Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischem Einfluss: Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess [1 ed.] 9783428548675, 9783428148677

Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gilt weithin als Meilenstein auf dem Weg zur Herausbildung eines modernen Vö

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Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischem Einfluss: Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess [1 ed.]
 9783428548675, 9783428148677

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 27

Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischem Einfluss Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

Von Irina Schulmeister-André

Duncker & Humblot · Berlin

IRINA SCHULMEISTER-ANDRÉ

Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischem Einfluss

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Landgericht Göttingen

Band / Volume 27

Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischem Einfluss Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

Von Irina Schulmeister-André

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2014/2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-14867-7 (Print) ISBN 978-3-428-54867-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84867-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/2015 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt zuvörderst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. C ­ hristoph Safferling, der mir stets mit wertvollem Rat beigestanden und mich bestmöglich betreut und gefördert hat. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert Gornig für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz maßgeblich gefördert wurde die Entstehung der Arbeit durch ein Stipendium der International Max Planck Research School for Comparative Legal ­History (IMPRS) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Ich danke allen Mitgliedern des Leitungsgremiums für die Gewährung des Stipendiums und die Ermöglichung eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts in Moskau. Ich danke auch für die immaterielle Unterstützung in Gestalt gemeinsamer Diskussionen und zahlreicher Anregungen, die zum Gelingen der Arbeit wesentlich beigetragen haben. Ich danke insbesondere Prof. em. Dr. Dr. h. c. Joachim ­Rückert und Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Stolleis für ihren persönlichen Einsatz. Mein Dank gilt ferner der russischen Historikerin Dr. Marina Sorokina, Leiterin der historischen Abteilung im Alexander Solženicyn Zentrum zur Erforschung der russischen Diaspora im Ausland, für den stets fruchtbaren Dialog. Danken möchte ich zudem Prof. Dr. Natalja Lebedeva, Mitglied des Zentrums der Geschichte der internationalen Beziehungen am Institut für Allgemeine Geschichte der Rus­ sischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Ihr verdanke ich wertvolle Einsichten in die Organisation und Arbeitsweise des russischen Archivwesens. Ich danke ferner der Marburg University Research Academy für die Gewährung eines Stipendiums in der Abschlussphase der Dissertation und dem Göttinger Verein zur Förderung vergleichenden und internationalen Strafrechts sowie internationaler Kriminologie e. V. für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Besonderen Dank möchte ich meinen Eltern und meinem Ehemann Tobias aussprechen. Sie haben mir in allen Lebenslagen stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden. 

Irina Schulmeister-André

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Anlass und Zweck der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Einführung in den Quellenbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 III. Aufbau: Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 IV. Hinweise zu Transliteration und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen als Herausforderung der ­ sowjetischen Rechtswissenschaft der 1930er und 1940er Jahre . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Das Völkerrecht im rechtstheoretischen Wandel der 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . 34 II. „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“: Genese eines positiven sowje­ tischen Völkerrechtsverständnisses im Schatten der Lenin-Stalinschen Doktrin . 39 III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik unter besonderer Berücksichtigung ihrer konzeptionellen Konkretisierung in Bezug auf die Ahndung nationalsozialistischen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Das System der ‚internationalen Verbrechen‘: Theoretische Wegbereitung eines kohärenten völkerstrafrechtlichen Konzepts durch die Studien Trajnins . . . . 42 a) Strafrechtliche Intervention (1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Verteidigung des Friedens und Strafgesetz (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941 als Impulsgeber für die ­ Fortentwicklung eines zeitgenössischen Konzepts zur Ahndung von Kriegsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Die Resonanz in der sowjetischen (Rechts-)Wissenschaft auf die deutsche Invasion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Wissenschaftspolitische Repression als Hemmschuh einer diskursiven Entwicklung des sowjetischen Völkerstrafrechtsverständnisses . . . . . . . . . . . 49 c) Rechtsfortbildung intra muros: Diskrete Grundlegung einer völkerstrafrechtlichen Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Die Regierungserklärung vom 14. Oktober 1942: Die Installation eines internationalen Straftribunals als Nukleus einer sich entwickelnden sowjetischen Völkerstrafrechtskonzeption ex cathedra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. Das interne Poljanskij-Dossier: Blaupause eines Statuts für ein zukünftiges internationales Militärtribunal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 5. Die fachöffentliche Erschließung der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

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Inhaltsverzeichnis 6. ‚Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen‘: Monographische Vollendung der von Trajnin geleisteten Vorarbeiten in Bezug auf die völkerstrafrechtliche Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7. Poljanskijs Entwurf einer ‚Internationalen Gerichtsbarkeit‘ an die Öffentlichkeit: Veröffentlichung im Schatten Trajnins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen als Gegenstand sowjetischer Regierungs­ politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 I. Erste Phase: Unspezifisches Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Zweite Phase: Allmähliche Konturierung einer regierungsamtlichen sowjetischen Strafkonzeption im Wechselspiel mit westalliierten Modellen zur Ahndung von Kriegsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Die Erklärung vom 14. Oktober 1942: Grundlegende Weichenstellung in der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Einsetzung eines internationalen Straftribunals: Grundstein für ein emanzipiertes sowjetisches Strafkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Die Erklärung vom 14. Oktober 1942 als Manöver im Grenzbereich außenpolitischer Isolation: Hintergründe, Determinanten und Auswirkungen . . 93 aa) Misstrauen als Beziehungskonstante und eine neuralgische Perso­nalie: Das sowjetische Verhältnis zu Großbritannien und die sowjetische Ungewissheit über das weitere Schicksal Rudolf Heß’ . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Allianz auf Augenhöhe oder postremus inter pares? Der sowjetische Sonderweg als Reaktion auf die unzureichende Einbindung in die britischen Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Der antibritische Pravda-Leitartikel vom 19. Oktober 1942: Aufmacher mit Eskalationspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Der sowjetisch-britische Meinungsaustausch am 5. November 1942: Standortbestimmung und behutsame Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Das sowjetische Aide-mémoire vom 11. November 1942: Konsolidierung der bilateralen Beziehungen und rhetorische Abrüstung auf Geheiß Stalins . . . 110 5. Die Unterredung zwischen Kerr und Molotov am 24.  November 1942: ­ Weitere Rückführung des wechselseitigen Misstrauens . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6. Die sowjetische Abkehr vom Projekt einer UNWCC: Vorläufiger Kulminationspunkt eines wieder entfachten Misstrauens in den sowjetisch-britischen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Einladung der UdSSR zur Teilnahme an der UNWCC und grundsätzliche sowjetische Zustimmung am 21. Januar 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Stein des Anstoßes: Die Frage der konkreten Kommissionsbesetzung als unüberwindbare Hürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

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7. Offizielle Konsenswahrung in der Folgezeit: Vermeidung offener Verwerfungen als Maxime der alliierten Außendarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 8. Der Ukaz Nr. 43 vom 19. April 1943: Sowjetisches Sonderrecht zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und rechtspraktische Erprobung auf sowjetischem Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Der Ukaz Nr. 43 als strafrechtliches Passepartout: Ideologische Überformung des kodifizierten Sowjetstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) „Blut für Blut, Tod für Tod“: Initiale Anwendung des Ukaz 43 in der strafgerichtlichen Spruchpraxis der sowjetischen Militärgerichte . . . . . . . . . . 142 9. Die Moskauer Erklärung vom 30.  Oktober 1943: Alliiertes Bekenntnis zur Notwendigkeit eines kollektiven Vorgehens bei der Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 10. Stalins Rede anlässlich des 26. Jahrestages der Revolution: Manifest für eine kategorische Kriminalisierung der deutschen Kriegsführung? . . . . . . . . . . . 151 11. Die Konferenz in Teheran: Trinkspruch als Destillat der sowjetischen Kriegsverbrecheragenda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 12. Der sowjetische Kriegsverbrecherprozess von Char’kov (15. bis 18. Dezember 1943): Propagandistische Inszenierung im Gewande der Justizförmigkeit . . 155 a) Das Verfahren von Char’kov als Paradebeispiel eines politisch dirigierten Schauprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Der Kriegsverbrecherprozess von Char’kov als singulärer Akt nationaler Selbstbehauptung: Erklärungsansätze und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . 161 c) Bewertung und Ausblick: Der Prozess von Char’kov als Instrument der Staatspropaganda und Schablone für einen international organisierten Prozess gegen Hauptkriegsverbrecher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Dritte Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik und grundsätzliche Verständigung auf die Einrichtung eines Internationalen Militär­ tribunals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Ansätze zur Koordinierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik als Gegenstand diplomatischer Annäherung zwischen der UdSSR und den westlichen Alliierten im Jahresverlauf 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Stagnation der sowjetischen Kriegsverbrecherkonzeption in der Endphase des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Ambivalenz der westalliierten Kriegsverbrecherkonzeptionen . . . . . . . . . 173 aa) „[T]he outlaws shot to death within six hours“: Churchills Nomen­ klatur der Gesetzlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) „[P]ut to death forthwith by firing squads […] of the United Nations“: Die Problematik der Hauptkriegsverbrecher als Gegenstand des amerikanischen Morgenthau-Plans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc) Der britisch-amerikanische Telegrammentwurf von Quebec: Amal­ gamation der westallierten Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 dd) Die allmähliche Erosion der westalliierten Liquidationsszenarien . . 184

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Inhaltsverzeichnis c) Ein „extrem achtbarer Standpunkt“: Stalins kategorische Verwahrung gegen Liquidationen auf ‚politischer‘ Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Die Abschlusserklärung von Jalta: Mandat zur Vorbereitung einer koordinierten alliierten Sprachregelung im Umgang mit Hauptkriegsverbrechern . . . . 189 3. Ansätze zur bilateralen Wiederannäherung der Positionen Großbritanniens und Amerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Von Morgenthau zu Rosenman: Grundsätzliche Einigung auf Grundlage des amerikanischen Entwurfs in San Francisco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 . . . . . . . . . . . . . . 202 I. Faktische Anerkennung des amerikanischen Vorschlags als Grundlage für die weitere Verhandlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Der Bericht Arutjunjan/Golunskij vom 8. Mai 1945: Furcht vor angloamerikanischer Majorisierung und Vorschläge zur Einsetzung des Kontrollrats als übergeordnete Revisionsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Der Bericht Molotovs an Stalin vom 7.  Juni 1945: Zusammenfassung der ­ sowjetischen Vorbehalte und Grundlegung einer offiziellen Positionsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3. Das sowjetische Memorandum vom 9.  Juni 1945: Grundsätzliche Sanktio­ nierung der amerikanischen Vorlage trotz identifiziertem Änderungsbedarf im Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Offizielle Notifikation der sowjetischen Delegationsmitglieder: Späte Nominierung, interne Rollenzuweisung und personelle Unterbesetzung . . . . . . . . . . . . . . 209 III. Schweres Marschgepäck: Engmaschige Direktiven an die sowjetische Delegation vor der Abreise nach London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen vom 26. Juni bis 8. August 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 I. Organisatorischer Rahmen der Konferenz und Verlauf der Verhandlungen . . . . . 222 II. Zwischen Berichtspflicht und Weisungsunterworfenheit: Die Arbeitsweise der sowjetischen Delegation in London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 III. Ausgangslage der sowjetischen Verhandlungsführung: Kommentierung zum zweiten amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 IV. Zwischen Kompromiss und Unnachgiebigkeit: Der sowjetische Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Gliederung und formale Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Die Verfassung des Internationalen Militärgerichtshofs (Abschnitt I) . . . . . . 233

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3. Die Deliktstatbestände und allgemeine Grundsätze (Abschnitt II) . . . . . . . . 238 a) Art. 6 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Verbrechen gegen den Frieden, Art. 6 lit. a IMT-Statut . . . . . . . . . . . 238 (1) Das amerikanische Konzept – statutarische Fixierung einer Definition des Aggressionsvorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 (2) Das sowjetische Konzept – Justiziabilitätsausschluss in Bezug auf konkrete Aggressionsvorwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 (3) Beschränkung auf die europäische Achse und Justiziabilität bei Verzicht auf definitorische Einengungen: Genese einer Kompromissformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (4) Mutmaßliche Ursachen für den sowjetischen Widerstand gegen die Inkorporation einer Aggressionsdefinition: Furcht vor Anwendung der Aggressionsdefinition auf eigene Handlungen? . . . . . . . . . . 244 bb) Kriegsverbrechen, Art. 6 lit. b IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 cc) Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Art. 6 lit. c IMT-Statut . . . . . 248 b) Art. 7 und Art. 8 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 c) Art. 9 bis Art. 11 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 aa) Anfänglicher sowjetischer Widerstand gegen die Aufnahme von die Organisationen betreffenden Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 bb) Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Bemühungen um gegenseitige Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 cc) Endgültige Aufgabe des sowjetischen Widerstandes gegen die Idee der Organisationenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 dd) Exkurs: Das Prinzip der gemeinschaftlichen Verantwortung im sowjetischen Strafrecht und im Völkerstrafrecht aus sowjetischer Per­ spektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (1) Gemeinschaftliche Verantwortung im System des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (2) Strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Organisationszugehörigkeit als rechtspraktisch motivierte Argumentationsfigur Vyšinskijs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 (3) Strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Organisationszugehörigkeit im staatsanwaltschaftlichen Kurzlehrbuch von 1939 . . . . . . 262 (4) Nachträgliche rechtsdogmatische Fundierung des Vyšinskij-Konzepts durch Trajnin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (a) Beteiligung und Organisationsverantwortlichkeit im sowje­ tischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (b) Beteiligung und Organisationsverantwortlichkeit aus völkerrechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 ee) Die prozessuale Ausgestaltung der Organisationen‚anklage‘ . . . . . . . 269 d) Art. 12 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 e) Art. 13 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

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Inhaltsverzeichnis 4. Der Ausschuss für die Untersuchung von Kriegsverbrechen und die Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern (Abschnitt III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Ausschuss der Generalstaatsanwälte und zur selbstständigen Wahrnehmung übertragene Funktionen (Art. 14 und Art. 15 IMT-Statut) . . . . . . . 272 b) Modus der Entscheidungsfindung im Komitee der Ankläger . . . . . . . . . . 275 c) Umfang der Anklageschrift und beizufügende Dokumente . . . . . . . . . . . 277 5. Fair Trial – gerechtes Verfahren für die Angeklagten (Abschnitt IV) . . . . . . 280 6. Rechte des Gerichtshofs und verfahrensmäßige Ausgestaltung (Abschnitt V) 286 a) Art. 17 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Art. 18 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Art. 19 bis 21 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 d) Art. 22 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 e) Art. 24 IMT-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 7. Urteil und Strafe (Abschnitt VI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 8. Kosten (Abschnitt VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung: Zwischen organisatorischer Herausforderung und Behauptung der politischen Deutungshoheit . . . . . . . . . . 305 I. Vorverständigung über eine Aufstellung von als Angeklagte in Betracht kommenden Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift . . . . . . . 309 1. Organisation und äußerer Rahmen der vorbereitenden Arbeiten . . . . . . . . . . 309 2. Die Moskauer Regierungskommission: Fernsteuerung der sowjetischen Verhandlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 a) Personelle Zusammensetzung des Gremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 b) Mandat und Aufgabenwahrnehmung der Regierungskommission . . . . . . 313 3. Nikitčenkos Maßnahmenkatalog: Delegationsarbeit unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 4. Erste Konturierung des Anklageentwurfs: Amerikanische Vorlage einer Anklageschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5. Die späte Ankunft des sowjetischen Hauptanklägers in London: Rudenko und das sowjetische „Schema“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 6. Fortschreibung der Entwurfsarbeiten: Der britische Anklageentwurf als weitere Verhandlungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 7. „[N]icht zufriedenstellend“: Der britische Anklageentwurf auf dem Prüfstand der Moskauer Regierungskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 8. Ivanovs Bestandsaufnahme zur prekären Situation der Londoner Sowjetdelegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

Inhaltsverzeichnis

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III. Vorläufige Finalisierung der Anklageschrift und nachträgliche Revisionsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Vertreter ohne Vertretungsmacht: Rudenkos weisungswidrige Unterschriftsleistung unter Änderungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2. Schwerfälliger Apparat in Zeitnot: Bemühungen zur kurzfristigen Einbringung weiterer sowjetischer Änderungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 a) Akute Änderungsanliegen aus der Etappe: Vyšinskijs Bericht an Molotov vom 13. Oktober 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 b) Finale Änderungsempfehlungen an die „Instanz“: Die Vorlage an Stalin vom 16. Oktober 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. „Unvermögen, in einer solchen Umgebung zu arbeiten“: Maßregelung der ­ sowjetischen Repräsentanten vor der Moskauer Regierungskommission . . . 350 IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Interne Aufgliederung der Anklagekomplexe für die Verlesung in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2. Bemühungen um die tatsächliche Aufbereitung des Anklagematerials durch die sowjetische Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 3. Das Abhilfegesuch Nikitčenkos und Smirnovs vom 9. November 1945: Per­ petuierung der desolaten Personalsituation der Sowjetdelegation in Nürnberg 360 4. Tropische Infektionskrankheiten und andere Widrigkeiten: Vergebliches Eintreten für eine Vertagung des Prozessauftakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung . . . . . . . 375 I. Struktur und personelle Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 II. ‚Unsichtbare‘ Protagonisten: Die Nürnberger Vyšinskij-Kommission zur Steuerung der Handlungen der sowjetischen Prozessteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1. Errichtung, Zusammensetzung und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 2. Weitreichende Interventionspraxis in Bezug auf die Aufgabenwahrnehmung der sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 3. Rezentralisierung der Steuerungshoheit in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT: Zielrichtung, Vortrag und Beweisführung 397 1. Der Eröffnungsvortrag des sowjetischen Hauptanklägers Rudenko . . . . . . . 397 2. Die Anschlussvorträge der sowjetischen Hilfsankläger . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 3. Das von Seiten der UdSSR in das Verfahren eingeführte Beweismaterial . . . 410 a) Urkundliche Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

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Inhaltsverzeichnis aa) Bestandsaufnahme auf Grundlage der vorläufigen statistischen Auswertung Karevs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 bb) Die Berichte der Außerordentlichen Staatskommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden (ČGK) . . . . . . 416 (1) Mandat, Struktur und Zusammensetzung der ČGK . . . . . . . . . . 417 (2) Sachberichterstattung unter politischen Auspizien: Vyšinskij als „unofficial editor and censor“ der ČGK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 (3) Der Fall ‚Katyn‘ vor dem IMT: Von der Kontroverse um die Reichweite des Art.  21 IMT-Statut zum Scheitern der sowje­tischen Schuldzuweisungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 b) Der Zeugenbeweis als Beweismittel der sowjetischen Anklage . . . . . . . . 456 aa) Der ambivalente Zugang der UdSSR zum Zeugenbeweis als Mittel der Beweisführung von Anklage und Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . 456 bb) Zeugen der sowjetischen Anklage vor dem Tribunal . . . . . . . . . . . . . 462 (1) Generalfeldmarschall Friedrich Paulus als ‚Kronzeuge‘ der sowjetischen Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 (2) Weitere Zeugen der sowjetischen Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 4. „Hot button topics“: Art. 18 IMT-Statut und das Geheime Zusatzprotokoll . 471 a) Interalliierte Verständigung auf ein Verzeichnis verfahrensbezogener Themenverbote („hot-button topics“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 b) Praktisches Scheitern sowjetischer Bemühungen zur Unterbindung der Erörterung unerwünschter Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 aa) Eidesstattliche Versicherung von besonderer Brisanz: Das Affidavit des Botschafters Friedrich Gaus vom 15. März 1945 . . . . . . . . . . . . 477 bb) Überraschungs-Coup der Verteidigung: Andeutungsweise Thematisierung des Geheimen Zusatzprotokolls in der Sitzung am 25. März 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 cc) Krisenhafte Zuspitzung der Prozessentwicklung aus sowjetischer Perspektive: Teilweise Verlesung des Affidavits und innersowjetische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 dd) Alliierte Indiskretionen und ein unkonventioneller Verständigungsversuch zwischen Verteidigung und sowjetischer Anklage . . . . . . . . 486 ee) Das zweite Affidavit des Friedrich Gaus: Erinnerungsbasierte Rekonstruktion des Urkundeninhalts als Beweissurrogat? . . . . . . . . . . . . . . 487 ff) Die Entscheidung des Tribunals über den Beweisantrag Seidls: Etappensieg der sowjetischen Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 gg) Vergebliche Bemühungen um eine gemeinsame Strategie zur Abwehr der „subversiven Taktik“ der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496

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H. „Die Stunde der Abrechnung“: Zur sowjetischen Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 I. Der erste Entwurf von Norman Birkett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 1. Zur „Deklaration über Rechtsfragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 2. Zur Festlegung eines Datums für den gemeinsamen Plan oder die Verschwörung gegen den Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 3. Zur Frage der Bedeutung von Kriegsverbrechen und zum Begriff der Ver­ brechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 4. Weitere Anmerkungen und Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 III. Die richterlichen Beratungen in camera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 1. Der einleitende und der historische Urteilsabschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 2. Anklagepunkte eins und zwei – Gemeinsamer Plan oder Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 3. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . 522 4. Die angeklagten Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 5. Die Urteile zu den Einzelangeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 a) Die Beratungen des Tribunals in Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 b) „Es ist auf der Verhängung der Todesstrafe zu bestehen“: Politische Direktiven an Nikitčenko vom 19. September 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 c) Das abweichende Sondervotum Nikitčenkos: Residuum sowjetischer Kernforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 I. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578

Abkürzungsverzeichnis Abg. Abgeordnete(r) ABl. Amtsblatt ADAP Akten zur Auswärtigen Deutschen Politik Agitprop Otdel agitacii i propagandy (Abteilung für Agitation und Propaganda) AHK Alliierte Hohe Kommission American Historical Review AHR AJIL American Journal of International Law AN Akademija Nauk (Akademie der Wissenschaften) ARAN Archiv Rossijskoj Akademii Nauk (Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften) ASEER American Slavic and East European Review AVP RF Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii (Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation) Az. Aktenzeichen BArch MA Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv Bd. Band BGBl. Bundesgesetzblatt Blatt (Teil der Archivsignatur) Bl. Cabinet Office CAB CCC Constitutio Criminalis Carolina CCTWC War Cabinet Committee on Treatment of War Criminals CEO Central European Observer Comité français de la Libération nationale CFLN CGAOR SSSR Central’nyj gosudarstvennyj archiv Oktjabr’skoj revolucii SSSR (Zentrales staatliches Archiv der Oktoberrevolution der UdSSR) ČGK Črezvyčajnaja Gosudarstvennaja Komissija (Außerordentliche Staatliche Kommission) Ch. Chapter CIC Code d’instruction criminelle d. delo (Akte, Teil der Archivsignatur) DDR Deutsche Demokratische Republik Dokumente zur Deutschlandpolitik DzD EHR English Historical Review Europäische Beratende Kommission EKK f. fond (Bestand, Teil der Archivsignatur) FRUS Foreign Relations of the United States – Diplomatic Papers G. A. O. R. General Assembly Official Records GARF Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russischen Föderation) GKO Gosudarstvennyj Komitet Oborony (Staatliches Verteidigungskomitee)

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Abkürzungsverzeichnis

Halbbd. Halbband HC House of Commons HL House of Lords ICLQ International and Comparative Law Quarterly Internationales Militärtribunal = International Military Tribunal IMT Internationales Militärtribunal für den Fernen Osten IMTFO Israel Law Review Isr. Law Rev JICJ Journal of International Criminal Justice Kap. Kapitel KJ Kritische Justiz KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion League of Nations Treaty Series LNTS MGIMO Moskovskij gosudarstvennyj institut meždunarodnych otnošenij MID Rossii (Moskauer Staatliches Institut für Internationale Beziehungen [MGIMO-Universität]) Moskovskij Gosudarstvennyj Universitet (Moskauer StaatsuniMGU versität) Ministerstvo Inostrannych Del (Außenministerium) MID MVD Ministerstvo Vnutrennych Del (Innenministerium) NKFD Nationalkomitee Freies Deutschland NKID Narodnyj komissariat inostrannych del SSSR (Volkskommissariat für Äußere Angelegenheiten) Narodnyj Komissariat Vnutrennych Del SSSR (Volkskommissa­ NKVD riat für Innere Angelegenheiten) Nr. Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP N. Y. Sch. J. Int’l & Comp. L. New York Law School Journal of International and Comparative Law ohne Datum o. D. OKW Oberkommando der Wehrmacht op. opis’ (Findbuch, Teil der Archivsignatur) papka (Mappe, Teil der Archivsignatur) p. Public Record Office PRO RCEEL Review of Central and East European Law RF Rossijskaja Federacija (Russische Föderation) Rg Rechtsgeschichte RGASPI Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv social’no-političeskoj istorii (Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte) RGBl. Reichsgesetzblatt RKKA Raboče-Krest’janskaja Krasnaja Armija (Rote Armee der Arbeiter und Bauern) RSDRP Rossijskaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija (Russische Sozial-Demokratische Arbeiterpartei) Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja RespuRSFSR blika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) RSHA Reichssicherheitshauptamt SA Sturmabteilung (der NSDAP) SEER Slavonic and Eastern European Review

Abkürzungsverzeichnis

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Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sovet Narodnych Komissarov (Rat der Volkskommissare) Sovetskoe informacionnoe bjuro (Sowjetisches Informationsbüro) Schutzstaffel (der NSDAP) Sovetskaja Socialističeskaja Respublika (Sozialistische Sowjetrepublik) Sojuz Sovetskich Socialističeskich Respublik (Union der So­ SSSR zialistischen Sowjetrepubliken) Ständiger Internationaler Gerichtshof StIGH T. Tom (Band) TASS Telegrafnoe Agenstvo Sovetskogo Sojuza (Telegrafenagentur der Sowjetunion) Th. Theil UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Übersetzung der Verfasserin Ü. d. Verf. UGA Upravlenie gosudarstvennych archivov (Verwaltung staatlicher Archive) United Nations War Crimes Commission UNWCC UPVI NKVD SSSR Upravlenie NKVD SSSR po delam o voennoplennych i internirovannych (Verwaltung des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR für Angelegenheiten von Kriegs­ gefangenen und Internierten) USSR Union of Soviet Socialist Republics Vand. J. Transnatl. L. Vanderbilt Journal of Transnational Law VČ Vysokie častoty (hohe Frequenz) (abhörsichere Hochfrequenzleitung für Regierung und Militär) VCIK Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet (Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee) Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte VfZ VKP(b) Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (bol’ševikov) (Kommunistische Allunions-Partei der Bolschewiken) Vol. Volume VPSS Vnešnjaja politika Sovetskogo Sojuza (Außenpolitik der Sowjet­ union) Vyp. Vypusk (Ausgabe) Wash. U. Global Stud. L. Rev. Washington University Global Studies Law Review War Cabinet Minute WM WP War Cabinet Paper ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Ziff. Ziffer zit. zitiert ZK Zentralkomitee ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft SMAD SNK Sovinformbjuro SS SSR

* * * Im Übrigen orientieren sich die verwendeten Abkürzungen an dem Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache von Hildebert Kirchner, 8. Aufl., 2015.

A. Einleitung I. Anlass und Zweck der Untersuchung Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gilt als Meilenstein auf dem Weg des modernen Völkerrechts, als „Geburtsstunde“ des Völkerstrafrechts1 wie auch der internationalen Strafjustiz2. Die fundamentale Bedeutung des Prozesses nicht nur als rechtshistorisch relevantes Phänomen, sondern als Wegbereiter der gegenwärtigen Völkerrechtsprechung3 schlechthin steht im Wesentlichen außer Frage. Auch in der sowjetischen4 wie russischen5 Rezeptionsgeschichte des Prozesses ist und war dieser Befund stets von breitem Konsens getragen. 1

Die Metapher von der „Sternstunde des Völkerstrafrechts“ findet Verwendung etwa bei von Arnauld, Völkerrecht, Rdnr.  1280; Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S.  143; Gärditz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. XI: Internationale Bezüge, § 245 Rdnr. 3; Trappe, in: Fritz/Sachse/Wolrum (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder, S. 193 (202). 2 Safferling, Internationales Strafrecht, § 4 Rdnr. 36. 3 Für die aktuelle Bedeutung des IMT-Statuts in der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte siehe beispielsweise EGMR, Beschwerde Nr. 36376/04, Urt. v. 17. Mai 2010, Rdnr. 117 (The Charter of the IMT Nuremberg) und Rdnrn. 118–119 (Judgment of the IMT Nuremberg) – Kononov v. Latvia; Beschwerden Nr. 55508/07 und 29520/09, Urt. v. 21.  Okt. 2013, Rdnrn. 76–77 (Abschn. II  – Relevant International Law and Practice, Unter­ abschnitt C  – Charter of the International Militrary Tribunal) und Rdnrn. 109–110 (Parties Applications – The Russian Government), Rdnr. 116 (Parties Applications – The applicants) –­ Janowiec and others v. Russia; Beschwerden Nr. 34356/06 and 40528/06, Urt. v. 14. Jan. 2014, Rdnr. 82 – Jones and others v. the United Kingdom. Vgl. auch die Spruchpraxis des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (engl. International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY), Urt. v. 10. Dez. 1998, Rdrn. 137, 140, 155, 168, 217 u. a. – Prosecutor v. Anto Furund’ija. 4 Vgl. für die Bewertung des Verfahrens als wegbereitend stellvertretend für eine Vielzahl von während der Sowjetära erschienenen wissenschaftlichen Beiträgen Romaškin, Meždunarodnaja žizn’ 1969, No 5, S. 31–37; Poltorak, Sovetskaja justicija 1969, No 5, S. 8–10; Poltorak, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1975, No 5, S. 77–85; Aleksandrov, Pravovedenie 1977, No 1, S. 103–105; Raginskij, Sovetskaja justicija 1976, No 19, S. 28–30; Raginskij, ­Čelovek i zakon 1985, No 5, S. 85–113; Ledjach, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1986, No 1, S. 55–63, hier insb. S. 57; Pustogarov, Meždunarodnaja žizn’ 1986, No 7, S. 64–73, insb. S. 72 f.; Talankina, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1987, No 3, S. 134–136. 5 So stellten A.  Ch. Abašidze und A. M. Solncev in einem gemeinsam vorgelegten Beitrag aus dem Jahr 2006 fest, dass das Statut des IMT den „Grundstein für die Formierung der internationalen Strafjustiz gelegt“ hat, Ü. d. Verf., Abašidze/Solncev, Meždunarodnoe pravo: International Law 27 (2006), S.  72–87, hier 77; für die engl. Fassung des Beitrags unter dem Titel „Nuremberg Trial and progressive development of international law“ siehe ebd., S. 88–101. Im Jahr 2007 attestierte Trizkoz dem Nürnberger Prozess einen maßgeblichen Einfluss auf die völkerrechtliche Praxis und die Entwicklung des modernen Völkerrechts und seiner Teilbereiche, siehe Trizkoz, Žurnal Rossijskogo Prava 2007, No 1, S. 141–151, hier 142;

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A. Einleitung

Dem Anteil der Sowjetunion am Vorbereitungs- und Durchführungsstadium des Prozesses hingegen wird im westlichen Sprach- und Wissenschaftsraum eine weitaus weniger günstige Beurteilung zuteil. Nicht selten münden entsprechende Darstellungen in die Bewertung ein, der von sowjetischer Seite auf den Prozess genommene Einfluss erscheine geeignet, das sonst weitgehend uneingeschränkt positive Vermächtnis des Prozesses mit dem Keim der Schuld zu infizieren und die hehren Motive so insgesamt in Misskredit zu bringen.6 Anders als diese häufig anzutreffende Konnotation des sowjetischen Prozessbeitrags vermuten lässt, ist eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Einfluss der UdSSR auf die Prozessidee sowie die Vorbereitung und Durchführung des Verfahrens bislang indes kaum ernsthaft unternommen worden.7 Das unterentwickelte Erkenntnisinteresse mag auch und vermutlich sogar vor allem dem durch administrative und sprachliche Barrieren erschwerten Zugang zu den maßgeblichen historischen Quellen geschuldet sein. Es dürfte daneben jedoch auch begründet liegen in der hierarchisierenden Wirkung des in der westlichen Wissenschaftsgemeinschaft dominanten Narrativs zur Rollenverteilung unter den Nürnberger Signatarstaaten, in dessen Zentrum die Verdienste der Vereinigten Staaten, insbesondere die Leistungen des US-Hauptanklägers Robert H.  Jackson, verortet werden. Den sowjetischen Prozessteilnehmern bleibt in dieser Perspektive kaum mehr als die Rolle des unnachgiebigen, starren Apparatschiks vorbehalten, der aufgrund seiner immerwährenden Pflicht zur Abstimmung mit Moskau mehr als ängstlicher Statist denn als souveräner Akteur in Erscheinung tritt.8 Dass derartigen Rollenzuweisungen häuvgl. auch Naumov, Rossijskaja Justicija 2006, No 9, S. 68–40, ders., Rossijskaja Justicija 2006, No 10 (Fortsetzung), S. 53–57; Glotova, Meždunarodnoe pravo: International Law 27 (2006), S. 140–151, für die engl. Fassung, ebd., S. 152–161; Maleev, ebd., S. 191–220, engl. Fassung ebd., S. 220–248; Sucharev, Žurnal Rossijskogo Prava 2007, No1, S. 87–94. 6 Vgl. etwa Bazyler, der zwar einerseits die aktive Rolle der sowjetischen Vertretung während der Ausarbeitung der Normen des IMT-Statuts und der Einführung von Beweismaterial in das Verfahren anerkennt, diese positive Würdigung jedoch sogleich durch die Bewertung relativiert, die Autorität des IMT habe durch die die Sowjetführung selbst treffende schuldhafte Verstrickung eine grundlegende Delegitimierung erfahren, siehe Bazyler, in: Regin­bogin/­ Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 45–52, hier 50 f.; ähnlich Goda, Tales from Spandau, S. 34. 7 Georg Ginsburgs legte in den 1990er Jahren – allerdings ohne Auswertung der archivalischen Quellenlage – diverse Untersuchungen zum sowjetischen Einfluss auf den Nürnberger Prozess vor, siehe Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial (1990); Ginsburgs, RCEEL 21 (1995), S.  1–40; ders., Moscow’s Road (1996). 2008 widmete die amerikanische Historikerin Francine Hirsch dem sowjetischen Beitrag immerhin einen in Aufsatzform veröffentlichten Beitrag, siehe Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701–730. Dem Beitrag Bazylers (Fn. 6) schließlich liegen im Wesentlichen veröffentlichte Sekundärquellen, insbesondere die Studien Ginsburgs zugrunde; eine Berücksichtigung des mittlerweile freigegebenen archivalischen Bestandes erfolgt demgegenüber nicht. 8 Siehe etwa Klaus Kastner, Völker, S. 21, nach dessen Bewertung sich die Vereinigten Staaten „schon frühzeitig [zum, d. Verf.] Initiator und Motor eines solchen Tribunals“ entwickelten und der den Verdiensten Jacksons bei der Vorbereitung des Prozesses einen eigenen Abschnitt mit dem Titel „Die Vorbereitung des Prozesses. Ein Meisterstück des US-Anklägers Jackson“ widmet (ebd., S. 23–36). Die sowjetische Seite findet im selben Beitrag ledig-

I. Anlass und Zweck der Untersuchung

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fig eine schematisierende Wahrnehmung zugrunde liegt, in der die tatsächlichen Beiträge nur verzerrt oder unvollständig abgebildet sind, belegt bereits ein Blick auf das seit vielen Jahren allseits zugängliche Quellenmaterial. So lässt sich beispielsweise anhand der im sog. Jackson Report9 wiedergegebenen Materialien zur Genese des IMT-Statuts eine in den meisten Fällen offene und konsensorientierte Verhandlungskultur auf Seiten der sowjetischen Delegationsvertreter nachweisen. Nicht minder unterkomplex stellt sich die unkritische Schilderung des sowjetischen Beitrags zum Nürnberger Tribunal mitunter dar, legt man die in der russischsprachigen Literatur bis in die Gegenwart weit verbreitete Bewertung der Rolle der Sowjetunion im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zugrunde. Ausgangspunkt derartiger Darstellungen ist nicht selten die – zutreffende – Feststellung, dass die Idee der Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern erstmals von sowjetischer Seite im Oktober 1942 öffentlich formuliert worden ist. Auch der umfangreiche Beitrag der sowjetischen Beweissammlungskommission zum Beweismittelfundus der Nürnberger Anklage sowie die Auftritte des sowjetischen Hauptanklägers Roman Rudenko finden in diesem Zusammenhang für gewöhnlich lobende Erwähnung.10 Insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit der Person Rudenkos hat in der russischen wissenschaftlichen Debatte bislang nicht stattgefunden. Vielen gilt der sowjetische Hauptankläger vielmehr weiterhin als strahlender Bannerträger eines von sowjetischer Seite glorreich errungenen Prozesserfolges11, dessen überlegene lich im Zusammenhang mit negativer Einflussnahme Erwähnung. So stellt Kastner fest, dass Stalin die sowjetischen Schauprozesse, die „heutzutage einhellig als das brutale Handeln eines Diktators gewertet“ werden, „in gewissem Sinne durchaus als ‚Muster‘ für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ansah“, siehe Kastner, ebd., S. 10; zu einem ähnlich lautenden Befund auch Henry T. King Jr., in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 7–11, hier S. 7: „Under the leadership of Robert Jackson we had the vision of a better world, and we moved through Nuremberg to achieve it. It wasn’t easy, because there were those, inclusing Winston Churchill und Joseph Stalin, who wanted to avoid trial and expedite matters through summary executions“; vgl. ferner King, ebd., S. 10: „In sum, what Jackson wished to convey through his opening statement was that Nuremberg was to mark the beginning of a new era in human history, and indeed, he was the architect of Nuremberg and this was his vision, which is as valid today as it was 60 years ago.“ 9 Report of Robert H. Jackson, United States Representative to the International Conference on Military Trials, London, 1945 (im Folgenden: Jackson Report). 10 Vgl. Davydov, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 86–92; Čeremnych, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/ Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 139 (141); Naumov, Rossijskaja Justicija 2006, No 9, S. 68–40, ders., Rossijskaja Justicija 2006, No 10 (Fortsetzung), S. 53–57; Varennikov, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 47–50. 11 Vgl. hierzu etwa den Duktus der 2008 durch den amtierenden stellvertretenden Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation, Aleksandr Grigor’evič Zvjaginzev, unter dem Titel „Rudenko“ vorgelegten Biographie: „Man muss sogleich anerkennen, dass er [Rudenko, d. Verf.] die ihm aufgetragene Aufgabe [Durchführung des Nürnberger Prozesses, d. Verf.] glänzend erfüllt hat. Die Teilnahme Rudenkos am Nürnberger Prozess ist das leuchtendste unter allen Kapiteln seiner Biographie.“, siehe Zvjaginzev, Rudenko, S. 64 (Ü. d. Verf.). Vgl. auch

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A. Einleitung

Tatsachenkenntnis und akribische Vorbereitung die Leistung der westalliierten Hauptankläger weit in den Schatten gestellt hätten.12 Die vorliegende Untersuchung verfolgt nicht das Anliegen, die eingangs erwähnte Bewertung der sowjetischen Beteiligung als partielle Delegitimierung des Nürnberger Vermächtnisses zu bestätigen oder zu widerlegen. Ein derartiges Werturteil würde zuvörderst einen Abgleich mit den von Seiten der anderen Delegationen geleisteten Beiträgen erfordern, deren Einfluss auf den Prozessverlauf ebenfalls einer aktuellen und kritischen Überprüfung unterzogen werden müsste. Ziel der Studie ist vielmehr eine von den im westlichen wie russischen Wissenschaftsraum jeweils dominanten Narrativen unbeeinflusste Rekonstruktion des sowjetischen Beitrags zur Vorbereitung und Durchführung des Prozesses insbesondere anhand von russischen Archivquellen und sonstigen editierten Materialien amtlicher Provenienz.

II. Einführung in den Quellenbestand Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung wurden im Schwerpunkt archivalische Bestände aus dem Fundus des Archivs für Außenpolitik der Russischen Föderation (AVP RF)13 und aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF)14 herangezogen und ausgewertet. Daneben wurden in geringerem Umfang auch die im Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte­ Zvjaginzev, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 35–42, hier S. 40 (Ü. d. Verf.): „Seine Rolle als Hauptankläger vor dem Internationalen Militärtribunal, ausgefüllt mit Glanz und Würde, hat sein künftiges Schicksal in vielen Dingen vorbestimmt.“ Für eine ähnliche Einschätzung durch den stellvertretenden ukrainischen Generalstaatsanwalt Šinal’skij aus dem Jahr 2007 siehe Šinal’skij, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 105–110. 12 Charakteristisch Zvjaginzev, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timo­ feev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 35–42, hier S. 41 (Ü. d. Verf.): „Warum hat Rudenko den Prozess so glänzend geführt? Weil er im Gegensatz zu Jackson, Fyfe, Lawrence und anderen Teilnehmern des Prozesses das Material von innen kannte. […] Er sammelte sie [die Beweise, d. Verf.] gründlich und professionell, so wie es die strafprozessualen Vorschriften vorsehen. Auch deswegen wurden all diese Beweise als zulässig und gesetzeskonform bewertet und konnten auf ihrer Grundlage die nazistischen Verbrecher verurteilt werden. Nach allem, was Rudenko in den vorangegangenen sechs Jahren ausgestanden hatte, kann man sich vorstellen, wie er sich auf den Auftritt vorbereitet hat und wie er in dem Nürnberger Verfahren aufgetreten ist.“ 13 Für einen Überblick über den in AVP RF aufgenommenen Dokumentenbestand mit Bezug zum Nürnberger Prozess siehe Provalov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istrorii, S. 49–54. 14 Für das Thema der vorliegenden Untersuchung relevante Dokumente sind im Fond „Internationales Militärtribunal für deutsche Hauptkriegsverbrecher (Nürnberger Prozess)“ (GARF, R-7445) zusammengefasst. Dokumente der Außerordentlichen Staatskommission finden sich unter der Kennung GARF, R-7021.

II. Einführung in den Quellenbestand

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(RGASPI) und im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften (ARAN) geführten Fonds konsultiert.15 Archivquellen britischen Ursprungs sind den Beständen des britischen Nationalarchivs (The National Archives, TNA) entnommen. Bei der Wiedergabe zahlreicher Dokumente, insbesondere aus der zwischen den alliierten Regierungen vor Kriegsende geführten diplomatischen Korrespondenz, konnte die Arbeit auf die einschlägigen russischen, deutschen oder amerikanischen Akteneditionen zurückgreifen.16 Offizielle Erklärungen der Sowjet­ regie­r ung und ähnliche regierungsamtliche Verlautbarungen werden überwiegend anhand der entsprechenden Veröffentlichungsfundstelle in der Tageszeitung Pravda, dem publizistischen Zentralorgan des ZK der VKP(b)/KPdSU, nachgewiesen. Einige Dokumente mit Bezug zum hiesigen Untersuchungsgegenstand sind in russischer Originalfassung und deutscher Übersetzung in der von Jochen P. Laufer und Georgij Kynin vorgelegten deutsch-russischen Quellenedition ‚Die UdSSR und die deutsche Frage‘ abgedruckt.17 Diese Edition ist darüber hinaus mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen, dem eine Fülle von weiterführenden Hinweisen auf und auszugsweise Wiedergabe von nicht vollständig aufgenommenen Quellen entnommen werden kann. Besonderen Ertrag für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung verhieß die Auswertung der im Jahr 2012 von Natal’ja Sergeevna Lebedeva erstmalig herausgegebenen Quellenedition zur Rolle der UdSSR bei der Vorbereitung und Durchführung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher.18 Mit ihrer fachkundigen Zusammenstellung veröffentlichter Quellen und unveröffentlichten Materials, insbesondere aus den Beständen des Staatsarchivs (GARF), hat ­Lebedeva nicht nur die mit Abstand aktuellste, sondern zugleich auch die im Verhältnis zum hiesigen Untersuchungsgegenstand thematisch einschlägigste Aktenedition vorgelegt. Die darin wiedergegebenen Dokumente wurden umfassend

15 Zu der in den 1990er Jahren veranlassten Öffnung der staatlichen Archive in Russland siehe Kozlov, Novaja i novejšaja istorija 2003, No 5, S. 79–103, und Novaja i novejšaja istorija 2003, No 6, S. 78–104 (Fortsetzung). Zu den rechtlichen Implikationen des russischen Archivwesens siehe etwa Artizov, Archivnoe zakonodatel’stvo v Rossii. Vgl. auch Grimsted, American Archivist 56 (1993), S. 614–662. 16 Erwähnung bedürften in diesem Zusammenhang insbesondere die nachfolgenden Akten­ editionen: Narodnyj Komissariat Inostrannych Del SSSR (Hrsg.), Vnešnjaja politika Sovetskogo Sojuza v period Otečestvennoj vojny. Dokumenty i materialy, 22 ijunja 1941–31 dekabrja 1943; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941–1945; Ministerstvo Inostrannych Del SSSR (Hrsg.), Perepiska predsedatelja soveta ministrov SSSR s prezidentami SŠA i Prem’er-Ministrami Velikobritanii vo vremja Velikoj Otečestvennoj Vojny, 1941–1945 gg.; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik; US. Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers (FRUS). 17 Laufer/Kynin (Hrsg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. 18 Lebedeva (Hrsg.), SSSR i Njurnbergskij process. Neizvestnye i maloizvestnye stranicy­ istorii: Sbornik dokumentov.

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A. Einleitung

mit dem von der Verfasserin im Veröffentlichungszeitpunkt bereits ausgehobenen Materialfundus verglichen und für Nachweiszwecke ggf. ergänzend in Bezug genommen. Schließlich wertet die vorliegende Untersuchung fachwissenschaftliche und allgemeine Veröffentlichungen aus der sowjetischen wie postsowjetischen Ära in Gestalt etwa von Monographien, Zeitschriftenbeiträgen, veröffentlichten Vorlesungsniederschriften usw. als Quellen aus und bindet die für das Thema maßgebliche historische und juristische Fachliteratur ein.

III. Aufbau: Der Gang der Untersuchung Führt man sich vor Augen, dass die führenden sowjetischen Rechtswissenschaftler bis in die 1930er Jahre hinein vornehmlich den Klassenbezug des Völkerrechts akzentuierten, dem im Übrigen die Eigenschaft eines die Länder der bürgerlichen und der sozialistischen Sphäre verbindenden Elements abgesprochen wurde, so erhebt sich die Frage nach dem zur Zeit des Prozesses auf sowjetischer Seite zugrunde liegenden Verständnis von Völkerrecht. Hiermit geht die Frage nach der wissenschaftlichen Erschließung der Kriegsverbrecherproblematik als Rechtsproblem in der sowjetischen Rechtswissenschaft jener Jahre einher. Eine Schlüsselrolle bei der Konturierung eines spezifisch sowjetischen Zugangs nahm der sowjetische Jurist Aron Naumovič Trajnin ein, dessen Name damals wie heute mit der zeitgenössischen sowjetischen Position zur Ahndung national­ sozialistischen Unrechts untrennbar verknüpft ist und der die sowjetische Seite in allen Phasen der Prozessvorbereitung und Prozessdurchführung begleitete.19 Diesen Fragen ist der erste Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet. Vor dem Hintergrund der im ersten Teil  entwickelten theoretischen Grund­ lagen der sowjetischen Perspektive wendet sich die Arbeit sodann in Kapitel C der konkreten Perzeption der Kriegsverbrecherproblematik in der sowjetischen Regierungspraxis zu. Die Analyse erstreckt sich auf den Zeitraum zwischen dem 22. Juni 1941 – dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion – und dem 3. Mai 1945, dem Datum der am Rande der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen geführten alliierten Gespräche, die in eine verbindliche alliierte Abstimmung in der Kriegsverbrecherfrage einmündeten. Innerhalb dieser Zeitspanne lassen sich mehrere Phasen identifizieren, in denen sich eine zunächst unspezifische Forderung nach harter Bestrafung der Hauptverantwortlichen sukzessive zur For-

19 Trajnin gilt nicht nur als Urheber der sowjetischen Kriegsverbrecherkonzeption; manch einem galt „der sowjetische Professor“ gar als „geistiger Vater“ der gegen deutsche Angeklagte geführten Kriegsverbrecherprozesse schlechthin, siehe für eine derartige Bewertung die Ausführungen des Abg. Erich Mende vor dem Deutschen Bundestag, 2.  Legislaturperiode, Stenograph. Bericht der 62. Sitzung am 16. Dez. 1954, BT-Plenarprotokoll 2/62, S. 3219 (A).

III. Aufbau: Der Gang der Untersuchung

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derung nach Einsetzung eines Internationalen Tribunals als einer Konstante der­ sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik verdichtete. Als die sowjetische Regierung die Forderung nach Einsetzung eines internationalen Straftribunals im Oktober 1942 erstmals öffentlich erhob, schlug sie hiermit noch einen mit den westalliierten Regierungen nicht abgestimmten Sonderweg ein und ließ den entsprechenden gesamtalliierten Abstimmungsbedarf erstmals offen zu Tage treten. Ebenfalls Gegenstand der Untersuchungen in Kapitel C der vorliegenden Arbeit sind die zur praktischen Erprobung der sowjetischen Strafkonzeption auf sowjetischem Territorium im Jahr 1943 öffentlichkeitswirksam inszenierten Strafprozesse auf Grundlage eines ministeriellen Sonderdekrets. Namentlich die minutiöse Orchestrierung des Kriegsverbrecherprozesses von Char’kov, bei dem sich erstmals auch deutsche Staatsbürger wegen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu verantworten hatten, legt die Frage nahe, ob die Sowjetführung diesem Verfahren Modellcharakter für den von ihr in Aussicht genommenen Strafprozess auf internationaler Ebene beigemessen haben könnte oder ob das Tribunal von Char’kov dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gar den Weg bereitet hat. Den verbündeten Regierungschefs gegenüber trat Stalin jedenfalls wiederholt als dezidierter Befürworter der Prozessidee auf; gegen das namentlich von Churchill favorisierte Szenario einer sofortigen Liquidation der Hauptverantwortlichen verwahrte er sich kategorisch. Es dürfte nicht zuletzt seinem Beharren auf der Notwendigkeit einer – zumindest äußerlich – justizförmigen Aufarbeitung geschuldet sein, dass sich die Alliierten bei der Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen der Positionierung des neuen US-Präsidenten Truman entsprechend schließlich auf ein juristisches Verfahrens verständigen konnten. Die bislang kaum erörterte Frage, welche Beweggründe die frühzeitige Positionierung der sowjetischen Regierung in der Sache angeleitet haben mögen, rundet die Untersuchungen in diesem Teil der Arbeit ab. Während der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco gelang es den Vertretern der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion sodann, eine verbindliche Verständigung über die Durchführung eines Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher herbeizuführen. Der Verhandlungsverlauf aus sowjetischer Perspektive und die bereits in diesem frühen Stadium zu Tage tretenden vielfältigen Komplikationen, mit denen sich die sowjetische Delegation bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben konfrontiert sah, sind Gegenstand des Kapitels D der vorliegenden Arbeit. Während der in die Unterzeichnung des Londoner Viermächte-Abkommens und des ihm beigefügten Statuts am 8. August 1945 einmündenden Londoner Konferenz zeigte sich die Sowjetunion als aktiver und selbstbewusster Verhandlungspartner um die Einbringung spezifisch sowjetischer Positionen in den Entscheidungsprozess bemüht. Bei der Ausarbeitung der einzelnen Normen des Statuts fanden die von sowjetischer Seite unterbreiteten Vorschläge in vielfältiger Weise Berücksichtigung. Der Umstand, dass sich die Verhandlungen vor dem Hintergrund der rechtstraditionellen Unterschiede alles andere als einfach ­gestalteten,

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A. Einleitung

die Idee der Durchführung eines gemeinsamen internationalen ­Verfahrens zwischenzeitlich sogar kurz vor dem Scheitern stand, kann als in der zeitgenössischen Forschung mittlerweile weitgehend gesicherter Befund gelten.20 Aus rechtshisto­ rischer Perspektive sind insbesondere die Ursachen und Hintergründe auftretender Differenzen, der Prozess der Kompromissfindung sowie der konkrete Einfluss, den einzelne Teilnehmer oder Delegationen auf die schließlich verabschiedete Fassung des IMT-Statuts auszuüben vermochten, von Interesse. Das Kapitel E rekonstruiert anhand einiger exponierter Regelungen insbesondere den von Seiten der sowjetischen Delegation zu der Entstehung des IMT-Statuts als „Geburtsurkunde des heutigen Völkerstrafrechts“21 eingebrachten Anteil. Dem sowjetischen Beitrag zur Anklagevorbereitung ist Kapitel F der Arbeit gewidmet. Das für die Anklagevertreter bereits mit der Formulierung der Anklageschrift und der Auswertung des Beweismaterials einsetzende Vorverfahren zur Nürnberger Hauptverhandlung sollte die sowjetische Seite in juristischer wie organisatorischer Hinsicht wiederum vor besondere Herausforderungen stellen. Am 5. September 1945 hatte das Politbüro ZK VKP(b) Roman Rudenko zum sowjetischen Hauptankläger ernannt.22 Bei seiner verspäteten Ankunft in London am 14. September 1946 führte er ein sog. „Schema“ (schema obvinitel’nogo akta)23, ein Konzept für die Strukturierung der noch auszuarbeitenden Anklageschrift, mit sich. Nachdem Mitte September sämtliche Anklagedelegationen einen von britischer Seite vorgelegten Entwurf der Anklageschrift als Grundlage weiterer Überlegungen anerkannt hatten, brachte die sowjetische Delegation in der Folge noch eine Vielzahl von Änderungsanträgen erfolgreich in den interalliierten Abstimmungsprozess ein. In diesen Zeitraum fällt auch die Gründung einer der Führung des ersten Stellvertreters des Volkskommissars für Äußere Angelegenheiten, Andrej Januar’evič Vyšinskij, unterstellten Kommission in Moskau, der die Vorbereitung der Materialien der Anklage und die Steuerung der operativen Arbeit der sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg oblag. Anhand der verfügbaren Quellen aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation (AVP RF) und dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) rekonstruiert die vorliegende Untersuchung die zentralen Motive der sowjetischen Änderungsvorschläge und legt die zu ihrer Realisierung eingesetzten Weisungs- bzw. Entscheidungsketten offen.

20 Vgl. insoweit etwa Murphy, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 61 (67 ff.); Bassiouni, Introduction, S.  407 f.; Bassiouni/Blakesley, Vand.  J.  Transnatl.  L. 25 (1992), S. 151 (153 f.); Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 19; Segesser, Recht statt Rache, S. 385. Eine kurze Beschreibung der schwierigen Verhandlungssituation in London aus Sicht eines sowjetischen Zeitzeugen findet sich in den 1997 erschienenen Memoiren des bei den Verhandlungen eingesetzten Übersetzers Trojanovskij: Trojanovskij, Čerez gody, S. 107 f. 21 Werle, ZStW 109 (1997), S. 808–829, hier S. 809; ders., Völkerstrafrecht, Rdnr. 14. 22 Punkt 238 aus dem Protokoll No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1053, Bl. 52, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 23 Schema der Anklageschrift (schema obvinitel’nogo akta), oben D., AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1–3; vgl. auch GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 78–80 und Bl. 84–86.

III. Aufbau: Der Gang der Untersuchung

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Darüber hinaus befasst sich das Kapitel mit den praktischen Widrigkeiten, mit denen sich die sowjetische Delegation in London bei der Ausführung ihrer prak­ tischen Arbeit konfrontiert sah und die ihre Ursachen insbesondere in einer völlig unzureichenden personellen und sachlichen Ausstattung hatten. Der sowjetische Einfluss auf die Hauptverhandlung vor dem Internationalen Militärtribunal ist Gegenstand von Kapitel G. An dessen Anfang stehen eine Übersicht über die in der westlichen Literatur weitgehend unbekannten sowje­ tischen Akteure auf Seiten der Richterschaft, der Anklage und der sie unterstützenden Hilfsdienste sowie eine Einführung in die Struktur der sowjetischen Vertretung in Nürnberg. Auch in diesem Zusammenhang gilt ein besonderes Augenmerk der Frage nach der Ausgestaltung der Weisungs- bzw. Entscheidungsketten auf sowjetischer Seite. Deren Funktionsweise und Reaktionsfähigkeit wird anhand zweier besonders brisanter Situationen nachgezeichnet, nämlich dem von Seiten der Verteidigung unternommenen Versuch, den durch die Sowjetdelegation eingebrachten Katyn-Bericht der sowjetischen Außerordentlichen Staatskommission zu entkräften sowie der ebenfalls von Seiten der Verteidigung bewirkten Offenlegung des Inhalts des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939. Abschließend gilt es, die Beteiligung der sowjetischen Richter an der Entstehung des Urteils vom 1. Oktober 1946 und des Sondervotums des sowjetischen Richters zu untersuchen. Aufschluss über die insoweit handlungsleitende sowjetische Motivationslage versprechen nicht nur die von Seiten der sowjetischen Richter während der im September 1946 stattfindenden Beratungen im Richterkollegium jeweils eingenommenen Standpunkte, sondern namentlich die von Stalin persönlich sanktionierte24 und dem sowjetischen Mitglied des IMT Nikitčenko erst kurz vor Urteilsverkündung übermittelte25 Direktive mit konkreten Maß­gaben u. a. zum Abstimmungsverhalten. Die Auswertung insbesondere der letztgenannten Anweisung legt erneut den Blick frei auf die eigentlichen Akteure der sowjetischen Prozessgestaltung. Der Wirkungsgeschichte dieses Dokuments, dem Abstimmungsverhalten der sowjetischen Richter und den sie leitenden Motiven ist Kapitel H gewidmet.

24 Vgl. den von Stalin sanktionierten Weisungsentwurf v. Goršenin und Dekanozov an­ Stalin v. 17. Sept. 1946, AVP RF, f. 012, op. 7, p. 106, d. 186, Bl. 11–19, abgedr. bei Laufer/­ Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 164, S.  703–707 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 275, S. 500–505; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625–630. 25 Telegramm Mokičevs an den stellvertr. Generalstaatsanwalt Safonov mit den Anweisungen an Nikitčenko v. 19. Sep. 1946, AVP RF, f. 012, op. 7, p. 106, d. 186, Bl. 20.

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A. Einleitung

IV. Hinweise zu Transliteration und Übersetzung Bei der Transliteration kyrillischer Begriffe, Namen, Titel und Ortsbezeichnungen folgt die vorliegende Arbeit dem Transliterationsschlüssel DIN 1460 (1982). In bereits veröffentlichten Beiträgen unter Außerachtlassung des vorstehend bezeichneten Transliterationsschlüssels in transkribierter Form ausgewiesene Begriffe werden im Falle von Direktzitaten und in den Literaturangaben indes mit der in der Quelle verwendeten Originalschreibweise wiedergegeben. Neben der bei Anwendung des Transliterationsschlüssels DIN 1460 (1982) sich ergebenden Schreibweise etwa des Namens Vyšinskij wird daher im Verlauf der Arbeit auch die in deutschsprachigen Publikationen mitunter verwendete Transkription Wyschinski26 anzutreffen sein; neben der Transliteration des Namens Trajnin etwa werden auch die in englischen Veröffentlichungen etablierte Schreibweise Trainin27 und die im Französischen verwendete Form Trainine28 Verwendung finden. Eigene Übersetzungen der Verfasserin schließlich sind durch die Abkürzung „Ü. d. Verf.“ kenntlich gemacht.

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Etwa Waksberg, Gnadenlos, Andrei Wyschinski – Mörder im Dienste Stalins. Etwa Trainin, Hitlerite Responsibility Under Criminal Law. 28 Etwa Trainine, La responsabilité pénale des Hitlériens. 27

B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen als Herausforderung der sowjetischen Rechtswissenschaft der 1930er und 1940er Jahre Für das Verständnis des sowjetischen Beitrags zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess erweist sich eine zumindest kursorische Rekonstruktion und Auswertung der in der sowjetischen Rechtswissenschaft zur strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen eingenommenen Positionen als unumgänglich. Dies gilt insbesondere eingedenk des Umstandes, dass die bisherige Forschung diesem Komplex trotz der nicht nur in dieser Hinsicht wegweisenden Studien George Ginsburgs’1 bislang nur wenig Aufmerksamkeit hat zuteilwerden lassen. Eine zentrale Ursache für die eher fragmentarische wissenschaftliche Durchdringung der Thematik im westlichen Sprach- und Wissenschaftsraum dürfte dabei namentlich in dem Umstand begründet liegen, dass die insoweit maßgebende sowjetische Literatur für die meisten westlichen Forscher aufgrund der weithin fortbestehenden sprachlichen Barrieren überwiegend unerschlossen geblieben ist. Ein Blick auf die rechtswissenschaftliche Verortung und Diskussion der Kriegsverbrecherthematik im zeitgenössischen sowjetischen Schrifttum erscheint indes unter anderem auch vor dem Hintergrund besonders lohnenswert, dass der sowjetische Beitrag zum Nürnberger Prozess von vielen Autoren gerade in der Mitgestaltung des juristischen Fundaments – der „legal underpinnings“ – des internationalen Tribunals gesehen wird, wie sie etwa bei der Schaffung des Konzeptes der Verbrechen gegen den Frieden (Art. 6 lit. a IMT-Statut) Niederschlag gefunden hat.2 Ein weiterer Grund dürfte darin zu erblicken sein, dass die wichtigsten zeitgenössischen Akteure in der völkerrechtswissenschaftlichen Entwicklung der UdSSR nicht nur zur Erarbeitung theoretischer wissenschaftlicher Konstrukte zur Kriegsverbrecherbestrafung und damit einer Positionierung der Sowjetunion im völkerrechtlichen Bereich beigetragen haben. Einige dieser Personen waren darüber hinaus in den gesamten Prozess der Kriegsverbrecherverfolgung bis zum Urteil des Nürnberger Militärtribunals auf verschiedene Weise unmittelbar involviert, so z. B. bei der Ausarbeitung des Londoner Viermächte-Abkommens, der Beweissammlung 1 Vgl. Ginsburgs, Moscow’s Road (1996); ders., RCEEL 21 (1995), S. 1–40, sowie ders./ Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial (1990); in jüngerer Zeit haben Bazyler, in: ­Reginbogin/ Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S.  45–52; Hirsch, AHR 113 (2008), S.  701–730 und­ Segesser, Recht statt Rache, S. 343–350, jeweils einschlägige Beiträge zur Thematik vorgelegt. 2 Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 26, 79, 93; Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (706 ff., insbes. S. 708); Segesser, in: Richter (Hrsg.), Krieg und Verbrechen, S. 219 (220); Bazyler, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 45–51; vgl. auch Finch, AJIL 41 (1947), S. 20 (28–29).

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

oder während der eigentlichen Prozessverhandlungen.3 Im Folgenden werden daher die Entstehung derjenigen thematisch relevanten Positionen von sowjetischen Straf- und Völkerrechtlern, ihre Rezeption und Wirkungsgeschichte nachgezeichnet, die für das weitere Verständnis des sowjetischen Standpunktes zur Ahndung von Kriegsverbrechen auf internationaler Ebene unerlässlich erscheinen.

I. Das Völkerrecht im rechtstheoretischen Wandel der 1930er Jahre Bis Mitte der 1930er Jahre verhielt sich die sowjetische Rechtswissenschaft gegenüber völkerrechtlichen Themen insgesamt eher zurückhaltend.4 Dieses wissenschaftliche Desinteresse war nicht zuletzt auf die Dominanz von im nationalen Rechtskreis verorteten rechtstheoretischen Debatten zurückzuführen, die die ­juristische Diskussion jener Zeit weitgehend in Beschlag nahmen und völkerrecht 3 So firmierte der Rechtswissenschaftler Aron Naumovič Trajnin nicht nur als Autor der maßgeblichen sowjetischen Werke zum Thema des völkerrechtlichen Umgangs mit Kriegsverbrechern, sondern war zusammen mit Iona Timofeevič Nikitčenko Teil der sowjetischen Delegation bei den Londoner Verhandlungen 1945 und nahm später als rechtlicher Berater der sowjetischen Seite in Nürnberg wesentlichen Einfluss auf das Prozessverhalten der Sowjetunion. Zur zentralen Rolle Andrej Januar’evič Vyšinskijs, auf deren maßgeblichen Einfluss als Generalstaatsanwalt der UdSSR in den 1930er Jahren die Neuausrichtung des rechtstheoretischen Fundaments der UdSSR zurückzuführen ist und der seit 1940 als Erster Stellvertreter des Außenkommissars in alle Stadien des Nürnberger Prozesses von seiner Vorbereitung bis zur konkreten Durchführung unmittelbar eingebunden war, vgl. Kap. B. I. bis III. sowie Kap. F. II. 2. und Kap. G. II. 4 Für eine entsprechende Bestandsaufnahme vgl. etwa Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 18 ff. Siehe insoweit auch die bei Makarov, ZaöRV 5 (1935), S. 34 (50) im Jahr 1935 gezogene Bilanz: „In den letzten Jahren ist auf dem Gebiete des Völkerrechts in der Sowjet-Union nichts erschienen.“ Einen ersten Anstoß in Richtung einer konsistent-marxistischen Interpretation des Völkerrechts in monographischer Form unternahm Korovin mit seiner bereits 1923 erstmals vorgelegten Untersuchung mit dem Titel ‚Völkerrecht der Übergangszeit‘, Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, 1923 (im Folgenden zit. nach dem Nachdr. der Erstausgabe, 1971). Eine geschlossene theoretische Grundlegung war dieser frühen Abhandlung zur sowjetischen Völkerrechtsinterpretation indes nicht zu entnehmen. Vielmehr erschöpfte sie sich im Sinne einer induktiv-deduktiven Vorgehensweise weitgehend in der Ableitung vermeintlich übergeordneter Strukturprinzipien einer sowjetischen Völkerrechtsperzeption aus Referenzen zur konkreten Völkerrechtspraxis jener Jahre. Vgl. zu diesem Befund namentlich die Bewertung von­ Schweisfurth in seiner Einleitung zu dem 1971 in Berlin verlegten Nachdruck der russischsprachigen Originalausgabe von Korovins ‚Völkerrecht und Übergangszeit‘ (1929), ­Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, S. III (IV): „Korovins Buch ist nicht, und erhebt auch nicht den Anspruch, eine marxistische Gesamtdarstellung der Völkerrechtstheorie zu sein. Es behandelt nur Einzelprobleme, und auch darin ist es weniger Völkerrechtstheorie als vielmehr völkerrechtstheoretische Aufbereitung der frühsowjetischen Praxis. Darin ähnelt es der Darstellungsmethode auch des späteren sowjetischen Völkerrechtsschrifttums, das sehr stark praxisbezogen ist […].“ Weitere Nachw. zum Wirken Korovins unten Fn. 6. Zur Kritik an der Arbeit ­Korovins vgl. noch den im Jahr 1925 von Sabanin unter dem Titel ‚Erster sowjetischer Kurs des internationalen Rechts‘ vorgelegten Beitrag, Ü. d. Verf., Sabanin, ­Meždunarodnaja žizn’ 1925, No 2, S. 116–121. 

I. Das Völkerrecht im rechtstheoretischen Wandel der 1930er Jahre 

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lichen Themenbereichen einen eher nachgeordneten Rang im rechtswissenschaftlichen Diskurs zuwiesen. Die Rechtwissenschaft als solche hatte sich nach der Überwindung der im Zuge der Oktoberrevolution 1917 zunächst weitgehend unangefochtenen sog. (rechts-)nihilistischen bzw. (rechts-)verneinenden Rechtsauffassung erst Ende der 1930er Jahre sodann neu konstituieren müssen und sah sich folglich zunächst mit der schlechthin existenznotwendigen Herausforderung konfrontiert, sich sowohl ihrer eigenen Legitimationsbedingungen zu vergewissern als auch zum Wesen des Rechts grundsätzlich sowie zum internationalen Recht im Besonderen neu zu positionieren.5 Hinter der überwundenen rechtsverneinenden Staats- und Rechtstheorie hatte sich die Annahme verborgen, dass der Staat und auch das Recht als Unterdrückungsinstrumente der herrschenden Klasse gegen das Proletariat in der letzten Phase des Kommunismus, nämlich in einer klassenlosen Gesellschaft, ‚absterben‘ würden.6 5 Vgl. zur Entwicklung der seinerzeitigen Staats- und Rechtstheorie und ihren Akteuren Solomon, Slavic Review 46 (1987), S. 391 (393–3934); ders., Soviet Criminal Justice, S. 153 ff.; Huskey, Slavic Review 46 (1987), S. 414–428; Kiralfy, ICLQ 6 (1957), S. 625–642; Johnson, Introduction, S. 45 ff. Zum Völkerrecht in Russland vor 1917 siehe beispielsweise Grabar, International Law in Russia. Vor der Oktoberrevolution hatten sich russische Juristen durchaus aktiv in den internationalen völkerrechtlichen Diskurs eingebracht. Ausführlich hierzu etwa Segesser, Recht statt Rache, S. 30 f., 94 ff., 102 ff. 6 Die Theorie vom Aussterben des Rechts verdankt ihre Entstehung und dogmatische wie praktische Wirkmächtigkeit ganz wesentlich dem Werk von Evgenij Bronislavovič ­Pašukanis (1891–1937), der als wohl prominentester Vertreter der marxistischen Rechtsschule über die Grenzen der Sowjetunion hinaus zu wissenschaftlicher Reputation gelangt ist. Für eine Einführung in die von Pašukanis begründete und später partiell revidierte marxistische Rechtstheorie vgl. etwa dessen grundlegenden Beitrag ‚Die marxistische Rechtstheorie und der Aufbau des Sozialismus‘ in der von ihm redaktionell maßgeblich mitgeprägten Zeitschrift ‚Revolution des Rechts‘ (Revoljucija prava), Pašukanis, Revoljucija prava No 3, S.  3–12, in engl. Übersetzung abgedr. bei Beirne/Sharlet (Hrsg.), Selected Writings, S. 186–199; zum Hauptwerk Pašukanis’ insbes. Klenner/Mamut (Hrsg.), Paschukanis; instruktiv zu dessen Interpretation und Rezeptionsgeschichte aus dem deutschsprachigen Schrifttum Harms, Waren­form und Rechtsform; siehe ferner die Beiträge von Beirne/Sharlet, in: dies. (Hrsg.), Selected Writings, S.  273–301; dies., in: Beirne/Quinney (Hrsg.), Marxism and Law, S.  307–327; Blanke, KJ 1979, S. 401–432; Reich, KJ 1972, S. 154–162; ders., in: Stolleis (Hrsg.), Juristen, S. 475–477; zur Rechtstheorie Pašukanis’ weiterführend auch Kelsen, ­Communist Theory of Law, S. 89 ff. Für die wissenschaftliche Diskussion und Rezeption der völkerrechtlichen Unter­suchungen Pašukanis’ durch die Fachgremien bei der sowjetischen Akademie der Wissenschaften – namentlich für den Vorwurf einer zu weitgehenden Entfernung von der marxistischen Theorie – siehe das Stenogramm der dortigen Besprechung des von Pašukanis vorgelegten Lehrbuchs zum Internationalen Recht am 4. März 1935, ARAN, f. 360, op. 4, d. 400, Bl. 1–13.  Ein weiterer prominenter Apologet der nihilistischen Rechtstheorie fand sich in Evgenij Aleksandrovič Korovin (1892–1964), vgl. insoweit bereits die Ausf. in Fn. 4. Zum rechtsverneinenden Rechtsverständnis vgl. etwa dessen Rezension von T. A. Taracouzios „The Soviet Union and International Law“, in: Harvard Law Review 49 (1936), S. 1392–1995, insb. S. 1393: „From the Marxist point of view, every state arises as a tool in the struggle and victory of one or another class.“ Zum wissenschaftlichen Wirken von Korovin und Pašukanis vgl. insbes. Hazard, ­Soviet Studies 1 (1950), S. 189 (191); aus jüngerer Zeit Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (­703–704); wiederum Kelsen, Communist Theory of Law, S. 89 ff.; vgl. auch die deutsch­sprachige Ein-

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

Auf dem Boden eines derart staats- und rechtsnihilistischen Verständnisses stand selbstredend auch für die Entfaltung völkerrechtlicher Erwägungen ein nur sehr eingeschränkter theoretischer Gestaltungsrahmen zur Verfügung. Vor dem Hintergrund der in Aussicht genommenen Entstehung eines Weltsowjetstaates musste Völkerrecht als anerkannter Ordnungsrahmen für die Beziehung souveräner Staaten zueinander vielmehr als jedenfalls zu überwindendes Übergangsphänomen erscheinen, dessen bestenfalls transitorischer Charakter in der von Korovin7 geprägten Theorie vom ‚Völkerrecht der Übergangszeit‘8 oder dem von Pašukanis hieran anknüpfend identifizierten ‚Zwischenklassenrecht‘9 seinen Ausdruck fand. Die Erosion einer auf dem Boden der intellektuellen Einheit (der Interessensolidarität) erschaffenen völkerrechtlichen Gemeinschaft für die Länder der bürgerlichen einer- und der sozialistischen Kultur andererseits hatte in dieser Perspektive zugleich zur Folge, dass auch „der ihr entsprechende Komplex von Rechtsnormen“, das Völkerrecht, „gegenstandslos“ werden musste.10 Mit der Errichtung der ideolo­ gischen Trennwand zwischen den Systemen ging in letzter Konsequenz also eine Negation der Universalität des Völkerrechts selbst einher, eine Ver­engung des Völleitung von Schweisfurth zu dem 1971 in Berlin verlegten Nachdruck der russisch­sprachigen Originalausgabe von Korovins ‚Völkerrecht und Übergangszeit‘ (1923), Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, S. III–X. Zu den namhaftesten Beiträgen Korovins zählen daneben die Werke ‚Aktuelles Internationales öffentliches Recht‘ (Soveremennoe meždunarodnoe publičnoe pravo, 1926), ‚Kompaktkurs des Völkerrechts‘ (Kratkij kurs mež­dunarodnogo prava, 1944), ‚Völkerrecht in der aktuellen Etappe‘ (Meždunarodnoe pravo na sovremennom ėtape, 1946), ‚Die Hauptprinzipien der sowjetischen Außenpolitik‘ ­(Osnovnye prinzipy sovetskoj vnešnej politiki, 1947), ‚Die Hauptprinzipien der Außenpolitik der UdSSR‘ (Osnovnye prinzipy vnešnej politiki SSSR, 1951). Mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Fortentwicklung des Völkerrechts befasste sich Korovin in einem auf Englisch veröffentlichten und international wahrgenommenen Aufsatz, siehe Korovin, AJIL 40 (1946), S. 742–755. Ebd., S. 743 auch zu seinem seinerzeitigen Verständnis des Völkerrechtsbegriffs: „[…] we may define its specific nature in the coming period of history as the sum-total of l­egal norms guaranteeing international protection of the democratic minimum.“ Für die spätere Schaffensperiode Korovins vgl. die im Jahr 1958 bei der Akademie der Wissenschaften vorgelegte – soweit ersichtlich unveröffentlichte – Abhandlung über ‚einige Fragen der heutigen Theorie des internationalen Rechts‘ (Nekotorye osnovnye voprosy sovremennoj teorii meždunarodnogo prava, 1958), ARAN, f. 449, op. 1, d. 488, Bl. 1–51. S. insoweit weiter auch die in englische Sprache übersetzten Beiträge Korovins in einem vom Institut für Staat und Recht bei der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1961 herausgegebenen Kompendium zum Internationalen Recht Korovin, in: Academy of Science of the USSR, Institute of State and Law (Hrsg.), International Law, Ch. I und II, S. 1–88. 7 Ausf. in Fn. 6. 8 Korovin, Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, Erstausgabe 1923, zit. nach dem Nachdr. der Erstausgabe 1971, 141 Seiten, passim. 9 Vgl. hierzu den von Pašukanis verantworteten Eintrag ‚Völkerrecht‘ in Bd. II der von der Kommunistischen Akademie herausgegebenen Staats- und Rechtsenzyklopädie, Pašukanis, Meždunarodnoe pravo, in: Kommunističeskaja akademija (Hrsg.), Ėnciklopedija gosudarstva i prava, T. II, S. 862. 10 Korowin, Völkerrecht der Übergangszeit‘ (Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni), Erstausgabe 1923, zit. nach der von H. Kraus 1929 herausgegebenen deutschen Übersetzung, S. 12.

I. Das Völkerrecht im rechtstheoretischen Wandel der 1930er Jahre 

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kerrechtsverständnisses auf die sowjetische Einflusssphäre im Sinne einer Partikularrechtsordnung nämlich, die in der sowjetischen Staatenpraxis freilich zu keinem Zeitpunkt in Reinform verwirklicht werden konnte.11 So vermochte sich die Sowjetführung zu keiner Zeit der Notwendigkeit restlos zu entledigen, mit dem imperialistischen Lager im Sinne eines „waffenstillstandsähn­liche[n] ­‚modus v­ivendi‘“12 auf bestimmten, primär technisch geprägten Gebieten in völkerrechtliche Interaktion zu treten und hierfür bei politisch unabweisbarem Bedarf auch Verträge zu unterzeichnen. Erst mit der seit Ende der 1930er Jahre auf dem Gebiet der sowjetischen Staats- und Rechtstheorie eingeleiteten grundsätzlichen Wende vollzog sich eine Abkehr von der nihilistischen Auffassung von Recht und Staat und eine Hinwendung in Richtung einer neuen, positivistisch-eigenständigen13 Rolle des sowjetischen Rechts.14 Dieser rechtstheoretische Wandel verlief parallel zu weichenstellenden außenpolitischen Entwicklungen, wie dem Beitritt der UdSSR zum Völkerbund am 18. September 193415 oder dem Abschluss einer Reihe von multiwie auch bilateralen Verträgen.16 Bis zu der wohl auch und vor allem durch prak 11

Zu diesem Gesichtspunkt Menzel, in: Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel (Hrsg.), Drei sowjetische Beiträge zur Völkerrechtslehre, S. I (XVI). Zu der Korovin gegenüber erhobenen Kritik einer unzureichenden Abbildung der tatsächlichen Völkerrechtspraxis der Sowjetunion vgl. bereits Sabanin, Meždunarodnaja žizn’ 1925, No 2, S. 116–121. 12 Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 12. 13 Bracht, Ideologische Grundlagen, S. 25. 14 Vgl. zu der konservativen Wende in der rechtstheoretischen Entwicklung allgemein Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 153 ff.; Huskey, Slavic Review 46 (1987), S. 414–428;­ Kiralfy, ICLQ 6 (1957), S. 625–642; Berman, Justice in the U. S. S. R., S. 46 ff., 53 ff. 15 Die Aufnahme Sowjetrusslands vollzog sich durch entsprechenden Zustimmungsbeschluss (Art.  1 Abs.  2 der Völkerbundsatzung, RGBl. 1919 I, 689, 717–745) der Generalversammlung des Völkerbundes am 18. Sept. 1934, vgl. hierzu Actes de la Quinzième Session ordinaire de l’Assemblée. Séances pénières, S. 62–66; zur sich anschließenden Antrittsrede des sowjetischen Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Litvinov ebd., S. 66–69. Die schroffe Kehrtwende in der bis dato kategorischen Abwehrhaltung der Sowjetunion gegenüber dem Völkerbund nahm ihren Ausgangspunkt Ende des Jahres 1933, als Stalin dem Völkerbund vor dem Hintergrund der japanischen Austrittserklärung v. 27. März 1933 (abgedr. in: ZaöRV 4 [1934], 148 [149–150] = Journal Officiel de la Société des Nations 1933, S. 657) bzw. der gleichgerichteten deutschen Erklärung v. 19. Okt. 1933 (abgedr. in: ZaöRV 4 [1934], 148 [151]; hierzu auch Aufruf der Reichsregierung vom 14. Okt. 1933, in: Zeitschrift f. Deutsches Recht 1933, S. 161) in einem Interview mit der New York Times das Potential attestierte, zu einem wirkungsvollen Bollwerk gegen militärische Aggressionen zu erstarken, siehe­ Duranty, New York Times v. 28. Dez. 1933, S. 8. Zur Geschichte des sowjetischen Beitritts zum Völkerbund ausf. Makarov, ZaöRV 5 (1935), S. 34–60. 16 Erwähnenswert erscheinen etwa der Beitritt zum Briand-Kellogg Pakt am 29. Aug. 1928, mit dem die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele erstmals mit einem völkerrechtlichen Rechtswidrigkeitsverdikt versehen wurde, siehe Art. I des Vertrages über die Ächtung des Kriegs v. 27. Aug. 1928 (LNTS Vol. 94, S. 57 = RGBl. 1929 II, S. 97); für dessen vorfristiges Inkraftsetzen als Ergebnis sowjetischer Initiative vgl. das sog. Litvinov-Protokoll v. 9. Feb. 1929 (LNTS Vol. 89, S. 370). Für eine zeitgenössische juristische Analyse des Paktes und der handlungsleitenden Beitrittsgründe aus sowjetischer Perspektive vgl. K ­ orovin, Sovetskoe Pravo 1928, No 6, S. 26–48. Die Unterzeichnung der Convention for the Definition of Aggression am 3. Juli 1933 (LNTS Vol. 147, S. 69) an der Seite von A ­ fghanistan, Estland,

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

tisch-politische Notwendigkeiten17 induzierten Aufgabe der strikt nihilistischen Rechtsauffassung war dem Völkerrecht als ‚bourgeoisem‘ Recht von vielen namhaften Juristen die Anerkennung als dauerhaftes Instrument der Friedenssicherung zwischen ideologisch entgegengesetzten Staaten versagt und anstelle dessen sein ‚Aussterben‘ prognostiziert worden.18 Dementsprechend hatte namentlich der Völkerbund als institutionell verfestigter Ausdruck des Geltungsanspruchs des ‚bürgerlichen Völkerrechts‘ bis zum Beginn der dreißiger Jahre im Mittelpunkt der Kritik der bolschewistischen Rechtsdoktrin gestanden.19 Diese Geringschätzung konnte mit dem sodann aus realpolitischen Erwägungen heraus tatsächlich vollzogenen Beitritt ebenso wenig aufrechterhalten werden wie die maßgeblich von Korovin propagierte Theorie vom Zerfall der Völkerrechtsordnung in zwei ideologisch entgegen gesetzte Partikularsysteme. Es nimmt daher nicht Wunder, dass dem Völkerrecht mit der grundlegenden Revision der kommunistischen Rechtstheorie im Sinne eines positivistisch-eigenständigen Rechtsverständnisses sowohl Litauen, Persien, Polen, Rumänien und der Türkei markierte neben zahlreichen weiteren (bilateralen) Neutralitäts- oder Nichtangriffsübereinkommen einen Meilenstein in der völkerrechtlichen Praxis der Sowjetunion in dieser Phase. Ausführlich zu Letzterem ­Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 13 ff. Für die namentlich durch den Abschluss bilateraler Freundschafts­ abkommen charakterisierte völkerrechtliche Praxis der Sowjetunion in den unmittelbaren Nachkriegsjahren vgl. Korovin, in: Academy of Science of the USSR, Institute of State and Law (Hrsg.), International Law, Ch. II, § 7, S. 71–88. 17 Exemplarisch Bezug genommen wird insoweit auf den in Fn. 15 skizzierten sowjetischen Sinneswandel in Bezug auf die Mitwirkung im Völkerbund und die in engem zeitlichen Zusammenhang stehenden Austrittserklärungen Japans und Deutschlands. 18 Frühere sowjetische Studien und Lehrbücher zum internationalen Recht, insbesondere von den führenden Rechtswissenschaftlern Korovin und Pašukanis (weitere Nachw. jew. Fn. 6), betonten denn auch vornehmlich den Klassenbezug des Völkerrechts, dem die Eigenschaft eines die Länder der bürgerlichen und der sozialistischen Sphäre verbindenden Elements abgesprochen wurde, siehe Korovin, Soveremennoe meždunarodnoe publičnoe pravo, S. 5. Den de facto existierenden oder künftig entstehenden Völkerrechtsregimen sollte dabei eine jeweils nur beschränkte Lebens- und Wirkungsdauer beschieden sein. Ebenso wie das bürgerliche Völkerrecht mit dem es legitimierenden kapitalistischen Staatensystem dem Untergang geweiht sein sollte, würde auch das von den Pionieren der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft der Vorkriegszeit ausgerufene ‚Völkerrecht der Übergangszeit‘ mit der Vollendung eben jener Übergangszeit sein Ende finden. Auch das von eben diesen Apologeten einer neuen Ära des Völkerrechts prophezeite ‚intersowjetische Völkerrecht‘ würde schlussendlich mit dem Aufgehen aller Länder in einer allumfassenden sozialistischen Weltsowjetrepublik überflüssig und damit seiner Auflösung zugeführt werden, vgl. zu all dem Korovins ‚Völkerrecht und Übergangszeit‘ in der Fassung der Erstausgabe von 1923, Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, Kap. IV, S. 29–61, insbes. S. 36. Zur zeitgenöss. Kritik insoweit vgl. etwa Sabanin, Meždunarodnaja žizn’ 1925, No 2, S. 116–121, mit dem Einwand, die Annahme eines Völkerrechts der Übergangszeit setze denknotwendig seine Anerkennung durch sämtliche Staaten voraus, ein faktisches Völkerrecht der Übergangszeit gründe daher auf einer rechtlichen Unmöglichkeit. 19 Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  1, S.  569 (587 Anm.  64); vgl. auch Korovin, Sovets­koe Pravo 1928, No 6, S. 26–48. Zur vormals ablehnenden Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Völkerbund als einem ‚reaktionären Schutzbündnis der Siegermächte des Weltkriegs und ihrer politischen Adjutanten‘ aus Sicht der sowjetischen Rechtswissenschaft pointiert ders., Meždunarodnoe pravo perechodnogo vremeni, S. 56–59.

II. „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“

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in der Rechtswissenschaft als auch in öffentlichen Äußerungen zur Staats- und Parteipolitik fortan eine augenfällig wohlwollendere Behandlung zuteilwerden sollte. Am sinnfälligsten wohl brach sich der Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung des Völkerrechts von einer grundlegenden Infragestellung jedenfalls seiner Universalität hin zu einer im Grundsatz proaktiv ausgerichteten Mitwirkung am bestehenden völkerrechtlichen Ordnungsgefüge20 in den Worten Bahn, die Litvinov am 29. Dezember 1933 an das Zentralkomitee der VKP(b) richtete: „Da wir keine Doktrinäre sind, verzichten wir nicht auf die Ausnutzung gewisser bereits bestehender oder noch kommender internationaler Vereinigungen und Organisationen, wenn wir Gründe haben oder haben werden, mit ihrem Dienst am Friedenswerk zu rechnen.“21

II. „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“: Genese eines positiven sowjetischen Völkerrechtsverständnisses im Schatten der Lenin-Stalinschen Doktrin Eine zentrale Rolle im Prozess der Bedeutungsaufwertung des Völkerrechts kam dabei Andrej Januar’evič Vyšinskij22 zu23, der von 1933 bis 1935 zunächst als stellvertretender Generalstaatsanwalt der UdSSR eingesetzt und von 1935 bis 20

Vgl. zu der in der Umkehrung der politischen Vorzeichen liegenden Herausforderung für die zukünftige Neuentwicklung des sowjetischen Völkerrechtsverständnisses den bei Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S.  13 formulierten Befund: „Die Fortbildung der sowjetischen Konzeption liegt in dieser Zeit ganz überwiegend in der offiziellen Hand der Staatspraxis, während die Theorie nur zögernd und nicht frei von inneren Widersprüchen zu Wort kommt; tatsächlich war es auch eine schwere Aufgabe, den Übergang vom Isolationismus bis zur vorbehaltslosen Zusammenarbeit mit den Westmächten wissenschaftlich zu rechtfertigen.“ 21 Izvestija v. 30.  Dez. 1933 Nr.  316, S.  1; Übersetzung ins Deutsche zit. nach Makarov,­ ZaöRV 5 (1935), S. 34 (44). 22 Vyšinskij, Andrej Januar’evič (1883–1954), in den Jahren 1935 bis 1939 (zunächst stellvertretender) Generalstaatsanwalt der UdSSR, fungierte von 1940 bis 1946 als Erster Stellvertreter des Außenkommissars. Von 1946 bis 1949 bekleidete er die Position des Stellvertretenden Außenministers der Sowjetunion. Seit 1939 war Vyšinskij Mitglied des ZK, in den Jahren 1952 und 1953 gehörte er überdies dem ZK-Präsidium der VKP(b) bzw. KPdSU im Status eines ‚Kandidaten‘ an. Ausführliche biographische Nachweise zum Leben und Wirken Vyšinskijs bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 128 f. (Eintrag Vyšinskij); siehe auch den entsprechenden Eintrag in der von Vronskaja/Čuguev verantworteten Ausgabe mit dem gleichnamigen Titel (Kto est’ kto), S. 116; weiterführende Angaben finden sich ferner in der großen Enzyklopädie der Sowjetunion, Sovetskaja ėnciklopedija (Hrsg.), Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, T. 5, S. 574 (Eintrag Vyšinskij); Vaksberg, in: Kutafin (Hrsg.), Inkvizitor, S. 3–87; Borisov, in: ebd., S. 88–100; Zvjagincev/Orlov, Prokurory dvuch ėpoch, S. 5 ff.; aus dem deutschsprachigen Schrifttum siehe Foitzik, in: Müller-Enbergs/Wielgohs/Hoffmann (Hrsg.), Wer war wer in der DDR?, S. 943; eine auch ins Deutsche übersetzte Biographie Vyšinskijs hat im Jahr 1991 Arkadi Waksberg unter dem Titel ‚Gnadenlos. Andrei Wyschinski – Mörder im Dienste Stalins‘ vorgelegt. 23 Zur Rolle Vyšinskijs im Wandel der sowjetischen Rechtstheorie siehe Vengerov, in: ­Kutafin (Hrsg.), Inkvizitor, S. 230–249; Huskey, Slavic Review 46 (1987), S. 414–428; ­Solomon, ­Soviet Criminal Justice, S.  153 ff.; Johnson, Introduction, S.  45 ff., 72 ff.; Berman, Justice in the U. S. S. R., S. 46 ff., 53 ff.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

1939 sodann in die Position des Generalstaatsanwalts aufgerückt war und der ab 1940 die Position des ersten Stellvertreters des Volkskommissars für Äußere Angelegenheiten – Vjačeslav Michajlovič Molotov24 – einnahm. Die vormals weithin konsentierten rechtstheoretischen Postulate der rechtsverneinenden Rechtsschule verwarf Vyšinskij vor dem Hintergrund der vorstehend skizzierten Wende der sowjetischen Völkerrechtspraxis nunmehr als eine „Krankheit des Rechts­ nihilismus“25. In Abkehr von den als Irrweg identifizierten Annahmen der nihilistischen Schule rief Vyšinskij die sowjetischen Juristen nunmehr mit unverkennbarem Pathos (fach-)öffentlich dazu auf, sich fortan auf die „ehrenvolle Aufgabe einer wissenschaftlichen Erarbeitung, einer wissenschaftlichen Begründung und Propagierung der Institute des Völkerrechts“26 zu konzentrieren.27 Ohne den Antagonismus der sozialistischen und der bürgerlichen Ideologie prinzipiell in Frage zu stellen, anerkannte der als stellvertretender Volkskommissar eng mit den Erfordernissen einer pragmatischen Gestaltung der internationalen Beziehungen vertraute Vyšinskij die Notwendigkeit, sowjetische Wertvorstellungen innerhalb und unter grundsätzlicher Anerkennung der überlieferten allgemeinen Völkerrechtsordnung zu verfolgen, von der zwar einige den sozialistischen Dogmen zuwiderliefen und deshalb für die Sowjetunion ohne jede Bindungswirkung28, im Übrigen aber als verbindlich anzuerkennen seien. Die auf dem Gebiet des Völkerrechts lehrenden und forschenden Rechtswissenschaftler der Sowjetunion fanden dabei in der ihnen zugedachten Funktion als „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“29

24 Molotov (Skrjabin), Vjačeslav Michajlovič (1890–1986), war von 1926 bis 1957 Mitglied des Politbüros/Präsidiums des ZK VKP(b) bzw. der KPdSU, darüber hinaus von 1930 bis 1941 Vorsitzender und von 1941 bis 1953 stellvertretender Vorsitzender des SNK (Ministerrats) der UdSSR, von 1939 bis 1949 Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten, von 1953 bis 1956 sodann Außenminister der UdSSR und von 1941 bis 1945 stellvertretender Vorsitzender des GKO (Staatliches Verteidigungskomitee). Ausf. biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 409 ff. (Eintrag Molotov). 25 Wyschinski, Fragen der Theorie, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 109 (111). 26 Wyschinski, Hauptaufgaben der Wissenschaft, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (101). 27 Zur Stellung und Arbeitsweise der wissenschaftlichen Eliten in der Sowjetunion, insb. in der Stalinschen Ära vgl. z. B. Krementsov, Stalinist Science; Grakina, Učenye ­Rossii; Kozlov, Vestnik RAN 2005, No 5, S. 387–392; Esakov, Akademija nauk; Tolz, Russian Academicians; Birstein, Perversion of Knowledge; Heinemann/­Kolčinskij, Realitäten und Mythen. 28 Als Beleg für diese lediglich punktuelle Verweigerungshaltung gegenüber dem tradierten System völkerrechtlicher Normen aus der Völkerrechtspraxis mag etwa die sowjetische Beitrittsofferte an den Völkerbund v. 15. Sept. 1934 angeführt werden, die unter dem Vorbehalt formuliert worden war, dass das in Art. 12 und 13 der Völkerbundsatzung vorgesehene Verfahren für vor dem Beitritt der UdSSR begründete Streitigkeiten keine Anwendung sollte beanspruchen können; für den Wortlaut des Schreibens vgl. Actes de la Quinzième Session ordinaire de l’Assemblée. Séances pénières, S.  58–59; auszugsweise abgedr. bei Makarov,­ ZaöRV 5 (1935), S. 34 (46–47, Fn. 47). 29 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (88).

