtigkeit (vgl. Ps 5,9a!) diametral widersprechen. An diesen Gott wendet sich der bedrängte Beter mit seiner Rechtsbitte: Ps 5,9 Jhwh, leite mich in deiner Gerechtigkeit um meiner   Widersacher willen (‫)למען שׁוררי‬, mach eben vor mir deinen Weg! 10 Denn in seinem Mund (‫ )פה‬ist nichts Rechtes, ihr Inneres ist Verderben. Ein offenes Grab ist ihre Kehle, mit ihrer Zunge heucheln sie. 11 Lass sie (es) büßen, Gott, sie sollen fallen wegen ihrer Pläne, wegen der Menge ihrer Verbrechen verstoße sie, denn sie waren widerspenstig gegen dich! In V. 10 werden dabei bestimmte Körperteile als „Sitz verfehlter geistiger und praktischer Haltungen eines oder mehrerer Menschen“40 ins Spiel gebracht: der Mund, das Innere, die Kehle und die Zunge, mit der nach außen getragen wird, was im Inneren vorgeht, nämlich „nichts Rechtes“, „Verderben“, „(Grab >) Tod“ und „Heuchelei“, vgl. Ps 10,7: Ps 10,7 Sein Mund ist voll von Betrügereien und Gewalt, unter seiner Zunge gibt es (nur) Unheil und Übel.41 Im Mund der Widersacher, so Ps 5,10, ist nichts „Rechtes, Richtiges“ (‫„ כון