II. „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“

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freilich mit den prinzipiellen Leitsätzen der Lenin-Stalinschen internationalen Politik ein verbindliches und weithin verdichtetes ideologisches Fundament vor, das zugleich Zielrichtung, Reichweite und Grenzen des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses markierte.30 Die Ausarbeitung schriftlicher Erwägungen zu völkerrechtlichen Fragestellungen erschien in dieser Perspektive daher „nur unter den Bedingungen einer vollkommenen und konsequenten Beherrschung des Marxismus-Leninismus“31 möglich. Diese strikte politische Anbindung und Rückkoppelung an die omnipräsente marxistisch-leninistische Doktrin sollte für die sich entwickelnde sowjetische Völkerrechtswissenschaft auch fortan einen zentralen Stellenwert einnehmen. Als aufschlussreich erweist sich gerade im Hinblick auf die spätere Zusammen­ arbeit der Alliierten in Nürnberg auch der Umstand, dass Vyšinskij dafür plädierte, sich „allseitig und erschöpfend die Wissenschaft und Kultur der kapitalistischen Gesellschaft anzueignen“32. Er wies darauf hin, dass die sowjetische Völkerrechtswissenschaft zwar von der „Tatsache der kapitalistischen Umkreisung“33 bzw. einem ideologischen Kampf auszugehen habe. Gleichzeitig begrüßte er jedoch eine engere Zusammenarbeit der UdSSR mit kapitalistischen Ländern in wirtschaftlichen und internationalen Beziehungen, u. a. in der „Sache der Erhaltung des Friedens“34.

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Zur ideologischen Überformung der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft siehe auch Korovin, in: Academy of Science of the USSR, Institute of State and Law (Hrsg.), Inter­ national Law, Ch. II, S. 75: „The study of International Law in Soviet legal literature is based on genuinely scientific foundations, on the teachings of Marxism-Leninism which guide the activity of the Soviet socialist State both at home and abroad.“ 31 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (61). 32 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (62). 33 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (87). 34 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (88); zur neuen Ausrichtung in der sowjetischen Außenpolitik seit dem Eintritt der UdSSR in den Völkerbund Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 16 ff.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik unter besonderer Berücksichtigung ihrer konzeptionellen Konkretisierung in Bezug auf die Ahndung nationalsozialistischen Unrechts 1. Das System der ‚internationalen Verbrechen‘: Theoretische Wegbereitung eines kohärenten völkerstrafrechtlichen Konzepts durch die Studien Trajnins Den durch die Abkehr von der nihilistischen Rechtsschule und den Aufruf zur proaktiven Erschließung eines positivistisch-eigenständigen Rechtsverständnisses innerhalb der Lenin-Stalinschen Doktrin neu eröffneten Aufgabenfeldern widmete sich auf dem Gebiet des Völkerrechts namentlich Aron Naumovič Trajnin, Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und renommierter Professor für Strafrecht.35 Im Gefolge der durch die regierungsamtliche „Freigabe“ der Völkerrechtswissenschaften erzeugten Dynamik legte Trajnin in kurzer Folge 35 Trajnin, Aron Naumovič (1883–1957), 1903 nahm Trajnin sein Studium der Rechtwissenschaften an der Moskauer Staatsuniversität (MGU) auf, welches er im Jahr 1908 abschloss. Noch vor der Oktoberrevolution veröffentlichte Trajnin einige Publikationen zu strafrechtlichen Themen. 1921 wurde er zum Professor der Rechte ernannt. In dieser Funktion hielt er zahlreiche Vorlesungen, darunter ‚Sowjetisches Strafrecht‘ (Sovetskoe ugolovnoe pravo) und ‚Allgemeiner und Besonderer Teil  des Strafrechts‘ (Obščaja i osobennaja časti u­ golovnogo prava). Nach der Schließung der juristischen Fakultät an der MGU war er als Professor und stellvertretener Leiter des Fachbereichs für Strafrecht an die Sowjetische Rechts­a kade­m ie (Vsesojuznaja Pravovaja Akademija)  berufen. Trajnin verfasste noch in den 1920er Jahren mehrere Lehrbücher zum Allgemeinen und Besonderen Teil  des Strafrechts. U. a. erschien 1925 ‚Strafrecht der RSFSR. Besonderer Teil: Verbrechen gegen den Staat und die soziale Ordnung‘ (Ugolovnoe pravo RSFSR. Čast’ osobennaja: Prestuplenija protiv gosudarstva i social’nogo porjadka) und 1929 sein großer Kurs des Allgemeinen Teils des sowjetischen Strafrechts (Ugolovnoe pravo. Obščaja čast’), für eine vollständige Aufzählung aller wissenschaftlichen Arbeiten Trajnins siehe ARAN, f. 1711, op. 1, d. 9, passim. Im Jahr 1938 wurde er an das Institut des Rechts der Akademie der Wissenschaften berufen und als Leiter der Strafrechtsabteilung eingesetzt. Im Jahr 1943 nahm er die Lehrtätigkeit an der MGU wieder auf. 1946 folgte seine Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Völkerstrafrechtliche Themen griff er neben einer Vielzahl von kürzeren Beiträgen in zeitgenössischen Zeitschriften und Zeitungen, besonders in drei Monographien 1935 (Ugolovnaja intervencija), 1937 (Zaščita mira) und 1944 (Ugolovnaja otvetstvennost’), auf. Einen großen Teil dieser Studien konnte er in die Londoner Verhandlungen über das Statut des Internationalen Militärtribunals einbringen, an welchen er als Teil der sowjetischen Delegation zusammen mit Iona Timofeevič Nikitčenko teilnahm. Im Jahr 1945 war er in rechtsberatender Funktion für die sowjetische Anklage tätig und wurde am 21. Nov. 1945 zum Mitglied der sowjetischen Kommission zur Leitung der Tätigkeit der sowjetischen Vertreter beim Internationalen Militärtribunal berufen, siehe Ziff. 131 aus dem Protokoll No 47 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 21. Nov. 1945, RGASPI, f. 17, op. 162, d. 37, Bl. 159, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 136, S. 308, vgl. auch ARAN, f. 1711, op. 1, Bl. 5. Für weitergehende Ausführungen zum akademischen Werdegang Trajnins siehe ARAN, f. 1711, op. 1, d. 8, Bl. 1, 7; Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 5–14; Boguš, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 166–173, sowie Zalesskij, Kto est’ kto, S. 578.

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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einige grundlegende Studien zu völkerstrafrechtlichen Fragen vor.36 Trajnin gilt­ insoweit als der erste sowjetische Jurist, der sich den Themen des Völkerstrafrechts im Sinne einer eigenständig erörterungsbedürftigen Rechtsmaterie exponiert widmete.37 Bereits 1935 hatte er die Außerachtlassung völkerrechtlicher Fragestellungen in der sowjetischen Literatur moniert und für eine intensivierte wissenschaftliche Erschließung und Durchdringung dieser Rechtsmaterie plädiert.38 Erst mit den von Trajnin vorgelegten Studien, an deren Erscheinen und Verbreitung­ Vyšinskij in Gestalt des Herausgebers39 und Verfassers zweier Vorworte40 maß­ geblichen Anteil hatte, kann von einer systematischen Auseinandersetzung der sowjetischen Rechtswissenschaft mit den im Westen debattierten zeitgenössischen Fragen des Völkerstrafrechts ernsthaft gesprochen werden.41 a) Strafrechtliche Intervention (1935) Sein erstes umfassendes Werk mit völkerstrafrechtlichem Bezug erschien 1935 unter dem Titel „Strafrechtliche Intervention. Die Bewegung zur Unifikation der strafrechtlichen Gesetzgebung der kapitalistischen Länder“42. Es birgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit den seinerzeit dominanten nichtsowjetischen Konzepten zur internationalen Kodifikation von Völkerrechtsverbrechen und hiermit in Zusammenhang stehenden Projektionen in Hinblick auf die Installation eines internationalen Strafgerichtshofs.43 Wie bereits das von Vyšinskij verfasste Geleitwort44 wortreich bezeugt, sollte sich die von Trajnin vorgelegte Untersuchung indes nicht in einer bloßen Darstellung und rechtlichen Bewertung der eingeführten bzw. diskutierten Modelle erschöpfen. Vielmehr verfolgte Trajnin – ganz im Sinne des von Vyšinskij formulierten Leitbilds eines „Propagandisten des w ­ irklichen

36 Vgl. insbesondere Trajnin, Ugolovnaja intervencija (1935); ders., Zaščita mira (1937); ders., Ugolovnaja otvetstvennost’ (1944). 37 ARAN, f. 1711, op. 1, Bl. 5. Eine Auflistung aller russischen sowie in andere Sprachen übersetzten Arbeiten von A. N. Trajnin findet sich in ARAN, f. 1711, op. 1, d. 9, passim. 38 Trajnin, Ugolovnaja intervencija; auch abgedruckt in: Trajnin, Ugolovnaja intervencija, in: Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 17–69; Auszüge ebenfalls in: Trajnin, in: Kuznecova (Hrsg.), Izbrannye trudy, S. 412 ff.; vgl. zum Ganzen auch ders., Socialističeskaja zakonnost’ 1937, No 10, S. 37–41. 39 Trajnin, Ugolovnaja intervencija (1935); ders., Zaščita mira (1937); ders., Ugolovnaja­ otvetstvennost’ (1944). 40 Ugolovnaja intervencija (1935), S. 3–6; Zaščita mira (1937), S. 3–6. 41 Vgl. Epifanov, Otvetstvennost’, S. 9; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 18 f. 42 Ü. d. Verf. Russischer Originaltitel: Ugolovnaja intervencija, dviženie po unifikacii ugolovnogo zakonodatel’stva kapitalističeskich stran. 43 Vgl. insoweit den im Anhang des Werkes abgedruckten Entwurf eines Statuts zur Er­ richtung eines ständigen internationalen Strafsenats innerhalb des bestehenden Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen vom Januar 1928,­ Ugolovnaja intervencija, S. 94–101. 44 Trainin, Ugolovnaja intervencija,Vorwort, S. 3–6.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

Völkerrechts“45  – ein in besonderem Maße ideologisch überformtes Anliegen, nämlich die „Entlarvung der wahren Absichten der kapitalistischen Juristen“, die in der Wahrnehmung Trajnins auf die Schaffung einer „einheitlichen strafrechtlichen Front“ gegen eine vielerorts erstarkende kommunistische Bewegung ausgerichtet zu sein schien.46 Während er sich dezidiert zugunsten der Anerkennung einer individuellen Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen aussprach, übte Trajnin scharfe Kritik an den bisher existierenden Konzepten zum Begriff des ‚internationalen Verbrechens‘.47 Gleichwohl vermochte er in dieser ersten Arbeit noch keine eigene, seiner Ansicht nach stimmige Definition für die Bestimmung eines Völkerrechtsverbrechens oder konkrete Vorschläge für die Schaffung eines Strafgerichtshofs48 zu präsentieren. Eigene positive Ansätze zur Lösung der aufgeworfenen Fragen sollte Trajnin erst nach und nach im Laufe späterer Publikationen entwickeln. ‚Strafrechtliche Intervention‘ kann daher zunächst und in erster Linie als ideologischer Abgrenzungsversuch und grundsätzliche Kritik an der zeitgenössischen Diskussion verstanden werden, die Trajnin als der eigenen Ideologie prinzipiell entgegengesetzt begriff. Angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der Strafbarkeit von Völkerrechtsverbrechen unter Zugrundelegung des internationalen Diskussionsstandes kann das Werk indes gleichzeitig als Versuch bewertet werden, das Interesse der sowjetischen Rechtswissenschaft auch für aktuelle internationale Bezüge zu aktivieren. Insoweit aber markiert die Arbeit jenseits von Grundsatzkritik und ideologisch motivierten Abgrenzungsmanövern zugleich den Beginn einer Entwicklung in Richtung auf die allmähliche Herausbildung einer konsistenten sowjetischen Position zu völkerstrafrechtlichen Fragen. b) Verteidigung des Friedens und Strafgesetz (1937) Dem in ‚Strafrechtliche Intervention‘ noch weitgehend im Dunkeln gelassenen sowjetischen Völker- (Straf-)Rechtsverständnis verlieh Trajnin mit seinem zweiten im vorliegenden Zusammenhang erwähnenswerten Beitrag aus dem Jahr 1937 sodann bereits erkennbare Konturen im Sinne einer positiven Standortbestimmung

45 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (88). 46 Trajnin, Ugolovnaja intervencija, S. 53 f. und hierzu das von Vyšinskij verfasste Vorwort, ebd., S. 3; siehe hierzu Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 18 ff. 47 Trajnin, Ugolovnaja intervencija, Kap.  2, S.  18 ff.; S.  19–21 zum Begriff der ‚Agression‘; zur Kategorie des ‚Terrorismus‘ als Tatbestand eines internationalem Verbrechens ausf. Kap. 3, S. 31 ff.; zum Missbrauch der Souveränität siehe Kap. 4, S. 50 ff.; zur Kategorie der ‚Repression‘ siehe Kap. 5, S. 55 ff. 48 Zur Auseinandersetzung mit den von ihm in der internationalen völkerrechtlichen Diskussion vorgefundenen Ansätzen in Hinblick auf die Schaffung eines solchen Tribunals, der Trajnin im Grundsatz aufgeschlossen gegenüberstand, vgl. Ugolovnaja intervencija, Kap. 6, S. 62 ff.

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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zu zentralen Fragen eines zukünftigen Völkerstrafrechts. Mit dem unter dem T ­ itel ‚Die Verteidigung des Friedens und das Strafgesetz‘49 wiederum unter der Redaktion und mit einer Einleitung von Vyšinskij verlegten Werk würdigte Trajnin das in Entwicklung befindliche Völkerstrafrecht als potentielles Instrument im Kampf gegen ‚internationale Verbrechen‘. Anders als ‚Strafrechtliche Intervention‘ erschöpfte sich die Studie nicht mehr in bloßer – ideologisch angereicherter – Funda­ mentalkritik an dem die zeitgenössische Völkerrechtsdiskussion dominierenden ‚westlichen‘ Rechtsverständnis, sondern stellte sich als erster konstruktiver Ansatz einer sachlichen Positionierung zu konkreten Fragekomplexen dar. Große Aufmerksamkeit widmete Trajnin der Völkerbundsatzung50, die in seiner Wahrnehmung als Mechanismus der Friedenssicherung vollkommen versagt hatte.51 Erneut bekundete der sowjetische Jurist vehemente Kritik gegenüber allen bisher in der Völkerrechtswissenschaft unternommenen Versuchen, den Begriff des ‚internationalen Verbrechens‘ einer subsumtionsfähigen Definition zuzuführen oder anhand weitgehend abstrakt bleibender Parameter jedenfalls gattungsmäßig einzufangen oder aber kasuistisch zu erfassen. Zur Vorbereitung eines eigenen tragfähigen Definitionsansatzes unternahm Trajnin in ‚Verteidigung des Friedens und Straf­ gesetz‘ sodann den Versuch, ein seines Erachtens allen ‚internationalen Verbrechen‘ gleichermaßen strukturell immanentes Wesensmerkmal namhaft zu machen. Als Kernelement der internationalen Beziehungen identifizierte Trajnin insoweit die friedliche internationale Kommunikation, die wegen ihrer erstrangigen Bedeutung eines besonderen strafrechtlichen Schutzes auf internationaler Ebene bedürfe.52 Das Spezifikum des internationalen Verbrechens müsse demnach in der Verletzung der Basis der internationalen Kommunikation – des Friedens – ver­ortet werden. Auf Grundlage dieser Erkenntnis gelangte Trajnin zu einer definitorischen Annäherung an den Begriff des Völkerrechtsverbrechens als einer Verletzung der Grundlage der internationalen Kommunikation, namentlich der friedlichen Be­ziehungen zwischen den Staaten und Nationen.53 Als strafwürdige ‚internationale Verbrechen‘ sollten daher nur solche Handlungen in Betracht zu ziehen sein, von denen eine ernsthafte Gefahr für das friedliche Zusammenleben von Völkern ausging. Als taugliche Subjekte (Täter) eines ‚internationalen Verbrechens‘ kamen für Trajnin nur natürliche Personen in Frage. Strafrechtlich sollten in erster Linie diejenigen Regierungsmitglieder und Staatsoberhäupter der Länder zur Verantwortung 49 Ü. d. Verf. Russischer Originaltitel: Zaščita mira i ugolovnyj zakon; Auszüge abgedr. in Trajnin, Izbrannye trudy, S. 461 ff. Zitierweise im Folgenden: Trajnin, Zaščita mira. Siehe zu dieser Studie im Überblick auch die Darstellung bei Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 20 ff. 50 RGBl. 1919 I, 689, 717–745. 51 Der Analyse von internationalen Verträgen, Konferenzen und den nationalen Gesetzen räumt Trajnin umfänglich über die Hälfte seiner Arbeit ein, vgl. Trajnin, Zaščita mira, S. 10–90. Zur Völkerbundsatzung, die Trajnin als instabil und schutzlos qualifiziert, siehe Trajnin, Zaščita mira, S. 10–41, insb. S. 26 und 33. 52 Trajnin, Zaščita mira, S. 99. 53 Trajnin, Zaščita mira, S. 99.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

gezogen werden, die systematisch ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzt und einen Angriffskrieg organisiert hatten. Staaten sollten demnach zwar auch Verantwortung für ihre Rechtsbrüche tragen, die allerdings nicht mit den Mitteln des Strafrechts geahndet werden sollten. Sie treffe vielmehr eine sich aus internationalen Verträgen ergebende Verantwortung besonderer Art.54 Der Begriff des ‚Verbrechens gegen den Frieden‘, welcher als Art. 6 lit. a später auch Eingang in das Nürnberger Statut finden sollte, erfuhr in ‚Verteidigung des Friedens und Strafgesetz‘ bereits eine ausgiebige Inanspruchnahme, allerdings in einer gegenüber Art. 6 des Statuts des Nürnberger Militärtribunals deutlich weiterreichenden Bedeutung, nämlich als Bezeichnung für das System aller Völkerrechtsverbrechen schlechthin.55 Dieses umfassende Begriffsverständnis beruhte auf der oben dargestellten Überlegung, dass jedes internationale Verbrechen das gemeinsame Merkmal  – die Beeinträchtigung der friedlichen Kommunikation, also des Friedens – erfüllen müsse. Dementsprechend fasste Trajnin unter diesen Begriff zu diesem Zeitpunkt noch alle Erscheinungsformen von ‚internationalen Verbrechen‘, die er in ein von ihm sodann entwickeltes dreistufiges System einzuordnen versuchte.56 Die erste Gruppe sollte die stärkste Form der Verletzung des Friedens zum Gegenstand haben, nämlich aggressive Handlungen wie die Führung eines Angriffskriegs und sich daran anlehnende Hilfeleistungen, Aggres­ sions­androhungen und Blockaden.57 Der zweiten Gruppe ordnete Trajnin sog. feindselige Handlungen gegen einen anderen Staat zu, die zwar selbst die Merkmale einer unmittelbaren Kriegshandlung nicht erfüllten, aber die Gefahr eines kriegerischen Konfliktes in sich bargen. Zu dieser Gruppe zählte Trajnin z. B. Aggressionspropaganda, Unterstützung von bewaffneten Banden, die Nichterfüllung von dem Friedensschutz dienenden internationalen Verträgen sowie Terrorismus.58 Die dritte Gruppe schlussendlich sollte feindselige Handlungen zusammenfassen, die einer Einordnung als feindselige Handlungen nach Maßgabe der zweiten Gruppe zwar entzogen waren, die in die friedlichen Beziehungen der Völker jedoch ein Element des Entfremdens und der Verstörung einzubringen geeignet erschienen und deren Ahndung daher im Interesse des friedlichen Zusammenlebens geboten erschien. Unter diesen Auffangtatbestand sollten nach der von Trajnin entwickelten Konzeption insbesondere Handlungen wie die Verbreitung von gefälschten Dokumenten oder gegen einen anderen Staat gerichtete verletzende Aussagen gefasst werden können.59 Die Hauptkritik Trajnins an den vorhandenen völkerrechtlichen Friedenssiche­ rungsinstrumenten speiste sich einerseits aus der in seiner Perspektive mangelhaften Überzeugungskraft ihrer theoretischen Fundamente und zum anderen aus 54

Zum Subjekt des internationalen Verbrechens ausf. Trajnin, Zaščita mira, S. 103 ff., 110. Trajnin, Zaščita mira, S. 112. 56 Für einen Überblick Trajnin, Zaščita mira, S. 111–114. 57 Trajnin, Zaščita mira, S. 115–122. 58 Trajnin, Zaščita mira, S. 123–154. 59 Trajnin, Zaščita mira, S. 155–158. 55

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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der rechtstatsächlichen Wirkungslosigkeit der durch die Völkerbundsatzung60 de jure bereitgestellten Mechanismen. Insbesondere bemängelte er den Umstand, dass die Satzungsgeber keinerlei Vorkehrungen zur effektiven Sanktionsbewehrung der positiven Völkerrechtsordnung getroffen hätten. Vor diesem Hintergrund befürwortete Trajnin ausdrücklich die Installation eines wirkungsvollen völkerrechtlichen Sanktionsinstrumentariums. Er schlug hierfür einerseits die konzertierte und ineinander greifende Ergänzung der nationalen Strafrechtsordnungen um einen speziellen Abschnitt vor, der Verbrechen gegen den Frieden zum Gegenstand hätte haben sollen.61 Außerdem sollten für die jeweiligen Signatarstaaten mit weitreichenden rechtlichen Bindungswirkungen einhergehende internationale Konventionen zum Schutz des Friedens ins Leben gerufen werden. Zur wirksamen Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden erschien aus Sicht Trajnins die ­Errichtung eines mit Strafgewalt ausgestatteten internationalen Gerichts auf völkerrechtlicher Basis unerlässlich. Die Schaffung eines solchen internationalen Strafgerichtshofs stellt sich als zentrales Anliegen Trajnins dar; seine diesbezüglichen Erwägungen nehmen einen entsprechend breiten Raum ein.62 Durch seine erstmals auch inhaltlich positiv Stellung beziehende Auseinandersetzung mit der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen avancierte Trajnin nicht nur zum völkerrechtlichen Pionier innerhalb der sowjetischen Strafrechtswissenschaft, vielmehr stellte er mit seinem umfangreichen und fundierten Beitrag zugleich den Anschluss an einen weltweit geführten völkerrechtlichen Diskurs her, wenngleich seine Studien nicht in andere Sprachfassungen übersetzt wurden und deshalb außerhalb der Sowjetunion allenfalls unter erschwerten Bedingungen wahrgenommen worden sein dürften. Gewiss gab Trajnin die in ‚Strafrechtliche Intervention‘ an die Adresse der westlichen Völkerrechtler und ihre Vereinigungen erhobenen Vorwürfe auch in ‚Verteidigung des Friedens und Strafgesetz‘ keineswegs auf. All seine Überlegungen fußten vielmehr auch weiterhin auf der ihm von Seiten Vyšinskijs an die Hand gegebenen ideologischen Prämisse einer Einkreisung der Sowjetunion durch kapitalistische Staaten sowie der Annahme von der kategorischen Unvereinbarkeit sozialistischer Systeme einer- und kapitalistischer Systeme andererseits. Mit seinen Bemühungen um eine eigene positive Konturierung des Begriffs des Völkerrechtsverbrechens, seinen Überlegungen zur Systematisierung strafwürdiger Verfehlungen gegen die völkerrechtliche Friedensordnung anhand des – später modifizierten – Dreistufenmodells, mit seinem nachdrücklichen Bekenntnis zur Notwendigkeit internationaler Kooperation im Völkerstrafrecht und zur Schaffung von effektiven Instrumenten der internationalen Friedenssicherung hat Trajnin jedenfalls den Weg in ein rechtstheoretisch abgestütztes sowjetisches Völkerrechtsbild bereitet und damit zugleich wertvolle Vorarbeit für nachfolgende Überlegungen der maßgeblichen Akteure auf sowjetischer Seite zur konkreten Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen geleistet. 60

RGBl. 1919 I, 689, 717–745. Trajnin, Zaščita mira, S. 160 f., 165. 62 Trajnin, Zaščita mira, S. 165 ff. 61

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

2. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941 als Impulsgeber für die Fortentwicklung eines zeitgenössischen Konzepts zur Ahndung von Kriegsverbrechen a) Die Resonanz in der sowjetischen (Rechts-)Wissenschaft auf die deutsche Invasion Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ging eine Sensibilisierung der Völkerrechtswissenschaft für die juristische Bewertung der nationalsozialistischen Verbrechen in der Sowjetunion und weltweit einher.63 Er markierte eine Zäsur im Verhältnis zur bislang vornehmlich in akademischen Zirkeln verorteten Diskussion um die Einführung eines durchsetzungsfähigen Völkerstrafgerichtsregimes. Zugleich leitete er eine neue Phase in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Thematik ein, zumal sich die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für auf der Hand liegende Kriegsverbrechen angesichts der detaillierten Kriegsberichterstattung durch die kriegführenden Parteien mehr denn je aufdrängte. Die auf sowjetischem Territorium ausgetragenen Kriegshandlungen und hierauf Bezug nehmende Meldungen über tatsächliche oder vermeintliche Gräueltaten der deutschen Wehrmacht hatten zahlreiche Erklärungen, Noten und sonstige Publikationen von Seiten der sowjetischen Staatsleitung zur Folge. Auch bei Rechtswissenschaftlern und Publizisten blieb die infolge staatlich verordneter Informationspolitik häufig einseitig zugespitzte Berichterstattung nicht ohne Widerhall. Namentlich in einer der Invasion zeitlich unmittelbar nachfolgenden ersten Phase, aber auch in der Folgezeit und bis zum Ende des Krieges, fand der systematische Charakter der im Namen des Deutschen Reichs in den besetzten Gebieten verübten Verbrechen und das hierin zu Tage tretende, alle Schichten – vom einfachen Soldaten bis in die Führungsriege des Regimes – einbeziehende verbrecherische System in den meisten Erklärungen und Publikationen besondere Erwähnung.64 Die Verantwortung für die Handlungen der Wehrmacht wurde in Übereinstimmung mit der offiziell verlautbarten regierungsamtlichen Lesart insbesondere der „verbrecherischen deutschen Regierung“65 zugewiesen und ein ursächlicher Zusammenhang mit der unbefriedigenden Hand­habung der Kriegsverbrecherfrage nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hergestellt. Die Mehrzahl der Beiträge der sowjetischen Rechtswissenschaft zum Thema der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen 63

Für eine Darstellung der Auswirkungen des Krieges auf die sowjetische Wissenschaft, für die der Kriegsbeginn nicht zuletzt als Stimulus zur Gründung neuer Initiativen und zur Steigerung ihres sozialen Statuts wirkte, siehe ausf. Sorokina, in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111–245 (insb. 126 ff.). 64 Vgl. hierzu beispielhaft Utevskij, Socialističeskaja zakonnost’ 1942 No 1, S. 5; Koževnikov, Socialističeskaja zakonnost’ 1942, No 10, S. 17 (19); Trajnin, Vestnik AN SSSR 1942, No 11–12, S. 142; vgl. außerdem Segesser, Recht statt Rache, S. 344; Ginsburgs, Soviet Studies 11 (1960), S. 253 (258). 65 Ü. d. Verf. Koževnikov, Socialističeskaja zakonnost’ 1942, No 10, S. 17 (19).

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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blieb jedoch zunächst auf eine Beschreibung der Gräueltaten oder der Kriegsereignisse und hieraus abgeleitete allgemeine Forderungen nach Strafe und Vergeltung beschränkt, ohne dass konkrete juristische oder politische Details oder Modalitäten der ins Auge gefassten Bestrafung im Einzelnen Erörterung gefunden hätten.66 b) Wissenschaftspolitische Repression als Hemmschuh einer diskursiven Entwicklung des sowjetischen Völkerstrafrechtsverständnisses Das Ausbleiben einer juristisch fundierten Erörterung der möglichen rechtlichen Konsequenzen der deutschen Kriegsführung und ihrer rechtspraktischen Ausgestaltung war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass  – ungeachtet des ohnehin bestehenden notorischen Mangels an gut ausgebildeten jüngeren Juristen in der UdSSR67  – neben Trajnin nurmehr ausgesprochen wenige sowjetische Rechtswissenschaftler mit Interesse und Sachkunde in Bezug auf völkerrechtliche Fragestellungen zur Verfügung standen. Bis in die 1930er Jahre in der Fach­öffent­lichkeit als führend wahrgenommene und entsprechend beleumundete Rechtwissenschaftler wie etwa Korovin und Pašukanis68 hatten sich bereits zuvor in Anbetracht der außenpolitischen und rechtstheoretischen Neuausrichtung der Sowjetunion zur mehr oder weniger freiwilligen Niederlegung ihrer Funktionen und dem Rückzug aus den meisten Ämtern veranlasst gesehen. Andere sahen sich immerhin gehalten, von zentralen Anliegen und Sichtweisen im Interesse der Linien­kon­for­mi­tät abzurücken und daher auch ohne ausdrückliche Anordnung mit der Erwartungshaltung konfrontiert, sich unautorisierter öffentlicher Stellungnahmen zum Themenkomplex (fortan) zu enthalten. Zu aktuellen Frage­ stellungen äußerten sie sich daher nur selten oder gar nicht.69 Steht bereits der Aufruf zur systemkonformen Erschließung und Entwicklung eines sowjetischen Völker­rechtsverständnisses in untrennbarem Zusammenhang mit der Person Andrej Vyšinskijs, so nimmt es nicht Wunder, dass demselben auch die Aufgabe oblag, die Widerlegung der früheren (insbesondere nihilistischen) Lehren als schädlichen Irrweg mit allen Mitteln zu betreiben. So desavouierte er die von­ Korovin entwickelte und lange Zeit systemtragende Rechtstheorie als fehlerhaft und ‚verwirrt‘. Weitere namhafte Juristen wie M. Rejsner oder P. I. Stučka belegte­ Vyšinskij ebenfalls mit dem weitreichenden Vorwurf einer verzerrten Vorstellung

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Dazu Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 71; Segesser, Recht statt Rache, S. 344. Vgl. hierzu Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 81 ff., 111 ff.; Rittersporn, Theory and Society 13 (1984), S. 211 (213). 68 Für weitere Nachw. zu den Vorgenannten vgl. Fn. 6. 69 Vgl. insoweit den bei Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S.  13, Fn.  2 formulierten Befund: „[D]ie durch Säuberungsaktionen eingeschüchterte Wissenschaft hüllte sich in Schweigen“. 67

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

vom Sowjet­recht.70 Pašukanis schließlich wurde von Vyšinskij wegen seiner Lehre als Schädling ‚entlarvt‘, der im Zusammenwirken mit weiteren Verrätern all seine Bemühungen auf die Irreführung der Wissenschaft gerichtet habe.71 In seine diesbezüglichen Bewertungen ließ Vyšinskij nicht selten unverhohlene Drohungen an den jeweiligen Autor einfließen72, was weiteres wissenschaftliches Arbeiten auf dem betreffenden Terrain für den Betroffenen rasch zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden ließ. Konkrete Vorschläge zu den juristischen Implikationen der Kriegsverbrecherbestrafung im Lichte der aktuellen weltpolitischen Situation lagen in der Sowjetunion Anfang der 1940er Jahre kaum vor. Die wissenschaftliche Zurückhaltung bei der Formulierung konkreter juristischer Konzepte dürfte namentlich dem Umstand geschuldet sein, dass jede schriftliche Fixierung von Sichtweisen und Vorschlägen zur Handhabung der Kriegsverbrecherproblematik in Abwesenheit einer parteiamtlich dekretierten Sprachregelung das Risiko einer ungewollten Abweichung von einer erst im Nachgang entwickelten parteioffiziellen Doktrin in sich barg. Da der Urheber solch unbewusst devianter Ideen in einem Klima all­gemeiner Rechtsverunsicherung nicht selten existenzielle persönliche und berufliche Konsequenzen zu gewärtigen hatte, dürften sich die in Betracht kommenden fachwissenschaftlichen Autoren jener Zeit auch ohne ausdrückliche Warnungen zu einer besonderen Vorsicht gezwungen gesehen haben.73 In Ermangelung hinreichend umrissener und somit belastbarer politischer Leitlinien zum Problemkomplex der Kriegsverbrechen erwies sich einzig das allgemein gehaltene Postulat nach harter und verdienter Strafe74 als unverdächtige und mithin ungefährliche Äußerungsform, bot es doch den jeweiligen Autoren ausreichend Raum für spätere Konkretisierungen, Fortschreibungen oder Modifikationen im Lichte der jeweils maßgeblichen Parteidoktrin. So konzentrieren sich zahlreiche Beiträge zunächst auf eine tatsächliche Schilderung der Zustände in den von Deutschland besetzten Gebieten, mit der sodann regelmäßig die vage gehaltene Forderung nach einer Be-

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Vyšinskij, Voprosy prava, S. 8 ff., 17 ff.; für die deutsche Übersetzung vgl. Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 7 (13 ff.); ferner ders., ebd., S. 50 (71); Vyšinskij, K položeniju, S. 7 ff.; ders., Law of the Soviet State, S. 53 ff. 71 Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (50, 59, 66 ff.); Vyšinskij, K položeniju, S. 4 ff., 13 ff., 42 ff.; ders., Law of the Soviet State, S. 53 ff. 72 Vgl. hierzu die bei Menzel, in: Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel (Hrsg.), Drei Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Einführung, S.  I (XVIII) wiedergegebene Auseinandersetzung Vyšinskijs mit der Position Korovins, dem er einen „Rückfall in die linken Seitensprünge“ früherer Jahre attestiert, verbunden mit der im zeithistorischen Kontext existenzbedrohenden Feststellung, dass Korovin sich als „von den Grundprinzipien der Lenin-Stalinschen internationalen Politik ziemlich unberührt“ erwiesen habe. 73 Ähnlich Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 71; Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (713). 74 Vgl. etwa Man’kovskij, Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika 1943, No 10–11, S. 62–68.

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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strafung für die minutiös dargestellten Verbrechen verbunden wurde.75 Vertiefte wissenschaftliche Beachtung erfuhren in jener Zeit daneben auch historische Präzedenzfälle der Kriegsverbrecherverfolgung, insbesondere die Leipziger Prozesse von 1921 bis 1927.76 Die wesentlichen Impulse hin auf eine die Thematik auch in ihren Gegenwartsbezügen ausschöpfende juristische Analyse führten indes auch weiterhin auf Trajnin zurück  – freilich unter der sich durch Heraus­geberschaft und Geleitwortgestellung auch äußerlich manifestierenden, quasi partei­offiziellen ‚Schirmherrschaft‘ Vyšinskijs. Durch die besondere Nähe Trajnins zu Vyšinskij, dem „Lehrer in der Anwendung des Rechtes beim Aufbau des Sozialismus“77, dem „große[n] Ankläger“78, sah sich Trajnin insoweit just jener Befürchtungen enthoben, welche die übrigen Autoren von der Einnahme eines zu unverrückbaren Standpunktes im ideologischen Vakuum typischerweise abgehalten haben dürften.79 Denn Vyšinskij fungierte nicht nur als Herausgeber der meisten und Vorwortverfasser einiger Studien Trajnins, sondern übte durch vorbehaltene endgültige Korrekturen (nicht nur sprachlicher Art) und sonstige Interventionen auch unmittelbar inhaltsgestaltenden Einfluss auf Trajnins Arbeiten aus.80 Diese Verbindung gab Trajnin nicht nur in besonderer Weise die Arbeitsrichtung vor, sondern verschaffte ihm auch ein erhöhtes Maß an politischer Sicherheit. Insoweit stellte Aron Trajnin mit seinen Arbeiten zur Frage des konkreten juristischen Umgangs mit den deutschen Kriegsverbrechen in gewisser Weise eine Ausnahme in der im Übrigen von erzwungener Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit dominierten wissenschaftlichen Landschaft dar. c) Rechtsfortbildung intra muros: Diskrete Grundlegung einer völkerstrafrechtlichen Doktrin Der angesichts der wissenschaftlichen Publikationslage der 1940er Jahre sich aufdrängende Eindruck eines bestenfalls beschränkten, allgemeinen wissenschaftlichen Interesses an der juristischen Bewältigung der deutschen Kriegsverbrechen steht indes in augenfälligem Kontrast zu den überlieferten Archivalien. Die Auswertung der insoweit anzutreffenden Quellenlage führt rasch zu der Erkenntnis, dass abseits der öffentlich verlautbarten rechtspolitischen Doktrin  – ­gleichsam 75

Il’ja Trajnin, Propagandist 1943, No  18, S.  18–27; Trajnin A., Oktjabr’ 1943, No  6–7, S. 170–175; Man’kovskij, Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika 1943, No 10–11, S. 62–68. 76 Poljanskij, Istoričeskij Žurnal 1943, No 1, S. 68–72. 77 Hilde, Staat und Recht 1954, S. 691. 78 Hilde, Staat und Recht 1954, S. 691 (692). 79 Für die zahlreichen Beiträge Aron Trajnins in zeitgenössischen Periodika siehe etwa Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13–17; für die charakteristische Anprangerung der Verbrechen und die allgemeine Forderung nach harter Bestrafung siehe Il’ja Trajnin, Vestnik AN SSSR 1942, No 11–12, S. 142–144; ders., Propagandist 1943, No 18, S. 18–27; Aron Trajnin, Oktjabr’ 1943, No 6–7, S. 170–175 (Nachdruck in Trajnin, Njurnbergskij pročess, S. 3–12). 80 Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (713).

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

„hinter den Kulissen“ – noch in den 1940er Jahren vielfältige Überlegungen in Bezug auf die zukünftige Ausgestaltung eines Rechtsregimes zur Ahndung von Kriegsverbrechen initiiert worden sind. Aufgrund von direkten dahingehenden Weisungen des Volkskommissariats für Äußere Angelegenheiten (NKID)81 war namentlich das Institut für Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1942 äußerst intensiv mit Fragen der Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen befasst. Beispielhaft erscheint insoweit etwa die Sitzung der Fachabteilung für Wirtschaft und Recht am 3. Oktober 1942, in der eine eingehende Erörterung darüber stattfand, wie die Bewältigung der vom NKID dekretierten „bedeutendsten Aufgabe“82, nämlich die Frage der Entschädigung für materielle Kriegsschäden aus völkerrechtlicher Sicht, in der genannten Frist bis zum 1. November umgesetzt werden könne. Il’ja Pavlovič Trajnin (im Folgenden: Il’ja Trajnin)83, der seinerzeitige Direktor des Instituts für Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, trug in der Sitzung vor, auf welchen Modus man sich mit dem NKID wegen der Konkretisierung der dem Institut auferlegten Aufgabe verständigt habe und verlas die sich daraus als Untersuchungsgegenstand ergebenden Themen­felder, namentlich (1) das Wesen des internationalen Delikts, insbesondere des Delikts im Zusammenhang mit dem Krieg, (2) Verantwortungssubjekte und Verantwortungstypen, (3) Fragen der materiellen Verantwortlichkeit wegen Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg und (4) Fragen der strafrechtlichen Verantwortung.84 Erörtert wurden sodann namentlich die praktischen Herausforderungen bei der Ausführung des Untersuchungsmandats, mit welchen sich die Abteilung Ende 1942 konfrontiert sah. Beispielhaft nannte der Direktor des Instituts für Recht einen ihm erteilten Auftrag, die Lage der Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten einer juristischen Bewertung zuzuführen. Eine solche Studie war zwar zwischenzeitlich angefertigt worden, war jedoch nach dem Dafürhalten des Institutsdirektors Il’ja Trajnin deshalb „zu trocken und juristisch“ ausgefallen, weil sie „nicht mit dem sowjetischen

81 Die am Institut für Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR tätigen Wissen­ schaftler arbeiteten aufgrund von direkten politischen Weisungen z. B. durch das NKID. Zur Wissenschaftsgeschichte der Sowjetunion im Allgemeinen und der Verflechtung wissenschaftlicher Institutionen mit den politischen Machthabern im Besonderen siehe etwa Krementsov, Stalinist Science; Grakina, Učenye Rossii; Kozlov, Vestnik RAN 2005, No  5, S.  387–392;­ Esakov, Akademija nauk v rešenijach Politbjuro CK RKP(b)-VKP(b), 1922–1952; Tolz, Russian Academicians and the Revolution; Birstein, Perversion of Knowledge; Heinemann/Kolčinskij, Realitäten und Mythen. 82 Ü. d. Verf., Stenogramm der Sitzung v. 3. Okt. 1942, ARAN, f. 499, op. 1, d. 24, Bl. 1–9. 83 Der mit Aron Trajnin entgegen der Übereinstimmung im Familiennamen in keiner erkennbaren verwandschaftlichen Beziehung stehende Il’ja Pavlovič Trajnin bekleidete von 1942 bis 1947 das Amt des Direktors des Instituts für Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Zwischen 1946 und 1949 fungierte er als akademischer Sekretär der Abteilung Wirtschaft und Recht; zeitgleich war er zum Mitglied des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der UdSSR berufen. Weiterführende biograph. Nachw. bei Sorokina, Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (817, 820). 84 Ü. d. Verf., Stenogramm der Sitzung v. 3. Okt. 1942 (Fn. 82), ARAN, f. 499, op. 1, d. 24, Bl. 1 (1–2).

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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Geist getränkt“85 war. Die mangelhafte ideologische Anreicherung der formell bereits fertiggestellten Studie war dann auch der Grund für den Beschluss des Instituts, die Arbeit nicht freizugeben oder auszuliefern, sondern sie vorerst vielmehr als bloß internes Arbeitsmaterial zu behandeln. Auch in organisatorischer Hinsicht sah der Direktor das Institut mit erheblichen Widrigkeiten bei der Ausführung des Untersuchungsmandats konfrontiert. In Anbetracht des schieren Umfangs der angeordneten Studien identifizierte der Institutsdirektor Il’ja Trajnin insoweit zuvörderst einen „existenziellen“ Mangel an wissenschaftlichen Mitarbeitern. Die Nichtverfügbarkeit einschlägiger Literatur und fehlende Publikationsmöglichkeiten infolge von Zeitschriftenschließungen schafften für die wissenschaftliche Arbeit des Instituts zusätzliche Hürden.86 Derlei Widerständen zum Trotz brachte der Direktor jedoch seine Wertschätzung gegenüber dem bislang erreichten Niveau der Arbeit und der Qualität der bis dato vorliegenden Ergebnisse zum Ausdruck, die er abschließend mit der Erwartung verknüpfte, dass die in Zukunft erscheinenden Arbeiten nicht nur keine Abweichungen von der offiziellen Parteilinie, sondern auch ansonsten keine groben politischen Fehler enthalten würden.87 3. Die Regierungserklärung vom 14. Oktober 1942: Die Installation eines internationalen Straftribunals als Nukleus einer sich entwickelnden sowjetischen Völkerstrafrechtskonzeption ex cathedra Am 13. Januar 1942 wurde mit der Erklärung von St. Jame’s in London durch die Exilregierungen zum ersten Mal der Wille zur gerichtlichen Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen öffentlich formuliert.88 Die UdSSR befand sich nicht unter den Unterzeichnern dieser bedeutungsvollen Deklaration, nahm allerdings gemeinsam mit den USA, Großbritannien, den Dominions, Indien und China als Beobachter an der Konferenz teil.89 Die der Erklärung von St. Jame’s nachfolgende kollektive Note der Exilregierungen an die Alliierten mit der Aufforderung, eine nachdrückliche Warnung an die für die Gräueltaten Schuldigen auszusprechen90, 85

Ü. d. Verf., Stenogramm der Sitzung v. 3. Okt. 1942 (Fn. 82), ARAN, f. 499, op. 1, d. 24, Bl. 1 (6). 86 Der Stab an wissenschaftlichen Mitarbeitern bestand zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Beschreibungen Il’ja Trajnins aus 25 Personen, Stenogramm der Sitzung v. 3.  Okt. 1942, ARAN, f. 499, op. 1, d. 24, Bl. 1 (6–7). 87 Stenogramm der Sitzung v. 3. Okt. 1942 (Fn. 82), ARAN, f. 499, op. 1, d. 24, Bl. 1 (8–9). 88 Deklaration der interalliierten Konferenz im St. Jame’s Palast in London über deutsche Kriegsverbrechen v. 13. Jan. 1942, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 1. Halbbd., S. 32–33 (engl.), siehe hierzu Woodward, British Foreign Policy, Vol. II, S. 277; Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 90 f. 89 Kochavi, Prelude, S. 19 f.; Bathurst, AJIL 39 (1945), S. 565. 90 Der an Molotov adressierte Text der Erklärung wurde am 23. Juli 1942 Vyšinskij überreicht, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 1–2; dazu Kochavi, Prelude, S. 32 f.; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 35; Lebedeva, Podgotovka, S. 13 ff. Ausf. hierzu in Kap. C. II. 1.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

bot der sowjetischen Regierung einen konkreten Anlass, ihren Standpunkt bezüglich der Ahndung nationalsozialistischen Unrechts zu formulieren. Die offizielle Antwort erfolgte am 14. Oktober 1942 und enthielt u. a. die Forderung nach der Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Aburteilung von Kriegsverbrechern.91 Erst nachdem mit der Regierungserklärung vom 14.  Oktober 1942 der Gedanke einer Aburteilung der Kriegsverbrecher durch ein internationales Tribunal erstmals auch von offizieller Seite aufgegriffen worden war, fanden hieran anknüpfende oder darauf Bezug nehmende Überlegungen Eingang in die juristischen Beiträge zum Thema der Kriegsverbrechen. Die Spitze der nationalsozia­listischen Führung sollte dabei nach verbreiteter Überzeugung als erste zur Verantwortung gezogen werden. Ein „spezielles internationales Tribunal“ 92 sollte mit der Aufgabe betraut werden, die normativen Voraussetzungen für die Aburteilung von Kriegsverbrechern zu formulieren, da die bis dato in Kraft befindlichen internationalen Konventionen über Gesetze und Gebräuche des Krieges keine Normen enthielten, auf deren Grundlage Individuen wegen Völkerrechtsverletzungen hätten verurteilt und der Strafe zugeführt werden können. Eine der dringlichsten Aufgaben in diesem Zusammenhang erblickte Ilja Trajnin in der zeitnahen Dokumentation derjenigen Verbrechen, derentwegen zu einem späteren Zeitpunkt vor einem etwaigen internationalen Tribunal der Nachweis der strafrechtlichen und materiellen Verantwortung zu führen sein würde.93 1943 sprach Aron Trajnin im Zusammenhang mit der Kriegsführung Deutschlands von einer „verbrecherischen Verschwörung gegen die Menschheit und die Zivilisation“94 und einem „organisierten staatlichen Banditentum“95, wobei der Befund der systematischen Vorgehensweise bei der Ausführung der nationalsozialistischen Verbrechen noch weiter in den Fokus seiner Analysen rücken sollte.96

91 AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 1–2, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 3, S. 74–76, Fn. 1 und Dok. No 4, S. 76–79 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 93–97; Auszüge bei Aleksandrov u. a., Otvetstvennost’, S. 14–16; engl. Fassung des „Statement of the Soviet Government and the Responsibility of the Hitlerite Aggressors and their Associates for the Crimes they have Committed in the Occupied Countries of Europe“ v. 14. Okt. 1942, AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Bl. 21–22 (Dok. Nr. 4), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 1040–1042; Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 51–55. Ausf. hierzu Kap. C. II. 1. 92 Ü. d. Verf., Il’ja Trajnin, Vestnik AN SSSR 1942, No 11–12, S. 142 (143). 93 Il’ja Trajnin, Vestnik AN SSSR 1942, No 11–12, S. 142 (143). 94 Ü. d. Verf., Trajnin, Oktjabr’ 1943, No 6–7, S. 170 (171); Nachdruck in Trajnin, Njurnbergskij pročess, S. 3 (6). 95 Ü. d. Verf., Trajnin, Oktjabr’ 1943, No 6–7, S. 170 (171); Nachdruck in Trajnin, Njurnbergskij pročess, S. 3 (6). 96 Siehe insoweit namentlich auch die in der kommunistischen Zeitschrift The New Masses in den USA erschienenen Artikel von Trajnin: Trainin, The New Masses 52 (1944), No. 11, S. 3–6, und Trainin, The New Masses 52 (1944), No. 12, S. 10–12. Ein thematisch einschlägiger englischsprachiger Beitrag Trajnins erschien auch in der sowjetischen Zeitschrift Inter­ nacional’naja literatura, siehe Trajnin, Internacional’naja literatura 1943, No 12, S. 4–10.

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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4. Das interne Poljanskij-Dossier: Blaupause eines Statuts für ein zukünftiges internationales Militärtribunal Eine besonders dezidierte Haltung zur Frage der Ahndung der Hauptkriegsverbrecher nahm im Februar 1943 der renommierte sowjetische Jurist Nikolaj N. Poljanskij in einem der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vorgestellten (internen) Projekt über „Die Organisation der strafrechtlichen Verfolgung für Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg“97 ein.98 Das an die Aussagen der Regierungserklärung thematisch anknüpfende Dossier forderte im Kern die strafrechtliche Aburteilung der nationalsozialistischen Führung, die für die Verletzung der „Grundpfeiler des Friedens und des Systems der internationalen Beziehungen“99 durch Aggression, Aggressionspropaganda und weitere Handlungen verantwortlich zeichne, vor einem internationalen Strafgerichtshof. Zur Rechtfertigung dieser Forderung nach der Einsetzung eines mit entsprechender Strafgewalt auszustattenden internationalen Tribunals führte Poljanskij insbesondere legitimatorische Erwägungen ins Feld. Nur das Urteil eines solcherart konstituierten und mandatierten Gerichts würde von der ganzen Menschheit als „Stimme der weltweiten ­ oljanskij insoöffentlichen Meinung“100 gehört werden. Als verfehlt qualifizierte P weit jedoch eine Sichtweise, nach der die Bedeutung eines internationalen Strafgerichts allein in der Bestrafung der Verbrecher zu sehen sein sollte. In seiner Perspektive lag die oberste und relevanteste Funktion eines internationalen Strafgerichts in der „Aufdeckung der Triebfedern der Verschwörung“101 und der Vermittlung eines denkbar objektiven Eindrucks von den unmenschlichen Gräueltaten, die sich die Kriegsverursacher hatten zu Schulden kommen lassen.102 Mit seiner Legitimation der Forderung nach der Einsetzung eines Tribunals anhand der gleichermaßen entlarvenden und erzieherischen Wirkung eines Gerichtsverfahrens lag Poljanskij ganz auf einer Linie mit dem allgemein propagierten sowjetischen Verständnis des gerichtlichen Verfahrens als eines staatlichen Mediums, mit Hilfe dessen der Staat nicht nur seine rechtsprechende Gewalt für den Einzelfall konkretisiert, sondern darüber hinaus auch seinen Auftrag zur politischen Erziehung der Rechtsunterworfenen einlösen sollte. Namentlich im Strafprozess sollte die erzieherische Wirkung im Sinne einer Generalprävention neben die­ 97

Ü. d. Verf., Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1–84. Vgl. hierzu auch Lebedeva, Podgotovka, S. 43 f.; dies., Novaja i novejšaja istorija 1986, No 5, S. 38 (44) sowie Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 72. 99 Ü. d. Verf., Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (20). 100 Ü. d. Verf., Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (20). 101 Ü. d. Verf., Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (32). 102 Seine Überlegungen zu den Zwecken eines gerichtlichen Verfahrens vor einem internationalen Gericht aus dem Jahr 1943 griff Poljanskij auch in späteren Publikationen wiederholt auf, siehe etwa Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 77; ders., Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1946, No 1, S. 44–54. 98

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

gerichtliche Pflicht zur Bestimmung der individuellen Schuld und der Festsetzung einer angemessenen Strafe treten. Diesen Gleichlauf der Verfahrens­zwecke betonten insbesondere auch der „Lehrer in der Anwendung des Rechtes beim Aufbau des Sozialismus“103, Vyšinskij, und der Präsident des Obersten Gerichtshofs der UdSSR, Ivan Terent’evič Goljakov104, als dessen Stellvertreter seinerzeit der spätere sowjetische Richter am IMT Iona Timofeevič Nikitčenko105 eingesetzt war, in diversen Publikationen.106 Unter Hinweis darauf, dass die im Versailler Vertrag noch vorgesehene Anklage von Wilhelm II107 nie stattgefunden hatte, sah Poljanskij die Durchführung eines Gerichtsverfahrens im Sinne einer Präzedenz auch aus historischer Perspektive 103

Hilde, Staat und Recht 1954, S. 691. Ausf. biograph. Nachweise zu Leben und Wirken Goljakovs, insbesondere zu seiner Rolle während des ‚großen Terrors‘ bei Zalesskij, Kto est’ kto, S.  149 (Eintrag Goljakov);­ Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 261 ff. 105 Nikitčenko, Iona Timofeevič (1895–1967), Nikitčenko trat 1917 dem bolschewistischen Flügel der ‚Russischen Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei‘ RSDRP (Rossijskaja Social-­ Demokratičeskaja Rabočaja Partija) bei und beteiligte sich am Aufbau der sowjetischen Macht in Novočerkassk 1917–1918. 1918 trat er der Roten Armee der Arbeiter und Bauern (RKKA) bei. Ab September 1920 übte Nikitčenko das Amt des Vorsitzenden des Militärgerichts der Militäreinheit Semirečensk aus. In der Folgezeit war er in verschiedenen Funktionen als Militärjurist tätig, bis er 1926 zum Vorsitzenden des Militärgerichts des Moskauer Militär­distrikts ernannt wurde, dessen Funktion er bis Juni 1935 ausübte. 1928 machte Nikitčenko einen Abschluss an der Ersten Moskauer Staatsuniversität. Zwischen Juni 1935 und August 1938 agierte Nikitčenko als stellvertretender Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichtshofs der UdSSR und war Mitwirkender des Schauprozesses gegen Kamenev und Zinov’ev im Jahr 1936. Im September 1938 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs der UdSSR ernannt. Im Jahr 1941 wurde Nikitčenko als Sonderbeauftragter für die Organisation von Militärgerichten abkommandiert. Im Juni 1945 wurde er zum Leiter der sowjetischen Delegation auf der Konferenz in London ernannt, vgl. Zalesskij, Kto est’ kto, S. 424 f. (Eintrag Nikitčenko). 106 Vyšinskij, Kurs ugolovnogo prava, S. 5 ff., 30; ders., Sud i Prokuratura, S. 38 ff.; ders., K položeniju, S.  21; ders., Sovetskoe ugolovnoe pravo, S.  3 f.; Goljakov, Socialističeskaja­ zakonnost’ 1944, No 2, S. 5 (6); Goljakov, Socialističeskaja zakonnost’ 1945, No 3, S. 1 (9). 107 Vgl. Art. 227 ff. des Versailler Vertrages v. 28. Juni 1918, RGBl. 1919 I, S. 687 (981). Der nie in die Rechtswirklichkeit umgesetzte Art. 227 ordnete nicht nur die Anklageerhebung gegen den deutschen Kaiser Wilhelm II. expressis verbis an, sondern sah auch die Einrichtung eines zur Urteilsfindung entsprechend ermächtigten internationalen Spruchkörpers, dessen Beurteilungsmaßstäbe der Artikel in groben Zügen vorskizzierte. Art. 227 hatte auszugsweise folgenden Wortlaut: „Die alliierten und assoziierten Mächte stellen Wilhelm II. von Hohenzollern, vormaligen Kaiser von Deutschland, wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage. Ein besonderer Gerichtshof wird eingerichtet, um über den Angeklagten unter Wahrung der wesentlichen Bürgschaften des Rechts auf Verteidigung zu Gericht zu sitzen. Der Gerichtshof besteht aus fünf Richtern, von denen je einer von folgenden fünf Mächten […] ernannt wird. Der Gerichtshof urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik; Richtschnur ist für ihn, den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen. Es steht ihm zu, die Strafe zu bestimmen, deren Verhängung er für angemessen erachtet. […].“ Zu den Gründen für die Nichtumsetzung nicht nur des Art. 227, sondern auch der Art. 228–230 (die das Vorgehen gegen 104

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als besonders wertvoll an.108 Sein Projekt enthielt detailliert ausgearbeitete Vorschläge zur Organisation eines Internationalen Gerichts mit dem Ziel der Urteilsfindung über die noch zu definierenden Hauptkriegsverbrecher. Als normativer Anknüpfungspunkt und argumentative Stütze diente ihm das mehrfach zitierte Statut109 des auf Grundlage der Völkerbundsatzung entstandenen Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH). Für die Einrichtung des Gerichts sah Poljanskij’s Projekt den Abschluss eines internationalen Abkommens vor, das jedoch nur die wichtigsten Regelungen über die Organisation und Arbeitsweise des Gerichts enthalten sollte. Die Ausgestaltung der Verfahrensordnung im Detail sollte demgegenüber dem Gericht selbst überlassen bleiben.110 Für die personelle Zusammensetzung des einzusetzenden Spruchkörpers sah das Dossier die Entsendung von Richtern durch die Unterzeichnerstaaten der­ Washingtoner Deklaration vom 1. Januar 1942111 vor, also diejenigen Länder, die ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt hatten, sich in den „Kampf für den Sieg über den Hitlerismus“112 aktiv einzubringen. Die alliierten Staaten sollten dabei in den Genuss einer Privilegierung in Gestalt einer ‚qualifizierten Vertretung‘ dergestalt gelangen, dass ihnen – anders als den übrigen Staaten, die jeweils nur einen Repräsentanten stellen sollten – jeweils ein Entsenderecht für zwei Repräsentanten eingeräumt werden sollte. Eine Teilnahme Deutschlands an der Gerichtsbesetzung schloss Poljanskij nicht prinzipiell aus. Vielmehr gab er zu bedenken, dass das Urteil des einzusetzenden internationalen Strafgerichts in seiner moralischen Strahlkraft womöglich noch gewinnen könne, wenn eine der am Urteilsspruch mitwirkenden Stimmen dem Volk zugehöre, aus dem sich die Angeklagten rekrutierten.113 In Anlehnung an das bereits im Statut des StIGH angelegte Verfahren sollte das von Poljanskij ins Auge gefasste internationale Strafgericht einen Vorsitzenden und seine Stellvertreter autonom bestimmten können. Allerdings verlieh Poljanskij seiner Erwartung Ausdruck, dass der Sowjetunion angesichts der von ihr bei der Befreiung Europas vom Faschismus erbrachten immensen Opfer ein faktisch-moralisches Anrecht auf die Wahl ihres Vertreters erwachse.114 Dem weitere Kriegsverbrecher zum Gegenstand hatten), vgl. die instruktiven Ausführungen des Lord Viscount Maugham vor dem britischen Oberhaus am 7. Okt. 1942, House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 557–568. Vgl. insb., Col. 557–558 zur das Schicksal des Art. 227 letztlich besiegelnden Weigerung der holländischen Regierung, den ehemaligen deutschen Kaiser auszuliefern. 108 Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (34). 109 Statut des StIGH v. 16. Dez. 1920, RGBl. 1927 II, S. 229. 110 Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (37–38). 111 Declaration by United Nations vom 1. Jan. 1942, Department of State Bulletin 6 (1942), No. 132 (January 3, 1942), S. 3 f. 112 Ü. d. Verf., Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (38). Vgl. die entsprechende Formulierung in der Deklaration der Vereinten Nationen vom 1. Jan. 1942: „struggle for victory over Hitlerism“, Department of State Bulletin 6 (1942), No. 132 (January 3, 1942), S. 3.  113 Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (38 f.). 114 Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (42).

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

Umstand, dass durch Verbrechen der Angeklagten in Mitleidenschaft gezogene Staaten an der Urteilsfindung unmittelbar mitwirken würden, stünden durchgreifende Bedenken in Bezug auf die gebotene Objektivität und Neutralität nicht entgegen. Zur Begründung zog Poljanskij Parallelen zu der auch bei der Ahndung strafrechtlicher Gesetzesverletzung im nationalen Rechtsrahmen anzutreffende Konstellation, bei der die Staatsgewalt in Gestalt von Strafrichter und Ankläger selbst die Verletzung der in der geschriebenen Rechtsordnung verwirklichten Interessen desselben Staates ahnde. Im Übrigen könne ein Kriegsverbrechertribunal schlechthin nicht unter Ausschluss der durch die nationalsozialistischen Verbrechen betroffenen Staaten stattfinden. Poljanskij’s Projekt enthielt ferner detaillierte Vorschläge zur Zusammensetzung des Richterkollegiums, ihrer Vertretung, Bedingungen für die Richterernennung, den Vorsitz, den Gerichtsort, das Kollegium des Anklageteams sowie Vorschläge für eine Verfahrensordnung. Durch die Anordnung einer Reihe von prozessualen Sicherungsmechanismen sollte gewährleistet werden, dass das Risiko einer Verurteilung tatsächlich Unschuldiger minimiert werden konnte. Die Unparteilichkeit des Verfahrens war nach der Konzeption Poljanskijs am ehesten durch weitreichende prozedurale Garantien zu gewährleisten, vor allem durch die Sicherstellung der Öffentlichkeit der Verfahrenssitzungen und die notwendige Verteidigung vor Gericht.115 Eine im Wesentlichen auf seinen lediglich für den internen Gebrauch entwickelten Vorschlägen aus dem Jahr 1943 basierende Monographie zur Frage der Kriegsverbrecherbehandlung Poljanskijs erschien im Jahr 1945, mit der der Autor die meisten der in seinem Projekt unterbreiteten Vorschläge wieder aufgriff, aktualisierte und inhaltlich fortschrieb.116 5. Die fachöffentliche Erschließung der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern als Rechtsproblem Der Frage, wer für die nationalsozialistischen Verbrechen in letzter Konsequenz zur Rechenschaft zu ziehen sein sollte, nahm sich wiederum Aron Trajnin 1943 in einem seiner zahlreichen Aufsätze zur Thematik an.117 Während die sehr weit fortentwickelte Studie Poljanskijs lediglich zum Zwecke der staatsinternen Verwendung beauftragt worden war und damit der Wahrnehmung durch die breitere (Fach-)Öffentlichkeit vorerst verborgen bleiben sollte, handelte es sich bei dem in der Ausgabe 6/1943 der Zeitschrift ‚Krieg und Arbeiterklasse‘ (Vojna i rabočij klass) abgedruckten Beitrag Trajnins um die wohl erste die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen aus einer juristischen Perspektive spezifisch 115

Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 337, Bl. 1 (43). Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie. 117 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13–17; hierzu Epifanov, Voennye prestuplenija, S. 32 f. 116

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adressierende sowjetische Publikation, die einer breiteren Öffentlichkeit jedenfalls potentiell zugänglich war. Trajnin griff hierbei zunächst einige der 1937 in Zaščita mira118 bereits allgemein formulierten Forderungen wieder auf und stellte diese nunmehr in den konkreten historischen Kontext der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen ein. Der Idee einer strafrechtlichen Verantwortung von Staaten oder des gesamten deutschen Volkes versagte er wie schon zuvor seine Anerkennung mit der Erwägung, dass ein Staat nur politisch, etwa durch die Verpflichtung zur Abrüstung, und materiell, namentlich durch die Auferlegung von Reparationszahlungen, ein Volk als solches wiederum nur moralisch zur Rechenschaft gezogen werden könne.119 In individuell-strafrechtlicher Hinsicht sollten sich Trajnin zufolge dagegen diejenigen natürlichen Personen zu verantworten haben, die eine über die „Gesetze der Menschlichkeit und das Fundament des Völkerrechts“120 sich erhebende Politik formuliert und in die Tat umgesetzt hatten. Trajnin entwickelte ein zweistufiges Konzept strafrechtlicher Verantwortlichkeit (mit entsprechenden Konsequenzen für die zur Urteilsfindung berufene Gerichtsbarkeit), nämlich für ‚einfache‘ nationale Delikte einerseits und internationale Delikte andererseits. Zu der nach Maßgabe nationalen Rechts strafrechtlich verantwortlichen Personenkategorie zählte er all diejenigen, die das jeweilige Verbrechen in eigener Person unmittelbar ausführen, etwa in Gestalt einer Tötungshandlung oder eines Raubes. Diese unmittelbaren Täter sollten sich ihrer Verantwortung auch dann nicht entziehen können, wenn sie auf einen Befehl ihrer Leitung gehandelt hatten.121 Da es sich hierbei typischerweise nicht um Organisatoren oder geistige Väter des verbrecherischen Systems handeln würde, waren sie im Regelfall nur für einfache nationale Delikte wie Tötung oder Raub verantwortlich zu machen und in diesem Sinne einer Verfolgung durch nationale Strafgerichte zuzuführen. In einer anderen Lage sah er dagegen diejenigen, die auf der Ebene der Staatsführung für die Erschaffung des unheilstiftenden Systems unmittelbar verantwortlich gezeichnet oder dieses in der Folgezeit willentlich am Leben erhalten hatten. Diese Personen sollten nach Trajnin nicht lediglich als ‚Komplizen‘ der unmittelbar die Tat ausführenden Personen betrachtet werden. Vielmehr qualifizierte er sie als unmittelbare Täter der Kategorie der ‚internationalen Verbrechen‘, deren verbindendes Element er in Anknüpfung und Fortführung seiner Analyse gemäß ‚Verteidigung des Friedens und Strafgesetz‘122 in der „Schaffung und Durchführung einer Politik der Verletzung der Grundfesten des Völkerrechts und des organisierten Staatsverbrechertums“123 verortete. Zu dem hiernach in den Blick zu nehmenden Täterkreis zählte er als „gefährlichste und böswilligste Gruppe der internationalen Verbre 118

Vgl. hierzu ausf. Kap. B. III. 1. b). Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (14). 120 Ü. d. Verf., siehe Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (13 f.). 121 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (14). 122 Vgl. insoweit insbesondere Trajnin, Zaščita mira, S. 99. Ausf. in Kap. B. III. 1. b). 123 Ü. d. Verf., Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (14). 119

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

cher“124 namentlich den Regierungschef und die Regierungsmitglieder – Hitler und seine Minister. Trajnin beschränkte sich in diesem Zusammenhang jedoch nicht mehr auf eine eher abstrakte Umschreibung der in Betracht kommenden Funktionsträger, sondern machte sich die ihm bietende Gelegenheit zu Nutze, erstmals konkrete Individuen als potentielle Täter namhaft zu machen. Neben Hitler fanden bei dieser Gelegenheit u. a. Göring, Heß, Goebbels, Himmler, Ribbentrop und Rosenberg namentliche Erwähnung.125 Dieser sog. ‚Regierungsgruppe‘ ordnete er auch das Wehrmachtkommando und verschiedene Bevollmächtigte, Statthalter und Gau­ leiter in den besetzten Gebieten und innerhalb des Reiches zu. Zu dieser Gruppe sollten nach den Vorstellungen Trajnins namentlich solche „schon entlarvten Verbrecher“126 zählen wie der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel, der Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch, der Reichkommissar für das Ostland Hinrich Lohse und sein Helfer, der Generalkommissar für Weißrussland Wilhelm Kube, sowie nicht zuletzt der führende nationalsozialistische Ideologe und Leiter des Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg. Als Mittäter oder Komplizen der innerhalb dieses völkerstrafrechtlichen Konzepts primär Verantwortlichen stufte er ferner solche Personen ein, die die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des nationalsozialistischen Regimes mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel, Betriebe oder durch sonstige Unterstützungsleistungen maßgeblich geschaffen oder aufrechterhalten hatten.127 Den von Trajnin an dieser Stelle niedergelegten Standpunkt, wonach neben den maßgeblichen politischen Akteuren wegen ihrer systemstabilisierenden Funktion auch einflussreiche Wirtschaftsführer vor einem internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung zu ziehen sein sollten, verfolgte die sowjetische Seite – ­insoweit in Übereinstimmung mit der amerikanischen und französischen Sichtweise – auch noch im Juni 1945 weiterhin, als die Alliierten die Auswahl der Angeklagten verhandelten.128 Schließlich sollten nach der von Trajnin entworfenen Skizze eines Völkerstrafrechtsregimes zur Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen auch solche Privatpersonen in völkerstrafrechtlicher Hinsicht zur Ver 124

Ü. d. Verf., Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (14). Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (16); vgl. auch ders., The New Masses 52 (1944), No. 12, S. 10 (11 f.): „The role, therefore, and the criminal responsibility of those who are participating in the Nazi organization of international criminals should be defined as follows: Hitler and his ministers, the leaders of the Nazi party, the high command of the German army – Goering, Goebbels, Himmler, Ribbentrop, Rosenberg, and others – people, authorized by and representing Hitler in the occupied territories are the organizers and executives; they are supported by the leaders of the financial and industrial concerns, who are in turn the organizers and accomplices on the worst attacks on the fundamentals of international relations and human morals.“ 126 Ü. d. Verf., Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (15). 127 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (15); ders., The New Masses 52 (1944), No. 12, S. 10 (11): „The Hitlerites are supported by powerful financial and industrial magnates, the real masters of modern Germany. […] [T]hese financial magnates guard the ­Hitlerite clique with their funds, their factories, and their guns, using them to support and strenghten the state system of banditry and receiving in exchange goods stolen during the war.“ 128 Vgl. Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 28; Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 113. 125

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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antwortung gezogen werden, die, ohne offizielle Ämter innezuhaben, gleichwohl auf verbrecherische Weise an den Gräueltaten mitgewirkt hatten. Unter diese Auffangkategorie sollten insbesondere die wirtschaftlichen Profiteure des nationalsozialistischen Unrechtsregimes fallen, also sowohl diejenigen, die sich im Interesse des eigenen materiellen Fortkommens der Zwangsarbeit bedient hatten als auch diejenigen, die in den besetzten Gebieten ‚konfiszierte‘ Güter für eigene Z ­ wecke aufgekauft hatten.129 Die mit dem Titel ‚Wer soll die strafrechtliche Verantwortung für die faschistischen Gräueltaten tragen‘130 entworfene Skizze eines völkerstrafrechtlichen Konzepts wiederholte Trajnin in einem unter dem Pseudonym A. Farrin auf Englisch erschienenen und damit auch über die (sprachlichen) Grenzen der Sowjetunion hinaus wahrnehmbaren Aufsatz im in Prag verlegten Central European Observer.131 Noch im September 1943 fand ein Sondersymposium der Akademie der Wissenschaften statt, das sich der Verantwortung für die Gräueltaten und die Schäden durch die deutsche Aggression widmete. An der Veranstaltung wirkten neben namhaften sowjetischen Wissenschaftlern wie dem Rechtswissenschaftler Il’ja Trajnin132 und dem Historiker Evgenij Viktorovič Tarle133 weitere Mitglieder der Außerordentlichen Staatskommission mit.134 In dem gemeinsam gefassten Beschluss drückten die Teilnehmer jedoch lediglich ihre Gewissheit über die künftige harte Bestrafung der Verantwortlichen aus135, weitere Schritte in Richtung einer behutsamen Konturierung der von Aron Trajnin vorgelegten Skizze wurden bei dieser Gelegenheit jedoch nicht unternommen. Zu einem weiteren, 1944 vorgelegten Beitrag sah sich Aron Trajnin durch die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943136 veranlasst, die u. a. die Auslieferung von Kriegsverbrechern thematisiert hatte.137 In der Frage der Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern brachte sein Aufsatz zwar keine zusätzliche S ­ ubstanz 129

Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (15 f.). Ü. d. Verf., Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13–17. 131 Farrin [Trajnin], CEO 20 (1943), S. 281–282; dazu Segesser, Recht statt Rache, S. 349. 132 Vgl. bereits Fn. 83 m. biograph. Nachw. 133 Ausführliche biograph. Nachw. bei Vronskaja/Čuguev, Kto est’ kto, S.  528; Erickson, ASEER 1960, S. 202–216; Sorokina, Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (817, 820 f.). 134 Lebedeva, Podgotovka, S. 42. 135 Lebedeva, Podgotovka, S. 42 f. 136 Declaration of German atrocities, 30. Okt. 1943, abgedr. in Department of State Bulletin 9 (1943), Nr. 228 (November 6, 1943), S. 310–311 = FRUS 1943, Bd. I, S. 768–769 = AJIL 38 (1944) Suppl. 7 = Smith, American Road, Dok. I, S. 13–14; dt. Übersetzung der Erklärung über Grausamkeiten auf der Drei-Mächte-Konferenz in Moskau abgedr. bei Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 285–286 mit engl. Originaltext, S. 287–288 = Pätzold, Nürnberg, S. 182–184; für die russ. Sprachfassung NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 363–364 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 418–419 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 30, S. 146–147 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 104–106. 137 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1944, No 1, S. 19–21; Nachdruck bei Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 27–31. 130

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

mehr mit sich. Trajnin konnte den Inhalt der Moskauer Deklaration jedoch als eindeutige Posi­tionsbestimmung der Alliierten Mächte im Sinne der von ihm zuvor entwickelten Strafkonzeption werten. Daneben richtete er sein Augenmerk bei dieser Gelegenheit auf solche Kriegsverbrecher, deren Wirkungsort eindeutig lokalisiert werden konnte und die nach Maßgabe der Deklaration an diejenigen Staaten ausgeliefert werden sollten, die als Leidtragende der den jeweiligen Akteuren zur Last gelegten Verbrechen in Betracht kamen. In diesem Zusammenhang widmete sich Trajnin insbesondere den Auswirkungen des Prinzips der Vorgesetztenverantwortlichkeit (‚respondeat superior‘) auf die Bestrafung von Kriegs­ verbrechen und den Erkenntnissen aus dem ersten sowjetischen Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher in Char’kov.138 Die sich abzeichnende Niederlage des Deutschen Reiches ließ die Frage nach der juristisch begleiteten Bestrafung der Kriegsverbrecher aus sowjetischer Sicht immer akuter und einen entsprechenden Abstimmungsbedarf mit den Westalliierten immer unabweisbarer erscheinen. Forderungen nach einer harten Bestrafung der Verantwortlichen wurden in kurzer Folge und mit nochmals intensiviertem Nachdruck wiederholt.139 Mit massiver Kritik bedachte insbesondere Trajnin die nach seiner Wahrnehmung in der ausländischen Presse anklingende Nachsicht bei der Frage nach der zukünftigen juristischen Bewältigung der strafrechtlichen Kriegsfolgen.140 Aus seiner Sicht verschafften sich in ihr Stimmen Gehör, die zur Wiederholung der Fehler von Versailles aufriefen.141 Als positives Zeichen in Hinblick auf eine künftige dauerhafte Sicherung des Friedens wertete Trajnin demgegenüber zwar die sich noch im Stadium der Entwicklung befindliche internationale (Sicherheits-)Organisation, die Vereinten Nationen, denen er „die ganze Autorität und ganze Stärke zur wirklichen Umsetzung der Kooperation zwischen Staaten in ihrem Kampf gegen die Widersacher der internationalen Rechtsordnung“142 attestierte. Mit erheblicher Kritik bedachte Trajnin indes Äußerungen des Vorsitzenden der United Nations War Crimes Commission (UNWCC)143, Cecil 138 Zu dem Prozess in Char’kov siehe Epifanov, Otvetstvennost’, S. 30 ff.; Segesser, Recht statt Rache, S. 347 ff. Ausf. in Kap. C. II. 12. 139 Man’kovskij, Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika 1943, No 10–11, S. 62–68; Poljanskij, Istoričeskij Žurnal, 1943 No 1, S. 68 (71 f.); Korovin, Vojna i rabočij klass 1944, No 17, S. 25 (26 f.); Trajnin, Oktjabr’ 1943, No 6–7, S. 170–175, Nachdr. in Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 3–12; ders., Vojna i rabočij klass 1944, No 9, S. 16 (18), Nachdr. in Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 24–27; ders., ebd., S. 15–19. 140 Trajnin, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 19–24; ebd., S. 12–15; ders., The Communist 1944, S. 1073–1077. 141 Trajnin, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 12 (12, 15); ders., The Communist 1944, S. 1015–1017; ähnl. Poljanskij, Istoričeskij Žurnal 1943, No 1, S. 68 (71 f.). 142 Ü. d. Verf. Trajnin, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 15 (19). 143 Zur Entstehung und Wirkung der UNWCC ausführlich Kochavi, Prelude, S. 27 ff., ders., EHR 423 (1992), S. 323–349. Zum Scheitern der sowjetischen Beteiligung an der Kommission unten Kap. C. II. 1. u. 6.

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Hurst144, dem er eine ausgesprochene Milde vorwarf, da dieser im Begriff schien, Kriegsverbrechern zu viele juristische Schlupflöcher eröffnen zu wollen.145 Seine dezidiert kritische Haltung gegenüber den Arbeiten der UNWCC sowie dem streng positivistischen Verständnis der Strafbarkeit von Kriegsverbrechen behielt Trajnin auch nach Kriegsende bei.146 Mit diesem rechtspositivistischen Rigorismus unterschied sich Trajnin, wie George A. Finch in einem 1947 veröffentlichten Beitrag dargelegt hat, nicht gravierend von der Sichtweise der maßgeblichen Akteure auf amerikanischer Seite147, wie sie insbesondere in dem von Robert Jackson gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Truman 1945 formulierten Rechtsstandpunkt zur Bestrafung von Kriegsverbrechern Niederschlag gefunden hat, welcher seine Legitimation wesentlich aus dem universellen Rechtskonsens schöpfte: „The legal position which the United States will maintain, being thus based on the common sense of justice, is relatively simple and non-technical. We must not permit it to be complicated or obscured by sterile legalism developed in the age of imperialism to make war ­respectable.“148

6. ‚Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen‘: Monographische Vollendung der von Trajnin geleisteten Vorarbeiten in Bezug auf die völkerstrafrechtliche Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen Im Jahr 1944 veröffentlichte Aron Trajnin unter dem Titel „Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen“149 das wohl am häufigsten mit seinem Namen assoziierte Werk. Die ausführliche Studie über juristische Aspekte der Kriegsverbrecher­ 144

Der britische Jurist Cecil James Barrington Hurst (1870–1963) war zwischen 1918 und 1929 als Rechtsberater im Foreign Office tätig. 1929 erfolgte seine Wahl zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, 1934–1936 bekleidete er das Amt des Präsidenten des Gerichts. Seit Oktober 1943 fungierte er als britischer Vertreter in der UNWCC, im Januar 1945 erfolgte die Wahl zu deren Vorsitzenden, siehe Wright, History UNWCC, Appendix I, S. 499. 145 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1944, No 19, S. 14 (14 ff.), Nachdr. ders, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S.  19 (19 ff.) und ders., in: Kuznecova (Hrsg.), Izbrannye Trudy, S. 583–589; ders., in: The Communist 1944, S. 1073 (1073): „[I]n the majestic temple of justice which he erects, he provides extensive bomb-shelters, dugouts and trenches into which the indicted criminals may creep to escape the hand of justice.“ 146 Trajnin, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1946, No 11–12, S. 41–49; ders., in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij pročess, S. 31–35. 147 Finch, AJIL 41 (1947), S. 20 (28–29). 148 Robert H. Jackson an Truman am 6. Juni 1945, abgedr. in Jackson Report, Dok. VIII, S. 42 (51). 149 Ü. d. Verf., vgl. Originaltitel ‚Ugolovnaja otvetstvennost’ gitlerovcev‘. Zu einer sowjetischen Rezension von Korovin siehe Korovin, „K voprosu ob ugolovnoj otvetstvennosti gitlerov­ cev“, Vojna i rabočij klass 1944, No 17, S. 25–27. Eine englische Fassung der Arbeit lieferte 1945 Andrew Rothstein mit dem englischenTitel ‚Hitlerite Responsibility under Criminal Law’. Für die französische Fassung siehe Trainine, La responsabilité pénale des Hitlériens.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

frage wurde ins Englische, Französische, Rumänische und Arabische übersetzt150 und sollte für den sowjetischen Rechtskreis bis zum Beginn des Nürnberger Prozesses die einzig umfassende monographische Abhandlung zur Kriegsverbrecherthematik mit spezifischem Bezug auf die Verbrechen der Nationalsozialisten bleiben.151 Trajnin avancierte mit seiner Studie endgültig zu einem der führenden Diskussionsteilnehmer im Zusammenhang mit der Debatte um die Bestrafung der Kriegsverbrecher und rückte damit zu auch im internationalen Maßstab beachteten Autoren wie Hans Kelsen oder Sheldon Glueck152 auf. In seiner Arbeit rief Trajnin zur Schaffung eines neuen „unerschütterlichen Fundaments für internationale Beziehungen und internationale Kooperation auf vertraglicher Basis“153 auf und wies erneut auf die zentrale Rolle hin, die dem Völkerstrafrecht als Instrument für die Erreichung dieses Ziels seines Erachtens beizumessen war. Wie schon in der 1937 erschienenen Studie ‚Verteidigung des Friedens und Strafgesetz‘ widmete Trajnin der begrifflichen Erschließung der Kategorie des internationalen Ver­brechens einen nicht unerheblichen Teil der Arbeit, dessen Erwägungen in der Formulierung des bereits in ‚Verteidigung des Friedens und das Strafgesetz‘154 anklingenden Befundes kulminieren: „International crime – and in this precisely lies its profound peculiarity, by this precisely it is distinguished from crimes in the sense of national law  – is an infringement of this most important achievement of human society, an infringement of the connection between States and peoples, a connection which constitutes the basis of relations between nations and countries. International crime is directed towards the worsening, the rendering acute, the rupture of these connections. […] International crime, consequently, must be defined as an infringement of the foundations of international communication.“155

Diese gattungsmäßig bestimmten ‚internationalen Verbrechen‘ ordnete Trajnin in ein gegenüber ‚Verteidigung des Friedens und das Strafgesetz‘156 nurmehr zweistufiges System ein.157 Da friedliche Beziehungen die Voraussetzung für internationalen Austausch und Kommunikation darstellten, zählte er Verletzungen des Friedens zur ersten Gruppe der internationalen Delikte. Dabei deutete er die­ Aggression als schlimmste Form der Verbrechen gegen den Frieden. Dazu führte er aus:

150

Angaben nach ARAN, f. 1711, op. 1, Bl. 5. Vgl. Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 77 ff. 152 Segesser/Gessler, J. Genocide Res. 7 (2005), S. 453 (460); Segesser, in: Chickering/Förster/ Greiner (Hrsg.), World at Total War, S. 364 (372); Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (706 ff.). 153 Ü. d. Verf. Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 3 f.; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 7. 154 Trajnin, Zaščita mira, S. 99. 155 Zit. nach Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 32–33; für die russ. Fassung vgl. Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 30–31. 156 Trajnin, Zaščita mira, S. 111–114, hierzu ausf. Kap. B. III. 1. b). 157 Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 35 ff.; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 37 ff. 151

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„Peace may be directly broken or menaced by various kinds of criminal activity. Accordingly, offences against peace may be expressed in various forms. The direct and most dangerous form of offence against peace is the attack of one State on another – aggression – which directly breaks the peace and forces war on the people. Aggression is, therefore, the most dangerous international crime.“158

Der ersten Kategorie – Verbrechen gegen den Frieden – ordnete Trajnin neben der Aggression weitere, die friedlichen Beziehungen gefährdende Handlungen zu. Zur Veranschaulichung dieses generalklauselartigen Tatbestandes exemplifizierte er das unter dieser Kategorie zu erfassende Unrecht anhand von sechs enumerativ aufgeführten Fallgruppen, deren Darstellung er – soweit ersichtlich – indes nicht als abschließend verstanden wissen wollte: (1) Aggressionspropaganda, (2) Vertragsschlüsse, die auf Aggression abzielen, (3) Verletzung von Verträgen, die dem Frieden dienen, (4) Provokation mit dem Ziel der Verletzung staatlicher friedlicher Beziehungen, (5) Terrorismus und (6) die Unterstützung von bewaffneten Gruppen („fünfte Kolonnen“).159 Zur zweiten Gruppe fasste Trajnin sonstige „Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg“160 zusammen. Dazu zählte er Verbrechen gegen Kriegsgefangene, verletzte und kranke Soldaten, Verbrechen gegen Leben, Gesundheit, Ehre und Eigentum der friedlichen Zivilbevölkerung, Zerstörung von Städten und anderen bewohnten Ortschaften sowie die Zerstörung oder der Raub von materiellen oder kulturellen Gütern. Ausführlich widmete sich Trajnin sodann einer Vielzahl von in der Rechtswirklichkeit tatsächlich praktizierten verbrecherischen Verhaltensweisen der nationalsozialistischen Aggressoren, um diese Verbrechen anschließend seinem System von internationalen Verbrechen jeweils erläuternd zuzuordnen. Das in Grundzügen bereits in den Vorarbeiten angelegte Konzept des Verbrechens gegen den Frieden fand in dieser Arbeit Trajnins seine letzte Ausgestaltung. Als Straftatbestand fand das Verbrechen gegen den Frieden oder Aggression sodann in Gestalt von Art. 6 lit. a Eingang in das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof von 1945.161 Wegen seiner wegweisenden Vorarbeiten zur völkerstrafrechtlichen Pönalisierung der Aggression ist Trajnin daher nicht zu Unrecht zum „Vater des Tatbestandes der Verbrechen gegen den Frieden“162 ausgerufen worden. 158 Zit. nach Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 37; für die russ. Fassung vgl. Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 35 f. 159 Ü. d. Verf., Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 40; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 41. 160 Ü. d. Verf., vgl. Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 40. Die englische Fassung spricht an dieser Stelle von „offences connected with war“, siehe Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 41. 161 Für die dt. Fassung siehe Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, IMT, Bd. I, S. 10 (11). 162 Segesser, in: Richter (Hrsg.), Krieg und Verbrechen, S. 219 (220, Fn. 4); zu einem ähnlich lautenden Befund gelangt Ginsburgs, wenn er Trajnins Bemühen um die Anerkennung des Verbrechens gegen den Frieden als „pioneering attempt“ bezeichnet, siehe Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 79; ähnl. Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (707); zur zeitgenössischen Wahrnehmung vgl. Finch, AJIL 41 (1947), S. 20 (28 f.); krit. Pompe, Aggressive War, S. 187, Fn. 3.

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

Auch dem bereits in den oben wiedergegebenen Vorarbeiten thematisierten Anwendungsbereich der Tatbestände in persönlicher Hinsicht, der Frage nach dem Subjekt des internationalen Verbrechens also, widmete Trajnin in seiner Darstellung erneut breiten Raum. Insbesondere das Rechtsphänomen der Komplizenschaft („complicity“) erfuhr bei Trajnin eine eingehende Würdigung, der er ein ganzes Kapitel („Complicity in International Crime. The Hitlerite Clique“) seiner Arbeit widmete.163 Erstmals in der erforderlichen Deutlichkeit warf Trajnin auch die politisch weitreichende Frage nach der Abgrenzung der gerichtlichen Zuständigkeiten auf. Im Allgemeinen müsse das Territorialprinzip anwendbar sein – zuständig seien die Gerichte des Landes, auf dessen Territorium ein Verbrechen begangen wurde. Dieses Prinzip könne allerdings nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass viele Verbrechen auch auf deutschem Territorium begangen worden seien, nicht konsequent durchgeführt werden und daher keine ausschließliche Geltung beanspruchen. In derartigen Konstellationen sei vielmehr die Zuständigkeit von der Staatsangehörigkeit des Opfers bzw. von den durch das anzuklagende Verbrechen jeweils verletzten Interessen der Staaten abhängig zu machen. So würden sich etwa diejenigen, die Verbrechen gegen sowjetische Staatsbürger auf deutschem Territorium begangen haben, vor einem sowjetischen Gericht zu verantworten haben.164 Mit seiner weithin konsensfähigen Forderung nach Einsetzung eines internationalen Gerichts zur Aburteilung der Kriegsverbrecher nach Maßgabe einer Mindeststandards genügenden Verfahrensordnung und dem Ruf nach der Einführung strafrechtlicher Garantien gegen ein erneutes Aufkeimen nationalsozialistischen Gedankenguts165 hatte Trajnin die Konturen seiner völkerstrafrechtlichen Konzeption in einer Weise abgerundet, die für Zweifel daran, dass das von ihm vorgeschlagene Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen im Wesentlichen genügen würde, an sich kaum mehr Veranlassung zu bieten schienen. Eine erhebliche Eintrübung erfährt dieser positive Gesamteindruck indes, richtet man seine Aufmerksamkeit auf die von Trajnin zum Umgang mit den führenden Köpfen NSDeutschlands getroffenen Aussagen. In einem augenfälligen Widerspruch zu den im Übrigen eingeforderten Standards bei Vorbereitung und Durchführung des vorgeschlagenen Verfahrens schloss Trajnin für die Spitze der nationalsozialistischen Führung – für „Hitler und seine Clique“166 – eine ‚Abrechnung‘ ohne jedes gerichtliche Verfahren nämlich keineswegs kategorisch aus, erschienen ihm die den betreffenden Individuen zur Last gelegten Verbrechen doch derart immens 163

Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 78–91; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 78–90. 164 Hierzu und zum Vorstehenden Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S.  92–95; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 92–94. 165 Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 99; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 97–98. 166 Ü. d. Verf., Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 93; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 93 („Hitler and his clique“).

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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und unbestreitbar, dass ein prozessordnungskonformes Erkenntnisverfahren kaum mehr einen der Wahrheitsfindung förderlichen Beitrag zu leisten versprach.167 Die Durchbrechung der allgemein für notwendig erachteten Forderung nach Wahrung prozeduraler Standards und gerichtsförmiger Führung des Schuldnachweises legitimierte Trajnin wie folgt: „A special situation exists as far as the organization of the trial of the heads of the Fascist tyranny, Hitler and his clique, are concerned. Their crimes are so vast and so undisputable that substantially there is no necessity for a special investigation and juridical procedure for the determination and judgment of the monstrous misdeeds which they have committed. The fate of Hitler and his clique can be settled by the political verdict of the victorious democratic States.“168

Seine These von der Entbehrlichkeit eines gerichtlichen Verfahrens zur Findung von Schuld- und Rechtsfolgenausspruch in Bezug auf den nationalsozialistischen Führungszirkel versah Trajnin mit einem Hinweis169 auf die Schlusspassage der von Roosevelt, Churchill und Stalin unterzeichneten Erklärung über deutsche Grausamkeiten vom 30. Oktober 1943, wonach die „obige Erklärung in keiner Weise die Fälle der Hauptkriegsverbrecher“ präjudizieren sollte, „deren Rechtsverletzungen keine bestimmte geographische Begrenzung haben“. Diese sollten vielmehr „auf Grund eines gemeinsamen Beschlusses der Alliierten bestraft werden“.170 Obschon das Dokument für die nicht als Hauptkriegsverbrecher eingestuften Verantwortlichen ein Verfahren vorsah, wonach sich die betreffenden Personen vor den Gerichten der von den Kriegsverbrechen jeweils betroffenen Staaten zu verantworten haben würden und zu diesem Zwecke ggf. an diese auszuliefern waren, kann der im letzten Absatz aufgenommenen Vorbehaltsklausel in Bezug auf die Hauptkriegsverbrecher und der Wendung „auf Grund eines gemeinsamen Beschlusses der Regierungen“ nicht entnommen werden, den Unterzeichnern habe bei der Abfassung der Erklärung ausschließlich eine bloß „politisch“ legitimierte Bestrafung der Hauptverantwortlichen außerhalb eines gerichtsförmigen Verfahrens vor Augen gestanden. Vielmehr sollte eine endgültige Festlegung auf eine bestimmte Vorgehens- und Verfahrensweise zum seinerzeitigen Zeitpunkt erkennbar gerade nicht erfolgen, zumal der ins Auge gefasste gemeinsame Beschluss seinem Inhalt und seiner Zielrichtung nach nicht weiter umgrenzt worden war und daher durchaus auch mit dem Inhalt der Einsetzung eines Tribunals hätte gefasst werden können. Da Trajnin detaillierte Aussagen zu Art, Zeitpunkt und konkreter Ausführung einer solchen ‚politischen Entscheidung‘ schuldig blieb, verharren die Umstände und Absichten hinter dieser Äußerung zu den Möglichkeiten einer außergericht-

167

Hierzu Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 136 f. Zit. nach Trainin, Hitlerite Responsibility, S.  93 f.; für die russ. Fassung vgl. Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 95; vgl. hierzu Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 136 f. 169 Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 95; Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 94. 170 Declaration of German atrocities, 30. Okt. 1943 (Fn. 136), zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 285 (286). 168

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

lichen ‚Abrechnung‘ im Halbdunkel.171 Auch der von Trajnin im Kontext der Londoner Konferenz, die mit der Unterzeichnung des Londoner Viermächte-Abkommens und des ihm beigefügten Statuts für das Nürnberger Tribunal am 8. August 1945 endete172, eingenommene Standpunkt, wonach über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher vor einem ad hoc-Tribunal zu befinden sein sollte173, bringt insoweit keinen letztgültigen Aufschluss. In Anbetracht dessen erscheint die kritische Haltung von C. A. Pompe174 in Bezug auf die von Trajnin unterbreiteten Vorschläge jedenfalls nachvollziehbar. Für seine im Juli 1944 erschienene Untersuchung erfuhr Trajnin gleichwohl vielfach internationale Anerkennung. Sie zog auch die Aufmerksamkeit der UNWCC auf sich, deren Vorsitzender in der Sitzung vom 10. Oktober 1944 über den Zulauf von drei Kopien des Werkes in russischer Sprache berichtete.175 Am 31. Oktober 1944 präsentierte der Tschechoslowake Dr. Bohuslav Ećer176, der als einziges Mitglied der Kommission der russischen Sprache hinreichend mächtig war, eine Analyse zu Trajnins Abhandlung.177 Diese enthielt neben einer Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen auch eine persönliche Bewertung. In einer einleitenden Anmerkung hielt Ečer zunächst fest, dass Trajnins Werk nicht nur seiner persönlichen Ansicht voll und ganz entspreche, sondern augenscheinlich auch die offizielle Haltung der sowjetischen Regierung wiedergebe. In seiner persönlichen Stellungnahme würdigte Ečer die Abhandlung als trotz einiger in der Natur der Sache liegender, insbesondere der Komplexität, dem Umfang und dem präzedenzlosen Charakter der Thematik geschuldeter Mängel „one of the most creative and progressive contributions to the problem which is called ‚punishment of war criminals‘“.178 171

Ähnlich Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 81. Ausf. Kap. E. 173 Vgl. Trajnins Standpunkt in den im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Aufnahme einer Definition des Begriffs „Aggression“ geführten Diskussionen auf der Londoner Konferenz, Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (335). Mit Hinweis auf die Beschränkung des Prozesses auf Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte trat Trajnin gegen die statutarische Fixierung der vom amerikanischen Hauptankläger Robert Jackson geforderten allgemeingültigen Definition ein. Ausf. hierzu Kap. E. IV. 3. a). 174 Pompe, Aggressive War, S. 187, Fn. 3. 175 Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (708). 176 Dr. Bohuslav Ećer (1893–1954), tschechoslowakischer Jurist, flüchtete im Jahr 1939 aus seinem Heimatland. Zwischen 1943 und 1945 war er als tschechoslowakischer Repräsentant an die UNWCC entsandt, 1945 trat er als tschechoslowakischer Delegierter vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg auf, vgl. zum Vorstehenden Wright, History UNWCC, Appendix I, S. 500. 177 Memorandum from the United Nations War Crimes Commission, „Report Made by Dr. Ecer on Professor Trainin’s Book“, November 11, 1944, War Crimes File, Rosenman Papers, Harry S. Truman Presidential Museum & Library, 9 Seiten. Eine Ablichtung des neunseitigen Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S. Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 178 Siehe die Ausf. auf S. 9 der Analyse und Zusammenfassung der von Trajnin verfassten Abhandlung (Fn. 176). 172

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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In einer am 1.  Juni 1945 an den stellvertretenden Außenkommisar Solomon­ Abramovič Lozovskij179 gerichteten Note des luxemburgischen Botschafters René Blum bat der Diplomat darum, Trajnin den Ausdruck seiner besonderen Wertschätzung in Bezug auf die von diesem geleistete herausragende wissenschaftliche Arbeit zu übermitteln, die der gesamten Menschheit von Nutzen sein könne.180 Eingang fand die Arbeit auch in das von Colonel Murray C. Bernays und Major D. W. Brown am 4. Januar 1945 vorgelegte interne amerikanische Memorandum zu der Frage, ob es sich bei einem Angriffskrieg um ein internationales Verbrechen handele.181 Die Verfasser des Memorandums legten Wert auf die Feststellung, dass dies nach sowjetischer Bewertung der Fall sei. Verbunden mit dem Hinweis darauf, dass sich die Untersuchung Trajnins nicht in der Wiedergabe einer privaten Lehrmeinung erschöpfe, in ihr vielmehr mit einiger Sicherheit die sowjetische Regierungsperspektive verkörpert sei, skizzierte das Memorandum insbesondere das System, das Trajnin zur Klassifizierung der internationalen Verbrechen bereitgestellt hat.182 Die mit der Veröffentlichung der Studie ausgelöste Resonanz sollte bis in die Londoner Verhandlungen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher und darüber hinaus ausstrahlen. So gehörte der spätere amerikanische Hauptanklagevertreter Robert H. Jackson nach eigenem Bekunden zum weiten Kreis derjenigen, die die Abhandlung in der Absicht, sich mit der sowjetischen Perspektive eingehend vertraut zu machen, einer sorgfältigen Lektüre unterzogen hatten. So wusste Jackson während der Diskussion um die Strafbarkeit des Angriffskriegs im Rahmen der Londoner Konferenz am 19.  Juli 1945 mit der Feststellung aufzuwarten, dass der von Trajnin eingenommene Standpunkt dem der amerikanischen Regierung sehr nahe komme.183 Während der Sitzung am 23. Juli 1945 bat Jackson den anwesenden Trajnin sodann unmittelbar um Bestätigung seines Verständnisses von der in ‚Verantwortlichkeit der Hitleristen‘ vorgenommenen Qualifikation des Angriffskrieges als ‚internationales Verbre 179 Lozovskij (Dridzo), Solomon Abramovič (1878–1952) war seit 1937 Direktor des Goslitiz­ dat, von 1939–1946 Stellvertreter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, ab 1941 gleichzeitig stellvertretender Leiter des Sovinformbjuro und von 1945 bis1948 Leiter des Sovinformbjuros. Vgl. Zalesskij, Kto est’ kto, S. 359 (Eintrag Lozovskij); Laufer/Kynin, Dokumente, Bd. 1, S. 689. 180 Note von Blum an Lozovskij v. 1.  Juni 1945 (Übersetzung aus dem Französischen), AVPRF, f. 54, op. 14, p. 124, d. 65, Bl. 3–4. 181 Memorandum from Murray C. Bernays and D. W. Brown, January 4, 1945, abgedr. bei Smith, American Road, Dok. 30, S. 93–98. Für die Entstehungsgeschichte und den Hintergrund des Memorandums siehe Smith, American Road, S. 49 (53). Eine Ablichtung des sechsseitigen Original-Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S. Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 182 Pkt. 7 des Memorandums (Fn. 181), Smith, American Road, Dok. 30, S. 93 (96). 183 Verhandlungsprotokoll v. 19.  Juli 1945, Jackson Report, Dok. XXXVII, S.  295 (299): „As I have understood Professor Trainin’s book, which I have read carefully in the effort to understand the Soviet views, I gather that his view comes very close to the view which we entertain in the United States.“

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

chen‘.184 Entsprechende Referenzen auf das von Trajnin vorgelegte Werk fanden sich bereits in einem von den Vereinigten Staaten am 30. Juni 1945 vorgelegten Memorandum.185 Und auch im Rahmen der Sitzung am 25. Juli 1945 stellte Jackson im Namen seiner Delegation erneut sein Bemühen darum in den Vordergrund, bei der Definition strafwürdiger Kriegsverbrechen zu einer möglichst eng am Werk Trajnins gelegenen Auslegung zu gelangen.186 Eine englische Fassung des Buches lag darüber hinaus auch dem Leiter der britischen Delegation und späteren stellvertretenden Hauptankläger für Großbritannien vor dem Nürnberger Militärtribunal, David Maxwell Fyfe, im Rahmen der Londoner Verhandlungen vor. Die russische Historikerin Natalja Lebedeva berichtete 1986, 2007 und 2012 über einen ihr persönlich zugegangenen Brief aus der Feder des englischen Historikers Andrew Rothstein, dem Übersetzer der Studie Trajnins ins Englische und persönlichen Freund des Leiters der britischen Delegation Fyfe.187 Dieser hatte sich bei Rothstein im Juni 1945 nach ihm eventuell bekannten und in englischer Sprache vorliegenden sowjetischen Ausarbeitungen zur Ahndung der Kriegsverbrechen erkundigt. Rothstein ließ ihm daraufhin die Druckfahnen seiner bereits zuvor in Angriff genommenen Übersetzungsarbeit an ‚Ugolovnaja otvetstvennost’‘ vorab zukommen, für die Fyfe ihm seine größte Dankbarkeit übermittelte. ­Rothstein habe ihm mit der Erschließung der Gedanken- und Theorienwelt Trajnins ein „Gottesgeschenk“ bereitet, da es ihm und seinem Mitarbeiterstab ohne derart detaillierte Einblicke kaum gelungen wäre, sich ein belast­bares Bild der sowjetischen Vorstellungen vom weiteren Umgang mit der komplexen Materie zu verschaffen. Seine Ausführungen während der Londoner Verhandlungen lassen gar den Schluss gerechtfertigt erscheinen, dass Fyfe die Analyse Trajnins mit der offiziellen Verhandlungsposition der Sowjetunion streckenweise schlicht gleichsetzte.188 Dass diese Identifikation keineswegs aus der Luft gegriffen war und die Lektüre des Werkes durch die Konferenzteilnehmer mehr oder weniger der – jedenfalls sowjetischen – Erwartungshaltung entsprach, belegt im Übrigen 184 Verhandlungsprotokoll v. 23 Juli 1945, Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (335): „If I understand it, Professor Trainin’s book takes the position that a war of aggression or initiating war in violation of treaties is an international crime.“ 185 Memorandum to Conference, submitted by the United States To Accompany Redraft of its Proposal v. 30. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XVIII, S. 126–127 (126): „For this reason, the American representatives conceive of this case as more than the trial of many particular offenses and offenders. It involves our whole attitude towards the waging of aggressive war, which we think, as Professor Trainin has pointed out in his book, is an international crime.“ 186 Verhandlungsprotokoll v. 25. Juli 1945, Jackson Report, Dok. LI, S. 376 (379): „We tried very hard in defining crimes, which is a very difficult and technical subject, to adopt definitions consistent with the views of Professor Trainin as we understood them from his book.“ 187 Brief von A. Rothenstein an Natalja Lebedeva v. 1. Dez.1985, persönliches Archiv von N. S.  Lebedeva, vgl. Lebedeva, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S.  68 (84); dies., in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 139 (147 f.); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (23 f.). 188 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (99): „What we want to abolish at the trial is a discussion as to whether the acts are violations of international law or not. We declare what the international law is so that there won’t be any discussion

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der Umstand, dass sich die sowjetische Delegation wiederholt impliziter Referenzen auf Trajnins Arbeit bediente, ohne jedoch diese spezifizierenden bibliographischen Nachweise anzuführen. Auch in den späteren Hauptkriegsverbrecherprozess selbst sollten die Studien Trajnins in ‚Ugolovnaja otvetstvennost’‘ schließlich Eingang finden  – mit ordnungsgemäßer Fundstellenangabe in das Verfahren eingeführt wurde das Werk freilich aus einer eher unerwarteten Richtung. Denn auch die Verteidigung wusste sich der durch Übersetzung der westeuropäischen Leserschaft erschlossenen Untersuchungen Trajnins zu bedienen und die von diesem formulierten Befunde – etwa zur lediglich fragmentarischen Konturierung eines Kriegsverbrechens­ begriffs nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft – für die Zwecke der Verteidigung fruchtbar zu machen. So verwies Dr. Gustav Steinbauer, der Verteidiger189 des Angeklagten Seyss-Inquart, auf die Vorarbeiten des „angesehene[n] russische[n] Völkerrechtslehrer[s] Professor A. M. Trainine“190, um seinen Vortrag zum Fehlen einer gesetzlichen Strafgrundlage in Bezug auf den seinem Mandanten in der Anklage zur Last gelegten Vorwurf der Verschwörung wissenschaftlich abzusichern. 7. Poljanskijs Entwurf einer ‚Internationalen Gerichtsbarkeit‘ an die Öffentlichkeit: Veröffentlichung im Schatten Trajnins Nur kurze Zeit später, im Jahr 1945, legte Nikolaj N. Poljanskij der Fachöffent­ lichkeit eine weitere Arbeit zur Frage der Behandlung der Kriegsverbrecher vor.191 Die auf die im Institut für Recht der Akademie der Wissenschaften 1943 diskutierte und für die Veröffentlichung bestätigte Arbeit192 aufbauende Untersuchung griff viele der vom Autor im Februar 1943 in der Außerordentlichen Staatskommission vorgebrachten Gedanken auf193. Die Frage nach dem Schicksal der Hauptkriegsverbrecher indes ließ der Autor nunmehr bewusst offen, da – wie er mehron whether it is international law or not. We hope that is in line with Professor Trainin’s book.“ Für weitere Bezugnahmen Fyfe’s vgl. Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (295), und für Referenzen durch weitere Delegationsmitglieder Lord Chancellor, Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945, Dok. LIX, S. 399 (416 f.). 189 Zur Situation und den Strategien der Verteidigung siehe Safferling/Graebke, ZStW 123 (2011), S. 47–81.  190 Protokoll der Verhandlung v. 19. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 62 f.: „Daß diese Sache unklar und zumindest zweifelhaft ist, gibt ja auch der angesehene russische Völkerrechtslehrer Professor A. M. Trainine in seinem Buch ‚La responsabilité pénale des Hitlériens‘ zu. Er sagt auf Seite 13: ‚Die Probleme des internationalen Strafrechts sind unglücklicherweise sehr wenig studiert, es fehlt eine theoretisch klare Definition des Fundamentalbegriffs ‚Internationales Delikt‘, und ein wohlgeordnetes System dieses Rechts bleibt noch zu schaffen.‘“ 191 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie; siehe dazu auch Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 85 ff. 192 Poljanskij-Entwurf v. 5. Feb. 1943 (Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116. d. 337, Bl. 1–84. 193 Vgl. auch Kap. B. III. 4. S. 32 ff.

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fach anmerkte194  – die in der Moskauer Deklaration195 vorgesehene gemeinsame Entscheidung der Alliierten sowohl ein gerichtliches Verfahren als auch eine politische Lösung der Frage zum Gegenstand haben könne.196 In streckenweise wörtlicher Wiederholung seiner Ausführungen aus der unveröffentlichten Studie aus dem Jahr 1943 betonte Poljanskij wiederum, dass ein Gerichtsverfahren neben seiner Hauptaufgabe – Bestrafung der Schuldigen – auch zum Ziel habe, die Verschwörung aufzuzeigen, die zur Erschütterung der Grundsätze der von der Menschheit erschaffenen Kultur geführt hätten.197 Wie zuvor Trajnin widmete sich auch Poljanskij der Problematik einer fehlenden Kodifikation von internationalen Verbrechen zum seinerzeitigen Stand und der hiermit heraufbeschworenen Frage, ob der Bestrafung der nationalsozialistischen Kriegsverbrecher das im kontinentaleuropäischen Raum198 weithin anerkannte Prinzip „nullum crimen sine lege“199 entgegen stehen könnte.200 194

Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 5, 68 f., 70, 76, 95. Nachw. in Fn. 136. 196 Zur insoweit augenscheinlich engeren Deutung Traijnins vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 94; Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 95. 197 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 77. 198 Vgl. etwa Art. 4 des napoleonischen Code Pénal von 1810, dekretiert am 12. Feb. 1810 und verkündet am 22. Feb. 1810, Édition Originale et Seule Officielle, Paris, Imprimerie Impériale, 1810, Dispositions Préliminaires, hier S. 2: „Nulle contravention, nul délit, nul crime, ne peuvent être punis de peines qui n’étaient pas prononciées par la loi avant qu’ils fussent commis.“ S. demgegenüber noch Art. CV (105) der Constitutio Criminalis Carolina (CCC) Karls V. von 1532, zit. nach der 1842 verlegten Ausgabe von Zoepfl (Hrsg.), Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl’s V., S. 215–258, hier S. 234 „Item ferrer ist zuuermercken, inn was peinlichen fellen oder verklagungen, die peinlichen straff inn disen nachuolgenden a­ rtickeln nit gesetzt oder gnugsam erklert oder verstendig wer, sollen Richter vnd vrtheyler (so es zu schulden kompt) radts pflegen, wie inn solchen zufelligen oder vnuerstendtlichen fellen, vnsern Keyserlichen rechten, vnd diser vnser ordnung am gemessigsten gehandelt vnnd geurtheylt werden soll, vnd alssdann jre erkantnuß darnach thun, Wann nit alle zufellige erkantnuß vnd straff inn diser vnser ordnung gnugsam mögen bedacht und beschriben werden.“ 199 Die dogmengeschichtlichen Wurzeln des nullum-crimen-Satzes in der europäischen Rechtswissenschaft reichen zurück zu den Arbeiten Paul Johann Anselm Feuerbachs, der als Begründer dieses strafrechtlichen Fundamentalprinzips angesehen werden kann, siehe Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1.  Aufl. 1801, I. Buch, 1.  Theil, §§ 23 f., S.  20. Feuerbach identifizierte in § 23 (ebd., S.  20) der Erstauflage seines Lehrbuchs den Grundsatz als „höchstes Princip des peinlichen Rechts“, wonach „jede rechtliche Strafe im Staat […] die rechtliche Folge eines, durch die Nothwendigkeit der Erhaltung äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Übel bedrohenden, Gesetzes“ ist. Aus dieser Grunderkenntnis leitete er in § 24 Abs. II (ebd., S. 20) u. a. den Satz „nulla poene sine crimine“ ab. Erste Ansätze des nullum-crimen-Satzes, die freilich eher dem Streben nach Effektivitätssteigerung und Domestizierung der rechtsanwendenden dritten Gewalt bei der Anwendung der Strafgesetze und weniger dem Schutz des Normunterworfenen vor staatlicher Willkür entsprangen, klingen bereits in Beccarias (1738–1794) ‚Über Verbrechen und Strafen‘ an, vgl. Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1766, übersetzt und hrsg. von Alff (Hrsg.), Über Verbrechen und Strafen, Kap. III, IV, S. 54 ff., 58 ff. Zur Entstehung dieses Fundamentalprinzips monographisch Schreiber, Gesetz und Richter; Schöckel, Entwicklung; grundlegend zu Inhalt und Wirkungen des nullum-crimen-Satzes Krey, Keine Strafe ohne Gesetz. 200 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S.  85 ff. Zu hierauf gestützten Einwänden gegen die Anklage im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher siehe namentlich die Eingabe 195

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Poljanskij gelangte insoweit zu der Erkenntnis, dass zum gegebenen Zeitpunkt eine Pönalisierung des Aggressionskriegs, der Finanzierung von verbrecherischen, staatlichen Regimen u. Ä. mit den Mitteln des strafrechtlichen Sanktionensystems tatsächlich nicht angeordnet worden war. Einer Ahndung schwerwiegender Rechtsgutsverletzungen in derartigen Konstellationen strafwürdigen, aber positiv nicht strafbewehrten Verhaltens würde im nationalen Strafrecht der kapitalistischen Länder201 zwar das Analogieverbot entgegenstehen. Dieses verdanke seine Existenz im der Gesamtverteidigung v. 19. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 186–188; für eine kursorische Skizze zur Entwicklung des nullum-crimen-Satzes als Argument der Verteidigung vgl. die Ausf. des Verteidigers Dr. Gustav Steinbauer vor dem IMT, Protokoll der Verhandlung v. 19. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 61–62. 201 Auch das 1871 auf Grundlage des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund v. 31. Mai 1870 (verkündet am 8. Juni 1870, BGBl. Norddt. Bd. 16, S. 197) geschaffene einheitliche Deutsche Reichsstrafgesetzbuch (RStGB, verordnet am 15. Mai 1971 und verkündet am 14. Juni 1871, RGBl. 1871, S. 127) hatte mit § 2 Abs. 1 zunächst ein explizites Analogieverbot statuiert: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ Der Reichsgesetzgeber hatte sich damit den im deutschen Rechtsraum zu diesem Zeitpunkt bereits „anerkannten Rechtsgrundsatz“ zu eigen gemacht, „daß nur diejenige Handlung als eine strafbare gelten könne, die bereits zur Zeit der Begehung mit Strafe bedroht war“, vgl. die amtl. Begr. v. 14. Feb. 1870 zum Entw. eines StGB für den Norddeutschen Bund, Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. III, Anl. Nr. 5, S. 2–122, Motive ebd., 26–122, hier S. 31. Dieser im zeitgenössischen Strafrecht der Einzelstaaten ganz überwiegend anerkannte Rechtsgrundsatz hatte nach den ausführ­ licheren Erläuterungen in der ersten Fassung der Motive aus dem Jahr 1869 seit dem „Ausgange des vorigen Jahrhunderts in die geläuterte Strafrechtswissenschaft so siegreich Eingang [gefunden, d. Verf.], daß er jetzt, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, in der Strafrechtswissenschaft wie in der Strafgesetzgebung als ein unangefochtenes Axiom“ gelten könne, siehe Motive zu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Juli 1969, Bd. 2: Motive, Berlin 1869, Erl., S. 10–196, hier S. 11 (zu § 2) m. zahlr. w. Nachw. aus Literatur und Gesetzgebungspraxis. Sprachlich nahm die Vorschrift dabei § 2 des Preussischen StGB (PreussStGB 1851 v. 14. April 1851, PreussGS S. 101) weitgehend auf, vgl. Meyer, StGB für den Norddeutschen Bunde v. 31.5.1870, Erl., hier S. 53 (Erl. zu § 2); zu § 2 PreussStGB wiederum ausf. Goltdammer, Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, Th. I, 1851, S. 53–55 (Erl. zu § 2) mit Belegen auch zu der der Kodifizierung des Analogieverbots vorausgegangenen intensiven Diskussion im preuss. Staatsrat, ebd., S. 54 m. w. Nachw. Nur wenige Tage nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist das bis dato geltende Analogieverbot durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs v. 28. Juni 1935 (RGBl. 1935 I, S. 839–843) aufgehoben worden. An seiner Stelle traf der ebenfalls durch Art. 1 des vorstehend bezeichneten Gesetzes neu geschaffene § 2 StGB fortan folgende, der beliebigen rechtspraktischen Implementierung der nationalsozialistischen Rechtsideologie Tür und Tor öffnende Anordnung: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Straf­gesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grund­gedanke auf sie am besten zutrifft.“ Diese kategorische Abkehr von einem elementaren Institut des materiellen Strafrechts und dessen Verkehrung in sein Gegenteil (Analogiegebot) wurde durch die mit Art. 1 lit. a des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes v. 28. Juni 1935 angeordnete Einfügung eines neuen § 170a StPO prozessrechtlich flankiert, indem der Staatsanwaltschaft dem neuen § 2 RStGB ­korrespondierende

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Bereich des Strafrechts der Annahme, dass ein Strafgericht zur Schließung gesetzgeberischer Lücken nicht berufen sei, wenn der in den geschriebenen Strafrechtsordnungen konkretisierte gesetzgeberische Wille eine Strafandrohung für sozialschädliches Verhalten gerade nicht expressis verbis statuiert habe. Die Geltung eines solchen, dem sowjetischen Strafrecht ohnehin fremden202 Analogieverbots könne jedoch nicht ohne weiteres auf ein Rechtsgebiet übertragen werden, auf dem ein rechtsschöpferische Kompetenzen bei der Definition strafwürdigen Unrechts eingeräumt wurden: „Ist eine Tat, die nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient, im Gesetz nicht für strafbar erklärt, so hat die Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und ob durch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann (§ 2 StGB).“ 202 Art. 16 StGB RSFSR (Ugolovnyj kodeks) 1926, in Kraft gesetzt durch den Beschluss des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees „über die Einführung des Strafgesetzbuchs“ v. 26. Nov. 1926, Postanovlenie VCIK „O vvedenii v dejstvie Ugolovnogo Kodeksa R. S. F. S.R. redakcii 1926 goda“, Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1926 No 80, Art. 600, hatte folgenden Wortlaut (zit. nach der Übersetzung ins Deutsche bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 [4]): „Wenn die eine oder die andere sozialgefährliche Handlung in diesem Gesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen ist, so bestimmen sich Grund und Umfang der Verantwortlichkeit dafür nach den Artikeln dieses Gesetzbuchs, die ihrer Art nach am meisten ähnliche Verbrechen vorsehen.“ Zur Auslegung der Bestimmung in Wissenschaft und Praxis vgl. namentlich die im Jahr 1927 erschienene Kommentierung Trajnins zu Art. 16 StGB RSFSR in dem von ihm herausgegebenen Kommentar zum sowjetischen Strafrecht, Trajnin, in: Gernet/ Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 16, S. 26–29. Der Wortlaut der Vorgängerfassung (Art. 10 des StGB 1922) ist abgedr. ebd., S. 27 (Anm. 2) Fn. 1. Für einen Beleg aus der forensischen Anwendungspraxis des Analogiegebots vgl. die bei Trajnin, ebd., S. 28 (Anm. 2) im Originalwortlaut wiedergegebenen Passagen aus der Entscheidung Nr. 4606 des Moskauer Bezirksstrafgerichts aus dem Jahr 1923, Mosk. Gubsud 1923, No 4606. In dem wiedergegebenen Fall war eine Bestrafung des einen fremden minderjährigen Jungen zu exzessiven Dienstleistungen im Haushalt heranziehenden Angeklagten nach Art. 132 des StGB RSFSR 1922 (Ausbeutung von Arbeitnehmern) zwar an der Arbeitgebereigenschaft gescheitert, der an das in Art. 132 vertypte Strafunrecht heranreichende Grad der Sozialschädlichkeit ließ aus Sicht des Bezirksgericht aber eine entsprechende Anwendung der dort angeordneten Strafandrohung geboten erscheinen. Zur Nichtanwendbarkeit des Analogiegebots auf die Vorschriften des Allgemeinen Teils (Art. 1–57, abgedr. bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1–15) aus grammatikalischen und systematischen Erwägungen siehe Trajnin, ebd., S. 28 (Anm. 3); ähnliche Argumentation bei Maurach, System des Russischen Strafrechts, S. 108 f. Zur Nichtanwendung auf außerhalb des StGB angeordnete administrative Sanktionen und Bagatellvergehen ebd., S. 28 (Anm. 3). Zur grundsätzlichen Nichtanwendung auch auf das im StGB RSFSR auf Rechtsfolgenebene statuierte Sanktionensystem, insbesondere die im 4. Abschnitt des Allgemeinen Teils normierten maßregelartigen „Maßnahmen des sozialen Schutzes“ (Art. 20–55, abgedr. bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 5–12 und hierzu Maurach, System des Russischen Strafrechts, S. 152–184) siehe Trajnin, ebd., S. 28–29 (Anm. 4). Für einen knappen Überblick über Hintergründe, Genese und Struktur des 1922 erstmals kodifizierten Sowjetstrafrechts in deutscher Sprache siehe Gallas, Strafgesetzbuch, Vorb., S.  IX–XII. Für eine ausführlichere Analyse siehe insbesondere das im Jahr 1928 von Maurach vorgelegte ‚System des Russischen Strafrechts‘, namentlich S. 106–109 zum Analogiegebot des Art. 16 StGB RSFSR und dessen dogmatischer Verortung im Gesamtkonzept des StGB RSFSR 1926. Zur Anwendung des Analogiegebots in der sowjetischen Strafrechtspraxis zwischen Anfang der 1930er Jahre bis nach dem Krieg im Überblick siehe ferner Berman, Soviet Criminal Law and Procedure, S. 34. Zur Genese des StGB RSFSR ausf. Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 27–34.

III. Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerstrafrechtsdogmatik 

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Gesetzgeber bislang überhaupt nicht existierte. In Ermangelung eines bereits aktiv gewordenen Gesetzgebers büßten die sonst zur Rechtfertigung des Analogieverbots herangezogenen Erwägungen an Überzeugungskraft ein, da das Vertrauen in den Fortbestand eines durch das Fehlen jedweder Strafbewehrung gekennzeichneten Rechtszustands nicht in gleicher Weise schutzwürdig erscheine wie die Erwartungshaltung, für ein gegenwärtig nicht explizit als strafbar kategorisiertes Verhalten später nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können.203 Darüber hinaus entstünde eine kaum erträgliche Gerechtigkeitslücke, müsste man hinnehmen, dass Verbrechen, die schwerer wiegen als jedes von irgendeinem Strafgesetzbuch pönalisierte Verbrechen, in letzter Konsequenz unbestraft bleiben könnten.204 Den wichtigsten organisatorischen Fragen, wie etwa der nach der Anzahl der von den Staaten jeweils zu entsendenden, ihrer Ernennung auf Lebenszeit oder nur für ein bestimmtes Verfahren, ferner der Frage, an welchem Ort der Sitz des Tribunals belegen sein würde, maß Poljanskij eine primär politische Dimension zu. Keine dieser Fragen würde ohne die Berücksichtigung der konkreten, sich nach Kriegsende darstellenden politischen Verhältnisse und Machtverschiebungen entschieden werden können.205 Die allfällige Ermittlungstätigkeit sollte nach der Bewertung Poljanskijs einem Kollegialorgan – einer Ermittlungskommission – vorbehalten bleiben, die sich aus Gesandten der interessierten Staaten konstituieren sollte. Die Funktion der Anklage sollte ebenfalls durch ein Kollegium wahrgenommen werden, dessen Mitglieder in Kooperation untereinander agieren und die wichtigsten Maßnahmen nach Maßgabe gemeinsamer Absprachen treffen sollten. Für die Organisation der Verteidigung deutete Poljanskij zwei mögliche Alternativen aus. Entweder würden die Angeklagten ihre Verteidiger selbst jeweils frei bestimmen können oder das Wahlrecht auf Verteidiger aus einer vom Tribunal dafür bestimmten Gruppe beschränkt werden. Die erste Möglichkeit berge augenscheinlich die Gefahr, dass die Aufgabe der Verteidigung von einer Person wahrgenommen würde, die die Verteidigung durch ihre wohlwollende Haltung zu einer ­Apologie des Verbrechens pervertieren würde.206 Die Ausgestaltung der vor dem internationalen Strafgericht geltenden Verfahrensordnung ließ nach Einschätzung Poljanskijs noch eine Vielzahl juristischer und politischer Streitfragen erwarten. So bestehe eine zentrale Herausforderung fraglos darin, eine Festlegung in Bezug auf das anzuwendende Rechtssystem – das angelsächsische oder das kontinentale – zu treffen, also die Frage zu beantworten, welches mit Blick auf die spezifischen Anforderungen der zu lösenden Gesamtaufgabe den Vorzug verdiene. Wesentliche Unterschiede identifizierte Poljanskij namentlich in der Organisation und Durchführung von Ermittlungsverfahren, der Beurteilung von Beweisen und den Einflussmöglichkeiten des Gerichtsvorsitzen 203

Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 86. Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 86. 205 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 92. 206 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 94. 204

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

den.207 Die insoweit aufgeworfenen Fragen ließen allerdings unterschiedliche Antworten zu, je nachdem, über welche Tätergruppe zu befinden sei. Während ein gegebenenfalls einzurichtendes ad  hoc-Tribunal gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, die sich in den forensischen Annalen bislang präzedenzloser Verbrechen schuldig gemacht hätten, eine Festlegung auf ein bestimmtes Rechtssystem womöglich naheliegend erscheinen lasse, könne die Frage in Bezug auf die ins Auge gefasste Kreation eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs womöglich vollständig anders ausfallen. Aus moralischen und politischen Gründen ergebe sich insoweit nämlich die Notwendigkeit der schnellstmöglichen Aburteilung der nationalsozialistischen Verbrechen.208 Selbstverständlich werde ein Prozess über die ‚Hitleristen‘ so zu organisieren sein, dass er als Prototyp, als Nukleus für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof fungieren könnte, sollte der übereinstimmende politische Wille auf die Erschaffung eines solchen gerichtet sein. Bestimmten Besonderheiten sei hierbei nach Poljanskij allerdings zwingend Rechnung zu tragen. Das erste unbedingt in Rechnung zu stellende Spezifikum der juristischen Ausgangslage liege in der Unübersichtlichkeit der ‚hitlerischen‘ Verbrechen begründet, mit der ein nicht zu unterschätzendes Missbrauchspotential insoweit einhergehe, als die prozessualen Verteidigungsmittel für eine Verschleppung des Verfahrens ad infinitum instrumentalisiert werden könnten. Derlei Tendenzen sei durch Schaffung entsprechender Vorkehrungen frühzeitig entgegen zu wirken.209 Eine weitere Notwendigkeit ergebe sich aus dem Bedürfnis, einen Konsens in Bezug auf die anzuwendende Gerichtssprache zu erzielen. Nach dem von Poljanskij insoweit entwickelten Vorschlag sollte im Grundsatz von der Äquivalenz der Sprachen ausgegangen werden, wobei die Überführung dieses Primats in die forensische Praxis nach einem von ihm im Einzelnen dargelegten Modus sichergestellt werden sollte.210 Abschließend wendete sich Poljanskij noch verschiedenen Folgefragen im Zusammenhang mit dem einzurichtenden Tribunal zu, wie etwa der Frage nach dem Bestehen und der Realisierung zivilrechtlicher Ansprüche, der Entschädigung, der Urteilsvollstreckung und der Auslieferung bzw. dem Umgang mit einer etwaigen Zufluchtgewährung durch Dritte211, auf die an dieser Stelle indes nicht näher eingegangen werden soll. Trotz seiner detaillierten und streckenweise ausgesprochen weitsichtigen Analyse wurde Poljanskij – wohl nicht zuletzt auch wegen der unterbliebenen Übersetzung in ausländische Sprachfassungen – über den sowjetischen Rechtskreis hinaus bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit zuteil, wie sie Trajnins ‚Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen‘ im internationalen wissenschaftlichen wie politischen 207

Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 94. Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 95. 209 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 95. 210 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, S. 96 f. 211 Poljanskij, Meždunarodnoe pravosudie, zu Fragen der Entschädigung für materielle Einbußen vgl. S.  97 ff., zu Fragen der Urteilsvollstreckung S.  103 f., zu Auslieferung und Zufluchtsgewährung S. 105 ff. 208

IV. Fazit

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Kontext erfahren sollte. Die zeitlich nur knapp vorausliegende Veröffentlichung jener Publikation und die enge persönliche Verbindung Trajnins mit Vyšinskij, die Trajnin in den Augen westlicher Beobachter als ersten „Propagandisten des wirklichen Völkerrechts“212 und seine Studie als Ausdruck der offiziellen Staatsdoktrin erscheinen ließen, mag als weitere Ursache für die geringe Resonanz angeführt werden, die der nunmehr auch für die allgemeine Öffentlichkeit freigegebenen Untersuchung Poljanskijs zuteilwurde.

IV. Fazit Vor dem Hintergrund der bis zur Mitte der 1930er Jahre dominanten rechts­ nihilistischen Denkschule und der mit ihr einhergehenden Negation des völkerrechtlichen Universalitätsanspruchs erscheinen die vorstehend (Abschnitt III.) nachgezeichneten Entwicklungslinien der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft bis 1945 und ihre Fruchtbarmachung für die Frage des Umgangs mit den deutschen Kriegsverbrechen durchaus beachtlich. Ausgehend von der kategorischen Ablehnung des Völkerrechts im hergebrachten ‚bürgerlichen‘ Sinne vollzog sich innerhalb der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft in nur gut einem Jahrzehnt ein elementarer Perspektivwechsel hin nicht nur zur pragmatisch orientierten Anerkennung der real existierenden völkerrechtlichen Institutionen, sondern zur aktiven Befürwortung eines internationalen Strafgerichts auf Grundlage internationaler Kooperation über ideologische Gräben hinweg. Die Zielrichtung der zwischen 1935 und 1945 vorgelegten Publikationen wies deutlich in die Richtung einer Stärkung von Tendenzen zur strafrechtlichen Ahndung von ‚internationalen‘ Verbrechen. Die Mehrzahl der sowjetischen Autoren erwies sich den Ideen einer Stärkung des Völkerstrafrechts, der individuellen Verantwortlichkeit von Kriegsverbrechern, der Einrichtung eines internationalen Strafgerichts, der Kodifikation von völkerstrafrechtlichen Normen und der internationalen Kooperation auf dieser Ebene gegenüber ausgesprochen aufgeschlossen. Ab 1943 bricht sich eine im Verborgenen längst durch entsprechende Studienaufträge vorbereitete und nunmehr jedoch auch öffentlich stetig schärfere Konturen annehmende sowjetische Konzeption in Bezug auf die Ahndung der Kriegsverbrechen Bahn. Trotz der in der sowjetischen Rechtswissenschaft und Parteidoktrin anzutreffenden Einmütigkeit in Bezug auf die Frage der Ahndung der Kriegsverbrechen im Allgemeinen erweist sich die Bestimmung der in der sowjetischen Rechtswissenschaft vorherrschenden Haltung zum Umgang mit den Hauptkriegsverbrechern im Detail als durchaus kompliziert. Da die einschlägigen juristischen Publikationen in der Mehrzahl der Fälle nicht sauber zwischen Hauptkriegsverbrechern und sonstigen Verantwortlichen differenzierten, ist eine Aussage über ihre Vorstellung vom Umgang mit dieser ersten Gruppe von Kriegsverbrechern jedenfalls nicht mit ­derselben 212

Vgl. Wyschinski, in: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hrsg.), Sowjetische Beiträge, S. 50 (88).

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B. Die juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen

Eindeutigkeit möglich. In dieser Hinsicht zu diagnostizierende Abweichungen im Verhältnis zu jeweils zuvor erschienenen Publikationen lassen sowohl bei Trajnin als auch Poljanskij eine gewisse Unsicherheit bei der endgültigen Einnahme einer ideologisch belastbaren Position zu Tage treten. Obwohl Trajnin die national­ sozialistische Führung in früheren Beiträgen unter ausdrücklicher Einbeziehung individuell bezeichneter Führungsfiguren noch in sein System der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen einschloss213, befürwortete er 1944 die oben skizzierte ‚politische Lösung‘214 der Hauptkriegsverbrecherfrage, deren konkrete Gestalt er freilich im Dunkeln beließ. Im Juni 1945 ließ er in einem gemeinsam mit fünf weiteren Autoren verfassten Artikel die Frage wiederum offen und legte nunmehr dar, dass die Moskauer Deklaration eine Ahndung der Kriegsverbrechen sowohl durch einen politischen Akt als auch durch ein Verfahren vor einem internationalen Strafgerichtshof eröffne215 und räumte damit inzident ein, dass die von ihm in ‚Verantwortlichkeit der Hitleristen‘ 1944 als vermeintlich vorgezeichnet in Betracht genommene politische Lösung hierdurch gerade nicht präjudiziert worden war. Nachdem er in seinem Projekt eines internationalen Straf­gerichtshofs für Hauptkriegsverbrecher aus dem Jahr 1943 eindeutig noch von einer im Wege justizförmigen Verfahrens zu bewirkenden Bestrafung der Betreffenden ausging, nahm auch Poljanskij im April 1945 eine nunmehr denkbar unentschiedene Haltung zum Schicksal der Hauptkriegsverbrecher ein. Seine Studie, in deren Fokus immerhin die Schaffung und Organisation eines internationalen Strafgerichtshofs stand, erschöpfte sich an dieser konkreten Stelle in einer Referenz auf die insoweit offen formulierten Bestimmungen der Moskauer Deklaration, wonach das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher sowohl durch eine politische Entscheidung der alliierten Regierungen als auch durch ein Verfahren vor einem internationalen Tribunal entschieden werden können sollte. Da sich ein solches Tribunal nach dem Vorstehenden aber immerhin als eine von der Moskauer Erklärung umfasste und insoweit gangbare Alternative darstellte und weil die zukünftige Friedenssicherung ohnehin nicht ohne Intensivierung der Bemühungen zur Schaffung eines solchen Gerichts auskommen würde, beschäftigte sich Poljanskij detailliert mit Fragen der internationalen Strafgerichtsbarkeit und besonders mit der Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen. Einer Stellungnahme zur politischen oder rechtlichen Vorzugswürdigkeit einer der beiden im Raum stehenden Varianten ging Poljanskij nunmehr ersichtlich aus dem Weg. Der Umstand, dass selbst zentrale ‚systemnahe‘ Akteure wie Trajnin und Poljanskij, deren Arbeiten unter dem maßgeblichen Einfluss Vyšinskijs bzw. in enger Wechselwirkung mit dem und Anbindung an das Rechtsinstitut der Akademie der Wissenschaften erschienen, eine unverkennbare Zaghaftigkeit bei der Positionierung zu staatsideologisch noch nicht hinreichend erschlossenen Aspekten an den Tag legten, legt Zeugnis 213

Vgl. Trajnin, Vojna i rabočij klass 1943, No 6, S. 13 (14 ff.). Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 93 f.; für die russ. Sprachfassung Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 95. 215 Trajnin u. a., Socialističeskaja zakonnost’ 1945, No 6, S. 7–11. 214

IV. Fazit

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ab von den repressiven politischen Bedingungen, unter denen sich wissenschaftliche Tätigkeit in diesen Tagen zu behaupten hatte. Die Entscheidung für oder gegen ein gerichtliches Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher musste in dieser Wahrnehmung notwendigerweise zunächst auf politischer Ebene getroffen werden. Erst im Schutze der durch eine derartige politische Festlegung ent­falteten Legitimationswirkung würde eine juristische Argumentationsbasis nachführend ohne Inkaufnahme persönlicher Risiken entwickelt werden können. Dagegen barg die politisch sogar forcierte ‚Propagierung des Völkerrechts‘ etwa in Gestalt der Forderung nach Einhaltung der Regeln des ius in bello oder derjenigen nach harter Bestrafung der Verantwortlichen aufgrund der weitgehenden Konsolidierung der politischen Doktrin auf diesem Terrain keine nennenswerten Nachteile. Wie die in diesem Kapitel dargestellten Arbeiten sowjetischer Wissenschaftler allerdings deutlich zeigen, entstand auch in diesem politisch abgesteckten Rahmen ein großer Bestand an Ideen und konkreten Vorschlägen zur strafrechtlichen Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern, aus dem die Vertreter der sowjetischen Seite bei der Planung und Durchführung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses schöpfen konnten.

C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen als Gegenstand sowjetischer Regierungspolitik Der gründlichen wissenschaftlichen Durchdringung der Thematik1, insbesondere aber auch den vielfältig überlieferten – häufig editierten – Materialien verdankt sich der Umstand, dass der Forschung mittlerweile eine recht detaillierte Rekonstruktion derjenigen Ereignisse gelungen ist, die im Mai 1945 die Herbeiführung einer Übereinkunft der Alliierten über die gerichtliche Aburteilung der nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher zur Folge hatten. Die regierungsamtliche Haltung der Sowjetunion zur Frage der Ahndung der Kriegsverbrechen einschließlich ihrer an praktischen Erfordernissen orientierten Fortentwicklung indes erweist sich als bis in die Gegenwart hinein nur unzureichend erschlossene und in einschlägigen Publikationen mit auffällig knappen Ausführungen bedachte Materie.2 Die eher rudimentäre wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik dürfte nicht zuletzt dem lange Zeit nur sehr eingeschränkt gewährten Zugang zu sowjetischen Staatsarchiven geschuldet sein. Erst die grundsätzliche Öffnung der russischen Archive in den 1990er Jahren schaffte die Möglichkeit zur systematischen Durchsicht der für das Thema der vorliegenden Arbeit relevanten archivalischen Bestände. Dessen ungeachtet standen der Forschung schon seit geraumer Zeit editierte Quellen in erheblichem Umfang als Auslegungsmaterial zur Verfügung. Der Erwähnung bedürfen insoweit nicht nur offizielle Regierungsverlaut­ barungen aus den Jahren 1941 bis 1945.3 Zur Erhellung der handlungsleitenden Motive auf Seiten der maßgeblichen Akteure können darüber hinaus eine Vielzahl von Noten herangezogen werden, die zwischen dem NKID, den westlichen Al­liierten und Londoner Exilregierungen bzw. ihren jeweiligen diplomatischen Repräsentanten in den Austausch gelangt sind.4 1

Siehe insoweit z. B. die Arbeiten von Smith, American Road (1982); Taylor, Nürnberger Prozesse (2. Aufl.; 1994); Kochavi, Prelude (1998); Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozess (2003); Lebedeva, Podgotovka (1975). 2 Bei den wenigen nichtrussischen Publikationen, die die von der Sowjetunion im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozess eingenommene Position zum Gegenstand haben, handelt es sich um Arbeiten von Ginsburgs, Moscow’s Road (1996); Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701–730 sowie Bazyler, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 45–51. Zur Mitwirkung von russischen und sowjetischen Wissenschaftlern an der internationalen Debatte zur Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen vgl. Segesser, Recht statt Rache, passim; ders., in: Richter (Hrsg.), Krieg und Verbrechen, S. 219 (219 f.). 3 Eine engl. Übersetzung der offiziellen sowjetischen Regierungserklärungen zum Themenkomplex der Kriegsverbrechen ist abgedr. in: Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements (1946). 4 Eine deutsche Übersetzung der wichtigsten Noten haben Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1 und 2, passim, vorgelegt; von Belang sind weiterhin Editionen wie FRUS, Diplo-

C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

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In einem ersten Zugriff wird im Folgenden der Frage nachzugehen sein, ab welchem Zeitpunkt sich eine hinreichend konkretisierte regierungsamtliche Sichtweise der Sowjetunion auf die Kriegsverbrecherproblematik nachweisen lässt und welche weiteren Ausgestaltungen oder Modifikationen dieser Standpunkt im Fortgang erfahren hat. Die insoweit maßgeblichen Entwicklungslinien nachzuzeichnen, ist Anliegen des vorliegenden Kapitels. Erst auf einer derart gesicherten Grundlage wird im Rahmen der nachfolgenden Kapitel der Inhalt des sowjetischen Standpunktes im Abgleich mit den Deutschlandvorstellungen der westlichen Al­ liierten deutlich zu Tage treten. Im Zeitraum zwischen dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und den Gesprächen der USA, Großbritanniens und der UdSSR am 3. Mai 1945 auf der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen, die letztlich zur gegenseitigen Abstimmung der Alliierten in der Kriegsverbrecherfrage führten, lassen sich mehrere Phasen identifizieren. Den Gesamtprozess kann man nach Maßgabe ihrer chronologischen Ordnung grob in eine Phase der allgemeinen Forderung nach Strafe (nachfolgend I.), eine Phase der allmählichen Konkretisierung einer spezifisch sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik im Wechselspiel mit westalliierten Modellen zur Ahndung von Kriegsverbrechen unter Einschluss ihrer praktischen Erprobung in national organisierten Prozessen (II.) und eine Phase der Abstimmung der gemeinsamen alliierten Kriegsverbrecherpolitik (III.) einteilen. Obwohl sich zwischen der hier vorgenommenen Aufteilung eindeutige zeitliche Zäsuren nicht feststellen lassen, die Phasen vielmehr ineinander greifen, weist jeder der aufgezeigten Zeitabschnitte einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt auf. Die folgende Darstellung folgt daher den thematischen Abschnitten, die die wichtigsten Facetten der offiziellen sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik hervor­heben sollen. Unter anderem wird anhand einer kursorischen Darstellung der sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse im Jahr 1943, namentlich des Prozesses von Char’kov (II.12) der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese als sowjetische ‚Vorläufer‘ zum Nürnberger Prozess Aufschluss über die Intentionen sowie rechtlichen und politischen Vorstellungen der sowjetischen Machthaber im Bereich der Kriegsverbrecherbehandlung liefern können.

matic Papers und Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Reihe I, Bd. 1–4.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

I. Erste Phase: Unspezifisches Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

I. 1. Phase: Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

Die in der sowjetischen Forschung lange Zeit unwidersprochene5 und bis in die gegenwärtige Geschichtsschreibung fortwirkende6 Deutung des sowjetischen Umgangs mit den Hauptkriegsverbrechen gründet in der Anerkennung eines gegenüber den Westalliierten ‚besonderen‘ Beitrags, den die sowjetische Regierung für die Verfolgung der deutschen Hauptkriegsverbrecher geleistet haben soll. Dem liegt ein Geschichtsverständnis zugrunde, wonach sich die sowjetische Führung schon in den ersten Kriegsmonaten vehement für die strafrechtliche Verfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen eingesetzt und damit als erste Großmacht die juristische Aburteilung der Hauptverantwortlichen befürwortet habe. Wie bereits der russische Jurist Aleksandr E. Epifanov7 im Jahr 1997 dargelegt hat, bildet diese Wahrnehmung die komplexen historischen Zusammenhänge indes nur unvollkommen und zudem eindimensional ab. Die Frage nach der Berechtigung der Annahme eines besonderen ‚Beitrags‘ der sowjetischen Regierung zur strafrechtlichen Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher bedarf vielmehr einer differenzierteren, mehrschichtigen Würdigung auf der Zeitachse unter Berücksichtigung der jeweils dominanten Motivlage. Historisch gesichert erscheint immerhin der Befund, dass die sowjetische Führung bereits frühzeitig und insbesondere vor jeder anderen Großmacht die Forderung nach Verfolgung und Bestrafung der für den Überfall auf die Sowjetunion verantwortlichen Kriegsverbrecher öffentlich formuliert und die Ergreifung hierauf abzielender Maßnahmen wiederholt angekündigt hat. Schon in der Radio­ ansprache am 22.  Juni 1941 verortete der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Volkskommissare (im Folgenden: SNK) und Volkskommissar für Äußere ­Angelegenheiten Vjačeslav Michajlovič Molotov8 im Auftrag der sowjetischen Regierung „die ganze Verantwortung für den verbrecherischen Angriff auf die Sowjetunion voll und ganz [bei den, d. Verf.] deutschen faschistischen Regenten“9.

5 Symptomatisch etwa die im Vorwort zur im Jahr 1969 verlegten Zweitauflage von Polto­ rak, Njurnbergskij ėpilog, wiedergegebene Wahrnehmung des Mitglieds der sowjetischen Anklagevertretung Smirnov, ebd., S.  3 (4); weitgehend unverändert auch ders. im Vorwort zur 1983 erschienenen dritten Auflage von Poltorak, Njurnbergskij ėpilog, 1983, S. 3 (4 f.); ähnlich – freilich noch unter den ideologisch beschränkenden Bedingungen des sowjetischen Wissenschaftsbetriebs – auch Lebedeva, Podgotovka, S. 9. 6 Siehe etwa die streckenweise unkritische Analyse des amtierenden stellvertretenden Generalstaatsanwalts Russlands Zvjagincev, Njurnbergskij nabat, S.  13 f.; ders., Njurnbergskij process, S. 12 f.; Varennikov, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/ Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 47 (48); siehe auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (67). 7 Epifanov, Otvetstvennost’, S. 10. 8 Zu Molotov vgl. Kap. B., Fn. 24. 9 Verschriftung des Wortlauts der Ansprache v. 22.  Juni 1941, abgedr. in NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 111–113 (hier 111) = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I,

I. 1. Phase: Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

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Belastbare Belege dafür, dass diese erste Äußerung zur Verantwortlichkeit der deutschen Regierung in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen bereits die Idee der strafrechtlichen Ahndung des Angriffskriegs im Rahmen eines justizförmigen Verfahrens in sich trug, können – entgegen einer zum Teil in der sowjetischen Literatur anzutreffenden Deutung10 – allerdings nicht namhaft gemacht werden.11 Als kennzeichnend für die Phase unmittelbar nach Beginn der Kriegshandlungen erweist sich vielmehr der Umstand, dass die sowjetische Regierung trotz ihres starken Bekenntnisses zum Ziel der Vergeltung und entsprechender Strafankündigungen über die Art und Weise, in welchen konkreten Formen man diese in die Tat umzusetzen gedachte, keinerlei Aussagen traf. Charakteristisch ist gleichzeitig die frühe Zuschreibung und Eingrenzung der Verantwortlichen auf die oberste Leitungsebene der deutschen Regierung und Militärführung.12 Der Kreis der zur Rechenschaft zu ziehenden Verantwortlichen wurde im Laufe der Zeit zwar auf sog. unmittelbare Täter, nicht näher bestimmte Komplizen und sogar bestimmte Privatpersonen und -organisationen allmählich ausgeweitet. Mit dieser sukzessiven Erstreckung auf nachgeordnete Akteure wurde eine lücken­ lose Kette der Verantwortung geschmiedet, die den unmittelbar Handelnden mit dem Befehlshaber bis in die höchsten Entscheidungsebenen verband. Gleichwohl sollte die Verantwortlichkeit von Regierung und Militärführung im Verlauf der Kriegsjahre die eigentliche Konstante der sowjetischen Strafforderung und -ankündigung bleiben. In ihren ersten hierzu veröffentlichten Noten beließ es die sowjetische Regierung zunächst dabei, solche Ereignisse öffentlich anzuprangern, die unter Anwendung heutiger Maßstäbe als klassische Kriegsverbrechen zu qualifizieren wären.13 Molotov führte in seiner ersten offiziellen Note über deutsche Gräueltaten vom 25.  November 194114 insoweit namentlich Grausamkeiten gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen ins Feld. Die Verantwortung für die Taten des deutschen Militärs und der zivilen Behörden lokalisierte die sowjetische Regierung dabei im politischen Epizentrum des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, S. 127–129 (hier S. 127); zu den Hintergründen und der Entstehung der Radioansprache vgl. Tischler, Rundfunk und Geschichte 22 (1996), S. 48–50. 10 Lebedeva, Podgotovka, S. 9; Rekunkov, in: Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 74. 11 Zutreffende Einschätzung insoweit bei Epifanov, Otvetstvennost’, S. 1–25. 12 So auch Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (111 f.). 13 Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 32; Segesser, Recht statt Rache, S. 344. 14 Note des Volkskommissariats für Äußere Angelegenheiten der UdSSR v. 25. Nov. 1941 über deutsche Gräueltaten, AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Bl. 1–4; abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S.  162–167 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S.  184–190; engl. Fassung abgedr. in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 7–10; auszugsweise abgedr. in Aleksandrov u. a. (Hrsg.), Otvetstvennost’, S.  11, und Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S.  89. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Haager Konvention von 1907 enthielt auch die Note v. 27. April 1942 (u. Fn. 32), Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 50.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

der ­„verbrecherischen hitlerischen Regierung“.15 In den darauffolgenden offiziellen Noten prangerte die sowjetische Führung primär die Plünderung, Ausbeutung und physische Vernichtung der sowjetischen Bevölkerung an, gefolgt von detaillierten Darstellungen einer Vielzahl von ausgewählten Einzelbeispielen und unter Bezugnahme auf das den sowjetischen Behörden – tatsächlich oder nur vermeintlich – vorliegende ‚Beweismaterial‘.16 In Bezug auf die Erhebung, Zusammenstellung und Auswertung des jeweils aufgeführten Materials stand zu diesem Zeitpunkt freilich noch keine Institution zur Verfügung, die mit der Dokumentation von Kriegsverbrechen eigens und formell betraut worden wäre.17 Protokolle, die dennoch über Bekundungen von Angehörigen der mit den Verbrechen unmittelbar konfrontierten Bevölkerung oder der sowjetischen Streitkräfte aufgenommen worden waren, enthielten ganz überwiegend ideologisch und emotional stark angereicherte Schilderungen mit Schwerpunkt auf den äußeren Folgen der den deutschen Aggressoren zur Last gelegten Gräuel. Für ein juristisches Verfahren unabdingbare Detail­angaben, wie z. B. exakte Feststellungen zu Ort, Zeit und zur mutmaßlichen Identität der Verantwortlichen oder ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Verbänden, waren den insoweit gefertigten Aufzeichnungen zumeist nicht zu entnehmen.18 Die in dieser Frühphase der sowjetischen Dokumentation deutscher Kriegsverbrechen erstellten Materialien waren denn auch nicht als gerichtsverwertbare sächliche Hilfsmittel zur späteren strafrechtlichen Überführung der Verantwortlichen konzipiert, sondern fanden Verwendung vornehmlich als Instrumente im propagandistischen Kampf der Sowjetregierung gegen die deutschen Eindringlinge. Ihre beweiskräftige Einführung in den Vorgang einer rechtsförmigen strafrechtlichen Verfolgung und Überführung konkret-individuell Verantwortlicher war zu diesem Zeitpunkt nicht intendiert.19 Nicht zuletzt dem vor diesem Hintergrund noch stark eingeschränkten Verwendungszweck der ­dokumentarischen Erfassung 15 Ü. d. Verf., Nota narodnogo komissara inostrannych del SSSR ot 25 nojabrja 1941 goda o vozmutitel’nych zverstvach germanskich vlastej v otnošenii sovetskich voennoplennych, abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 162–167 (hier 167) = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 184–190 (hier 190); Auszüge bei Aleksandrov u. a. (Hrsg.), Otvetstvennost’, S. 11 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 89; engl. Fassung (Note Submitted by V. Molotov People’s Commissar of Foreign Affairs of the USSR concerning the outrageous Atrocities Committed by the German Authorities Against Soviet Prrisoners of War) AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Bl. 1–4 (hier 4) = Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 7–10 (hier 10). 16 Noten des Volkskommissariats für Äußere Angelegenheiten v. 6. Jan. 1942 und 27. April 1942 (Fn. 32); engl. Fassung abgedr. in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 10–24 und 24–51; zusammenfassend zu den letztgenannten Noten Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (112). Zur fehlenden Qualität der als ‚Beweismaterial‘ angeführten Dokumente im Sinne eines gerichtsverwert­ baren Beweismittels, den Ursachen hierfür sowie insbesondere auch zur Schaffung der Außerordentlichen Staatskommission ČGK vgl. Kap. G. III. 3. a) bb). 17 Zur am 2. Nov. 1942 gegründeten ČGK siehe Kap. G. III. 3. a) bb). 18 Vgl. zur fehlenden Beweistauglichkeit der insoweit erstellten Dokumente Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (113); ders., Otvetstvennost’, S. 13 ff. 19 Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (112 f.).

I. 1. Phase: Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

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deutscher Gräueltaten und den insofern abgesenkten qualitativen Anforderungen in Bezug auf die angefertigten Unterlagen dürfte der Umstand geschuldet sein, dass sich die Sowjetführung für den an sie herangetragenen Vorschlag zur Errichtung einer Dokumentationssammlungsstelle zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erwärmen vermochte. Ein im August 1941 an den Sekretär des ZK VKP(b) und Leiter des Sovinformbjuro20 Aleksandr Sergeevič Ščerbakov gerichteter Vorschlag des Journalisten und Direktors der amtlichen Nachrichtenagentur TASS, Jakov ­Semënovič Chavinson21, zur Bildung eines Komitees, welches u. a. mit den Aufgaben der Ermittlung von Gräueltaten, Sammlung von Beweisen und Publikation von Einzel­ fällen betraut werden sollte, wurde von der Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK VKP(b) (Agitprop) als nicht zweckdienlich verworfen.22 Die ablehnende Haltung, die das ZK VKP(b) gegenüber diesem ersten Vorschlag zur Bildung einer zentralen und koordinierenden Dokumentationssammlungsstelle einnahm, dürfte indes nicht nur darauf zurückzuführen sein, dass die Frage nach dem sachgerechten Umgang mit den (Haupt-)Kriegsverbrechern anfangs hinter anderen, weitaus existentieller erscheinenden Angelegenheiten der Kriegsführung zurückzutreten hatte. Vielmehr wird man die Ursache für die Abwehrhaltung des ZK VKP(b) mit der russischen Historikerin Marina S ­ orokina insbesondere in der fehlenden Sensibilisierung der Bürokraten um den Leiter des Agitprop, Georgij ­Fëdorovič­ Aleksandrov23, in Hinblick auf die Überzeugungskraft sachlich fundierter, ideologiefreier Berichterstattung begründet sehen dürfen. Den maßgeblichen Akteuren des ZK VKP(b) schien sich zu diesem Zeitpunkt schlichtweg nicht erschlossen zu haben, welch weitreichende Einflussnahme auf die westliche öffent­liche Meinung eine psychologische Propaganda ohne Rückgriff auf primitive i­ deologische Rhetorik zu leisten im Stande gewesen wäre.24 Es sollte daher noch ein knappes weiteres 20

Ausführlich zu den Aufgaben des Sovinformbjuro Stelzl-Marx, in: Mattl/Botz/Karner/ Konrad (Hrsg.), Krieg, S. 195 (198 ff.). 21 Schreiben von Chavinson an Ščerbakov, August 1941, RGASPI, f. 17, op. 125, d.  51, Bl. 24–25. 22 Für die Ablehnung des Ansinnens durch den stellvertretenden Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK VKP(b)  Machanov vgl. RGASPI, f. 17, op. 125, d.  51, Bl. 26; ausf. zum Gesamtvorgang die Darstellung bei Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (806 ff.); dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucio­ nalizacija, Vyp. II, S. 111 (151 ff.); dies., in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21 (24 ff.). 23 Aleksandrov, Georgij Fëdorovič (1908–1961) war zwischen 1939 und 1940 zunächst stellvertretender Leiter des Agitprop des ZK VKP(b)  und gleichzeitig von 1939 bis 1946 als Leiter der Parteihochschule des ZK VKP(b)  eingesetzt. 1940 wurde er zum Leiter des­ Agitprop des ZK VKP(b) berufen. Er gilt als einer der führenden Ideologen der UdSSR seiner Zeit, ist daneben aber auch als Autor zahlreicher philosophischer Schriften in Erscheinung getreten. Ab 1946 gehörte er der Akademie der Wissenschaften an. Von 1941 bis 1956 gehörte er dem ZK der VKP(b) zudem im Status eines Kandidaten an. Vgl. zum Vorstehenden Z ­ alesskij, Kto est’ kto, S. 17 f. (Eintrag Aleksandrov); Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (676); zu Aleksandrovs Karriere siehe auch Sorokina, in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21 (27 f.). 24 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (808); dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (156 ff.).

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Jahr vergehen, bis Aleksandrov selbst zu dementsprechenden Einsichten gelangte und einigen Sekretären des ZK VKP(b) sowie ­Molotov im Juli 1942 schließlich eine Zusammenstellung von vorbereitenden Dokumenten und den Entwurf eines Beschlusses über die Bildung einer mit weitreichenden Befugnissen auszustattenden staatlichen Kommission zur Untersuchung von deutschen Kriegsverbrechen übermittelte.25 Früher als die Einsicht in die Zweckmäßigkeit eines zentralen Beweissammlungsorgans brach sich allerdings die Erkenntnis Bahn, dass jedenfalls eine systematische Erfassung und Zusammenführung des bislang örtlich und ressortbezogen verstreut vorliegenden Belastungsmaterials von Nöten war. Den Beginn einer zentralisierten Erfassung und Sammlung von Dokumentationsmaterial über Kriegsverbrechen markiert der Befehl des NKVD der UdSSR vom 25. Februar 1942 „über die Weiterleitung von Materialien über die Gräuel­ taten deutsch-faschistischer Eroberer an die Verwaltung staatlicher Archive (UGA) des NKVD der UdSSR“, der durch eine ihm beigefügte Instruktion über die Methode der Sammlung, die Erfassung und die Lagerung von Dokumentations­ material flankiert wurde.26 Die Instruktion erklärte entsprechende Materialien zu Dokumenten von großer staatlicher Bedeutung und ordnete ohne Rücksicht auf ihre Herkunft deren unverzügliche Weiterleitung an das UGA des NKVD bzw. seine lokalen Dependenzen an. Die Instruktion traf ausführliche Regelungen in Bezug auf die zur Dokumentensammlung und ihre Überwachung verpflichteten Dienststellen und Institutionen, namentlich das Kommando der Roten Armee, die Partei, sowjetische und gesellschaftliche Organisationen, Einrichtungen und Betriebe sowie die Verantwortlichkeit der Leiter dieser Stellen. Das in der vorgeschriebenen Art und Weise beschaffte Material27 wurde in der Verwaltung staatlicher Archive der NKVD der UdSSR zusammengeführt und anschließend an das Zentrale Staatsarchiv der Oktoberrevolution und des sozialistischen Aufbaus der UdSSR (CGAOR SSSR, heute GARF – Staatsarchiv der Russischen Föderation) weitergeleitet. Von Beginn an im Zentrum der Erklärungen und Noten der sowjetischen Regierung zu deutschen Gräueltaten stand auch der Vorwurf einer systematischen Vorgehensweise bei der Begehung der Verbrechen. Eine an alle diplomatisch mit der ­Sowjetunion verbundenen Regierungen am 6.  Januar 1942 gerichtete Note­ 25 Aleksandrov an Andreev, Malenkov, Ščerbakov am 20. Juli 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 7, d. 69, Bl. 12–16; ausf. zu den Hintergründen und dem Schicksal dieses Entwurfs S­ orokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (811 f.). 26 Die folgenden Ausführungen zum Inhalt des weiterhin nicht für den öffentlichen Zugang freigegebenen Befehls und der ihm beigegebenen Instruktion basieren auf der Wiedergabe der unveröffentlichten Dokumente nach Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (113 f.); ders., Otvetstvennost’, S. 19 f.; vgl. dazu auch Sorokina, Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (813), deren Ausführungen zum Befehl v. 25. Feb. 1942 und der hieran anknüpfenden Instruktion ohne weitere Nachweise ebenfalls nur auf dem bei bei Epifanov mitgeteilten Inhalt der in Bezug genommenen Dokumente ­rekurrieren. 27 Weitere Einzelheiten hierzu bei Epifanov, Otvetstvennost’, S. 20.

I. 1. Phase: Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

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Molotovs28 enthielt neben detaillierten Angaben über die auf sowjetischem Territorium verübten Gräueltaten auch die Erklärung, dass sich die „Plünderungen und blutiger Terror gegenüber der Zivilbevölkerung“ nicht als bloße Exzesse einzelner undisziplinierter Truppenteile, einzelner deutscher Offiziere und Soldaten darstellten. Vielmehr brach sich nach den sowjetischen Verlautbarungen insoweit ein System Bahn, das von der deutschen Regierung und dem Militärkommando „von vornherein vorgesehen“29 war. Wie in der Note vom 6. Januar 1942 bezog die sowjetische Regierung in ihre offiziellen Erklärungen jener Phase regelmäßig ausführliche Darstellungen von einzelnen Verbrechen, Zahlen über zerstörte Ortschaften und Häuser ein. Verbunden mit Beteuerungen dahingehend, dass niemand seiner gerechten Strafe entgehen würde, fanden sich in diesen Noten Hinweise d­ arauf wieder, dass die sowjetische Regierung und ihre Organe über alle Gräueltaten ausführlich Buch führten, um die volle Erfassung der verbrecherischen Handlungen zu gewährleisten und das Ausmaß des materiellen Schadens zu bestimmen. Maßgeblich involviert in die konzeptionelle Vorbereitung und unmittelbare Formulierung der Regierungsnoten zu den deutschen Kriegsverbrechen war als erster Stellvertreter Molotovs von Anfang an Andrej Januar’evič Vyšinskij, der bereits auf die Konturierung der rechtswissenschaftlichen Facetten des sowjetischen Standpunkts in der Frage der Kriegsverbrecherbehandlung bestimmenden Einfluss ausgeübt hatte.30 Dementsprechend wurde auch die Note vom 6. Januar 1942 von Vyšinski zunächst entworfen, danach ergänzt und überarbeitet bis zur endgültigen Bestätigung der Endfassung durch Molotov.31 Der Vorwurf planmäßig-systematischer Verbrechensausführung wurde in der nächsten offiziellen Note Molotovs über Kriegsverbrechen am 27.  April 194232 28

Nota Narodnogo Komissara Inostrannych Del SSSR tov. V. M. Molotova „O povsemestnych grabežach, razorenii naselenija i čudoviščnych zverstvach germanskich vlastej na zachvačennych imi sovetskich territorijach“, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 63, Bl. 2–26; abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 171–189 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 195– 215; Auszüge bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 16, S. 143–144; Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 90; für die Langfassung der amtlichen deutschen Übersetzung AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Dok. No. 5. Die deutsche Übersetzung ist auszugsweise abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 16, S. 38–39; engl. Übersetzung in: Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 10–24. 29 Zit. nach der dt. Übersetzung des maßgeblichen Auszugs bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 16, S. 38 (38). 30 Dazu bereits oben Kap. B. II. und B. III. 1. 31 Zur Entstehungsgeschichte und der Veröffentlichung der Erklärung v. 6. Jan. 1942 siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Anm. 67 zu Dok. 16, S. 588; zum Einfluss Vyšinskijs auf die Entstehung der Note v. 14. Okt. 1942 siehe den Nachw. unten Fn. 52. 32 Erklärung v. 27. April 1942 an alle Regierungen, mit denen die sowjetische Regierung diplomatische Beziehungen unterhält, Nota Narodnogo Komissara Inostrannych Del SSSR tov. V. M. Molotova „O čudoviščnych zlodejanijach, zverstvach i nasilijach nemecko-fašistskich zachvatčikov v okkupirovannych sovetskich rajonach i ob otvetstvennosti germanskogo pravitel’stva i kommandovanija za ėti prestuplenija“, abgedr. in NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 200–235 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 228–270; engl. Übersetzung abgedr. in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 24–51.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

erneut aufgegriffen, in der u. a. davon die Rede war, dass die präzedenzlose, auf Plünderung und Zwangsarbeit gerichtete verbrecherische Strategie der deutschen Reichsführung auf einem im Voraus gefassten verbrecherischen Plan beruhen müsse.33 Auch den in der Folgezeit veröffentlichten Noten lag der an die Adresse der deutschen Regierung gerichtete Vorwurf der Planmäßigkeit zugrunde, der regelmäßig mit Hinweisen auf der sowjetischen Regierung vorliegendes Beweis­ material verknüpft wurde.34 Ebenso wie die Zuschreibung der Verantwortung für die verübten Verbrechen auf die Ebene der deutschen Regierung und Militärführung sollten Bezugnahmen auf den systematischen Charakter der verbrecherischen Handlungen eine Konstante in allen öffentlichen Erklärungen der sowjetischen­ Regierung über das Ende des Krieges hinaus bis zum Beginn des Nürnberger Prozesses bilden. Ebenfalls seit Frühjahr 1942 hielt der Begriff der Strafe für begangene Kriegsverbrechen Einzug in die offiziellen Verlautbarungen der sowjetischen Regierung. Frühere Noten hatten sich insoweit noch auf vorsichtige Äußerungen wie etwa „indignantly protests […] against the barbaric violation […] of the elementary rules of international law“35 beschränkt. Trotz der charakteristischen Zuweisung der Verantwortlichkeit an die deutsche Regierung war diesen Verlautbarungen eine ausdrückliche Forderung nach oder Ankündigung von Strafe nicht zu entnehmen. Einen Wendepunkt markierte in diesem Zusammenhang die sowjetisch-polnische Deklaration über Freundschaft und gegenseitige Hilfe vom 4. Dezember 1941, in der beide Regierungen ihre Forderung nach einer Bestrafung der deutschen Verbrecher ausdrücklich kundtaten.36 Auf unilateraler Ebene formulierte die sowjetische Regierung erstmals Ende April 1942 expressis verbis die Forderung nach Bestrafung für Kriegsverbrechen, indem sie der ‚hitlerischen‘ Regierung und ihren Komplizen eine „ernsthafte Bestrafung“ in Aussicht stellte: 33 Erklärung v. 27. April 1942 (Fn. 32), Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 24 (26). 34 Beispielhaft seien hier die Erklärungen des Informbjuro des NKID v. 19.  Dez. 1942, Osuščestvlenie gitlerovskimi vlastjami plana istreblenija evrejskogo naselenija Evropy, abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287–293 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS, T. I, (1946), S. 329–336, engl. Fassung in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S.  57–62, und v. 11.  Mai 1943 genannt, Nota Narodnogo Komissara Inostrannych Del SSSR tov. V. M. Molotova „O massovom nasil’stvennom uvode v nemcko-fašistskoe rabstvo mirnych sovetskich graždan i ob otvetstvennosti za ėto prestu­ plenie germanskich vlastej i častnych lic, ėksploatirujuščich podnevol’nyj trud sovetskich graždan v Genmanii“, abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 313–330, engl. Fassung in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 62–77. 35 Note v. 25.  Nov. 1941 (Fn.  14), Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 7 (10). 36 Deklaracija Pravitel’stva Sovetskogo Sojuza i Pravitel’stva Pol’skoj Respubliki o družbe i vzaimopomošči v. 4. Dez. 1941; Auszüge abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/1, S. 582; Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij Process, T. 1, S. 89–90; Aleksandrov u. a. (Hrsg.), Otvetstvennost’, S. 11.

I. 1. Phase: Verlangen nach ‚harter Bestrafung‘ der deutschen Aggressoren

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„Hitler’s Government and its accomplices will not escape severe punishment for all their unparalleled crimes perpetrated against the people of the U. S. S. R., and against all freedom-­ loving peoples.“37

Hinweise darauf, dass sich vor den Augen der maßgeblichen sowjetischen Entscheidungsträger zu diesem frühen Zeitpunkt bereits ein bestimmtes anwendungsorientiertes Strafkonzept herausgebildet hatte, liegen indes nicht vor. Die pauschal formulierte Forderung nach Strafe bzw. Vergeltung ebnete für den Umgang mit Kriegsverbrechern vielmehr gleichermaßen einen juristischen wie einen ‚politischen‘ Weg. Auch legt die anfänglich ablehnende Haltung des ZK VKP(b) gegenüber dem Vorschlag zur Bildung einer zentralen und koordinierenden Dokumentationssammlungsstelle für auf sowjetischem Territorium begangene Verbrechen den Schluss nahe, dass das Thema der konkreten Kriegsverbrecherbehandlung zunächst einen nachrangigen Stellenwert einnahm. Den nunmehr regelmäßig erhobenen Strafforderungen war nach den Vorstellungen der sowjetischen Regierung primär eine doppelte Wirkung zugedacht: eine warnende gegenüber den deutschen Besatzungsmächten und eine ermutigende gegenüber der eigenen Bevölkerung. Auch in den Ende 1941 aufgenommenen internen Überlegungen über die Nachkriegsplanung fand das Problem des konkreten Umgangs mit den Hauptverantwortlichen der deutschen Aggression zunächst keine über die Wiedergabe von Schlagworten oder politischen Formeln hinausreichende Erörterung. Abgesehen von geopolitischen Themen, insbesondere den Grenzen der Sowjetunion und dem Staatsaufbau der sich darin befindlichen Länder nach Kriegsende, hatten entsprechende Grobplanungen insbesondere finanzwirtschaftliche Fragen zum Gegenstand, nämlich Maßnahmen zur Berechnung der materiellen Kriegsschäden. In einem an Stalin und Molotov gerichteten Brief vom 26. Dezember 1941 schlug etwa der Stellvertreter Molotovs, Lozovskij, für die Nachkriegsphase die Bildung zweier geheimer Vorbereitungskommissionen vor, nämlich einer finanzwirtschaftlichen zur Berechnung der Verluste und Festlegung der Entschädigungskosten, und einer politischen, die sich mit Fragen der Grenzen und staatsorganisatorischen Angelegenheiten befassen sollte.38 Überlegungen zur Bestrafung der Hauptverantwortlichen nach Kriegsende fanden in das Dokument keine­ Aufnahme.

37 Erklärung v. 27. April 1942 (Fn. 32), Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 24 (50). 38 Brief des stellvertretenden Außenkommissars Lozovskij an Stalin und Molotov v. 26. Dez. 1941, abgedr. in: Istočnik, 1995/4 (17), S. 114–115 = Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 15, S. 141–142; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 15, S. 36–37; weiterführend hierzu Sorokina, in: Kritika: Explorations in R ­ ussian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (809 ff.); dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (158 ff.).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

II. Zweite Phase: Allmähliche Konturierung einer regierungsamtlichen sowjetischen Strafkonzeption im Wechselspiel mit westalliierten Modellen zur Ahndung von Kriegsverbrechen II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

1. Die Erklärung vom 14. Oktober 1942: Grundlegende Weichenstellung in der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik a) Einsetzung eines internationalen Straftribunals: Grundstein für ein emanzipiertes sowjetisches Strafkonzept Ein zentraler Anstoß zur Formulierung einer alliierten Kriegsverbrecherpolitik ging aus von der im Palast von St. Jame’s in London am 13. Januar 1942 verabschiedeten Erklärung der Exilregierungen39, in der das Ziel einer gerichtlichen Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen erstmals öffentlich formuliert wurde. Darin erklärten die Exilregierungen „the punishment, through the channel of organised justice, of those guilty of or responsible for these crimes, whether they have ordered them, perpetrated them or participated in them“40 zu einem ihrer wichtigsten Kriegsziele. Die Schuldigen sollten ausfindig gemacht und sistiert werden, „handed over to justice and judged“41. Die UdSSR hatte gemeinsam mit den USA, Großbritannien, den Dominions, Indien und China an der Konferenz­ lediglich im Beobachterstatus teilgenommen.42 Die St. Jame’s-Erklärung zog eine kollektive Note der Exilregierungen an die Alliierten nach sich, in der die Adressaten aufgefordert wurden, eine nachdrückliche Warnung an die für die Gräueltaten Schuldigen auszusprechen. Der an Molotov adressierte Text der Note wurde bei einer Unterredung mit Vyšinskij am 23. Juli 1942 in Kujbyšev durch den Botschafter der tschechoslowakischen Exil­ regierung Zdeněk Fierlinger und des Vertreters des Comité français de la Libération nationale (CFLN) in der Sowjetunion, Roger Garreau, überreicht.43 Beigefügt 39

Deklaration der interalliierten Konferenz im St. Jame’s Palast in London über deutsche Kriegsverbrechen v. 13. Jan. 1942, engl. Fassung abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 1. Halbbd., S. 32–33; russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 90–91 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 278 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 319–320; vgl. hierzu Woodward, British Foreign Policy, Vol. II, S. 277. 40 Ziff. 3 der St. Jame’s-Deklaration (Fn. 88), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 1. Halbbd., S. 32 (33). 41 Ziff. 4 der St. Jame’s-Deklaration (Fn. 88), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 1. Halbbd., S. 32 (33). 42 Kochavi, Prelude, S. 19 f.; Bathurst, AJIL 39 (1945), S. 565 (565). 43 Note der Exilregierungen an die Alliierten an Molotov, überreicht am 23.  Juli 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 1–2; vgl. hierzu Kochavi, Prelude, S. 32 f.; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 35; Lebedeva, Podgotovka, S. 13 ff.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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waren Memoranden der neun Exilregierungen über dokumentierte Gräueltaten in den besetzten Gebieten. Im Namen aller beteiligten Regierungen der St. Jame’sDeklaration wies der Text der Note darauf hin, dass in Anbetracht der immer schlimmere Ausmaße annehmenden Gräuel nur entschiedene Maßnahmen seitens der Alliierten eine warnende Wirkung gegenüber den deutschen Aggressoren würden entfalten können. Insbesondere müsse die Solidarität der Nationen durch eine unmissverständliche Ankündigung der Bestrafung von Hauptverantwortlichen für während des Krieges begangene Verbrechen bekräftigt werden.44 Wie die Materialien des Kommissariats für Äußere Angelegenheiten belegen, sah sich die sowjetische Führung durch diese Aufforderung erstmals dazu veranlasst, einen über die vage Forderung der Strafe hinausgehenden eigenen Standpunkt zu formulieren. Eine offizielle Antwort der sowjetischen Regierung in Gestalt einer mit Molotov zuvor abgestimmten mündlichen Erklärung45 sowie einer von ihm unterzeichneten Note übergab der stellvertretende Außenkommissar­ Lozovskij im Auftrag Molotovs am späten Abend des 14. Oktober 1942 an den tschechischen und französischen Vertreter.46 Die am nächsten Tag in der Zeitung Trud veröffentlichte47 Erklärung markiert den Auftakt zu einer zentralen Etappe in der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik. In der richtungsweisenden Erklärung erfuhr nicht nur der in der kollektiven Note geäußerte Wunsch nach gerichtlicher Aburteilung von Kriegsverbrechern ausdrückliche Unterstützung.48 Im Anschluss hieran wurde vielmehr die Idee eines internationalen Tribunals zur Aburteilung der Hauptverantwortlichen entwickelt. Hinsichtlich der Bestrafung der deutschen Führungsebene erklärte die sowjetische Regierung darin: 44

Note der Exilregierungen (Fn. 44), AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 1 (2). Für den Entwurf der Erklärung Lozovskijs, den Moltov bestätigt hat, siehe AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 57. 46 Für den Wortlaut der Erklärung ‚Zajavlenie sovetskogo pravitel’stva ob otvetstvennosti gitlerovskich zachvatčikov i ich soobščnikov za zlodejanija, soveršaemye imi v okupirovannych stranach Evropy‘ v. 14. Okt. 1942 in russischer Sprache siehe AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 38–43 = AVP RF, f. 06, op. 4, p. 4, d. 35, Bl. 44–49, abgedr. in NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 273–277 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 314–319 = Re­ kunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 93–97, sowie bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 4, S. 76–79; Auszüge auch bei Aleksandrov u. a. (Hrsg.), Otvetstvennost’, S. 14–16; engl. Fassung des ‚Statement of the Soviet Government and the Responsibility of the Hitlerite Aggressors and their Associates for the Crimes they have Committed in the Occupied Countries of Europe‘ v. 14. Okt. 1942, AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Bl. 21–22 (Dok. Nr. 4), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S.  1040–1042 = Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 51–55. Den Ablauf des Treffens mit Fierlinger und Šmitlejn hielt Lozovskij in seinem Tagebuch fest und berichtete hierzu u. a. an Stalin, Molotov und ­Vyšinskij, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 4, d. 35, Bl. 42–43, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 3, S. 74–75. 47 Trud v. 15. Okt. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 58. 48 Dazu hieß es in der Erklärung v. 14. Okt. 1942 (Fn. 46), AVP RF, f. 458, op. 114, p. 405, d. 1, Bl. 21 (22) (Dok. Nr. 4): „The Soviet Government approves of and shares the legitimate desire expressed in the joint note it has received that those guilty of the aforesaid crimes shall be delivered to the hands of justice and prosecuted, and that the sentence shall be put into e­ xecution.“ 45

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen „The Soviet Government considers it necessary to bring without delay before a special International Tribunal and to punish with all the severity of criminal law, any of the leaders of fascist Germany who, in the course of the war, fall into the hands of the authorities of the countries which are fighting against Hitler Germany.“49

Mit dem vorstehend wiedergegebenen Postulat hatte die UdSSR als erste al­ liierte Macht die Forderung nach Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Aburteilung von Hauptkriegsverbrechern öffentlich auf die Standarten gesetzt.50 Dem zitierten Passus lassen sich zweierlei Kernanliegen entnehmen. Zum einen schloss sich die sowjetische Regierung der Forderung nach unverzüglich zu er­ greifenden konkreten Maßnahmen im Hinblick auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen vorbehaltlos an. Zum anderen sollte mit der Berufung eines internationalen Tribunals sichergestellt werden, dass über die Kriegsverbrecherfrage eine gemeinsame und umfassende Entscheidung getroffen werden würde. Das Verlangen nach Gewissheit über die Absichten der westlichen Alliierten hinsichtlich eines gemeinsamen Vorgehens in der Kriegsverbrecherfrage sowie der Wunsch nach gleichrangiger Berücksichtigung sowjetischer Interessen in dem Entscheidungsprozess sollte während der nächsten Monaten die sowjetische Kriegsverbrecherpolitik in hohem Maße bestimmen. Anhand einer Auswertung der im Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation (Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii, AVP RF) aufbewahrten vorbereitenden Entwürfe zur Note vom 14. Oktober 1942 lässt sich nachvollziehen, dass der oben aufgegriffene Passus erst in den letzten Tagen vor der Übergabe der sowjetischen Stellungnahme an den tschechischen und französischen Vertreter in den Text der Note aufgenommen worden war. Bereits am 29. Juli 1942 hatte ­Vyšinskij den ersten Entwurf einer Antwort fertiggestellt und diesen Molotov zur weiteren Prüfung vorgelegt.51 Ein irgendwie gearteter Hinweis auf eine in den Blick zu nehmende Einrichtung eines internationalen Tribunals fand sich in diesem Dokument noch nicht. Vielmehr war in den Entwurf die bereits aus früheren Noten bekannte allgemeine Beteuerung der Entschlossenheit der Sowjetunion aufgenommen worden, dass die Verantwortlichen ihrer harten Strafe nicht ent­gehen würden. Auch in der am 10. Oktober, also vier Tage vor der Über­reichung der endgültigen Fassung an die Exilregierungen, von einem Mitarbeiter des NKID (Umanskij) an Molotov überreichten und für die Publikation bestimmten Fassung der Note fand der Absatz zur Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher vor einem ­internationalen Tribunal weiterhin keinerlei Entsprechung.52 In Anbetracht der recht kurzfristigen Einarbeitung der oben zitierten Passage lässt sich die öffentliche Forderung nach einem Interna 49 Erklärung v. 14. Okt. 1942 (Fn. 47), AVP RF, f. 458, op. 114, P. 405, d. 1, Bl. 21 (22) (Dok. Nr. 4). 50 Bazyler, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 45 (45); Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 36; Pomorski, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 213 (214). 51 Siehe Entwurf der Note von Vyšinskij an Molotov v. 29. Juli 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 59–61.  52 Entwurf der Erklärung v. 10. Okt. 1942, siehe AVP RF, f. 06, op. 4, p. 6, d. 65, Bl. 64–68.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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tionalen Tribunal jedenfalls nicht als Ausdruck einer von langer Hand geplanten und konsequent fortentwickelten öffentlichen Politik in Bezug auf die strafrechtliche Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher werten, auch wenn die UdSSR von der Idee eines juristischen Verfahrens vor einem internationalen Tribunal in der Folgezeit nicht mehr abrücken sollte. Angesichts der im Entstehungsprozess sowjetischer Regierungsdeklarationen zu wahrenden recht schwerfälligen Genehmigungsabläufe vom Referenten als Entwurfsverfasser bis hin zur politischen Führung liegt der Schluss nahe, dass sich die kurzfristige Änderung des Dokuments einer Intervention von höchster Stelle verdankt. Welche Motive insbesondere für diese im Vorfeld nicht abgestimmte Ergänzung des Entwurfstextes bestimmend gewesen sein könnten, soll im Folgenden einer näheren Untersuchung zugeführt werden. b) Die Erklärung vom 14. Oktober 1942 als Manöver im Grenzbereich außenpolitischer Isolation: Hintergründe, Determinanten und Auswirkungen aa) Misstrauen als Beziehungskonstante und eine neuralgische Personalie: Das sowjetische Verhältnis zu Großbritannien und die sowjetische Ungewissheit über das weitere Schicksal Rudolf Heß’ Der politische Hintergrund für die in die sowjetische Erklärung vom 14. Oktober 1942 aufgenommenen Kernforderungen erschließt sich zuverlässig nur unter Berücksichtigung des weiteren historischen Kontextes im Oktober 1942, in den sich die Erklärung situativ eingebettet findet. Insoweit erweist es sich als unerlässlich, die Kriegsverbrecherproblematik lediglich als eine Facette der alliierten Kriegspolitik zu betrachten, die durch vielfältige Wechselwirkungen mit allen anderen politischen Ebenen und Entscheidungsprozessen verknüpft und durch diese bedingt war. Starke Wechselbeziehungen zur Kriegsverbrecherfrage wiesen namentlich die angesichts der militärischen Gesamtsituation jener Monate omni­ präsenten militärstrategischen Erwägungen auf. Für die UdSSR nahm vor diesem Hintergrund die Frage nach der politischen und militärischen Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten einen wesentlichen Stellenwert ein.53 Dies gilt umso mehr, als das sowjetisch-britische Verhältnis durch wechselseitiges Misstrauen erheblich belastet war.54 Auch zum Zeitpunkt der Erklärung vom 14. Oktober 1942 stellten sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der UdSSR als äußerst angespannt dar. Im August 1941 etwa hatte Stalin den sowjetischen Botschafter in London – Ivan Michajlovič Majskij55– über seine­ 53

von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S.  364 ff.; Tyrell, in: Bundesministerium für­ innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 56 ff., 610 ff. 54 Zum Misstrauen Stalins gegenüber Großbritannien und seinen wiederkehrenden Forderungen nach eindeutigen politischen Sicherheiten ausf. Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 56 ff., 607 ff. 55 Ausf. zur Biographie Majskijs siehe Zalesskij, Kto est’ kto, S. 371 f.; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (690).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Einschätzung der Lage ins Bilde gesetzt, der zufolge die „passiv-abwartende Politik“56 der englischen Regierung Hitlerdeutschland zum Vorteil gereichen werde. Wie zerrüttet das Verhältnis tatsächlich war, bezeugt etwa der Umstand, dass­ Stalin in diesem Zusammenhang nicht einmal ausschließen wollte, dass Großbritannien eigentlich eine Schwächung der UdSSR anstrebe.57 Symptomatisch für das Misstrauen, mit dem Stalin Großbritannien begegnete, war auch sein Bemühen um Erlangung rechtlicher Absicherungen gegen Unwägbarkeiten im Lager des Gegenübers, insbesondere durch den Abschluss rechtlich bindender Abkommen zwischen den beiden Staaten. Nachdem die Sowjetunion und Großbritannien am 12. Juli 1941 ein Beistandsabkommen58 geschlossen hatten, drängte Stalin sogleich auf eine bindende Übereinkunft über die politische Basis der militärischen Kooperation, der man auf britischer Seite jedoch ausgesprochen reserviert begegnete.59 Entsprechende Forderungen Stalins fanden nach erheblichem Zögern der britischen Regierung erst im Abschluss des sowjetisch-britischen Bündnisvertrages am 26. Mai 194260 in London Niederschlag, der freilich das durch die britische Verzögerungshaltung genährte Misstrauen Stalins nicht mehr wesentlich zu besänftigen vermochte. Nur wenige Tage nach der Erklärung vom 14. Oktober 1942 teilte Stalin dem Botschafter Majskij in einem Telegramm mit, dass in­ Moskau der Eindruck entstanden sei, Churchill nähme Kurs auf die Niederlage der UdSSR, um sich dann später mit Hitlers Deutschland auf Kosten der Sowjetunion zu ­einigen.61 Die anhaltende Verzögerung der Eröffnung der ‚Zweiten Front‘ in Europa62, Kürzungen von Rüstungslieferungen an die UdSSR und das Ausbleiben der von ­Churchill angekündigten systematischen Bombardierung Berlins63 trugen zur weiteren Verfestigung der ohnehin bereits argwöhnischen Haltung Stalins ge 56 Schreiben Stalins an Majskij v. 30. Aug. 1941, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 4, S. 114–115; zit. nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 4, S. 6–7, hier 6. 57 Schreiben Stalins an Majskij v. 30.  Aug. 1941 (Fn.  56), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 4, S. 6 (6). 58 Britisch-sowjetische Übereinkunft über gemeinsames Vorgehen im Kriege gegen Deutschland v. 12. Juli 1941, abgedr. in Grewe (Hrsg.), Fontes historiae iures gentium = Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 3/1, Dok. 182 a), S. 1274–1275. 59 Vgl. zur britischen Haltung Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 573, Anm. 18. 60 Sowjetisch-britischer Bündnisvertrag v. 26. Mai 1942, abgedr. in Grewe (Hrsg.), F ­ ontes historiae iures gentium = Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd.  3/1, Dok. 182 b), S. 1275–1278. Zu den Hintergründen ausf. Laufer, Pax Sovietica, S. 149 ff. 61 Telegramm Stalin an Majskij v. 19. Okt. 1942, abgedr. in MID SSSR (Hrsg.), SovetskoAnglijskie Otnošenja, T. 1, Dok. 147, S. 294 = Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 30, S.  167 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok.  No  5, S.  80; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 30, S. 67. 62 Ausführlich zur Forderung nach Eröffnung der Zweiten Front als permanenter Konfliktherd zwischen der UdSSR und den Westalliierten etwa Laufer, Pax Sovietica, S. 106 ff. 63 Aufschlussreich insoweit etwa der Brief Stalins an Majskij v. 28. Okt. 1942, AVP RF, f. 059, op. 7, p. 13, d. 5, Bl. 201–206; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 6, S. 80–81. Darin verlieh Stalin seiner Einschätzung Ausdruck, Churchill gehöre wohl zu solchen Politikern, die sich leicht auf Versprechen einlassen, um sie danach zu vergessen oder grob zu­

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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genüber der Sowjetpolitik Großbritanniens bei.64 Insbesondere die baldmöglichste Eröffnung der ‚Zweiten Front‘ in Europa stellte für sowjetische Führung ein zentrales Anliegen dar65, dessen schleppende Realisierung die Beziehungen zwischen der Sowjetunion, den USA und Großbritannien bis 1944 auf äußerst negative Weise beeinflusste.66 Die relativ unvermittelt artikulierte Forderung der Sowjetunion nach einer unverzüglichen Aburteilung der während des Kriegs in Haft geratenen Hauptkriegsverbrecher am 14. Oktober 1942 legt zunächst die Vermutung nahe, dass mit dieser Passage nicht zuletzt auf die gewünschte Verurteilung von Rudolf Heß hingewirkt werden sollte67, der sich seit seiner Landung in Schottland am 10. Mai 194168 als einziger Vertreter der deutschen Führungsebene bereits in alliierter (britischer) Gefangenschaft befand und für deren Vollzug das britische Kriegskabinett bereits mit Beschluss vom 15. Mai 1941 strenge Isolationshaft angeordnet hatte.69 Die Annahme von der zentralen Rolle Heß’ wird insbesondere genährt durch die zentrale brechen. Er habe in Moskau feierlich versprochen, Berlin im September und Oktober intensiv zu bombardieren, habe das Versprechen aber nicht eingehalten, ohne Moskau über seine Motive überhaupt zu unterrichten. 64 Zum Ganzen von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 388 ff.; Böttger, Zweite Front, S. 129; Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 56. 65 Stalin verlieh auch westlichen Medien gegenüber wiederholt seiner Erwartung Ausdruck, dass die westlichen Alliierten die ihrerseits übernommenen Verpflichtungen in der angekündigten Zeit einhalten würden, vgl. Stalins Antworten im Schreiben v. 3. Okt. 1942 auf die Fragen eines Korrespondenten der American News Agency Associated Press, abgedr. in Stalin, War Speeches, S. 37 f. 66 Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 589 (Anm. 71); Loth, Deutsche Frage, S. 30; Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S.  75. In Jahrzehnte später mit Molotov durchgeführten Interviews schilderte dieser, dass­ Stalin auf die Eröffnung der ‚Zweiten Front‘ gedrängt und eine Erhöhung von Materiallieferungen gefordert habe, obwohl ihm bewusst war, dass die Eröffnung der Zweiten Front jedenfalls im Jahr 1942 nicht mehr realisierbar war. Dazu führte er u. a. aus: „We didn’t believe in a second front, of course, but we had to try for it. We took them in: You can’t? But you promised … That was the way.“, zit. nach Resis (Hrsg.), Molotov remembers, S. 47. 67 Vergleichbare Einschätzung bei Segesser, Recht statt Rache, S. 345 f.: „Ziel des sowjetischen Vorstoßes war es wohl auch die britische Regierung davon zu überzeugen, dass der Stellvertreter des ‚Führers‘, Rudolf Heß, der sich seit 1941 in britischem Gewahrsam befand, endlich vor Gericht gestellt werde.“ 68 Zu diesem Vorgang aus sowjetischer Perspektive ausf. Lavrov, in: Lipkin (Hrsg.), Mežduna­ rodnyj krisis 1939–1941, S. 357 (373 ff.); Kochavi, Prelude, S. 36 ff.; zu den Umständen des Überflugs von Heß siehe auch Pätzold/Weißbecker, Heß, S. 261 ff. Zur Wahrnehmung Heß’ in sowjetischen Publikationen siehe ferner Schupljak, in: Pätzold/Weißbecker, Heß, S. 393–409. 69 Meeting of the War Cabinet v. 15. Mai 1941, Ziff. 1 der 50th Conclussions, WM 50 (41), War Cabinet Minutes 1941, S. 26–29, hier S. 27, PRO, CAB/65/18/29, Bl. 121–123, hier Bl. 122 (Vorders.): „Hess should be held by the War Office as a prisoner of war. He was also a prisoner of State, and should be kept in isolation and only allowed visitors approved by the F ­ oreign Office.“ Zur Fassung des entspr. Kabinettsbeschlusses siehe ebd., Beschluss (b): „The War ­Cabinet […] agreed that no visitors should be allowed to see Hess without the approval of the Foreign Office.“

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Stellung, die die Personalie in der folgenden Krise der sowjetisch-britischen diplomatischen Beziehungen70 einnehmen sollte. Sie entbindet indes nicht von einer Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen dieser Forderungsrichtung. Eingedenk des Umstandes, dass die sowjetische Regierung bis zur Erklärung vom 14. Oktober 1942 öffentlich überhaupt keine bestimmte offizielle Kriegsverbrecherpolitik formuliert hatte, barg die im letzten Moment eingefügte und mit der Position der westlichen Alliierten71 nicht koordinierte Aussage immenses Konfliktpotential. Dies gilt umso mehr, als für die sowjetische Regierung bei der Artikulation ihrer Forderung nach gerichtsförmiger Bestrafung der Kriegsverbrecher ersichtlich nicht das Anliegen einer Ahndung von durch Heß in der Sowjetunion begangenen Kriegsverbrechen im Vordergrund stand. Denn dieser war noch vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion in britische Gefangenschaft geraten. Auch das Nürnberger Tribunal verurteilte Heß entgegen der ihm von der Anklage zur Last gelegten Anklagepunkte eins bis vier72 zu lebenslanger Haftstrafe nach Anklagepunkt eins und zwei (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden), nicht dagegen wegen Kriegsverbrechen.73 Die offiziellen sowjetischen Noten prangerten aber – wie aufgezeigt – bis zu diesem Zeitpunkt nur klassische Kriegsverbrechen an, die Heß aufgrund der zeitlichen Abfolge schwerlich zur Last gelegt werden konnten. Im Gegenteil: Zum Zeitpunkt der Gefangennahme Heß’ hatten Sowjetregierung und Deutsches Reich noch intakte diplomatische Beziehungen unterhalten.74 Die zentrale Stellung Heß’ in der Wahrnehmung Stalins und der sowjetische Wunsch nach dessen Überführung in den Zugriffsbereich eines gemeinsamer Zuständigkeit unterliegenden Tribunals dürfte daher vielmehr in dem spezifisch sowjetischen Blick auf den Stellvertreter H ­ itlers und dem Argwohn gegenüber den politischen Ambitionen der Briten begründet 70

Ausf. auch Kochavi, Prelude, S. 36 ff.; Kochavi, SEER 69 (1991), S. 458 (464 ff.); siehe auch Segesser, Recht statt Rache, S. 345 f. 71 Siehe insoweit insbesondere die von Lordkanzler Simon vor dem britischen Oberhaus am 7. Okt. 1942 namens seiner Regierung und nach vorheriger Abstimmung namentlich mit der amerikanischen und französischen Regierung abgegebene Erklärung zur Frage des Umgangs mit den deutschen Kriegsverbrechern, House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577–587, insbes. Col. 579 f. zur tendenziell ablehnenden Bewertung der Option eines Internationalen Tribunals. 72 Anhang A zu Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29–99 (hier S. 75). 73 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. 1, S. 318–386 (hier 318–321); für eine Tabelle der Strafaussprüche siehe IMT, Bd. I, S. 414. Zur Verhandlung gegen Heß vor dem IMT siehe auch­ Pätzold/Weißbecker, in: dies. (Hrsg.), Heß, S. 297 ff. 74 Auf diesen Gesichtspunkt rekurrierte insbesondere die britische Regierung mit dem Ziel, der sowjetischen Forderung nach unverzüglicher Anklage Heß’ den Wind aus den Segeln zu nehmen, siehe Meeting of the War Cabinet v. 20. Oktober 1942, Ziff. 2 der 143rd Conclus­ sions, WM 143 (42), War Cabinet Minutes 1942, S. 103–105, hier S. 104, PRO, CAB/65/28/13, Bl. 73–74, hier Bl. 46 (Rücks.): „The War Cabinet approved the terms of the draft reply read out by the Foreign Secretary, the effect of which was that […] that Hess could not be responsible for any of the misdeeds of which the Germans had been guilty in their invasion of ­Russia, since at the time he had come to this country Germany and Soviet Russia had still been in diplomatic relations.“

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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liegen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Stalins omnipräsente Sorge, Churchill betreibe insgeheim eine Schwächung der UdSSR75, durch die restriktive britische Informationspolitik76 in der Sache Rudolf Heß weitere Nahrung erhielt. In der heutigen Geschichtswissenschaft herrscht zwar weitgehend Einigkeit darüber, dass Heß im Zeitpunkt seines Überflugs nach Großbritannien tatsächlich keine reelle Chance besaß, den Ablauf des Kriegsgeschehens wesentlich zu verändern. Dem Ereignis wird insoweit größtenteils nur marginale Bedeutung bei­ gemes­sen77. In der sowjetischen Wahrnehmung kam Heß seinerzeit indes die Stellung einer politischen Schlüsselfigur zu, von der Stalin – zu Unrecht78 – annahm, Churchill wolle sie für eine womöglich angestrebte Einigung mit Deutschland „in Reserve“79 halten. Nur die unverzügliche Verurteilung des ehemaligen Hitler-­ Stellvertreters vor einem internationalen Tribunal erschien vor diesem Hintergrund aus sowjetischer Sicht geeignet, als nachhaltiges Bekenntnis Großbritanniens gegen Deutschland und für die Koalition mit der UdSSR wahrgenommen zu werden und damit das sich ausbreitende Misstrauen unter den formal verbündeten Mächten einzudämmen. Obwohl sich in den Quellen insoweit keine expliziten Hinweise ausfindig machen lassen, erscheint es darüber hinaus nicht unplausibel anzunehmen, dass die in Stalins Perspektive von Heß ausgehende Gefahr nicht nur in dessen Eigenschaft als potentieller Vermittler eines Separatfriedens und damit Wegbereiter einer gemeinsamen Front gegen die Sowjetunion begründet lag.80 Vor dem Hintergrund der von ihm vormals bekleideten Position des Hitler-­Stellvertreters musste sich aus sowjetischer Sicht nämlich zugleich das Risiko aufdrängen, dass Heß als vormals politisch eingeweihte Person Einzelheiten 75 Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 610. 76 Zur bereits seit 1941 geltenden strikten Informationssperre in Bezug auf die causa Heß vgl. etwa die Erörterung einer abredewidrigen Durchbrechung durch den britischen Informationsminister im September 1943, hierzu Meeting of the War Cabinet v. 2. September 1943, Ziff. 3 der 121st Conclussions, WM 121 (43), War Cabinet Minutes, 1943, S. 1–6, hier S. 6, PRO, CAB/65/35/31, Bl. 107–109, hier Bl. 109 (Rücks.). Zur restriktiven Informationspolitik in der causa Heß siehe etwa auch die Antworten auf entsprechende parlamentarische Anfragen, House of Commons Debates, 13 May 1941, HC Hansard Series 5, Vol. 371, Col. ­1084–1086; 15 May 1941, ebd., Col. 1261–1262; 20 May 1941, ebd., Col. 1391–1393; 27 May 1941, Col. 1701–1703; 10 June 1941, HC Hansard Series 5, Vol. 372, Col. 29–30. 77 Vgl. m. w. Nachw. Pätzold/Weißbecker, Heß, S. 267. 78 Tatsächlich hatte das britische Kriegskabinett schon kurz nach der Gefangennahme von Heß am 15. Mai 1941 unter Hinweis auf „Hess’s record, which was as bloody as that of any of the Nazi leaders“ Einvernehmen dahingehend erzielt, dass die Bestimmung des weiteren Schicksals des Kriegsverbrechers Heß einer nach dem Krieg durch die Alliierten zu treffenden Entscheidung vorbehalten bleiben würde, siehe War Cabinet, 50 th Conclusions v. 15. Mai 1941, WM 50 (41), War Cabinet Minutes 1941 (Fn. 69), S. 27 (Ziff. 1): „He was one of the war criminals whose fate would have to be settled by the Allies after the war.“ 79 Telegramm Stalins an Majskij v. 19. Okt. 1942 (Fn. 61), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 30, S. 67. 80 Vgl. dazu von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S.  354; Pätzold/Weißbecker, Heß, S. 278 ff.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

der deutsch-sowjetischen Beziehungen vor Kriegsbeginn preisgeben könnte. Die Sorge dürfte sich insbesondere auf den Nichtangriffspakt von 1939 und das Geheime Zusatzprotokoll81 gerichtet haben, deren Offenlegung geeignet erschien, der UdSSR gewaltigen politischen Schaden zuzufügen. Auch dies ließ es aus sowje­ tischer Sicht dringend geboten erscheinen, einen alsbaldigen Zugriff auf Heß zu erlangen und auf dessen unverzügliche Aburteilung sowohl in seiner Funktion als potentieller Vermittler als auch in seiner Eigenschaft als Träger kompromittierenden Wissens hinzuwirken. bb) Allianz auf Augenhöhe oder postremus inter pares? Der sowjetische Sonderweg als Reaktion auf die unzureichende Einbindung in die britischen Überlegungen Als weitere Ursache für den mit der sowjetischen Erklärung vom 14. Oktober 1942 einhergehenden bündnispolitischen Alleingang kommen die von der Sowjetunion als Provokation empfundenen Umstände der Schaffung der Kommission der Vereinten Nationen zur Verfolgung der Kriegsverbrecher (UNWCC) in Betracht.82 Die sich zum Zeitpunkt der Erklärung just vollziehende Gründung der UNWCC sollte sich als erhebliche Belastung für die Zusammenarbeit der Koalitionspartner erweisen, deren Nährboden bereits vor der Einleitung erster konkreter Maßnahmen zur Schaffung des Gremiums bereitet war. Mit Erklärung vom 3. Oktober 1942 hatte die britische Regierung Moskau über die bevorstehende Erklärung des Lordkanzlers Simon im House of Lords zur offiziellen britischen Haltung in Bezug auf die Kriegsverbrecherfrage in Kenntnis setzen wollen.83 Die Note wurde der sowjetischen Botschaft jedoch erst mit mehrtägiger Verspätung am 6. Oktober 1942 und damit nur einen Tag vor Simons Erklärung im Oberhaus am 7. Oktober 194284 zugestellt. In der Sache wies sie auf das – intern zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten in konkreten Vorbereitungshandlungen begriffene85 – Vorhaben der britischen Regierung hin, „eine Kommission zur Erhebung der entsprechen 81

Siehe Kap. G., Fn. 129. Hierzu ausf. Lipinsky, in: Lipkin (Hrsg.), Meždunarodnyj krisis 1939–1941, S. 23 ff.; monographische Bearbeitung der Thematik bei Lipinsky, Zusatzprotokoll (2004). 82 Zur Stellung und Rolle Großbritanniens bei der Bildung der UNWCC vgl. z. B. Kochavi, EHR 423 (1992), S. 323–349. 83 Note des britischen Außenministeriums an Majskij v. 3. Okt. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 1–2, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 2, S. 73–74; dt. Übersetzung der Note in Auszügen bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 603, Anm. 128. 84 Vgl. zur Debatte zum Tagesordnungspunkt „punishment of war criminals“ im britischen House of Lords am 7. Okt. 1942 den stenographischen Bericht zur Sitzung, House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 555–594; für die Erklärung des Lordkanzlers ebd., Col. 577–587; abgedr. auch in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 846–852. 85 Vgl. insoweit die dem amerikanischen Botschafter in London bereits im August 1942 überreichten Dokumente zur Einsetzung einer solchen Kommission, Proposal for a United ­Nations

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den Fakten unter Heranziehung fachkundiger Vertreter der Vereinten Nationen“86 zu bilden. Diese Absicht solle bereits in der bevorstehenden Debatte im Oberhaus kommuniziert werden. In der Note wurde die sowjetische Regierung ferner dazu eingeladen, sich der dargelegten Politik anzuschließen, da die Zustimmung der­ alliierten Regierungen zum dargelegten britischen Standpunkt den „Wert“ einer solchen Erklärung „erheblich erhöhen“ würde.87 Dass das für eine etwaige Re­ aktion der sowjetischen Seite eröffnete Zeitfenster in Anbetracht der Tragweite der Thematik und des hierdurch ausgelösten Abstimmungsbedarfs selbst bei sofortiger Zuleitung des Schreibens äußert knapp bemessenen war, dürfte der britischen Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst gewesen sein.88 Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Briten das Ausbleiben einer sowjetischen Reaktion bereits mangels angemessener Reaktionsfrist bewusst in Kauf genommen hatten.89 Die sowjetische Regierung reagierte dementsprechend verärgert, ins­besondere angesichts des Umstands, dass die vorbereitete Erklärung­ Simons nach vorheriger informeller Absprache mit den Exilregierungen und den USA verlesen wurde.90 Eine Antwort aus dem Kreml auf das ihr am 7. Oktober 1942 zugegangene Schriftstück traf erwartungsgemäß bis zur Erklärung Simons am 7. Oktober nicht ein. Mit Hinweis auf die von Roosevelt am gleichen Tag abgegebene Erklärung zur Behandlung von Kriegsverbrechern91 hob Simon vor dem Oberhaus sodann die gegenseitige Unterstützung der amerikanischen und britischen Regierung unter Bezugnahme auf die zustimmenden Antworten der Exilregierungen und des französischen Nationalkomitees hervor. Die sowjetische Perspektive fand in der Rede lediglich im Zusammenhang mit den laufenden Konsultationen mit der UdSSR, Commission on Atrocities, abgedr. als Anhang zum Schreiben des britischen Botschafters­ Winant an Roosevelt v. 5. Aug. 1942, FRUS 1942, Bd. I, Encl. 1, S. 49–50; Suggested Func­ tions for a United Nations Commission for the Investigation of War Crimes, ebd., Encl. 2, S. 51. 86 Note des britischen Außenministeriums an Majskij v. 3.  Okt. 1942 (Fn.  84), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 603, Anm. 128. 87 Ü. d. Verf., Note des britischen Außenministeriums an Majskij v. 3. Okt. 1942 (Fn. 83), AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 1 (1). 88 Die amerikanische Regierung etwa war über die diesbezüglichen Planungen Großbritanniens bereits frühzeitig nicht nur in Kenntnis gesetzt, sondern zur aktiven Mitwirkung an der Fortentwicklung der frühen britischen Konzeptionen gebeten worden, vgl. das Schreiben des britischen Botschafters Winant an Roosevelt v. 5. August 1942, FRUS 1942, Bd. I, Encl. 1, S. 48–51. 89 Vgl. auch Kochavi, Prelude, S. 34. 90 Kochavi, Prelude, S. 34; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 604, Anm. 129. Unmissverständlich in diesem Zusammenhang etwa Stalins spätere Ausführungen während der Unterredung mit Kerr am 5. Nov. 1942; Stalin betonte mehrfach, dass der UdSSR die Möglichkeit genommen worden war, auf die Note v. 3. Okt.1942 vor Simons Erklärung zu reagieren. Molotov wiederum führte aus, man habe die UdSSR vor vollendete Tatsachen gestellt, siehe zum Vorstehenden den Bericht des Chefübersetzers des NKID Vladimir Nikolaevič Pavlov, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 14, S. 94–100. 91 Erklärung des Präsidenten Roosevelt v. 7. Okt. 1942 zur Verfolgung von Kriegsverbrechern, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/2, S. 526–527.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

China und den Dominions Berücksichtigung.92 In seinen Ausführungen zur Sichtweise der britischen Regierung93 in der Kriegsverbrecherfrage setzte sich Simon ausführlich mit den von seinen Vorrednern teilweise schon in die Debatte eingeführten Möglichkeiten auseinander, deutsche Kriegsverbrecher einer Aburteilung zuzuführen, namentlich durch Verfahren vor Militärgerichten, nationalen Gerichten oder auch vor einem internationalen Tribunal.94 Nachdem er insbesondere zu letzterem zahlreiche praktische Problemquellen aufgezeigt hatte, die einer raschen Einsetzung eines solchen Spruchkörpers in praxi entgegen stehen könnten (namentlich die erforderliche Einigung hinsichtlich der Sprachenfrage, der Gerichtsbesetzung, des anzuwendenden Rechts und der Verfahrensordnung95), schloss Simon seine Ausführungen zu diesem Komplex mit einer in der Tendenz eher ablehnenden Aussicht in Bezug auf die Einsetzung eines internationalen Tribunals96, ohne indes eine abschließende Festlegung in der Sache – auch zum Umgang mit womöglich außergerichtlich zu behandelnden ‚außergewöhnlichen Fällen‘97 – 92 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (585) = insoweit auch abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 846 (851): „This proposal is also one which is welcomed by our European Allies established in London and by the Fighting French who have all associated themselves with it. We are, of course, also in communication with Soviet Russia and China on the point as well as with the Dominions and India, who are further away, but we are still awaiting replies.“ 93 Vgl. zur Übereinstimmung der Erklärungen Simons mit der Position der britischen Regierung Simon, House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (578): „I have […] some observations to make, some announcements to make, which represent the views not only of this Government but also of friendly Governments in alliance with us […].“ 94 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (578–580). 95 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (579 f.). Vgl. insbesondere die Ausführungen zu den aus der Unterschiedlichkeit der nationalen Rechtsordnungen resultierenden Problemen bei der Einigung auf eine bestimmte Verfahrensordnung: „I think myself […] that one of the greatest difficulties of all […] would be procedure; for the procedure which is understood and followed in a British Court is completely unlike the methods which are followed elsewhere.“ (ebd., Col. 580). 96 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (580): „I think that we shall probably be wise to put our main trust, as far as a tribunal goes, in tribunals which do not call themselves international.“ Die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Einsetzung eines internationalen Gerichts findet bereits in den vorbereitenden Dokumenten Anklang, die dem amerikanischen Botschafter Winant im Sommer 1942 seitens der britischen Regierung übermittelt worden waren (Fn. 85): „The suggestion of some sort of international court for the trial of war criminals should be deprecated. Nor is it necessary or desirable to create a new body of law, for war crimes are already suficiently well defined.“ Siehe ‚Proposal for a United Nations Commission on Atrocities‘, abgedr. als Anhang zum Schreiben Winants an Roosevelt v. 5. August 1942, FRUS 1942, Bd. I, Encl. 1, S. 49–50, hier S. 50 (Ziff. 2). 97 Die von Simon ausdrücklich offen gelassene (House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 [580]) Frage des Umgangs mit „exceptional cases“ dürfte als Hinweis auf die britische Präferenz für eine ‚politische Entscheidung‘ in Bezug auf die Hauptkriegsverbrecher zu versehen sein, vgl. insoweit Schreiben von Kerr an Molotov v. 5. Nov. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 18, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. 15, S.  100–101; dt. Übersetzung in Auszügen bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 605, (Anm. 139).

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zu treffen. Vielmehr verwies er auf die in jedem Fall sich erhebende Notwendigkeit, der verantwortlichen Akteure überhaupt habhaft zu werden sowie entsprechende Beweise zur Führung des Schuldnachweises zusammenzustellen und für den Prozessfall vorzuhalten.98 Dem letztgenannten Bedürfnis trug der von ihm präsentierte Vorschlag zur Schaffung einer internationalen Beweissammlungskommission Rechnung. Mehrere Wochen darauf, am 29. Oktober 1942, informierte die britische Regierung den Kreml in einer weiteren Note über ihre Vorschläge zum Statut und die Funktionen der in Aussicht genommenen Kommission.99 Ein von Molotov daraufhin am 3. November 1942 zur Bestätigung an Stalin vorgelegter Entwurf eines Antwortschreibens wurde von diesem nach Vornahme einer redaktionellen Ergänzung zur Freigabe genehmigt100 und der britischen Seite als formelle Antwort aus Moskau auf beide Mitteilungen am 4. November 1942 überreicht.101 Molotov brachte in der genehmigten Endfassung zunächst die massive Missbilligung der sowjetischen Regierung gegenüber dem Umstand zum Ausdruck, dass der sowjetischen Regierung im Vorfeld der Erklärung vor dem Oberhaus am 7. Oktober 1942 keine ausreichende Möglichkeit eingeräumt worden war, der britischen Regierung rechtzeitig ihren Standpunkt zur Kenntnis zu bringen. Das Schreiben nahm im Weiteren Bezug auf die bereits in der Erklärung vom 14. Oktober 1942102 entfaltete Idee von der unverzüglichen Aburteilung von Hauptkriegsverbrechern vor einem internationalen Tribunal und bekräftigte den insoweit ein­ genommenen Standpunkt. Stalin sah sich durch das von ihm als Affront wahr­ genommene britische Vorgehen in seinem Misstrauen gegenüber London bestärkt und wertete die Einsetzung der von den Briten favorisierten Kommission als Verzögerungstaktik gegenüber der von der Sowjetunion geforderten unverzüglichen Aburteilung der maßgeblichen Kriegsverbrecher vor einem internationalen Tribunal. Seine eigenhändige Ergänzung in dem ihm von Molotov vorgelegten Entwurf betraf denn auch gerade den Zeitpunkt der Einrichtung eines Internationalen Tribunals, die nicht auf die Zeit nach dem Abschluss eines Waffenstillstands ver-

98 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (582). 99 The British Secretary of State for Foreign Affairs (Eden) to the Soviet Ambassador in the United Kingdom (Maisky), 29. Okt. 1942, FRUS 1942, Bd. I, S. 63–64; für den Text der russ. Fassung siehe AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 3–4, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 7, S. 81–83. 100 Entwurf der Note v. 3. Nov. 1942 (Fn. 101), mit Anmerkungen und zustimmendem Vermerk Stalins, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 9–12, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 9, S. 86–89. 101 Erklärung an die brit. Regierung v. 4.  Nov. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p.  14, d.  137, Bl. 5–8, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 33, S. 171–174; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  1, Dok. 33, S.  71–74; für die engl. Fassung siehe Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 1038–1039. 102 Erklärung v. 14. Okt. 1942 (Fn. 46).

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schoben, sondern „jetzt, noch vor Kriegsende“103 erfolgen sollte. Eine K ­ ommission der ­Vereinten Nationen, die sich lediglich mit der Sammlung von Beweisen beschäftigte, könne „die interessierten Völker noch nicht zufrieden stellen“104, hieß es sodann im Schreiben Molotovs. Mit Hinweis hierauf drängte die sowjetische Regierung auf die Verknüpfung der Arbeit einer solchen Kommission mit der unverzüglichen Aburteilung der „Führungspersonen der verbrecherischen Hitler­ clique“105 vor einem internationalen Tribunal und ihrer strengen Bestrafung. Gleichwohl wurde die Arbeit der geplanten Kommission u. a. wegen der Sammlung des Anklagematerials und der Beweismittel sowie der vertrauensstiftenden Wirkung für die Völker allgemein als eine im Grundsatz durchaus positiv zu bewertende Maßnahme gewertet. 2. Der antibritische Pravda-Leitartikel vom 19. Oktober 1942: Aufmacher mit Eskalationspotential Nur fünf Tage nach der Erklärung vom 14. Oktober 1942 trat die mit der Person Rudolf Heß verknüpfte Problematik noch deutlicher zu Tage. In der sowjetischen Tageszeitung Pravda erschien ein Artikel, der die britische Regierung wegen ihres Umgangs mit Heß aufs schärfste kritisierte.106 Der Artikel führte insbesondere aus, dass die fehlende Bereitschaft der britischen Regierung, Heß noch vor Kriegsende zu bestrafen, nur eines bedeuten könne, nämlich, dass die Regierung ihn als Boten Hitlers betrachte und Großbritannien daher ein Zufluchtsort für Verbrecher sei.107 Diese Anschuldigung löste in britischen Diplomatenkreisen Empörung aus.108 Den auch in der Zeitung der sowjetischen Botschaft in London abgedruckten Artikel ließ Churchill dem König, dem Premierminister und den Mitgliedern des Kriegskabinetts zukommen.109 In einer Unterredung zwischen dem sowje­ tischen Botschafter Majskij und Eden am darauffolgenden Tag machte der bri 103 Ü. d. Verf., handschriftl. Ergänzung Stalins, eingefügt auf S. 4 des Entwurfs (Fn. 100), AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 9 (12). 104 Erklärung an die brit. Regierung v. 4. Nov. 1942 (Fn. 101), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 33, S. 71 (73). 105 Erklärung an die brit. Regierung v. 4. Nov. 1942 (Fn. 101), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 33, S. 71 (73). 106 „Prestupnuju gitlerovskuju kliku k otvetu“ (ohne Verfasser), Pravda v. 19.  Okt. 1942 (No 292), S. 1. Für ins Englische übersetzte Auszüge siehe Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 910, Anm. 1; vgl. zu dem Konflikt weiterführend auch Kochavi, Prelude, 37 f.; Kochavi, SEER 69 (1991), S. 458 (464 ff.). 107 Pravda v. 19. Okt. 1942 (No 292), S. 1 (Fn. 106). Zur tatsächlichen Haltung der britischen Regierung siehe demgegenüber den Nachw. oben Fn. 78. 108 Vgl. Kommentare des britischen Außenministeriums zum Zeitungsartikel der Pravda über Rudolf Heß v. 19. Okt. 1942, abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 910–912; siehe auch Woodward, British Foreign Policy, Vol. II, S. 279; Kochavi, Prelude, S. 37. 109 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 12, S. 92 (93, Anm. 1).

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tische Außenminister deutlich, dass ein solcher Ton zwischen Verbündeten in­ akzeptabel und das sowjetische Verhalten unbegreiflich sei.110 Majskij wiederum gab die sowjetische Sicht auf die Sachlage wieder. Insbesondere nahm er auf das als Affront empfundene Vorgehen der britischen Regierung im Vorfeld der Erklärung des Lordkanzlers Simon Bezug. Die Art und Weise, wie Großbritannien in der Kriegsverbrecherfrage auf die UdSSR zugegangen war, sei als unangemessen empfunden worden. Er berief sich dabei vor allem auf die verspätete Einbeziehung der UdSSR in den (beginnenden) Prozess der Gründung der Beweissammlungskommission UNWCC.111 Sowohl die sowjetische als auch die chinesische Regierung seien über die Linie der britischen Regierung in der Kriegsverbrecherfrage und die Pläne zur Gründung einer Kommission der Vereinten Nationen bewusst nur sehr kurzfristig informiert worden. Die Unterredung veranschaulicht die komplexe Verflechtung der Kriegsverbrecherfrage mit anderen Ebenen der alliierten Zusammenarbeit. So gab Majskij in der Unterredung mit Eden namens der sowjetischen Regierung zu verstehen, dass diese den Vorwurf einer aus sowjetischer Sicht unangemessenen Vorgehensweise der Briten gegenüber der Sowjetunion in der Kriegsverbrecherfrage nicht weiterzuverfolgen gedenke. Er räumte sogar ein, dass die hierüber entstehende Ver­ ärgerung keineswegs den wahren Grund für die Aussagen in Bezug auf Heß in der Pravda dargestellt habe. Vielmehr wies er auf die tiefe Enttäuschung hin, die in der Sowjetunion in der Frage der Zweiten Front112 entstanden sei und griff Fragen der Rüstungslieferungen und der Bombardierung Berlins auf.113 Eine offizielle Reaktion der britischen Regierung auf die von der Sowjetunion im Zusammenhang mit Heß erhobenen Vorwürfe und Forderungen erfolgte im Rahmen der am 21. Oktober 1942 anberaumten Fragestunde des britischen Unterhauses. Bei diesem Anlass verneinte Eden vor dem Hintergrund der am Vortag im Kriegskabinett vereinbarten Sprachregelung114 die Frage des Unterhausabgeordneten Driberg, ob dem sowjetischen Vorschlag hinsichtlich Heß’ unverzüglicher gerichtlicher Aburteilung Folge geleistet würde. In Kenntnis der sowjetischen Sensibilisierung für die Thematik115 versicherte Eden aber, dass Heß nicht anders zu 110

Eine Darstellung dieser Unterhaltung befindet sich in einem Telegramm von Außen­ minister Eden an den Botschafter Großbritanniens Kerr v. 25.  Okt. 1942, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 933, Anm. 3; Woodward, British Foreign Policy, Vol. II, S. 279. 111 Vgl. auch Kochavi, Prelude, S. 61. 112 W. Nachw. hierzu in Fn. 63. 113 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 933 f. Anm. 3; vgl. auch Kochavi, Prelude, S. 40. 114 Meeting of the War Cabinet v. 20. Oktober 1942, Ziff. 2 der 143rd Conclussions, WM 143 (42), War Cabinet Minutes 1942, S. 103–105, hier S. 104, PRO, CAB/65/28/13, Bl. 73–74, hier Bl. 46 (Rücks.). 115 Vgl. War Cabinet, 143rd Conclussions v. 20. Oktober 1942, WM 143 (42), War Cabinet Minutes 1942 (Fn. 114), S. 104 (Ziff. 2): „The War Cabinet were informed that considerable attention was being paid to this matter in the Soviet Press.“

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behandeln sein würde als nach dem Verfahren, welches von den Vereinten Nationen für Kriegsverbrecher auszuarbeiten wäre, wobei die sowjetische Stellungnahme hierzu noch ausstehe. Er versicherte gleichzeitig, dass Heß niemals als Bote oder Vertreter Hitlers behandelt worden sei oder werden würde und dass ihm kein diplomatischer bzw. privilegierter Status eingeräumt werden würde.116 Am 26. Oktober 1942 gab das britische Kriegskabinett mit Rücksicht auf das fortbestehende sowjetische Misstrauen gegenüber der causa Heß sodann die Anfertigung eines vollständigen Dossiers als Quelle und Grundlage für ergänzende Mitteilungen an die Sowjetregierung in Auftrag, mittels derer die Vorbehalte des sowjetischen Bündnispartners nach Möglichkeit eliminiert werden sollten.117 3. Der sowjetisch-britische Meinungsaustausch am 5. November 1942: Standortbestimmung und behutsame Annäherung Ein direkter Meinungsaustausch zwischen Stalin und Molotov einer- und dem britischen Botschafter in Moskau, Archibald Clark Kerr, andererseits fand am 5. November 1942 in Moskau statt.118 Das in seinen Einzelheiten umfassend dokumentierte Gespräch verdient nicht nur deswegen besondere Beachtung, weil Stalin darin die Beweggründe seiner aktuellen Kriegsverbrecherpolitik und seine Einschätzung des Verhältnisses zu Großbritannien dezidiert zum Ausdruck brachte. Seine zum Gesprächsverlauf am 5. November nachgewiesenen Äußerungen stellen

116 Für die Anfragebeantwortung Edens siehe House of Commons Debates, 21 October 1942, HC Hansard Series 5, Vol. 383, Col. 1943–1944, hier Col. 1943: „In our judgment there is no cause to apply to Hess treatment other than that now being elaborated by the United Nations for dealing with war criminals, wherever they may be. Proposals for the establishment of a United Nations Commission for the investigation of War Crimes have been submitted to and accepted by the United States Government and all the Allied Governments now established in London. We still await the reply of the Soviet Government. I should perhaps add that from the moment of Hess’s capture, which event as the House will recall took place on 10th May, 1941, and before Germany’s attack upon Soviet Russia, Hess has been treated as a prisoner of war. There has never been nor can there be any question of treating him as an envoy or of giving him any form of diplomatic or privileged status. All concerned may rest ­assured of this.“ Auszugsweise abgedr. auch in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 914–915. 117 Meeting of the War Cabinet v. 26. Oktober 1942, Ziff. 2 der 145th Conclussions, WM 145 (42), War Cabinet Minutes 1942, S. 110–113, hier S. 112, PRO, CAB/65/28/15, Bl. 80–82, hier Bl. 81 (Rücks.): „In the course of discussion it was stated that the Russians were still very suspicious over the Hess affair, and thought that they had not been given the full facts. It was urged that we might make an effort to dispel their suspicions.“ 118 Der genauere Inhalt des Gesprächs ist zum einen in einem ausführlichen Bericht des Chefübersetzers des NKID Vladimir Nikolaevič Pavlov und zum anderen in dem zusammenfassenden Telegramm Kerrs an den britischen Außenminister überliefert. Der sowjet. Bericht von Pavlov ist abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 14, S. 94–100, Kerrs Telegramm v. 6.  Nov. 1942 ist abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 965–967.

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sich unter den bis in die Gegenwart sicher überlieferten Aussagen Stalins zudem als eine der explizitesten Positionsbestimmungen in Bezug auf dessen Vorstellung von einem Gericht über die Hauptkriegsverbrecher dar. Das Gespräch diente aus britischer Perspektive vornehmlich dem Zweck, gegenüber dem sowjetischen Machthaber Stellung zu der von britischer Seite als provokant und undiplomatisch wahrgenommenen Art zu beziehen, mit der der sowjetische Bündnispartner strittige Angelegenheiten zu handhaben pflegte. In Verfolgung dieses Anliegens überreichte der britische Botschafter in Moskau Kerr Stalin und Molotov eine Erklärung der britischen Regierung, in der insbesondere zum Pravda-Artikel Stellung bezogen wurde.119 In dem Schriftstück hob die britische Regierung eingangs zwar die Bedeutung des Bündnisses der Länder hervor, stellte aber auch fest, dass das Verhalten der Sowjetunion im Fall Rudolf Heß als kontraproduktiv und den gemeinsamen Zielen abträglich bewertet worden sei. Im Anschluss an die Überreichung der Note machten Kerr und Stalin den Inhalt des beanstandeten Artikels zum Gegenstand einer eingehenden Diskussion, in d­ eren Verlauf insbesondere mehrere konkrete Formulierungen er­örtert wurden. Stalin stimmte Kerr schließlich in dessen Beurteilung bei, dass der Artikel einige ­ talin und Modie britische Regierung massiv attackierende Aussagen enthalte. S lotov sprachen ihrerseits den Umstand an, dass man die UdSSR mit der Erklärung des Lordkanzlers Simon vor dem House of Lords über die offizielle britische Haltung zur Kriegsverbrecherfrage am 7. Oktober 1942 vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Die Aufforderung zur Abgabe einer Stellungnahme sei der sowjetischen Botschaft erst am 6. Oktober 1942 zugegangen. Mit der deutlich zeitverzögerten Zuleitung des ohnehin schon reichlich nah am Termin der Rede verfassten Schriftstücks sei die UdSSR jeder Möglichkeit einer rechtzeitigen Re­aktion beraubt worden, während die von Lordkanzler Simon verlautbarte britische Position mit anderen Regierungen ausweislich der Regierungserklärung120 bereits im Vorfeld abgestimmt worden sei.121 Die nunmehr von Seiten Großbritanniens zum Ausdruck gebrachte Kritik an der als provokant empfundenen sowjetischen Kommunikationspolitik wiesen Stalin und Molotov mit Hinweis auf die in der britischen Verantwortungssphäre verorteten eskalationsbegründenden Umstände als unangemessene Belehrung zurück.122 Darauf angesprochen erwiderte Kerr,­ 119 Die englische Fassung der Note v. 3. Nov. 1942 ist abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 1042–1043; für die russ. Fassung AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 19–20, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 12, S. 92–93. 120 House of Lords Debates, 7 October 1942, HL Hansard Series 5, Vol. 124, Col. 577 (583). 121 Bericht des sowjet. Chefübersetzers des NKID Pavlov über das Treffen v. 5. Nov. 1942, RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11–21, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 14, S. 94–100, hier S. 95. 122 In diesem Zusammenhang konfrontierte Stalin Kerr etwa unmittelbar mit folgender Frage: „Nennen Sie das etwa Kooperation? In dieser Note will man uns tatsächlich darüber belehren, was unter Kooperation zu verstehen ist.“ Ü. d. Verf., Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (12).

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Außenminister Eden sei beim Verfassen der nunmehr überreichten und von sowjetischer Seite als belehrend empfundenen Note ersichtlich davon ausgegangen, dass die Einladung der UdSSR bereits am 3. Oktober 1942 zugeleitet worden war. Molotov wollte diesen Einwand indes nicht gelten lassen. Er widersprach der von Kerr vorgetragenen Rechtfertigung vehement mit Hinweis auf die in unmittel­barer Reaktion auf das Erscheinen des Artikels am 15. Oktober 1942 veranlasste Einbestellung Majskijs durch Eden123 und die vom sowjetischen Botschafter in diesem Kontext bereits bekundete Missbilligung gegenüber den Abläufen im Vorfeld der Erklärung des Lordkanzlers, namentlich dem verspäteten Eingang der Erklärung in der sowjetischen Botschaft. Kerr musste schließlich einräumen, dass ihm der diesbezügliche Kenntnisstand Edens bekannt sei und er hierfür keine Schuld trage.124 Neben der Überbringung der Missfallensbekundung zur aggressiven Rhetorik des Artikels nahm die britische Seite die Unterredung aber auch zum Anlass, Stalin über die Umstände und Bedingungen der Inhaftierung Rudolf Heß’ aufzuklären, um dem offenkundigen sowjetischen Informationsbedürfnis insoweit Rechnung zu tragen, weiteren Attacken des sowjetischen Bündnispartners entgegen zu wirken und damit das allfällige Misstrauen einzudämmen. Mit einem vom britischen Kriegskabinett durch Beschluss vom Vortag zur Kommunikation an die Sowjetregierung freigegebenen125 Dokument wurde Stalin überblickartig u. a. über die Zeit und die Umstände von Heß’ Ankunft in Schottland sowie über Personen in Kenntnis gesetzt, die seit diesem Zeitpunkt Gespräche mit Heß geführt hatten. Auch der Inhalt der jeweiligen Vernehmungen wurde knapp skizziert.126 In einem vom Kriegskabinett zum Zwecke der Weiterleitung an die Sowjetführung gesondert angeforderten127 und von Kerr ebenfalls überreichten Begleitdokument waren Einzelheiten zum (geistigen) Gesundheitszustand Heß’ niedergelegt, die mit Aus-

123 Siehe Telegramm von Außenminister Eden an den Botschafter Großbritanniens Kerr v. 25. Okt. 1942, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 933, Anm. 3. 124 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (13). 125 Meeting of the War Cabinet v. 4.  Nov. 1942, Ziff.  1 (Beschl. (1)) der 150 th Conclus­ sions, WM 150 (42), War Cabinet Minutes 1942, S. 131–135, hier S. 133, PRO, CAB/65/28/20, Bl. 96–98, hier Bl. 97 (Vorders.); zur Beauftragung des zugrunde liegenden Dossiers siehe bereits War Cabinet, 145th Conclusions v. 26. Okt. 1942, WM 145 (42), War Cabinet Minutes 1942 (Fn. 117), S. 112 (Ziff. 2). 126 Note der brit. Botschaft, überreicht von Kerr an Stalin am 5.  Nov. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 21–23 (russ. Übersetzung), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 11, S. 90–92; für die vom Kriegskabinett bewilligte und in die Note v. 5. Nov. 1942 wörtlich überführte britische Vorlage siehe Memorandum von Lord Privy Seel an das Kriegs­ kabinett, ‚The Facts about Rudolf Hess: Facts as regards Herr Hess’s Arrival in Great Britain so far as known to His Majesty’s Government‘, WP (42) 502 v. 2. Nov. 1942, 3 Seiten, PRO, CAB/66/30/32, Bl. 185–186. 127 Vgl. War Cabinet, 150th Conclussions v. 4. Nov. 1942, WM 150 (42), War Cabinet ­Minutes 1942 (Fn. 125), S. 133 (Ziff. 1, Beschl. (2)).

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zügen aus psychiatrischen Befunden angereichert waren.128 Im Zuge des sich anschließenden Meinungsaustauschs zum weiteren Schicksal des Kriegsgefangenen Heß legte Stalin sein mit dieser Personalie verknüpftes Haupterkenntnisinteresse offen: die über Heß hinausreichende Frage nämlich, ob man auf britischer Seite gedenke, deutsche Kriegsverbrecher nach Kriegsende nach Deutschland zurückzuführen, ob also etwa Heß tatsächlich nach Deutschland zurückgeschickt werden würde, und, falls bejahend, ob eine solche Politik gegebenenfalls auch für die Überstellung anderer Kriegsverbrecher wie Goebbels Anwendung finden würde, sollten diese im Laufe des Krieges in England landen und zu Kriegsgefangenen erklärt werden.129 Dahinter verbarg sich die keineswegs vorgeschoben erscheinende Befürchtung Stalins, die Sowjetunion würde ein auch nur partieller Zugriff auf die in westalliierte Gefangenschaft geratenden Hauptakteure dauerhaft verwehrt bleiben, sollten diese als Gefangene in den Zuständigkeitsbereich einer durch westalliierte Initiative mit Souveränität ausgestatteten Nachkriegsordnung auf deutschen Boden überführt werden. Kerr versicherte Stalin insoweit, dass Kriegsverbrecher vom Gewicht eines Heß oder Goebbels keinesfalls an einen deutschen Nachkriegsstaat überführt werden würden.130 Über die mit der sowjetischen Besorgnis eng verbundene Grundsatzfrage der generellen Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern und der insoweit identifizierten Notwendigkeit der Herbeiführung einer gemeinsamen Entscheidung der Alliierten konnte bei diesem Gespräch Konsens erzielt werden. Kerr versicherte Stalin demnach zunächst, dass Kriegsverbrecher wie Heß auch nach Überzeugung der britischen Regierung einer Bestrafung zugeführt werden müssten. Darüber hinaus verlieh er der Haltung seiner Regierung Ausdruck, wonach es hierüber eine gemeinsame Entscheidung der Verbündeten herbeizuführen gelte und kein Land unilateral agieren dürfe.131 Bei der weiterhin offenen Frage über Art und Richtung der ins Auge gefassten ‚gemeinsamen Entscheidung‘ führte dieses Treffen (zumindest äußerlich) zu einer sonderbaren Annäherung. Die insoweit entwickelte offizielle Position seiner Regierung brachte Kerr Stalin zur Kenntnis, indem er diesem aus einem Telegrammauszug des britischen Außenministers Eden Ausführungen zur Idee eines­

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Memorandum von Lord Privy Seel an das Kriegskabinett, ‚The Facts about Rudolf Hess’, WP (42) 520 v. 10.  Nov. 1942, 3 Seiten, PRO, CAB/66/30/50, Bl.  264–266. Aus einem Gutachten des Heß seit seiner Landung begutachtenden Psychiaters wird u. a. folgende Passage wiedergegeben (ebd., S. 1, Bl. 265): „Hess is a man of good intelligence but of poor character and personality. He had certainly been over-anxious and ‚neurotic‘ earlier in life. Whilst under observation here he has shown definite delusions and for more than half his time has been unable to control them and has in fact been suffering from a ‚paranoid‘ psychosis‘.“ Zur Frage der Einsichtsfähigkeit Heß’s. die Befundwiedergabe ebd., S. 2, Bl. 266: „From the angle of ‚responsibility‘ it is in my opinion doubtful whether at any time he has been prevented by his mental difficulties from knowing the nature and quality of his acts.“ 129 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (16). 130 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (16). 131 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (18).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Gerichtsverfahrens gegen Hauptkriegsverbrecher vor einem internationalen Tribunal vortrug.132 Darin hieß es u. a.: „We do not think it will be found suitable to put on formal trial the outstanding criminals such as Hitler and Mussolini since their crimes and responsibilities are too great to be appropriate for treatment by legal procedure. Our view is that these outstanding figures, among whom Hess must no doubt be numbered, should be dealt with by a political decision of the United Nations. Under this procedure they could be punished just as severely and much more promptly than any legal procedure.“133

Dass sowohl Stalin als auch Kerr den Begriff des ‚Gerichts‘ jedenfalls in Bezug auf das hier zu erörternde Thema der Hauptkriegsverbrecher in durchaus ambivalenter Form verwendet haben, offenbart der weitere Verlauf des Gesprächs.­ Stalin merkte nämlich an, dass er die von britischer Seite in den Blick genommene ‚politische Entscheidung‘ der Vereinten Nationen auch als die eines Gerichts verstehe. „Auf die Bezeichnung [komme] es nicht an“134. Dieser Aussage schloss sich eine Unterhaltung darüber an, was unter dem Begriff eines ‚Gerichts‘ im Zusammenhang mit der Verfolgung der nationalsozialistischen Führungspersonen überhaupt zu verstehen sei. Kerr bemerkte dazu, von der Mitwirkung eines ‚Gerichts‘ könne bei der Herbeiführung der politischen Entscheidung zumindest insoweit gesprochen werden, als Stalin, Roosevelt und Churchill gemeinsam Entscheidungen über die Bestrafung der Hauptverantwortlichen treffen würden, etwa darüber, dass ­Hitler gehängt werden müsse.135 Stalin antwortete, dass natürlich er selbst, Roosevelt und Churchill gemeinsam eine solche Verurteilung aussprechen könnten. Ohne die formelle Mitwirkung eines Gerichts könnte jedoch der Eindruck entstehen, er, Roosevelt und Churchill hätten die NS-Führungspersonen als ihre Gegner verurteilt.136 Kerr wiederum erklärte, dass die politische Entscheidung selbstredend die geltenden Formalitäten einhalten würde, es wäre eine wirkliche Entscheidung der Vereinten Nationen. Die britische Regierung gehe jedoch davon aus, dass die Verbrechen zu schwerwiegend seien, als dass die Durchführung eines Gerichtsverfahren entsprechend der allgemein geltenden Gesetze angemes­ talin sen erscheine.137 Der vorstehend nachgezeichnete Wortwechsel belegt, dass S jedenfalls für die nationalsozialistischen Rädelsführer ein Verfahren der Straffindung vor Augen stand, das dem Anspruch der Justizförmigkeit zwar äußerlich Rechnung hätte tragen sollen und hierfür insbesondere die Einsetzung eines 132 Die verlesenen Auszüge des Telegramms übermittelte Kerr noch am selben Abend an das NKID in schriftlicher Form, RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 35–36; für die russ. Übersetzung siehe ebd., Bl. 34 = AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 18, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 15, S. 100–101, dt. Übersetzung in Auszügen bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 605, Anm. 139. 133 Siehe Fn. 133, RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 35 (35). 134 Ü. d. Verf., Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (18). 135 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (18–19). 136 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (19). 137 Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), RGASPI, f. 558, op. 11, d. 284, Bl. 11 (19).

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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von den maßgeblichen Staatsführern formell separierten Spruchkörpers vorsah, der sich in der Außenwahrnehmung als ‚Gericht‘ im international konsentierten Sinne hätte darstellen sollen. Die faktische Organisation des vor diesem Gremium statt­findenden Verfahrens hätte jedoch, woran Stalin ebenfalls keine ernsthaften Zweifel ließ, mit dem herkömmlichen Gerichtsbegriff inhärenten Fundamentalprinzipien allenfalls noch äußerliche Ähnlichkeiten aufweisen sollen. Kein Raum stand im Stalin’schen Gerichtskonzept insbesondere für jene Merkmale und Garantien zur Verfügung, die als für das klassische Verständnis des Gerichtsverfahrens schlechthin konstitutiv wahrgenommen werden, namentlich die Prinzipien der gerichtlichen Unabhängigkeit, der Neutralität, Unvoreingenommenheit und der Ergebnisoffenheit des Verfahrens. Demgegenüber sah die von Kerr referierte britische Position eine Sprachregelung vor, die in der Frage der angestrebten Bestrafung der Hauptverantwortlichen dem Begriff der ‚politischen Entscheidung‘ im Sinne der Begriffsehrlichkeit den Vorzug vor formelhaften Referenzen auf vermeintliche gerichtliche Entscheidungskompetenzen eingeräumt hätte. In der Sache einig waren sich beide Seiten jedenfalls darin, dass am Schluss des Entscheidungsprozesses unabhängig von der formellen Rubrizierung der das Resultat der Schuld- und Straffindung verkündenden Institution (Gericht oder Kommission der Vereinten Nationen) jedenfalls nur eine denkbare Entscheidung stehen konnte: die Bestrafung der nationalsozialistischen Hauptakteure. Um der mit Kerr wohl zur Zufriedenheit Stalins zunächst mündlich erzielten Verständigung eine verbindlichere Form zu verleihen, schlug Stalin sodann vor, das Besprochene im Nachgang schriftlich festzuhalten.138 Diesem Ansinnen trat Kerr zwar entgegen, schlug jedoch vor, die Vorschläge der britischen Regierung Stalin und Molotov in schriftlicher Form zwecks weiterer Überlegungen zu unterbreiten. Diese könnten zu einem späteren Zeitpunkt erneut einer gemeinsamen Erörterung unterzogen werden. Stalin stellte es Kerr in dieser Frage anheim, die ihm geeignet erscheinende Vorgehensweise zu bestimmen. Nach dem Gespräch mit Stalin berichtete Kerr zu Inhalt und Verlauf der Unterredung per Telegramm an den britischen Außenminister, namentlich zu den für die sowjetische Seite als besonders problematisch empfundenen Punkten.139 So fordere Stalin in der Kriegsverbrecherfrage unverzügliches Handeln.140 Großen Wert lege er offenkundig auch auf eine Zusicherung dahingehend, dass eine Person wie Rudolf Heß überhaupt einer Bestrafung zugeführt würde und nicht als (gewöhnlicher) Kriegsgefangener nach Kriegsende in Deutschland repatriiert werden würde. Außerdem wünsche er sich eine Einigung in der Frage, ob das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher durch gemeinsame Entscheidung der Alliierten, 138

Protokoll Pavlov v. 5. Nov. 1942 (Fn. 121), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 14, S. 94 (99). Telegramm Kerrs an das britische Außenministerium über das Gespräch mit Stalin v. 6. Nov. 1942, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 965–967; hierzu auch FRUS 1942, Bd. I, S. 65. 140 Telegramm Kerrs v. 6. Nov. 1942 (Fn. 139), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 965 (965). 139

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

z. B. einer Commission of the United Nations, oder durch eine einzige Nation besiegelt werden würde. Zur Vorgehensweise gegen die Hauptkriegsverbrecher fasste Kerr den Standpunkt Stalins dahin zusammen, dass in jedem Fall eine Entscheidung unter Einbeziehung „irgendeines Gerichts“141 getroffen werden müsse, da andernfalls gesagt werden könne, Churchill, Roosevelt und Stalin übten Rache an ihren politischen Feinden. 4. Das sowjetische Aide-mémoire vom 11. November 1942: Konsolidierung der bilateralen Beziehungen und rhetorische Abrüstung auf Geheiß Stalins Eine offizielle sowjetische Reaktion auf die von Kerr im Gespräch mit Stalin und Molotov überreichte Note vom 3. November 1942142 erfolgte mit dem Aidemémoire vom 11. November 1942.143 Im Wesentlichen referierte die sowjetische Regierung darin ihre im Gespräch mit Kerr am 5.  November 1945 bereits dar­ gelegten Positionen. Einleitend hielt das Memorandum zunächst fest, dass nach Auffassung der sowjetischen Regierung äußerst wünschenswert erscheine, „Fragen, in denen Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Regierungen bestehen, offen zu erörtern“144. Den Vorwurf, elementaren diplomatischen Gepflogenheiten zuwider gehandelt zu haben, wies die sowjetische Seite in ihrem Aide-mémoire entschieden zurück. Sie legte im Gegenteil Wert auf die Feststellung, dass „die britische Regierung sich in dieser Frage nicht an die wünschenswerte Methode eines offenen Meinungsaustauschs gehalten und nicht den Weg einer rechtzeitigen Aussprache mit der sowjetischen Regierung in der Frage der Bestrafung der Kriegsverbrecher beschritten hat“145. Die sowjetische Note nahm erneut Bezug auf den Inhalt der Erklärung von Lordkanzler Simon vom 7. Oktober 1942 vor dem House of Lords, insbesondere auf dessen Hinweis auf mit der amerikanischen und anderen alliierten Regierungen zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossene Konsultationen über die Behandlung von Kriegsverbrechern. Die nicht mit Großbritannien abgestimmte Erklärung der sowjetischen Regierung vom 14.  Oktober 1942 begründete sie vor diesem Hintergrund wie folgt: 141 Telegramm Kerrs v. 6. Nov. 1942 (Fn. 139), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 965 (966). 142 Note der brit. Regierung an Stalin v. 3.  Nov. 1942 (Fn.  119), Bundesministerium für­ innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 1042–1043. 143 Aide-mémoire v. 11.  Nov. 1942, Kerr am 12.  Nov. 1942 überreicht, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 27–30, russ. Fassung abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 34, S. 174–176; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74–77; engl. Fassung in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1034–1035 (Fn. 7). 144 Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (75). 145 Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (75).

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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„Da es die britische Regierung als möglich erachtete, ihre Haltung in dieser Frage öffentlich darzustellen, ohne eine Erläuterung des sowjetischen Standpunkts abzuwarten, legte die sowjetische Regierung ihre Haltung in der Erklärung vom 14. Oktober dar.“146

Aus sowjetischer Perspektive stellte sich damit die Erklärung vom 14. Oktober 1942 in erster Linie als Reaktion auf unangemessene Verhaltensweisen der Briten dar, da „nicht die sowjetische Regierung, sondern die Regierung Großbritanniens es nicht für nötig erachtet [hatte, d. Verf.], rechtzeitig auf diplomatische Kanäle zurückzugreifen, um vorhergehende Vorschläge zu erörtern, die substantielle Interessen beider Staaten tangieren“147. In der Sache verwies die sowjetische Regierung auf ihren in der Erklärung vom 14.  Oktober 1942 ausgeführten Standpunkt und führte drei Punkte auf, in welchen sie volles Einvernehmen zwischen den alliierten Regierungen für wünschenswert erachtete. Zum einen sollten „die Rädelsführer Hitlerdeutschlands und seiner Komplizen in Europa“, die schon während des Krieges in die Hände der Alliierten fallen würden, als Personen bestraft werden, „die zum Kreis der Hauptschuldigen am Kriege und der Hauptkriegsverbrecher gehörten“. Die Bestrafung der Kriegsverbrecher dürfe darüber hinaus nicht aufgeschoben werden, sondern müsse ­„bereits jetzt, noch vor Kriegsende“ erfolgen. Schließlich dürfe die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher „nicht Angelegenheit irgendeines Staates allein“ sein, sondern stelle sich vielmehr als „das gemeinschaftliche Anliegen der verbündeten Staaten [dar, d. Verf.], die ein Interesse an dieser Bestrafung haben“148. Der Entwurf der Erklärung vom 11. November 1942 war von Stalin persönlich überarbeitet149 und am 10. November in der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) bestätigt150 worden. Stalins Korrekturen führten dazu, dass der recht offensiv formulierte Text an einigen Stellen in einer etwas weniger konfrontativen Form abgefasst wurde. Zum Pravda-Artikel vom 19. Oktober 1942 war im ursprünglichen Entwurf zunächst festgehalten, dieser gebe die sowjetische öffentliche Meinung insofern zutreffend wieder, als in ihm u. a. dem Unmut über einige Äußerungen in der englischen Presse Ausdruck verliehen worden sei, die „darauf abzielten, den Aufschub der Bestrafung von entlarvten und in Haft befindlichen hitlerischen Verbrechern 146 Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (76). 147 Hierzu und zum vorstehenden Nachweis siehe Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (76). 148 Hierzu und zum vorstehenden Nachweis siehe Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (76–77). 149 Entwurf der Erklärung mit Stalins eigenhändigen Korrekturen v. 9. Nov. 1942, ­RGASPI, f. 17, op. 166, d.  691, Bl.  162–164, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  16, S. 101–103. 150 Vgl. Sitzung des Politbüro des ZK VKP(b) v. 10. Nov. 1942, Anhang zu Ziff. 292 aus dem Protokoll No 38, mit der endgültigen Textfassung der Note v. 11. Nov. 1942 findet sich RGASPI, f. 17, op. 162, d. 37, Bl. 53, 62–63, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 17, S. 103–105.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

zu rechtfertigen“.151 Diese Passage tilgte Stalin sodann restlos mit der Folge, dass nunmehr Molotov eine wesentlich neutralere Formulierung einarbeiten konnte. In der endgültigen Fassung fand sich zu den Äußerungen in der englischen Presse nurmehr die Einschätzung wieder, dass sie „Heß als Kriegsgefangenen darstellen, was bedeuten könnte, dass Heß als Kriegsgefangener an Deutschland rücküberstellt wird und damit einem Gerichtsverfahren und einer Strafe entginge“152.­ Stalin strich aus der ihm vorgelegten ursprünglichen Fassung ferner einen Absatz folgenden Inhalts: „Die sowjetische Regierung geht davon aus, dass die britische Regierung es in Zukunft unterlässt, die sowjetische Regierung vor vollendete Tatsachen in Bezug auf mit dritten Regierungen abgestimmte öffentliche Erklärungen zu stellen, deren Inhalt die Interessen der Sowjetunion betrifft und vertritt ferner die Ansicht, dass eine der vorstehenden Erwartung zuwiderlaufende Vorgehensweise dem Geist der Kooperation, der im Bündnisvertrag153 verkörpert ist, widerspräche.“154

Die Überarbeitungen, die der dem Politbüro vorgelegte Entwurf der Entscheidung durch die Hand Stalins nach dem Vorstehenden insgesamt erfuhr, trugen einem doppelten Anliegen Rechnung: Einerseits trachtete der sowjetische Machthaber weiterhin danach, die sowjetische Forderungshaltung auch in der offiziellen schriftlichen Antwort in möglichst dezidierter Form zu artikulieren. Andererseits war im Zuge des am 5. November herbeigeführten Meinungsaustausch mit Kerr eine – wenn auch nur mündliche – Verständigung zu Grundsatzfragen über eine gemeinsame Vorgehensweise bei der zukünftigen Bestrafung von Kriegs­ verbrechern erzielt worden, deren Verfestigung durch eine weitere rhetorische Eskalation in Frage gestellt worden wäre. Allein die Rücksichtnahme auf den in Grundsatzfragen erzielten Konsens dürfte Stalin zu einer milderen Wortwahl bewogen haben. Dass der britische Außenminister Eden die sowjetischen Befürchtungen und die hieraus abgeleiteten Forderungen in der Kriegsverbrecherfrage größtenteils durchaus richtig einschätzte, geht aus seinem Memorandum an das britische War Cabinet Committee on Treatment of War Criminals155 (im Folgenden CCTWC) vom 24.  November 1942 hervor.156 Darin informierte Eden das CCTWC über 151

Ü. d. Verf., Entwurf v. 9. Nov. 1942 (Fn. 149), RGASPI, f. 17, op. 166, d. 691, Bl. 162 (162). Aide-mémoire v. 11. Nov. 1942 (Fn. 143), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 34, S. 74 (74). 153 Gemeint war der sowjetisch-britische Bündnisvertrag v. 26. Mai 1942, abgedr. in Grewe (Hrsg.), Fontes historiae iures gentium = Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 3/1, Dok. 182 b), S. 1275–1278. 154 Ü. d. Verf., Entwurf v. 9. Nov. 1942 (Fn. 149), RGASPI, f. 17, op. 166, d. 691, Bl. 162 (164). 155 Vgl. zu den Hintergründen der Schaffung dieser Einrichtung durch das britische Kriegskabinett und zur Zusammensetzung des Gremiums Telegramm des amerikanischen Botschafters in Großbritannien, Winant, an Roosevelt v. 5. Aug. 1942, FRUS 1942, Bd. I, S. 48–49. 156 Memorandum des Außenministers Eden, Antwort auf die Mitteilungen der Regierung der UdSSR zur Verfolgung von Kriegsverbrechern v. 24. Nov. 1942, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1033–1037. 152

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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Stand und Probleme der sowjetisch-britischen Kriegsverbrecherpolitik und unter­ breitete Vorschläge für das weitere Vorgehen gegenüber der sowjetischen Regierung. Stand und Ursachen der seinerzeitigen Konfliktlage fasste er dahin zusammen, dass bezüglich der adäquaten Methode der Kriegsverbrecherbestrafung Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Staaten entstanden seien und man sich mit erheblichen sowjetischen Ressentiments konfrontiert sehe. Letztere seien namentlich darauf zurückzuführen, dass die offiziell verlautbarte britische Kriegsverbrecherpolitik zuvor mit der amerikanischen und den europäischen Regierungen abgestimmt worden sei, ohne dass man indes der sowjetischen Seite eine angemessene Reaktionsfrist eröffnet habe, um eine eigene Position zu formulieren und diese in den Abstimmungsvorgang einzubringen.157 Nach seinem – Edens – Dafürhalten war die hierdurch heraufbeschworene Konfliktlage endgültig zu entschärfen, bevor weitere Schritte zur Gründung der in Aussicht genommenen Kommission unternommen bzw. Konsultationen mit der amerikanischen Regierung oder den Exilregierungen über deren Ort oder Vorsitz geführt werden würden. Den sowjetischen Befürchtungen, in der Kriegsverbrecherfrage erneut vor bereits vollendete Entscheidungsprozesse gestellt zu werden, war nach seiner Einschätzung am wirkungsvollsten durch eine Antwort auf die sowjetischen Noten zu begegnen, in der auf alle vorgebrachten Punkte hätte eingegangen werden sollen.158 Eden empfahl insoweit, die USA über die britische Antwort zwar zu informieren, nicht jedoch um Zustimmung hierzu zu ersuchen. Auch sollte die Angelegenheit mit keiner anderen Regierung erörtert werden. Für Eden erschien ferner als offensichtliche Notwendigkeit, die Sowjetunion weiterhin von der Entschlossenheit der westlichen Alliierten zu überzeugen, in Gefangenschaft geratene Kriegsverbrecher zu bestrafen.159 Von Besonnenheit und Verständnis der sowjetischen Empfindsamkeit zeugte sein Vorschlag, dem sich ausbreitenden Misstrauen zwischen den Bündnispartnern zukünftig und grundsätzlich durch eine möglichst frühzeitige Aufklärung des sowjetischen Verbündeten über den britischen Standpunkt zu begegnen.160

157

Memorandum Edens v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  156), abgedr. in: Bundesministerium für­ innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1033 (1036). 158 Memorandum Edens v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  156), abgedr. in: Bundesministerium für­ innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1033 (1036). 159 Memorandum Edens v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  156), abgedr. in: Bundesministerium für­ innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1033 (1036). 160 Vgl. Memorandum des Außenministers Eden v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  156), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2.  Halbbd., S.  1033 (1036).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

5. Die Unterredung zwischen Kerr und Molotov am 24. November 1942: Weitere Rückführung des wechselseitigen Misstrauens Die bereits im Gespräch am 5. November 1942 erzielte Beilegung einiger zentraler Konfliktpunkte im diplomatischen Disput zwischen Großbritannien und der UdSSR wurde durch ein weiteres Gespräch zwischen dem britischen Botschafter Kerr und Molotov am 24. November 1942 weiter konsolidiert.161 Zu einigen von Stalin anlässlich der Unterredung am 5. November 1942 aufgeworfenen Fragen – wie etwa der nach einer etwaigen Repatriierung von Heß und ähnlichen Personen – vermochte Kerr nunmehr auf Grundlage entsprechender Ermächtigungen durch seine Regierung dezidiert Stellung zu nehmen. Kerr versicherte, dass die sowjetischen Befürchtungen jeder rationalen Grundlage entbehrten, insbesondere, dass „von einer automatischen Repatriierung des ‚Kriegsgefangenen‘ Heß nicht die Rede sein“162 könne. Es bestünde für die sowjetische Regierung kein ­Anlass zu Zweifeln daran, dass Heß so lange in Haft bleiben würde, bis er seiner Bestrafung zugeführt worden sei. Der von Stalin angeregten verbindlichen Übereinkunft zu Fragen der Kriegsverbrecherpolitik verschloss London sich hingegen vorläufig unter Berufung darauf, dass das Schicksal der Hitlerführung durch die Vereinten Nationen entschieden werden müsse und nicht durch die formelle Übereinkunft zweier Nationen. Eine isolierte bilaterale Abmachung zwischen London und Moskau würde das erstrebte Ziel  – rechtsverbindliche Abstimmung der nationalen Kriegsverbrecherpolitik  – schon deshalb verfehlen müssen, weil die Geltungskraft einer solchen Abrede ohne Einbeziehung der USA von vornherein politisch und lokal eng radiziert bleiben müsse.163 Molotov pflichtete dem zwar insofern bei, als die in Rede stehende Problematik sich nicht nur als Angelegenheit Großbritanniens und der UdSSR darstelle und man daher weitere kriegsführende Mächte wie die USA im weiteren Verlauf in den Einigungsprozess einzubeziehen haben werde. Er drängte vor diesem Hintergrund darauf, den Meinungsaustausch im derzeit erreichten Diskussionsstand zumindest in eine schriftlich fixierte Vereinbarung zu einigen grundlegenden Fragestellungen zu überführen.164 Im Ergebnis blieb es jedoch wie-

161 Vgl. dazu die Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24. Nov. 1942, AVP RF, f. 06, op. 4, p. 1, d. 14, Bl. 53–64 (insb. den die Bestrafung der Kriegsverbrecher betreffenden Teil, Bl. 57–61), abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 35, S. 176–186 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 18, S. 105–113; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77–87; siehe zum Vorgang auch Telegramm Hendersons nach London v. 26. Nov. 1942, FRUS 1942, Bd. I, S. 65–66. 162 Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  161), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77 (82). 163 Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24. Nov. 1942 (Fn. 161), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77 (82). 164 Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24. Nov. 1942 (Fn. 161), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77 (83).

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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derum bei verbalen Bekenntnissen zu den von der UdSSR aufgeworfenen Fragen. Die am 5. November 1945 geklärten Positionen konnten bestätigt werden. Auf erneute Frage Molotovs versicherte Kerr wiederum, dass sistierte Kriegsverbrecher nach Auffassung der Regierung in London einer gerechten Bestrafung zugeführt werden müssten und dass die Kriegsverbrecherbestrafung nicht allein Angelegenheit einer Nation, sondern eine solche der Vereinten Nationen sei. Molotov hielt sodann fest, dass vor dem Hintergrund der bestehenden Übereinstimmungen lediglich die Frage nach dem Zeitpunkt der Verurteilung offen bliebe.165 Keine weitergehende Annäherung konnte indes hinsichtlich der Grundsatzfrage herbei­geführt werden, ob das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher durch die Entscheidung eines internationalen Tribunals oder eine politische Entscheidung besiegelt werden solle. Molotov kam insoweit auf den Inhalt des am 5. November mit Stalin geführten Gesprächs zurück und verlieh seinen Bedenken gegenüber dem bei dieser Gelegenheit dargelegten britischen Standpunkt Ausdruck. Der Vorschlag Kerrs, die Entscheidung in die Hände Stalins, Churchills und Roosevelts zu legen, würde zur Bildung eines komitee-artigen Gremiums führen, das sich aus den wichtigsten Verbündeten zusammensetzen würde. Stalin indes habe bereits beim letzten Treffen ausgeführt, dass er, Churchill und Roosevelt diese Frage nicht in persona lösen könnten, sondern ein Tribunal oder ein anderes Organ betraut werden müsse. Molotov trug hierzu ergänzend wie folgt vor: „Nach Meinung der sowjetischen Regierung müsse die Klärung dieser Frage einem internationalen Tribunal übertragen werden. Das wäre die in höchstem Maße objektive und unvoreingenommene Art und Weise, die Frage nach dem Los der Hauptkriegsverbrecher in den Augen aller Völker einer Lösung zuzuführen. Eine andere, passendere Form für die Bewältigung dieser Frage sei der sowjetischen Regierung nicht bekannt.“166

Kerr indes vertrat unverändert den Standpunkt, dass sich ein Gericht im herkömmlichen Verständnis für die Straffindung gegen die Hauptkriegsverbrecher als ungeeignet erweisen werde und anstelle dessen eine politische Lösung zu­ favorisieren sei. Das Molotov nach Wahrnehmung Kerrs vor Augen stehende gerichtliche Verfahren fasste Kerr dahin zusammen, dass die sowjetische Regierung augenscheinlich die Durchführung rein politischer Prozesse nach Art der sowje­ tischen Säuberungsprozesse aus den Jahren 1936–1937 im Sinne habe.167 Molotov gab sodann zu erkennen, dass die Frage, wer über das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher zu befinden habe, für die UdSSR von geringer Aktualität sei, wenn man nur baldmöglichst eine bindende Verständigung darüber herbei­

165 Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24. Nov. 1942 (Fn. 161), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77 (84). 166 Tagebuchaufzeichnungen Molotovs v. 24.  Nov. 1942 (Fn.  161), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 35, S. 77 (84 f.). 167 Vgl. hierzu die Wiedergabe der Bewertung Kerrs im Telegramm des amerikanischen Chargé in der UdSSR Henderson an den Außenminister am 26. Nov. 1942, FRUS 1942, Bd. I, S. 65–66.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

führen könne, dass an diesem Punkt überhaupt eine gemeinsame Entscheidung unter Einbeziehung aller kriegsführenden Alliierten getroffen werden könne. Für­ diesen Fall könne die Frage nach den entscheidungsfindenden Institutionen bis auf das Kriegsende aufgeschoben würde. 6. Die sowjetische Abkehr vom Projekt einer UNWCC: Vorläufiger Kulminationspunkt eines wieder entfachten Misstrauens in den sowjetisch-britischen Beziehungen a) Einladung der UdSSR zur Teilnahme an der UNWCC und grundsätzliche sowjetische Zustimmung am 21. Januar 1943 Die von Eden in dem von ihm gefertigten Memorandum an das britische War Cabinet Committee on Treatment of War Criminals168 vom 24.  November 1942 favorisierte Vorgehensweise, der sowjetischen Skepsis gegenüber Großbritannien durch ein erhöhtes Maß an Information und Transparenz zu begegnen, nahm mit der am 11. Dezember 1942 an den sowjetischen Botschafter in London überreichten Erklärung schließlich konkrete Gestalt an.169 Sie enthielt eine ausführliche Darstellung und Begründung der britischen Position zu den von der Sowjetunion aufgeworfenen Kernfragen. Die britische Regierung pflichtete darin der sowjetischen Meinung bei, wonach sämtliche Hauptkriegsverbrecher einer Bestrafung zuzuführen seien.170 Hierfür komme als einzig geeignete Form ein gemeinsames Vorgehen im Rahmen der Vereinten Nationen in Betracht. Die Forderung nach unverzüglicher Durchführung der Bestrafung der bereits in alliierter Obhut befindlichen Hauptakteure (in Bezug genommen war hiermit nach Lage der Dinge einzig und allein Rudolf Heß) wurde gleichwohl zurückgewiesen.171 Ein zentrales Anliegen der britischen Erklärung bestand in dem trotz der offensichtlichen Differenzen in der Frage der Behandlung von Kriegsverbrechern unternommenen Versuch, die Sowjetunion zur Teilnahme an der geplanten Beweissamm 168

Zu dieser Einrichtung vgl. bereits den Nachw. in Fn. 155. Memorandum der Regierung Großbritanniens No C 12299/61/18 über die Verfolgung von Kriegsverbrechern v. 10. Dez. 1942, überreicht an Majskij am 11. Dez. 1942, abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1139–1142; russ. Übersetzung in: AVP RF, f. 06, op. 7, p. 21, d. 221, Bl. 1–9. 170 Ziff. 3 lit. a des Memorandums der brit. Regierung v. 10. Dez. 1942 (Fn. 170), Bundes­ ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1139 (1139). 171 Ziff. 3 des Memorandums der brit. Regierung v. 10. Dez. 1942 (Fn. 170), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1139 (1139–1140). Zur Begründung hieß es u. a.: „The punishment of the outstanding guilty leaders, if it is to make the fullest possible impression upon world opinion, should be given the character of a solemn political act, forming part of the measures to be taken by the United Nations in concert upon the morrow victory. To punish these leaders separately as and when they fall into Allied hands could not possibly produce such a deep and lasting impression upon the world as a whole“, ebd., S. 1139 (1140). 169

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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lungskommission der Vereinten Nationen zu bewegen.172 Die britische Regierung brachte darin ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass sich die sowjetische Regierung der Möglichkeit einer unverzüglichen Teilnahme an der Kommission nicht weiter verschließen würde. Ihre diesbezügliche Aufforderung verband die britische Regierung mit dem auf die Entkräftung der sowjetischen Bedenken gerichteten Hinweis, dass eine solche Mitarbeit die Entscheidungsfreiheit der Vereinten Nationen hinsichtlich der Vorgehensweise gegen Hauptkriegsverbrecher in keiner Weise einschränken würde. Dieser Vorbehalt sollte sich ausdrücklich auch für die Frage der Einrichtung eines internationalen Tribunals oder vergleichbare Maßnahmen erstrecken. Trotz – womöglich sogar gerade wegen – der eindringlichen Aufforderung zur unverzüglichen Teilnahme an der Kommission der Vereinten Nationen reagierte die sowjetische Regierung hierauf nicht unmittelbar. Nachdem über ein Monat verstrichen war, ohne dass von sowjetischer Seite eine Rückmeldung erfolgt wäre, erhielt Molotov am 12. Januar 1943 eine weitere kurze Note der britischen Regierung. Unter Bezugnahme auf die Erklärung vom 24. November 1942 bekräftigte die Note den Wunsch der britischen Regierung nach einer raschen Antwort.173 Vor dem Hintergrund der verspäteten Einbeziehung der sowjetischen Interessen bei der Planung der Kommission174 gab sich Molotov intern empört ob des zeitlichen Drucks, dem sich die sowjetische Regierung durch die Bekräftigung des Wunsches nach unverzüglicher Mitwirkung nunmehr ausgesetzt sah. Am Blattrand der ihm vorgelegten Originalfassung der britischen Note brachte er einen mit Paraphe versehenen Vermerk folgenden Wortlauts an: „[Wir, d. Verf.] [b]rauchen eine (kurze)  Antwort auf dieses heuchlerische Schreiben“175. Am darauffolgenden Tag setzte Molotov den Botschaftsrat Großbritanniens in der UdSSR, Herbert Lacy Bagallay, in einer äußerst knapp gefassten Mitteilung darüber in Kenntnis, dass eine Antwort auf das britische Memorandum sehr zeitnah erteilt werden würde.176 Die angekündigte Rückmeldung erfolgte sodann am 21. Januar 1943177, also mehr als einen Monat nach der ursprünglichen Anfrage. Darin verlieh die sowjetische Regierung ihrer Überzeugung Ausdruck, dass „in einer Reihe wichtiger Fragen zur Bestrafung der Kriegsschuldigen und Kriegsverbrecher in Europa die 172 Ziff. 5–7 des Memorandums der brit. Regierung v. 10. Dez. 1942 (Fn. 169), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD I/3, 2. Halbbd., S. 1139 (1142). 173 Engl. Text der Note von Baggallay an Molotov v. 11. Jan. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 21, d. 221, Bl. 11–12, russ. Übersetzung ebd., Bl. 10. 174 Kochavi, Prelude, S. 36; dazu ausf. Kap. C. II. 1. b) bb). 175 Ü. d. Verf., Note von Baggallay an Molotov v. 11. Jan. 1943 (Fn. 173), AVP RF, f. 06, op. 5, p. 21, d. 221, Bl. 10. 176 Mitteilung von Molotov an Baggallay v. 12. Jan. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 21, d. 221, Bl. 13, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 606, Anm. 146. 177 Note Molotovs an Bagallay v. 21. Jan. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 21, d. 221, Bl. 14–15; abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 37, S. 187–188 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 20, S. 118–119; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 37, S. 88–89.

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Meinungsverschiedenheiten zwischen der sowjetischen und der britischen Regierung als beigelegt und die Standpunkte beider Regierungen in diesen Fragen als abgestimmt betrachtet werden können“.178 Darüber hinaus führte sie aus, dass sie ungeachtet ihrer fortbestehenden Meinung über die Notwendigkeit einer unverzüglichen Bestrafung von führenden Persönlichkeiten Hitlerdeutschlands durchaus in Erwägung ziehen könnte, von ihrem bisherigen Standpunkt abzurücken und sich mit den Vorschlägen vom 11. Dezember einverstanden zu erklären. Den ihr von Großbritannien unterbreiteten Vorschlag, an Aufbau und Indienststellung der in Aussicht genommenen Kommission auch ohne endgültige Einigung über den konkreten Weg zur Lösung der Kriegsverbrecherfrage mitzuwirken, hatte die sowjetische Regierung damit de facto angenommen. Allerdings verband sie ihr Einlenken an diesem Punkt nunmehr mit dem Vorbehalt, dass der konkreten Zusammensetzung dieses Gremiums eine für ihre Positionsbestimmung ausschlaggebende Bedeutung beizumessen sei. Sie schlug daher vor, vorab über die Zusammensetzung dieser Kommission übereinzukommen.179 Unter Zugrundelegung des Inhalts der sowjetischen Note vom 21. Januar 1943 schienen gleichwohl die elementarsten und zugleich augenfälligsten Konfliktlinien jedenfalls vorübergehend aus dem Weg geräumt, die sich, ausgehend von der Frage insbesondere nach dem Umgang mit Heß, in den britisch-sowjetischen Beziehungen aufgebaut hatten. Obwohl der durch phasenweise ausgesprochen scharfe Vorhaltungen gekennzeichnete diplomatische Tonfall nunmehr wieder moderatere Züge annehmen sollte, war in der Frage über die Einrichtung eines­ internationalen Tribunals und des Zeitpunkts der Bestrafung inhaltlich indes weiterhin keine Einigung erreicht worden. b) Stein des Anstoßes: Die Frage der konkreten Kommissionsbesetzung als unüberwindbare Hürde Die in der Note der sowjetischen Regierung vom 21. Januar 1943 erstmals thematisierte Zusammensetzung der Kommission sollte sich in der Folgezeit zur größten Hürde für die Teilnahme der UdSSR an der Kommission der Vereinten Nationen auswachsen. Hatten die früheren – britischen und sowjetischen – Noten jeweils noch allgemein von Vertretern der interessierten Regierungen als Mitgliedern einer etwaigen Kommission gesprochen180, präzisierte die sowjetische Regie 178

Note Molotovs an Bagallay v. 21. Jan. 1943 (Fn. 177), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 37, S. 88 (88). 179 Note Molotovs an Bagallay v. 21. Jan. 1943 (Fn. 177), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 37, S. 88 (89). 180 In der Note v. 29. Okt. 1942 wurden dabei Großbritannien, USA, UdSSR, China, Belgien, Tschechoslowakei, Griechenland, Luxemburg, Holland, Norwegen, Polen und Jugoslawien als mögliche Teilnehmer explizit aufgeführt. Die Möglichkeit der Partizipation von britischen Dominions wurde dagegen nicht thematisiert (Tekst noty anglijskogo Ministerstva inostrannych del ot 29 oktjabrja No C 10375/61/18) AVP RF, f. 06, op. 4, p. 14, d. 137, Bl. 3–4, abgedr. bei

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rung in der nunmehrigen Erklärung ihr Petitum dahingehend, dass sich die Kommission aus Vertretern der Regierungen lediglich jener Länder zusammensetzen sollte, die „tatsächlich Krieg gegen die Achsenmächte führen und die Bürde des Krieges und der Okkupation tragen“.181 Weil sie der Zusammensetzung der Kommission erklärtermaßen erhebliche Relevanz beimaß, drang sie auf die vorrangige Herbeiführung einer Übereinkunft über diesen von ihr als zentral erachteten Sachkomplex. Der seitens der sowjetischen Regierung im Kontext der Diskussion um die Kommissionszusammensetzung wiederholt in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt, dass gerade die Sowjetunion die humanitären und materiellen Hauptlasten des Krieges zu tragen habe182, lässt die Vermutung naheliegend erscheinen, dass sich hinter den durchaus nicht abwegigen Referenzen auf die hauptsächliche Betroffenheit der Sowjetunion, was Leid und Lasten betrifft, der Versuch verbarg, das sowjetische Stimmgewicht in dem zu bildenden Gremium aufzuwerten. Am 6. März 1943 notifizierte die britische Regierung der Sowjetunion ihre Vorschläge zu den Verfahrensregeln für die Gründung der Kommission der Vereinten Nationen und bat um Nominierung eines sowjetischen Delegierten.183 Der u. a. in der Mitteilung erstmals vorgetragene Vorschlag, die Dominions im Status eines Mitglieds in die Arbeit der geplanten Kommission einzubeziehen, stieß auf Seiten der sowjetischen Regierung auf entschiedene Kritik. Staatssekretär Alexander Cadogan rechtfertigte das britische Ansinnen gegenüber dem sowjetischen Botschafter Majskij bei einer daraufhin anberaumten Unterredung am 24. März 1943 zunächst mit der Erwägung, dass auch Soldaten und Zivilisten der Dominions in Gefangenschaft geraten seien, wenn auch diese nicht zu den besetzten Gebieten zählten.184 Angesichts des sich abzeichnenden scharfen sowjetischen ­Widerstandes Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 7, S. 81–83; für die engl. Fassung siehe FRUS 1942, Bd. I, S. 63–64. In Ziff. 3 (Representation) der dem britischen Botschafter Winant bereits im Sommer 1942 überreichten Konzeptfassung der britischen Regierung (Fn. 86) fand sich neben den USA, Großbritannien, der UdSSR und China der eingangs genannte Teilnehmerkreis weiterer Staaten in identischer Zusammensetzung wieder, siehe ‚Proposal for a United Nations Commission on Atrocities’, abgedr. als Anhang zum Schreiben an Roosevelt v. 5. Aug. 1942, FRUS 1942, Bd. I, Encl. 1, S. 49–50, hier S. 50 (Ziff. 3). Daneben war ein Hinweis darauf aufgenommen worden, dass der britischen Regierung besondere Bestimmungen zur Repräsentation der französischen Exilregierung wünschenswert erschienen. Bei den britischen Dominions sollte noch in Erfahrung gebracht werden, ob diese eine separate Repräsentation in dem geplanten Gremium überhaupt für erstrebenswert erachteten. 181 Note Molotovs an Bagallay v. 21. Jan. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 21, d. 221, Bl. 14 (15), abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 37, S. 187–188 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 20, S. 118–119; zit. nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 37, S. 88 (89). 182 So z. B. im Telegramm von Molotov an Majskij v. 24. Aug. 1941, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 3, S. 6; ähnlich Stalin am 3. Okt. 1942, in: War Speeches, S. 37 (38). 183 Mitteilung des Foreign Office an den NKID v. 6. März 1943, russ. Fassung AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 1–3, abgedr. in MID SSSR (Hrsg.), Sovetsko-Anglijskie Otnošenja, T. 1, S.  347–349; auszugsweise Wiedergabe in dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, S. 617, Anm. 192. 184 Vgl. zum Treffen von Cadogan und Majskij am 24. März 1943 siehe Kochavi, Prelude, S. 45.

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gegen die Einbeziehung der Dominions als stimmberechtigtes Vollmitglied der Kommission unterbreitete das britische Außenministerium am 19. Mai 1943 einen Kompromissvorschlag.185 Dieser sah vor, dass die Dominions nicht als ständige Mitglieder an der Kommission teilnehmen, ihre Repräsentanten vielmehr nur in solchen Sitzungen – stimmberechtigt – vertreten sein sollten, an deren Inhalt ihrerseits ein spezielles Interesse unabweisbar erscheine, wie z. B. bei der Frage der Misshandlung von Kriegsgefangenen. Bei der Mitwirkung an den solcherart qualifizierten Sitzungen sollten die Dominions jedoch mit den gleichen Rechten und Privilegien wie jedes andere Mitglied der Kommission ausgestattet sein. Außenkommissar Molotov nahm im Namen der sowjetischen Regierung am 26. Juli 1943 zu den britischen Vorschlägen offiziell zunächst dahingehend Stellung, dass hinsichtlich des Sitzungsorts der Kommission – London – keine Bedenken bestünden.186 Die im britischen Notifizierungsschreiben vom 6. März 1943 erbetene Ernennung eines sowjetischen Repräsentanten könne dagegen erst nach einer grundsätzlichen Übereinkunft in der Frage der Zusammensetzung und des Arbeitsmodus der Kommission erfolgen. Zur Frage der Beteiligung der Domi­ nions erklärte sich die sowjetische Regierung bereit, den britischen Vorschlag zu akzeptieren, wenn gleichzeitig die Beteiligung der seit zwei Jahren von Deutschland besetzten Unionsrepubliken der UdSSR gewährleistet würde.187 In Bezug auf den Vorsitz der Kommission schlug die Note vor, dass an der Spitze der Kommission nicht ein, sondern vier Vertreter von Großbritannien, den USA, China und der UdSSR stehen sollten, die abwechselnd die Sitzungen leiten sollten.188 Die sowjetischen Vorschläge wurden auf Seiten der britischen Regierung mit Befremden zur Kenntnis genommen.189 Rasch wähnte man in London hinter den neu vorgetragenen Forderungen eine sowjetische Taktik, die darauf abzielte, den vorerst beigelegt geglaubten Konflikt um die Personalie Heß neu zu entfachen, damit die Gründung der Kommission zu behindern und letztlich die Übertragung der Aufgabe der Beweissammlung auf eine internationale Einrichtung zu hinter 185 Schreiben von Staatssekretär Cadogan an Majskij v. 19. Mai 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 12–13; zum Vorgang m. w. N. Kochavi, Prelude, S. 45 f.; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 617, Anm. 193. 186 Note v. Molotov an Kerr v. 26. Juli 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 14–15; abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 51, S. 231–232 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 23, S. 134–135; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 51, S. 136–137. 187 Die Note nahm hinsichtlich der gewünschten Beteiligung ausdrücklich Bezug auf die Ukrainische, Weißrussische, Moldauische, Litauische, Lettische, Estnische und Karelo-­ Finnische Unionsrepublik, „die sämtliche Schrecken des Hitlerterrors erdulden mußten und deren Bevölkerung sich nunmehr bereits seit zwei Jahren im Zustand der Mobilmachung befindet und in den Reihen der sowjetischen Armeen für das gemeinsame Ziel der Alliierten – die Befreiung Europas von der Hitlertyrannei – kämpft“, siehe Note v. 26. Juli 1943 (Fn. 186), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 51, S. 136–137. 188 Note v. 26. Juli 1943 (Fn. 186), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 51, S. 136 (137). 189 Ausf. Kochavi, Prelude, S. 47 ff. m. w. Nachw.

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treiben.190 Der Lordkanzler drängte sogar darauf, die Verhandlungen ohne weitere Beachtung des sowjetischen Standpunkts mit dem USA und Alliierten in London unbeirrt von diplomatischen Implikationen fortzuführen. Problematisch erschien die sowjetische Forderung nach Ausstattung der Sowjetrepubliken mit eigenständiger Kommissionsmitgliedschaft insbesondere deshalb, weil der Status der von der Sowjetunion annektierten baltischen Republiken bis zu diesem Zeitpunkt keineswegs unumstritten war. Zwar hatte Stalin die Forderung nach Anerkennung der baltischen Republiken den Westalliierten gegenüber bereits im Dezember 1941 deutlich kommuniziert.191 Großbritannien signalisierte daraufhin zunächst auch grundsätzliche Bereitschaft, den sowjetischen Wünschen Rechnung zu tragen. Wegen des vehementen Widerstands der USA hatte es Stalin im weiteren Verlauf jedoch sodann vorgezogen, sein Streben nach Anerkennung der Anne­ altikums nicht weiter zu forcieren, um eine Einigung in der für ihn zuxion des B nächst deutlich akuteren Frage der Eröffnung einer zweiten Front in Europa nicht zu gefährden.192 Mit der nunmehr vorgetragenen Forderung, den besetzten sowjetischen Republiken im Gegenzug für die Beteiligung der britischen Dominions ebenfalls Teilnehmerstatus an der Kommission der Vereinten Nationen einzuräumen, brachte die sowjetische Regierung die in den Hintergrund gerückte Frage erneut auf das außenpolitische Tableau. Aus Sicht der britischen Regierung musste sich der Eindruck aufdrängen, dass die Sowjetunion auf diese Weise den Versuch unternahm, eine – zumindest faktische – Anerkennung der Annexion durch die Westalliierten herbeizuführen.193 Die Argumentation der britischen Regierung zugunsten einer Einbeziehung der Dominions einerseits, gegen die Berücksichtigung der sowje­tischen Republiken andererseits, gründete sich denn auch maßgeblich auf die Erwägung, dass die sowjetischen Republiken im Vergleich zu den Mit­gliedern des British Commonwealth of Nations nicht den gleichen verfassungsmäßigen Status und nicht die gleiche internationale Stellung genössen.194 Trotz der Differenzen zum Thema Berücksichtigung der Sowjetrepubliken bei der Kommissionszusammensetzung und unter Beibehaltung des eigenen Standpunkts auch im Übrigen unternahm das britische Außenministerium weiterhin Versuche, die Sowjetunion zur Teilnahme an der Kommission zu bewegen. Beide Seiten sollten jedoch auf ihren Forderungen beharren. In der Folgezeit lud das britische Außenministerium die sowjetische Regierung ein, an einer zunächst auf Ende September terminierten (später in den Oktober verlegten) Sitzung der­ alliierten Mächte teilzunehmen, im Rahmen derer die Errichtung der Kommission 190

Kochavi, Prelude, S. 47. Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 63. 192 Kochavi, Prelude, S. 47 f. 193 Kochavi, SEER 69 (1991), S. 458 (477). 194 Memorandum des Foreign Office v. 30. Aug. 1943, AVP RF, f. 059, op. 10, p. 8, d. 60, Bl. 240–230, in dt. Übersetzung auszugsweise wiedergegeben in Laufer/Kynin (Hrsg.), UdSSR, Bd. 1, S. 630 f., Anm. 243. 191

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formell beschlossen werden sollte. Anfang September wurde Kerr seitens der britischen Regierung jedoch darüber in Kenntnis gesetzt, dass im Falle des fortbestehenden Widerstands der Sowjetunion in der Frage der Beteiligung der Dominions die Eröffnungssitzung auch ohne sowjetische Beteiligung stattfinden würde.195 In einem Schreiben von Ende September, unmittelbar vor der konstituierenden Sitzung, legte die britische Regierung erneut ihre Sichtweise dar, wonach die Unionsrepubliken der UdSSR in der Kommission den britischen Dominions bereits wegen des unterschiedlichen verfassungsmäßigen und internationalen Status keinesfalls gleichgestellt werden könnten.196 Sie nahm insoweit Bezug auf die un­ selbständige Stellung, die den Unionsrepubliken nach Maßgabe der sowjetischen Verfassung von 1936197 und damit auch nach sowjetischem Recht eingeräumt worden sei.198 Den Vertretern der sowjetischen Unionsrepubliken könne jedoch möglicherweise das Recht eingeräumt werden, als Berater des sowjetischen Repräsentanten in den sie betreffenden Sitzungen der Kommission teilzunehmen, unter der Voraussetzung indes, dass sie „ohne Stimmrecht oder Status“199 auftreten würden. Die von britischer Seite vorgetragenen Einwände gegen die Einräumung von Mitgliedschaftsrechten zugunsten der Sowjetrepubliken wies die sowjetische Regierung durch Schreiben vom 17. Oktober 1943 mit der Begründung zurück, dass auch die sowjetischen Unionsrepubliken als souveräne Staaten im Sinne des Völkerrechts zu qualifizieren seien und insofern insbesondere keine verfassungsrechtlich begründeten Bedenken gegen ihre Einbeziehung in den Teilnehmerkreis einer internationalen Kommission bestünden.200 Zwar werde nicht in Abrede gestellt, 195

Kochavi, Prelude, S. 49. Schreiben des britischen Botschafters Kerr v. 29. Sept. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 34–35, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 24, S. 136–137; in dt. Übersetzung teilweise wiedergegeben bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 631, Anm. 242. 197 Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, am 5. Dez. 1936 beschlossen durch den VIII. außerordentlichen Sowjetkongress der UdSSR, abgedr. in: Günther, Staatsverfassungen, S. 559–586; Dennewitz/Meissner, Verfassungen der modernen Staaten, Bd. 1, S. 191–224. Die russ. Originalfassung ist abgedr. etwa bei Kukuškin/Čistjakov, Očerk istorii Sovetskoj Konstitucii, S. 285–313. 198 Nach Art. 15 Satz 1 der Sowjetverfassung von 1936 (Fn. 198) genossen die Unionsrepubliken zwar prinzipiell staatliche Souveränität. Im Grundsatz sollte jede Unionsrepublik die ihr verbliebene Staatsgewalt selbständig ausüben können (Art. 15 Satz 2). Die Ausübung der unionsstaatlichen Souveränität unterlag ausweislich des Vorbehalts in Art. 15 Satz 1 jedoch den durch Art. 14 der Verfassung formulierten Beschränkungen. So fielen gem. Art. 14 lit. a insbesondere „die Vertretung der UdSSR im internationalen Verkehr, der Abschluß und die Ratifizierung von Verträgen mit anderen Staaten“ in den alleinigen Kompetenzbereich der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken „in Gestalt ihrer höchsten Organe der Staats­ gewalt und der Organe der Staatsverwaltung.“ 199 Schreiben des britischen Botschafters Kerr v. 29. Sept. 1943 (Fn. 196), zit. nach der auszugsweisen Übersetzung ins Deutsche bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 631, Anm. 242. 200 Schreiben Molotovs an Kerr v. 17. Okt. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 39–42, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 73, S. 323–326 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 26, S. 139–142; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, 196

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dass die Sowjetrepubliken die ihnen innewohnende Souveränität bislang nicht selbst wahrgenommen, sich insbesondere „nicht unmittelbar an Körperschaften internationalen Charakters beteiligt“, sondern ihre souveränen Interessen auf internationaler Ebene im Wege der Bevollmächtigung über die UdSSR realisiert hätten.201 Die bisherige Delegationspraxis allein sei jedoch kein Grund für die Annahme, „daß sich die Unionsrepubliken nicht auf gleichberechtigter Basis mit der Sowjetunion an internationalen Organisationen beteiligen können202, wenn dies ihre spezifischen Interessen erforder[te]n und sofern es jeweils ein dahingehendes Abkommen zwischen ihnen und der der UdSSR [gebe]“203. Die sowjetische Regierung rekurrierte in diesem Zusammenhang zudem auf ihren bereits verlautbarten Standpunkt, wonach lediglich den am Kriegsgeschehen tatsächlich teilnehmenden und die Last der Kriegsführung tragenden Ländern ein Recht zuzuerkennen sei, in der Kommission vertreten zu sein. Dieses Recht erscheine mit Blick auf die genannten sowjetischen Unionsrepubliken „unanfechtbar, da gerade jene Republiken mehr als alle anderen Staaten Europas unter der deutschen Okkupation und Kriegsführung gelitten haben“.204 Eben dieses zentrale Begründungselement der sowjetischen Forderungsstrategie hatte Molotov auch kurz zuvor, im September 1943, anlässlich eines Treffens mit dem kanadischen und dem australischen Botschafter gegenüber weiteren alliierten Repräsentanten in den Vordergrund­ Dok. 73, S. 234–237; mehr zur Auseinandersetzung um den Status der Dominions und der sowjetischen Republiken im Rahmen der Frage ihrer Beteiligung an der Kommission der Vereinten Nationen, Kochavi, Prelude, S. 48 ff. 201 Schreiben von Molotov an Kerr v. 17. Okt. 1943 (Fn. 200), wiedergegeben nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 73, S. 234 (234). 202 Tatsächlich wurde den Volksrepubliken auf dem Boden der sowjetischen Verfassungsordnung erst mit der kurz darauf durch Ziff. 2 lit. b des Gesetzes der UdSSR v. 1. Feb. 1944 zur Einräumung außenpolitischer Kompetenzen an die Sowjetrepubliken angeordneten Einfügung eines Art.  18a eine weitgehende (formale)  Handlungsfähigkeit in außenpolitischen Belangen verliehen, siehe Zakon SSSR ot 1 fevralja 1944 g. O predostavlenii sojuznym respublikam polnomočij v oblasti vnešnich otnošenij i o preobrazovanii v svjazi s ėtim Narodnogo komissariata inostrannych del iz obščesojuznogo v sojuzno-respublikanskij narodnyj komissariat, abgedr. bei: Lepeškin/Mišin (Hrsg.), Sbornik oficial’nych dokumentov, Dok. No 114, S. 336. Der 1944 neu eingefügte Art. 18a lautete: „Jede Unionsrepublik hat das Recht, unmittelbare Beziehungen zu auswärtigen Staaten aufzunehmen, mit ihnen Abkommen zu schließen und diplomatische sowie Konsularvertreter auszutauschen“ (zit. nach der dt. Übersetzung bei Günther, Staatsverfassungen, S. 559 (564). Durch Ziff. 2 lit. a des Gesetzes v. 1. Feb. 1944 wurde zudem die bisherige Fassung des Art. 14 lit. a der Verfassung von 1936 (Fn. 199) dahingehend eingeschränkt, dass zu den der UdSSR zur alleinigen Wahrnehmung übertragenen Bereichen nicht mehr jeder Abschluss von internationalen Verträgen auch im alleinigen Interessenkreis der (einzelnen) Republiken zählen sollte; vorbehalten war der Sowjetunion nurmehr der Abschluss und die Ratifizierung von Verträgen „der UdSSR“ mit anderen Staaten. Eine ausschließliche Kompetenz der UdSSR in auswärtigen Angelegenheiten sollte fortan nurmehr für die „Festlegung des allgemeinen Modus für die Beziehungen der Unionsrepubliken zu auswärtigen Staaten“ gelten (Art. 14 lit. a Halbs. 2). 203 Schreiben von Molotov an Kerr v. 17.  Okt. 1943 (Fn.  200), wiedergegeben nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 73, S. 234 (234). 204 Schreiben von Molotov an Kerr v. 17. Okt. 1943 (Fn. 200), zit. nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 73, S. 234 (234).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

gerückt: im Hinblick auf das Leid der Völker der besetzten sowjetischen Republiken gebühre diesen – so Molotov – „the strongest moral claim“, in der Kommission eigenständig vertreten zu werden.205 Der berechtigte moralische Gehalt des sowjetischen Appells war es augenscheinlich, der Kerr schlussendlich dazu ver­anlasste, sich zugunsten der sowjetischen Forderungen auszusprechen und dem Foreign Office anzuraten, den sowjetischen Wünschen jedenfalls weiter entgegenzukommen. Die britische Regierung indes trat diesem Ansinnen mit der Begründung entgegen, dass eine separate Beteiligung der sowjetischen Republiken die Anerkennung der sowjetischen Ansprüche bezüglich der Baltischen Republiken durch alle Teilnehmer implizieren würde.206 Kurz vor der sodann endgültig auf den 20.  Oktober 1943 terminierten konstituierenden Sitzung der Kommission wurde die sowjetische Regierung erneut über das nunmehr aktualisierte Datum der ersten Sitzung informiert und über den Umstand in Kenntnis gesetzt, dass mit Ausnahme der UdSSR sämtliche Alliierten dem von der britischen Regierung vorgeschlagenen Vorgehen zur Gründung der Kommission einschließlich des von ihr vorgeschlagenen Teilnehmerkreises ihre Zustimmung erteilt hätten. Kerr verlieh namens seiner Regierung der Hoffnung Ausdruck, dass auch der neue sowjetische Botschafter Gusev die Ermächtigung seiner Regierung erhalten würde, an der Sitzung teilzunehmen.207 In einer Kerr nur einen Tag vor der anberaumten Sitzung erteilten formellen Antwort verwies Vyšinskij für die sowjetische Regierung erneut auf die aus deren Sicht nicht geklärte Frage der Zusammensetzung der Kommission, von der auch weiterhin die Frage nach der Ernennung eines sowjetischen Vertreters abhängig gemacht werde.208 In Ermangelung eines Einvernehmens über die von der Sowjetunion als vorab klärungsbedürftig empfundene Vorfrage der Zusammensetzung fand die Gründung der UNWCC am 20.  Oktober 1943 letztlich ohne sowjetische Vertretung statt.209 Lordkanzler Simon, der die erste Sitzung der Kommission, an der Vertreter von 17 Nationen inklusive der Dominions teilnahmen, als Vorsitzender leitete, hob allerdings die prinzipielle Zustimmung der sowjetische Regierung zur Schaffung der Kommission und zu den allgemeinen Grundsätzen ihrer Aufgaben her 205

Wiedergegeben nach Kochavi, Prelude, S. 49 f. Kochavi, Prelude, S. 50. 207 Schreiben von Kerr an die sowjetische Regierung v. 15. Okt. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 47; vgl. hierzu auch Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 632, Anm. 244. 208 Schreiben Vyšinskij an Kerr v. 19. Okt. 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 49, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 75, S. 327 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 27, S. 142–143; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 75, S. 238. 209 Kochavi, Prelude, S. 50, 54 ff.; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 632, Anm. 245 m. w. Nachw.; in Anbetracht der intensiven Vorkorrespondenz und Verhandlungsbemühungen auf beiden Seiten erweist sich die bei Prusin (Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 [3]) anzutreffende Bewertung, derzufolge Stalin die Teilnahme an der Kommission mangels Interesse schlichtweg abgelehnt haben soll, als allzu pauschal. 206

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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vor. Lediglich ein kurzfristig nicht zu überwindender Dissens in Detailfragen habe einer Sitzungsteilnahme zum gegebenen Zeitpunkt zunächst entgegen gestanden.210 Die schließlich unerhört gebliebene sowjetische Forderung, die von den unmittelbaren Kriegsfolgen geschundenen Sowjetrepubliken mit eigenen Mitgliedschaftsrechten in der einzusetzenden Beweissicherungskommission auszustatten, findet ihre Begründung sicherlich auch in dem Bestreben der Sowjetunion, das ihr zufallende Stimmgewicht in jenem Gremium um weitere Stimmrechte aus der­ sowjetischen Macht- und Einflusssphäre anzureichern. Hätten die sowjetischen Forderungen Gehör gefunden, wäre aus der Berücksichtigung der kriegsfolgenbetroffenen Sowjetrepubliken womöglich auch eine gewisse Präzedenz bezüglich der ferneren Zusammensetzung weiterer alliierter Institutionen, namentlich eines internationalen Strafgerichts, erwachsen – mit der Folge einer Erhöhung des sowjetischen Stimmgewichts auch auf dieser Ebene. Daneben wird man wohl auch dem Streben der UdSSR nach völkerrechtlicher oder jedenfalls faktischer Anerkennung der Annexion der Baltischen Republiken durch die alliierte Gemeinschaft ein gewisses Gewicht bei der Formulierung der sowjetischen Forderung beizumessen haben.211 Über das tatsächliche Gewicht dieses Beweggrundes für die interne Willensbildung lassen sich freilich keine hinreichend belastbaren Aussagen treffen. Gegen die Relevanz des Anerkennungsstrebens als handlungsleitendes Motiv bei der Formulierung der Forderung nach Einbeziehung der Sowjetrepubliken lässt sich namentlich der Umstand anführen, dass jedenfalls die amerikanische Regierung die Annexion der baltischen Staaten noch im selben Jahr – 1943 – und damit in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang inoffiziell anerkannt hat. Am 1.  Dezember 1943 bestätigte Roosevelt in Teheran Stalin grundsätzlich in dessen Annahme, dass die baltischen Länder vor der deutschen Okkupation „ein Teil der Sowjetunion“ gewesen seien.212 Dies legt den Schluss nahe, dass die sowjetische Abstandnahme von der Teilnahme an UNWCC jedenfalls nicht primär der versagten Anerkennung der Annexion geschuldet war. Zwar können aus der für den Dezember 1943 verbrieften faktischen Anerkennung der durch die Annexion der baltischen Staaten geschaffenen sowjetischen Herrschaftsbeziehung durch die Vereinigten Staaten nur bedingt Rückschlüsse auf die der ­Sowjetregierung 210

Kochavi, Prelude, S. 54. So namentlich Kochavi, SEER 69 (1991), S.  458 (477): „The Soviets tried to exploit­ british interest in […] in order to achieve a recognition of the territorial changes […].“ Zu möglichen Motiven der Sowjetunion ausf. ders., Prelude, S. 48 ff., 54 ff., 61 f. 212 Präsident Roosevelt, Protokoll der Sitzung in Teheran am 1. Dez. 1943, abgedr. in Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 1, Dok. 63, S. 138–142, hier S. 139: „Ich weiß, daß Litauen, Lettland und Estland in der Vergangenheit und auch unlängst ein Teil der Sowjetunion waren, und wenn russische Armeen wieder in diese Republiken einmarschieren, werde ich deswegen keinen Krieg gegen die Sowjetunion führen. Aber es kann sein, daß die öffentliche Meinung verlangt, dort einen Volksentscheid durchzuführen.“ Siehe zu diesem Zitat und dessen Einordnung auch Visuri, Sicherheitslage, S. 9. 211

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

zwei Monate zuvor – im Oktober dieses Jahres – ersichtliche Bereitschaft gezogen werden, der von der Sowjetunion angestrebten Anerkennung der Zugehörigkeit der baltischen Staaten zum sowjetischen Herrschaftsbereich durch ein offizielles Bekenntnis Rechnung zu tragen. Aus einem von Majskij gefertigten Vermerk über die Gespräche mit dem britischen Außenminister Eden unmittelbar nach dessen Rückkehr von einer Reise in die USA im April 1943 ergibt sich jedoch, dass die Frage des Baltikums nach Einschätzung Edens in den amerikanisch-­sowjetischen Beziehungen schon zu diesem Zeitpunkt „keine irgendwie bedeutende Rolle“ mehr spielen sollte.213 Zu berücksichtigen ist insoweit indes, dass die faktische Zurkenntnisnahme des durch die sowjetische Annexion geschaffenen status quo, verbunden mit einer Nichtinterventionszusage für den Rückeroberungsfall, die legitimierende Wirkung einer völkerrechtlichen Anerkennung nicht zu entfalten vermochte. Denn trotz der – zudem inoffiziell verlautbarten – Zusagen der amerikanischen Regierung214 fand eine Anerkennung der baltischen Sowjetrepubliken als solche de jure weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt statt.215 Im Gegenteil: Noch im Zusammenhang mit der Abfassung der Anklageschrift gegen die in Nürnberg vor Gericht gestellten Hauptkriegsverbrecher sah sich der amerikanische Hauptankläger Jackson angesichts einer zu Beschleunigungszwecken in die Endfassung der Anklage aufgenommenen Formulierung216 zu klarstellenden Bemerkungen „über Fragen des Sprachgebrauchs in der Anklageschrift“217 veranlasst. In dem an die Vertreter der drei anderen Siegermächte gerichteten 213

Bericht Majskijs v. 3. Mai 1943 über die Unterredungen mit Eden in der sowjetischen Botschaft in London am 7. und 12. April 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 16, d. 154, Bl. 2–25; Übersetzung ins Deutsche abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  1, Dok. 44, S. 104–117, hier S. 111: „Nach Edens Meinung wird die Frage des Baltikums künftig in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen keine irgendwie bedeutende Rolle mehr spielen. Natürlich gebe es in den USA viele Leute, die unter Berufung auf die Atlantik-Charta und auf das Prinzip der ‚Selbstbestimmung‘ der Völker gerne von der ‚Unabhängigkeit‘ Estlands, Lettlands und Litauens sprechen. Das ist jedoch nicht so ernst. Hat die Rote Armee erst das Baltikum eingenommen, verschwindet diese Frage von selbst von der Tagesordnung. […] Diese Tatsache muß anerkannt werden.“ 214 Dazu auch Kochavi, Prelude, S. 62 m. w. Nachw. in Fn. 97. 215 Siehe etwa Schmidt, Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 57. 216 Vgl. insoweit Einbeziehung der baltischen Staaten in den Kreis der „Sozialistischen Sowjetrepubliken“ im Rahmen der einleitenden Ortsangabe zu Anklagepunkt Drei, Abschn. A, Unterabschn. 2 der am 18.  Okt. 1946 vom IMT angenommenen Anklageschrift gegen die Hauptkriegsverbrecher, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 51: „In der USSR, d. h. in den Sozialistischen Sowjetrepubliken von Weißrußland, der Ukraine, von Estland, Lettland, Litauen […] (im folgenden genannt die ‚östlichen Länder‘).“; der Passus ist wiedergegeben auch im Vortrag des sowjetischen Hilfsanklägers vor dem IMT Ozol’ am 20. Nov. 1946 zu Anklagepunkt Drei, IMT, Bd. II, S. 73–80, hier S. 75. 217 Letter of Reservation by the United States Prosecutor in Regard to Wording of the Indictment v. 6. Okt. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 500, abgedr. in der englischen Ausgabe von IMT, Vol. 1, S. 95; für das Original der russischen Übersetzung GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 134, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 90, S. 251; eine Übersetzung ins Deutsche ist abgedr. in IMT, Bd. I, S. 103; vgl. für die Erläuterung der Beweggründe auch die Mitteilung an den Clerk of Recording Officer beim IMT, oben D., abgedr. ebd., S. 103–104.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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Vorbehaltsschreiben legte Jackson Bedacht auf die Feststellung, dass die in der Anklageschrift enthaltene Bezugnahme auf „Estland, Lettland, Litauen und gewisse andere Territorien innerhalb des Gebietes der USSR“ keinesfalls „als Anerkennung einer […] Souveränität [der Sowjetunion über die baltischen Territorien, d. Verf.] seitens der Vereinigten Staaten angesehen werden [dürfe, d. Verf.], oder als Hinweis auf eine Haltung, entweder seitens der Vereinigten Staaten oder seitens des Unterzeichneten hinsichtlich irgendeiner Forderung auf Anerkennung einer solchen Souveränität“218. Die rein pragmatische Zurkenntnisnahme der faktisch bereits hergestellten Machtverhältnisse vermochte das sowjetische Desiderat nach formalisierter Anerkennung der baltischen Sowjetstaaten als legitime Subjekte des Völkerrechts nicht einzulösen. Es bestand aus sowjetischer Perspektive mithin weiterhin ein naheliegendes Bedürfnis, die Eingliederung der baltischen Völker in die eigene Herrschaftssphäre in international bindenden Vereinbarungen abzubilden und damit jedenfalls mit dem Anschein der völkerrechtlichen­ Legitimität zu versehen. Einen gangbaren Weg in Richtung auf dieses Ziel schien die rechtsförmliche Zuerkennung von Mitgliedschaftsrechten in der UNWCC an die baltischen Staaten zu eröffnen, so dass die Herstellung eines Junktims zwischen Kommissionsteilnahme und vorheriger Einigung über den Teilnehmerkreis aus sowjetischer Sicht durchaus geeignet erscheinen konnte. Abgesehen davon gilt es in Rechnung zu stellen, dass den amerikanischen Zusicherungen vergleichbare Bekundungen in Richtung einer faktischen Anerkennung etwa von britischer Seite nicht überliefert sind, auch insoweit also ein Bedürfnis nach förmlicher Anerkennung etwa in Form von separaten Mitgliedschaftsrechten zugunsten der baltischen Sowjetrepubliken nicht von der Hand zu weisen war. Eine weitere – jedenfalls latent motivierende – Ursache für das sowjetische Beharren auf der Berücksichtigung der Sowjetrepubliken dürfte im Übrigen wiederum in dem sowjetischen Streben nach konsequenter Gleichbehandlung begründet liegen. Dem sowjetischen Selbstverständnis musste die britische Strategie zutiefst zuwider laufen, einer Anerkennung von Sonderrechten in der Kommission zu Gunsten der britischen Dominions das Wort zu reden, die nämliche Konsequenz für die aus ihrer Sicht statusrechtlich ähnlich zu qualifizierenden Sowjetrepubliken jedoch nicht zu ziehen. Eben jene als artifiziell wahrgenommene und durch formale Erwägungen verbrämte Differenzierung zwischen Dominions und Sowjetrepubliken wird bis in die gegenwärtige russische Geschichtswissenschaft hinein als Beleg für die Anwendung ungleichartiger Standards durch die Westalliierten und insbesondere Großbritannien angeführt. So wertet etwa der russische Historiker und Leiter der Historisch-Dokumentarischen Abteilung des russischen MID, Konstantin Provalov, das Verhalten der britischen Regierung in der hier interessierenden Auseinandersetzung als Ausdruck absoluter Doppelmoral gegenüber der UdSSR.219 218

Vorbehaltsschreiben des Hauptanklägers der Vereinigten Staaten Jackson über Fragen des Sprachgebrauchs in der Anklageschrift v. 8. Okt. 1945 (Fn. 217), wiedergegeben nach der dt. Übersetzung in IMT, Bd. I, S. 103. 219 Provalov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 49 (51).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Die empfundene Zurücksetzung in eigenen berechtigten Anliegen nährte das unterschwellig schwelende Misstrauen der Sowjetregierung gegenüber den wahren Absichten der Westalliierten im Allgemeinen und der Briten im Besonderen von Neuem. Denn jenseits vorübergehend herbeigeführter rhetorischer Übereinstimmungen oder erzielter Formelkompromisse durchzog die politischen Beziehungen der alliierten Großmächte weiterhin ein strukturprägendes Misstrauen in Bezug auf die politischen Absichten der Koalitionspartner. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die durch die UNWCC für eine produktive Zusammenarbeit zur Realisierung der gemeinsamen Schnittmengen eröffneten Räume wiederum nicht ausgeschöpft werden konnten. Die Sowjetunion reagierte nicht selten mit ins Auge fallender zeitlicher Verzögerung auf die Anfragen des Foreign Office, das sich seinerseits starkem Druck von Seiten der Öffentlichkeit und der Exilregierungen dahingehend ausgesetzt sah, die Gründung der Kommission weiter zu forcieren.220 Die britische Regierung wiederum sah sich angesichts der postponierenden Kommunikationspolitik der Sowjetregierung in ihrer Wahrnehmung bestätigt, wonach die Sowjetunion die alliierten Bemühungen in Richtung auf die Schaffung der Kommission zu unterminieren trachte. Das zum Teil als bewusste Verschleppung interpretierte erhebliche Zögern der sowje­tischen Regierung wiederum fand seine Ursachen in einem tiefsitzenden Argwohn gegenüber den langfristigen Ambitionen der westlichen Alliierten. Die Enttäuschung des sowjetischen Strebens nach gleichrangiger Berücksichtigung ihrer Interessen auf alliierter Ebene entsprang nicht zuletzt der häufig erst zu einem sehr späten Zeitpunkt veranlassten Einbeziehung der Sowjetregierung in einen nicht selten bereits ausgereiften westalliierten Entscheidungsprozess und ihrer namentlich im Kontext der UNWCC-Gründung monierten Konfrontation mit vollendeten­ Tatsachen. Wie schon zuvor im Zusammenhang mit dem Konflikt über den Umgang mit Heß und der sich anschließenden schwerwiegenden Belastung der britisch-sowje­ tischen Beziehungen u. a. wegen des Pravda-Artikels brachen sich auch bei der 220

Das sowjetische NKID beantwortete einige Noten des Foreign Office erst Monate später. Eine förmliche Reaktion der Sowjetunion auf die Schreiben der britischen Regierung v. 6. März, 19. Mai und 5. Juli 1943 erfolgte etwa erst mit der offiziellen Antwort der Sowjet­ regierung v. 26. Juli 1943, Note v. Molotov an Kerr v. 26. Juli 1943, AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 14–15, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 51, S. 231–232 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 23, S. 134–135; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 51, S. 136–13; das britische Schreiben v. 29. Sept. 1943 (AVP RF, f. 06, op. 5, p.  17, d.  166, Bl.  34–35, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  24, S.  136–137, in dt. Übersetzung teilweise wiedergegeben bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. 631, Anm. 242) wurde erst am 17. Okt. 1943 (AVP RF, f. 06, op. 5, p. 17, d. 166, Bl. 39–42, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 73, S. 323–326 =­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 26, S. 139–142; dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 73, S. 234–237) beantwortet, obwohl der sowjetischen Regierung bekannt war, dass die ursprünglich auf Ende September anberaumte konstituierende Sitzung der Kommission zur Ermöglichung der sowjetischen Teilnahme zuvor bereits einmal verschoben worden war.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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zum sowjetischen Verzicht an einer UNWCC-Teilnahme führenden Entwicklung die desintegrativen Wirkungen weitaus grundlegenderer Spannungsverhältnisse im alliierten Gefüge zwischen den Großmächten Bahn. Besonderen allianz­poli­ tischen Sprengstoff barg die im Mai 1943 von Roosevelt und Churchill getroffene221 und Stalin am 2. Juni 1943 eröffnete222 Entscheidung, die Bildung der ‚Zweiten Front‘223 in Frankreich um ein (weiteres) Jahr auf 1944 zu verschieben.224 ­Stalin­ bezeichnete es in einer Note an Roosevelt vom 11. Juni 1943 als schlechthin „unmöglich, sich dieser Entscheidung [der erneuten Verschiebung, d. Verf.] anzuschließen, die außerdem noch ohne ihre [der Sowjetregierung, d. Verf.] Teilnahme und ohne den Versuch herbeigeführt worden ist, diese sehr wichtige Frage gemeinsam zu erörtern, und die schwerwiegenden Folgen für den weiteren Verlauf des Krieges haben kann“.225 Maßgebend für den scharfen sowjetischen Protest226 war neben dem bei Fortschreibung des status quo drohenden unverändert hohen sowjetischen Blutzoll227 auch die Befürchtung, die Westalliierten könnten sich die aus den militärischen Auseinandersetzung mit der Deutschen Wehrmacht resultierende Schwächung der Kampfkraft der Roten Armee für ihre weiteren deutschland­politischen 221 Vgl. zur internen Willensbildung der Westalliierten in Bezug auf die Verschiebung der Zweiten Front insb. die Bestätigung der amerikanischen Entscheidung im Schreiben Churchill an Roosevelt v. 26.5.1943, abgedr. in Kimball, Churchill & Roosevelt, Vol. 2, S. 217–218. 222 Schreiben Roosevelts an Stalin v. 2.6.1943, abgedr. bei Butler, My Dear Mr Stalin, Dok. 100, S. 136–138. 223 Ausf. zur alliierten Diskussion um den Zeitpunkt der Eröffnung der Zweiten Front Laufer, Pax Sovietica, S. 106 ff. 224 Vgl. hierzu Tyrell, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, Beihefte Bd. 2, S. 89; Kochavi, Prelude, S. 48. 225 Personal Message of Premier J. V. Stalin to President Roosevelt, 11. Juni 1943, abgedr. in Butler, My Dear Mr Stalin, Dok. 102, S.  138–139, hier S.  139, zit. nach der dt. Übersetzung in Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Briefwechsel­ Stalins, S.  538–540 (hier S.  540). Für die entsprechende Erwiderung Churchill gegenüber siehe Schreiben Stalin an Churchill v. 24. Juni 1943, abgedr. in Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Briefwechsel Stalins, S. 171–175 (hier S. 174 f.), Auszüge bei Laufer, Pax Sovietica, S. 129: „Es bedarf keiner Worte, dass sich die Sowjetregierung mit einer solchen Missachtung der lebenswichtigen Interessen der Sowjetunion im Krieg gegen den gemeinsamen Feind nicht abfinden kann.“ 226 Vgl. zum äußerst scharfen Tonfall der Korrespondenz jener Tage die Bewertung des Schreibens Stalin an Churchill v. 24. Juni 1943 (Fn. 225) durch den Vertrauten Roosevelts, Sherwood, Roosevelt and Hopkins, S. 734: „In the latter part of June […] he [Stalin, d. Verf.] sent Churchill a cable in which he reviewed at length all the assurances that had been ­given during the past thirteen months relative to the opening of  a Second Front, and concluded with words which could be interpreted only as charges of deliberate bad faith by the Western­ Allies.“ 227 Vgl. Schreiben Stalin an Churchill v. 24. Juni 1943 (Fn. 225), abgedr. in Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Briefwechsel Stalins, S. 171–175, hier S. 174 f., auszugsweise wiedergegeben auch bei Laufer, Pax Sovietica, S. 129: „Man darf nicht vergessen, dass es [bei der Eröffnung der Zweiten Front, d. Verf.] darum geht, Millionen von Menschenleben in den besetzten Gebieten Westeuropas und Russlands zu retten und die gewaltigen Opfer der sowjetischen Armeen zu verringern, im Vergleich zu denen die Opfer der angloamerikanischen Truppen unbedeutend sind.“

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Ambitionen zunutze machen wollen.228 Die sowjetische Verdrossenheit ob des westalliierten Beschlusses fand Ausdruck etwa in der im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Eröffnung der Entscheidung verlautbarten Einberufung des erfahrenen sowjetischen Botschafters in Großbritannien, Majskij, nach Moskau zwecks Durchführung von „Konsultationen über Nachkriegsfragen“. Die demonstrative Zurückbeorderung des Botschafters markierte ebenso wie die sodann im Juli 1943 verkündete Ernennung Majskijs zum stellvertretenden Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten eine Etappe diplomatischer Distanzierung durch die Sowjetunion als Reaktion auf die Verärgerung über die Nichteröffnung der Zweiten Front in Europa.229 Inwieweit, in welchem Verhältnis und unter welchen Wechselwirkungen die Differenzen der Alliierten auf dem Gebiet der Kriegsführung, die Frustration Stalins 228 Hinter dem sowjetischen Misstrauen verbarg sich insbesondere die Befürchtung, dass die Westalliierten mit der Eröffnung der Zweiten Front solange warten würden, bis „die Rote Armee der deutschen Militärmaschinerie das Rückgrat […] gebrochen [haben würde, d. Verf.] und die Sache ihrem Ende entgegengeht“. Dann jedoch würden die Alliierten „schnellstens eine Zweite Front errichten“ (Eintrag Majskijs in dessen Tagebuch v. 24. Jan. 1943, AVP RF, f. 017a, op. 1, p. 2, d. 10, Bl. 27, wiedergegeben nach der auszugsweisen Übersetzung ins Deutsche bei Laufer, Pax Sovietica, S. 126), um sich die von der Sowjetarmee mit hohem Blutzoll geleistete „Hauptarbeit“ zunutze machen zu können: „Dann könnten die Engländer im Coupé mit den Amerikanern ‚bequem‘ in Frankreich landen und sich ohne große Verluste auf den Weg nach Berlin machen“, um dort der von ihnen befürchteten Bolschewisierung Europas entgegen wirken zu können (Telegramm Majskij an Molotov v. 13. Feb. 1943, AVP RF, f. 059, op. 10, p. 7, d. 55, Bl. 111–104, in Auszügen veröff. in MID SSSR (Hrsg.), Sovetsko-Anglijskie Otnošenja, T. I, S. 336–340, vorstehend zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Dok. 39, S. 94–99, hier S. 98. Dass derlei Erwägungen keineswegs aus der Luft gegriffen waren, belegen die Ausführungen des Vorsitzenden der polnischen Exilregierung in London, Sikorski, gegenüber Roosevelt, denen zufolge einer alliierten Landung in Deutschland selbst zu diesem Zeitpunkt das Potential innewohnte, „die sowjetische Hegemonie über den europäischen Kontinent [zu, d. Verf.] vermeiden“, wiedergegeben nach Mastny, Moskaus Weg zum Kalten Krieg, S. 76; die hier interessierende Passage findet sich auch bei Laufer, Pax Sovietica, S. 129, Fn. 107. Eingehend zur sowjetischen Instrumentalisierung der Forderung nach Eröffnung der zweiten Front ebd., S. 125 ff., wonach die jeder realer Erwartungsgrundlage entbehrende sowjetische Forderung aus Sicht der Sowjetmachthaber eine mehrfache Funktion erfüllen sollte: Demnach brachte sie nicht nur die Hoffnung auf Linderung der eigenen Kriegslasten zum Ausdruck, sondern transportierte zugleich einen „propagandistischen Vorwurf“ (ebd., S. 125) an die Westmächte, wirkte überdies als Hebel zur Realisierung weiterer Forderung, insbesondere nach materiellen Hilfslieferungen (Rüstungsunterstützung) und zur propagandistischen Einwirkung auf die Sowjetbevölkerung, deren antiimperialistische Vorurteile mit dem Hinweis auf die westalliierte Verweigerungshaltung aufrechtzuerhalten waren. 229 In diesem Sinne interpretierte insbesondere Majskij die ihn betreffenden Personalentscheidungen, vgl. hierzu den Vermerk desselben über die bevorstehende Abreise in seinem Tagebuch am 2.  Juli 1943, AVP RF, f. 017a, op. 1, p.  2, d.  10, Bl.  206, zusammengefasst bei ­L aufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, S.  616, Anm.  182; vgl. zum Vorgang auch Kochavi,­ Prelude, S.  48. Auch im westalliierten Lager wurde die Rückbeorderung Majskijs und die zeitgleich dekretierte Abberufung des sowjetischen Botschafters in Washington, Litvinov, als Ausdruck massiver Spannungen gewertet, vgl. etwa die Beurteilung durch den Roosevelt-­ Vertrauten und Redenschreiber Sherwood, Roosevelt and Hopkins, S. 734.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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über den zeitlichen Aufschub der Eröffnung der Zweiten Front, die schleppenden Rüstungslieferungen oder die Frage der baltischen Republiken die Entscheidungen der sowjetischen Regierung tatsächlich beeinflusst haben, ist einem empirischen Zugriff letztlich nicht zugänglich. Kausalitätsnachweise zwischen Motivation und Entscheidung sind anhand der verfügbaren Quellenlage kaum zu führen; entsprechende Ansätze erschöpfen sich aufgrund der Komplexität der alliierten Beziehungen in letztlich spekulativen Verknüpfungen. Als gesichert kann gleichwohl der Befund gelten, dass sich die Sowjetunion jedenfalls auch durch das tiefverwurzelte Misstrauen insbesondere in der Kriegsverbrecherfrage dazu veranlasst sah, sich in der gewählten Art und Weise zu verhalten, weitergehende Forderungen zu formulieren und sich von der Politik der westlichen Alliierten gegebenenfalls zu distanzieren. Ob und inwiefern das auf sowjetischer Seite aufgestaute Misstrauen gegenüber den wahren Motiven der westlichen Alliierten in der Sache auf einer ganz oder teilweise zutreffenden Wahrnehmung beruhte, wird abschließend  –­ zumal im Rahmen der vorliegenden Arbeit  – kaum zuverlässig zu beantworten sein. Den insbesondere von Stalin getragenen Befürchtungen jedenfalls, die westlichen Alliierten würden die UdSSR tatsächlich schwächen wollen, steht objektiv eine erhebliche militärische Hilfeleistungen seitens der Westalliierten entgegen, insbesondere in Gestalt beträchtlicher Materiallieferungen. Andererseits jedoch bestehen erhebliche Zweifel an der Aufrichtigkeit der Kommunikations­politik Churchills und Roosevelts gegenüber Stalin, namentlich im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Eröffnung der „Zweiten Front“.230 7. Offizielle Konsenswahrung in der Folgezeit: Vermeidung offener Verwerfungen als Maxime der alliierten Außendarstellung Trotz der auch im Laufe der Jahre 1942 und 1943 auf allen diplomatischen Kanälen ausgefochtenen sachlichen und organisatorischen Differenzen kehrte in den Beziehungen der Alliierten äußerlich eine gewisse Beruhigung ein, die sich auch auf die öffentliche Auseinandersetzung über die Behandlung von Kriegsverbrechern erstrecken sollte. Sowohl die Sowjetunion als auch die westlichen Alliierten schienen darauf bedacht, weitere Spannungen in der Kriegsverbrecherfrage – jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung – zu vermeiden.231 So hatten sich die 230

Vgl. etwa die bei Böttger, Zweite Front, S. 129 vorgenommene Bewertung; ähnlich Laufer, Pax Sovietica, S. 128, der Roosevelt in dieser Frage die Verfolgung einer „Doppelstrategie“ attestiert. 231 Dies war nicht zuletzt auch dem gemeinsamen Anliegen geschuldet, die zum Teil gravierenden Konfliktlinien in der alliierten Phalanx jedenfalls vor den Augen Hitlerdeutschlands zu kaschieren. Hätte dessen Führung um die insbesondere Mitte 1943 infolge der Vertagung der Zweiten Front eingetretenen Friktionen im alliierten Gefüge gewusst, wäre nach Einschätzung von Zeitzeugen ein anderer Kriegsverlauf nicht auszuschließen gewesen. Mit einem Auseinanderbrechen der alliierten Front verband Hitler nämlich nach geläufiger B ­ eurteilung seine

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

alliierten Großmächte und andere Länder am 17. Dezember 1942 ungeachtet des mit der sowjetischen Note vom 14. Oktober 1942232 erst kurz zuvor eingeschlagenen Sonderweges auf eine gemeinsame Erklärung zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa einigen können.233 Die Entwürfe dieser u. a. von Eden am 17.  Oktober 1942 vor dem britischen Unterhaus verlesenen234 Erklärung waren in kooperativer Atmosphäre aufeinander abgestimmt und die – g­ eringfügigen –­ Änderungsvorschläge des sowjetischen Botschafters235 sowie Anmerkungen von Seiten der westlichen Alliierten allgemein konsentiert worden.236 Nur einen Tag nach der erstmaligen Verlautbarung der russischen Fassung veröffentlichte das­ Informationsbüro des NKID eine eigene offizielle Erklärung über den Plan der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten in Europa.237 In ihrem sprachlichen Stil wiesen die nahezu zeitgleich verabschiedeten und thematisch deckungsgleichen Verlautbarungen indes einen starken Kontrast auf. Während die kürzere gemeinsame Erklärung allgemeiner von der Umsetzung der Absicht Hitlers, die jüdische Bevölkerung zu vernichten, sprach, wählte die wesentlich länger gefasste sowjetische Variante in der für sie charakteristischen Rhetorik deutlich schärfere Formulierungen, wenn sie etwa von einem „kannibalischen Plan Hitlers“ oder „blutigen Orgien der Vernichtung“238 sprach. Anhand letzte Hoffnung, dem Kriegsgeschehen doch noch eine ihm günstigere Wendung zu verleihen, siehe insoweit die Einschätzung Sherwoods, eines Redenschreibers und engen Vertrauten des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, Sherwood, Roosevelt and Hopkins, S. 734: „There was now an atmosphere alarmingly reminiscent of that which had preceded the Molotov-Ribbentrop Pact of August, 1939, and the fears of a separate Russo-German Armistice were revived. The Roosevelt-Stalin meeting was postponed indefinitely. It was fortunate that Hitler did not know how bad the relations were between the Allies at that moment, how close they were to the disruption which was his only hope of survival.“ 232 Erklärung v. 14. Oktober 1942 (Fn. 47). 233 Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden v. 17. Dez. 1942, russ. Fassung abgedr. in: NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 328–329 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 100–101; für die amtliche englische Fassung siehe den Abdruck in US Department of State Bulletin 7 (1942), No. 182 (December 19, 1942), S. 1009. 234 Eden, in: House of Commons Debates, 17 October 1942, HC Hansard Series 5, Vol. 385, Col. 2083; für die anschließende parlamentarische Debatte um die Interpretation der Erklärung siehe ebd., Col. 2084–2087. 235 Für den Inhalt des in leicht abgeänderter Form in die Endfassung (vgl. House of Commons Debates, 17 October 1942, HC Hansard Series 5, Vol. 385, Col. 2083: „The number of victims of these bloody cruelties […]“) übernommenen sowjetischen Änderungsvorschlags („The number of victims of these sanguinary punishments […]“) siehe Secretary of State to the Ambassador in the UK, Winant, 12. Dezember 1942, abgedr. in FRUS 1942, Bd. I, S. 69. 236 Für eine Rekonstruktion des internen Abstimmungsprozesses vgl. den in FRUS 1942, Bd. I, S. 66–71 dokumentierten Schriftverkehr zwischen den alliierten Regierungen. 237 Erklärung v. 19. Dez. 1942, abgedr. in NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287–293 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S. 329–336 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 19, S.  113–118; auszugsweise abgedr. bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 101–102; die englische Fassung ist abgedr. in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 57–62. 238 Ü. d. Verf., Erklärung v. 19. Dez. 1942 (Fn. 237), zit. nach NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287 (289).

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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authentischen Dokumentationsmaterials lasse sich der Nachweis führen, dass es sich bei den Verbrechen in den besetzten Gebieten um ein blutiges Massaker handele.239 Die zentrale Botschaft der sowjetischen Erklärung bestand indes entsprechend der oben bereits erörterten Entwicklung der Noten in der mit besonderem sprachlichen Nachdruck akzentuierten Planmäßigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen.240 Trotz der erheblichen Abweichung in der sprachlichen Gestaltung und der sowjetischen Akzentuierung der Planmäßigkeit der Verbrechensausführung traten grundlegende Unterschiede zwischen den in beiden Erklärungen enthaltenen Folgerungen nicht zu Tage. Hinsichtlich der aus den nationalsozialistischen Gräueltaten zu ziehenden Konsequenzen enthielten beide Erklärungen lediglich die allgemein gehaltene Feststellung, dass die Verantwortlichen ihrer verdienten Vergeltung nicht entgehen würden.241 Eine Festlegung der UdSSR auf die Notwendigkeit eines juristischen Verfahrens gegen Hauptkriegsverbrecher lässt sich der Erklärung – anders als der Erklärung vom 14. Oktober 1942 – nicht entnehmen. Obwohl also die Sowjetführung aus vornehmlich propagandistischen Erwägungen die Veröffentlichung einer in deutlich drastischere Worte gekleidete eigenen Parallelerklärung zur gemeinsamen Verlautbarung für opportun er­ achtete, nahm sie diese gleichwohl nicht zum Anlass, ihre nur zwei Monate zuvor erstmals artikulierte Forderung nach gerichtlicher Bestrafung der Hauptverantwortlichen erneut expressis verbis aufzugreifen und damit das hergestellte Einvernehmen öffentlich erneut in Frage zu stellen. Eine Aktualisierung der sowjetischen Position zur Notwendigkeit eines gerichtlichen Verfahrens erfolgte auch nicht etwa gelegentlich des am 11. Mai 1943 von Molotov dekretierten Runderlasses, der die Deportationen von sowjetischen Staatsbürgern zum Zwecke der Zwangsarbeit zum Gegenstand hatte.242 Die auf den Leiter des Agitprop, Aleksandrov, zurückgehende Initiative zu der Erklärung war maßgeblich durch das den Propagandaorganen nunmehr zur Verfügung stehende Informationsmaterial bezüglich konkreter Verbrechen veranlasst. Derlei Dokumente sollten fortan ausgiebig in die veröffentlichten Erklärungen einbezogen werden. Dementsprechend nahm auch der Runderlass in sehr ausführlicher Form auf vorgebliche Beweisdokumente Bezug oder gab deren Inhalt auszugsweise im Wortlaut wieder. Die Verantwortlichkeit für die Verbrechen erstreckte die sowjetische Regierung in dem Runderlass über die ohnehin durchgehend verantwortlich gemachte deutsche Regierung und Heeresführung sowie die betreffenden deutschen Behörden hinaus nunmehr auch auf solche Privatpersonen, die in 239

Erklärung v. 19. Dez. 1942 (Fn. 237), NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287 (290). Erklärung v. 19. Dez. 1942 (Fn. 237), NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287 (290). 241 Erklärung v. 19. Dez. 1942 (Fn. 237), NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 287 (293). 242 Runderlass v. 11. Mai 1943, abgedr. in NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 313–330 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), S. 359–380; auszugsweise bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 22, S. 121–133; engl. Fassung in Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 62–77; auszugsweise dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 46, S. 119–121. 240

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

ihren Betrieben bzw. Haushalten die Arbeitskraft der verschleppten sowjetischen Bürger ausbeuteten. Im Hinblick auf die dem erweiterten Kreis der Verantwortlichen in Aussicht gestellte Ahndung beschränkte sich die Erklärung erneut auf eine nicht näher konkretisierte Forderung nach strengstmöglicher Bestrafung.243 Der Umstand, dass die in der Erklärung vom 14. Oktober 1942 erstmals postulierte gerichtliche Aburteilung auch bei diesem  – thematisch naheliegenden  – Anlass wiederum nicht erneut aufgegriffen wurde, mag als weiterer Beleg für den sowjetischen Beitrag zur diplomatischen Deeskalation und rhetorischen Abrüstung der alliierten Beziehungen angeführt werden. 8. Der Ukaz Nr. 43 vom 19. April 1943: Sowjetisches Sonderrecht zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und rechtspraktische Erprobung auf sowjetischem Territorium Abseits der internationalen Bühne regierungsamtlicher Verlautbarungen nahmen in der UdSSR interne Maßnahmen zur praktischen Implementierung von Mechanismen zur Ahndung von auf sowjetischem Territorium begangenen Kriegs- und Gewaltverbrechen konkrete Gestalt an. Die juristische Grundlage für entsprechende Maßnahmen wurde mit dem Dekret (russ. Ukaz) Nr. 43 des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „[ü]ber Maßnahmen zur Bestrafung der deutschen faschistischen Übeltäter, schuldig der Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten, der Spione, der Vaterlandsverräter unter den sowjetischen Bürgern und deren Mithelfern“ (Ukaz Nr. 43)244 am 19. April 1943 bereitgestellt.

243

Runderlass v. 11.  Mai 1943 (Fn.  242), NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S.  313 (329); Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 46, S. 119 (121). 244 Punkt 112 des Protokoll No 40 der Sitzung des Politbjuro ZK VKP(b) v. 19. April 1943, RGASPI, f. 17, op. 3, d.  1047, Bl.  34 (Sanktionierung des Entwurfs des Dekrets durch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR) sowie Text des Ukaz im Anhang zum Protokoll, ebd., Bl. 232–233, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 21, S. 119–121; russ. Originaltext und dt. Übersetzung abgedr. bei Zeidler, Stalinjustiz, S. 52–54 und 54–56, sowie ­Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279–281 und S. 282–284; zur Entstehung des Dekrets eingehend Hilger/Petrov/Wagenlehner, in: Hilger/Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd.  1, S.  177–209; Hilger, VfZ 54 (2006), S.  461 (466) und­ Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240–261; vgl. auch Epifanov, ­Otvetstvennost’, S. 26 ff; Eiber, in: Finger/Keller/Wirsching (Hrsg.), Recht zur Geschichte, S. 38 (46); Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 70 f.; Becker, Rätsel des Ukas 43 (1991). Zu den Möglichkeiten einer Strafverfolgung auf Grundlage des geltenden sowjetischen Strafrechts siehe Epifanov, in: Gorzka/Stang (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 111 (116 f.); ders,­ Voennye prestuplenija, S. 114 ff.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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a) Der Ukaz Nr. 43 als strafrechtliches Passepartout: Ideologische Überformung des kodifizierten Sowjetstrafrechts In dem nicht förmlich veröffentlichten und mit dem Vermerk „Nicht für die Presse“ versehenen245 Ukaz Nr. 43 traf der Oberste Sowjet der UdSSR u. a. folgende bindende Anordnung gegenüber den erkennenden Strafverfolgungsorganen246: „1.  Zu erkennen, daß die deutschen, italienischen, rumänischen, ungarischen und finnischen faschistischen Übeltäter, die der Tötung und Mißhandlung der Zivilbevölkerung überführt sind, und die Spione und Verräter der Heimat unter den sowjetischen Bürgern mit dem Tod durch Erhängen bestraft werden. 2. Die Mithelfer aus der örtlichen Bevölkerung, die der Unterstützung der Übeltäter bei Ausschreitungen und Gewalttaten gegenüber wehrlosen sowjetischen Bürgern und gefangenen Rotarmisten überführt sind, werden mit Verbannung zur Zuchthausarbeit für eine Frist von 15 bis 20 Jahren bestraft.“247

Mit dem Dekret vom 19. April 1943 wurden der Sache nach zwar keine neuen Strafandrohungen für bis dato nicht pönalisiertes Verhalten statuiert. Vielmehr bewirkte das Dekret lediglich eine – wenngleich z. T. empfindliche – Verschärfung der bereits nach dem bisherigen Recht anwendbaren Tatbestände auf Rechtsfolgenebene, ohne insoweit indes die förmliche Änderung der bestehenden StGB-Normen explizit anzuordnen. So waren Spionage und Kollaboration durch Sowjetbürger in allen erdenklichen Variationen zuvor bereits durch die uferlosen Tatbestände des Art. 58 StGB RSFSR (gegenrevolutionäre Delikte)248 erschöpfend mit (Todes-) Strafe bedacht. „Gewalttätige“ Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige gegen die sowjetische Zivilbevölkerung bis hin zu willkürlichen H ­ inrichtungen ­begegneten 245

Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier wiedergegeben nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (279) für die deutsche Fassung und S. 282 (282) für den entsprechenden Vermerk auf dem Abdruck der russ. Originalfassung. 246 Gem. Ziff.  3 des Ukaz Nr.  43 v. 19.  April 1943 (Fn.  244), hier zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (280), war die strafrechtliche Untersuchung und Urteilsfindung den bei den Divisionen der Fronttruppen einzurichtenden sowjetischen Feldgerichten zu übertragen. Gem. Ziff.  4 des Ukaz (a. a. O.) waren die Urteile der Feld­ gerichte bei den Divisionen vom Divisionskommandeur „zu bestätigen und unverzüglich zu vollstrecken“. 247 Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (280). 248 Nach Art.  58–1a (Vaterlandsverrat) StGB RSFSR etwa wurden „mit der schwersten Kriminalstrafe  – Erschießung, verbunden mit Konfiskation des gesamten Vermögens, bei Vorliegen mildernder Umstände  – mit zehn Jahren Freiheitsentziehung, verbunden mit der Konfiskation des gesamten Vermögens“ von Sowjetbürgern „zum Nachteil der militärischen Macht der UdSSR, ihrer staatlichen Unabhängigkeit oder der Unantastbarkeit ihres Gebiets“ begangene Handlungen bestraft, „wie Spionage, Preisgabe eines militärischen oder Staats­ geheimnisses, Überlaufen zum Feind oder Flucht ins Ausland“. Für den Wortlaut des gesamten Art.  58 StGB RSFSR siehe die Übersetzung ins Deutsche bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (16–20). Zur Genese dieser Strafrechtsbestimmung ausf. Maurach, in: Zeitschrift für ost­ europäisches Recht 3 (1936/1937), S. 223–229.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

in Art. 193–28 StGB RSFSR über „militärische Verbrechen“249 unter der Voraussetzung des Vorliegens „erschwerender Umstände“ einer auf die Höchststrafe im sowjetischen Sanktionensystem (Art. 21 StGB RSFSR) lautenden Strafandrohung. Auch der in Art. 193–29 StGB RSFSR250 enthaltene Tatbestand der Gefangenenmisshandlung sah schon vor dem Erlass des Ukaz Nr. 43 eine entsprechende Pöna­ lisierung vor, die mit einer Höchststrafe von drei Jahren jedoch ungleich milder ausfiel als das in Ziff. 2 des Ukaz für diesbezügliche Unterstützungshandlungen nunmehr angeordnete Mindestmaß von 15 Jahren.251 Darüber hinaus wurden die den deutschen Aggressoren zur Last gelegten Verhaltensweisen auch vor Erlass des Dekrets von weiteren, dem Schutz von Individualrechtsgütern dienenden und damit ‚unpolitischen‘ Straftatbeständen erfasst, etwa in Gestalt von Art. 136 (Mord), Art. 137 (Totschlag), Art. 142–146 (Körperverletzungsdelikte), Art. 165 (Raub) und Art. 175 StGB RSFSR (vorsätzliche Zerstörung oder Beschädigung von Privatvermögen).252 Das mit den letztgenannten Bestimmungen des Individualstrafrechts im sowjetischen Strafrechtssystem jeweils verknüpfte relativ geringfügige Strafmaß253 hatte indes zur Folge, dass den vorgenannten Bestimmungen bei der Ahndung von Kriegsverbrechen auch vor dem Ukaz Nr. 43 keine nennenswerte Rolle in 249

Für den Wortlaut des Art. 193–28 vgl. Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (67): „Raub, Plünde­ rung, gesetzwidrige Zerstörung von Vermögenswerten und Gewalttätigkeit sowie gesetzeswidrige Wegnahme von Vermögensgegenständen unter dem Vorwand einer militärischen Notwendigkeit, die gegenüber der Bevölkerung im Gebiet der Kriegshandlungen begangen werden, ziehen nach sich: Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren […], bei Vorliegen erschwerender Umstände die schwerste Maßnahme des sozialen Schutzes [Erklärung zum Feind der Werktätigen, Art. 20 lit. a StGB RSFSR, d. Verf.]“. Mit dem weit ausgelegten Begriff der gegen die Zivilbevölkerung gerichteten „Gewalttätigkeit“ sollten nicht nur solche ohne militä­ rische Notwendigkeit verübten Repressionen gegen Zivilpersonen erfasst werden, durch die die körperliche Unversehrtheit unmittelbar eine Beeinträchtigung erfuhr, sondern jedweder Willkürakt unter Ausnutzung der militärischen Bewaffnung, vgl. hierzu die Kommentierung zur ursprünglich in Art. 193–18 des StGB RFSFR enthaltenen Regelung durch Žižilenko, in: Gernet/Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 193–18, Anm. 1, S. 307. 250 Für den Wortlaut des Art. 193–28 vgl. Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (67): „Wiederholte oder mit besonderer Grausamkeit gegen Kranke oder Verwundete gerichtete schlechte Behandlung von Gefangenen sowie Nachlässigkeit in der Erfüllung der Pflichten gegenüber den bezeichneten Kranken oder Verwundeten seitens Personen, die für ihre Heilung und Pflege zu sorgen haben, zieht nach sich: Freiheitsentziehung bis zu drei Jahren.“ 251 Vgl. zu dem Befund, dass die mit dem Ukaz Nr. 43 pönalisierten Verhaltensweisen schon zuvor – namentlich durch Art. 193–28 und 193–29 StGB RSFSR – mit erheblichen Strafen bedroht waren auch Epifanov, Otvetstvennost’, S. 23; ders., Voennye prestuplenija, S. 17. 252 Für die Möglichkeit einer Heranziehung unpolitischer Strafrechtsnormen für die Ahndung deutscher Kriegsverbrechen vgl. insbes. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 96. Für den Wortlaut der vorstehenden ausgewiesenen Normen vgl. Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (46, 47, 48, 52 f., 55). 253 Selbst für die vorsätzliche Tötung unter erschwerenden Umständen (Mord) sah Art. 136 Abs.  1 des StGB RSFSR ein Strafmaß von nicht mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Lediglich für die unter diesen Umständen von einer Militärperson begangene vorsätzliche­ Tötung ordnete Art. 136 Abs. 2 StGB RSFSR seit der Neuregelung vom 1. Sept. 1934 (Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1934 No 34, Art. 206) die Erschießung des Delinquenten an.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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der forensischen Praxis zufiel. Mit Blick auf die Qualifikation der gesamten Wehrmacht als kriminelle Organisation mit politischen Zielen konnte etwa ein phänotypisch sich als einfacher Raub i. S. v. Art. 165 StGB RSFSR (Strafrahmen bei Gewaltanwendung bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe, bei einer Mehrheit von Personen auf Täterseite oder wiederholter Begehung fünf Jahre254) darstellendes Verhalten als Banditentum i. S. v. Art. 59–3 qualifiziert werden – mit der Folge der Strafandrohung der Erschießung255 bei Vorliegen besonders erschwerender Umstände.256 Mit dem Dekret reagierte die Sowjetführung vor diesem Hintergrund sowohl auf die als zu nachgiebig empfundenen gesetzlichen Strafrahmen257 als auch auf die für zu uneinheitlich und zu mild befundene Spruchpraxis bei der Anwendung namentlich der Art. 58 und 193 StGB RSFSR258, indem sie „in sehr summarischer und – um die Abschreckungswirkung zu steigern – unklar weitgefasster Weise die Strafdrohung für schon vorher strafwürdige Handlungen“259 weiter verschärfte. Den Anforderungen an ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und -verlässlichkeit Rechnung tragende begriffliche Kategorien waren dem Ukaz nicht zu entnehmen.260 Neben rein politisch motivierter und mit juristischer Methodik nicht einfass­barer Kampfmetaphorik („unerhörte Gräueltaten“, „abscheuliche Gewalttaten“, „faschistische Ungeheuer“, „Verräter der Heimat“, „blutige Ausschreitungen“ oder „Übeltäter“) bediente sich der Ukaz mit den zur Tatbestandsausfüllung eingesetzten Begriffen der „Ausschreitungen“, „Gewalttaten“ und der „Mißhandlung der Zivilbevölkerung“ einer Reihe von in höchstem Maße ausfüllungsbedürftigen Begriffen, für deren Konkretisierung der Ukaz keinerlei Anhalt bereitstellte.261 254

Vgl. die Wortlautwiedergabe zur Strafnorm bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (52 f.). Vgl. die dt. Übersetzung des Wortlauts der Strafnorm in der Fassung der Änderung vom 6. Juni 1927 (Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1927 No 49, Art. 330) bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (52 f.). Zur Auslegung des Begriffs der Bande i. S. v. Art. 59–3 StGB RSFSR in der zeitgenössischen sowjetischen Kommentarliteratur vgl. Ordynskij, in: Gernet/ Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 59–3, Anm. 1, S. 110–111. 256 Zu diesem Befund und weiteren Belegen aus der Praxis Maurach, Kriegsverbrecher­ prozesse, S. 69 f. 257 Vgl. die kurz vor dem Erlass formulierte Bestandsaufnahme in der Notiz Malenkov an Stalin v. 9. April 1943, AVP RF, f. 3, op. 50, d. 540, Bl. 124–126, hier zit. nach Hilger, in: Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik, S.180 (200, Fn. 102). 258 Vgl. Abs. 2 der Präambel zum Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier zit. nach­ Ueber­schär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (279 f.): „Inzwischen werden gegenwärtig gegen all diese Verbrecher und ihre Mithelfer aus der örtlichen Bevölkerung, die sich blutiger Ausschreitungen gegenüber der friedlichen sowjetischen Bevölkerung und den gefangenen Rotarmisten schuldig gemacht haben, Strafmaßnahmen ergriffen, die ganz unverkennbar nicht den von diesen begangenen Übeltaten entsprechen.“ 259 Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 70. 260 Vgl. insoweit etwa den bei Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (265 f.), formulierten Befund: „Der Text selbst weist praktisch keinen Hinweis betreffend konkreter Tatbestände auf, das heißt, er enthielt keine rechtlichen Grundlagen, um die Schuldigen zu verfolgen und zu bestrafen.“ 261 Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 (4): „The decree provided no legal definition of war crimes – it used the all-encompassing terms ‚atrocities‘ or ‚evil deeds‘ […].“ 255

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Nach einhelliger Lesart sollten die im Ukaz getroffenen Anordnungen nicht nur auf zukünftig verübte Gewalttaten gegenüber sowjetischen Zivilpersonen und gefangenen Rotarmisten, sondern rückwirkend auf alle seit Kriegsbeginn im Juni 1941 begangenen und für strafwürdig befundenen Handlungen zur Anwendung gebracht werden.262 Die implizite Rückerstreckung des Anwendungsbefehls auf zuvor begangene Gräueltaten folgt nicht nur aus dem gänzlichen Fehlen von Bestimmungen zum zeitlichen Geltungsbereich, insbesondere zum Inkrafttreten des Dekrets, sondern auch aus der dem verfügenden Teil des Ukaz vorangestellten einleitenden Umschreibung der begangenen Gräueltaten, die Anlass und Motivation des Dekrets gleichermaßen abbildeten und die aus Sicht des Obersten Sowjet der UdSSR eine deutlich verschärfte Spruchpraxis notwendig erscheinen ließen.263 Auf dem Boden des Systems des Sowjetstrafrechts, namentlich unter Berücksichtigung der Wertungen des in Art. 16 StGB RSFSR vom 22. November 1926 verankerten­ Analogiegebots264, begegnete eine solche rückwirkende Reaktion auf begangenes Unrecht in Gestalt drastischer Strafschärfungen jedenfalls keinen durchgreifenden dogmatischen Bedenken. Die Frage nach der Vereinbarkeit des Ukaz 43 als einziger von der Sowjetführung während der Kriegsjahre erlassener Strafanordnung für Kriegs- und Völkerrechtsverbrechen mit unionsweiter Geltung265 mit dem seinerzeitigen Stand der Völkerrechtsentwicklung indes wird jedenfalls nicht einheitlich beurteilt.266 Außer 262

Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S.  240 (241);­ Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 45; Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 70; Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466). 263 Vgl. die einleitenden amtlichen Vorbemerkungen zum Ukaz Nr.  43 v. 19.  April 1943 (Fn. 245), hier Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (279 f.). 264 Ausf. hierzu bereits die Nachw. in Kap.  B. Fn.  200 u. 201. Zur geringen forensischen­ Relevanz des Art. 16 StGB RSFSR auch bei der Ahndung von Kriegsverbrechen durch sowjetische Gerichte vgl. Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 57: „Bekannt geworden sind solche Fälle bisher nicht, und wie die Dinge liegen, besteht wohl auch kein besonderer Anlaß, zur Hilfskonstruktion des Art. 16 zu greifen: Gerade die Deliktsgruppen, die den ‚Kriegsverbrechern‘ zu 90 % vorgeworfen werden, zeichnen sich durch eine derart unbegrenzte Fassung aus, daß es des Umweges über die Analogie nicht bedarf; diese Gesetze sind praktisch jeder Auslegung fähig“ (Hervorhebung im Original). 265 Penter, in: Dieckmann/Quinkert/Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen, S. 183 (190). 266 Vgl. etwa Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 88 f., dessen Hinweis auf Art. 29 der G ­ enfer Konvention von 1929 sich indes nicht recht erschließen will, hat Art.  29 des augenscheinlich in Bezug genommenen Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen v. 27. Juli 1929 (RGBl. II 1934, S. 227–262) doch Arbeitsverpflichtungen der Kriegsgefangenen zum Gegenstand. Im Übrigen ist die Sowjetunion dem Genfer Abkommen von 1929 gerade nicht beigetreten. Der von Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (240) angeführte Art. 8 der Haager Landkriegsordnung v. 18. Oktober 1907 (RGBl. 1910, S. 107–151) betrifft jedenfalls nicht die hier maßgebliche Frage nach der Ahndung von durch den Kriegsgefangenen vor seiner Gefangennahme begangenen Straftaten; diff. zur Anwendbarkeit des Kriegskonventionsrechts Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 15–26.

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Frage steht demgegenüber jedenfalls, dass die Sowjetführung mit dem Erlass des erst am 11. Januar 1983 förmlich aufgehobenen267 Ukaz 43 einen „eigenen, spezifischen Zugang der UdSSR zur Verfolgung von Kriegsverbrechen“268 eröffnet hat. Einer verbreiteten Sichtweise zufolge soll das zentrale politische Motiv für den Erlass des Ukaz Nr. 43 in engem inneren Zusammenhang mit der im April 1943 publik gewordenen Entdeckung von Massengräbern getöteter polnischer Offiziere im Wald von Katyn zu verorten sein.269 Die nationalsozialistische Propaganda schien zu diesem Zeitpunkt nämlich im Begriff, die ihr jüngst in den Schoß gefallene Erkenntnis von den Sowjets zur Last gelegten Verbrechen in die interessierte Weltöffentlichkeit hinaus zu tragen.270 Nach der vorstehend wiedergegebenen Deutung sollte der Ukaz „von weiteren diplomatischen Verwicklungen um die Leichenfunde von Katyn ablenken, die sowjetische Tat verschleiern und zudem den Beweis für deutsche Mordtaten an der Bevölkerung in den ehemals von der Wehrmacht besetzten Gebiete bringen“.271 Andere hingegen haben als wesentliche Determinanten für den Erlass des Ukaz 43 namentlich das Motiv der Rache und Abschreckung identifiziert.272 In der Tat verhieß die konsequente Implementierung der ebenso weitgefassten wie folgenschweren Erlasslage durch die berufenen Feldgerichte eine wirkungsvolle Einlösung entsprechend motivierter Strafansprüche der Sowjetführung. Nicht zuletzt ist der Ukaz 43 als Beleg für die mit dem Sieg der sowjetischen Armee bei Stalingrad Anfang Februar 1943 erstarkte sowjetische Bereitschaft gewertet worden, das Heft des Handelns auf russischem Territorium wieder in die eigene Hand zu nehmen und die auf militärischer Ebene errungene Kriegswende durch konsequente Ausübung entsprechender Strafgewalt juristisch konsequent nachzuvollziehen.273 Hiermit koinzidierte auf ­organisatorischer

267

Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets v. 11. Jan. 1983, GARF, f. R-7523, op. 136, d. 973, Bl. 4 ff., hier wiedergegeben nach Hilger, in: Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik, S.180 (201, Fn. 108); siehe auch Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegs­ gefangene, S. 265 (265). 268 Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466). 269 Karner, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine „Abrechnung“, S. 102 (111); ­Ueber­ schär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (241); Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), Nr. 1, S. 1 (4 ff.); Messerschmidt, in: Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 551 (567 f.); gegen einen solchen Zusammenhang spricht sich indes dezidiert Bourtman aus, siehe Bourtman, Holocaust Genocide Studies 22 (2008), S. 246 (249 f.). 270 Dazu Fox, VfZ 30 (1982), S. 462–499, siehe auch Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (517); Jasnova (Hrsg.), Katynskaja drama, Predislovie, S. 5. 271 Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (241). 272 Polian, Deportiert nach Hause, S. 32. 273 Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (241); Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466): „Als sich nach der Schlacht um Stalingrad endgültig die Möglichkeit abzeichnete, die verheerende deutsche Besatzungspolitik und Kriegführung, aber auch die Kollaborationsbereitschaft in Teilen der sowjetischen Gesellschaft im großen Stil zu ahnden, initiierte Stalin Ende März/Anfang April 1943 zusätzlich den berüchtigten Ukaz 43[…].“

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Ebene eine gleichzeitig angeordnete grundlegende Neustrukturierung der sowjetischen Sicherheits- und Strafverfolgungsorganisation.274 Mit Beschluss der SNK vom selben Tage, dem 19. April 1943, wurde die Spionageabwehr aus der bisherigen Sicherheitsarchitektur herausgelöst und als Hauptverwaltung Spionageabwehr „Smerš“ dem unmittelbaren Zugriff Stalins unterstellt.275 Welcher Beweggrund für den Erlass des Dekrets besagten Inhalts im konkreten Zeitpunkt letztlich den Ausschlag gegeben haben mag, entzieht sich nicht zuletzt in Anschauung der Quellenlage einer letztgültigen Beurteilung.276 Angesichts der unter Ziff. 5 des Ukaz 43 enthaltenen Anweisung zur öffentlichkeitswirksamen Vollstreckung der Todesurteile, nämlich „öffentlich, vor dem Volk, der Körper der Gehenkten bleibt einige Tage am Galgen, damit alle wissen, wie bestraft wird und welche Strafe denjenigen erteilt, der Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung anwendet und Ausschreitungen verübt, und der seine Heimat verrät“277, scheint jedenfalls eine Schlussfolgerung nicht mit durchgreifenden Zweifeln behaftet, die die Verabschiedung des Dekrets durch die Sowjetführung jedenfalls auch von dem Anliegen der Vergeltung und der Abschreckung getragen sieht. Wie Prusin andererseits zutreffend aufgezeigt hat, sind einer zu einseitig auf Ab­ schreckungsmotive fokussierenden Deutung gewisse Grenzen gesetzt durch den Umstand, dass das Dekret in den einschlägigen amtlichen Verlautbarungsorganen offiziell nicht promulgiert worden ist und daher als solches Abschreckungswirkung gegenüber den Adressaten nicht zu entfalten vermochte. Selbst den westalliierten Regierungen gegenüber hüllte sich die Sowjetregierung mit Blick auf den konkreten Regelungsgehalt des Ukaz 43 in beharrliches Schweigen. Wiederholte Versuche der US-­Diplomatie etwa, Zugang zu dem für die Durchführung der Kriegsverbrecherprozesse auf sowjetischen Boden augenscheinlich zentralen Dokument zu erlangen, waren jeweils nicht von Erfolg gekrönt.278 Dies lässt eine Bewertung naheliegend erscheinen, wonach das Dekret für lediglich interne Zwecke geschaffen worden ist.279 Für ein Verständnis des Dekrets als interne Leit­linie zur Effektivierung der Abwehr von Spionage und Sabotage durch Sowjetbürger spricht nicht zuletzt die zeitgleich angeordnete Reorganisation der staatlichen Sicherheitsarchitektur. Der Annahme einer auf Rache und Abschreckung gerichte 274

Hierzu Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 (23, Fn. 18). Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR No 415–138cc v. 19. April 1943, abgedr. in Gorinov (Hrsg.), Smerš, S. 67–73. 276 So denn auch Zeidler, Stalinjustiz, S. 18, Fn. 24. 277 Ziff. 5 des Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (280 f.). 278 Vgl. hierzu die in Anm. 70 zum Telegramm Harrimans an den amerikanischen Außenminister v. 20. Dez. 1943, FRUS 1943, Bd. III, S. 848–849, hier S. 849, thematisierte Kor­ respondenz; siehe für Versuche einer Rekonstruktion des wesentlichen Dekretinhalts anhand veröffentlichter sowjetischer Quellen das Telegramm des amerikanischen Botschafters in Moskau, Harriman, an Außenminister Hull v. 27. März 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1206–1207. 279 Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 (5). 275

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ten Erlass­intention steht die Nichtveröffentlichung des Dekrets bei Lichte besehen gleichwohl nicht zwingend entgegen. Während Rache als bloß kompensatorische Reaktion auf begangenes Unrecht von einer vorherigen Kenntnisnahme der Betroffenen von den dies­bezüglichen Bestrebungen des nach Rache Dürstenden schon begrifflich unabhängig ist, muss die mit dem Anliegen der Abschreckung bezweckte Verhaltensbeeinflussung beim Adressaten (Kriegsverbrecher der Achsenmächte wie einheimische Kollaborateure) nicht notwendig von dem Dekret selbst ausgehen. Abschreckende Wirkung konnte nämlich in gleicher Weise auch eine öffentlich wahrnehmbare Verschärfung der gerichtlichen Spruchpraxis bei der Ahndung bestimmter – tatsächlich oder vermeintlich verwirklichter – ­Deliktsgruppen entfalten, die für den Rechtsunterworfenen den Schluss auf eine entsprechende Weisungslage naheliegend erscheinen lässt  – dies insbesondere dann, wenn die Urteilsgründe selbst den – nicht veröffentlichten – Ukaz 43 explizit als Grundlage des Rechtsfolgenausspruchs auswiesen.280 Dass der exakte Inhalt des der drastischen Verschärfung der Strafpraxis augenscheinlich zugrunde liegenden Dekrets den lediglich über seine Existenz in Kenntnis gesetzten Rechtsunterworfenen verborgen geblieben sein dürfte, mag im Sinne einer intendierten Rechtsungewissheit die dem Geheimdekret anhaftende Abschreckungswirkung womöglich sogar intensiviert haben. Nicht ohne Grund führt die Rechtsphilosophie historisch verbriefte Belege281 oder auch nur Anekdoten282 für bewusst in unkenntlicher Form bewirkte Promulgationen von den Bürger verpflichtenden Rechtstexten als Stilmittel tyrannischer Regierungsführung an. Umgekehrt war die Wirkung einer wahrnehmbar

280 Vgl. insoweit namentlich das Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943 (Fn. 286), S. 42 (47). 281 So weiß der römische Schriftsteller Gaius Suetonius Tranquillus (Sueton) über die Regierungsführung des berüchtigten römischen Tyrannen Caligula (12–41 n. Chr.) folgendes Kuriosum zu berichten: „Steuern dieser Art wurden einfach verkündet, aber nicht schriftlich angeschlagen, und so gab es viele Übertretungen, da man den Text nicht kannte. Endlich ließ Caligula auf Begehren des Volkes das Gesetz zwar öffentlich anschlagen, aber in ganz kleinen Buchstaben und an einem völlig unzugänglichen Ort, so daß niemand eine Kopie davon anfertigen konnte“, siehe Sueton, De vita Caesarum IV, 41, abgedr. bei Stahr (Hrsg.), Sueton’s Kaiserbiographien, S.  259; aufgegriffen wurde die tyrannische Praxis Caligulas etwa bei v. Pufendorf, Vom Natur- und Völcker-Rechte, Bd. 1, Erstes Buch, Capit. VI, Abschn. XIII, S. 171. 282 Auch Dionysios I. (430–367 vor Chr.), dem sagenumwobenen Tyrann von Syrakus, ist im klassischen rechtsphilosophischen Schrifttum eine solche Herrschaftspraxis attestiert worden, siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 213 (215): „Die Gesetze so hoch aufhängen, wie Dionysios der Tyrann that, daß sie kein Bürger lesen konnte, – oder aber sie in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Decisionen abweichender Urtheile und Meinungen, Gewohnheiten usf. und noch dazu in einer fremden Sprache zu vergraben, so daß die Kenntnis des geltenden Rechts nur denen zugänglich ist, die sich gelehrt darauf legen, – ist ein und dasselbe Unrecht.“ Zu dieser Anekdote weiter, Hegel, Die Vor­ lesung von 1819/20 in einer Nachschrift von Heinrich (Hrsg.), Hegel, Philosophie des Rechts, S. 171 f.; Oppenheim, Philosophie des Rechts, S. 79. Historisch belegen lässt sich die Anekdote von der tyrannischen Promulgationspraxis des Dionysios I. indes nicht, vgl. hierzu ausf. Schott, in: Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 453–468.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

verschärften forensischen Praxis geeignet, das durch die militärischen Nieder­lagen der Vergangenheit vielerorts immer noch erschütterte Vertrauen der Sowjetbevölkerung in die Durchsetzungskraft und -bereitschaft ihrer Führung zu restituieren. Mit der obligatorischen propagandistischen Überzeichnung wusste Trajnin bereits im Jahr 1944 zu bilanzieren, dass den sowjetischen Gerichten mit dem Ukaz 43 „die gebührende Waffe für den unverzüglichen Kampf gegen die ­hitlerischen Verbrecher“283 an die Hand gegeben worden sei. b) „Blut für Blut, Tod für Tod“: Initiale Anwendung des Ukaz 43 in der strafgerichtlichen Spruchpraxis der sowjetischen Militärgerichte In der sich dem Erlasszeitpunkt unmittelbar anschließenden Phase beschränkte sich die Anwendung des Ukaz 43 jedenfalls zunächst im Sinne einer innersowjetischen Disziplinierung auf die strafrechtliche Verfolgung sowjetischer Bürger wegen tatsächlich oder vermeintlich erbrachter Unterstützungsleistungen zugunsten des faschistischen Kriegsgegners.284 Der erste nachweislich auf Grundlage des Ukaz 43 geführte Prozess fand zwischen dem 14. und 17. Juli 1943 vor dem Militärtribunal285 der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar statt.286 Zu verantworten hatten sich elf sowjetische Staatsbürger, denen von Seiten der Anklage Vaterlandsverrat und aktive Hilfstätigkeiten zu deutschen Verbrechen gem. Art. 58–1

283

Ü. d. Verf., Trajnin, Vojna i rabočij klass 1944, No 1, S. 19 (20). Vgl. Penter, in: Dieckmann/Quinkert/Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen, S. 183 (188 ff.); Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466). 285 Rechtsgrundlage für die Einrichtung und Spruchtätigkeit der Militärtribunale war die Militärtribunal- und Militärstaatsanwaltschaftsordnung von 1926, bekannt gemacht durch Beschluss des Zentralen Exekutivkomitees und des Sowjets der Volkskommissare der UdSSR v. 20.  Aug. 1926, Postanovlenie CIK i SNK SSSR ot 20.08.1926 „O vvedenii v dejstvie Položenija o voennych tribunalach i voennoj prokurature“, Sobranie Zakonov SSSR 1926, No 57, Art. 412, i. d. F. des Beschlusses v. 26. Okt. 1929, Sobranie Zakonov SSSR 1929 No 70, Art. 655. Ihnen waren zunächst insbesondere Militärstraftaten überantwortet worden (Art. 58 des Gerichtsverfassungsgesetzes der UdSSR v. 16. Aug. 1938, Zakon SSSR „O sudoustrojstve SSSR, sojuznych i avtonomnych respublik“, Vedomosti VS SSSR 1938, No 11). Mit Verordnung des Exekutivkomitees der UdSSR v. 10. Juli 1934 (Sobranie uza­konenij i ­rasporjaženij RKP RSFSR 1934 No 36, Art. 284) waren ihnen auch bestimmte Straftaten durch sowjetische Zivilisten – wie etwa Spionage – zur Entscheidung übertragen worden. 286 Vgl. insoweit zunächst den der Anklage zugrunde liegenden Bericht der staatlichen Er­ rasno­ mittlungskommission ČGK zu Gräueltaten in der Stadt Krasnodar und in der Region K dar, abgedr. in der von der Sowjetführung bei der Staatsdruckerei in Auftrag gegebenen umfassenden Verfahrensdokumentation, Sudebnyj process po delu nemecko-fašistskich zachvatčikov i ich posobnikov na teritorii gor. Krasnodara i Krasnodarskogo kraja v period ich vremennoj okupacii (Juli 1943), S. 1–2; das Plädoyer des Anklägers Jačenin v. 16. Juli 1943 ist abgedr. ebd., S. 34–39; das Urteil v. 17. Juli 1943 ebd., S. 42–47; eine Notiz über die Vollstreckung des Urteils am 18. Juli 1943 findet sich ebd., S. 47; vgl. auch die Sitzungsberichte v. 14. Juli 1943, ebd., S. 3–17, v. 15. Juli 1943, ebd., S. 17–23, v. 16. Juli, ebd., S. 23–33 und S. 39–40, sowie v. 17. Juli 1943, S. 40–41.  284

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lit. a und 581 lit. b287 StGB RSFSR zur Last gelegt wurden288. Das Gericht verhängte in Übereinstimmung mit den Anträgen der Strafverfolgungsbehörde in acht Fällen die Todesstrafe, die übrigen drei Angeklagten verurteilte es zur Verbannung sowie Zuchthausarbeit für 20 Jahre.289 Da den Verurteilten wegen der mit Ziff. 4 des Ukaz 43 angeordneten Suspendierung des förmlichen Strafprozessrechts290 keinerlei Rekurswege oder Appellationsmöglichkeiten291 gegen das Urteil des Militärtribunals zur Verfügung standen, konnte die Strafvollstreckung durch das Militärtribunal bereits einen Tag nach Urteilsverkündung erfolgen.292 287 Für den Wortlaut der beiden am 20. Juli 1934 verkündeten (Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1934 No 30, Art. 173) und mit Verordnung des ZIK der UdSSR v. 8. Juni 1934 (Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1934 No 33, Art. 255) in Kraft gesetzten Strafvorschriften in deutscher Übersetzung siehe Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (16); zur Auslegung des Art. 58–1 StGB RSFSR als Rahmenvorschrift für die in Art. 58–1 ff. kodifizierten „gegenrevolutionären“ Verbrechen in der sowjetischen Strafrechtswissenschaft siehe Zmiev, in: Gernet/Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 58–1, Anm. 1–12, S. 84–87. 288 Vgl. hierzu im Einzelnen das Plädoyer des Anklägers Jačenin v. 16. Juli 1943, Reč’ gosu­ darstvennogo obvinitelja general-majora justicii L. I. Jačenina (Fn. 286), S. 34–39; vgl. zum Gesamtgeschehen auch Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 45–48; ders., Soviet Studies 11 (1960), S. 253 (263 ff.); Zeidler, Stalinjustiz, S. 25; Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegs­gefan­ gene, S. 265 (266 ff.); Segesser, Recht statt Rache, S. 347; eingehend zum Urteil des Militärtribunals von Krasnodar auch Bourtman, Holocaust Genocide Studies, 2008, Nr. 2, S. 246–265. 289 Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943, (Fn. 286), S. 42 (47). 290 Ziff. 4 des Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (280): „Die Urteile der Feldgerichte bei den Divisionen sind […] unverzüglich zu vollstrecken.“ 291 Zum System der Rechtsbehelfe in der sowjetischen Strafprozessordnung vgl. insbes. Kap. XXV (Art. 344 ff.), XXVIII (Art. 400 ff.) und Kap. XXX (Art. 434 ff.) der Strafprozessordnung der RSFSR 1923 (Ugolovno-Processual’nyj Kodeks RSFSR), in Kraft gesetzt durch den Beschluss des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees „über die Einführung einer Strafprozessordnung“ v. 15.  Feb. 1923, Postanovlenie VCIK „Ob utverždenii Ugolovno-­Proces­ sual’nogo Kodeksa“, Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR 1923 No 7, Art. 106 = Izvestija VCIK No 37 v. 18. Feb. 1923). Demnach stand gegen nicht rechtskräftige Urteile auch der Militärtribunale das Rechtsmittel der Kassationsbeschwerde zur Verfügung, vgl. Art. 400 („Urteile können von beiden Seiten im Wege der Kassation angegriffen werden. Die durch Art. 400 Satz 2 insoweit eröffnete Frist von 72 Stunden war jedoch im Regelfall „so kurz bemessen, daß es dem im Untersuchungskarzer eingepferchten Gefangenen in der Regel kaum möglich ist, innerhalb dieser Zeit einen Gerichtsbeamten zur Absetzung der Beschwerschrift zu erlangen“, Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 87). Eine noch wesentlichere Beschneidung der Rechtsbehelfsmöglichkeiten folgte aus den in Art. 413 ff. enthaltenen Bestimmungen zum Umfang der Appellationsmöglichkeiten. Danach konnten mit der Kassa­tionsbeschwerde grundsätzlich lediglich formelle Fehler des Urteils angegriffen werden, soweit nicht eine „offenbare Ungerechtigkeit des Urteils“ im Sinne einer Divergenz von Urteilsgründen und aktenmäßig dokumentiertem Sachverhalt nachweisbar war. Die Ermittlung eben jenes Sachverhalts war der kassations­gerichtlichen Überprüfung entzogen, siehe zum Vorstehenden wiederum Maurach, ebd., S. 87. 292 Vermerk über die Vollstreckung des Urteils des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar am 18. Juli 1943 (Fn. 286), S. 47; vgl. hierzu auch die bei Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (267) abgedr. Aufnahmen zur Ukaz-konformen Ausführung der Exekution durch öffentlichkeitswirksames Erhängen.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Während die öffentliche Anklage den an die Angeklagten gerichteten strafrechtlichen Vorwurf ohne explizite Bezugnahme auf den Ukaz 43 noch maßgeblich mit Art. 58–1 lit. a und lit. b StGB RSFSR und damit Strafvorschriften des förmlich kodifizierten Sowjetstrafrechts begründet hatte293, weisen die schriftlichen Urteilsgründe den Ukaz 43 ausdrücklich als maßgebliche Rechtsgrundlage der Verurteilung aus, ohne dass die einschlägigen StGB-Normen überhaupt noch­ Erwähnung finden.294 Obschon das Verfahren an sich lediglich die strafrechtliche Bewertung von nachgeordneten Unterstützungshandlungen sowjetischer Kollaborateure zum Gegenstand hatte, unterstrich bereits das pathetisch überhöht vorgetragene Plädoyer des Anklägers Jačenin die über diesen engen Verfahrensgegenstand weit hinausreichende Zielrichtung des gesamten Prozessgeschehens: „Heute legt das sowjetische Gesetz seine strafende Hand auf die Köpfe der Verräter, der faschistischen Söldner und Lakaien. Morgen wird das Gericht der Geschichte, das Gericht der freiheitsliebenden Völker, sein unerbittliches Urteil über die blutrünstigen Machthaber des hitlerischen Deutschlands und alle ihre Helfershelfer verkünden – Feinde der Menschheit, die die Welt in den blutigen Strudel des Krieges gerissen haben. Keiner von ihnen wird der gnadenlosen Strafe entgehen. Blut für Blut, Tod für Tod!“295

Auch die schriftlichen Urteilsgründe rückten nicht so sehr die den Angeklagten konkret zur Last gelegten Hilfsdienste, sondern die hierdurch – tatsächlich oder vermeintlich – unterstützten deutschen Gräueltaten in das Zentrum des Begründungsganges. Die vom Gericht nach durchgeführter Verhandlung für erwiesen erachteten Gewaltexzesse der „verbrecherischen“ deutschen Invasoren bewertete es als Resultat entsprechender Anordnungen auf oberster deutscher Regierungsebene an die nachgeordneten Truppenteile. Die mit inhumanem Sadismus aus­geführten Gräueltaten der Aggressoren seien zur Überzeugung des Gerichts wegen ihrer lang andauernden und systematischen Ausführungsweise als besonders verwerflich zu charakterisieren.296 Das Gericht traf hierzu in tatsächlicher Hinsicht u. a. die Feststellung, dass die deutsche Armee seit der Besetzung von Krasnodar am 9. August 1942 aufgrund einer direkten Weisung der nationalsozialistischen Regierung und auf Befehl des Oberbefehlshabers der 17.  Armee, Generaloberst­ Ruoff, in Vernichtungsabsicht auf die wehrlose Zivilbevölkerung eingewirkt habe. Unter aktiver Beteiligung der Mitglieder der Gestapo und mit Unterstützung der angeklagten Helfershelfer als Verräter der sozialistischen Heimat habe die deutsche Streitmacht in Gestalt namentlich konkret identifizierter Offiziere 293 Plädoyer des Anklägers Jačenin v. 16. Juli 1943 (Fn. 286), S. 34 (39); vgl. insoweit auch die Zusammenfassung der Anklage im Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943 (Fn. 286), S. 42 (43). 294 Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943 (Fn. 286), S. 42 (47). 295 Ü. d. Verf., Plädoyer des Anklägers Jačenin v. 16. Juli 1943 (Fn. 286), S. 34 (39). 296 Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943 (Fn. 286), S. 42 (44).

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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und Soldaten in einer Zeitspanne von mehr als einem halben Jahr die friedliche Bevölkerung von Krasnodar mit verschiedenen grausamen Methoden zu vernichten versucht.297 Zwar mag der Prozess von Krasnodar schon eingedenk der ausschließlich sowjetischen Provenienz der Angeklagten und des allein im Raum stehenden Vorwurfs des Vaterlandsverrats für die Annahme eines Präzedenzfalls in Hinsicht auf spätere Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene oder den Nürnberger Prozess vor dem Internationalen Militärtribunal nur bedingt tauglich erscheinen.298 Das Verfahren demonstrierte gleichwohl öffentlichkeitswirksam die schon so oft artikulierte Entschlossenheit der sowjetischen Führung, im Rahmen ihrer Zugriffsmöglichkeiten konsequente Vergeltung für begangenes Unrecht nach der durch den Ankläger von Krasnodar ausgegebenen Formel ‚Blut für Blut, Tod für Tod!‘ zu üben. Mit der indirekten Erstreckung des Anklagevorwurfs auf die durch den angeklagten Verrat begünstigten deutschen Aggressoren konnte sich die Sowjetunion zudem von der zögerlichen Haltung der westlichen Alliierten in der Kriegsverbrecherfrage wiederum ein Stück weit absetzen. In einem zweiten auf Grundlage des Ukaz 43299 in Krasnodon nach der Befreiung der Region durchgeführten Prozess aus dem August 1943 wurden jedenfalls drei sowjetische Angeklagte wegen Verrats gegenüber der paramilitärischen sowje­tischen Untergrundorganisation „Molodaja gvardija“ von einem Militärtribunal des betreffenden Frontabschnitts zum Tode verurteilt.300 Während sich das Urteil nach zum Teil anzutreffender Darstellung301 auf die drei genannten sowjetischen Staats­bürger beschränkt haben soll, erstreckte sich der Urteilsspruch nach anderslautender Schilderung auch auf mindestens einen Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht (einen Gendarmerieoffizier im Rang eines Obersts namens ­Renatus), dem die Anordnung von und die Mitwirkung an willkürlichen Erschießungen von Zivilisten nachgewiesen worden und der deshalb ebenfalls zum 297 Urteil des Militärtribunals der Nord-Kaukasischen Front in Krasnodar v. 17. Juli 1943 (Fn. 286), S. 42 (43). 298 Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 47; Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (243). 299 Entgegen der gängigen Darstellung erscheint die Behauptung der Prozessführung auf Grundlage des Ukaz 43 für das Verfahren in Krasnodon keinesfalls gesichert. Positive Hinweise auf eine explizite oder implizite Zugrundelegung des Dekrets bei der Urteilsfindung lassen sich jedenfalls nicht namhaft machen. Demgegenüber war in der veröffentlichten Sowjet­ propa­ganda wiederholt die Rede davon, dass der Prozess von Char’kov erst der zweite auf Grundlage des Ukaz 43 geführte Prozess nach dem Verfahren von Krasnodar gewesen sei, was die Aussage einschließt, dass zwischenzeitlich keine weiteren Verfahren auf dieser Grundlage geführt worden sind, vgl. zur Darstellung in der Sowjetpropaganda das Telegramm des Botschafters in Moskau, Harriman, an Außenminister Hull v. 27. März 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1206–1207, hier S. 1207. 300 Ausf. hierzu Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 48; Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (267 f.). 301 Hilger, in: Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik, S. 180 (200, Fn. 107).

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Tode verurteilt ­worden sei.302 Tatsächlich belegt eine Auswertung der über den Prozess von Krasnodon noch fragmentarisch vorliegenden Aufzeichnungen303, dass neben dem Gendarmerieoffizier ein weiterer deutscher Polizist in sowjetische Gefangenschaft geraten war und ebenso wie ersterer seine Beteiligung an will­ kürlichen ­Liquidationen umfassend eingeräumt hatte. Beide fanden sich sodann vor dem Militärgericht von Krasnodon wieder, wobei ihre prozessuale Rolle im Verhältnis zu den drei angeklagten Sowjetbürgern (Zeugen oder Mit­angeklagte) nicht mehr zuverlässig zu rekonstruieren ist. Das weitere Schicksal der beiden Deutschen erhellt aus dem überlieferten Prozessmaterial jedenfalls nicht. Ins­ beson­dere ergibt sich anders als in Bezug auf die drei Sowjetbürger kein belastbarer Hinweis für die Annahme, auch die beiden Deutschen seien in dem im August 1943 geführten Prozess einer Bestrafung zugeführt worden.304 Auf einer derart unsicheren Tatsachengrundlage erscheint daher auch eine Bewertung des Prozesses ­ oden nicht von Krasnodon als erster Kriegsverbrecherprozess auf sowjetischen B zuverlässig möglich. Gleiches gilt für ein nach verbreiteter Darstellung305 im September 1943 in Mariupol’ am Asowschen Meer durchgeführtes und bisweilen als erster Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher306 gewertetes Verfahren gegen vier deutsche Kriegs­ gefangene, in dessen Konsequenz sämtliche Angeklagten zum Tode ver­urteilt und öffentlich hingerichtet worden sein sollen.307 Obschon jedenfalls die beschriebene Hinrichtung anhand des vorliegenden Bildmaterials308 hinreichend dokumentiert scheint, bleiben die Hintergründe einer der Hinrichtung vermutlich zugrunde liegenden Verurteilung im Ungewissen. Schriftliche Urteilsgründe sind, soweit ersichtlich, nicht überliefert. Aus den bei Peter/Epifanov309 aufgenommenen Darstellungen erschließt sich immerhin, dass gegen die 1943 in Mariupol’ hingerichteten deutschen Kriegsgefangenen der Vorwurf der „Kriegshetze“ erhoben worden war. Aus den wenigen verfügbaren Informationen ergibt sich indes nicht, ob der der 302 Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (266, 268); so auch Ueber­ schär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (243). 303 Ausf. Glazunov, in: Maksimov/Karyšev (Hrsg.), Neotvratimoe vozmezdie, S. 146–160. 304 Zu dem insoweit unklaren Befund Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 48. 305 Vgl. die jeweils nicht weiter belegten Angaben bei Hilger/Petrov/Wagenlehner, in: Hilger/ Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd. 1, S. 177 (196); Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (243); ohne nähere Eingrenzung auch Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 (5) – jeweils mit der zumindest impliziten Behauptung, das in Rede stehende Urteil finde seine Grundlage im Ukaz 43. 306 „Alles erfunden“, Der Spiegel Nr. 45/1992 v. 2. Nov. 1992, S. 226–233, hier S. 228 (Kasten „Stalin erhob sein Glas“). 307 Vorsichtigter indes etwa Pohl, in: Bajohr/Pohl (Hrsg.), Holocaust als offenes Geheimnis, S. 84–129 u. S. 144–152, hier S. 148 Anm. 69: „vermutlich“. 308 Vgl. insoweit das bei Peter/Epifanow, Kriegsgefangene, Kap.  14, S.  253 (260) abgedr. Bildmaterial (Deutsche Soldaten werden im Jahr 1943 in Mariupol als „Kriegshetzer“ zum Henken geführt). 309 Vgl. insoweit das bei Peter/Epifanow, Kriegsgefangene, Kap.  14, S.  253 (260) abgedr. Bildmaterial.

II. 2. Phase: Sowjetische Strafkonzeption und westalliierte Modelle

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Hinrichtung zugrunde liegende Vorwurf einer solchen „Kriegshetze“ sich auf ein Verhalten im Zeitraum vor oder nach der Begründung der Kriegsgefangenschaft der Hingerichteten bezieht. In letzterem Fall, also bei für strafwürdig befundenen Verstößen während der Kriegsgefangenschaft, verbietet sich bereits aus formellen Gründen eine Qualifikation der die spätere Hinrichtung auslösenden Handlungen als Kriegsverbrechen und demnach auch die eines vorausgehenden Verfahrens als Kriegsverbrecherprozess.310 Denn ein Kriegsgefangener büßt mit der Begründung des seine Person erfassenden Gewaltverhältnisses durch den Gewahrsamsstaat seine Eigenschaft als aktiver Kriegsteilnehmer und damit als tauglicher Täter eines Kriegsverbrechens ein. Der pauschale Vorwurf der „Kriegshetze“ lässt indes eine entsprechende zeitliche Zuordnung nicht zu. Im kodifizierten Sowjetstrafrecht jener Tage fand er seine Entsprechung wohl am ehesten in Art. 5810 StGB RSFSR311 (konterrevolutionäre Propaganda oder Agitation), der in seinem Abs. 2 seit dem Inkrafttreten der Verordnung des ZIK vom 6. Juni 1927312 mittels eines Rechtsfolgenverweises auf den in Art. 58–2 StGB RSFSR ausgewiesenen Strafrahmen Bezug nahm und damit für während des Krieges begangene tatbestandsmäßige Handlungen grundsätzlich die Todesstrafe (durch Erschießen) vorsah. Die extrem weit gefasste Strafnorm wurde in zahlreichen Fällen auch auf zum Tatzeitpunkt bereits inhaftierte Kriegsgefangene zur Anwendung gebracht. In der Kriegsgefangenschaft selbst konnten so Unmutsbekundungen zur allgemeinen Haft­ situation, etwaige Sperren des Briefverkehrs, die schlechte Behandlung durch das Wachpersonal oder die desolate Verpflegungssituation im Lager die Anwendung des Art. 58–10 StGB RSFSR ebenso zur Folge haben wie etwa die gemeinsame Lektüre von nichtsowjetischen philosophischen Schriften, beispielsweise von Kant.313 Die forensische Praxis bei der Anwendung des überaus großzügig angelegten Tatbestandes der Propaganda oder Agitation befand sich dabei durchaus in Über­einstimmung mit der allgemein konsentierten Strafrechtsdoktrin. Demnach sollte bereits das Verfassen von Literatur mit konterrevolutionärem Inhalt, gleich ob in Prosa oder Gedichtform, sowie die Lektüre solcher Werke die Strafbarkeit nach Art. 58–10 StGB RSFSR ebenso nach sich ziehen wie konkludente Handlungen oder Gesten kritischen Inhalts unabhängig von ihrer Kenntnisnahme.314 Selbst das bloße Aufbewahren kritischer Literatur wurde als tatbestandsmäßig qualifiziert.315 Doch auch vor der Gefangennahme von Angehörigen der Streitkräfte der Achsenmächte ausgeführte Handlungen wurden in vielfacher Weise durch An 310 Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 71: „Theoretisch gehören diese Tatgruppen nicht mehr zum eigentlichen Kriegsverbrecherstrafrecht […].“ 311 Für eine Übersetzung ins Deutsche siehe Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1, 19. 312 Verordnung des ZK der UdSSR zur Änderung des StGB RSFSR v. 6. Juni 1927, Sobranie uzakonenij i rasporjaženij RKP RSFSR, 1927, No 49, Art. 330. 313 Vgl. hierzu die bei Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 63 nachgewiesenen Belege aus der Praxis der sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse. 314 Vgl. insoweit mit zahlr. weiteren Beispielen Zmiev, in: Gernet/Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 58–10, S. 98–99, Anm. 3. 315 Zmiev, in: Gernet/Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 58–10, S. 100, Anm. 8.

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wendung des Art. 58–10 StGB RSFSR sanktioniert. Für tatbestandsmäßig erachtet wurde etwa die gesamte Aufklärungs- und Propagandaarbeit der Offiziere, die Tätigkeit der Kriegsberichterstatter, der Armeezeitungen und der zivilen Propaganda für Ernteeinsatz, Getreideablieferung und den Arbeitseinsatz im Deutschen Reichsgebiet.316 Angesichts des vorstehend aufgezeigten Spektrums von Verhaltensweisen vor oder während der Internierung, die als Gegenstand für den der Hinrichtung mutmaßlich zugrunde liegenden Schuldspruch wegen „Kriegspropaganda“ in Betracht kommen, erscheint die Bewertung des Verfahrens in Mariupol’ als – womöglich sogar erster – Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher auf deutschem Boden angesichts der weithin ungewissen Faktenlage kaum haltbar. Vor dem Hintergrund der sich bei der gerichtspraktischen Anwendung des bereits uferlos weit formulierten Ukaz 43 in der Folgezeit abzeichnenden „wahllosen Verurteilung“ insbesondere von Sowjetbürgern sah sich der Oberste Gerichtshof der UdSSR nur ein halbes Jahr nach dessen Ausfertigung zur konkreten Intervention veranlasst, um den schier unbegrenzten Anwendungsbereich des Erlasses im Wege interpretativer Anweisungen jedenfalls partiell einzuhegen. Im Rahmen einer an die rechtsanwendenden Militärtribunale adressierten Anordnung vom 25. November 1943 mahnte er eine striktere Differenzierung zwischen den denkbaren Graden der Kooperation mit dem Kriegsfeind an. Als gem. Ziff. 1 des Ukaz 43 mit dem Tode zu bestrafende „Spione und Verräter der Heimat unter den sowjetischen Bürgern“317 sollten demnach fortan nurmehr solche Sowjetbürger zu qualifizieren sein, die in den Organen der Gestapo oder in verantwortlicher administrativer Position gedient, dem Gegner geheimhaltungsbedürftige Dokumente übermittelt, Sowjetaktivisten (insbesondere Partisanen und Rotarmisten) oder deren Familien ausgeliefert oder verfolgt, an Liquidationen, sonstigen Gewalttaten oder an Raubhandlungen zu Lasten der Bevölkerung oder des Staates mitgewirkt hatten. Von der Strafanordnung der Ziff. 1 des Ukaz 43 wollte man ferner zum Gegner übergelaufene sowjetische Militärpersonen erfassen.318 Als gem. Ziff.  2 des Ukaz 43 mit Verbannung zur Zuchthausarbeit für eine Frist von 15 bis 20 Jahren zu belegende „Mithelfer“ sollten hingegen solche Sowjetbürger gelten, die, ohne sich einer der zu Ziff. 1 konkretisierten Verhaltensweisen schuldig gemacht zu haben, aktive Unterstützungsleistungen zugunsten der feindlichen Streitkräfte erbracht hatten, etwa bei der Ausrüstung oder der Infrastruktur. Auch deutsche Kriegsgefangene wurden – insbesondere nach Kriegsende – unter Anwendung des Ukaz 1943 zunehmend wegen tatsächlich oder vermeintlich be 316

Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 63. Ziff. 1 des Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), hier zit. nach Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 279 (280). 318 Anordnung des Obersten Gerichtshofs der UdSSR v. 25. Nov. 1943, abgedr. in: Ukraina. Verchovnyj Sud (Hrsg.), Reabilitacija represovanych: Zakonodavstvo ta sudova praktyka, Kiev 1997, S. 47–49. Für eine Übersetzung der zentralen Auslegungsleitlinien aus dem Ukrainischen ins Deutsche siehe Penter, in: Dieckmann/Quinkert/Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen, S. 183 (190). 317

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gangener Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen. Bis 1953/1954 soll es so in insgesamt 20.000 Fällen zu einer Verurteilung von Kriegsgefangenen auf Grundlage des Ukaz 43 gekommen sein.319 9. Die Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943: Alliiertes Bekenntnis zur Notwendigkeit eines kollektiven Vorgehens bei der Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher Den Auftakt zur nächsten zentralen Entwicklungsstufe sowohl in der alliierten Kriegsverbrecherpolitik als auch bei der Findung einer offiziellen sowjetischen Linie markierte die Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943. Diese gipfelte in der von Roosevelt, Churchill und Stalin am 30. Oktober 1943 unterzeichneten Erklärung über deutsche Grausamkeiten, in der eine Übereinkunft zur Behandlung von Kriegsverbrechern niedergelegt wurde.320 Vereinbart wurde­ insbesondere, dass in alliierte Gefangenschaft geratene Kriegsverbrecher in die­ jenigen Länder zurückgeschickt werden sollten, in denen sie die ihnen zur Last ­gelegten Taten mutmaßlich begangen hatten. Sie sollten sodann nach den Gesetzen dieser Länder vor Gericht gestellt und bestraft werden. Der letzte Absatz der Erklärung versah diese grundsätzliche Abrede allerdings mit dem Vorbehalt, dass die Erklärung sich nicht auf solche deutsche Verbrecher erstrecken sollte, deren Taten keine bestimmte lokale Radizierung aufwiesen. Deren Bestrafung sollte vielmehr nach Maßgabe eines gemeinsamen Beschlusses der alliierten Regierungen exekutiert werden. Der Anstoß zu einer Erklärung dieser Art ging zwar im Grundsatz auf ­Churchill zurück, der gut zwei Wochen zuvor an die sowjetische wie die amerikanische Regierung mit dem Vorschlag herangetreten war, eine gemeinsame Erklärung der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion über Gräueltaten zu formulieren und diese an die Weltöffentlichkeit zu tragen.321 Am 8. Oktober 1943 hatte sich Churchill unter dem Eindruck der Berichterstattung über das von deutschen Streitkräften auf der griechischen Insel Kos verübte Massaker an etwa hundert italienischen Offizieren322 vom Kriegskabinett zur Verhandlung einer entsprechenden Erklärung mit Roosevelt und Stalin ermächtigen 319

Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466). Declaration of German atrocities, 30. Okt. 1943 (Kap. B, Fn. 135), Department of State Bulletin 9 (1943), Nr. 228 (November 6, 1943), S. 310–311. 321 Botschaft Churchill an Stalin v. 12. Okt. 1943, FRUS 1943, Bd. I, S. 556–557 = Churchill, Second World War, Bd. V, S. 263–265; für die russ. Fassung vgl. RGASPI, f. 558 op. 11, d. 264, Bl. 44–46, abgedr. bei MID SSSR (Hrsg.), Perepiska, T. 1, 203–204 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 25, S. 137–139; eine Übersetzung ins Deutsche findet sich bei Rexin (Hrsg.), Un­heilige Allianz, S. 215–216. 322 Vgl. zu den zwischen dem 3.  und dem 7.  Okt. auf Anweisung des Infanteriegenerals Friedrich-Wilhelm Müller ausgeführten Liquidationen mit weiterführenden Nachweisen etwa Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen, S. 89 f. 320

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lassen. Aktuellen und potentiellen deutschen Kriegsverbrechern sollte insbesondere vor Augen geführt werden, dass sie mit einer Auslieferung in das Land der Tatbegehung zu rechnen haben würden.323 Churchills Interesse galt dabei der gemeinsamen Sicherstellung eines Verfahrens, wonach in alliierte Kriegsgefangenschaft geratene potentielle Kriegsverbrecher in die Strafgewalt derjenigen Länder überführt werden würden, in denen die Tatverdächtigen die ihnen zur Last gelegten Verbrechen mutmaßlich verübt hatten. Mit der Überstellungsvereinbarung verfolgte Churchill auch das Anliegen, sein von Gräueltaten der deutschen Aggressoren selbst in geringerem Maße betroffenes Land von der Notwendigkeit der Durchführung massenweiser Erschießungen zu entlasten und dem legitimen Strafbedürfnis der geschundenen Völker Rechnung zu tragen.324 Der britische Entwurf stieß auf Seiten der sowjetischen Regierung im Ganzen auf positive Resonanz. Allerdings schlug sie vier Änderungen vor, die in der schlussendlich veröffentlichten Deklaration sämtlich Berücksichtigung finden sollten.325 Die wohl bedeutsamste unter den Änderungsanregungen bezog sich auf den letzten Absatz des britischen Erklärungsentwurfs, der auf entsprechendes Einwirken der sowjetischen Regierung um den sodann auch aufgenommenen Passus angereichert wurde, dass die Bestrafung von solchen Verbrechern, deren Taten räumlich nicht exakt zu lokalisieren sein würden, unter dem Vorbehalt eines „gemeinsamen Beschluss[es] der Regierungen der Alliierten“326 stehen sollte. Damit hatten sich die Alliierten zwar nicht auf ein bestimmtes Verfahren zum zukünftigen Umgang mit den überörtlich agie 323

Meeting of the War Cabinet v. 8. Okt. 1943, Ziff. 2 der 137th Conclussions, WM 137 (43), War Cabinet Minutes 1943, S. 73–77, hier S. 75, CAB/65/36/5, Bl. 48–50, hier Bl. 49: „He (the Prime Minister) thought that it would have a salutary effect if a declaration were now made by ourselves, the United States and Russia to the effect that a number of German officers or members of the Nazi Party, equal to those put to death by the Germans in the various countries, would be returned to these countries after the war for judgment. The Prime Minister added that, if his colleagues approved, he would draft such a declaration and submit it to President Roosevelt and Marshal Stalin.“ 324 Vgl. hierzu namentlich Note by the Prime Minister and Minister of Defence on the ‚The Punishment of War Criminals‘ v. 9. Nov. 1943, WP (43) 496, PRO, CAB 66/42/46, Bl. 266 (Vorders. und Rücks.), hier S. 1 (Ziff. 1): „By this means an enormous amount of responsibility for administering retribution will pass from our hands to the many sovereign States who have been outraged and subjugated and who have every right to be the judges of the treatment administered to those who have so horribly maltreated them. I consider this dividing up of the responsibility and retribution work to be one of the most wise and just steps which we in this country or in the United States could possibly take, for I am certain that the British nation at any rate would be incapable of carrying-out mass executions for any length of time, especially as we have not suffered like the subjugated countries. The principle of judgment at the scene or in the country of the crime must therefore be considered most valuable.“ 325 Vyšinskij überreichte Kerr und Harriman am 25. Okt. 1943 die Antwort der sowjetischen Regierung, mit der der Erklärungsentwurf prinzipiell gebilligt und vier Änderungsvorschläge eingebracht wurden, RGASPI, f. 558, op. 11, d.  264, Bl.  57, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 28, S. 143; für die englische Fassung siehe FRUS 1943, Bd. I, S. 768, Fn. 21; für die dt. Fassung siehe Rexin (Hrsg.), Unheilige Allianz, S. 456–457. 326 Note der sowjet. Regierung v. 25. Okt. 1943 (Fn. 325); zit. nach der deutschsprach. Fassung bei Rexin (Hrsg.), Unheilige Allianz, S. 456 (457).

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renden Zentralfiguren der verbrecherischen Kriegsführung – den Hauptkriegsverbrechern – festgelegt.327 Mit der Aufnahme des sowjetischen Änderungsvorschlags in den letztendlich verlautbarten Wortlaut der Deklaration hatten sich indes sowohl die amerikanische als auch die britische Regierung ganz im Sinne der sowjetischen Vorstellungen erstmals schriftlich und öffentlich zu dem von sowjetischer Seite seit längerem gehegten Postulat bekannt, dass gegen die Hauptkriegsverbrecher nur ein gemeinsames Vorgehen der Alliierten in Betracht kommen sollte. 10. Stalins Rede anlässlich des 26. Jahrestages der Revolution: Manifest für eine kategorische Kriminalisierung der deutschen Kriegsführung? Nur eine Woche später, am 6. November 1943, griff Stalin die Frage der Ahndung von begangenen Kriegsverbrechen anlässlich einer Ansprache zum 26. Jahrestag der Revolution erneut öffentlich auf.328 Er identifizierte dabei insbesondere eine sämtliche Verbündeten treffende Notwendigkeit zur Ergreifung von Maßnahmen, „damit alle faschistischen Verbrecher, die an diesem Krieg und an den Leiden der Völker schuld sind, in welchem Lande sie sich auch verbergen mögen, alle von ihnen begangenen Verbrechen mit harter Strafe büßen“329. Eine konkrete Aussage zur Natur der von ihm in den Blick genommenen Maßnahme, insbesondere eine Positionsbestimmung für oder gegen die Durchführung eines juristischen Standards genügenden Verfahrens enthielt die Erklärung indes nicht. Die Bezugnahme Stalins auf die Verantwortlichkeit für ‚diesen Krieg‘ hat in der Literatur allerdings unterschiedliche Bewertungen darüber hervorgebracht, ob mit dieser Formulierung bereits einer Kriminalisierung der Kriegsführung als Verbrechen gegen den Frieden per se das Wort geredet werden sollte oder eine solche Konsequenz in der Erklärung jedenfalls inhaltlich angelegt war. George Ginsburgs etwa interpretiert die betreffende Passage in der Erklärung Stalins in seiner 1996 vorgelegten Studie als Versuch, den Katalog der ‚klassischen‘ Verbrechen um den Tatbestand des Angriffskrieges als eigenständigen Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Sanktion zu ergänzen.330 In der Bewertung von Cornelis Arnold Pompe klang in den­ Ausführungen Stalins die Idee der Strafbarkeit von Angriffskriegen noch nicht in 327 Zur insoweit jedenfalls partiell abweichenden Lesart Trajnins, der der alliierten Erklärung vom 30. Okt. 1943 die verbindliche Festlegung auf eine politische Lösung entnehmen wollte, siehe bereits oben S. 66 f. 328 Ansprache Stalins v. 6.  Nov. 1943, Doklad Predsedatelja Gosudarstvennogo Komiteta Oborony tovarišča I. V. Stalina na toržestvennom zasedanii Moskovskogo Soveta deputatov trudjaščichsja s partijnymi i obščestvennymi organiszacijami g. Mosky 6 nojabrja 1943 goda, Pravda v. 07. Nov. 1943, No 275, S. 1–2 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 92–104 = NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1946), T. I, S.  106–120; engl. Fassung abgedr. in Stalin, War Speeches, S. 82. 329 Ü.  d.  Verf., Ansprache Stalins v. 6.  Nov. 1943 (Fn.  329), NKID SSSR (Hrsg.), VPSS (1944), T. I, S. 92 (103). 330 Ginburgs, Moscow’s Road, S. 51.

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hinreichend konkretisierter Form an; Pompe plädierte daher für eine deutlich weniger bahnbrechende Lesart der Stalinschen Deklaration.331 Ausgehend vom Wortlaut der zitierten Passage und unter Berücksichtigung ihrer inhaltlichen Einbettung in den weiteren Kontext der gesamten Erklärung erscheint es in der Tat eher zweifelhaft, dass Stalin mit seinen Aussagen einen Denkanstoß in Richtung der völkerrechtlichen Kriminalisierung von Angriffskriegen intendiert haben könnte. Der Gesamttext weist irgendwie geartete Bezugnahmen auf die hergebrachten rechtlichen Grundlagen der Strafbarkeit von Völkerrechtsverbrechen nicht auf. Die betreffende Aussage ist einer thematisch sehr viel breiter angelegten politischen Rede anlässlich des Jahrestags der Revolution entnommen, die sich ausführlich zur gegenwärtigen Kriegslage verhielt und zum Abschluss eine Zusammenfassung der wichtigsten von alliierter Seite ergriffenen oder in Vorbereitung befindlichen Maßnahmen präsentierte. Deutlich naheliegender erscheint deswegen in der Tat die Annahme, wonach Stalin lediglich für den konkreten Akt der Aggression ad hoc eine harte Strafe in Aussicht stellen wollte. Eine bewusste positive Positionierung zur völkerrechtlichen Strafbarkeit des Angriffskriegs de lege lata oder de lege ferenda wird man den knappen Bemerkungen demgegenüber nicht entnehmen können. Auf C. A. Pompe und Ginsburgs geht ferner die Behauptung zurück, die bei der London International Assembly eingerichtete Kommission zur Untersuchung der Strafbarkeit von Kriegsverbrechern332 habe sich die Erklärung Stalins – auf Basis eines dahingehenden Vorschlags des tschechoslowakischen Vertreters Dr. Bo­ huslav Ećer333 – als Referenz für die Forderung nach einer Strafbarkeit von Verbrechen gegen den Frieden unmittelbar zu Eigen gemacht.334 Der zur Stützung dieser These in Frage kommende Beleg vermag diese Behauptung jedoch nicht zu stützen.335 Ećer hat sich im November 1943 zwar eingehend mit der Frage der 331

Pompe, Aggressive War, S. 179. Bei der in London eingerichteten International Assembly handelte es sich um eine von­ Viscount Cecil of Chelwood ins Leben gerufene, inoffizielle Vereinigung aus Vertretern der alliierten Regierungen, die im März 1942 u. a. eine Kommission zur Untersuchung der Strafbarkeit von Kriegsverbrechern einsetzte. Die von der 1943 gegründeten UNWCC zu unterscheidende Kommisison trat 1942 und 1943 insgesamt etwa 30 Mal zusammen und legte im Dezember 1943 einen 450 Seiten umfassenden Bericht vor, siehe London International ­Assembly, Commission I, Reports on the trial and punishment of war crimes, London 1943, 450 Seiten; vgl. namentlich zur ausführlichen Diskussion um die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs ebd., S. 226–345; vgl. zur Tätigkeit der Kommission im Überblick insbes. Wright, History UNWCC, Kap. 5, S. 99–104; Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 127–128. Zur Diskussion innerhalb von London International Assembly und Kriegsverbrecherkommission siehe auch Jung, Rechtsprobleme, S. 97 f.; Simpson, in: Hankel/Stuby (Hrsg.), Strafgerichte, S. 39 (51 ff.). 333 Zu Ečers Vorschlägen in der London International Assembly und die Resonanz in der UNWCC siehe Schabas, in: Politi/Nesi (Hrsg.), International Criminal Court, S. 17 (22 ff.); Segesser, Recht statt Rache, S. 319 f. 334 Pompe, Aggressive War, S.  179; Ginburgs, Moscow’s Road, S.  51. Ginsburgs schließt sich den Ausführungen Pompes ohne nähere Begründung wörtlich nahezu übereinstimmend an und macht sich dabei auch die von Pompe angegebene Quelle zu Eigen. 335 Eine zutreffende Darstellung findet sich bei Schabas, in: Politi/Nesi (Hrsg.), International Criminal Court, S. 17 (23 f.) 332

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völkerrechtlichen Strafbarkeit von Angriffskriegen beschäftigt und das Ergebnis seiner Untersuchung sodann der Kommission zeitnah vorgelegt. Laut Ećers­ Untersuchungsbefund handelte es sich beim Angriffskrieg um ein Völkerrechtsverbrechen, für welches auch Staatschefs und militärische Führungspersonen persönlich zur Verantwortung zu ziehen seien und das mit Todesstrafe bedroht sei.336 Für einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Ećers Schlussfolgerungen und Stalins Rede vom 6. November 1943 fehlen außer der zeitlichen Koinzidenz (November 1943) jegliche Anhaltpunkte. 11. Die Konferenz in Teheran: Trinkspruch als Destillat der sowjetischen Kriegsverbrecheragenda? Als Nachweis für Stalins wahren Erwartungs- und Vorstellungshorizont zur Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern wurde und wird in der Literatur mitunter auf eine von ihm am Rande der zwischen dem 28. November bis zum 1. Dezember 1943 in Teheran organisierten Konferenz getroffene Aussage Bezug genommen.337 Die betreffende Einlassung Stalins zur vermeintlichen Notwendigkeit von Massenliquidationen militärischer Funktionsträger der deutschen Wehrmacht ist u. a. in den von Churchill 1951 vorgelegten Memoiren338, einem Schreiben Churchills an ­ oosevelt, dem in Sir Alexander Cadogan339 und in den Schilderungen von Elliott R Teheran anwesenden Sohn des amerikanischen Präsidenten, überliefert.340 Demzufolge erhob Stalin im Beisein u. a. Churchills, Roosevelts, Motolovs und Edens zu später Stunde und in alkoholgeschwängerter Atmosphäre die Forderung nach Erschießung von 50.000 Personen der militärischen Funktionselite des D ­ eutschen Reiches. Während Churchill mit Entrüstung reagiert haben will341, soll Roosevelt 336

London International Assembly, Commission I, Reports on the trial and punishment of war crimes (Fn.  332), S.  172, insoweit abgedr. auch bei Wright, History UNWCC, Kap.  5, S. 100–101; die betreffende Passage ist im Wortlaut wiedergegeben ferner bei Schabas, in:­ Politi/Nesi (Hrsg.), International Criminal Court, S. 17 (23 f.). 337 Vgl. etwa Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozeß, S.  89 ff.; Kettenacker, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 17 (22 f.); wohl auch Kastner, Völker, S. 21. 338 Churchill, Second World War, Bd.  V, S.  329–330, hier S.  330: „The German General Staff, he [Stalin, d. Verf.] said, must be liquidated. The whole force of Hitler’s mighty armies depended upon about fifty thousand officiers and technicians. If these were rounded up and shot at the end of the war German military strength would be extirpated.“; die vorstehend zitierte Passage ist abgedr. auch in „The War Memoirs of Winston Churchill: The Controversies of Teheran“, LIFE v. 22. Okt. 1951, S. 87 (95–96). 339 Churchill an Sir Alexander Cadogan, 19. April 1944, abgedr. in: Churchill (Fn. 338), Appendix C, S. 564–630, hier S. 621: „Stalin spoke of very large mass executions of over fifty thousand of the Staffs and military experts.“ 340 Die Erinnerungen Roosevelts sind auszugweise wiedergegeben bei Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozeß, S. 89–90; eine Beschreibung der Situation laut ist Telford Taylor auch v. amerikanischen Übersetzer Charles Bohlen überliefert (Fn. 343). 341 Churchill, Second World War, Bd. V, S. 330: „On this I thought it right to say, ‚The British Parliament and public will never tolerate mass executions. Even if in war passion they allowed them to begin they would turn violently against those responsible after the first butchery’.

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dem Vorstoß Stalins nach geläufiger Darstellung mit dem nicht minder häufig zitierten Kompromissvorschlag entgegen getreten sein, die ins Auge gefassten summarischen Liquidationen doch vorerst auf 49.000 Offiziere zu beschränken.342 Nach Wahrnehmung insbesondere Elliott Roosevelts verschloss sich der scherzhafte Charakter sowohl der Äußerungen Stalins als auch der seines Vaters einem aufgeschlossenen und nüchternen Gesprächsteilnehmer durchaus nicht.343 Auch Churchill berichtet davon, wie sowohl Stalin als auch Molotov ihn im Nachgang, untermalt durch ein herzliches Lachen, von der mangelnden Ernsthaftigkeit der Liquidationsforderung zu überzeugen suchten.344 Trotz entsprechender Beteuerungen seitens der sowjetischen Delegation zeigte sich der britische Premier bei seiner Bewertung des berüchtigten „Trinkspruchs“345 auch in der Retrospektive nicht restlos davon überzeugt, ob sich hinter dem scherzhaft eingekleideten sowjetischen Petitum nicht eine gehörige Portion ernsthaften Anliegens verbarg.346 Die in launiger Runde vorgetragene Position wurde jedenfalls von vielen Historikern zum Anlass genommen, Stalins seinerzeitige Konzeption zur Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher dahingehend zu deuten, dass diesem für die wichtigeren Akteure eine von juristischen Fesseln befreite Lösung in Form von Massenexekutionen vorschwebte.347 Andere hingegen wollen dem in launiger Runde ausgebrachten Trinkspruch eine derart programmatische Dimension nicht beimessen und stellten der[…] I was deeply angered. ‚I would rather‘, I said, ‚be taken out into the garden here and now and be shot myself than sully my own and my country’s honour of such infamy‘.“ Zum dezidiert vorgetragenen britischen Widerspruch vgl. auch die diesbezüglichen Schilderungen ­Elliott Roosevelts, wiedergegeben nach Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozess, S. 90. 342 Churchill, Second World War, Bd.  V, S.  330; Elliott Roosevelt, wiedergegeben nach­ Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozess, S. 90. 343 Elliott Roosevelt, wiedergegeben nach Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozess, S. 90: „Ich beobachtete Stalin […] Er schien sich köstlich zu amüsieren, wenn auch sein Gesicht ernst blieb. Er zwinkerte jedoch verdächtig mit den Augen, als er die Herausforderung des Premierministers und dessen Argumente in verbindlichem Ton zerpflückte, anscheinend ohne die schlechte Laune Churchills zu gewahren.“ Diese Wahrnehmung bestätigt die Einschätzung von Roosevelts Übersetzer Charles Bohlen, dem zufolge Stalin die Erklärung „halb im Scherz, mit einem süffisanten Lächeln und einer lässigen Handbewegung“ getätigt und als „Stichelei gegenüber Churchill“ gemeint habe, zit. nach Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 46. 344 Churchill, Second World War, Vol. V, S. 330: „[…] there was Stalin, with Molotov at his side, both grinning broadly, and eagerly declaring that they were only playing, and that nothing of a serious character had entered their heads.“ 345 Heydecker/Leeb, Nürnberger Prozeß, S. 89. 346 Churchill, Second World War, Bd. V, S. 330: „[…] I was not then, and am not now, fully convinced that all was chaff and there was no serious intent lurking behind […]“; ders., ebd. Appendix C, S. 621: „Whether he was joking or not could not be ascertained. The atmosphere was jovial, but also grim. He certainly said that he would require four million German males to work for an indefinite period to rebuild Russia.“ 347 Kettenacker, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 17 (22 f.); vgl. auch Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1(5): „This suggestion [der Vorschlag Stalins, d. Verf.] underscored the Soviet approach to the prosecution of Nazi war crimes: swift and merciles retribution for atrocities committed by Germany and its allies in occupied Soviet territories.“

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artigen Annahmen ihre Überzeugung von der mangelnden Ernsthaftigkeit der Ansprache gegenüber.348 Der wahre Gehalt der wohl jedenfalls mit bewusst provokativer Zielrichtung349 in die Runde eingebrachten Äußerungen Stalins kann allerdings nicht mehr mit letzter Richtigkeitsgewähr rekonstruiert werden.350 Den „Trinkspruch“ zum Anknüpfungspunkt erhebende Ableitungen zu Stalins Kriegsverbrecherpolitik weisen daher notwendig spekulativen Charakter auf. Formulieren lässt sich allerdings der Befund, dass sich die radikale Forderung nach Durchführung von Massenexekutionen unter dem militärischen Führungskörper des Deutschen Reiches weder in einer der überlieferten öffentlichen Verlautbarungen der Sowjetregierung noch in dem der Forschung zugänglichen diplomatischen Schriftverkehr, der internen Korrespondenz der Sowjetführung oder den praktischen Maßnahmen der UdSSR nachvollziehen lässt. Es erscheint vor diesem Hintergrund ratsam, die Rekonstruktion der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik primär anhand der in schriftlichen Dokumenten für die jeweiligen Entwicklungsphasen weitgehend kohärent nachgewiesenen Positionen durchzuführen und in hohem Maße dem subjektiven Verständnishorizont im konkreten historisch-situativen Kontext unterworfene mündliche Äußerungen nur insoweit zu berücksichtigen, als diese sich in zumindest teilweiser Übereinstimmung mit der gesicherten Quellenbasis befinden. 12. Der sowjetische Kriegsverbrecherprozess von Char’kov (15. bis 18. Dezember 1943): Propagandistische Inszenierung im Gewande der Justizförmigkeit Einen tiefen Einblick in die praktische Implementierung der sowjetischen Kriegsverbrecherkonzeption eröffnete der erste allgemein zugängliche351 Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher vor dem Kriegsgericht der 4. Ukrainischen Front 348 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 46; Lebedeva, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 139 (142 f.); dies., Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (76). 349 In Churchills Memoiren ist von dem großen Vergnügen die Rede, welches Stalin empfunden haben soll, wenn er den britischen Premier durch verbale Provokationen zu reizen vermochte, siehe Churchill, Second World War, Bd. V, S. 330: „Stalin, as Hopkins recounts, indulged in a gread deal of ‚teasing‘ of me […].“ 350 Eine differenzierte Ansicht findet sich insoweit bei Kochavi, History 76 (1991), S. 401 (403 f.). 351 Nach dem zum Protestauftakt in der Zeitung Izvestia erschienenen Leitartikel sollte es sich bei dem Prozess von Char’kov um den ersten Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher vor einem sowjetischen Militärtribunal überhaupt handeln, vgl. für dessen Wiedergabe hierzu Telegramm des amerikanischen Botschafters in der Sowjetunion Harriman an den amerikanischen Außenminister v. 16. Dez. 1943, FRUS 1943, Bd. III, S. 846–848, hier S. 847. Diese von der Sowjetpropaganda sicherlich nicht zufällig gestreute Information diente wohl vor allem der gezielten medialen Sensationalisierung des Prozessgeschehens im Auftaktzeitpunkt. Sie deckt sich aber durchaus mit den weiter oben vorgenommenen Bewertungen von zeitlich vorgangegangenen Prozessen unter mutmaßlicher Beteiligung (auch) deutscher Angeklagter, für die jedenfalls eine Kategorisierung als Kriegsverbrecherprozess jeweils nicht hinreichend abgesichert erschien.

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in Char’kov.352 Das viertägige Verfahren fand zwischen dem 15. und 18. Dezember 1943 unter großer medialer und diplomatischer353 Anteilnahme statt. Auf ausschließlicher Grundlage des Ukaz 43 vom 19. April 1943354 angeklagt355 waren drei deutsche und ein sowjetischer Staatsbürger.356 Die Anklage legte den drei deutschen Beschuldigten u. a. die Teilnahme an massenhaften Hinrichtungen von Zivilisten und sowjetischen Armeeangehörigen insbesondere unter Zuhilfenahme von transportablen Gaskabinen zur Last357, deren grausamer Einsatz im russischen Sprachschatz unter dem Wort ‚duschegubki‘ (Seelentöter)358 dauerhaften Eindruck hin 352

Vgl. zu diesem Ereignis ausf. etwa Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (268 ff.); ders., Otvetstvennost’, S. 30 ff; Segesser, Recht statt Rache, S. 347 f.; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 52 ff.; Buscher, U. S. War Crimes Trial Program, S. 11; ­Kochavi, History 76 (1991), S. 401–417. 353 Vgl. etwa Telegramm des amerikanischen Botschafters in der Sowjetunion Harrimans an den amerikanischen Außenminister v. 16. Dez. 1943, FRUS 1943, Bd. III, S. 846–848; Telegramm desselben v. 20.  Dez. 1943, ebd., S.  848–849; Telegramm v. 23.  Dez. 1943, ebd., S. 850–851; Telegramm v. 24. Dez.1943, S. 851–852; Telegramm v. 27. Dez. 1943, ebd., S. 853. 354 Siehe oben Fn. 245. 355 Die Anklageschrift nahm sowohl für die drei deutschen Angeklagten als auch für den sowjetischen Angeklagten jeweils Bezug auf „Verbrechen gemäß dem Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der SSSR v. 19. April 1943“ (Ü. d. Verf.). Verweise auf Vorschriften des StGB RSFSR fanden sich in der Anklage – anders als noch im Plädoyer des Anklägers Jačenin vor dem Militärtribunal von Krasnodar (Fn. 286) – weder für die deutschen noch für den sowjetischen Angeklagten wieder, vgl. hierzu die Fassung der Anklageschrift v. 11. Dez. 1943, Obvinitel’noe zaključenie po delu o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov v g. Char’kove i Char’kovskoj oblasti, abgedr. in Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2–3, hier S. 3. 356 Es handelte sich um Wilhelm Langheld (Hauptmann der militärischen Abwehr), Hans Ritz (SS-Untersturmführer), Reinhard Retzlaff (Obergefreiter der deutschen Geheimen Feldpolizei des Stabes der 6. Armee) sowie Michail Bulanov (Chauffeur der Gestapo), siehe insoweit den Inhalt der Anklageschrift v. 11.  Dez. 1943 (Fn.  356), Pravda v. 16.  Dez. 1943, No 308, S. 2 (3); vgl. auch Zeidler, Stalinjustiz, S. 25 f.; Hilger/Petrov/Wagenlehner, in: Hilger/ Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd. 1, S. 177 (200 f.); Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (243); Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (268). 357 Vgl. hierzu die Anklageschrift v. 11. Dez. 1943 (Fn. 355), Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2 (3): „[…] werden angeklagt […], als Mitglieder der deutschen Armee zwischen 1941 und 1943 unmittelbar an der massenweisen und grausamen Vernichtung friedlicher sowjetischer Bürger, namentlich durch den Einsatz von speziell hierfür ausgestatteten Fahrzeugen, genannt ‚duschegubki‘, sowie persönlich an massenweisen Erschießungen, Erhängungen, Verbrennungen, Enteignungen und Misshandlungen sowjetischer Zivilisten teilgenommen zu haben, d. h. an Verbrechen gemäß dem Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets SSSR v. 19. April 1943“ (Ü. d. Verf.). S. zu den Hintergründen auch Zeidler, Stalinjustiz, S. 26; Hilger/Petrov/­ Wagenlehner, in: Hilger/Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd. 1, S. 177 (199 ff.). 358 Vgl. hierzu und zur Konstruktion dieser im Amtsdeutsch als ‚Sonderwagen‘ rubrizierten Kabinen den Vortrag des Oberjustizrats Smirnov vor dem IMT, Protokoll der Verhandlung v. 19. Februar 1946, IMT Bd. VII, S. 628; siehe insoweit auch den Inhalt der Vernehmung des Amtschefs III im Reichssicherheitshauptamt, Ohlendorf, vor dem IMT, Protokoll der Verhandlung v. 3. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 356–357, hier S. 357: „Die Wagen waren von verschiedener Größe – etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig.“ Die von Seiten der deutschen Führung in verschiedene Kategorien unterteilten ‚Gaswagen‘ waren nicht selten als Wohnwagen getarnt, siehe Jackson, Protokoll der Verhandlung v. 21. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 148.

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terlassen hat. Gegen den sowjetischen Angeklagten wurde der Vorwurf erhoben, freiwillig auf die Seite der Deutschen übergelaufen zu sein, sich in den Dienst der deutschen Straforgane gestellt zu haben und ohne äußeren Zwang an der Ausführung der den deutschen Mitangeklagten zur Last gelegten Verbrechen mitgewirkt zu haben.359 Im Prozessverlauf sollte das Hauptaugenmerk von Anklage und Gericht der Offenlegung des bereits in diversen sowjetischen Regierungserklärungen besonders akzentuierten systematischen Charakters der deutschen Verbrechen gelten. Dementsprechend erwies sich die Zuweisung der originären Verantwortung für die angeklagten Verbrechen gegenüber der deutschen Führung als zentrales Motiv in Char’kov und überlagerte dabei auch die Frage nach dem Ausmaß der individuellen Schuld der Angeklagten.360 Wie bereits in Krasnodar erschöpfte sich die Anklage nicht in einer Konkretisierung und juristischen Bewertung des gegen die einzelnen Beschuldigten im Raum stehenden Tatverdachts. Vielmehr erstreckte sie sich der Sache nach nicht minder auf die deutsche Regierung und Militärführung sowie bestimmte, namentlich genannte Befehlshaber.361 Die aus an dieser Stelle noch nicht zu beurteilenden Umständen in der Sache umfassend geständigen362 359

Anklageschrift v. 11. Dez. 1943 (Fn. 355), Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2 (3). Das im Nachweis der Führungsverantwortung liegende primäre Erkenntnisinteresse schlug sich auch in den vorbereiteten Einlassungen der Angeklagten und ihrer Befragung durch Anklage und das Gericht nieder. So gab der Angeklagte Langheld im Rahmen seiner Vernehmung am 15. Dez. 1943 zu Protokoll, dass er bei der Erschießung von unschuldigen Kriegs­gefangenen, Frauen und Kindern auf Befehl seines Vorgesetzten gehandelt habe. Das mörderische System sei nach seiner Einschätzung „unterstützt“ worden durch entsprechende Befehle und Verordnungen der deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmachts, siehe das Protokoll der Sitzung v. 15. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 17. Dez. 1943, No 309, S. 2 (Fortsetzung). Auf die dem Angeklagten am Ende seiner Einlassung vom Gerichtsvorsitzenden gestellte Frage, ob er deutsche Regierung und Armee für verantwortlich für die Massenverbrechen halte, antwortete der Angeklagte Langheld mit einem schlichten „Ja“, siehe Protokoll der Sitzung v. 15. Dez. 1943, ebd. Auch der Angeklagte Ritz verlieh anlässlich seiner Einvernahme am 16. Dez. 1943 auf entsprechende Befragung des Anklägers seiner Einschätzung von der Verteilung der Hauptschuld wie folgt Ausdruck: „Hitler in erster Linie […] dann Himmler […] dann Rosenberg“, siehe Protokoll der Befragung v. 16. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 17. Dez. 1943, No 309, S. 2–3 (Beginn), hier S. 2. Auf die Nachfrage, ob die deutsche Regierung und die NS-Partei das deutsche Volk seiner Einschätzung nach in die Irre geführt hätte, antwortete der Angeklagte Ritz am selben Tage: „Das Wort ‚Lüge‘ ist die passendste Bezeichnung“, Protokoll v. 16. Dez. 1943, ebd., S. 2–3 (Beginn), hier S. 3. 361 Anklageschrift v. 11.  Dez. 1943 (Fn.  355), Pravda v. 16.  Dez. 1943, No  308, S.  2 (3): „Sämtliche Verbrechen wurden auf direkte Anweisung der deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht begangen“ (Ü. d. Verf.); hierzu auch Telegramm Harrimans an den amerikanischen Außenminister v. 16.  Dez. 1943, FRUS 1943, Bd.  III, S.  846–848, hier S. 847: „The accusation charges not only the four accused who have been brought before the court but also the heads of the German Government and of the German High Command in general and the following German commanders in particular: […].“; vgl. auch Ginsburgs,­ Moscow’s Road, S. 52. 362 Protokoll der Sitzung vom 15. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 3: „Nach Verlesung der Anklageschrift vor Gericht und der Übersetzung in die deutsche Sprache haben alle Angeklagten auf die Frage des Vorsitzenden erklärt, dass sie sich vollständig schuldig bekennen“ (Ü. d. Verf.). 360

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Angeklagten beriefen sich zur Rechtfertigung der ihnen zur Last gelegten Handlungen auf die Rechtsfigur des Befehlsnotstands. Sowohl der Angeklagte Langheld als auch der Angeklagte Ritz machten geltend, für den Fall einer Befehlsverweigerung habe das Risiko der Verurteilung zur Todesstrafe vor einem deutschen Militär­tribunal bestanden.363 Der Angeklagte Langheld sah sich gar selbst als „Opfer dieser Befehle“364. Die Anklage wollte diesen Einwand mit Hinweis auf die universelle Geltung grundlegender Gebote der Menschlichkeit nicht gelten lassen365, wusste die entsprechenden Einlassungen der Angeklagten aber gleichwohl als stichhaltigen Beleg für den Nachweis der zwischen den Angeklagten als unmittelbar tat­ausfüh­ren­den Akteuren und der deutschen Regierung bzw. Militärführung geschmiedeten ununterbrochenen Weisungskette zu nutzen.366 Die zentralen Dokumente und Protokolle zu dem unter Vorsitz des General-­ Majors der Justiz A. N. Mjasnikov367 geführten öffentlichen Verfahren wurden zu Propagandazwecken zeitnah einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht368 und zur Steigerung der internationalen Aufmerksamkeit einschließlich der stenographischen Berichte in mehrere Sprachen übersetzt.369 Ausländische Journalisten wurden eingeflogen, um dem Verfahren eine noch größere Öffent 363 Vgl. hierzu das den Angeklagten Langheld, Ritz und Retzlaff jeweils gewährte letzte Wort, Protokoll der Sitzung v. 17. Dez. 1943, Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2–3 (Fortsetzung). 364 Ü. d. Verf., Protokoll der Sitzung v. 17. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2 (Fortsetzung); Angeklagter Ritz, ebd., S. 2 (Fortsetzung): „Ich handelte nur auf Befehl.“ 365 Vgl. hierzu die Ausführungen im Plädoyer des Staatsanwalts N. K. Dunaev im Rahmen der Sitzung am 17. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2 (Fortsetzung): „Für die Verantwortlichkeit der Angeklagten spielt der Umstand keine Rolle, dass sie Befehle der übergeordneten deutsch-faschistischen Armeeinstanzen ausgeführt haben. Es gibt Handlungen, deren verbrecherischer Charakter für jedermann offen zu Tage liegt.“ 366 Plädoyer des Staatsanwalts N. K. Dunaev (Fn. 365), S. 2. Zu der hierin liegenden Umkehrung des Verteidigungsvorbringens auch Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 54. 367 Protokoll der Sitzung vom 15. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 3. 368 Die vollständigen Protokolle inklusive Anklageschrift und Urteil wurden soweit möglich bereits am jeweiligen Folgetag in der Zeitung Pravda abgedruckt. Für die Anklageschrift siehe Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2–3; für das Protokoll der Sitzung v. 15. Dez. 1943 siehe Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2 (Beginn) und Pravda v. 17. Dez. 1943, No 309, S. 2 (Fortsetzung); für das Protokoll der Sitzung v. 16. Dez. 1943 siehe Pravda v. 17. Dez. 1943, No 309, S. 2–3 (Beginn), und Pravda v. 18. Dez. 1943, No 310, S. 3 (Fortsetzung); für das Protokoll der Abendsitzung v. 16. Dez. 1943 siehe Pravda v. 19. Dez. 1943, No 311, S. 2; für das Protokoll v. 17. Dez. 1943 siehe Pravda v. 19. Dez. 1943, No 311, S. 3 (Beginn) sowie Pravda v. 20.  Dez. 1943, No  312, S.  2 (Fortsetzung); für das Urteil v. 18.  Dez. 1943 siehe Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 3. 369 Die deutsche bzw. englische Ausgabe des Kompendiums zum Prozess von Char’kov erschien 1944 in Moskau unter dem Titel „Gerichtsprozess über die Bestialitäten der faschistischen deutschen Okkupanten in Stadt und Gebiet Char’kov während ihrer vorübergehenden Besetzung“ bzw. „The Trial in the Case of Atrocities Committed by the German Fascist In­ vaders in the City of Kharkov and in the Kharkov Region“, vgl. hierzu auch Zeidler, Stalin­ justiz, S. 26, Fn. 47.

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lichkeitswirkung zu verleihen.370 Während des Prozesses berichteten die sowjetischen Zeitungen ausführlich über das Verfahren. Die landesweit verlegten Formate widmeten dem Thema zumeist mindestens zwei Seiten ihrer in der Regel vierseitigen Ausgaben. Regelmäßig wiederkehrend fand sich in der Berichterstattung insbesondere die Behauptung, der Prozess stünde im Einklang mit der Moskauer Deklaration der Alliierten.371 In seinem Schlussplädoyer nahm auch Staatsanwalt N. K. Dunaev auf die Moskauer Erklärung als Legitimationsgrundlage der Anklage Bezug.372 Das Gericht befand alle Angeklagten unter unmittel­ barem und ausschließlichem Rekurs auf den Ukaz 43373 für schuldig und verhängte in allen vier Fällen die Todesstrafe durch Erhängen.374 Den Schuldnachweis erachtete das Gericht inbesondere aufgrund der geständigen Einlassungen der Angeklagten, der Bekundungen der geladenen Zeugen und des Berichts der medizinischen Expertenkommission375 für erbracht.376 Die öffentliche Ausführung der Todesstrafen auf dem Marktplatz fand unter Anwesenheit von Zehntausenden von Zuschauern377 bereits am Tag nach der Urteilsverkündung, am 19. Dezember 1943, statt.378 Die toten Körper ließ man in Anwendung von Ziff. 5 des

370 Stevens, Russia Is No Riddle, S. 110 ff.; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 55; Buscher, U. S. War Crimes Trial Program, S. 11; Stevens berichtete als Zeitzeuge aus eigener Anschauung, wie unter der Bevölkerung einen Tag lang gültige Einlasskarten verteilt wurden, um eine Rotation im Zuschauerraum zu gewährleisten. Ausländischen Berichterstattern wurde der­ Zutritt indes erst zum letzten Verhandlungstag und zur Exekution gestattet, Stevens, ­Russia Is No Riddle, S. 117; Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 55; zur ausführlichen Berichterstattung der sowjetischen Medien durch Zeitungen, Rundfunk und Film siehe auch Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (244); entsprechend den Berichten Harrimans v. 16. u. 20. Dez. 1943 widmeten die bedeutenderen sowjetischen Zeitungen seit Prozessbeginn praktisch die Hälfte ihrer jeweiligen Ausgaben dem Prozessgeschehen, FRUS 1943, Bd. III, S. 846–848, hier S. 846 f. u. S. 848–849, hier S. 849; vgl. schließlich auch­ Segesser, Recht statt Rache, S. 347. 371 Trajnin, Vojna i rabočij klass 1944, No 1, S. 19; für eine Auswertung der Berichterstattung vgl. etwa die Telegramme des amerikanischen Botschafters in Moskau Harriman an den Secretary of State v. 16. u. 23. Dez. 1943, in FRUS 1943, Bd. III, S. 846–848 u. 850–851;­ Buscher, U. S. War Crimes Trial Program, S. 11; Kochavi, History 76 (1991), S. 401 (405). 372 Plädoyer des Staatsanwalts N. K. Dunaev im Rahmen der Sitzung am 17. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2. 373 Insbesondere unterblieb auch insoweit eine irgendwie geartete Bezugnahme auf die spezifischen Strafbestimmungen des StGB RSFSR. 374 Urteil des Militärtribunals von Char’kov v. 18. Dez. 1943 (Fn. 368), Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 3. 375 Vgl. hierzu den in der Verhandlung v. 17. Dez. 1943 verlesenen Bericht der med. Expertenkommission, abgedr. in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2. 376 Urteil des Militärtribunals von Char’kov v. 18. Dez. 1943 (Fn. 368), Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 3. 377 Bei Epifanov und Creel ist insoweit jeweils von 50.000 Zuschauern die Rede, siehe Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (268); Creel, War Criminals, S. 70. 378 Siehe zur unmittelbaren Exekution des Urteils den Abdruck einer entsprechenden TASSAgenturmeldung v. 19. Dez. 1943 in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 3.

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Ukaz 43379 bis Mitte Januar 1944 am Galgen hängen, um eine hohe Abschreckungs­ wirkung zu erzielen.380 Wenige Wochen später bereits feierte ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Der Prozess geht weiter“ in den sowjetischen Lichtspielhäusern landesweit Premiere.381 a) Das Verfahren von Char’kov als Paradebeispiel eines politisch dirigierten Schauprozesses Bereits die Vorbereitung des Prozesses von Char’kov vollzog sich nach Maßgabe detaillierter Direktiven seitens der höchsten politischen Instanzen der Sowjetunion.382 Vor dem Hintergrund der gut dokumentierten383 politischen Rückbindung bis hin zur Abstimmung der Urteilsfindung insbesondere mit Stalin und Molotov steht heute außer Frage, dass nicht das zur Entscheidung formal berufene Militärtribunal, sondern parteiliche und staatliche Stellen die faktische Entscheidungsautorität innehatten. Das Verfahren in Char’kov erweist sich insofern als ­Paradebeispiel der „völligen Abhängigkeit der Gerichtsinstanzen in der UdSSR von Partei und Staat“384. Die Bezeichnung der Kriegsverbrecherprozesse der UdSSR gegen deutsche Kriegsverbrecher bis 1948 als eine Phase der Schauprozesse verdient jedenfalls bezüglich des Verfahrens in Char’kov Zustimmung, wie Zeidler385 zutreffend nachgewiesen hat. Eingedenk der massiven politischen Steuerung des gesamten Prozessgeschehens zeigten sich Gericht und staatliche Verlautbarungsorgane um eine umso sorgfältigere Inszenierung des Verfahrens 379 Ziff. 5 des Ukaz Nr. 43 v. 19. April 1943 (Fn. 244), zit. nach Ueberschär (Hrsg.), National­ sozialismus vor Gericht, S. 279 (280 f.). 380 Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. 265 (268). 381 Für eine Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts siehe Telegramm des amer. Botschafters in der Sowjetunion, Harriman, an den amer. Außenminister Hull v. 22. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1203–1204. 382 Die Entscheidung über die Durchführung des Prozesses in Char’kov war im ZK VKP(b) am 26. Nov. 1943 getroffen worden. Die allgemeine Leitung des Prozesses und seiner Berichterstattung in den Druckmedien waren dabei Ščerbakov, Goršenin und Abakumov überantwortet worden, siehe RGASPI, f. 17, op. 163, d. 1385, Bl. 83; abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 31, S. 147. Ihren Ursprung nahmen der Prozess und seine öffentliche Inszenierung in einem entsprechenden Initiativantrag des Leiters der Smerš, Abakumov, vgl. hierzu die schriftliche Mitteilung Abakumovs an Vyšinskij v. 2. Sept. 1943, abgedr. in Žadobin/­Makovič/Sigačev (Hrsg.): Stalingradskaja ėpopeja, S. 356–363; vgl. auch das bei Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (467, Fn. 33) nachgewiesene Schreiben Abakumovs Nr. 251/A vom 28. Sept. 1943 an Stalin und Molotov. Vgl. zu weitergehenden sowjetischen Plänen, noch vor Kriegsende weitere Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher durchzuführen, Kochavi, Prelude, S. 73; Ueberschär, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 240 (242 f.); Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 55. 383 Eine detaillierte Rekonstruktion der Vorbereitung des Prozesses bis zur Überprüfung des Urteilstextes durch Stalin und Molotov findet sich bei Hilger/Petrov/Wagenlehner, in: Hilger/Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd. 1, S. 177 (199 ff.). 384 Hilger/Petrov/Wagenlehner, in: Hilger/Schmidt/Wagenlehner (Hrsg.), Verurteilung, Bd. 1, S. 177 (203). 385 Vgl. Zeidler, Stalinjustiz, S. 25.

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als rechtsstaatlichen Anforderungen genügender Musterprozess bemüht.386 Als geradezu charakteristischer Zug der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik erweist sich dabei der Umstand, dass sich die sowjetische Führung zur öffentlichkeitswirksamen Vergeltung begangener Kriegsverbrechen eines strikt juristisch anmutenden Verfahrens bediente und dieses äußerlich mit sämtlichen Facetten des­ tradierten Kanons an justiziellen Sicherungsmechanismen387 versah.388 b) Der Kriegsverbrecherprozess von Char’kov als singulärer Akt nationaler Selbstbehauptung: Erklärungsansätze und Hintergründe Trotz der von der sowjetischen Staatspresse im Gefolge des Prozesses von Char’kov angestimmten propagandistischen Lobeshymnen und der verbreiteten Erwartungshaltung hinsichtlich zeitnaher Folgeprozesse389 sollten auf sowjetischem Boden bis zum Kriegsende keine weiteren öffentlichen Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher mehr stattfinden.390 Ursächlich hierfür dürfte jedenfalls auch die Erkenntnis der sowjetischen Sicherheitsorgane gewesen sein, dass die von den öffentlichen Prozessen ausgehende Warnwirkung auf in Kriegsgefangenschaft geratende deutsche Kriegsverbrecher von diesen zunehmend zum Anlass für vielerlei Vertuschungs- und Verdunkelungsmaßnahmen genommen wurde, die der Ermittlungsarbeit der sowjetischen Behörden gerade unter deutschen Kriegsgefangenen zu schaden drohte.391 Als­ 386

Ginsburgs, Moscow’s Road, S. 54 f. Zu nennen sind etwa die Trennung von Anklage und Gericht, der Anklagegrundsatz, das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit, die Beweisaufnahme unmittelbar (nur) vor dem erkennenden Gericht oder die Gewährung des letzten Wortes zugunsten des/der Angeklagten. 388 Stevens, Russia Is No Riddle, S. 112; eine Darstellung der prozessualen Implikationen und eine diesbezügliche Bewertung des Char’kover Prozesses findet sich bei George Creel, in: Creel, War Criminals, S. 70 ff. 389 Vgl. Kochavi, Prelude, S. 239. 390 Zu diesem Befund Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (468). 391 Vgl. hierzu insbesondere die Erwägungsgründe zur Verfügung des Leiters der Kriegsgefangenenverwaltung UPVI NKVD SSSR Petrov und des stellvertr. Leiters der UPVI NKVD SSSR Belov Nr. 28/00/186 v. 11. Jan. 1944 an die Volkskommissare des Inneren der Unions- und autonomen Republiken, abgedr. bei Peter/Epifanow, Kriegsgefangene, S. 282–283, hier S. 282: „Die Gerichtsprozesse in Krasnodar und Charkow gegen die der verübten Greueltaten Beschuldigten sowie die Unterlagen, die im Verlauf der in den Lagern durchgeführten Agenten-Unter­ suchungsarbeit zusammengetragen wurden, legen Beweis davon ab, daß es unter den Kriegsgefangenen eine erhebliche Anzahl von Greueltaten [sic!] gegen die friedliche Sowjetbevölkerung und auch Augenzeugen gibt, die die Schuldigen nennen können. […] Die Beschlüsse der Moskauer Konferenz über die Verantwortlichkeit für die verübten Greueltaten und die die Urteile in Krasnodar und Charkow riefen unter einem bestimmten Teil der Betroffenen natürlich Reaktionen hervor. Sie versuchten, alle bekannt gewordenen Greueltaten und die daran Schuldigen zu verheimlichen. Es gab Fälle, in denen einige Kriegsgefangene bei der Ankunft in die Frontaufnahme- und Verteilungslager ihren Dienstgrad und ihre Tätigkeit in der Armee verheimlichen oder zu vertuschen versuchten, aus Angst, entlarvt und zur Verantwortung gezogen zu werden.“ 387

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weiterer Erklärungsansatz für die Singularität des Prozesses von Char’kov als Schauprozess gegen deutsche Kriegsverbrecher kommt die auf Seiten der Westalliierten gehegte Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen an den in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen amerikanischen oder britischen Kriegsgefangenen392 in Betracht. So hatte der leitende Direktor der Presse- und Nachrichtenabteilung im Auswärtigen Amt, Paul Karl Schmidt, nur wenige Tage nach der Voll­streckung des Urteils von Char’kov eine militärgerichtliche Überprüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit britischer und amerikanischer Kriegsgefangener in Aussicht gestellt und dies mit der westalliierten Teilnahme an der Verabschiedung der Moskauer Deklaration393 begründet394, auf deren Inhalt sich der sowjetische Ankläger Dunaev zur Legitimation des Verfahrens im Rahmen seines Plädo­ yers u. a. expressis verbis berufen hatte.395 Wenige Tage später lancierte die deutsche Kriegspropaganda Gerüchte, wonach von der Reichsleitung ein Beschluss dahingehend gefasst worden sei, gegen in Kriegsgefangenschaft geratene westalliierte Piloten Kriegsverbrecherprozesse nach dem Vorbild von Char’kov zu initi­ieren.396 Mit Blick auf das von amerikanischer Seite durchaus für realistisch befundene Szenario deutscher Repressionsmaßnahmen gegen amerikanische Kriegsgefangene aus Anlass des Prozesses von Char’kov wies der amerikanische Außenminister Hull den amerikanischen Botschafter in Moskau Harriman an, über vergleichbare sowjetische Folgeprozesse umgehend und detailliert Bericht zu erstatten.397 Die Briten erkannten hinter den deutschen Ankündigungen vornehmlich die Absicht Deutschlands, Friktionen unter den alliierten Mächten in Gestalt wechselseitiger Schuldzuweisungen zu provozieren und damit einen Keil in die alliierte Front zu treiben.398 Nachdem sich insbesondere die deutsche Generalität und Admiralität gegen die von Seiten namentlich des Reichspropagandaministeriums forcierte Durchführung entsprechender Verfahren stark gemacht

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Siehe zu derlei Befürchtungen ausf. Kochavi, Prelude, S.  70–72; hierzu auch Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (467). 393 Siehe oben Fn. 320. 394 Der Text der Erklärung ist in englischer Fassung auszugweise wiedergegeben bei K ­ ochavi, Prelude, S.  70; für eine kurze Zusammenfassung des Communiqués auch Telegramm des amerikanischen Botschafters in der Schweiz, Harrison, an Außenminister Hull v. 10.  Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. I, S. 1228; eingehend zur deutschen Reaktion auf die sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse Gerd R. Ueberschär, in: Müller/Nikischkin/­Wagenlehner (Hrsg.), Tragödie Gefangenschaft, S. 215 (221–224). 395 Plädoyer des Staatsanwalts N. K. Dunaev im Rahmen der Sitzung am 17. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2. 396 Hierzu Telegramm des Secretary of State Hull an den amer. Botschafter in der Schweiz Harrison v. 24. Dez. 1943, abgedr. in FRUS 1943, Bd. I, S. 434–435. 397 Telegramm Hulls an Botschafter Harrimann v. 1.  Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1198: „The War Department views with grave concern the publicity given to the Kharkov atrocity trials since it fears that such action during the course of the war may lead to reprisals against American prisoners of war.“ 398 Telegramm der britischen Botschaft an das amerikanische Außenministerium v. 11. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. I, S. 1229–1230.

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hatte399, ließ die Reichsführung Ende März 1944 verlauten, dass die Vorbereitun­ gen für die in Reaktion auf Char’kov anvisierten Prozesse gegen kriegsgefangene alliierte Soldaten zwar bereits in ein fortgeschrittenes Stadium eingetreten seien. Formell eingeleitet werden sollten entsprechende Verfahren gegen amerikanische, britische wie auch sowjetische Kriegsgefangene jedoch erst dann, wenn weitere Verfahren gegen deutsche Kriegsgefangene vor alliierten Militärtribunalen zur Kenntnis der Reichsführung gelangen würden.400 Dass die sowjetische Abstandnahme vom Vorhaben weiterer öffentlichkeitswirksamer Prozesse auch der Unvereinbarkeit eines solchen unilateralen Vor­ gehens mit den in der Moskauer Deklaration getroffenen Abreden geschuldet gewesen sein könnte401, erscheint demgegenüber jedenfalls zweifelhaft. Der Moskauer Erklärung der Drei Mächte vom 30. Oktober war zwar eine Übereinkunft dahin zu entnehmen, dass „jene deutschen Offiziere, Soldaten und Mitglieder der Nazipartei, die für die […] Grausamkeiten, Massaker und Exekutionen verantwortlich gewesen sind oder an ihnen zustimmend teilgehabt haben, nach den Ländern zurückgeschickt werden, in denen ihre abscheulichen Taten ausgeführt wurden, um gemäß den Gesetzen dieser befreiten Länder und der freien Regierungen, welche in ihnen errichtet werden, vor Gericht gestellt und bestraft zu werden“. Die von den unterzeichnenden Mächten übernommene Überstellungspflicht sollte ausgelöst werden, „sobald irgendeiner in Deutschland gebildeten Regierung ein Waffenstillstand gewährt“ worden wäre.402 Für bereits vor einem solchen Zeitpunkt in die Gefangenschaft eines alliierten Staates geratene Kriegsgefangene mit Tatschwerpunkt in eben jenem Staat sah die Erklärung jedoch keine ausdrückliche Regelung vor. Während die US-amerikanische Regierung die Auffassung vertrat, die sowjetische Regierung habe sich mit der Anordnung des Prozesses von Char’kov außerhalb des durch die Erklärung vereinbarten Rahmens begeben, nahm die sowjetische Regierung – unterstützt von der britischen – den Standpunkt ein, in der Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen bereits vor einem späteren Waffenstillstand sei ein Verstoß gegen die in der Deklaration übernommenen Verpflichtungen nicht zu erblicken.403 Der britische Unterstaatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten fasste die Rechtsauffassung der britischen Re 399 Telegramm des amer. Botschafters in Schweden, Johnson, an Außenminister Hull v. 3. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. I, S. 1227. 400 Telegramm des amer. Botschafters in der Schweiz, Harrison, an Außenminister Hull v. 30. März 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. I, S. 1231. 401 Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (468). 402 Erklärung der Drei Mächte über Grausamkeiten v. 30.  Okt. 1943 (Fn.  320), zit. nach­ Ueberschär (Hrsg.), Nationalsozialismus vor Gericht, S. 285 (285). 403 Vgl. hierzu Telegramm des amer. Botschafters in London, Winant, an den Außen­m inis­ ter Hull v. 3. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1198–1199, hier S. 1199: „[…] the Department’s view was that the Kharkov trials are outside of the sphere of the Moscow­ Declaration and […] the Russian and British view was that the trials were within the sphere of the Moscow Declaration.“ Zu den unterschiedlichen Lesarten der britischen und der amerikanischen Regierung siehe auch Kochavi, Prelude, S. 72.

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gierung so zusammen, dass die in der Erklärung übernommene Auslieferungsverpflichtung nur für den Umgang mit solchen Kriegsgefangenen Geltung beanspruchen könne, die zum Zeitpunkt des Waffenstillstands noch nicht in die Hände eines Alliierten gefallen und von dessen Gerichten einer Verurteilung zugeführt worden seien. Eine weitergehende Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten, mit der Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen bis zu einem späteren Waffenstillstand abzuwarten, werde hingegen nicht statuiert, so dass sich Moskau mit der Inszenierung des Prozesses in Char’kov weder einen Verstoß gegen den Geist noch einen gegen den Wortlaut der Erklärung von Moskau zu Schulden habe kommen lassen.404 Zwar seien derartige Prozesse durch die Erklärung von Moskau – entgegen der sowjetischen Lesart – andererseits auch nicht ausdrücklich legitimiert worden; eine entsprechende Auseinandersetzung mit der UdSSR sei gleichwohl mit Blick auf die Brisanz der Kriegsverbrecherproblematik und das sowjetische Fernbleiben von der UNWCC zu vermeiden.405 Von derlei Erwägungen unbeeindruckt fasste das anglo-amerikanische Political Warfare Coordinating Committee in seiner Sitzung am 13. Januar 1944 den Beschluss, sich im Falle sowjetischer Folgeprozesse nicht nur jedes Kommentars in Bezug auf deren Einordnung enthalten zu wollen (lit. a und b), sondern den britischen und amerikanischen Regierungen zudem die Empfehlung zu unterbreiten, die Sowjetregierung darum zu ersuchen, im Falle künftiger Prozesse von einer Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration Abstand zu nehmen (lit. d).406 Eben jener Empfehlung vermochte sich die britische Regierung nicht anzuschließen.407 Dem Vorschlag einer an die UdSSR gerichtete Aufforderung, ihre nationale Kriegsverbrecherpolitik fortan nicht mehr mit dem Hinweis auf die Moskauer Erklärung als Legitimationsgrundlage anzureichern, trat Großbritannien insbesondere mit Hinweis auf die fehlende Konkretisierung der deutschen Drohkulisse und die Sensibilität der Beziehungen zur Sowjetunion entgegen, denen im Fall einer weiteren Auseinandersetzung zum Komplex der Kriegsverbrecherverfolgung erneut schwerwiegende Belastungen zu drohen­ 404 Für die Wiedergabe der Mitteilung des Unterstaatssekretärs Sir Orme Sargent siehe Telegramm des amer. Botschafters in London, Winant, an den amer. Außenminister Hull v. 12. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1200–1202, hier S. 1200 f.: „This can only apply to those German war criminals who have not already fallen into the hands of, and been tried by, the three powers making the Declaration or any of the other 32 United Nations. It does not impose an obligation upon either the three Allied powers or any of the other United Nations not to try, at any place or at any time where the legal powers do so exist, German war criminals who may be captured before an Armistice is made with Germany […] Our conclusion therefore is that it is not possible to argue that the Kharkov trials are contrary to either the spirit or the wording of the Moscov Declaration.“ 405 Vgl. Telegramm Winants an Hull v. 12. Jan. 1944 (Fn. 404), FRUS 1944, Bd. IV, S. 1200 (1201). 406 Für die Wiedergabe des Beschlusses des Political Warfare Coordinating Committee v. 13. Jan. 1944 siehe Telegramm des amer. Botschafters in London, Winant, an den amer. Außenminister Hull v. 13. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1202. 407 Telegramm des amer. Botschafters in London, Winant, an den amer. Außenminister Hull v. 19. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1203.

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schienen.408 Dass sich die Sowjetunion von der Durchführung weiterer Prozesse gerade durch einen – von ihr mit Schützenhilfe Großbritanniens gerade bestrittenen – Widerspruch zum Inhalt der Moskauer Erklärung hat abhalten lassen, erscheint nach dem Vorstehenden wenig wahrscheinlich. Eine weitere Ursache für die auf Char’kov sich jedenfalls dem öffentlichen Anschein nach einstellende Inaktivität der sowjetischen Militärtribunale mag jedoch in dem seitens der sowjetischen Führung identifizierten Risiko begründet gelegen haben, die gegen die deutschen Aggressoren im Raum stehenden ungeheuren Vorwürfe durch fortgesetzte Massenprozesse gegen die allein im sowjetischen Zugriff befindlichen nachgeordneten Glieder des Wehrmachtsapparates zu routinisieren und damit für den Fall eines späteren Hauptkriegsverbrecherprozesses einer Immunisierung der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber dem Ausmaß der Gräueltaten Vorschub zu leisten. Mit den zunehmenden militärischen Erfolgen der Roten Armee bei der Rückeroberung des sowjetischen Territoriums schwand zugleich auch das Bedürfnis nach patriotismusfördernden Gesten nationalen Durchhaltewillens, wie sie die medial begleitete öffentliche Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher zu verheißen schien.409 Ungeachtet des Absehens von weiteren öffentlichen Schauprozessen fanden auf sowjetischem Boden sowohl vor als auch nach dem Prozess in Char’kov zahlreiche in der Regel nur fragmentarisch dokumentierte nicht-öffentliche Verfahren gegen deutsche Kriegsgefangene statt, denen unter anderem auch Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden.410 c) Bewertung und Ausblick: Der Prozess von Char’kov als Instrument der Staatspropaganda und Schablone für einen international organisierten Prozess gegen Hauptkriegsverbrecher? Der Prozess in Char’kov hält aus heutiger Sicht eine Fülle von Hinweisen für das Verständnis und die Analyse der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik bereit. Die propagandistisch motivierte Botschaft des Prozesses war gerichtet auf die weltöffentliche Präsentation einer UdSSR, die ihren Ankündigungen entsprechend sämtliche Kriegsverbrecher, unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, einer harten und angemessenen Bestrafung zuzuführen imstande war. Zur Erzielung nicht nur einer größtmöglichen Abschreckungswirkung, sondern auch zur Demonstration unbedingter Handlungsfähigkeit erfolgten Verurteilung und Vollstreckung vor einer 408 Memorandum des britischen Unterstaatssekretärs Sargent an das Political Warfare Co­ ordinating Committee, wiedergegeben im Telegramm des amer. Botschafters in London,­ Winant, an den amer. Außenminister Hull v. 28. Jan. 1944, abgedr. in FRUS 1944, Bd. IV, S. 1204–1205, hier S. 1205. 409 Kochavi, Prelude, S. 239. 410 Laut Hilger handelte es sich hierbei um Dutzende, eventuell Hunderte Fälle, vgl. mit­ archiv. Nachw. Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (468).

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denkbar breit angelegten Öffentlichkeit.411 Dem Prozess kam insoweit über die Frage nach der individuellen Verantwortung der konkret angeklagten Individuen hinaus namentlich eine immense symbolische Bedeutung zu. Er sollte das Bild einer entschlossenen und aktiven UdSSR vermitteln, die – im Unterschied zur zögerlichen Vorgehensweise der westlichen Alliierten412 – in der Frage der Kriegsverbrecherbestrafung die Führungsrolle einzunehmen bereit schien. Als ein zentrales Anliegen des Prozesses identifizierte der amerikanische Botschafter in Russland denn auch dessen innenpolitische Instrumentalisierung „for whipping up and keeping alive a spirit of vengeance“413. Der von dem Char’kover Prozess ausgehende Eindruck der Entschlossenheit sollte indes nicht nur in das Innere des Sowjetreichs hinein ausstrahlen. Wie der Historiker Epifanov dargelegt hat, sollte mit der unilateralen Eröffnung der juristischen Aufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen nach dem Willen der sowjetischen Führung nicht zuletzt auch ein gewisser Druck auf die alliierten Regierungen ausgeübt werden, die der mit Char’kov geschaffenen forensischen Präzedenz für die militärgerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen fortan mit erheblich höherem Begründungsaufwand würden entgegen treten müssen.414 Der Prozess sollte nach der Analyse des amerikanischen Botschafters darüber hinaus Zeugnis geben von der unbedingten Bereitschaft der Sowjetregierung, jeden Verbrecher auch dann gnadenlos zur Verantwortung zu ziehen, wenn dieser sich auf Befehlsnotstand beruft, was seinerseits die Angst der deutschen Armeeangehören vor Strafe schüren sollte.415 Ein letztes Motiv erkannte Harriman in dem Streben nach Zuweisung der Gesamtverantwortung an die deutsche Reichsführung, „to hold the German Government and High Command responsible for the crimes and atrocities committed in its name and on its orders“416. Die von Seiten der Sowjetführung mit dem Prozess verfolgten Ziele konnten jedenfalls teilweise auch realisiert werden. Beispielsweise bewertete der tschecho­ slowakische Vertreter bei der UNWCC, Bohuslav Ečer, den Prozess als einen großartigen Ansporn und eine wertvolle Anleitung für zukünftige Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher.417 Er pries den Prozess als „justice in action“ und verlieh seiner Einschätzung Ausdruck, dass „the Kharkov trial has satisfied the hunger for justice and […] strengthened confidence in the cause of justice“418. Der angesehene amerikanische Harvard-Professor für Strafrecht und Kriminologie, 411 Prusin, Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 1 (6); Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (468). 412 So ausdr. Trajnin, Socialističeskaja zakonnost’ 1945, No 1–2, S. 17 (17). Vgl. Smith, Road to Nuremberg, S. 9. 413 Telegramm Harrimans an den amer. Außenminister Hull v. 23. Dez. 1943, in FRUS 1943, Bd. III, S. 850–851, hier S. 850. 414 Epifanov, Otvetstvennost’, S. 30. 415 Telegramm Harrimans an Hull v. 23. Dez. 1943 (Fn. 413), FRUS 1943, Bd. III, S. 850 (851). 416 Telegramm Harrimans an Hull v. 23. Dez. 1943 (Fn. 413), FRUS 1943, Bd. III, S. 850 (851); siehe auch Kochavi, Prelude, S. 67 f. 417 Etcher, Lessons, S. 4 und 11. 418 Etcher, Lessons, S. 7 f.

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Sheldon Glueck, stellte 1944 fest, dass die Angeklagten in Char’kov „were expeditiously but fairly dealt with“ und führte den Prozess als Beispiel der nationalen Aburteilung von Kriegsverbrechern an.419 Der Sekretär der nationalen Juristenvereinigung in den USA, R. Popper, Augenzeuge des Prozesses von Char’kov, sah in dem Prozessausgang gar einen „Triumph des internationalen Rechtes und der Gerechtigkeit“420. Der amerikanische Botschafter in der UdSSR Harriman berichtete in einem Telegramm über die Eindrücke der vor Ort anwesenden amerikanischen Berichterstatter, die von der Schuld der Angeklagten überzeugt und von der strengen Einhaltung der juristischen Vorgaben beeindruckt gewesen seien.421 Kritiker des Verfahrens hingegen, wie etwa Edmund Stevens, wiesen auf bestimmte äußere Parallelen zu den Moskauer Schauprozessen der 1930er Jahre hin und warfen die Frage auf, ob man sich in Char’kov womöglich ähnlicher Methoden bedient habe.422 Der britische Diplomat John Balfour wiederum wertete den Prozess vorrangig als volkserzieherischen Versuch, das in der Bevölkerung omnipräsente Verlangen nach Rache zu bedienen und weitere Hassgefühle gegen den Kriegsgegner zu stimulieren. Die formale Einkleidung des Verfahrens von Char’kov in ein justizförmiges Gewand vermöge nicht hinwegzutäuschen über die Erkenntnis, dass andernorts Massenexekutionen ohne jedwedes Verfahren des Schuldnachweises weiterhin an der Tagesordnung seien.423 Im Ergebnis wird sich der überzeugenden Bewertung des Prozesses in Char’kov von George Ginsburgs wenig hinzufügen lassen. Ginsburgs beschrieb den Prozess als eine durch die politische Führung systematisch vorbereitete und unter deren unmittelbarer Direktion aufgeführte Inszenierung von Anklage, Verteidigung und Tribunal. Gleichzeitig legte Ginsburgs jedoch Wert auf die Feststellung, dass Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Angeklagten in irgendeiner Weise – etwa durch Gewalt – erzwungen oder sonstwie determiniert gewesen sein könnte, nicht ins Feld geführt werden können. Dass die in tatsächlicher Hinsicht umfassend geständigen Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Verbrechen in Wahrheit nicht begangen haben könnten, ist nicht ersichtlich. Naheliegend erscheint vielmehr, dass die den gesamten Tatvorwurf abdeckenden und daher einer allenthalben überzeugenden Urteilsfindung den Weg bereitenden Geständnisse ihre 419

Glueck, War Criminals, S. 80. Epifanow, in: Peter/Epifanow (Hrsg.), Kriegsgefangene, S. (265) 268; vgl. auch Kochavi, Prelude, S. 68. 421 Telegramm von Harriman an den Außenminister v. 24. Dez. 1943, FRUS 1943, Bd. III, S. 851–852, hier S. 851: „The American correspondents who attended the close of the Kharkov trials and the hanging of the convicted men were convinced of the guilt of the accused and of the genuineness of the Soviet charges of organized atrocities. They state that the Russians were punctilious in their observance of the legal proprieties of the trial and that there was no evidence of duress. They observed that the self-abasing testimony of the accused was reminiscent of the famous purge trials but attributed this largely to the care exercised in selecting those who were placed on trial.“ 422 Stevens, Russia Is No Riddle, S. 111, 114. 423 Vgl. insoweit Kochavi, Prelude, S. 67 f. 420

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Grundlage in einer gezielten Auswahl in Betracht kommender Angeklagter durch die Sowjetorgane finden. Diese dürften unter vielen tausend Kriegsgefangenen mutmaßlich gezielt solche Personen herausgesucht haben, die sich kooperativ zeigten und denen man im Gegenzug eine – letztlich nicht eingelöste – milde Bestrafung in Aussicht gestellt haben dürfte.424 Gegenüber den westlichen Regierungen erwies sich der Prozess jedenfalls als untaugliches Druckmittel. Vielmehr erreichte Stalin das Gegenteil. Wie oben bereits dargelegt, befürchteten die westlichen Alliierten aufgrund entsprechender Verlautbarungen der deutschen Regierungsorgane in erster Linie deutsche Vergeltungsmaßnahmen in Form von Repressalien gegenüber eigenen Kriegsgefangenen.425 Durch neutrale Mittelsmänner in der Schweiz ließen sie Deutschland auf diplomatischem Wege die Zusicherung zukommen, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich Prozesse gegen Kriegsgefangene nach dem Muster von Char’kov nicht stattfinden würden.426 Die Frage, ob der Prozess in Char’kov für die sowjetische Seite gleichsam als Leitbild für einen internationalen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fungiert haben könnte, kann indes zumindest zum Teil positiv beantwortet werden. Sucht man nach Parallelen, so kommt neben juristischen Fragestellungen namentlich zwei Aspekten zentraler Stellenwert zu, nämlich der angestrebten weitgehenden Verknüpfung der Justiz und des Staates, d. h. der bereits skizzierten sowjetischen „Instrumentalisierbarkeit der Justiz“427, und dem Bestreben nach größtmöglicher Öffentlichkeitswirksamkeit. Aus juristischer Sicht hingegen kann eine wesentliche Gemeinsamkeit namentlich darin erblickt werden, dass der Rechtsfigur des Befehlsnotstands, auf den sich sämtliche Angeklagten in Char’kov berufen hatten428, die Anerkennung als Strafbefreiungsgrund versagt blieb.429 Ein Unterschied kann sich insoweit freilich aus dem Umstand ergeben, dass bei dem Prozess vor dem Militärtribunal von Char’kov die Möglichkeit einer Strafmilderung wegen Handelns auf Befehl augenscheinlich nicht zur Diskussion stand, wie sie in Nürnberg sodann in Art. 8 IMT-Statut vorgesehen war. Im Gegenteil: Die unmittelbare Weisungsgebundenheit der vollverantwortlichen Angeklagten war gerade Voraussetzung für die politisch beabsichtigte Erstreckung des Tatvorwurfs auf die politische und militärische Führung Deutschlands im Sinne der eigentlichen 424

Vgl. zu derlei Überlegungen ausf. Ginburgs, Moscow’s Road, S. 54 f. Kochavi, History 76 (1991), S. 401 (407); ders., Prelude, S. 70; Wieland, in: KuretsidisHaider/Garscha (Hrsg.), Keine „Abrechnung“, S. 185 (187, Fn. 11). 426 Telegramm des Außenministers Hull an den amer. Botschafter in der Schweiz Harrison v. 24. Dez. 1943, FRUS 1943, Bd. I, S. 434–435; Hull an den Botschafter in der UdSSR Harriman am 1. Jan. 1944, FRUS 1944, Bd. IV, S. 1198. Ausf. zu diesen Vorgängen Kochavi, History 76 (1991), S. 401 (407 f.); ders., Prelude, S. 72. 427 Hilger, VfZ 54 (2006), S. 461 (466). 428 Vgl. hierzu das den Angeklagten Langheld, Ritz und Retzlaff jeweils gewährte letzte Wort, Protokoll der Sitzung v. 17. Dez. 1943, Pravda v. 20. Dez. 1943, No 312, S. 2–3 (Fortsetzung). 429 Zeidler, Stalinjustiz, S. 26; zur inhaltlichen Begründung dieser Rechtsfigur und ihrer juristischen Einordnung, vgl. Weigend, ZStW 116 (2004), S. 999–1027. 425

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Verantwortungsebene. Das Gericht verhängte in Char’kov der politischen Weisungslage entsprechend gegen alle Angeklagten die Todesstrafe, die sodann unmittelbar zur öffentlichen Vollstreckung kam. Eine der Konzeption von Char’kov vergleichbare Vorfestlegung des Schuldspruchs und der zu verhängenden Strafe auch nur in groben Zügen musste allerdings im Verfahren vor dem Nürnberger­ Militärtribunal schon allein wegen des internationalen, auf Kooperation angelegten Charakters des Prozesses außer Betracht bleiben, durch den die Möglichkeiten der UdSSR zur Einflussnahme eine erhebliche Eingrenzung erfuhren. Wie im Einzelnen noch aufzuzeigen sein wird, gestaltete sich die Einflussnahme auf die sowjetischen Akteure beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess durch die Entscheidungsträger in Moskau ebenfalls sehr intensiv. Sowohl in die noch vor Kriegsende auf sowjetischem Territorium durchgeführten Prozesse als auch in das Verfahren von Nürnberg waren die Sicherheitsdienste und die Propagandaabwehr Smerš maßgeblich involviert. Auch in der Absicht der Instrumentalisierung von formell-juristischen Verfahren zur Steigerung der politischen und propagandistischen Glaubwürdigkeit bestimmter Entscheidungsformen und deren Inszenierung als rechtlich tadelloser Vorgang lassen sich gewiss Parallelen nachweisen. Der Einsatz justizförmiger Verfahren als Instrument staatlich-erzieherischer Einwirkung entsprach dem tradierten sowjetischen Verständnis über die Aufgaben und Zwecke eines Gerichtsverfahrens. Schon seit den 1930er Jahren hatte Vyšinkij den strafprozessualen Gleichlauf zumindest zweier Verfahrenszwecke propagiert, nämlich erstens der gerichtlichen Pflicht zur Bestimmung der individuellen Schuld, verbunden mit der Festsetzung einer angemessenen Strafe, und zweitens der politischen Aufgabe der Volkserziehung.430 Ein weiteres verbindendes Element besteht in der im Rahmen beider Verfahren organisierten enormen Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere der ausgiebigen Berichterstattung innerhalb der Sowjetunion. Auch über den Verlauf des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess berichteten etwa die Zeitungen Pravda, I­zvestija, Trud u. a. umfassend. Am 19. Oktober 1945 etwa druckte die Tageszeitung Pravda den gesamten Text der Anklageschrift ab431 und berichtete in mehreren Be­gleit­ arti­keln über deren Vorlage an den Internationalen Militärgerichtshof.432 Ab diesem Zeitpunkt informierte die Tageszeitung über alle wesentlichen Kern- und Begleitereignisse in Nürnberg.433 Zu den am 20.  November 1945 beginnenden 430

Für w. Nachw. siehe Kap. B., Fn. 106. Obvinitel’noe Zaključenie, Pravda v. 19. Okt. 1945, No 250, S. 2–3. 432 Germanskij fašizm pered sudom narodov (ohne Verfasser), Pravda v. 19.  Okt. 1945, No 250, S. 1, sowie Pervoe otkrytoe zasedanie Meždunarodnogo Voennogo Tribunala po delu glavnych nemeckich voennych prestupnikov, ebd., S. 4. 433 Siehe etwa die anlässlich der Untersuchung des Geisteszustandes des Angeklagten Heß veröffentlichte Karrikatur „Gess bez pamjati“ von Kukryniksy sowie das korrespondierende Gedicht von S. Maršak, jeweils abgedr. in Pravda v. 20. Okt. 1945, No 251, S. 4; vgl. weiter den Bericht über die Reaktionen der ausländischen Presse auf den Beginn des Prozesses in der Pravda v. 21. Okt. 1945, No 252, S. 4, oder die kurze Meldung anlässlich des Selbstmordes von Robert Ley in der Pravda v. 27. Okt. 1945, No 257, S. 4. 431

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Verhandlungen vor dem IMT druckte die Zeitung Verlaufsberichte zur Vormittagswie auch der Nachmittagssitzung beinahe jeder Verhandlung ab, oftmals ebenfalls ergänzt durch kommentierende Begleitartikel und politische Karikaturen der populären Künstlergruppe Kukryniksy.434 Die ausgiebige Indienstnahme der Print­ medien zu propagandistischen Zwecken lag in beiden Fällen auf der Hand. Stalin war die besondere Bedeutung von Periodika435 für die Nutzung für propagandistische Zwecke vollauf bewusst.436 Die Überwachung der Propaganda in Druck­ erzeugnissen wie auch die der mündlichen Propaganda war daher den höchsten politischen Organen anvertraut.437 Aus diesem Grund erschien der umfassende Rückgriff auf den staatlichen Medienapparat sowohl im Prozess in Char’kov als auch später während des Nürnberger Prozesses nur konsequent. Gewisse ‚Vorwirkungen‘ in Bezug auf den späteren Hauptkriegsverbrecherprozess entfaltete das Verfahren vor dem Militärtribunal von Char’kov jedenfalls auch insoweit, als ­sowohl die seinerzeitige Anklageschrift als auch das Urteil des Militärtribunals als Beweisstück USSR-32 in den Prozess von Nürnberg eingeführt worden sind.438 Gleiches gilt für die vor dem Militärtribunal von Char’kov aufgenommene Aussage des unmittelbar nach Urteilsverkündung hingerichteten Angeklagten Retzlaff.439

434 Beispielhaft seien an dieser Stelle angeführt: Načalsja process glavnych nemeckich voen­nych prestupnikov (ohne Verfasser), Pravda v. 21.  Nov. 1945, No  277, S.  4; Z ­ aslavskij, Germanskij fašizm pered sudom narodov in Pravda v. 22.  Nov. 1945, No  278, S.  3, sowie Process glavnych nemeckich voennych prestupnikov v Njurnberge (ohne Verfasser), Pravda v. 22. Nov. 1945, No 278, S. 4 usw. Bei Kukryniksy handelt es sich um ein Pseudonym für eine bekannte sowjetische Künstlergruppe von Zeichnern und Graphikern, die besonders durch ihre politische Karikaturen berühmt wurden, die u. a. in der Zeitung Pravda veröffentlicht worden sind. Die Bezeichnung Kukryniksy setzt sich aus einzelnen Silben der Namen der drei Kollektivmitglieder zusammen, nämlich aus den ersten Silben der Familiennamen­ Kuprijanov und Krylov sowie aus der ersten Silbe des Vornamens sowie des ersten Buch­ stabens des Nachnamens von Nikolaj Sokolov. Als Karikaturisten gehörten Kukrykiksy zum festen Mitarbeiterteam der Zeitung Pravda. Vgl. zum Ganzen Zalesskij, Kto est’ kto, S. 330. 435 Im Jahr 1940 wurden in der UdSSR allein mehr als 1800 Zeitschriften und andere periodisch erscheinende Formate verlegt; die Gesamtzahl der jährlich gedruckten Exemplare betrug ca. 245 Millionen. Die Anzahl der verschiedenen Zeitungsformate lag zum gleichen Zeitpunkt bei mehr als 8800, die einzelnen Druckauflagen erreichten u. a. Zahlen von 40 Millionen Exemplaren, die jährlichen Auflagen von 7,5 Milliarden Exemplaren, siehe Nevežin, Sindrom, S. 37. 436 Im September 1938 sagte Stalin, dass es keine bessere Propaganda gäbe als die des Drucks/Presse, nämlich Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren. Die Presse ermögliche es, die eine oder andere Wahrheit zu einem Gemeingut zu machen, siehe Nevežin, Sindrom, S. 37. 437 Nevežin, Sindrom, S. 46. 438 Hierzu Hilfsankläger Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT Bd. VII, S. 431. 439 Hilfsankläger Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 491.

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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III. Dritte Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik und grundsätzliche Verständigung auf die Einrichtung eines Internationalen Militärtribunals III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

1. Ansätze zur Koordinierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik als Gegenstand diplomatischer Annäherung zwischen der UdSSR und den westlichen Alliierten im Jahresverlauf 1944 a) Stagnation der sowjetischen Kriegsverbrecherkonzeption in der Endphase des Zweiten Weltkriegs Die Frage nach der Art und Weise, mit der die maßgeblichen Hauptkriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen werden sollten, wurde im Jahr 1944 durch Herausforderungen der aktuellen Kriegsführung und die angesichts des Kriegsverlaufs immer drängender erscheinenden Projektionen zur Nachkriegsordnung stark überlagert. Die für diesen Zeitraum überlieferten Quellen vermitteln daher nur einen sehr lückenhaften Einblick in die Vorgänge und Überlegungen, die zur Ausarbeitung einer konkreteren Kriegsverbrecherpolitik innerhalb der Sowjet­ führung einen konkreten Bezug aufwiesen. Eine durch den ehemaligen sowjetischen Botschafter in London Majskij im Januar 1944 an Molotov vorgelegte Denkschrift befasste sich detailliert mit Fragen der Nachkriegsordnung440 und widmete dabei auch der Problematik der Behandlung von Kriegsverbrechern einen kurzen Absatz.441 Majskij formulierte zunächst abermals die sowjetische Forderung nach einer harten Bestrafung der Kriegsverbrecher, wobei er dem Terminus des Kriegsverbrechers ein ersichtlich weites Verständnis zu Grunde legte.442 Darunter zu fassen waren demnach nicht nur unmittelbare Täter, die die ihnen zur Last gelegten Verbrechen auf dem Schlachtfeld oder in den besetzten Gebieten eigenhändig ausgeführt hatten. In den Anwendungsbereich der Strafankündigung einbezogen wissen wollte Majskij ebenso Angehörige der SA und SS, NS-Parteimitglieder aller Ebenen sowie breite Kreise der Führung von Heer, Luftwaffe, Marine und Verwaltung.443 Zugleich sah sich­ Majskij in dem Dokument veranlasst, im Bereich der praktischen Zusammenarbeit 440 Majskij an Molotov am 11. Jan. 1944, abgedr. in Istočnik 1995/4 (17), S. 124–144 = Laufer/ Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 79, S. 333–360; auszugsweise abgedr. auch bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 32, S. 148–149; für eine Übersetzung ins Deutsche siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 79, S. 244–271. 441 Ziff. 3 f) der Denkschrift v. 11. Jan. 1944 (Fn. 440) war mit der Überschrift „Harte Bestrafung der Kriegsverbrecher“ versehen, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 79, S. 244 (248). 442 So ausdrücklich in Ziff. 3 f) der Denkschrift v. 11. Jan. 1944 (Fn. 440), wonach der Begriff des Kriegsverbrechers „weit gefasst“ werden müsse, zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 79, S. 244 (248). 443 Ziff. 3 f) der Denkschrift v. 11. Jan. 1944 (Fn. 440), hier zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 79, S. 244 (248).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

auf dem Gebiet der Kriegsverbrecherverfolgung drohende Widerstände von Seiten der Westalliierten auszudeuten: „In diesem Bereich müssen wir zweifellos mit ernster Opposition von Seiten Englands und der USA rechnen (nicht in Grundsatzfragen an sich, aber bei deren praktischer Anwendung). Aber auch hier müssen wir nach maximaler Durchsetzung unseres Programms streben.“444

Majskijs Denkschrift stellte mit dem ihr zugrunde liegenden weiten Verständnis des Kriegsverbrecherbegriffs gewiss keine Neuerung dar; sie griff insoweit vielmehr eine in zahlreichen Publikationen und Regierungsproklamationen im thematischen Kontext der Sache nach fortwährend perpetuierte offizielle Position der Sowjetregierung schlicht wieder auf. Auch mit der erneut formulierten ö­ ffent­ lichen Forderung nach einer alliierten Grundsatzentscheidung zur Durchführung eines internationalen Verfahrens bewegte sich Majskij auf dem gesicherten Terrain des bisherigen sowjetischen Forderungsbestandes. Ungewiss bleibt unterdessen, ob in den maßgeblichen politischen Entscheidungsebenen zum seinerzeitigen Zeitpunkt bereits ein konkretisierter sowjetischer Entwurf für die Organisation eines internationalen Tribunals zur Durchführung eines Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher vorlag, der durch ein Mindestmaß an politischer Deckung die Schwelle zu bloß gedanklichen Experimenten bereits überschritten hatte. Mit Ausnahme der in Kapitel B nachgezeichneten Konzeptstudien aus den Reihen der staatsnahen sowjetischen Rechtswissenschaft lässt sich eine konzeptionelle Verfestigung für den hier in Rede stehenden Zeitraum quellenmäßig jedenfalls nicht belegen. Dies dürfte nicht zuletzt den seinerzeit zu treffenden Grundsatzentscheidungen zur Kriegsführung gegen die deutsche Wehrmacht geschuldet sein, denen als existenzielle Herausforderungen für das Überleben des Sowjetstaats in der politischen Aufmerksamkeit der Führung der Vorrang vor Fragen der juristischen Aufarbeitung gebührte. Gleiches galt für das immer deutlicher sich abzeichnende Bedürfnis, sowjetische Interessen wahrende Positionen zur Strukturierung einer europäischen Nachkriegsordnung zu entwickeln und diese nachdrücklich in den alliierten Diskurs zur Gestaltung der Nachkriegsphase einzubringen. Eingedenk der Notwendigkeit einer vorherigen alliierten (Grundsatz-)Entscheidung zur Bestimmung der weiteren Vorgehensweise in der Frage der Hauptkriegsverbrecher wird eine Feinplanung sowjetischer Projektionen für ein internationales Verfahren praktisch zum damaligen Zeitpunkt ohnehin kaum möglich gewesen sein, hätte dies doch zumindest eine im Wege von Gesprächen mit Großbritannien und den USA erst noch zu sondierenden Grundtenor vorausgesetzt.

444 Denkschrift v. 11. Jan. 1944 (Fn. 440), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 79, S. 244 (248).

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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b) Ambivalenz der westalliierten Kriegsverbrecherkonzeptionen Noch im Sommer 1944 schien auf Seiten der westlichen Alliierten eine Einigung hinsichtlich der Frage, ob die Verfolgung der als Hauptkriegsverbrecher grob identifizierten Akteure im Rahmen eines juristischen Verfahrens organisiert oder ob vielmehr Vergeltungsmaßnahmen in Gestalt summarischer Erschießungen Platz greifen sollten, noch nicht endgültig herbeigeführt. Eine Diskussion hierüber fand bis zu diesem Zeitpunkt nur in sehr begrenztem Umfang statt.445 Die auffallende Zurückhaltung der Westalliierten zumindest bei der öffentlichen Positionierung in dieser Sache dürfte ihre Gründe wohl insbesondere in den während des Ersten Weltkriegs gesammelten Erfahrungen und der Befürchtung drohender Repressalien446 gegenüber Kriegsgefangenen der alliierten Staaten finden447, die nach den Ausführungen weiter oben auch den allenfalls verhaltenen westalliierten Reaktionen auf den Schauprozess von Char’kov zugrunde lagen. Demgegenüber fiel die Berücksichtigung der Belange von in Gefangenschaft der Achsenmächte geratener eigener Kriegsgefangener auf Seiten der UdSSR deutlich zurückhaltender aus. Das Schicksal sowjetischer Soldaten war in der Wahrnehmung der Sowjetführung mit der Gefangennahme nicht selten bereits endgültig besiegelt, weil sie häufig entweder unmittelbaren Liquidationsmaßnahmen zum Opfer fielen oder wegen fehlender Versorgung durch die Truppen der Achsenmächte über kurz oder lang den Hungertod starben.448 Nicht von der Hand zu weisen ist im Grundsatz wohl auch die Annahme, dass in Feindeshand geratene sowjetische Kombattanten in den Augen der sowjetischen Administration leicht in den Verdacht der vorschnellen Kapitulation oder gar des hochverräterischen Überlaufens zu geraten drohten. Ein zu vehementes Eintreten für die Belange sowjetischer Kriegsgefangener in den Händen der Achsenmächte und eine hierdurch eventuell erzielte Anhebung der Standards der Gefangenschaft hätte womöglich auch eine Zunahme der Zahl von Überläufern zur Folge gehabt, und auch die von etwaigen Rückkehrern zu erwartenden Berichte über die Bedingungen der Kriegsgefangenschaft konnten je nach Lage der Dinge die Befürchtung propagandistisch ungünstiger Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung naheliegend erscheinen lassen.449 Dass 445 In der britischen wie amerikanischen Völkerrechtswissenschaft war die Debatte nach der angemessenen Organisation der Kriegsverbrecherbestrafung bereits seit 1941 intensiv geführt worden, vgl. hierzu mit einer Vielzahl von Einzelnachweisen Segesser, in: Justizministerium NRW (Hrsg.), Leipzig-Nürnberg-Den Haag, S. 7 (16). Zur Entwicklung der westalliierten Debatte der Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern in den Jahren 1944–1945 vgl. ders., Recht statt Rache, S. 372 ff. 446 Zu entsprechenden Androhungen von deutscher Seite im Zusammenhang mit dem Prozess von Char’kov vgl. etwa die in Fn. 394 nachgewiesene Erklärung des Leiters der Presseund Nachrichtenabteilung im Auswärtigen Amt. 447 Segesser, Recht statt Rache, S. 372 ff., 392; Kochavi, Prelude, S. 59. 448 Segesser, Recht statt Rache, S. 372. 449 Hierzu und zum Vorstehenden Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S. 20, dort allerdings auch mit der in ihrer Pauschalität kaum aufrechtzuerhaltenden und durch keinerlei Belege abgesicherten Behauptung, die UdSSR sei an einer menschlichen Behandlung ihrer eigenen Gefangenen durch die Achsenmächte schlichtweg nicht interessiert gewesen.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Erwägungen wie die Rücksichtnahme auf das Schicksal eigener Kriegsgefangener in der Kriegsagenda Stalins keinen Platz finden würde, hatte dieser nicht zuletzt mit der Durchführung des Prozesses von Char’kov hinreichend dokumentiert450. Die durch die Vollstreckung des Urteils auf deutscher Seite unmittelbar ausgelöste Gegenreaktion bestand denn bezeichnender Weise auch nicht in der Ankündigung von umgekehrten Repressalien gegen sowjetische Kriegsgefangene, die ohnehin an der Tagesordnung waren, sondern in der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen unter westalliierten Kriegsgefangenen, denen bis dato eine deutlich humanere Behandlung zuteil geworden war. Ungeachtet des Mangels an verbindlichen politischen Festlegungen bestand in Großbritannien als auch in den USA auf Regierungsebene von Mitte bis Ende 1944 intern eine merkliche Präferenz für die sog. ‚politische Lösung‘. aa) „[T]he outlaws shot to death within six hours“: Churchills Nomenklatur der Gesetzlosen Nach der von Churchill vor dem Hintergrund der Moskauer Deklaration entwickelten Konzeption etwa sollte eine Kommission von Juristen ca. 50 bis 100 Personen identifizieren, die sodann als ‚world outlaws‘ qualifiziert und damit aus der universellen Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen werden sollten. Die Gesetzlosen sollten demnach innerhalb von sechs Stunden nach Feststellung ihrer Identität zu liquidieren sein.451 Mit seinem zur Vorlage an die USA und die UdSSR 450

Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010 No 6, S. 75 (76). Note by the Prime Minister and Minister of Defence on the ‚The Punishment of War Criminals‘ v. 9. Nov. 1943, WP (43) 496, PRO, CAB 66/42/46, Bl. 266 (Vorders. und Rücks.), hier S. 1 f. (Ziff. 2): „A list shall be compiled by the United Nations of all major criminals other than those provided for by local jurisdiction. This list, which may be added to as the war continues, should include the Hitler and Mussolini gangs and the Japanese War Lords. I had not thought that this list of major criminals would exceed 50 or at the outside 100. Each United Nation will be invited to send in its candidates. Many names will appear on all lists, and at a conference of jurists the lists will be pruned and approved, additions being made from time to time. Thereafter the persons named on the approved list will, by solemn decree of the 32 United Nations, be declared world outlaws. No penalty will be inflicted on anyone who puts them to death in any circumstances. No country will be allowed to harbour them without incurring alienation in effective forms from the life of the United Nations. As and when any of these persons fall into the hands of any of the troops or armed forces of the United Nations, the nearest officer of the rank or equivalent rank of Major-General will forthwith convene a Court of Inquiry, not for the purpose of determining the guilt or innocence of the accused but merely to establish the fact of identification. Once identified, the said officer will have the outlaw or outlaws shot to death within six hours and without reference to higher authority.“ Zur Diskussion im britischen War Cabinet siehe Meeting of the War Cabinet v. 10. Nov. 1943, Ziff. 7 der 152nd Conclussions, WM 152 (43), War Cabinet Minutes 1943, S. 149–154, hier S. 154, CAB/65/36/20, Bl. 103–105. Die Notiz ist auszugs­ weise wiedergegeben auch bei Kochavi, Prelude, S. 73 f.; vgl. auch Segesser, Recht statt Rache, S. 374. 451

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vorgesehenen452 Vorstoß vom 9. November 1943 verfolgte Churchill ausweislich seiner Erläuterungen zum Entwurf vor dem britischen Kriegskabinett insbesondere das Ziel, den Eintritt des Kriegsendes durch Isolation der für rechtlos erklärten Haupt­akteure zu beschleunigen.453 Während das vorgeschlagene Vorgehen aus Sicht einiger Kabinettsmitglieder bereits wegen seiner Präzedenz­wirkung zu schwerwiegenden Bedenken Anlass bot454, begründeten andere ihr grundsätzliches Einverständnis mit der Erwägung, dass ein nach juristischen Maßstäben ausgerichtetes Verfahren in Bezug auf die Hauptkriegsverbrecher unangemessen erscheine und daher in der Tat eine politische Entscheidung von Nöten sei, die allerdings von den Vereinten Nationen gemeinsam zu treffen sei.455 Das ohne förmliche Entscheidung zur Sache an den Lordkanzler Simon und zwei weitere Minister zur Überarbeitung überwiesene Dokument lag dem Kriegskabinett am '13. März in modifizierter Form456 erneut zur Beratung vor. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den im letzten Absatz der Moskauer Deklaration aufgenommenen Vorbehalt zum Umgang mit den Hauptkriegsverbrechern wiederholte die überarbeitete Beschlussfassung die ­Forderung nach Aufstellung der Liste, sah jedoch keine sofortige Erschießung von in Gefangenschaft geratenen ‚outlaws‘ mehr vor; vielmehr sollte für die Ergreifung eines indizierten ‚outlaws‘ die unverzügliche Herbeiführung einer Entscheidung der Vereinten Nationen angeordnet werden.457 In der anschließenden Erörterung vor dem Kriegskabinett bekräftige­ Churchill seine Überzeugung von der Vorzugswürdigkeit nicht nur der baldigen Aufstellung der vorgeschlagenen Liste im Interesse einer ­Beschleunigung des

452 Note by the Prime Minister and Minister of Defence v. 9. Nov. 1943, WP (43) 496 (Fn. 451), S. 1 (Ziff. 2), Bl. 266 (Vorders.): „I submit to my colleagues the following proposal which, if approved, I would bring up at the forthcoming meeting of the three Great Powers.“ 453 Siehe War Cabinet, 152nd Conclusions v. 10. Nov. 1943, WM 152 (43), War Cabinet Minutes 1943 (Fn. 451), S. 154 (Ziff. 7): „The Prime Minister said that he thought that the process of preparing and publishing a relatively short list of the major war criminals would be calculated on the whole to shorten the War, since it would isolate these named war criminals from the other leading personages in enemy countries.“ 454 War Cabinet, 152nd Conclusions v. 10. Nov. 1943, WM 152 (43), War Cabinet Minutes 1943 (Fn. 451), S. 154 (Ziff. 7): „The proposal that major war criminals on the suggested list should be shot as outlaws, without reference to higher authority, was felt by some Ministers to be open to grave objection. To shoot men without trial in this way would be to set a very dangerous precedent, however fully it might be justified in the cases of men who had undoubtedly committed what might be called a capital offence against civilisation.“ 455 War Cabinet, 152nd Conclusions v. 10. Nov. 1943, WM 152 (43), War Cabinet Minutes 1943 (Fn. 451), S. 154 (Ziff. 7). 456 Note by the Lord Chancellor, the Attorney-General and the Minister of Aircraft Production on ‚War Criminals‘ v. 15. Feb. 1944, WP (44) 105, PRO, CAB 66/47/5, Bl. 14. 457 Note v. 15. Feb. 1944, WP (55) 105 (Fn. 456), S. 1, Bl. 14: „It is now announced that a list of the inner ring of political leaders who must take responsibility for the barbarous way in which the war has been conducted will be drawn up (in due course) by the United Nations. These individuals will be solemnly declared World-Outlaws. When any of these major criminals fall into the hands of any force of the United Nations, they will be kept in strict confinement until such time as the United Nations decide upon their fate.“

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Kriegsausgangs. Vielmehr hielt er auch an seiner ­ursprünglichen Forderung nach sofortiger Exekution ­aufgegriffener ‚outlaws‘ fest.458 Der Lordkanzler als Mit­ urherber der modifizierten Vorlage rückte demgegenüber deren Funktion als Konkretisierung des im letzten Absatz der Moskauer Erklärung avisierten gemeinsamen Beschlusses in den Vordergrund und verteidigte die Abkehr gegenüber der von Churchill favorisierten Exekutionslösung.459 Das Kriegskabinett kam auf Vorschlag Churchills dahin überein, vor einer endgültigen Festlegung auf einen konkreten Resolutionstext zu einem geeigneten Zeitpunkt Fühlung mit der amerikanischen und sowjetischen Führung aufzunehmen und deren Vorstellungen in Bezug auf die Ausfüllung des letzten Absatzes der Moskauer Deklaration in Erfahrung zu bringen. Zu diesem Zweck beauftragte es den britischen Außenminister Eden mit entsprechenden Sondierungen.460 Dieser erstellte in der Folgezeit ein sechsseitiges Memorandum zur Behandlung der Hauptkriegsverbrecher.461 Eden gelangte darin seinerseits zu der Schlussfolgerung, dass eine Abstimmung mit den Regierungen der USA und der UdSSR in Bezug auf die komplexe und ‚delikate‘ Frage des Umgangs mit den Hauptkriegsverbrechern zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ratsam erscheine. Zuvor sei eine interne britische Entscheidung darüber herbeizuführen, wie mit den Hauptkriegsverbrechern konkret zu verfahren sei und welche Individuen man hierbei in den Blick zu nehmen habe.462 In Bezug auf den zweitgenannten Aspekt unterbreitete Eden dem Kriegskabinett im Anhang seines Memorandums als Diskussionsgrundlage zwei Listen463 mit konkret in Betracht kommenden deutschen und italienischen Individuen, wobei neben Reichsleitern, Reichsministern, den Köpfen der faschistischen Parteiorganisationen auch die Führung der Sicherheitsdienste Aufnahme fanden. Auch der Name Heß hatte unter ausdrücklichem Hinweis auf die insoweit zu­ 458

Meeting of the War Cabinet v. 13. März 1944, 34th Conclussions, WM 34 (44), War Cabinet Minutes 1944, S. 155–160, hier S. 158 f. (Ziff. 4), CAB/65/41/34, Bl. 123–126: „The Prime Minister, in reviewing the position, said that he greatly hoped that the list of the 50 or 100 most prominent war criminals would be drawn up. The compilation of such a list would tend to make a gulf between them and the ordinary people of the enemy countries. On reflection, he still felt that there was much to be said for the summary execution of the persons on that list when they fell into our hands, rather than to announce that it was our intention to keep them in confinement until the United Nations had decided on their fate.“ 459 Ausführungen des Lordkanzlers vor dem Kriegskabinett am 13. März 1944, War Cabinet, 34th Conclussions v. 13. März 1944, WM 34 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 458), S. 159 (Ziff. 4): „The present draft was intended to extend the last paragraph of this Declaration and to round off the arrangements embodied in it.“ 460 Siehe War Cabinet, 34th Conclussions v. 13. März 1944, WM 34 (44), War Cabinet Min­utes 1944 (Fn. 458), S. 159 (Ziff. 4). 461 Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs on the ‚Treatment of Major War Criminals‘ v. 16. Juni 1944, WP (44) 330, 6 Seiten, PRO, CAB 66/51/30, Bl. 142–145. 462 Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs on the ‚Treatment of Major War Criminals‘ v. 16. Juni 1944, WP (44) 330 (Fn. 462), S. 1 (Ziff. 2). 463 Annex I (List of Major German War Criminals) zum Memorandum v. 16. Juni 1944, WP (44) 330 (Fn. 461), Bl. 143–144, S. 3–5; Annex II (List of Major Italian War Criminals), ebd., Bl. 144, S. 5–6.

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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berücksichtigenden sowje­tischen Befindlichkeiten464 in die von Eden vorgelegten Listen deutscher Kriegsverbrecher Eingang gefunden. Die u. a. von Clement R. Attlee vorgetragene Kritik an der konkreten Ausgestaltung der Liste entzündete sich vor allem an der mit Ausnahme von Feldmarschall Keitel unterbliebenen Aufnahme von Mitgliedern der militärischen Führung und der Nichtberücksichtigung der wirtschaftlichen Elite des deutschen Reiches, insbesondere der deutschen Schwerindustrie, für die Attlee neben Exekutionen auch umfassende Enteignungsmaßnahmen forderte.465 Bereits am 2. Juni 1944 hatte sich auch Lordkanzler Simon erneut der „extremely difficult question“ gewidmet, „as to what is to be done with the principal mis­creants who have been responsible for the war and have acquiesced in its atro­cities, should any of them fall into Allied hands at the end of the fighting“. Nach der von ihm vorgenommenen Auslegung des letzten Absatzes der Moskauer Deklaration war das weitere Vorgehen im Sinne einer politischen Lösung bereits vorgezeichnet.466 Er unterbreitete dazu einen abermals überarbeiteten Entwurf für einen Kabi­netts­beschluss zur Kriegsverbrecherfrage, der als Diskussionsgrundlage insbesondere an die amerikanische und sowjetische Regierung herangetragen werden sollte. Demnach sollte das Schicksal des ‚inneren Rings‘ der gegnerischen Führung durch einen politischen Beschluss der ­Alliierten Mächte besiegelt werden.467 Im Rahmen der Kabinettssitzung am 28. Juni 1944468 wurde denn auch erneut die mit der Veröffentlichung einer Liste 464

Vgl. für die Begründung Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs on the ‚Treatment of Major War Criminals‘ v. 16. Juni 1944, WP (44) 330 (Fn. 461), S. 2 (Ziff. 8 lit. a): „The name of Hess has been included, both because of his former position and activities and because his omission would be likely to arouse unfavourable comment, particularly from the Soviet Government. It should, however, be borne in mind that the Soviet Government have in the past shown themselves suspicious of Hess’ present position and at one stage suggested that he should immediately be brought to trial before an international tribunal. It is possible that when the general question is raised with them they may revert to this proposal. If they do, I  ould propose to make it clear that, in our view, Hess should not be punished in advance of the other criminals. Premature action might merely lead to reprisals against British prisoners of war in German hands.“ 465 Memorandum by the Deputy Prime Minister and Lord President of the Council on the ‚Treatment of Major War Criminals‘ v. 20. Juni 1944, WP (44) 345, 1 Seite, PRO, CAB 66/51/45, Bl. 196. Ziff. 3 des Memorandums lautete: „I think it is wrong that the big business men of Germany who financed Hitler should excape. The group of men in the heavy industries sought to use the Nazis for their own nefarious ends. Some should be executed as an example to the others. All should be deprived of their property.“ 466 Memorandum by Lord Chancellor Simon on the ‚United Nations War Crimes Commission‘ v. 2. Juni 1944, WP (44) 294, 7 Seiten, hier S. 3 (Ziff. 11), PRO, CAB 66/50/44, Bl. 256–259, hier Bl. 257: „That question is by the Moscow Declaration largely relegated to the Governments of the countries where specific war crimes have been perpetrated. The fate of Hitler and Co. is a political question and must be decided by the principal Governments themselves, and not by a court of judges, whether national or international.“ 467 Annex No. 7 to the Memorandum by Lord Chancellor Simon on the ‚United Nations War Crimes Commission‘ v. 2. Juni 1944, WP (44) 294 (Fn. 466), S. 7, Bl. 259. 468 Meeting of the War Cabinet v. 28. Juni 1944, 83rd Conclussions, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944, S. 137–142, hier S. 140 f. (Ziff. 4), PRO, CAB/65/42/41, Bl. 151–154.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

von Geächteten verbundene Hoffnung nach Eintritt einer Isolationswirkung unter den deutschen Hauptkriegsverbrechern in den Vordergrund gerückt. Nach Erörterungen zur konkreten Reichweite der von Eden vorgelegten469 Listen­ entwürfe470 brachten verschiedene Kabinettsmitglieder ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass die vorschnelle Veröffentlichung der im Entwurf vorliegenden Listen womöglich Ver­geltungsmaßnahmen unter der (west-)alliierten Kriegsgefangenschaft im deutschen Herrschaftsbereich zur Folge haben könnte und dass daher eine derartige Publikation erst zu einem Zeitpunkt ins Auge gefasst werden solle, zu dem sich die Niederlage des Kriegsgegners noch konkreter darstelle als im gegenwärtigen Zeitpunkt.471 Vor diesem Hintergrund beschloss das Kriegskabinett, die Frage nach einer etwaigen Veröffentlichung der Kriegsverbrecherlisten erneut zu vertagen472 und den Lordkanzler sowie den Minister für Luftfahrtproduktion und den Generalstaatsanwalt erneut mit der Überarbeitung des Entwurfs zur Vorlage an die USA und die UdSSR zu beauftragen.473 Im Rahmen der Sitzung des Kriegskabinetts am 4. September 1944 unternahm Churchill einen weiteren Versuch, Fortschritte bei derKonkretisierung der von ihm in der Frage der Hauptkriegsverbrecher favorisierten ‚politischen Lösung‘ zu erzielen. Die in Aussicht genommene weltöffentliche Ächtung der Hauptkriegsverbrecher scheine geeignet, das deutsche Volk von der nationalsozialistischen Führung zu entfremden. Insbesondere seien auch Komplikationen mit der Sowjetunion in dieser Frage nicht zu gewärtigen, wobei er sich im Rahmen der für September 1944 angesetzten Gespräche in Quebec474 um eine vorherige Abstimmung mit Präsident Roose­velt bemühen wolle.475 In der Sitzung vom 4. Oktober 1943 lag dem Kriegskabinett sodann ein Memorandum des Außenministeriums vom 3. Oktober 1943476 zur Beratung vor477, dem der in Quebec auf Grundlage des Vorschlags u. a. des Lordkanzlers Simon478 zwischen Churchill und Roosevelt vereinbarte Entwurf

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Siehe oben Fn. 463. War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 468), S. 141 (Ziff. 4 lit. c). 471 War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 468), S. 141 (Ziff. 4 lit. d). 472 War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 468), S. 141 (Beschl. Nr. 2). 473 War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 468), S. 141 (Beschl. Nr. 1). 474 Vgl. zur Konferenz von Quebec die Einl. in FRUS, Conference at Quebec 1944, Introduction, S. XI–XVII. 475 Meeting of the War Cabinet v. 4.  Sept. 1944, 116th Conclussions, WM 116 (44), War­ Cabinet Minutes 1944, S. 11–17, hier S. 16 f. (Ziff. 9), PRO, CAB 65/43/32, Bl. 130–133. 476 Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs Eden on ‚Major War Criminals‘ v. 3. Okt. 1944, WP (44) 555, PRO, CAB 66/56/5, Bl. 36. 477 Meeting of the War Cabinet v. 4. Okt. 1944, 131st Conclussions, WM 131 (44), War Cabinet Minutes 1944, S. 107–112, hier S. 111 (Ziff. 4), PRO, CAB 65/44/2, Bl. 6–8. 478 Annex No. 7 to the Memorandum by Lord Chancellor Simon on the ‚United Nations War Crimes Commission‘ v. 2. Juni 1944, WP (44) 294 (Fn. 466), S. 7, Bl. 259. 470

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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eines Telegramms an Stalin beigefügt war.479 Churchill allerdings sah mit Blick auf zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse in der Sitzung des Kriegskabinetts vom 4. Oktober 1943 nunmehr jedoch keinen aktuellen Handlungsbedarf mehr für die Verabschiedung der politischen Erklärung. Insbesondere bestünde die Gefahr deutscher Repressionsmaßnahmen gegen britische Kriegsgefangene, so dass weiteres Abwarten zunächst angezeigt erscheine.480 bb) „[P]ut to death forthwith by firing squads […] of the United Nations“: Die Problematik der Hauptkriegsverbrecher als Gegenstand des amerikanischen Morgenthau-Plans In den USA stießen analoge Vorschläge aus der Feder des Finanzministers Henry Morgenthau Jr. zunächst auf überwiegende481 Zustimmung, u. a. auch von Seiten des Präsidenten Roosevelt. Dieser hielt im Umgang mit maßgeblichen Hauptakteuren 479

Draft of  a suggested Telegram to be sent by the President and the Prime Minister to Marshal Stalin, abgedr. als Annex zum Memorandum des Secretary of State for Foreign Affairs Eden v. 3. Okt. 1944, WP (44) 555 (Fn. 476), S. 1–2, Bl. 36 = FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489–490. Zum konkreten Inhalt des Telegrammentwurfs siehe die nachfolgenden Ausführungen unter cc). 480 War Cabinet, 131st Conclussions v. 4. Oktober 1944, WM 131 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 477), S. 111 (Ziff. 4); siehe zur ebenfalls mit dem Risiko von Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene (der Dominions) begründeten Forderung des Secretary of State for Dominion Affairs nach vorheriger Abstimmung mit den Dominions ebd., S. 111 (Ziff. 4). 481 Demgegenüber nahm etwa der amerikanische Kriegsminister Stimson die Position ein, dass sämtliche Kriegsverbrecher in den Genuss eines – zumindest rudimentär entwickelten – gerichtlichen Verfahrens kommen sollten, vgl. hierzu die diesbezüglichen Ausführungen gemäß Abschrift einer telefonischen Unterredung zwischen Stimson und dem Rechtsberater der US-Army, General Cramer, am 5.  Sept. 1944, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 19, S. 24–27, hier S. 26: „A great many people think that the question of the guilt of some of these people is already decided. I’m taking the position that they must have the substance of a trial.“ Ausschlaggebend für seine Forderung nach Wahrung judizieller Mindeststandards auch bei der Bestrafung der Hauptverantwortlichen waren für Stimson die einem Strafprozess zugedachte erzieherische und dokumentarische Wirkung, insbesondere auf das deutsche Volk, siehe die Notiz von Stimson an Morgenthau v. 5. Sept. 1944, abgedr. ebd., Dok. XIII, S. 30: „It is primarily by the thorough apprehension, investigation, and trial of all the Nazi ­leaders and instruments of the Nazi system of terrorism such as the Gestapo with punishment delivered as promptly, swiftly and severely as possible that we can demonstrate the abhorrence which the world has for such a system and bring home to the German people our determination to expiate it and all its fruits forever.“ S. auch Notiz Stimsons an Roosevelt v. 9. Sept. 1944, abgedr. ebd., Dok. 14, S. 30–31, hier S. 30: „The method of dealing with these and other criminals requires careful thought and a well-defined procedure. Such procedure must embody, in my judgement, at least the rudimentary aspects of the Bill of Rights, namely, notification to the accused of the charge, the right to be heard and, within reasonable limits, to call witnesses in his defence.“ Nur eine in Übereinstimmung mit dem zivilisatorischen Fortschritt herbeigeführte Bestrafung auch der Hauptverantwortlichen in ‚würdevoller‘ Weise erscheine geeignet, der Nachwelt glaubwürdig Zeugnis abzulegen über die terroristischen Aktivitäten des NSRegimes und die alliierten Anstrengungen zur Niederwerfung dieses Systems, ebd., S. 30 f.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

ein langwieriges juristisches Verfahren für deplaziert und befürwortete demgegenüber summarische Liquidationen an im Voraus konkret in Listenform erfassten Individuen, auf deren ordnungsgemäße Identifikation vor Ausführungen der Exekutionen allerdings größter Wert zu legen sei.482 Der entgegen erheblicher Einwände aus dem Kriegsministerium483 in Form eines Memorandums von Morgenthau an Roosevelt gerichtete Plan vom 5. September 1944 sah demnach erstmals die Durchführung summarischer ad-hoc-Hinrichtungen von listenmäßig zu identifizierenden Hauptkriegsverbrechern (arch-criminals) vor.484 Mit dieser klaren Anordnung trug das Morgenthau-Memorandum insbesondere auch einem von militärischer Seite an die amerikanische Führung herangetragenen Bedürfnis nach klarstellenden Weisungen zum Umgang mit inhaftierten Hauptkriegsverbrechern Rechnung. Gemäß den im August 1944 aufgesetzten internen Anweisungen an das US-­Militär war lediglich die Festnahme der nationalsozialistischen Führungsriege sowie weiterer Verantwortlicher485 zur weiteren Verfügung vorgesehen486, ohne dass Vorkehrungen zum weiteren Verfahren mit den Inhaftierten getroffen worden wären. Vor dem Hintergrund dieser als unzureichend empfundenen Weisungslage gegenüber den US-amerikanischen Streitkräften hatte das amerikanische Kriegsministerium bereits am 25. August 1944 die Herstellung von Rechtssicherheit in Gestalt von ‚definite instructions‘ eingefordert, sollte die sofortige Erschießung bestimmter individualisierter oder gattungsmäßig individualisierbarer Gefangener politisch erwünscht sein.487 Gemäß dem von Morgenthau vorgelegten Konzept sollte

482 Zur Haltung Roosevelts siehe Memorandum of Conversation with President Roosevelt by the Political Advisor on Germany Murphy v. 9. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 144–158, hier S. 145: „War criminals, the President hoped might be dealt with summarily. His principal preoccupation was that they be properly identified before being dis­ posed of, but he expressed himself as very much opposed to long, drawn-out legal procedure.“ Vgl. insoweit auch Memorandum by the Chief of the Division of Central European Affairs v. 1. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 81–85, hier S. 84 (lit. d). 483 Kriegsminister Stimson hatte zumindest in Bezug auf die Hauptkriegsverbrecher die Einrichtung eines internationalen Militärtribunals favorisiert, Notiz Stimsons an Roosevelt v. 9. Sept. 1944, abgedr. bei Smith, American Road, Dok. 14, S. 30–31, hier S. 31: „I am dis­posed to believe that at least as to the chief Nazi officials, we should participate in an international tribunal constituted to try them.“ Zu der von Morgenthau abweichenden Sichtweise Stimsons vgl. im Übrigen bereits Fn. 482. 484 Der Text des Memorandums Henry Morgenthaus an den Präsidenten Roosevelt v. 5. Sept. 1944 ist abgedr. bei Smith, American Road, Dok. 12, S. 27–29; vgl. hierzu Gelber, VfZ 13 (1965), S. 372 (383); Segesser, Recht statt Rache, S. 376 ff.; Brown, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 21 (22 f.). 485 Vgl. hierzu die Aufstellung in Table D (Nazi Police, Party, Para-Military and Governmental Officers to be Interned) des War Department Handbook of Military Government for Germany v. 1. Sept. 1944, auszugsweise abgedr. bei Smith, American Road, Dok. 3, S. 15–16. 486 Ziff. I.5 (on Nazi Officials, War Criminals and Other Criminals) der Interim Directive for Military Government of Germany v. 21. Aug. 1944, auszugsweise abgedr. bei Smith, American Road, Dok. 2, S. 14. 487 Ziff. 3 und 4 der Notes of Henry Stimson for a Conference with the President, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 6, S. 20. Zur abweichenden persönlichen Auffassung Stimsons,

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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eine Liste von solchen Hauptkriegsverbrechern ausgearbeitet werden, deren offensichtliche Schuld durch die Vereinten Nationen zuvor förmlich anerkannt worden war488. Nach Identifikation durch einen Offizier im Generalsrang sollten die Betreffenden durch ein Erschießungskommando, bestehend aus Soldaten der Vereinten Nationen (firing squad made up of soldiers of the United Nations), getötet werden.489 Obschon die Entwürfe Morgenthaus der sowjetischen Regierung auch in ihren kriegsverbrecherbezogenen Facetten nicht verborgen geblieben sein dürften, wird aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht weiter ersichtlich, dass dessen Vorschläge die Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern betreffend eine bestimmte Reaktion in sowjetischen Regierungskreisen ausgelöst hätten. Die sowjetische Zurückhaltung dürfte wohl auch dem Umstand geschuldet sein, dass eine förmliche Billigung der in Rede stehenden Aussagen des Morgenthau-Plans durch den ihnen grundsätzlich zugewandten Präsidenten infolge der Intervention Minister Stimsons490 mehrfach abgewendet werden konnte.491 Der sowjetische Botschafter Gromyko492 berichtete Molotov Ende 1944 bei zwei Gelegenheiten über den­ Morgenthau-Plan, ohne jedoch auf die Fragen der Kriegsverbrecherbehandlung explizit einzugehen. In seinem ersten Schreiben im Oktober 1944 brachte er seine allgemeine Einschätzung zum Ausdruck, wonach Roosevelt in vielen politischen Fragen mit möglichen innenpolitischen Implikationen aus Rücksicht auf die bevorstehenden Wahlen bewusst keine klar definierte Haltung einnehmen würde.493 Etwa einen Monat später informierte Gromyko Molotov über ein Gespräch mit Morgenthau, ohne wiederum auf eine etwaige Erörterung der Kriegsverbrecherproblematik explizit Bezug zu nehmen.494

der sich hinsichtlich des Umgangs mit den Hauptkriegsverbrechern für die unbedingte Vorschaltung gerichtlicher Verfahren zur Schuld- und Strafenfindung aussprach, vgl. die Nachw. in Fn. 482. 488 Pkt. A (1) des Memorandums v. 5. Sept. 1944 (Fn. 484), S. 27 (28). 489 Pkt. A (1) (b) des Memorandums v. 5. Sept. 1944 (Fn. 484), S. 27 (28). 490 Zu dessen Position bereits oben Fn. 481. 491 Smith, American Road, Introduction, S. 9. 492 Gromyko, Andrej Andeevič (1909–1989), Gromyko war in den Jahren 1943–1946 Botschafter in den USA und gleichzeitig Gesandter in Kuba, sodann von 1946–1949 stellvertretender Außenminister und fungierte schließlich bis 1948 als erster ständiger Vertreter der UdSSR im Sicherheitsrat der UNO, Zalesskij, Kto est’ kto, S. 169 (Eintrag Gromyko), Laufer/ Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (684). 493 Gromyko an Molotov v. 6. Okt. 1944, AVP RF, f. 59, op. 12, p. 34, d. 213, Bl. 204–211, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 128, S. 472–476. 494 Gromyko an Molotov, 13. Nov. 1944, AVP RF, f. 59, op. 12, p. 34, d. 214, Bl. 293–299, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 135, S. 496–501.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

cc) Der britisch-amerikanische Telegrammentwurf von Quebec: Amalgamation der westallierten Lösungsansätze Im Rahmen der ohne sowjetische Regierungsbeteiligung im September 1944 organisierten Konferenz von Quebec495 konnten die britischen und amerikanischen ­ talin Konzepte sodann zusammengeführt und in ein gemeinsames, zur Vorlage an S bestimmtes Konzept überführt werden. Churchill wurde das von ­Morgenthau erarbeitete Programm eröffnet, ohne dass jedoch Morgenthau – der als Mitglied der amerikanischen Delegation ebenfalls in Quebec weilte496 – selbst maßgeblichen Anteil an den anschließenden Beratungen zwischen den Regierungschefs gehabt hätte.497 Roosevelt wiederum wurden die vom britischen Lordkanzler Simon im Auftrag des britischen Kriegskabinetts498 bereits seit längerem erarbeiteten Vorschläge zur Konkretisierung des von Churchill ersonnenen Bestrafungskonzepts499 vorgelegt. Churchill und Roosevelt erzielten in der Frage des Umgangs mit den Hauptkriegsverbrechern rasch eine Übereinkunft des Inhalts, dass die Durchführung eines juristischen Verfahrens für die wichtigsten Kriegsverbrecher wie ­Hitler, Himmler, Göring, Goebbels und Ribbentrop nicht in Frage kam.500 Sie entschlossen sich, die in Quebec favorisierte Lösung der Hauptkriegsverbrecherfrage in den Entwurf eines Telegramms501 zu überführen502, wobei die Über 495

Vgl. zu den Hintergründen der Konferenz von Quebec die Einl. in FRUS, Conference at Quebec 1944, Introduction, S. XI–XVII; eine umfangreiche Dokumentationssammlung zur Konferenz ist abgedr. in: FRUS, Conference at Quebec 1944. 496 Kochavi, Prelude, S. 88; Smith, American Road, Introduction, S. 9. 497 Proceedings of the Conference: Editorial Note, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 295–298, hier S. 297 (Ziff. 8): „Morgenthau told a group of his colleagues in the Treasury Department on September 19 that the ‚question of war criminals‘ had come up in his hearing at Quebec, but that he had said nothing on the subject.“ (Morgenthau Diary, vol. 772). 498 War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 469), S. 141 (Beschl. Nr. 1). 499 Memorandum by the British Lord Chancellor Simon v. 4. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S.  91–93 mit Resolutionsentwurf auf S.  92–93 = Smith, American Road, Dok. 15, S. 31–33 mit Resolutionsentwurf auf S. 32–33; siehe für frühere Fassungen bereits Annex No. 7 to the Memorandum by Lord Chancellor Simon on the ‚United Nations War­ Crimes Commission’‘ v. 2. Juni 1944, WP (44) 294 (Fn. 466), S. 7, Bl. 259; Note by the Lord Chancellor, the Attorney-General and the Minister of Aircraft Production on ‚War Criminals‘ v. 15. Feb. 1944, WP (44) 105, PRO, CAB 66/47/5, Bl. 14. 500 Hierzu Draft of a Suggested Telegram To Be Sent by the President and the Prime Minister to Marshal Stalin v. 17. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489–490, hier S. 489 (Ziff. 2); abgedr. auch als Annex zum Memorandum des Secretary of State for Foreign Affairs Eden v. 3. Okt. 1944, WP (44) 555 (Fn. 476), hier S. 1 (Ziff. 2). 501 Telegrammentwurf v. 17.  Sept. 1944 (Fn.  500), FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489–490; vgl. hierzu Kochavi, Prelude, S. 88. 502 Vgl. Minute by President Roosevelt and Prime Minister Churchill v. 15.  Sept. 1944, abgedr. in FRUS, Conference at Quebec 1944, S.  467; siehe zur Übereinkunft zwischen­ Roosevelt und Churchill auch Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs Eden on ‚Major War Criminals‘ v. 3. Okt. 1944, WP (44) 555, 2 Seiten, hier S. 1, PRO, CAB 66/56/5, Bl. 36.

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einstimmung in äußerer Struktur, Diktion und inhaltlichem Duktus den Schluss nahelegen, dass für den Telegrammentwurf im Schwerpunkt das von Simon verfasste Memorandum Pate stand. Dieses sollte nach Abstimmung mit den nationa­ hurchill und Roosevelt gemeinsam an Stalin gerichtet werlen Kabinetten von C den. Mit dem Entwurf eines Schreibens sollte Stalin unter Hinweis auf die in der Moskauer Deklaration offen gelassene Frage des Umgangs mit den Hauptkriegsverbrechern für das immer akuter sich darstellende Bedürfnis nach einer verbindlichen und unter den Alliierten abgestimmten Vorgehensweise in dieser Angelegenheit sensibilisiert werden.503 In diesem Zusammenhang sollte Stalin mit der auf Churchill zurückgehenden Idee einer listenmäßigen Erfassung der Hauptkriegsverbrecher und der hieran anknüpfenden Stigmatisierung derselben als ‚world outlaws‘ vertraut gemacht werden, wobei für das weitere Vorgehen im Gegensatz zum Entwurf des Lordkanzlers504 zwei Szenarien – Herbeiführung einer alliierten Entscheidung im Einzelfall oder sofortige Liquidation – als denkbare Alternativen in den Raum gestellt wurden: „It has now become important for us to reach agreement about the treatment of these major criminals. Would you consider whether a list could not be prepared of say 50 to 100 persons whose responsibilities for directing or impelling the whole process of crime and atrocity is established by the fact of their holding certain high offices? Such a list would not of course be exhaustive. New names could be added any time. It is proposed that these persons should be declared, on the authority of the United Nations, to be world outlaws and that upon any of them falling into the Allied hands the Allies will ‚decide how they are to be disposed of and the execution of this decision will be carried out immediately‘. Or alternatively, ‚the nearest General Officer will convene a Court for the sole purpose of establishing their identity, and when this has been done will have them shot within one hour without reference to higher authority.“505

Die Möglichkeit der Durchführung eines juristischen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher erfuhr in dem Entwurf hingegen eine strikte ablehnende Bewertung, die sich neben praktischen Komplikationen bei der Errichtung eines internationalen Gerichtskörpers vor allem auch aus der Unangemessenheit einer richterlichen Entscheidung für Konstellationen der in Rede stehenden Art überhaupt begründete. Zur Idee der Durchführung eines juristischen Verfahrens hieß es in dem an Stalin gerichteten Telegrammentwurf: 503 Ziff. 1 des Telegrammentwurfs v. 17. Sept. 1944 (Fn. 501), FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489 (489). 504 Dieser hatte für den Fall der Ergreifung ‚gelisteter‘ Individuen noch die sofortige Herbeiführung einer gesamtalliierten Entscheidung über das weitere Vorgehen zwingend vorgesehen, ohne Raum für eigenmächtige Exekutionsmaßnahmen des lokalen Entscheidungsträgers zu eröffnen, siehe den Resolutionsentwurf im Memorandum des Lordkanzlers Simon v. 4. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 92–93, hier S. 93 = Smith, American Road, Dok. 15, S. 32–33, hier S. 33: „Upon any of these major criminals falling into Allied hands, the Allies will decide how they are to be disposed of, and the execution of this decision will be carried out immediately.“ 505 Ziff. 1 des Telegrammentwurfs v. 17. Sept. 1944 (Fn. 500), FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489 (489).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

„It would seem that the method of trial, conviction and judicial sentence is quite inappropriate for notorious ringleaders such as Hitler, Himmler, Goering, Goebbels and ­R ibbentrop. Apart from the formidable difficulties of constituting the Court, formulating the charge and assembling the evidence, the question of their fate is a political and not judicial one. It could not rest with judges however eminent or learned to decide finally a matter like this which is of the widest and most vital public policy. The decision must be ‚the joint decision of the Government of the Allies‘. This in face was expressed in the Moscow Declaration.“506

Churchill und Roosevelt kamen überein, das gemeinsame Dokument zur internen Abstimmung in ihre jeweiligen Kabinette einzubringen und nach Billigung von dort zu finalisieren.507 dd) Die allmähliche Erosion der westalliierten Liquidationsszenarien Bereits im Rahmen der nächsten Sitzung seines Kriegskabinetts am 4. Oktober 1943 stellte Churchill unter Berufung auf ‚zwischenzeitliche Betrachtungen‘ jedoch weiteren Handlungsbedarf in der Kriegsverbrecherfrage zumindest für den Augenblick in Abrede, so dass ein förmlicher Beschluss zur Freigabe des Telegrammentwurfs durch das britische Kabinett nicht herbeigeführt wurde.508 Insbesondere machte er sich in diesem Zusammenhang erstmals das von ihm im Rahmen vorheriger Erörterungen im Kriegskabinett509 nie aufgegriffene Argument zu Eigen, dass eine öffentliche Stigmatisierung der NS-Führungsfiguren als weltweite Gesetzlose womöglich Vergeltungsmaßnahmen an britischen Kriegsgefangenen zur Folge haben könnte.510 Unabhängig hiervon rückte in der Folge auch Roosevelt von den im Morgenthau-Plan511 enthaltenen radikalen Vorschlägen zur Vorgehensweise gegen Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte und insbesondere von den dort noch vorgesehenen summarischen Erschießungen sukzessive ab, ohne das entstehende Vakuum durch entsprechende Bekenntnisse jedoch positiv 506 Ziff. 2 des Telegrammentwurfs v. 17. Sept. 1944 (Fn. 501), FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 489 (489 f.). Fast alle Formulierungen finden sich wörtlich im Memorandum v. Lordkanzler Simon v. 4. Sept. 1944 (Fn. 499) wieder, vgl. zum Vorstehenden etwa Ziff. 3 des Memorandums, FRUS, Conference at Quebec 1944, S.  91–93, hier S.  92 = Smith, American Road, Dok. 15, S. 31–33, hier S. 32.  507 Memorandum by the Secretary of State for Foreign Affairs Eden on ‚Major War C ­ riminals‘ v. 3. Okt. 1944, WP (44) 555, 2 Seiten, PRO, CAB 66/56/5, Bl. 36. 508 War Cabinet, 131st Conclussions v. 4.  Okt. 1944, WM 131 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 477), S. 111 (Ziff. 4): „The Prime Minister said that, in the light of further consideration since his discussions with President Roosevelt, he felt some doubt as to the case for pressing on with this matter.“ 509 Vgl. hierzu etwa die in War Cabinet, 83rd Conclussions v. 28. Juni 1944, WM 83 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 468), S. 141 (Ziff. 4 lit. d) dokumentierten Einwände von Seiten mehrerer Kabinettsmitglieder. 510 War Cabinet, 131st Conclussions v. 4.  Okt. 1944, WM 131 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 477), S. 111 (Ziff. 4). 511 Fn. 485.

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auszufüllen.512 Den allmählichen Wandel des amerikanischen Vorstellungshori­ zonts illustriert am markantesten der auf den 15. September 1944 datierende und als bewusster Gegenentwurf zu dem Morgenthau-Plan konzipierte „Bernays-Plan“ mit seiner kategorischen Absage an die im Morgenthau-Plan vorgesehenen summarischen Erschießungen: „[…] it would do violence to the very principles for which the United Nitons have taken up arms, and furnish apparent justification for what the Nazis themselves have taught and done. It would also help the Nazis elevate Hilter to martyrdom.“513

Die von Oberst Bernays, einem nachgeordneten Referenten des Kriegsministeriums im Rang eines Generalstabsoffiziers, zunächst für Zwecke der internen Verwendung erstellte Ausarbeitung sah anstelle dessen ein juristisches Verfahren zur Schuld- und Strafmaßfindung der Hauptkriegsverbrecher vor, das vor einem noch einzurichtenden internationalen Gerichtshof zu führen wäre.514 Den in seinem Ressort entstandenen Plan brachte Kriegsminister Stimson515 nach interner Auswertung Außenminister Hull zur Kenntnis, verbunden mit dem Hinweis, dass dem Dokument einige wertvolle Ansätze zu entnehmen seien.516 Auf der Grundlage des von Hull im Grundsatz befürworteten Bernays-Plans erarbeiteten Stimson, Hull und der Marineminister sodann ein interministerielles Memorandum betreffend das gerichtliche Verfahren und die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher zur Vorlage an den Präsidenten.517 Im Abschnitt ‚Creation of Treaty Court for Trial of Conspiracy Charge‘ empfahl das Memorandum die Errichtung eines Strafgerichtshofs auf Grundlage eines internationalen Übereinkommens zwischen den alliierten Siegermächten.518 Unterdessen hatte Morgenthau seine ablehnende Haltung gegenüber der Idee eines internationalen Kriegsverbrechertribunals keineswegs auf­gegeben. Den durch seine Stellung als Finanzminister eröffneten Zugang zum Präsidenten wusste er zu nutzen, um unter Hinweis etwa auf den letzten ­Absatz der 512 Hatte Roosevelt ein juristisches Verfahren zunächst für gänzlich ungeeignet und summarische Erschießungen der Hauptkriegsverbrecher für eindeutig vorzugswürdig erachtet (vgl. Memorandum of Conversation with President Roosevelt by the Political Advisor on Germany Murphy v. 9. Sept. 1944, FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 144–158, hier S. 145), so war er hiervon bereits in Jalta soweit zurückgewichen, dass er nurmehr Wert auf die Forderung legte, ein etwaiges gerichtliches Verfahren dürfe nur „nicht allzu juristisch“ ausfallen, siehe Protokoll Pavlov (Fn. 438), zit. nach Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143–152, hier S. 152. Zur Erosion der Pläne­ Morgenthaus und zu deren Hintergründen siehe etwa Smith, American Road, Introduction, S. 10. 513 Bernays-Plan v. 15. Sept. 1944, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 16, S. 33–37, insbes. Ziff. 5 (S. 35). 514 Vgl. Ziff. 9 des Bernays-Plan v. 15. Sept. 1944 (Fn. 513), S. 36–37. 515 Zu dessen Positionierung vgl. die Ausf. oben Fn. 481. 516 Siehe Mitteilung Stimsons an Hull v. 27. Okt. 1944, abgedr. in Smith, American Road, Dok. XVIII, S. 38–41, hier S. 39 f. 517 Draft Memorandum for the President on ‚Trial and Punishment of European War Criminals‘ v. 11. Nov. 1944, abgedr. in Smith, American Road, Dok. XIX, S. 41–44. 518 Draft Memorandum v. 11. Nov. 1944 (Fn. 517), S. 43 f.

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Moskauer Deklaration oder die Schwerfälligkeit und die Komplexität des ins Auge gefassten internationalen Vorgehens gegen den interministeriellen Vorstoß zu opponieren.519 Nachdem Roosevelt zunächst vorsichtige Sympathien gegenüber der Idee eines internationalen Tribunals hatte erkennen lassen520, schien er noch kurz vor seiner Abreise nach Jalta Ende Januar 1945 überhaupt keine gefestigte Position in der Frage entwickelt zu haben.521 Bis zu seinem überraschenden Tod am 12. April 1945 sollte er einer eindeutigen Positionsbestimmung zugunsten eines juristischen Verfahrens trotz eindringlicher Aufforderungen522 letztlich auch weiterhin aus dem Weg gehen. c) Ein „extrem achtbarer Standpunkt“: Stalins kategorische Verwahrung gegen Liquidationen auf ‚politischer‘ Grundlage Im Rahmen von Churchills Besuch in Moskau vom 9. bis zum 18. Oktober 1944 rückte das Thema der Kriegsverbrecherbehandlung trotz der zuletzt vollzogenen Kehrtwende des Premierministers auf die Agenda. Die politische Atmosphäre während des Besuchs und bei den Verhandlungen beschrieb Churchill dabei insgesamt als äußerst angenehm.523 In einem nach seiner Rückreise verfassten Brief an Stalin bilanzierte Churchill die Unterredungen u. a. dahingehend, der Besuch habe gezeigt, dass man sich in jeder Frage arrangieren könne, wenn man sich nur auf offene und vertrauliche Gesprächen einlasse.524 Kurz nach seiner Abreise, am 22. Oktober 1944, teilte Churchill dem amerikanischen Präsidenten mit, Stalin habe in der Frage der Hauptkriegsverbrecher einen „extrem achtbaren Standpunkt“525 519 Memorandum from the Department of the Treasury, 19.  Jan. 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 37, S. 126–129, insbes. S. 127. 520 Vgl. Presidential Memorandum for the Secretary of State v. 3. Jan. 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. XXIX, S. 92; eine Übersetzung ins Deutsche ist abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 222. 521 Diary Entry of Henry L. Stimson v. 19. Jan. 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 38, S. 130. Seinem Tagebucheintrag zufolge hatte Stimson an jenem Tage den Versuch unternommen, Roosevelt von der Richtigkeit eines internationalen Tribunals zu überzeugen und die entgegen gesetzte ‚politische Lösung‘ als Irrweg zu entlarven, als dessen Apologeten er nicht nur Morgenthau, sondern auch den britischen Premier Churchill identifizierte. Demgegenüber wähnte er sich mit dem von ihm mitgetragenen Vorstoß in Übereinstimmung mit der russischen Sichtweise. 522 Siehe etwa Memorandum by the Acting Secretary of State to President Roosevelt v. 17. März 1945, abgedr. in FRUS 1945, Bd. III, S. 1155–1156. 523 Schreiben Churchills an König Georg VI., 16. Okt. 1944, abgedr. in Churchill, Second World War, Bd. VI, S. 208–209, hier S. 208. 524 Schreiben Churchills an Stalin, 20. Okt. 1944, abgedr. in Churchill, Second World War, Bd. VI, S. 211–212, hier S. 211 f. 525 Ziff. 5 des Schreibens Churchill an Roosevelt, 22. Okt. 1944, hier zit. nach der deutschen Übersetzung in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 220; für die engl. Fassung siehe Churchill, Second World War, Bd. VI, S. 209–211, hier S. 210 = FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 400 (Auszug): „unexpectedly ultra-respectable line“.

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eingenommen, indem er dem Vorschlag von Exekutionen ohne vorgängiges Gerichtverfahren seine Anerkennung kategorisch versagt habe. Denn anderenfalls, so habe Stalin zu Bedenken gegeben, müsse für die Weltöffentlichkeit der Vorwurf auf der Hand liegen, die Alliierten seien der erkenntnisfördernden Wirkung eines gerichtlichen Prozesses bewusst aus dem Weg gegangen. Dem Hinweis auf völkerrechtliche Komplikationen bei der Organisation eines Kriegsverbrecherprozesses unter internationaler Regie sei Stalin mit der Erwiderung begegnet, „wenn es keine Gerichtsverfahren gäbe, dürfe es keine Todesurteile, sondern lediglich lebenslängliche Haft geben“526. Angesichts dieser eindeutigen Positionierung sah Churchill – vor dem Hintergrund seiner bereits vor der Abreise nach Moskau gegenüber seinem Kriegskabinett geäußerten Skepsis527 auch im Übrigen wenig überraschend – von der in Quebec noch vereinbarten528 Übergabe des mit Roosevelt abgestimmten Entwurfs529 an Stalin ab. In einer von Churchill für die Zwecke der allgemeinen Veröffentlichung530 entfernten Passage seines Schreibens an Roosevelt legte C ­ hurchill dar, dass er vor dem Hintergrund der dezidierten Positionsbestimmung Stalins von der beabsichtigten Übergabe des Telegrammentwurfs abgesehen habe und ­Roosevelt sein das auf den Abschluss einer entsprechenden alliierten Erklärung gerichtete Bestreben Großbritanniens als vorerst erledigt betrachten möge.531 Dass von Roosevelt diesbezüglich kein Widerspruch überliefert ist, vermag angesichts der im vorstehenden Unterkapitel beschriebenen Unentschlossenheit und Zögerlichkeit des US-Präsidenten kaum zu verwundern. Eine weitergehende Abstimmung oder gar Annäherung der westalliierten und sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik erfolgte bei dieser Gelegenheit nicht. Überhaupt sticht ins Auge, dass die Annahmen sowohl der britischen als auch der amerikanischen Alliierten in Bezug auf die sowjetische Position in der Kriegsverbrecherfrage regelmäßig wenig fundiert anmuten. Ein von Seiten des amerikanischen Außenministers, des Kriegsministers und des Generalstaatsanwalts unterzeichnetes Dokument an den Präsidenten vom 22. Januar 1945 griff zur Veranschaulichung der sowjetische Haltung in der Kriegsverbrecherfrage auf die ­ egierung Erklärung vom 14. Oktober 1942 zurück, in der sich die sowjetische R 526

Ziff. 5 des Schreibens Churchill an Roosevelt, 22. Okt. 1944, abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 220 = Churchill, Second World War, Bd. VI, S. 209–211, hier S. 210 = FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 400 (Auszug). 527 War Cabinet, 131st Conclussions v. 4.  Okt. 1944, WM 131 (44), War Cabinet Minutes 1944 (Fn. 477), S. 111 (Ziff. 4). 528 Minute by President Roosevelt and Prime Minister Churchill v. 15. Sept. 1944, abgedr. in FRUS, Conference at Quebec 1944, S. 467. 529 Siehe oben Fn. 501. 530 Churchill, Second World War, Bd. VI, S. 209–211. 531 Der vollständige Wortlaut von Punkt 5 des Schreibens Churchills an Roosevelt, 22. Okt. 1944, ist abgedr. in FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 400 = Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 220: „In face of this view from this quarter I do not wish to press the memo I gave you which you said you would have examined by the State Department. Kindly therefore treat it as withdrawn.“

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e­ rstmals für die Schaffung eines internationalen Tribunals ausgesprochen hatte. Demnach sei die Sowjetunion bereit, „alle praktischen Maßnahmen auf Seiten der Alliierten oder befreundeten Regierungen zu unterstützen, die bezwecken, die Hitleristen und ihre Mitschuldigen der Gerechtigkeit zu übergeben“ und befürworte deren Aburteilung vor einem besonderen internationalen Tribunal und ihre Bestrafung „in Übereinstimmung mit dem anwendbaren Strafrecht“532. Bemer­kens­ wert erscheint dabei, dass die Amerikaner ihrer Einschätzung der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik eine Erklärung zu Grunde gelegt haben, deren Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt bereits über zwei Jahre zurücklag. Der Rückgriff auf das zwei Jahre alte Dokument dürfte sich in erster Linie aus dem Umstand erklären, dass die Forderung nach einem internationalen Tribunal seit dieser Erklärung von der Sowjetführung öffentlich nicht mehr erhoben worden war. Der sowjetische Standpunkt, der sich in der Sache nicht verändert hatte, wurde seitdem lediglich in diplomatischen Noten oder Gesprächen vornehmlich der britischen Regierung gegenüber kundgetan. Naheliegend erscheint von daher die Annahme, dass die Sowjetunion weitere Konflikte aufgrund der Differenzen mit den westlichen Alliierten in dieser Frage vermeiden wollte und daher in öffentlichen Erklärungen wieder zu einer für alle annehmbaren Form der Forderung nach harter Strafe überging. Dass die Kriegsverbrecherfrage in den höchsten Etagen der sowjetischen Regierung nach dem Besuch Churchills wieder an Aktualität gewann, belegt ein von Semen Tarasovič Bazarov533 und Sergej Aleksandrovič Golunskij534 im Januar 1945 an Molotov vorgelegter mehrseitiger Bericht über die Londoner Beweissammlungskommission UNWCC.535 Der Bericht stellte überblickartig die Gründungsphase der Kommission sowie die Gründe dar, die die Sowjetunion zum Fern­ bleiben von der Kommissionsarbeit veranlasst hatten. Der Bericht informierte ferner über die Arbeitsweise der Kommission und die Reaktionen in der britischen Presse und Politik.

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Memorandum des Außenministers, des Kriegsministers und des Generalstaatsanwalts für den Präsidenten Roosevelt v. 22. Jan. 1945, abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 222–232, hier S. 231 = FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 402–413, hier S. 408 = Smith, American Road, Dok. 35, S. 117–122, hier S. 122. 533 Bazarov, Semen Tarasovič (1914–1985), war in den Jahren 1936 bis 1946 Mitarbeiter des zentralen Apparats des NKID der UdSSR, siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (677); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (535). 534 Golunskij, Sergej Aleksandrovič (1895–1962), Mitarbeiter der Rechtabteilung des NKID zwischen 1941 und 1945, 1945 bis 1952 Leiter derselben Abteilung, später sowjetischer Ankläger im Tokio Prozess, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (683); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (545). 535 Golunskij u. Bazarov an Molotov, Spravka o Londonskoj komisii po rassledovaniju voen­ nych prestuplenij v. 18. Jan. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 1–3, abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 36, S. 156–157.

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2. Die Abschlusserklärung von Jalta: Mandat zur Vorbereitung einer koordinierten alliierten Sprachregelung im Umgang mit Hauptkriegsverbrechern Auch im Zuge der im Februar 1945 in Jalta stattfindenden Konferenz konnte keine weitergehende Aufklärung oder gar Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik herbeigeführt werden. Die Konferenz vermochte sich lediglich darauf zu verständigen, dass die Frage der Hauptkriegsverbrecher Gegenstand einer Untersuchung der drei Außenminister nach Abschluss der Konferenz sein sollte.536 Das Thema, angestoßen durch Churchill, war lediglich am Ende der Sitzung der Regierungschefs im Livadija-Palais am 9. Februar 1945 einer kurzen Erörterung zugeführt worden. Die durch anwesende amerikanische537 und sowjetische538 Teilnehmer angefertigten Mitschriften zur betreffenden Sitzung geben dabei den Inhalt des Gespräches in unterschiedlicher Ausführlichkeit wieder. Die von Stalin zu dieser Frage bezogene Position geht dabei nur aus dem ausführlicheren sowjetischen Bericht eindeutig hervor. Churchill eröffnete seine Ausführungen zur Problematik, deren Darstellung sich in amerikanischen und sowjetischen Quellen kaum unterscheidet, mit einem Bekenntnis zu der vom ihm initiierten Erklärung von Moskau vom 30. Oktober 1943.539 Sodann präsentierte er den übrigen Verhandlungsteilnehmern ein von ihm selbst auf diesem Nähr­boden „gelegtes Ei“540, das bereits Ende 1943 seinem Kabinett vorgestellte ­Konzept einer­ 536

Ziff. VI des Protokolls über die Verhandlungen der Krim-Konferenz, Protocol of the Proceedings of the Crimea Conference, 11. Feb. 1945, abgedr. in FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 975–982, hier S. 979 = Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 567–575, hier S. 572 = Szkopiak (Hrsg.), Yalta Agreements, S. 23–29, hier S. 27; die russische Fassung ist abgedr. in MID SSSR (Hrsg.), Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach, T. IV, S. 255–263, hier S. 260 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 38, S. 159; vgl. bereits Ziff. VI des Working Draft of the Protocol of Proceedings Revised by the Foreign Ministers, 11. Feb. 1945, abgedr. in FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 934–940, hier S. 938. 537 Vgl. die von Bohlen und Matthews angefertigten Protokolle zur 6.  Plenarsitzung am 9.  Feb.1945, Minutes of the Sixth Plenary Meeting, abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 468–479 bzw. 479–483 = FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842–850, hier S. 849–850 (Bohlen-Minutes) und S. 850–855, hier S. 854 (Matthews-Minutes). 538 Vgl. hierzu die entsprechenden Passagen aus der von sowjetischer Seite (V. Pavlov) verfassten Niederschrift zur 6. Plenarsitzung am 9. Feb. 1945, Zapis’ zasedanija glav pravitel’stv SSSR, SŠA i Velikobritanii, RGASPI, f. 558, op. 11, d. 235, Bl. 117–119; abgedr. in MID SSSR (Hrsg.), Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach, T. IV, S. 169–170 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 37, S. 157–158; in deutscher Fassung abgedr. in Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143–152. 539 Bohlen-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (849); in der Sache übereinstimmend auch die Wiedergabe des sowjetischen Protokollanten Pavlov im sowjetischen Bericht zur 6. Plenarsitzung am 9. Feb. 1945 (Fn. 538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (151); angedeutet auch Matthews-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 850 (854). 540 Ü. d. Verf., Matthews-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 850 (854).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

gemeinsamen listenmäßigen Erfassung von Hauptkriegsverbrechern nämlich, für deren begriffliche Erfassung er auf das im letzten Absatz der Moskauer Erklärung genannte Kriterium des Fehlens einer geographischen Eingrenzbarkeit der verübten Verbrechen Bezug nahm. Die solcherart definierten Hauptkriegsverbrecher sollten „erschossen werden“, „sobald ihre Identität festgestellt worden“541 sei. Churchill unterbreitete den jedenfalls den amerikanischen Teilnehmern bereits bekannten Vorschlag, eine Liste der größten Verbrecher aufzustellen, die später bei Bedarf noch ergänzt werden könnte.542 Wegen zu befürchtender Repressalien gegenüber den in deutscher Kriegsgefangenschaft befindlichen alliierten Soldaten solle jedoch das Vorhaben aber vorerst nicht an die Öffentlichkeit getra­gen werden.543 Stalin warf die Frage auf, wie mit Rudolf Heß verfahren werden sollte.544 Er war sichtlich besorgt, dass Heß als gewöhnlicher Kriegsgefangener einer Strafe entgehen könnte und erkundigte sich, ob auch Kriegsgefangene auf die Verbrecherliste gesetzt werden können.545 Churchill erklärte daraufhin, dass auch Kriegsgefangene, die Gesetze übertreten haben, vor Gericht gestellt werden würden.546 Die sowjetischen Quellen berichten von einem weiteren Aus 541

Ü. d. Verf., Bohlen-Minutes (Fn. 537), zit. nach FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (849); mit ähnlichem Wortlaut wiedergegeben auch im Pavlov-Protokoll (Fn. 538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (151): „Churchill ist der Auffassung, daß es das Beste wäre, die Hauptverbrecher zu erschießen, sobald man sie festgenommen habe.“ 542 Der Hinweis auf die Ergänzungsfähigkeit der Liste findet sich lediglich in den sowjetischen Niederschriften wieder, siehe insoweit Protokoll Pavlov (Fn. 538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (151). 543 Matthews-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 850 (854); das Bohlen-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (850), enthält lediglich einen Hinweis auf die Nichtöffentlichkeit der diskutierten Fragestellungen, jedoch keine Begründung für die angenommene Geheimhaltungsbedürftigkeit. Detaillierter demgegenüber die sowjetischen Aufzeichnungen (Fn. 538), S. 143 (152): „Churchill wünsche, daß zwischen den drei Mächten in dieser Frage Klarheit herrsche. Doch dürfe über dieses Thema nichts veröffentlicht werden, damit die Hauptverbrecher sich nicht im voraus an den alliierten Kriegsgefangenen rächen.“ 544 Pavlov-Protokoll (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (151); Stalins Frage nach dem Schicksal Hess’ findet sich wieder auch im Bohlen-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (849); ebd., S. 849, auch zur Antwort Churchills: „The Prime Minister said he thought that events would catch up with Hess. He said he believed these men should be given a judicial trial.“ 545 Pavlov-Protokoll (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (151); ähnlich die Wiedergabe im Protokoll Bohlen (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (850): „He [Stalin, d. Verf.] then asked if the war criminal question applied to prisoners of war.“ 546 Pavlov-Protokoll (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd.  2, S.  143 (151): „Sonst würden Kriegsverbrecher in die­ Gefangenschaft gehen, um der Strafe zu entrinnen.“ Eine entsprechende Äußerung Churchills ist andeutungsweise enthalten auch im Bohlen-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (850): „The Prime Minister replied that it did [die Kriegsverbrecherfrage fände Anwendung, d. Verf.] if they had violated the laws of war.“

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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tausch zur Frage des Prozesses gegen Hauptkriegsverbrecher, der in den amerikanischen Quellen allenfalls andeutungsweise Anklang findet. Churchill erkundigte sich demnach bei Stalin, ob seiner Ansicht nach „die Hauptkriegsverbrecher abgeurteilt werden müssten, bevor sie erschossen werden“. Stalin bejahte diese Frage.547 Auf die von Churchill daraufhin nach den sowjetischen Aufzeichnungen in den Raum gestellten Frage, wie ein solches Gerichtsverfahren beschaffen sein sollte, ob insbesondere ein „juristisches oder politisches Verfahren“ in Rede stehe, ist nur eine Antwort von Roosevelt überliefert. Dieser stellte fest, dass das Verfahren „nicht allzu juristisch“ ausgestaltet werden dürfe und dass unter keinen Umständen Korrespondenten und Fotografen zum Prozess zugelassen werden dürften.548 Churchill bekräftigte daraufhin den sowjetischen Aufzeichnungen zufolge seine Überzeugung, dass „der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ein politischer und nicht ein juristischer Akt“549 sein dürfe und äußerte den Wunsch nach Klarheit zwischen drei Mächten. Erwiderungen Stalins hierauf sind nicht überliefert. Zu einer weitergehenden Abstimmung der gegenseitigen Standpunkte aufeinander kam es auf der Konferenz jedoch nicht mehr, da die Frage der Kriegsverbrecher auf Antrag Roosevelts550 an die Außenminister überwiesen wurde.551

547 Pavlov-Protokoll (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd.  2, S.  143 (151 f.); vgl. insoweit auch die in den Bohlen-­ Minutes (Fn. 538), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (850), wiedergegebene Reaktion Stalins auf die Bemerkung Churchills (ebd., S. 849), Personen wie Hess müssten vor Gericht gestellt werden (Fn. 545 a. E.): „Marshall Stalin replied in the affirmative.“ 548 Pavlov-Protokoll (Fn. 538), zit. nach Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (152); entsprechende Aussagen ­Roosevelts sind weder den Aufzeichnungen Matthews noch denen Bohlens (Fn. 537) zu entnehmen. Nach der Darstellung bei Matthews sah sich der Präsident zu einer Diskussion der Kriegsverbrecherproblematik vielmehr außerstande und beantragte daher die Vertagung des Themas, siehe Matthews-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 850 (854); entsprechende Vorbehalte Roosevelts gegen die Erörterung der Thematik finden sich in den sowjetischen Aufzeichnungen (ebd., S. 151) bereits zu Beginn der Debatte: „Roosevelt erklärt, die Frage der Kriegsverbrecher sei schwierig. Sie könne auf dieser Konferenz nicht erörtert werden. Ob es nicht besser wäre, diese Frage an die drei Außenminister zur Erörterung zu überweisen? Sollen sie in drei bis vier Wochen darüber Bericht erstatten.“ 549 Pavlov-Protokoll (Fn. 538), zit. nach Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (152). 550 Pavlov-Protokoll (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd. 2, S. 143 (152). Zum Vertagungsantrag Roosevelts siehe auch Matthews-Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 850 (854). Zu den Vorbehalten Roosevelts gegen die Erörterung der Kriegsverbrecherthematik überhaupt vgl. die Nachw. in Fn. 548. 551 Ziff. VI des Schlussprotokolls v. 11. Feb. 1945 (Fn. 536), hier zit. nach FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 975 (979).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

3. Ansätze zur bilateralen Wiederannäherung der Positionen Großbritanniens und Amerikas Bis zum überraschenden Tod Roosevelts am 12.  April 1945 hatte dieser der Einnahme eines offiziellen Standpunkts der amerikanischen Regierung immer wieder aus dem Weg zu gehen verstanden.552 Auf Ministerialebene bis zu diesem Zeitpunkt fortgeschriebene Konzepte zur Einrichtung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals553 konnten mangels offizieller Freigabe in nunmehr aufgenommenen Verhandlungen insbesondere mit der britischen Regierung554 nicht offengelegt werden, die sich ihrerseits von der Richtigkeit einer unmittelbaren Liquidation jedenfalls der Hauptverantwortlichen ohne vorheriges Gerichtsverfahren zunächst weiter überzeugt zeigte. Ein von Lordkanzler Simon erarbeitetes Kompromisspapier, das einen Ausgleich zwischen der nunmehr dominanten amerikanischen Forderung nach Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens und dem britischen Bedürfnis nach rascher politischer Lösung herbeizuführen­ suche555, wurde am 12.  April 1945 vom britischen Kriegskabinett verworfen.556 Maßgebend hierfür war insbesondere die Erwägung, dass den Angeklagten im Falle eines gerichtlichen Verfahrens gegen die Hauptverantwortlichen zwingend Rede- und Verteidigungsrechte einzuräumen wären, von denen diese durch Verzögerung und Verschleierung missbräuchlichen Gebrauch machen würden. Da überdies der Verfahrensausgang für jedermann bereits klar auf der Hand liege, würde die justizförmige Einkleidung des Prozesses den Gedanken eines gerichtlichen Verfahrens als solchen desavouieren. Nicht zuletzt berge eine gerichtsförmige Bestrafung Hitlers das Risiko, diesen in den Augen seiner Anhänger zum 552 Vgl. neben den Nachw. oben Fn. 548 zum Vertagungsverlangen Roosevelts im Rahmen der Konferenz von Jalta etwa Smith, American Road, S. 135–137. 553 Siehe etwa das interministerielle Memorandum des Außenministers, des Kriegsministers und des Generalstaatsanwalts an Präsidenten Roosevelt on ‚Trial and Punishment of Nazi War Criminals‘ v. 22. Jan. 1945, abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 222–232 = FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 402–413 = Smith, American Road, Dok. XXXV, S. 117–122. 554 Zum amerikanischen Eintritt in bilaterale Regierungskonsultationen mit Großbritannien siehe Memorandum by the Acting Secretary of State to President Roosevelt v. 17. März 1945, abgedr. in FRUS 1945, Bd.  III, S.  1155–1156; zum Diskussionverlauf etwa Telegramm des amerikanischen Botschafters in London, Winant, an den Außenminister v. 7. April 1945, abgedr. in FRUS 1945, Bd. III, S. 1159–1161. 555 Vgl. hierzu etwa den von Lordkanzler Simon erarbeiteten Kompromissvorschlag, Memorandum to Judge Rosenman from Lord Simon, 6. April 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 45, S. 149–152, und zur amer. Reaktion hierauf das Telegramm von Colonel Cutter an McCloy, abgedr. ebd., Dok. XLVII, S. 155. 556 Meeting of the War Cabinet v. 12. April 1945, Ziff. 2 der 43rd Conclussions, WM 43 (45), War Cabinet Minutes 1945, S. 261–264, hier S. 262–254, PRO, CAB 65/52/3, Bl. 23–24. S. zur Verwerfung der von Simon unterbreiteten Kompromisslösung als misslungener Versuch einer Kombination inkompatibler Ansätze ebd., S. 262: „In discussion these proposals were criticised on the ground that they confused political and judicial jurisdiction: the action taken against the Nazi leaders would be based neither on judicial trial nor on a political act of State, and we should get the worst of both worlds.“

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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Märtyrer erstarken zu lassen.557 Die Kabinettsmehrheit558 hielt daher ein Festhalten an der von ­Churchill propagierten ‚politischen Lösung‘ geboten, wonach die zu Rechtlosen erklärten Hauptkriegsverbrecher nach Identifikation einer sofortigen Erschießung zuzuführen seien.559 Lordkanzler Simon, der sich selbst als Anhänger sofortiger Erschießungen zu erkennen gab, rechtfertigte den zurückgewiesenen Kompromissvorschlag indes mit realpolitischen Erwägungen. Die erforderliche Abstimmung sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit der Sowjetunion lasse eine teilweise Annäherung an die juristische Lösung unumgänglich erscheinen. Wie der erste Rechtsberater des Weißen Hauses, Richter Rosenman, ihm gegenüber zu erkennen gegeben habe, stünden maßgebliche amerikanische Kabinettskreise einer sofortigen Liquidation ohne vorgängiges Gerichtsurteil in kategorischer Ablehnung gegenüber. Auch Stalin fordere ein Mindestmaß an Gerichtsförmigkeit, so dass ein partielles Abrücken von der strikt politischen Lösung geboten sei.560 Der vom Kriegskabinett entsprechend instruierte561 Lordkanzler überreichte ­Rosenman daraufhin ein Memorandum, in dem die britische Mehrheitsmeinung und die sie stützenden Erwägungen detailliert wiedergegeben waren, namentlich das bei Gewährung prozessualer Rechtspositionen entstehende Risiko von Verschleppungs- und Verzögerungstaktiken, des Vorwurfs des Schauprozesses angesichts des auf der Hand liegenden Verfahrensausgangs sowie der Märtyrisierung ­Hitlers562 und seiner Entourage.563 557

War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Min­utes 1945 (Fn. 556), S. 262 (Ziff. 2): „When the right to appear before a judicial tribunal was once conceded, the right to counsel could not be denied; and it was likely that delaying tactics would be adopted to spin out the proceedings to unseemly lengths. Moreover, as the result would be a foregone conclusion, these proceedings would tend to bring judicial procedure into contempt. Finally, to put Hitler on trial in this way was bound to increase the prospect of his being regarded as a national martyr by subsequent generations of Germans.“ 558 Vgl. dagegen die Einwände des südafrikanischen Premierministers, wiedergegeben in War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 556), S. 263 (Ziff. 2): „To shoot men without trial in this way would set a very dangerous precedent.“ 559 War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 556), S. 262 (Ziff. 2): „For these reasons it was argued that it would be preferable that the Nazi leaders should be declared world outlaws and summarily put to death as soon as they fell into Allied hands.“ 560 War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 556), S. 263 (Ziff. 2). 561 War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 556), S. 264 (Beschluss Nr. 2 und 3). 562 Dasselbe Argument ist von Befürwortern der ‚juristischen Lösung‘ freilich gegen die ‚politische‘ Vorgehensweise in Gestalt summarischer Erschießungen gerichtet worden, siehe Memorandum des Außenministers, des Kriegsministers und des Generalstaatsanwalts für den Präsidenten Roosevelt v. 22. Jan. 1945 (Fn. 532), abgedr. in Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 222 (227): „Dies würde die Deutschen ermutigen, diese Verbrecher zu Märtyrern zu machen.“ 563 Lord Chancellor Simon, „The Argument for Summary Process against Hitler and Co“, 16. April 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 48, S. 155–157, hier insbes. S. 156 f. (Ziff. 2–4).

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

Unbeirrt von der eindeutigen Standortbestimmung des britischen Kriegskabinetts und mit Rückendeckung des neuen US-Präsidenten Truman, der sich intern eindeutig zugunsten eines juristischen Verfahrens ausgesprochen hatte564, legte der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium McCloy nur vier Tage später, am 20. April 1945, ein weiteres Memorandum vor, in dem der juristische Ansatz verteidigt und die britische Forderung nach summarischer Liquidation unter Berufung auf fundamentale zivilisatorische Standards als „Rückfall in primitive ­ eneral Praktiken“ mit ausführlicher Begründung verworfen wurde.565 Da auch G de Gaulle dem Vernehmen nach einem juristischen Verfahren zuneigte566 und­ Molotov seine Teilnahme an der Konferenz von San Francisco in Aussicht gestellt hatte, sah sich das britische Kriegskabinett im Rahmen seiner Sitzung am 3. Mai 1945 einer mehr oder weniger geschlossenen Front gegenüber und dazu veranlasst, die Aussichtslosigkeit eines weiteren Insistierens auf Forderungen nach Realisierung einer ‚politischen Lösung‘ schlussendlich anzuerkennen.567 Das Außenministerium schlug als offizielle Sprachregelung zur Rechtfertigung des Einschwenkens auf die Linie der ‚juristischen Lösung‘ die Berufung auf eine geänderte Gesamtsituation vor, die sich aus dem zwischenzeitlichen Ableben der zentralen Kriegsverbrecher ergebe.568 Churchill fasste die von Grund auf revidierte britische Verhandlungslinie wie folgt zusammen: „As regards the major criminals whose offences had no geographical location, we should not oppose the joint view of the United States and the Soviet Governments, but should invite them to produce a workable procedure before we finally committed ourselves to agreement that these persons should be put on trial. We should also point out that the situation had materially changed in the last few days with the death of Hitler and Mussolini and other prominent leaders, and the probability that still more of them would be killed before the fighting was over.“569

Das britische Kriegskabinett erteilte der vorstehend wiedergegebenen Schlussfolgerung des Premierministers förmlich ihr Placet und genehmigte sodann einen 564

Hierzu Smith, American Road, S. 138. Under Secretary McCloy, ‚The Punishment of those guilty of War Crimes and Atrocities‘, 20. April 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 49, S. 158–161. 566 Entsprechende Äußerungen de Gaulles waren in Gegenwart McCloys gefallen, siehe Smith, American Road, S. 140. 567 Meeting of the War Cabinet v. 3. Mai 1945, Ziff. 2 der 57th Conclussions, WM 57 (45), War Cabinet Minutes 1945, S. 329–332, hier S. 330–332, PRO, CAB 65/50/20, Bl. 74–75. Zur Einsicht in die fehlende politische Durchsetzbarkeit der eigenen Position siehe ebd., S. 331: „These [die Hauptkriegsverbrecher, d. Verf.] both the United States and the Russians were anxious to have tried by judicial procedure. We were opposed to this, but had not so far been able to carry our point.“ Vgl. weiter ebd., S. 332: „[…] it would be inexpedient to continue to oppose the combined views of the United States and the Soviet Governments […].“ 568 War Cabinet, 57th Conclussions v. 3. Mai 1945, WM 57 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 568), S. 331: „The Foreign Office felt that we might now take the line that, with the death of Hitler, Mussolini and other leaders, circumstances had changed.“ 569 War Cabinet, 57th Conclussions v. 3. Mai 1945, WM 57 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 567), S. 332. 565

III. 3. Phase: Formale Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik

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ihr vorgelegten Telegrammentwurf an den bereits in San Francisco weilenden Außenminister Eden, mit dem dieser entsprechend dem just vollzogenen Kurswechsel mit aktualisierten Instruktionen für die noch am selben Tage beginnende Konferenz von San Francisco versehen wurde.570 4. Von Morgenthau zu Rosenman: Grundsätzliche Einigung auf Grundlage des amerikanischen Entwurfs in San Francisco Der seit der Mandatierung der Außenminister in Jalta konkret in Rede stehende Auftrag, in der Frage der Ahndung von Kriegsverbrechern zu einer Abstimmung zu gelangen, wurde nach entsprechenden Vorbereitungen schließlich während der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco in Angriff genommen. Am 3. Mai 1945 trafen sich auf Initiative von Samuel Irving Rosenman, dem ersten Rechtsberater des amerikanischen Präsidenten (White House Councel), die Vertreter der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion zu einer Besprechung über das künftige Vorgehen.571 Rosenman hielt zunächst eine allgemeine Ansprache und unterbreitete dabei den sowjetischen und britischen Vertretern den amerikanischen Vorschlag, ein Internationales Militärtribunal und eine Anklagekommission durch die vier alliierten Mächte zur Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher zu bilden.572 Zu diesem Zweck überreichte er den Entwurf eines Regierungsabkommens sowie ein Memorandum zu den Vorschlägen über die Verfolgung von Kriegsverbrechern.573 Er schlug u. a. die Bildung eines Ausschusses 570 Telegramm from Prime Minister to Foreign Secretary, 3. Mai 1945, abgedr. als Appendix to War Cabinet, 57th Conclussions v. 3. Mai 1945, WM 57 (45), War Cabinet Minutes 1945 (Fn. 567), S. 332. Vgl. insbes. Ziff. 2 des Telegramms, ebd.: „The position as regards the major war criminals has greatly changed since this matter was last considered. Many of them have already been killed and the same fate may well overtake others before the fighting is over.“ 571 Memorandum of Conversation, held in San Francisco, 3.  Mai 1945, abgedr. in FRUS 1945, Bd. III, S. 1161–1164; vgl. auch die von Golunskij gefertigte Sitzungsniederschrift v. 3. Mai 1945, Soveščanie po voprosu o nakazanii voennych prestupnikov, 3 maja 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 1–5; abgedr. in: Diplomatičeskij vestnik 1995, No 4, S. 79–80 (bei der auf S. 80 wiedergegebenen Archivquelle op. 06 dürfe es sich um einen Eingabefehler handeln) = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 40, S. 160–163. Von sowjetischer Seite waren bei der Beratung der Volkskommissar für äußere Angelegenheiten, Vjačeslav Michailovič Molotov, der sowjetische Botschafter in den USA, Andrej Andreevič Gromyko, der Vertreter der Rechtsabteilung des NKID, Sergej Aleksandrovič Golunskij, der Mitarbeiter des zentralen Apparats des NKID, Boris Fëdorovič Podcerob, und der Chefübersetzer des NKID, ­Vladimir Nikolaevič Pavlov, anwesend. 572 Sitzungsniederschrift v. 3. Mai 1945 (Fn. 571), FRUS 1945, Bd. III, S. 1161 (1162 f.). 573 Zum Entwurf des Abkommens vgl. AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 14–20, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 41, S. 163–168; engl. Fassung des Executive Agreement abgedr. in Jackson Report, Dok. IV, S. 23–27; zum Memorandum siehe AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 21–40 (russ. Übersetzung) sowie 41–59 (engl. Originaltext), abgedr. in J­ ackson Report, Dok. V, S. 28–38; die dt. Fassung ist abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II, 1/2, S. 1020–1024. Vgl. hierzu allgemein Smith, Road to Nuremberg, S. 218 ff.

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

vor, der mit der Sammlung von Material und dessen Weiterleitung an das Tribunal beauftragt werden sollte. Ferner informierte er über die Ernennung von Robert H. Jackson zum amerikanischen Repräsentanten in diesem Komitee. Der britische Außenminister Eden wies entsprechend der ihm erst an diesem Tag erteilten aktualisierten Weisungen574 darauf hin, dass die britische Regierung die Durchführung formeller Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher zwar weiterhin nicht für zweckmäßig erachte, in Anbetracht der eindeutigen und übereinstimmenden Positionen der USA und der UdSSR aber nicht länger auf der von ihr favorisierten ‚politischen Lösung‘ beharren wolle und sich mit der von den alliierten Partnern vorgeschlagenen Lösung letztlich arrangieren könne.575 Die sowjetische Delegation zeigte sich den ihr gegenüber unterbreiteten Vorschlägen aufgeschlossen. Molotov wies auf die Bedeutung der Frage und die Notwendigkeit hin, die überreichten Dokumente einem gründlichen Studium zu unterziehen.576 Zugleich verlieh er seiner Überzeugung Ausdruck, dass in Rosenmans Vortrag wertvolle und weiterführende Vorschläge formuliert worden seien. Er schlug die Prüfung der auf­ geworfenen Fragen durch Experten der einzelnen Länder vor und benannte zwei sowjetische Vertreter für die bezeichneten Expertengespräche.577

IV. Fazit Im Unterschied zu der aus unterschiedlichen Gründen zurückhaltenden Positionierung der westlichen Alliierten kann die sowjetische Kriegsverbrecherpolitik gegenüber Hauptkriegsverbrechern als jedenfalls bis 1944 inhaltlich wesentlich definierter und im Wesentlichen konstant charakterisiert werden. In einer ersten, unmittelbar an den Überfall auf die Sowjetunion sich anschließenden Phase stand die nicht weiter konkretisierte Forderung im Zentrum regierungsamtlicher Verlautbarungen, die Verantwortlichen einer harten Strafe zuzuführen. Dem folgte die viel beachtete Erklärung vom 14. Oktober 1942, in der die sowjetische Regierung die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher vor einem internationalen Tribunal erstmals zum Forderungsgegenstand ihrer öffentlichen Kriegsverbrecherpolitik erhob. Damit stellte die UdSSR die erste alliierte Macht dar, die die Idee der Durchführung eines juristischen Verfahrens und der Einrichtung eines zur Aburteilung von Hauptkriegsverbrechern berufenen internationalen Spruchkörpers öffentlich thematisierte. Nach der Erklärung vom 14.  Oktober 1942 wurde das 574

Telegramm v. 3. Mai 1945 (Fn. 570). Sitzungsniederschrift v. 3. Mai 1945 (Fn. 571), FRUS 1945, Bd. III, S. 1161 (1164). 576 Sitzungsniederschrift v. 3. Mai 1945 (Fn. 571), FRUS 1945, Bd. III, S. 1161 (1164). 577 Für die Expertenkommission wurden für die sowjetische Seite Golunskij und Arutjunjan bestimmt, Sitzungsniederschrift v. 3. Mai 1945 (Fn. 571), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 4, S. 79 (80). Biograph. Details zu Golunskij vgl. bereits Fn. 535. Arutjunjan, Amazasp Avakimo­ vič (1902–1971) war zwischen 1933 und 1943 Mitarbeiter des zentralen Apparats des NKID, von 1944 bis 1948 stellvertretender Leiter sowie von 1948 bis 1954 Leiter der Wirtschafts­ abteilung des NKID (ab 1946 MID), siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (676); Lebedeva ((Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (534). 575

IV. Fazit

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Postulat allerdings wieder aus dem Repertoire öffentlicher Forderungen der sowjetischen Regierung getilgt. Sie blieb insoweit bis Kriegsende ein Unikum. Aus den vorhandenen Dokumenten geht indes unzweideutig hervor, dass Stalin inhaltlich an der Forderung nach Durchführung von juristischen Verfahren unverändert festhielt und diesen Standpunkt im nichtöffentlichen diplomatischen Austausch nachdrücklich zu vertreten wusste. Die von Stalin eingeschlagene Kriegsverbrecherpolitik lag nicht zuletzt in dem tiefen Misstrauen begründet, dass das Verhältnis des sowjetischen Machthabers zu den westalliierten Regierungen durchzog. Die Forderung nach Durchführung von gemeinsamen Prozessen stellte sich insoweit als Versuch dar, ein verbindliches Bekenntnis zur Allianz bzw. eine belastbare Festlegung gegen Hitler-Deutschland im Sinne eines politischen Sicherungsmittels einzufordern. Wohl insbesondere vor diesem Hintergrund waren die von der UdSSR wiederholt vorgetragenen Forderungen nach Einrichtung eines internationalen Militärtribunals mit dem Verlangen nach Aufnahme des Prozessbetriebs noch vor Kriegsende verknüpft. Stalin hielt die Durchführung eines internationalen Prozesses nicht nur für möglich, sondern auch für erforderlich. Das von ihm verfolgte Ziel eines wahrnehmbaren alliierten Bekenntnisses zu einem gemeinsamen Vorgehen und seine Forderung nach einer unverzüglichen und harten Bestrafung der maßgeblichen Akteure wären nämlich auch durch gemeinsame tödliche Strafaktionen wie etwa der von Churchill favorisierten Erschießungen ohne vorgängigen Prozess einzulösen gewesen. Die Forderung gerade nach einer Bestrafung im Wege juristischer Verfahren war daher anderen Motiven geschuldet. Welche Beweggründe dabei letztlich den Ausschlag gegeben haben, lässt sich empirisch freilich nicht mit hinreichender Richtigkeitsgewähr belegen. Einen Grund indes führte Stalin selbst bei verschiedenen Gelegenheiten expressis verbis ins Feld. Zwei Mal, nämlich im Rahmen des Gesprächs mit Kerr am 5. November 1942 in Moskau578 und der Unter­ redung mit Churchill im Oktober 1944579, brachte Stalin seine Überzeugung von der Notwendigkeit eines gerichtlichen Verfahrens zum Ausdruck, da andernfalls von interessierter Seite leicht der Vorwurf erhoben werden könne, sie, ­Churchill, Roosevelt und Stalin, übten Rache an politischen Feinden, ohne sich den Herausforderungen und Unwägbarkeiten eines Erkenntnisverfahrens stellen zu wollen. Diese Aussagen dokumentieren eindrucksvoll, dass Stalin insbesondere darauf bedacht schien, dem Vorwurf der Siegerjustiz entgegen zu wirken.580 Als weite 578

Vgl. insoweit den Nachw. in Fn. 121. Ziff. 5 des Schreibens Churchill an Roosevelt, 22. Okt. 1944, Nachw. in Fn. 526. 580 Die Bedachtnahme auf die von einem förmlichen Gerichtsverfahren ausgehende Außenwirkung klingt auch an in den Begründungen des amerikanischen Finanzministers Morgenthau zu dem von ihm als Kompromiss erwogenen Modell eines um wesentliche prozedurale Prinzipien entkleideten gerichtlichen Schnellverfahrens, vgl. Memorandum from the Department of the Treasury, 19. Jan. 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 37, S. 126–129, S. 128: „Such a trial might serve to demonstrate to the world that we as civilized nations are able to bring to justice by regular legal methods those who have committed unspeakable crimes against humanity and might accordingly increase respect for ourselves and for law and order.“ 579

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C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

rer zentraler und eher langfristig angelegter Beweggrund für die sowjetische Posi­ tionierung zugunsten ‚juristischer Lösungen‘ dürfte das erzieherische Potential zumal öffentlicher Strafprozesse gewirkt haben. Gerade die im Raum stehenden verheerenden Menschenrechtsverbrechen lieferten für eine propagandistisch angereicherte Prozessberichterstattung reichhaltiges Anschauungsmaterial. Aus sowjetideologischer Perspektive kam der politisch-erzieherischen Dimension öffentlicher Strafprozessesse eine eminent wichtige Bedeutung zu. Spätestens seit Vyšinkij galt die politische Indienstnahme juristischer Prozesse als zentrales Instrument staatlich-erzieherischen Wirkens auf dem Gebiet des sowjetischen Strafprozessrechts.581 Dem Gerichtsverfahren kam in einem weit vorangeschrittenen Stadium dieses Prozessverständnisses nicht mehr primär die Funktion zu, die Frage nach der individuellen Schuld des Angeklagten zu beantworten, die jedenfalls für deutsche Hauptkriegsverbrecher ohnehin nur positiv ausfallen konnte. Ein internationales Gerichtsverfahren bot vielmehr ein erhebliches, bereits in nationalen Prozessen (wie Char’kov) erprobtes volkserzieherisches Potential. Dass ein juristisches Verfahren, insbesondere die in ihm typischerweise vorgesehene Beweisaufnahme als Instrument der öffentlichkeitswirksamen Aufklärung und Enthüllung, in besonderem Maße geeignet erschien, wird Stalin nicht verborgen geblieben sein. In Übereinstimmung mit den vorstehend nachgezeichneten Erwägungen hoben die zeitgenössischen sowjetischen Juristen bei ihrer Begründung der Notwendigkeit eines juristischen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher die politische Aufgabe des Gerichts im Sinne eines Erziehungsauftrags in den Vordergrund. Daneben wurde einem einzurichtenden internationalen Strafgericht eine zentrale Funktion auch bei der „Aufdeckung der Triebfedern der Verschwörung“582 zugedacht. Noch im Jahr 1946 notierte der renommierte sowjetische Rechtswissenschaftlicher Prof. Poljanskij, dass die Aufgabe des Gerichts zuvörderst eine politische sei. Ihm sei die Aufgabe zugewiesen, die Auswüchse des Faschismus endgültig zu entlarven und zu brandmarken.583 Im selben Jahr akzentuierte Trajnin die Notwendigkeit der „moralisch-politischen Zerstörung des Hitlerismus“584 mit judiziellen Mitteln und wertete die gerichtliche Bestrafung von Kriegsverbrechern als eine vornehmlich in der politischen Sphäre zu verortende Frage.585 Wenn an dieser Stelle gelegentlich von gerichtlichen Umerziehungsfunktionen die Rede ist, so war damit nicht primär die rücksichtslose Propagierung der eigenen Ideologie 581 Vgl. zur spezial- und generalpräventiven Zielsetzung des kodifizierten UdSSR-Strafrechts Art. 9 lit. a) bis c) StGB RSFSR, ins Deutsche übersetzt bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (2). 582 So Poljanskij in seiner im Februar 1943 vorgelegten Studie zur „Organisation der strafrechtlichen Verfolgung für Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg“ (Ü. d. Verf.) (Kap. B, Fn. 97), GARF, f. R-7021, op. 116. d. 337, Bl. 1 (32). Zu Poljanskijs Entwurf vgl. ausf. Kap. B. III. 4. 583 Poljanskij, Tribunal, S. 5; vgl. auch die volkserzieherischen Funktionszuweisungen an das Gericht bei dems., Meždunarodnoe pravosudie, S. 77; ders., Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1946 No 1, S. 44–54. 584 Trajnin, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij process, S. 31 (31). 585 Trajnin, in: Trajnin (Hrsg.), Njurnbergskij process, S. 31 (35).

IV. Fazit

199

oder einer pro-kommunistischen Weltsicht angesprochen, sondern vornehmlich die Offenlegung der nationalsozialistischen Gräueltaten und die konsequente Absicherung eines politischen Bruchs mit den geistigen Grundlagen insbesondere im Nachkriegsdeutschland, auf denen derlei Exzesse hatten gedeihen können. Stalin war hinreichend bewusst, dass in einem auf ständige Kooperation angelegten Verfahren vor einem international besetzten Gremium eine unmittelbare ideologische Indoktrination ohnehin nicht in Betracht kam. Er wird daher bei der Formulierung der sowjetischen Forderungen in erster Linie die enthüllende Wirkung eines auch medial in Szene gesetzten Prozesses vor Augen gehabt haben, in deren Folge eine Stigmatisierung der nationalsozialistischen Ideologie ohne weitere ideologische Einwirkung von selbst eintreten würde. Die erstrebte aufklärerische Wirkung war indes nur durch Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten erreichbar und zwar durch ein öffentliches juristisches Verfahren, frei von kommunistischer­ Rhetorik. In diesem Sinne, nämlich der Nutzung eines Gerichts zu Erziehungszwecken, war die Prozessidee Stalins zweifelsohne auch ideologisch motiviert. Die Frage, welche konkrete Ausgestaltung das zur conditio sine qua non der s­ owjetischen Kriegsverbrecherpolitik erhobene Petitum eines gerichtlichen Verfahrens nach dem Willen Stalins erfahren sollte, lässt sich anhand der in diesem Kapitel ausgewerteten Quellen, namentlich der diplomatischen Korrespondenz und offizieller Regierungserklärungen, im Grundsatz einer Antwort zuführen. Dabei dürfen zwar auch das vorstehend nachgezeichnete sowjetische Verständnis von den politischen Zielen eines Strafprozesses und die in der UdSSR vor Kriegsende auf dieser ideologischen Grundlage durchgeführten Prozesse nicht außer Acht gelassen werden. Indes würde der sowjetische Sinn für die machtpolitische Realisierbarkeit eigener Forderungen unter den Kompromisszwängen eines auf Konsens ausgelegten Allianzgefüges grundlegend verkannt, wollte man den sowjetischen Akteuren einen Erwartungshorizont attestieren, in dem die auf­ heimischem Boden bereits durchgeführten Schauprozesse mit Billigung der Westalliierten als konzeptionelle Vorlage für ein internationales Verfahren hätten Verwendung finden können. Welche Vorstellungen der alliierten Bündnispartner im Rahmen der Kompromissfindung würden Berücksichtigung finden müssen, trat aus sowjetischer Perspektive jedoch lange Sicht nicht offen zu Tage. Bis Mai 1945 hatten sich die alliierten Siegermächte nicht einmal zu einem gemeinsamen politischen Bekenntnis zur Notwendigkeit eines Prozesses gegen die Hauptkriegs­ aktieren verbrecher überhaupt durchringen können, was nicht zuletzt auch dem T Roosevelts geschuldet war, der eindeutigen Positionierungen in der Sache wiederholt aus dem Weg gehen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand folglich für direkte Gespräche über die konkrete Art eines solchen juristischen Verfahrens auf der Ebene der Regierungschefs keine Veranlassung. Aufschluss über Stalins Prozessvorstellung bietet namentlich die mit Kerr Gesprächs am 5. November 1942 geführte Unterredung, in deren Verlauf Stalin die von Großbritannien favorisierte ‚politische Entscheidung der Verbündeten‘ und die von ihm geforderte gerichtliche Verurteilung in der Sache de facto gleichsetzte. Diese inhaltliche ­Gleichsetzung

200

C. Die Ahndung von Kriegsverbrechen

wurde etwa in der von Stalin eingebrachten Kompromisslinie sinnfällig, wonach es auf die Bezeichnung des entscheidungsfindenden Gremiums nicht wesentlich ankäme.586 Auch die während des Besuchs Churchills in Moskau im Oktober 1944 von Stalin bezogene Verhandlungslinie, wonach ohne ein förmliches Gerichtsverfahren zwar die Todesstrafe nicht, lebenslange Haft hingegen durchaus in Betracht käme587, legt Zeugnis ab von der Überzeugung Stalins, dass die auf die Hauptkriegsverbrecher anzuwendende Sanktion weniger von der Führung eines bereits für gesichert erachteten Schuldnachweises, sondern vielmehr allein von der formellen Einkleidung des zum Sanktionsausspruch führenden Verfahrens abhängig sei. Anfang 1945 bekräftigte Stalin sein diesbezügliches Verständnis, indem er Churchills Frage, ob die Hauptkriegsverbrecher vor ihrer in Aussicht genommenen Erschießung zwingend abgeurteilt werden müssten, positiv beantwortete.588 Die vorstehend wiedergegebenen Äußerungen Stalins verdeutlichen in ihrer Gesamtschau, dass dem von Stalin (jedenfalls vor Verhängung einer Todesstrafe) für unabdingbar erachteten Prozess in dessen Verständnis lediglich die Funktion einer nachträglichen formell-juristischen Legitimationsgrundlage für auf politischer Ebene bereits längst getroffene Entscheidungen – Schuldspruch und die Verurteilung zum Tod – zugedacht war. Ein jedenfalls im prinzipiellen Ausgangspunkt ergebnisoffenes Erkenntnisverfahren vor einem unabhängigen Gericht einschließlich umfassender Beweisaufnahme und weitreichender Verteidigungsrechte stand Stalin dabei ersichtlich nicht vor Augen. Für Stalin, der im Übrigen von der Schuld der noch zu bestimmenden Angeklagten vorbehaltlos überzeugt war, stand das Ergebnis des geforderten juristischen Verfahrens außer Frage. Stalin wusste überdies darum, dass Churchill und Roosevelt von der Schuld der bedeutendsten ­NS-Figuren in vergleichbarer Weise überzeugt waren und vor diesem Hintergrund sogar – in Bezug auf Roosevelt zumindest zeitweise – einer ‚politischen Lösung‘ in Gestalt summarischer Hinrichtungen den Vorzug einzuräumen bereit waren. Insofern erscheint es durchaus naheliegend anzunehmen, dass Stalin aus der Überzeugung der westlichen Alliierten von der Schuld der Hauptverantwortlichen irrigerweise den Schluss auf deren Bereitschaft gezogen haben könnte, in die Durchführung eines im Ergebnis vorbestimmten und jederzeit kon­trol­ lier­baren gerichtlichen Verfahrens einzuwilligen. Dabei war es gerade die west­ alliierte Vorstellung von der Unumstößlichkeit bestimmter im Rahmen gerichtlicher Verfahren notwendig Geltung beanspruchender Fundamentalanforderungen 586

Ü. d. Verf., Bericht v. 5. Nov. 1942 (Fn. 122), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 14, S. 94 (99). Ziff. 5 des Schreibens Churchill an Roosevelt, 22. Okt. 1944 (Fn. 526), Department of State (Hrsg.), Jalta-Dokumente, S. 220. 588 Protokoll Pavlov (Fn.  538), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.), Konferenzdokumente, Bd.  2, S.  143 (151 f.); vgl. insoweit auch die in den Bohlen-­ Minutes (Fn. 537), FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 842 (850) wiedergegebene Reaktion Stalins auf die Bemerkung Churchills (ebd., S. 849), Personen wie Hess müssten vor Gericht gestellt werden (Fn. 544 a. E.): „Marshall Stalin replied in the affirmative.“ Die hier interessierende Passage ist in der russ. Originalfassung auch wiedergegeben in dem bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 37, S. 157 (158) abgedruckten Auszug. 587

IV. Fazit

201

(wie etwa dem Recht auf angemessene Verteidigung), die aus der Perspektive insbesondere der britischen589, zunächst aber auch der amerikanischen Regierung590, den vollständigen Verzicht auf ein justizförmiges Verfahren geboten erscheinen ließen. Stalin war demgegenüber die Anerkennung derart unumstößlicher prozeduraler Garantien fremd, so dass er frei von inneren Widersprüchen durchaus einer ‚politischen Lösung‘ im formellen Gewand eines juristischen Verfahrens das Wort ­reden konnte.

589

War Cabinet, 43rd Conclussions v. 12. April 1945, WM 43 (45), War Cabinet Min­utes 1945 (Fn. 556), S. 262 (Ziff. 2): „When the right to appear before a judicial tribunal was once conceded, the right to counsel could not be denied; and it was likely that delaying tactics would be adopted to spin out the proceedings to unseemly lengths.“ 590 Vgl. hierzu etwa die gegen ein gerichtsförmiges Verfahren erhobenen Einwände des amerikanischen Finanzministers Morgenthau, Memorandum from the Department of the Treasury, 19. Januar 1945, abgedr. in Smith, American Road, Dok. 37, S. 126–129, S. 128: „But if criminals known to the whole world by their acts are permitted to delay punishment by reliance on technical legal rules, we would earn the enmity and disrespect of world opinion.“ Vgl. aber auch die Überlegung Morgenthaus, für die vor den Augen der Weltöffentlichkeit ohnehin schon für schuldig befundenen Hauptkriegsverbrecher ein wesentlicher prozessualer Garantien entkleidetes gerichtliches Rudimentärverfahren zu konzipieren, mit dem eine zügige Aburteilung sichergestellt sei, ebd., S. 128: „If it is possible to have such a trial which would carry with it the dignity of recongnized judicial procedures, but which at the same time would be unencumbered by the technical delays and defenses which even under our own system frequently impede the execution of essential justice, then, in our opinion, the suggestion that there be such a trial has some merit.“

D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 Mit der grundsätzlichen Einigung der Alliierten auf die Durchführung eines juristischen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher rückte für die verbündeten Regierungen die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des intendierten Prozesses in den Vordergrund. Bereits in San Francisco hatten sich die Außenminis­ter darauf geeinigt, dass nach der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen Verhandlungen stattfinden müssten, um endgültige Vereinbarungen zu treffen. Der am 3.  Mai 1945 den Vertretern Großbritanniens, der UdSSR und Frankreichs überreichte Entwurf eines Regierungsabkommens1 und das in diesem Zusammenhang übergebene flankierende Memorandum aus der Feder des amerikanischen Richters Samuel ­Rosenman2 stellten in ihrer Zusammenstellung das erste ausformulierte und mit Motiven versehene Projekt über die Schaffung eines internationalen Tribunals von Regierungsseite dar, das sämtlichen Alliierten gleichermaßen zugänglich gemacht wurde. Ihm liegt als oberste Prämisse die bereits beschlossene politische Absage an eine ‚politische Lösung‘ und das Bekenntnis zu einer gerichtsförmigen Entscheidung über Schuld und Strafe durch ein Alliiertes Militärtribunal zugrunde.3 Mit der frühzeitigen Ernennung von Robert H. Jackson4 zum amerikanischen Hauptankläger am 2. Mai 19455 und der im zeitlichen Zusammenhang hiermit erfolgten Vorlage des ersten ausgearbeiteten Projekts nahmen die USA ab diesem Stadium nunmehr eine aktivere und gleichzeitig dominantere Rolle bei der Vor 1 Für die russ. Fassung des Abkommensentwurfs v. April 1945 siehe AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 14–20 = AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 37–45 (Anhang No 4 zum von Erofeev für Vyšinskij für den Zeitraum ab dem 3. Mai 1945 zusammengestellten Dossier v. 9. Juli 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 1–4), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 41, S. 163–168; engl. Fassung des Executive Agreements abgedr. in Jackson Report, Dok. IV, S. 22–27. 2 Für das Memorandum v. 30. April 1945 siehe AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 21–40 (russ. Übersetzung) sowie Bl. 41–59 (engl. Originaltext); letzterer ist abgedr. in Jackson Report, Dok. V, S. 28–38; eine dt. Fassung ist abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II, 1/2, S. 1020–1024. S. zum Ganzen etwa Smith, Road to Nuremberg, S. 218 ff. 3 Memorandum v. 30. April 1945 (Fn. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (29 [I.1]). 4 Näher zu diesem Jarrow, Robert H. Jackson (2008); Gerhart, Robert H. Jackson (2003); vgl. auch Barret, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 129–138 – jeweils mit weiterführenden Nachweisen. 5 Hierzu Ziff. 1 der von Präsident Truman am 2. Mai 1945 erlassenen Ausführungsanordnung, Executive Order by President Truman v. 2. Mai 1945, abgedr. in Jackson Report, Dok. III, S. 21.

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bereitung des Nürnberger Prozesses ein. Wie noch näher auszuführen sein wird, nahmen die Alliierten das amerikanische Konzept nicht nur als mehr oder weniger weiterführende Inspirationsquelle, als Ideenreservoir oder als bloß theoretische Verhandlungsgrundlage wahr. Trotz der in der Folgezeit zahlreich eingebrachten Änderungsvorschläge und vorgenommenen Modifikationen sollten sich die in dem amerikanischen Konzept niedergelegten Ideen als richtungweisend für das Statut des IMT und das Verfahren selbst erweisen. Auch in prozesspraktischer Hinsicht brachte sich der amerikanische Koalitionspartner nunmehr sehr viel aktiver als bislang in die Vorbereitung des Prozesses gegen Hauptkriegsverbrecher ein. So begab sich Jackson am 22. Mai 1945 im Auftrag von Präsident Truman nach Europa, wo er während eines mehrwöchigen Aufenthalts zahlreiche organisatorische Weichenstellungen zur Prozessvorbereitung treffen konnte.6 Er befasste sich in diesem Rahmen etwa mit der Überprüfung von vorhandenen Beweisdokumenten oder der Vernehmung von Zeugen und stellte Kontakte für die weitere Kooperation zwischen der UNWCC oder dem britischen Vertreter, dem Solicitor General David Maxwell Fyfe, her. Bei seiner Rückkehr nach Washington konnte Jackson dem amerikanischen Präsidenten einen Bericht vorlegen, der sowohl die amerikanische Haltung zu juristischen Fragen als auch die zu deren Realisierung bereits unternommenen praktischen Maßnahmen der Prozessvorbereitung en detail nachzeichnete.7 Das von der sowjetischen Regierung nach innen und außen für gewöhnlich vermittelte Bild einer aktiven Sowjetunion, eines ‚Vorreiters‘, fand in der Verhandlungswirklichkeit nur eine unvollkommene Entsprechung. Zwar waren von sowjetischer Seite in Gestalt der Studien Trajnins und Poljanskijs8 bereits während des Krieges detaillierte Projekte über die Ausgestaltung eines solchen internationalen Tribunals vorgelegt worden. Doch lässt sich anhand der verfügbaren Quellenlage für den Mai 1945 das Vorliegen eines von allen maßgeblichen Entscheidungsebenen der Sowjetunion getragenen offiziellen Konzepts nicht nachweisen, welches mit dem von amerikanischer Seite in San Francisco vorgelegten als vergleichbar anzusehen wäre. Die sowjetische Seite zeigte sich im Zuge der weiteren Entwicklung denn auch um die Einnahme einer aktiveren Rolle zwar sichtlich bemüht, vermochte den Verlauf der Verhandlungen jedoch größtenteils bloß reaktiv zu begleiten. Lediglich durch die Einbringung punktueller Initiativvorschläge gelang ihr bisweilen eine proaktive Einflussnahme auf den Verhandlungsverlauf. Das mäßige Gestaltungs- und Durchsetzungsvermögen auf Seiten der sowjetischen Regierungsdelegationen war dabei nicht nur dem Fehlen eines konsistenten Gesamtkonzepts nach dem Vorbild des amerikanischen Memorandums geschuldet, die 6 Vgl. dazu Jackson Report, Dok. VI, S. 39 (Note) und den von Jackson nach seiner Rückkehr vorgelegten Bericht an den Präsidenten, Report to the President by Mr. Justice Jackson, June 6, 1945, Jackson Report, Dok. VIII, S. 42–54. 7 Report to the President by Mr. Justice Jackson v. 6. Juni 1945, Jackson Report, Dok. VIII, S. 42–54. 8 Vgl. hierzu Kap. B. III. 4. bis 7.

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eher unstete und zögerliche Außenwirkung fand ihre interne Entsprechung in zum Teil gravierenden praktischen, strukturellen und personellen Defiziten der sowjetischen Verhandlungsorganisation. Das vorliegende Kapitel stellt die Vorbereitungen der sowjetischen Seite auf die Verhandlungen in London überblickartig dar. Dabei wird das Augenmerk auf die Ereignisse zwischen den Konferenzen in San Francisco und London gerichtet, unter denen etwa die Ernennung der sowjetischen Vertreter der Erwähnung bedarf. Darüber hinaus wird die vor Verhandlungsbeginn eingenommene sowjetische Position zu einigen zentralen juristischen Fragen rekonstruiert. Auf diese Weise soll der Zugang zu einer von Änderungsvorschlägen der westlichen Alliierten, der allgemeinen Verhandlungsdynamik bzw. persönlichen Differenzen der Konferenzteilnehmer noch unbeeinflussten, genuin sowjetischen Ausgangsperspektive freigelegt werden. Anhaltpunkte für eine derartige Standortbestimmung zu Verhandlungsbeginn bieten nicht nur die offizielle sowjetische Antwort auf das amerikanische Projekt von San Francisco mit den darin enthaltenen Anmerkungen und Änderungsvorschlägen, sondern namentlich die Anweisungen der sowjetischen Regierung an ihre Vertreter kurz vor der Abreise auf die Londoner Viermächtekonferenz. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich sodann im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung ein Urteil darüber treffen, ob und inwiefern die sowjetische Führung ihre Vorstellungen vom Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf dem internationalen Parkett in politisch oder rechtliche bindende Vereinbarungen zwischen den Parteien zu überführen vermochte.

I. Faktische Anerkennung des amerikanischen Vorschlags als Grundlage für die weitere Verhandlungsführung 1. Der Bericht Arutjunjan/Golunskij vom 8. Mai 1945: Furcht vor angloamerikanischer Majorisierung und Vorschläge zur Einsetzung des Kontrollrats als übergeordnete Revisionsinstanz Die in dem amerikanischen Projekt eines Executive Agreement unterbreiteten Vorschläge wurden von sowjetischer Seite einer zeitnahen Überprüfung zugeführt. Bereits am 8. Mai 1945 lag dem sowjetischen Außenkommissar Molotov sowie seinen Stellvertretern Vyšinskij und Dekanozov ein Bericht des stellvertretenden Leiters der ökonomischen Abteilung Arutjunjan und des Beraters der Rechtsabteilung des NKID Golunskij über den amerikanischen Entwurf vor.9­

9 Bericht von Arutjunjan u. Golunskij v. 8. Mai 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 6–7, abgedr. in Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. I, Dok. 162, S. 637–639 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 42, S. 168–169; dt. Übersetzung in Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 162, S. 567–568. Der Bericht wurde auch der Rechtsabteilung, der USA-Abteilung, der Ersten sowie Zweiten Europäischen Abteilung des NKID zugeleitet.

I. Faktische Anerkennung des amerikanischen Vorschlags

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Dieser enthielt neben einer zusammenfassenden Darstellung der amerikanischen Vorschläge eine bewertende Stellungnahme der beiden Verfasser. Diese erachteten das amerikanische Projekt als bis auf einige wenige Punkte für im Wesentlichen annehmbar, gaben der politischen Führung jedoch zugleich mehrere Änderungsvorschläge an die Hand. Der erste betraf die im Entwurf angelegte Zusammensetzung des zu bildenden Anklage-Komitees10 und des bzw. der einzusetzenden Spruchkörper(s).11 Arutjunjan und Golunskij hielten die dort vorgesehene Mitwirkung von jeweils vier durch die Siegermächte zu benennenden Repräsentanten12 für nicht zweckmäßig. Moniert wurde insbesondere, dass die bei Zugrundelegung der amerikanischen Konzeption in beiden Kollegialorganen mit jeweils zwei Repräsentanten vertretenen angelsächsischen Mächte jede Entscheidung wegen des im Entwurf enthaltenen Majoritätserfordernisses13 würden blockieren können. Die Autoren der Stellungnahme nahmen anstelle dessen auf einen inoffiziellen Vorschlag des französischen Delegationsmitglieds Aglion Bezug, dem ihres Erachtens der Vorzug gebührte und demzufolge sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof mit jeweils fünf Personen besetzt werden sollten. Neben die vier im amerikanischen Entwurf vorgeschlagenen Vertreter sollte nach den Vorstellungen der russischen Kommentatoren des Entwurfs noch ein Tscheche, Jugoslawe oder Pole hinzutreten. Ein zweiter Änderungsvorschlag zielte darauf ab, die Alliierte Kontrollkommission für Deutschland als übergerichtliche Revisionsinstanz ein­ zusetzen.14 Dieser sollte die „Rechtsaufsicht“ über die Verfahren vor dem internationalen Militärgerichtshof übertragen werden verbunden mit der Rechtsmacht, von ihr für „falsch“ erachtete Urteile aufzuheben und das Verfahren zur Wiederaufnahme zurückzuverweisen.15 Schließlich mahnten Arutjunjan und Golunskij ergänzenden Regelungsbedarf hinsichtlich der wechselseitigen Rechte und Pflichten bei der Auslieferung von Kriegsverbrechern an. Das noch explizit niederzulegende „Recht eines jeden der Alliierten, von dem jeweils anderen Alliierten die Auslieferung von Kriegsverbrechern zu verlangen, die sich in dessen Gewalt­

10

Zu deren Aufgaben und Zusammensetzung nach Maßgabe des amerikanischen Vorschlags siehe Ziff. 22 und 23 des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (27). Zur Begründung für die Einsetzung des Anklagekomitees vgl. ergänzend das Memorandum v. 30. April 1945 (Fn. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (30 [I.4], 37–38 [V.]). 11 Der amerikanische Entwurf enthielt noch keine endgültige Festlegung zur Frage, ob ein einheitliches Tribunal eingesetzt oder mehrere unabhängige Tribunale geschaffen werden sollten, siehe Ziff. 15–19 des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25 f.), insb. Ziff. 15. Vgl. ergänzend Memorandum v. 30. April 1945 (Fn. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (29–30 [I. 1–I. 2]). 12 Ziff. 15 Satz 2 und Ziff. 22 Satz 1 des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (26, 27). 13 Ziff. 16 Satz 2 des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (26). 14 Bericht v. 8. Mai 1945 (Fn. 9), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 162, S. 567 (568). 15 Bericht v. 8. Mai 1945 (Fn. 9), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 162, S. 567 (568).

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D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 

befinden und Verbrechen im Hoheitsgebiet des die Auslieferung verlangenden Landes begangen haben“ sollte insoweit durch die Statuierung einer korrespondierenden „Pflicht desjenigen Landes, in dessen Gewalt sich die entsprechende Person befindet, diese auszuliefern“ effektuiert werden.16 2. Der Bericht Molotovs an Stalin vom 7. Juni 1945: Zusammenfassung der sowjetischen Vorbehalte und Grundlegung einer offiziellen Positionsbestimmung Knapp einen Monat später legte Molotov Stalin den Entwurf einer Antwort an die amerikanische Regierung zur Bestätigung vor.17 Die Grundlinien des amerikanischen Vorschlags fasste Molotov in fünf Punkten zusammen, denen er ebenfalls zu fünf Punkten zusammengefasste sowjetische Änderungsvorschläge gegenüberstellte. Auf Ablehnung Molotovs stieß der amerikanische Entwurf insbesondere in Hinblick auf die in ihm vorgesehene Anklage von Organisationen.18 Molotov schlug deshalb vor, die die Anklage von Organisationen betreffenden Passagen des amerikanischen Entwurfs19 restlos zu tilgen. Stattdessen sollte der Kontrollrat mit der Befugnis ausgestattet werden, die in Frage stehenden Organisationen unmittelbar als „kriminell einzustufen, sie aufzulösen oder zu verbieten“20. Mit einem neuen, ergänzenden Artikel sollte in Fortführung der bereits im Vorbericht von Arutjunjan und Golunskij enthaltenen Überlegungen zur Frage der Auslieferung21 sichergestellt werden, dass jede unterzeichnende Partei dem Gericht solche Personen überstellen würde, die der Gerichtsbarkeit des zu bildenden Tribunals unterstehen.22 Ein weiterer Zusatz bildete den sowjetischen Vorschlag ab, den Vorsitz des internationalen Tribunals und der Untersuchungskommission den Mitgliedern auf ihren Zusammenkünften nach dem Rotationsprinzip zuzuweisen. Abschließend bat Molotov Stalin förmlich um Bestätigung des Entwurfs einer Antwort an die amerikanische Regierung. 16

Bericht v. 8. Mai 1945 (Fn. 9), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 162, S. 567 (568). 17 Bericht Molotovs an Stalin v. 7. Juni 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 209, Bl. 60–61, abgedr. in Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 = Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 8, S. 155–156 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 46, S. 173–174; dt. Übersetzung in­ Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 8, S. 27–29. 18 Ziff. 12 lit. c und d des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25); zur amerikanischen Motivation vgl. ergänzend Memorandum v. 30. April 1945 (Fn. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (29 [II.c], 32 [III. C.b]). 19 Ziff. 12 lit. c und d des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25). 20 Bericht v. 7. Juni 1945 (Fn. 17), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 8, S. 27 (28). 21 Bericht v. 8. Mai 1945 (Fn. 9), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Dok. 162, S. 567 (568). 22 Bericht v. 7. Juni 1945 (Fn. 17), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 8, S. 27 (28).

I. Faktische Anerkennung des amerikanischen Vorschlags

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3. Das sowjetische Memorandum vom 9. Juni 1945: Grundsätzliche Sanktionierung der amerikanischen Vorlage trotz identifiziertem Änderungsbedarf im Detail Auf dieser Grundlage wurde zwei Tage später, am 9. Juni 1945, ein Memorandum gefertigt und im Anschluss an einen Empfang der maßgeblichen Sowjet­ funktionäre, dem neben Vyšinskij auch der zukünftige sowjetische Hauptankläger Roman Rudenko23 sowie der Chef der Untersuchungsorgane des NKGB Vlodzimirskij beigewohnt hatten24, mit dem Placet Stalins versehen. Nach Zuleitung der autorisierten Fassung des Memorandums als offizielle Position der sowjetischen Regierung an den sowjetischen Chargé d’affaires in Washington konnte dieser dem amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson schließlich am 14. Juni 1945 eine russische Fassung des Memorandums einschließlich einer englischen Übersetzung überreichen.25 In dem Memorandum bekundete die sowjetische Regierung offiziell ihr Einverständnis mit der Idee der raschen Bildung eines internationalen Tribunals für das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher, akzeptierte die amerikanischen Vorschläge im Grundsatz als Basis für weitere Verhandlungen und brachte ihre Bereitschaft zum Ausdruck, umgehend ein entsprechendes Abkommen zu unterzeichnen.26 Die in dem Memorandum kommunizierten endgültigen Änderungs- und Ergänzungswünsche der sowjetischen Regierung gliederten sich in 17 Punkte auf. Sie griffen an vielen Stellen die bereits in den vorbereiteten Berichten vom 8. Mai und 7. Juni 1945 dokumentierten Vorbehalte auf, so etwa gegenüber der im amerikanischen Entwurf vorgesehenen Anklage von Organisationen, dessen Vorschläge zur Vorsitzregelung oder zur Nichtaufnahme von Überprüfungsfunktionen des Kontrollrats in die Entwurfsfassung. Andere Aspekte des amerikanischen Projekts wurden einer (redaktionellen) Überarbeitung lediglich hinsichtlich konkreter Formulierungen zugeführt, die bei Lichte besehen in der Masse inhaltliche Modifikationen der amerikanischen Fassung 23

Zur Person siehe Kap. G., Fn. 10. Vgl. insoweit die entsprechende Besucherliste Stalins, veröff. bei Korotkov/Černev/ Černo­baev, in: Istoričeskij Archiv 1996, No 4, S. 66 (104); zu entsprechenden Unterredungen Stalins mit den vorstehend aufgeführten Funktionären auch Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Einführung, S. LXXXVI. 25 Aide-mémoire der sowjet. Regierung v. 9. Juni 1945, AVP RF, f. 192, op. 12a, p. 84, d. 11a, Bl. 78–81, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 48, S. 175–177; engl. Übersetzung abgedr. in Jackson Report, Dok. X, S. 61–63; siehe zum russischen Aide-mémoire auch Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 647, Anm. 35; Peskova, in: ­Diplomatičeskij vestnik 1995, No 4, S. 78 (79); Alčinov, in: Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 73; hierzu­ Ginburgs, Moscow’s Road, S. 96 f.; zur Überreichung am 14. Juni 1945, siehe Briefing Book Paper, Prosecution of War Criminals, FRUS, Conference of Berlin, 1945, S. 575–576, hier 576; dt. Übersetzung der Gesprächsunterlage auf der Potsdamer Konferenz für die amer. Delegation zur Strafverfolgung der Kriegsverbrecher v. 29. Juni 1945, abgedr. in: Bundes­ ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Halbbd., S. 1040–1042, hier S. 1041. 26 Aide-mémoire v. 9. Juni 1945 (Fn. 25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (61). 24

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D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 

nicht enthielten.27 Andererseits brachten einige der angetragenen terminologischen Überarbeitungen jedoch auch neue, durchaus relevante Nuancen ein. So sah der amerikanische Entwurf etwa vor, dass das Handeln auf Befehl („pursuant to order“) eines Vorgesetzten oder der Regierung die Annahme eines absolut wirkenden Strafbefreiungsgrundes („absolute defence“) nicht zur Folge haben sollte, ein Handeln unter derlei Umständen jedoch vom Tribunal bei der Verteidigung berücksichtigt werden oder sich strafmildernd („in defense or in mitigation of punishment“) auswirken können sollte.28 Der sowjetische Änderungsvorschlag sah demgegenüber nurmehr eine Feststellung des Inhalts vor, dass der Einwand des Befehlsnotstands nicht als ein die „Schuld rechtfertigender Umstand“ („justifying the guilt circumstance“)29 betrachtet werden dürfe, ohne jedoch eine etwaige Berücksichtigung von derlei situativen Begleitumständen der Tatbegehung im Rahmen der richterlichen Erwägungen zur Strafzumessung überhaupt zu thematisieren.30 Es erscheint durchaus naheliegend, die sowjetische Motivation zur Einführung dieses Änderungsansinnens in dem Wunsch nach gänzlicher Suspendierung des ‚Handelns auf Befehl‘ als argumentativer Figur mit Auswirkungen auf Schuld- oder Rechtsfolgenermittlung31 begründet zu sehen. Inhaltliche Auswirkungen von einiger Tragweite barg überdies auch der sowjetische Vorschlag, das im amerikanischen Projekt noch unspezifisch als Gruppe („group“32) bezeichnete Kollegium von Repräsentanten der entsendenden Staaten zur Vorbereitung der Anklage zu einer „Untersuchungskommission am Internationalen Tribunal“33 fortzuentwickeln, also auf Seiten der Anklagevertretung eine institutionell verfestige Einheit zu schmieden.

27 Vgl. etwa Ziff. 3 und 4 des sowjetischen Aide-mémoire (Fn. 25). Ziff. 4 enthält beispiels­ rojekts weise den Vorschlag, in den Überschriften zu Punkten 6, 8 und 9 des amerikanischen P das Wort „Erklärung“ durch „Bestimmung“ bzw. „Regelung“ zu ersetzen, Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62). 28 Ziff. 11 des amerikanischen Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (24). 29 Ü. d. Verf., Ziff. 7 des sowjetischen Aide-mémoire (Fn. 25), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 48, S. 175 (176), engl. Übersetzung abgedr. in Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62). 30 Ein in der Folgezeit von der UdSSR ausgearbeiteter Entwurf sah sodann eine an den amerikanischen Vorschlag angenäherte Regelung vor, in der die Strafmilderung in Konstellationen des Handelns auf Befehl für diejenigen Fälle in das richterliche Ermessen gestellt wurde, in denen der Untergebene bei der Ausführung eines Befehls blindlings (blindly) gehandelt hatte, vgl. Art. 29 des Draft Showing Soviet and American Proposals in Parallel­ Columns, abgedr. in Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (181). 31 Dem durch Verordnung v. 22.  Nov. 1926 (Sbornik uzakonenij 1926, No  80, Art.  600) in Kraft gesetzten StGB RSFSR (in deutscher Übersetzung abgedr. bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1–81) war die Anerkennung eines solchen Prinzips fremd. Für w. Nachw. s Kap. B, Fn. 201. 32 Ziff. 22 Satz 1 des amer. Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (27). 33 Ü. d. Verf., Ziff. 12 des sowjet. Aide-mémoire v. 9. Juni 1945 (Fn. 25), Jackson Report, S. 61 (62 f.).

II. Offizielle Notifikation der sowjetischen Delegationsmitglieder

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II. Offizielle Notifikation der sowjetischen Delegationsmitglieder: Späte Nominierung, interne Rollenzuweisung und personelle Unterbesetzung Zwischen den informellen Absprachen in San Francisco Anfang Mai 1945 und dem Beginn der Londoner Verhandlungen Ende Juni wandte sich die amerikanische Botschaft insgesamt drei Mal vergeblich an die sowjetische Regierung mit der Aufforderung, von dort einen Vertreter für die bereits projektierten Verhandlungen konkret zu mandatieren und diese Ernennung kundzutun. So war dem NKID schon am 19. Mai 1945 ein Notifikationsschreiben der amerikanischen Regierung zugegangen, mit dem die sowjetische Regierung nicht nur über die Ernennung Robert H. Jacksons zum amerikanischen Repräsentanten am 2. Mai 194534 in Kenntnis gesetzt wurde.35 Das Schreiben enthielt überdies einen Hinweis darauf, dass die amerikanische Regierung einen baldigen Beginn der prozessvorbereitenden Arbeiten für außerordentlich wichtig erachte. Aus diesem Grund bat sie um Ernennung eines sowjetischen Repräsentanten. Da eine Antwort hierauf ausblieb, trat sechs Tage später der amerikanische Gesandte George F. Kennan mit demselben Anliegen an den stellvertretenden Außenkommissar Vyšinskij heran.36 Das Schreiben unterstrich namentlich die besondere Dringlichkeit einer Übereinkunft über die Behandlung der Hauptkriegsverbrecher, deren baldige Inangriffnahme die rasche Übereinkunft über eine allseits getragene Verhandlungsstruktur erfordere. Unter Hinweis auf die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit ersuchte Kennan die Sowjetunion namens der amerikanischen Regierung inständig darum, einen eigenen Vertreter so schnell wie möglich zu ernennen. Auch dieses Schreiben blieb vorerst ohne Antwort. Eine weitere Note, nunmehr persönlich unterzeichnet vom amerikanischen Botschafter in Moskau, William Averell ­Harriman, erreichte das Außenkommissariat am 11. Juni 1945.37 Harriman nahm eingangs auf den ihm von Seiten der amerikanischen Regierung erteilten Auftrag Bezug, das Außenkommissariat wegen der Angelegenheit nochmals zu kontaktieren und auf einen weiteren Fortgang zu drängen. Er sei darüber unterrichtet, dass die britische Regierung den Generalstaatsanwalt David Maxwell Fyfe zu ihrem Repräsentanten bestimmt habe und die Ernennung eines Repräsentanten durch die französische Verhandlungspartei in Kürze bevorstehe. Mit Hinweis auf diese neuerlichen Entwicklungen wurde die sowjetische Regierung darum­

34

Hierzu Ziff. 1 der von Präsident Truman am 2. Mai 1945 erlassenen Ausführungsanordnung, Executive Order by President Truman, May 2, 1945, Jackson Report, Dok. III, S. 21. 35 Note der amer. Botschaft in Moskau an das NKID v. 19. Mai 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 45, d. 711, Bl. 1 = AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 1, Bl. 1 = AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 46; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 43, S. 170. 36 Schreiben Kennans an Vyšinskij v. 25. Mai 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 45, d. 711, Bl. 2; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 44, S. 171. 37 Schreiben Harrimans an Dekanozov v. 11. Juni 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 45, d. 711, Bl. 3, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 49, S. 177–178.

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D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 

gebeten, nunmehr „unverzüglich“38 ihren Ankläger und weitere im Zuge der Verhandlungsführung maßgebliche Personen zu bestimmen, damit die Vertreter der vier Mächte möglichst zeitnah die avisierten Gespräche aufnehmen könnten. Darüber hinaus setzte Harriman die sowjetische Regierung über den zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig angenommenen Vorschlag in Kenntnis, die Verhandlungen in London stattfinden zu lassen. Nur einen Tag später wurde Molotov in einem Schreiben von Archibald Kerr namens der britischen Regierung offiziell die Einladung überbracht, einen sowjetischen Vertreter für die nunmehr auf den 25.  Juni 1945 terminierten Verhandlungen in London zu entsenden.39 Während sich die amerikanischen und britischen Vertreter am 21. Juni 1945 in London sodann zu informellen Gesprächen versammelten40, lag zu diesem Zeitpunkt weiterhin keine den Westalliierten in irgendeiner Form kommunizierte Entscheidung der sowjetischen Regierung zur personellen Zusammensetzung der von ihr zu entsendenden Delegation vor. Erst wenige Tage vor den auf den 25. Juni 1945 angesetzten Verhandlungen der alliierten Vertreter in London teilte das NKID der britischen Regierung die Aufstellung derjenigen Personen mit, die die UdSSR in diesem­ Forum repräsentieren sollten. Am 23. Juni 1945 übermittelte Vyšinskij dem britischen Botschafter in Moskau, Archibald John Kerr, eine formelle Antwort auf die von der britischen Regierung ausgesprochene Einladung zu den Verhandlun­ ondon und die hiermit verbundene Aufforderung, zu diesem Zweck gen nach L einen sowjetischen Vertreter zu ernennen.41 In dem von ihm unterzeichneten Schreiben teilte Vyšinskij der britischen Regierung zunächst mit, dass die sow­

38 Ü. d. Verf., Schreiben Harrimans an Dekanozov v. 11. Juni 1945 (Fn. 37), abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 49, S. 177 (178). 39 Brief Kerrs an Molotov v. 12. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 49 = AVP RF, f. 06, op. 07, p. 24, d. 278, Bl. 1–2 (russ. Übersetzung auf Bl. 1 sowie engl. Orginaltext auf Bl. 2); russ. Text abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 50, S. 178–179; siehe auch­ Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Einführung, S. LXXXVI. 40 Zu den informellen Treffen der britischen und amerikanischen Delegationen vgl. Summary Record of Two Informal Gatherings of British and American Delegations am 21. und 24. Juni 1945, abgedr. in Jackson Report, Dok. XII, S. 69–70; dazu auch Smith, Jahrhundertprozess, S. 63. 41 Schreiben Vyšinskijs an Kerr v. 23. Juni 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 24, d. 278, Bl. 3, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 53, S. 185. Einen entsprechenden Entwurf hatten die beiden NKID-Mitarbeiter Erofeev und Bazarov bereits am 14.  Juni 1945 Vyšinskij vorgelegt, vgl. AVP RF, f. 07, op. 13, p.  41, d.  3, Bl.  51–52.  Vladimir Jakovlevič Erofeev ­(1909–1986) bekleidete in den Jahren 1942 bis 1948 die Funktion des Stellvertretenden Leiters der Zweiten Europäischen Abteilung des NKID (MID), vgl. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S.  533 (551); Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Ukazatel’ imen, S. 840. Semën Tarasovič Bazarov (1914–1985) war zwischen 1936 und 1946 Angestellter des zentralen Apparats des NKID, vgl. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (535), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (677). Die Einladung, sowjetische Vertreter nach London zu schicken, erfolgte in dem Brief von Kerr an Molotov am 12. Juni, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 24, d. 278, Bl. 1–2 (russ. Übersetzung auf Bl. 1 sowie engl. Orginaltext auf Bl. 2), russ. Übersetzung abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 50, S. 178–179.

II. Offizielle Notifikation der sowjetischen Delegationsmitglieder

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jetische Regierung mit dem Verhandlungsort London einverstanden sei. Als Verhandlungsleiter für die sowjetische Seite wurde Iona Timofeevič Nikitčenko42, stellvertretender Vorsitzender des Obersten Gerichts der UdSSR eingesetzt, zu dessen Stellvertreter wurde Trajnin berufen.43 Gleichzeitig bat Vyšinskij über die Verschiebung des Verhandlungsbeginns um einen Tag auf den 26.  Juni. Dieser Bitte um Verlegung des Beginns der Verhandlungen entsprach die britische Regierung mit der am darauffolgenden Tag übermittelten Nachricht des britischen Botschafters Kerr an Vyšinskij.44 In die sowjetische Delegation wurde ferner als Übersetzer der spätere sowjetische Botschafter im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Oleg Aleksandrovič Trojanovskij, berufen, der als Sohn des ehemaligen sowjetischen Botschafters in den USA ein fehlerfreies Englisch sprach und sich im Auftrag der sowjetischen Regierung bereits seit 1944 in London aufhielt.45 Er sollte die sowjetische Delegation während der gesamten Vorbereitungsphase wie auch im Stadium der Durchführung des Nürnberger Prozesses begleiten. Während der Londoner Verhandlungen stand Trojanovskij den sowjetischen Juristen Nikitčenko und Trajnin als einziger Assistent zur Seite. Er übernahm daher nicht nur die Aufgaben eines Übersetzers, sondern fungierte gleichzeitig als deren Sekretär, Reiseführer und Verwalter.46 Zwar führt Robert Jackson in der seinem Report beigefügten Übersicht über die Repräsentanten und Assistenten als weiteren Protagonisten im­ sowjetischen Lager auch den sowjetischen Chargé d’affaires, Konstantin Kukin47, auf. Soweit sich dessen Mitwirkung nicht ohnehin auf rein administrative Hilfestellungen punktueller Natur vor Ort beschränkt haben sollte, nahm er in den Verhandlungen jedenfalls keinerlei aktive Rolle ein.48

42

Vgl. Kap. B. Fn. 105. Vgl. Kap. B. Fn. 35. 44 Note Kerrs an Vyšinskij v. 24. Juni 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 24, d. 278, Bl. 4. 45 Trojanovskij, Oleg Aleksandrovič (1919–2003), war in den Jahren 1942 bis 1944 als Übersetzer im Sovinformbjuro tätig. Seit 1944 arbeitete er in einem von Seiten der UdSSR, der USA und Großbritanniens in London gebildeten Komitee zur Führung eines psychologischen Krieges gegen Deutschland. Seit 1945 fungierte er als Attaché des sowjetischen­ Botschafters in den USA, nach 1945 war er als sowjetischer Übersetzer bei der Vorbereitung und Durchführung des Nürnberger Prozesses tätig. 1947 wurde Trojanovskij zum Mitarbeiter des MID berufen und war von 1967 bis 1976 sowjetischer Botschafter in Japan. Seine diplomatische Karriere setzte er in den Jahren 1976 bis 1986 als ständiger Vertreter der UdSSR im Sicherheitsrat der UNO und von 1986 bis1990 als Botschafter in China fort. Vgl. zum Vorstehenden Zalesskij, Kto est’ kto, S.  582 (Eintrag Trojanovskij); Lebedeva (Hrsg.), SSSR,­ Imennoj ukazatel’, S. 533 (584); siehe auch Trojanovskijs 1997 veröffentlichten Memoiren mit zahlreichen biographischen Details, Trojanovskij, Čerez gody. 46 Trojanovskij, Čerez gody, S. 106 f. 47 Dort in der Schreibweise ‚Koukin’, vgl. Roster of Representatives and Assistants, oben D., Jackson Report, S. 441. 48 Im Jackson Report findet Kukin daher außer auf der betreffenden Liste (S. 441) auch an keiner anderen Stelle Erwähnung. Auch andere Quellen enthalten keinerlei Hinweise auf eine Mitwirkung Kukins. 43

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Die in einer internen Mitteilung von Mitarbeitern des NKID an Vyšinskij vom 14. Juni 194549 aufgegriffene Idee, General Nikitčenko zum Vertreter der sowjetischen Seite bei den Gesprächen mit den Alliierten zu ernennen, verdankt ihren Ursprung dem Vorsitzenden des Obersten sowjetischen Gerichtshofs Ivan Terent’evič Goljakov50, dem Disziplinarvorgesetzten Nikitčenkos und damit einem Sowjetjuristen, der das sowjetische Gerichtssystem bereits seit den 1930er Jahren maßgeblich mitgestaltete. Dem Inhalt des Memorandums vom 14. Juni 1945 zufolge äußerte Goljakov seine entsprechende Empfehlung im Rahmen eines von Vyšinskij zum Zwecke der Kandidatenauswahl bestellten Gesprächs. Demgegenüber war ausweislich des Dokuments die Teilnahme von Trajnin zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend konsentiert.51 Die Motive und genauen Umstände seiner Ernennung lassen sich zwar quellenmäßig nicht belegen. Es erscheint jedoch naheliegend anzunehmen, dass sich die Ernennung Trajnins als Delegationsmitglied seiner in der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft exponierten Stellung und der persönlichen Verbindung mit Vyšinskij verdankt. Fachlich vereinte Trajnin in seiner Person sicher die am besten ausgereifte, eventuell auch die den bevorstehenden Aufgaben einzig gewachsene fachjuristische Expertise. Trajnin war zweifelsohne die Rolle des international renommierten Akademikers, des juristischen Beraters und Fachmanns zugedacht. Die eigentliche politische Repräsentation der UdSSR sollte dagegen von Nikitčenko wahrgenommen werden, einer politisch in großem Maße bewährten Person52, der in London die Position des Delegationsleiters innehatte. Mit der schlussendlich mitgeteilten und sodann auch tatsächlich eingenommenen Besetzung sah sich die sowjetische Delegation – ähnlich wie die mit nur einem Repräsentanten und zwei Assistenten, darunter einer Sekretärin, besetzte französische Abordnung – gegenüber ihren britischen und amerikanischen Verhandlungspartnern zahlenmäßig deutlich unterlegen. Robert Jackson traf am 18. Juni 1945 mit insgesamt sechzehn Mitarbeitern in London ein. Zwei weitere Mitarbei 49 Bericht Erofeevs und Bazarovs an Vyšinskijv, 14. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 51–52. Zu diesen Personen siehe oben Fn. 41. Das Dokument ist in einem am 9. Juli 1945 für Vyšinskij angefertigten Dossier über die Londoner Verhandlungen enthalten, in das die wichtigsten Projekte und Noten, die vor Verhandlungsbeginn ausgetauscht wurden, in chronologischer Reihenfolge aufgenommen wurden. Das Dokument enthielt anliegend einen Entwurf der Antwort an Kerr, die am 23. Juni 1945 erfolgte. 50 Zu Ivan Terent’evič Goljakov oben Kap. B, S. 33, Goljakov spielte seit 1933 als Mitglied des Kriegskollegiums des Obersten Gerichtshofs der UdSSR eine entscheidende Rolle in der Zeit des sog. großen Terrors 1937–1938. Er wird als einer der wichtigsten Vollzieher von Stalins Anweisungen zu Massenarresten von sog. ‚Helfershelfern der Faschisten‘ gezählt, vgl. Zalesskij, Kto est’ kto, S. 149 (Eintrag Goljakov); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (545); ausführlicher zur Figur und dem Wirken Goljakovs siehe Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 261 ff. 51 Bericht Erofeevs und Bazarovs an Vyšinskij v. 14. Juni 1945 (Fn. 49), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 51 (52). 52 So gehörte er 1936 zu den Richtern im Moskauer Prozess gegen Kamenev und Zinov’ev, Zalesskij, Kto est’ kto, S. 424 f.; für w. Nachw. vgl. Kap. B, Fn. 105.

II. Offizielle Notifikation der sowjetischen Delegationsmitglieder

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ter folgten wenige Tage später nach.53 Die britische Delegation setzte sich aus insgesamt mindestens zwölf Personen zusammen. Neben David Maxwell Fyfe als Repräsentanten für Großbritannien, der nach dem Regierungswechsel durch Lord Jowitt abgelöst wurde, waren ausweislich der auf der letzten Seite des Jackson Report abgedruckten Liste der in das Verhandlungsgeschehen eingebundenen Protagonisten weitere elf Assistenten in die Londoner Verhandlungen involviert.54 Die zeitlich dem offiziellen Beginn der Verhandlungen nur sehr knapp vorgelagerte Bekanntgabe der sowjetischen Vertreter und der offiziellen Teilnahmebestätigung, verbunden mit dem Ersuchen um Terminverlegung, wirft die Frage nach den Hintergründen der zögerlichen Informationspolitik gegenüber den Westalliierten auf. Neben dem mutmaßlichen Unwillen, sich den recht frühzeitig formulierten Aufforderungen der amerikanischen Seite zur Namhaftmachung der sowjetischen Verhandlungsführer vor offizieller Festlegung des Konferenzdatums vorschnell zu fügen, dürfte die Erklärung für das Verhalten der Sowjetführung jedenfalls auch in handfesten praktischen Widrigkeiten begründet liegen. Denn trotz ihres aufrichtigen Interesses an einer zügigen Aburteilung von Kriegsverbrechern war die sowjetische Regierung auf die internationale Zusammenarbeit und konkrete Umsetzung der in groben Zügen abgestimmten Kriegsverbrecherpolitik nicht ausreichend vorbereitet und blieb daher bis zur Festlegung personeller Koordinaten noch erheblicher interner Abstimmungsaufwand zu bewältigen. Selbst zum Zeitpunkt der dritten Anfrage der USA vom 11.  Juni 1945 über die Benennung eines sowjetischen Gesprächspartners nämlich hatte sich im sowjetischen Außenkommissariat – mit Ausnahme der bereits feststehenden Teilnahme Trajnins – eine hinreichend konkretisierte Vorstellung darüber, wer als Vertreter der UdSSR an den Gesprächen mit den Alliierten teilnehmen sollte, noch nicht endgültig herausgebildet. Die in den dazu angestellten personellen Überlegungen zu diesem Zeitpunkt weiterhin angelegte Multioptionalität wird beispielsweise in der internen Mitteilung an Vyšinskij vom 14.  Juni 194555 abgebildet, in der die Besetzung der Delegation mit Trajnin und Nikitčenko lediglich als eine Möglichkeit erwogen wird.

53

Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 77. Die im Jackson Report überlieferte Mitarbeiterliste weist für die amerikanische Seite Robert Jackson als Repräsentanten der USA und zehn weitere Mitarbeiter aus, vgl. Roster of Representatives and Assistants, Jackson Report, S. 441. 54 Roster of Representatives and Assistants, Jackson Report, S. 441; siehe auch Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 79. 55 Bericht Erofeevs und Bazarovs an Vyšinskij v. 14. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 51–52. Zu diesen Personen bereits oben Fn. 41.

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III. Schweres Marschgepäck: Engmaschige Direktiven an die sowjetische Delegation vor der Abreise nach London Aufschluss über den sowjetischen Blickwinkel auf die Schaffung des Tribunals bieten neben den oben (I.) dargestellten Änderungsvorschlägen der sowjetischen Regierung zum amerikanischen Projekt von San Francisco auch die den Delegierten Nikitčenko und Trajnin kurz vor ihrer Abreise nach London von Vyšinskij zugeleiteten Direktiven des NKID zur Verhandlungsführung.56 Der Entstehungsgang der vom sowjetischen Außenkommissariat zu verantwortenden Verhandlungsleitlinien lässt sich anhand der im Fond von Vyšinskij des AVP RF enthaltenen Dokumente weitgehend rekonstruieren. In einem ersten Zugriff wurden zunächst acht zentrale Sachkomplexe identifiziert, zu denen den sowjetischen Vertretern vor ihrer Abreise nach London unbedingt detaillierte Anweisungen an die Hand zu geben wären.57 Das von den NKID-Mitarbeitern Bazarov und Erofeev formulierte Dokument enthielt indes noch keine Hinweise auf die Inhalte der insoweit jeweils einzunehmenden Positionen, sondern kennzeichnete lediglich die aus sowjetischer Sicht zentralen Sachprobleme als jeweils noch klärungs- und weisungsbedürftige Fragen, von denen im Folgenden nur einige beispielhaft aufgegriffen werden sollen. Im Anschluss an Ziff. 5 des amerikanischen Projekts58, die im Wesentlichen den Wortlaut der Moskauer Deklaration wiedergab und hierzu ausführte, dass die angestrebte Vereinbarung Maßnahmen zur Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern zu treffen haben würde, erachteten die Mitarbeiter des NKID es etwa für ratsam, die eigene Delegation mit einer vorläufigen Liste der als solche zu qualifizierenden Hauptkriegsverbrecher auszustatten.59 Mit Verweis auf Ziff. 12 lit. b des amerikanischen Projekts bezüglich der Rechte von Angeklagten60 konstatierten die Verfasser des Dokuments zudem Erörterungsbedarf hinsichtlich der Frage, in welchem Rahmen und unter welchen Voraussetzungen Verteidiger in den Prozessen gegen die

56

Direktiven des NKID, den Repräsentanten der sowjetischen Delegation am 24. Juni 1945 zugeleitet, AVP RF, f. 07, op. 10, p. 8, d. 83, Bl. 40–43 = AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 72–75, abgedr. in Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74–75; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 55, S. 187–188; hierzu auch Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Einführung, S. LXXXVI. 57 Das Dokument ist mit der Überschrift „Ungefähre Liste der Fragen, zu welchen die sowjetischen Repräsentanten vor ihrer Abreise nach London zwecks Teilnahme an Verhandlungen über die Verantwortlichkeit von Hauptkriegsverbrechern Weisungen erhalten müssen“ (Ü. d. Verf.) versehen, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 70–71, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. Das von Bazarov und Erofeev (vgl. jeweils oben Fn. 41) verfasste, undatierte Dokument ist in einem im Juli 1945 für Vyšinskij angefertigten Dossier über die Londoner Verhandlungen enthalten. Das Dossier schließt die wichtigsten Projekte und Noten vor Verhandlungsbeginn in chronologischer Reihenfolge ein. 58 Ziff. 5 des amer. Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (23). 59 Ziff. 1 der „Ungefähren Liste“ (Fn. 57), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. 60 Ziff. 12 lit. b des amer. Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25).

III. Direktiven an die sowjetische Delegation vor der Abreise nach London

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Hauptkriegsverbrecher zugelassen werden sollten.61 Ins Einzelne gehende Direktiven an die Repräsentanten waren in der Wahrnehmung der Verfasser Bazarov und Erofeev ferner zur Problematik der Heranziehung von Zeugen aus dem Kreis der Staatsbürger von alliierten und neutralen Ländern sowie hinsichtlich der vom Tribunal selbst zu bestimmenden Verfahrensordnung auszuformulieren.62 Zum Themenbereich der Verfahrensordnung63 rieten Erofeev und Bazarov den Erlass von „prinzipiellen Anweisungen“64 an. Schließlich sollten „Fundamentalanweisungen“65 zur nach sowjetischer Überzeugung vorzugswürdigen Ausgestaltung von Arbeitsweise und Kompetenzen der zu bildenden Untersuchungskommission ausgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage erstellte Vyšinskij in der Folge einen ebenfalls acht Punkte umfassenden Vorentwurf der Direktiven, den er Molotov zur Überprüfung vorlegte.66 Die hierbei im Vergleich zur Endfassung der Direktiven67 noch verbleibenden Unterschiede wurden durch Überarbeitungs- bzw. Ergänzungsanweisungen Molotovs behoben.68 So wirkte Molotov auf die Aufnahme einer ergänzenden Bestimmung in die unter Ziff.  3 lit.  b des Entwurfs enthaltene Instruktion zur anzustrebenden Einbindung der kriegsbetroffenen Länder in die Zusammensetzung des Tribunals hin. Danach sollte das bereits im Entwurf vorgesehene Recht auf den Vorsitz im Tribunal ‚nach Möglichkeit‘ auch auf die baltischen Staaten ausgedehnt werden.69 In unmittelbarem Zusammenhang hiermit stand die zu Ziff. 3 lit. c des Entwurfs angeordnete Änderung zum Sitzungsort des Tribunals. Während nach der Fassung des Vorentwurfs ein Tribunal auch auf dem Boden solcher Staaten stattfinden können sollte, in denen ‚die Bürger unter den Gräueltaten am meisten gelitten haben‘, sah die von Molotov vorgenommene Änderung die vorzugsweise Ausrichtung eines solchen Tribunals auf dem Territorium des Staates vor, ‚in dem der Angeklagte die schwerwiegendsten Verbrechen begangen hat‘.70 Zu den in Ziff. 7 des Vorentwurfs statuierten Berichterstattungsobliegenheiten der sowjetischen Delegationsteilnehmer nahm Molotov weitere Spezifizierungen in Richtung einer detaillierten Bewertungs- und Begründungspflicht im Hinblick auf Änderungsvorschläge anderer Delegationen vor.71 Nach­ 61

Ziff. 3 der „Ungefähren Liste“ (Fn. 57), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. Ziff. 5 der „Ungefähren Liste“ (Fn. 57), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. 63 Ziff. 18 des amerikanischen Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (26). 64 Ü. d. Verf., Ziff. 6 der „Ungefähren Liste“, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. 65 Ü. d. Verf., Ziff. 8 der „Ungefähren Liste“, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186. 66 Entwurf der Direktiven v. 22. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 12–15. 67 AVP RF, f. 07, op. 10, p. 8, d. 83, Bl. 40–43 = AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 72–75. 68 Vgl. die handschriftlich vorgenommenen Änderungen im Entwurf der Direktiven v. 22. Juni 1945, AVP RF, f.  07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 12–15. 69 Entwurf der Direktiven v. 22. Juni 1945 (Fn. 66), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 12 (12). 70 Entwurf der Direktiven v. 22. Juni 1945 (Fn. 66), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 12 (13). 71 Entwurf der Direktiven v. 22. Juni 1945 (Fn. 66), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 12 (15). 62

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D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 

Einarbeitung der Anmerkungen Molotovs legte Vyšinskij dieses Dokument am 24. Juni 1945 sowohl Molotov72 als auch Stalin73 (erneut) zur Genehmigung und Freigabe vor. Nachdem sowohl Molotov als auch Stalin die Direktiven bestätigt und zur Aushändigung freigegeben hatten, wurden die endgültigen Instruktionen74 noch am selben Tag – einen Tag vor ihrer Abreise nach London – an Nikitčenko und Trajnin ausgereicht. Neben einem gründlichen Studium des zwischenzeitlich einer Überarbeitung unterzogenen75 amerikanischen Entwurfs und einer kontinuierlichen Berichterstattung an die Führung in Moskau wies Ziff. 1 der Direktiven die sowjetischen Vertreter an, auf der Einarbeitung der bereits zum ursprünglichen amerikanischen Entwurf vorgelegten Änderungsvorschläge unbedingt zu insistieren.76 Daneben waren die sowjetischen Repräsentanten gehalten, der Konferenz eine Reihe neuer Ergänzungen und Änderungen zur Erörterung vorzulegen und auf deren Annahme ebenfalls hinzuwirken.77 Den Direktiven in ihrer endgültigen Gestalt lag im Ausgangspunkt zunächst die auch im amerikanischen Entwurf als Möglichkeit noch angelegte78 Annahme zugrunde, dass es zu mehreren internationalen Prozessen gegen Hauptkriegsverbrecher kommen würde. Die Anweisungen zu Verhandlungsorten, dem Vorsitz und weiteren prozessualen Einzelheiten beziehen sich daher auch auf die eventuellen Besonderheiten künftig zu verhandelnder Fälle.79 In Übereinstimmung hiermit wurden die sowjetischen Vertreter angewiesen, auf die Aufnahme von Regelungen in das Statut hinzuwirken, denen zufolge das Tribunal in bestimmten Fällen um ein weiteres Mitglied würde erweitert werden können, nämlich dann, wenn dem Tribunal Fälle mit spezifischem Bezug zu einem dem Abkommen bei-

72 Entwurf der Direktiven, von Vyšinskij an Molotov, 24. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 19–22. 73 Vgl. zu der Einbeziehung Stalins in den Genehmigungsvorgang den an diesen adressierten Entwurf der Direktiven, von Vyšinskij an Stalin, 24. Juni 1945, AVP RF, f. 07, op. 10, p. 8, d. 83, Bl. 40–43, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 54, S. 186–189. 74 Ü. d. Verf., Direktiven v. 24. Juni 1945 (Fn. 56). 75 Vgl. Revision of American Draft of Proposed Agreement, June 14,1945, Jackson Report, Dok. IX, S. 55–60. 76 Vgl. Ziff. 1 der Direktiven (Fn. 56), zit. nach Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (74 f.). 77 Vgl. Ziff. 2 der Direktiven (Fn. 56), zit. nach Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 78 Vgl. insoweit etwa Ziff.  15 Satz 1 des amerikanischen Entwurfs (Fn.  1), Jackson Report, Dok. IV, S.  22 (25): „There shall be set up one or more military tribunals […]“ und die zugehörige Abschnittsüberschrift, ebd. („Tribunals“). Vgl. insoweit auch das Memorandum v. 30. April 1945 (Fn. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (29 [II.1]): „The Axis leaders should be tried before Allied military tribunals composed of officers of the four principal Allies.“ 79 Vgl. Ziff.  3 lit.  c der Direktiven (Fn.  56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No  12, S.  74 (75).

III. Direktiven an die sowjetische Delegation vor der Abreise nach London

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getretenen Staat vorliegen würden.80 Die Teilnahme von Vertretern solcher Länder sollte nach der zu schaffenden Bestimmung jedoch nur dann vorgesehen werden, wenn diese Länder unter den ‚faschistischen‘ Verbrechen gelitten und sich am Krieg aktiv beteiligt hatten. Anerkannt werden sollten insoweit in erster Linie die­ Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR – nach Möglichkeit auch die Lettische, Litauische und Estnische SSR –, daneben Polen, Jugoslawien, die s­ chechoslowakei sowie einige andere Staaten.81 Ferner sollten die Verhandlungen des (jeweiligen) Tribunals nach der von Seiten der sowjetischen Delegation anzustoßenden Regelung zwar in verschiedenen Ländern stattfinden können. Vorzugsweise sollte jedoch als Verhandlungsort das Territorium desjenigen Landes in Betracht kommen, mit welchem die schwersten dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen in Verbindung zu bringen waren.82 Bei Verhandlungen auf einem der vier alliierten Territorien sollte der Vertreter des Landes den Vorsitz innehaben, in welchem das Verfahren stattfinden würde. Für alle sonstigen Fälle sollte auf die Schaffung einer Regelung hingewirkt werden, wonach der Vorsitz im Sinne des Rotationsprinzips unter den vier alliierten Vertretern der Reihe nach wechseln würde.83 Darüber hinaus sollten alle Dokumente der Untersuchungskommission und des Tribunals in englischer, russischer und französischer Sprache sowie der Sprache des Landes des Verhandlungsorts abgefasst werden.84 Mit den der Delegation aufgegebenen Weisungen zur Ergänzung der Statutsbestimmungen bei der Besetzung des Spruchkörpers durch einen weiteren Richter, dem unter bestimmten Voraussetzungen zudem der Vorsitz zugewachsen wäre, dürfte die sowjetische Regierung gleich zwei Ziele verfolgt haben. Einerseits stand ihr sicherlich auch die Verstärkung der mit einem Urteilsspruch einhergehenden Vergeltungswirkung in der Wahrnehmung der Länder vor Augen, die von den Kriegsverbrechen jeweils besonders betroffen waren. Eine mit der Verurteilung einhergehende Genugtuungswirkung für das erlittene Unrecht würde sich gerade dann in besonders hohem Maß einstellen, wenn an der Verurteilung des Angeklagten – zumal in der Funktion des Vorsitzenden – ein Repräsentant eben jenes Landes mitwirken würde, dessen Bürger durch die dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen in besonderer Weise belastet worden seien. Gleichzeitig kann nicht verkannt werden, dass mit der Einbeziehung eines weiteren Richters vornehmlich aus der sowjetischen Einflusssphäre eine Verdoppelung des sowjetischen Stimmgewichts einhergegangen wäre, während die befürchtete angloamerikanische Blockadestellung angesichts des dem Statutsentwurf zugrunde liegenden Majoritätsprinzips85 auf diese Weise außer Kraft gesetzt worden wäre.

80

Ziff. 3 lit. a der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). Ziff. 3 lit. b der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 82 Ziff. 3 lit. c der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 83 Ziff. 3 lit. e der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 84 Ziff. 3 lit. d der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 85 Ziff. 16 Satz 2 des Entwurfs (Fn. 1), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (26). 81

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D. Von San Francisco bis London – 3. Mai 1945 bis 26. Juni 1945 

Die Instruktionen gaben den sowjetischen Repräsentanten ferner auf, in den Verhandlungen auf die Konkretisierung der Bestimmungen zur Ermittlungstätigkeit des Anklagegremiums zu dringen. Die strafrechtliche Verfolgung hätte ihren Ausgang demnach stets in der Aufnahme entsprechender Ermittlungen durch die Untersuchungskommission zu nehmen. Diese sollte nach den Vorgaben der Instruktionen entweder auf Vorschlag einer an dem Abkommen beteiligten Regierung oder auf Grund der Initiative des Tribunals bzw. der Untersuchungskommission selbst tätig werden können86, die Überstellung an das Gericht auf Grundlage einer von der Untersuchungskommission überreichten Anklageschrift erfolgen.87 Die Akten und Dokumente der nationalen Beweissammlungskommissionen müssten rechtlich gleichwertig neben den Akten der internationalen Untersuchungskommission stehen.88 Auch sollte das Abkommen nach der von den sowjetischen Vertretern anzustrebenden Fassung die Pflicht der Regierungen zur Ergreifung aller notwendigen Maßnahmen festschreiben, um die Überstellung solcher Verbrecher an das Tribunal sicherzustellen, die sich auf dem Territorium von nicht an dem Übereinkommen partizipierenden Staaten befanden.89 Schließlich enthielt die Direktive auch die Anweisung, einen Vorschlag dahingehend zur Diskussion zu stellen, das Übereinkommen über die Schaffung eines internationalen Tribunals und der internationalen Untersuchungskommission einerseits sowie Bestimmungen über die Organisation und Funktionsweise dieser beiden Einrichtungen andererseits gesetzestechnisch voneinander zu trennen und jeweils separaten rechtlichen Erörterungen zuzuführen. Nach diesem Vorschlag wären Bestimmungen über Organisation und Verfahrensweise dem Abkommen als Anhang beizufügen gewesen.90 Als aufschlussreich erweisen sich insbesondere die letzten beiden der in die Direktiven aufgenommenen Anweisungen, in denen Modus und Intensität der Berichterstattung seitens der sowjetischen Vertreter in London an ihre Regierung vorab fixiert wurden. Sie geben Auskunft über das ihnen eröffnete Handlungsund Entscheidungsspektrum und legen zugleich ein wesentliches Strukturelement der Arbeitsweise der sowjetischen Delegation offen, das über die Verhandlungen in London hinaus bis zum Ende des Nürnberger Verfahrens nachzuverfolgen ist. Im Falle der Einbringung von Vorschlägen durch andere Delegationen, die seitens der Sowjetführung bislang nicht berücksichtigt worden wären, hatten ­Nikitčenko und Trajnin der sowjetischen Regierung umgehend einen Bericht hierzu vorzulegen, dem sowohl ihre eigene Bewertung als auch ihre konkreten Erwägungen zwecks „Erhalt von notwendigen Anweisungen“91 beizufügen waren. Mit der letzten Weisung wurde den sowjetischen Vertretern schließlich kategorisch unter 86

Ziff. 3 lit. f der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). Ziff. 3 lit. g der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 88 Ziff. 3 lit. h der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 89 Ziff. 4 der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 90 Ziff. 5 der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 91 Ü. d. Verf., Ziff. 7 der Direktiven (Fn. 56), zit. nach Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 87

IV. Fazit

219

sagt, ohne vorherige Billigung durch die sowjetische Regierung eigenmächtig Entscheidungen über solche, von den vorliegenden Direktiven nicht erfassten Fragen zu treffen.92 Die Anordnung der strikten Weisungsgebundenheit ließ Ausnahmen, Abschwächungen oder Abstufungen zwischen wesentlichen und weniger zentralen Fragen nicht erkennen. Auf diese Weise verblieb Nikitčenko und Trajnin bei Lichte besehen kaum Verhandlungsterrain, auf dem sie kraft eigener Entscheidungskompetenz hätten manövrieren können. Diese Verlagerung der Entscheidungsbefugnis von den eigentlichen Verhandlungsteilnehmern auf die Regierung in Moskau brachte nicht zuletzt wegen der räumlichen Entfernung große praktische Probleme mit sich. Die durch die Starrheit der vorgegebenen Abläufe zementierte Handlungsunfähigkeit der sowjetischen Delegationsmitglieder sollte sich insbesondere in solchen Verhandlungssituationen manifestieren, die rascher Reaktion bedurften. Zeitliche Verzögerungen, inhaltliche Bewegungslosigkeit und eine hierdurch nicht selten ausgelöste Reizung der Verhandlungspartner waren unvermeidliche Folge der strikten Weisungsunterwerfung.

IV. Fazit In Anbetracht der mit dem amerikanischen Entwurf eingeleiteten neuen Etappe auf dem Weg zur rechtssatzförmigen Konkretisierung der Überlegungen mit dem Ziel der Realisierung eines Tribunals war auch der sowjetische Bündnispartner gehalten, auf die ihm vorgelegten amerikanischen Vorschläge zügig zu reagieren, um einer durch widerspruchslose Hinnahme drohende Verfestigung unliebsamer Elemente entgegen zu wirken. Im Hinblick auf die anstehenden Verhandlungen waren zudem ein eigener Vertreter als Verhandlungspartner zu nominieren und interne Vorbereitungen auf die zu führenden Gespräche zu treffen. Wie vorstehend ausgeführt wurde, war die sowjetische Regierung auf die Bewältigung dieser Aufgaben allerdings nicht immer in hinreichendem Maße vorbereitet. Bereits in diesem frühen Stadium traten vielfältige Friktionen und Komplikationen auf, die die Arbeit der sowjetischen Seite während der gesamten Prozessvorbereitung und des eigentlichen Hauptverfahrens begleiten sollten. Sie warfen insbesondere ein Schlaglicht auf die Schwerfälligkeit und mangelnde Flexibilität des sowjetischen Staatsapparats, die gerade dann besonders deutlich zum Vorschein kamen, wenn schnelle Entscheidung zur Wahrung eigener Interessen, insbesondere zur Vermeidung faktischer Einbußen von Verhandlungspositionen, von Nöten war. In einem scharfen Kontrast zu dem von der US-amerikanischen Verhandlungspartei nunmehr angenommenen proaktiven Rollenverständnis zeichnete sich die sowjetische Vorgehensweise nämlich vor allem durch zögerliches Verhalten aus.

92

Ziff. 8 der Direktiven (Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75).

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen vom 26. Juni bis 8. August 1945 Die Londoner Konferenz, die mit der Unterzeichnung des Abkommens über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse1 und des ihm beigefügten2 Statuts3 am 8.  August 1945 ihren Abschluss fand, stellte den nächsten wichtigen Schritt auf dem Weg zum Nürnberger Prozess dar. Bis heute gilt die gemeinsame Erarbeitung der Statutnormen zu Recht als wichtiges Exempel für eine gelungene Kooperation zwischen den alliierten Mächten, die trotz ihrer unterschiedlichen Rechtstraditionen Wege gefunden haben, eine konsensfähige juristische Grundlage für ein gemeinsames Ziel – die Durchführung eines Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher – zu erarbeiten.4 In juristischer Hinsicht mussten sich die Teilnehmer im Verlauf der Verhandlungen auf die materiellen und die verfahrensrechtlichen Grundlagen des zukünftigen Tribunals einigen – eine Aufgabe, die die Beteiligten in Anbetracht ihrer verschiedenen Rechtskulturen, aber auch des sehr engen Zeitrahmens (26. Juni bis 8. August 1945) und der Sprachdifferenzen vor eine außerordentliche Herausforderung stellte. Auch wenn die positive Bewertung der Verhandlungsbilanz im Ergebnis gewiss Zustimmung verdient, gilt es, den zwischen den nationalen Delegationen vorhan 1

Londoner Viermächte-Abkommen v. 8. Aug. 1945, IMT, Bd. I, S. 7–9; amtlicher Wortlaut der engl. Fassung des ‚Agreement for the Prosecution and Punishment of the Major War Criminals of the European Axis‘ abgedr. in AJIL 39 (1945), Suppl. 257, S. 257–258 = IMT, Vol. I, S. 8–9. Für die russ. Textfassung vgl. Soglašenie o sudebnom presledovanii i n­ akazanii glavnych voenych prestupnikov evropejskich stran osi, Anhang zu Trajnins Beitrag in S ­ ocialističeskaja zakonnost’ 1945, No 9, S. 1–7, hier 8–9 = MID SSSR (Hrsg.), Sbornik dejstvujuščich dogovorov, Vyp. 11, Dok. No 472, S. 163–165 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1,­ S. 144–146 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 69, S. 216–218. 2 Gemäß Art. 2 des Abkommens bildete das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof einen wesentlichen Bestandteil des Abkommens (Fn. 1), IMT, Bd. I, S. 7 (8). 3 Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, IMT, Bd.  I, S.  10–18; engl. Fassung der ‚Charter of the International Military Tribunal‘ abgedr. in AJIL 39 (1945), Suppl. 257, S. 258–263 = IMT, Vol. I, S. 10–16. Für die russ. Textfassung vgl. Ustav Meždunarodnogo Voennogo Tribunala, Anhang zu Trajnins Beitrag in Socialističeskaja zakonnost’ 1945, No 9, S.  1–7, hier 9–14 = MID SSSR (Hrsg.), Sbornik dejstvujuščich dogovorov, Vyp.  11, Dok. No 472, S. 166–183 = Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 146–153 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 70, S. 218–224. 4 Jackson, in: Glueck, Aggressive War, Vorwort, S. xi; Kudriavtsev, in: Ginsburgs/Kudriavt­ sev (Hrsg.), Nuremberg trial and International Law, S. 4; Čeremnych, in: Švecova/Sucharev/­ Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S.  139 (139);­ Safferling, Rg 14 (2009), S. 148 (148 f.).

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

221

denen Differenzen und den hieraus resultierenden Konflikten angemessen Rechnung zu tragen. Wie wohl die Geschichte der meisten internationalen Konferenzen mit historischer Tragweite ist auch die Geschichte der Londoner Verhandlungen nämlich zuvörderst die eines Kompromisses. Zwar gab es Verhandlungsgegenstände, die ohne grundsätzliche Debatten schnell einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden konnten. Andererseits gab es höchst umstrittene Fragestellungen, so dass die – oftmals nur vermeintliche – Lösung dieser Punkte viel Zeit für Er­ örterungen und Meinungsaustausch beanspruchte und ein gegenseitiges Nachgeben voraussetzte. Wie die Verhandlungsprotokolle des Report of Robert H. Jackson offenlegen, transportierte jede der vier Seiten trotz grundsätzlicher Offenheit gegenüber dem juristischen Ergebnis ihre eigenen Rechtstraditionen und die sich daraus ergebenden Prozessvorstellungen in die Debatten hinein. Für Einigungsschwierigkeiten sorgte jedoch neben den rechtstraditionellen Unterschieden ein divergierendes Verständnis in Bezug auf den Zweck des Verfahrens und die Kompetenzen des Tribunals. Die politische Entscheidung für die Durchführung eines juristischen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher auf der Ebene der Regierungschefs betraf lediglich die Frage, ob überhaupt ein Prozess stattfinden sollte. Absprachen über das Wesen dieses Prozesses fanden zwischen den Alliierten im Vorfeld nicht statt. Dieser Umstand bildete den Ausgangspunkt für unterschiedliche Interpretationen in Bezug auf die Verbindlichkeit dieser politischen Entscheidungen. Daraus resultierend ergab sich ein grundverschiedenes Verständnis von dem Zweck eines zukünftigen Prozesses und dem Kompetenzumfang des zu bildenden Tribunals. Gerade an diesen konzeptionellen Unterschieden entzündeten sich denn auch die zentralen Konflikte im Verhandlungsverlauf. Darauf wies im Jahr 1947 rück­ blickend auch Robert Jackson hin, indem er von „antagonistic concepts“5 in Bezug auf die Funktion der Justiz zwischen den sowjetischen und angloamerikanischen Vertretern sprach. Indessen gilt es, diese behauptete Gegensätzlichkeit im Einzelnen kritisch zu hinterfragen, führt man sich vor Augen, dass Robert ­Jacksons Haltung gegenüber seinen sowjetischen Verhandlungspartnern keineswegs unvoreingenommen war und er ein Gerichtsverfahren ohne Beteiligung der Sowjets bis zum Schluss der Verhandlungen favorisiert hatte.6

5

Jackson Report, Preface, S. VI. Siehe dazu Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 19; Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 82 f., 91, 95 f., 102; Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.  68: „Spätestens in der dritten Juliwoche war­ Jackson so überzeugt, daß die Sowjets sonderbare und gefährliche Menschen seien, daß er die Verhandlung abbrechen und die in amerikanscher Hand befindlichen Kriegsverbrecher auf eigene Rechnung vor Gericht stellen wollte.“ Vgl. auch die Aufzeichnungen des Sonderberaters des Präsidenten Rosenman für Außenminister Byrnes v. 1. Aug. 1945, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1061–1062, hier 1062, engl. Originaltext, abgedr. in FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 987–988. 6

222

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

I. Organisatorischer Rahmen der Konferenz und Verlauf der Verhandlungen Die erste offizielle7 Sitzung der Konferenz8 wurde am 26. Juni 1945 in London eröffnet9. Bis zu ihrem Ende wurden insgesamt 14 weitere Vollsitzungen10 und zahlreiche Verhandlungssitzungen im sog. Unterkomitee (Drafting Subcommittee)11 abgehalten. Als Diskussionsbasis lag in der ersten Vollsitzung der amerikanische Entwurf vom 14. Juni 1945 vor12, der, wie auch alle folgenden Entwürfe und Änderungsvorschläge und alle den Prozess allgemein betreffenden Kernfragen, zunächst in den Sitzungen im Plenum erörtert13 und sodann im Anschluss im Unterkomitee in detaillierter Form ausgearbeitet wurden. Am 11. Juli 1945 legte das Unterkomitee einen Entwurf des Viermächte-Abkommens und eines Statuts vor, das im Grundsatz keinen wesentlichen Änderungen mehr unterzogen 7 Informelle Gespräche fanden bereits zuvor zwischen den amerikanischen und britischen Vertretern am 21.  Juni 1945 statt, vgl. Summary Record of Two Informal Gatherings of British and American Delegations am 21.  und 24.  Juni 1945, abgedr. in Jackson Report, Dok. XII, S.  69–70; dazu auch Ziff.  8 des Memorandums des britischen Außenministeriums v. 12. Juni 1945, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1037–1039, hier 1038 f.: „In Vorbesprechungen zwischen britischen und amerikanischen Vertretern wurde ein hohes Maß an Übereinstimmung über die Methoden erreicht, die angewendet werden sollen, um die „Hauptkriegsverbrecher“ und die hauptsächlichen Nazi-Organisationen vor Gericht zu stellen“; vgl. auch Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 63. 8 Für eine Liste der an der Konferenz teilnehmenden Personen siehe Roster of Representatives and Assistants, oben D., Jackson Report, S. 441. 9 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XIII, S. 71–85. 10 Nach der eröffnenden Sitzung am 26. Juni 1945 trafen sich die Vertreter der vier alliierten Regierungen am 29. Juni (Jackson Report, Dok. XVII, S. 97–118), 2. Juli (ebd., Dok. XX, S.  129–142), 3.  Juli (ebd., Dok. XXI, S.  143–154), 4.  Juli (ebd., Dok. XXII, S.  155–164), 13.  Juli (ebd., Dok. XXVII, S.  211–242), 16.  Juli (ebd., Dok.  XXX, S.  246–258), 17.  Juli (ebd., Dok. XXXII, S.  262–279), 18.  Juli (ebd., Dok. XXXIII, S.  280–290), 19.  Juli (ebd., Dok. XXXVII, S. 295–309), 20. Juli (ebd., Dok. XLII, S. 315–326), 23. Juli (ebd., Dok. XLIV, S. 328–347), 24. Juli (ebd., Dok. XLVII, S. 360–372), 25. Juli (ebd., Dok. LI, S. 376–389) und 2. Aug. (ebd., Dok. LIX, S. 399–419). 11 Die Sitzungen der Unterkommission (Four-Power Drafting Subcommittee) fanden zwischen dem 5. Juli bis einschließlich 11. Juli 1945 mit Ausnahme von Samstagen und Sonntagen täglich statt, vgl. Memorandum Aldermans an Jackson v. 11.  Juli 1945, Report of American Member of Drafting Subcommittee, July 11, 1945, Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185–193, hier S. 185. Eine weitere Sitzung wurde am 19. Juli 1945 abgehalten, Report of American Member of Drafting Subcommittee, July 19, 1945, Jackson Report, Dok. XXXIV, S. 291–292. 12 Revision of American Draft of Proposed Agreement, June 14,1945, Jackson Report, Dok. IX, S. 55–60. 13 So wurde ein erneut überarbeiteter amerikanischer Entwurf (Revised Draft of Agreement and Memorandum Submitted by American Delegation, June 30, 1945, Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119–125) in der Sitzung v. 2. Juli 1945 (ebd., Dok. XX, S. 129–142) diskutiert, ein sowjetischer Entwurf für das Viermächte-Abkommen (Draft of Agreement Presented by Soviet Delegation, July 2, ebd., Dok. XIX, S. 128) in der Sitzung v. 3. Juli 1945 (ebd., Dok. XXI, S. 143–154).

I. Organisatorischer Rahmen der Konferenz und Verlauf der Verhandlungen

223

wurde.14 Besonders kontroverse Fragen, wie z. B. die Notwendigkeit der Beifügung von Beweisdokumenten zur Anklageschrift bei ihrer Überreichung an das Tribunal15, die Notwendigkeit der statutarischen Fixierung einer allgemeingültigen Definition der Begriffe ‚Verbrechen‘ und ‚Aggression‘16 oder die Frage nach dem Sitz des Tribunals17 wurden weiterhin in den Vollsitzungen erörtert. Die am heftigsten geführten Debatten betrafen insbesondere die letztgenannten Themenkomplexe, infolge derer das gesamte Projekt der Durchführung eines interalliierten Gerichtshofs beinahe zum Scheitern gebracht worden wäre. In diesem fortgeschrittenen Stadium der Verhandlungen dachte Robert Jackson sogar daran, die Konferenz scheitern zu lassen und stattdessen einen Prozess ohne Beteiligung der Sowjetunion durchzuführen. Eine Woche vor der Unterzeichnung des Abkommens am 8. August 1945 berichtete Rosenman an den amerikanischen Außen­minister­ Byrnes, dass Jackson „zu der entschiedenen Überzeugung gelangt [sei], daß es besser wäre, keinen gemeinsamen Gerichtshof zu haben wegen der Schwierigkeiten, mit den Russen in einem Gerichtsverfahren zusammenzuarbeiten. […] Er dachte sogar daran, daß sich die Briten, Franzosen und Amerikaner vielleicht auf ein gemeinsames Gerichtsverfahren einigen und die Russen herauslassen könnten.“18. Im Kontrast zu dieser äußerst negativen Erwartungshaltung Jacksons bewertete der Lordpräsident des Geheimen Staatsrates Morrison in einem Bericht an den britischen Premierminister Atlee im Anschluss an eine Besprechung mit David Maxwell Fyfe die Meinungsverschiedenheiten dahingehend, dass sie „mit etwas gutem Willen leicht überwunden werden“ könnten.19 Seiner Wahrnehmung zufolge zeugte Jacksons Überbetonung dieser Schwierigkeiten davon, dass „man sie als Ausrede gebrauchen wird, um den Plan eines gemeinsamen Verfahrens aufzugeben zugunsten von Verfahren einzelner Nationen“20. Ein Abstandnehmen von der Idee von der gemeinsamen Durchführung eines internationalen Prozesses entsprach jedoch nicht dem Willen der alliierten Regierungen, die seit dem 17. Juli 14

Draft of Agreement and Charter Reported by Drafting Subcommittee, July 11, 1945, Jackson Report, Dok. XXV, S. 194–201. Der Wortlaut des Viermächte-Abkommens blieb nahezu unverändert. In Art. 3 und 5 wurden minimale redaktionelle Korrekturen vorgenommen (in Art. 3 das Wort „themselves“ am Textende gestrichen, in Art. 5 die Begriffe „accede“ und „accession“ durch „adhere“ und „adherence“ ersetzt). Im Statutsentwurf änderten sich noch u. a. der die Straftatbestände betreffende Art. 6 oder Teile des die Rechte des Gerichtshofs festlegenden Art. 17. Unverändert blieben z. B. Art. 16 oder Art. 24 IMT-Statut. 15 Verhandlungsprotokoll v. 20. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLII, S. 315 (317 ff.). 16 Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328–347; Verhandlungsprotokoll v. 24. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XLVII, S. 360–372, hier 360 ff. 17 Sitzung v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (340 ff.); Sitzung v. 24. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLVII, S. 360 (364 f.). 18 Aufzeichnungen des Sonderberaters des Präsidenten Rosenman für Außenminister Byrnes v. 1. Aug. 1945, angedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1061–1062, hier 1062; engl. Originaltext abgedr. in FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 987–988. 19 Telegramm Morrisons an Atlee v. 31. Juli 1945, abgerd. In: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1061. 20 Telegramm Morrisons an Atlee v. 31. Juli 1945 (Fn. 19).

224

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

1945 auf der Dreimächtekonferenz von Berlin im Potsdamer Schloss Cecilienhof, der ehemaligen Residenz des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm, tagten.21 Die Frage der Behandlung der Kriegsverbrecher und der Verhandlungsverlauf in London wurden von der britischen Delegation auf der Konferenz zur Tagesordnung angemeldet.22 Auf der Sitzung der Außenminister am 30.  Juli 1945 wurden sodann ein sowjetischer23 und ein britischer24 Vorschlag für eine gemeinsame Regierungserklärung zur Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen erörtert und insbesondere die von sowjetischer Seite angeregte Aufnahme einer zehn Personen umfassenden Liste der „Hauptverantwortliche[n] der Hitler­clique“25, nämlich­ Göring, Heß, Ribbentrop, Ley, Keitel, Dönitz26, Kaltenbrunner, Frick, ­Streicher und Krupp, diskutiert27. Mit dem letztgenannten Vorschlag vermochte sich die sowjetische Delegation zwar nicht durchzusetzen. In dem von Stalin, ­Truman und Atlee28 unterzeichneten Kommuniqué der Potsdamer Konferenz bekräftig 21 Die Konferenz ging am 2. Aug. 1945 zu Ende. Für eine Zusammenfassung der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz siehe die Einführung von Gisela Biewer zur entsprechenden Edition, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 1. Drittelbd., S. XI–XXXV. Zur Eröffnungssitzung am 17. Juli 1945, ebd., 2. Drittelbd., S. 1176–1198; für die Abschlusssitzung siehe die Protokolle zur dreizehnten Vollsitzung am Abend des 1. Aug. 1945, ebd., 3. Drittelbd., S. 2074–2083 (amer. Prot.), S. 2083–2087 (Cohen-Prot.), S. 2087–2091 (brit. Prot.) und S. 2091–2098 (sowjet. Prot.). Für die engl. Fassung der Protokolle siehe für die Sitzung v. 17. Juli 1945 siehe FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 52–59, für die Abschlusssitzung am 1. Aug. ebd., S. 586–597. 22 Vgl. m. w. Nachw. die Arbeitsunterlage der brit. Delegation v. 28. Juli 1945, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1054–1056, hier S. 1054. 23 Vorschlag d. sowjet. Delegation v. 30. Juli 1945, AVP RF, f. 0639, op. 3, p. 12, d. 12, Bl. 1 (russ.); dt. Übersetzung abgedr. in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1056–1057; engl. Fassung in FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 984. 24 Vorschlag d. brit. Delegation v. 30. Juli 1945 (dt. Übersetzung), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1057; für die engl. Fassung siehe AVP RF, f. 0639, op. 3, p. 12, d. 12, Bl. 2, = FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 986. 25 Siehe Vorschlag d. sowjet. Delegation (Fn. 23), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1056 (156). 26 Für die Namensaufzählung siehe Ziff.  2 des sowjet. Vorschlags (Fn.  23). Der Name­ Dönitz wurde von Molotov persönlich eingefügt. Ein zuvor Molotov vorgelegter Entwurf (AVP RF, f. 0639, op. 1, p. 3, d. 47, Bl. 4 und 5) enthielt ferner die Namen Franz von Papen, Hans Frank und Hjalmar Schacht, die dieser herausgestrichen hatte. 27 Vgl. Protokolle der Sitzung der Außenminister v. 30.  Juli 1945, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 3.  Drittelbd., S.  1878–1890 u. S. 1893–1907; FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 483–497. 28 Premierminister Churchill verließ am 25. Juli 1945 zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses in Großbritannien die Konferenz. Am 28. Juli 1945 traf die neue konstituierte britische Regierung unter der Führung von Premierminister Clement Richard Atlee und dem Außenminister Ernest Bevin in Potsdam ein, hierzu siehe die Einführung von Biewer (Fn. 21), abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 1. Drittelbd., S. XVI.

I. Organisatorischer Rahmen der Konferenz und Verlauf der Verhandlungen

225

ten die Alliierten jedoch ausdrücklich ihren Willen zur schnellen Ab­urteilung von Hauptkriegsverbrechern vor einem interalliierten Gericht.29 Mit dieser Erklärung im Hintergrund sahen sich die Delegationen auf der Londoner Konferenz gehalten, rasch zu einer Einigung über die noch offenen Diskussionspunkte zu gelangen. In der am 2. August 1945 abgehaltenen letzten Verhandlungssitzung unter der Leitung des britischen Lord Chancellor William Jowitt konnten die Delegationen die verbliebenen strittigen Punkte schlussendlich überwinden30 und am 8. August 1945 das Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Euro­päischen Achse mit dem ihm beigefügten Statut unterzeichnen.31 Noch vor Verkündung des Urteils am 1. Oktober 1946 traten auf Grundlage von Art. 5 des Londoner Viermächte-Abkommens32 insgesamt 19 Länder dem Londoner Abkommen bei.33 In der Folgezeit diente das IMT-Statut als Modell für das Statut im Prozess gegen japanische Hauptkriegsverbrecher in Tokio34, dem „japanische[n] Pendant zu dem 29 Abschn. VII (Kriegsverbrecher) der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, unterzeichnet von Stalin, Truman und Attlee am 2. Aug. 1945, Mitteilung der Dreimächtekonferenz von Berlin, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1 (1946), S. 13–20, hier S. 17 f.: „Die drei Regierungen haben von dem Meinungsaustausch Kenntnis genommen, der in den letzten Wochen in London zwischen britischen, USA-, sowjetischen und französischen Vertretern mit dem Ziele stattgefunden hat, eine Vereinbarung über die Methoden des Verfahren gegen alle Hauptkriegsverbrecher zu erzielen, deren Verbrechen nach der Moskauer Erklärung vom Oktober 1943 räumlich nicht besonders begrenzt sind. Die drei Regierungen bekräftigen ihre Absicht, diese Verbrecher einer schnellen und sicheren­ Gerichtsbarkeit zuzuführen. Sie hoffen, daß die Verhandlungen in London zu einer schnellen Vereinbarung führen, die diesem Zwecke dient, und sie betrachten es als eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, daß der Prozeß gegen diese Hauptverbrecher zum frühstmöglichen Zeitpunkt beginnt. Die Liste der Angeklagten wird vor dem 1. September dieses Jahres veröffentlicht werden.“ 30 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399–419. 31 Londoner Viermächte-Abkommen und Statut des IMT v. 8. Aug 1945 (Fn. 1 u. 3). 32 Art. 5 IMT-Statut sah eine Beitrittsmöglichkeit „durch eine der Regierung des Vereinigten Königreiches auf diplomatischem Wege übermittelte Erklärung“ vor, Londoner Viermächte-Abkommen v. 8. Aug. 1945 (Fn. 1), IMT, Bd. I, S. 7 (8). 33 Bei diesen Ländern handelte es sich um Griechenland, Dänemark, Jugoslawien, die Niederlande, die Tschechoslowakei, Polen, Belgien, Abessinien, Australien, Honduras, Norwegen, Panama, Luxemburg, Haiti, Neuseeland, Indien, Venezuela, Uruguay und Paraguay, Londoner Viermächte-Abkommen v. 8. Aug. 1945 (Fn. 1), IMT, Bd. I, Anm. zu Art. 5, S. 7 (8). 34 Die Errichtung des Tribunals und die Bestimmung der für das Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten (IMTFO) maßgeblichen Rechtsnormen erfolgte durch Erlass des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte Douglas MacArthur am 19. Jan. 1945 (Special Proclamation by the Supreme Commander for the Allied Powers – Establishment of an International Military Tribunal for The Far East), dem das Statut des IMTFO als Anhang beigefügt war, abgedr. in Pritchard/Zaide (Hrsg.), The Tokio War Crimes Trial, Bd. 1, sowie bei Boister/Cryer (Hrsg.), Documents on the Tokyo International Military Tribunal, S. 5–6 (Special Proclamation) und S. 7–11 (Charter of the International Military Tribunal for the Far East); ausführlicher hierzu Osten, Tokioter Kriegsverbrecherprozess, S. 69–71; Werle, Völkerstrafrecht, Rdnrn. 29 ff. Die Verhandlungen vor dem Internationalen Militärtribunal für den Fernen O ­ sten wurden am 3. Mai 1946 aufgenommen und endeten mit der Urteilsverkündung am 12. Nov. 1948, vgl. hierzu

226

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Nürnberger Prozeß“35, und lieferte die Grundlage für die Formulierung von allgemeinen, nicht auf die nationalsozialistischen Verbrechen beschränkten Prinzipien des Völkerstrafrechts durch die Vereinten Nationen.36 In der Plenarsitzung vom 11.  Dezember 1946 bestätigte die Generalversammlung der Vereinten Natio­nen „die durch das Statut des Nürnberger Gerichtshofs und das Urteil des Gerichtshofs anerkannten Grundsätze des Völkerrechts“, setzte eine „Kommission zur Kodifikation des Völkerrechts“ ein und betraute sie mit der Formulierung dieser Grundsätze „im Rahmen einer allgemeinen Kodifikation der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen oder eines Internationalen Strafgesetzbuchs“37. Die im November 1947 gegründete International Law Comission38 wurde im selben Jahr erneut mit der Fortentwicklung der im Nürnberger Statut und Urteil formulierten Grundsätze beauftragt.39 Im Jahr 1950 legte die Kommission sodann sieben Prinzipien (Nürnberger Principles) vor40, die ihre Grundlage zwar in den Statutnormen vom 8. August 1945 fanden, nunmehr aber auch universelle Geltung beanspruchen sollten. Obwohl gegen das Statut sowohl in der zeitgenössischen als u. a. Boister/Cryer (Hrsg.), Documents on the Tokyo International Military Tribunal (2008); Osten, Tokioter Kriegsverbrecherprozess (2003); Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 103–123; Röling/Cassese, Tokyo Trial and Beyond (1993); Piccigallo, The Japanese on Trial (1979) sowie die zahlreichen Beiträge im Band zum am 28.–29. Mai 1983 in Tokio durchgeführten Sym­posium, Hosoya/Andō/Ōnuma/Minear (Hrsg.), Tokyo War Crimes Trials (1986). 35 Osten, Tokioter Kriegsverbrecherprozess, S. 15. 36 Zur Bedeutung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses für das moderne Völkerstrafrecht siehe Safferling, Rg 14 (2009), S. 148–167. 37 Resolution 95 (I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 55. Plenarsitzung v. 11. Dez. 1946, Bestätigung der durch das Statut des Nürnberger Gerichtshofs anerkannten Grundsätze des Völkerrechts; engl. und franz. amtliche Fassung des Resolutionstextes abgedr. in: United Nations, G. A. O. R., 2nd Session, Resolutions, S. 188 sowie bei Wright, History UNWCC, Kap. 9, S. 260 und Schindler/Toman (Hrsg.), Laws of Armed Conflicts, Dok. Nr. 81, S. 921–922, hier zit. nach der Übersetzung des Auswärtigen Amtes, abrufbar unter [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 38 Resolution 174 (II) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 123. Plenarsitzung v. 21. Nov. 1947, Establishment of an International Law Commission, engl. und franz. amtliche Fassung des Resolutionstextes inkl. des Statuts der Kommission, abgedr. in: United Nations, G. A. O. R., 2nd Session, Resolutions, S. 105–110. 39 Resolution 177 (II) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 123. Plenarsitzung v. 21. Nov. 1947, Formulation of the principles recognized in the Charter of the Nurnberg Tribunal and in the judgment of the Tribunal; engl. und franz. amtliche Fassung des Resolutionstextes abgedr. in: United Nations, G. A. O. R., 2nd Session, Resolutions, S. 111–112. 40 Text of the Nürnberg Principles Adopted by the International Law Commission, Yearbook of the International Law Commission, 1950, Vol. II, para 95–127 (S. 374–378); ebenfalls abgedr. bei Schindler/Toman (Hrsg.), Laws of Armed Conflicts, Dok. Nr.  83, S.  923–925. Siehe auch die Resolution 488 (V) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 320. Plenarsitzung v. 12. Dez. 1950, Formulation of the Nurnberg Principles, in der die Nürnberger Prinzipien zwar nicht offiziell bestätigt worden sind, aber eine Einladung an die Mitgliedsstaaten ausgesprochen wurde „to furnish their observations on this formulation“. Die Inter­ national Law Commission wurde beauftragt, einen „draft code of offences againt the peace and security of mankind“ zu formulieren.

II. Die Arbeitsweise der sowjetischen Delegation in London

227

auch heutigen Gesamtbewertung einige Einwände wie z. B. ein Verstoß gegen das Verbot rückwirkender Bestrafung vorgebracht worden sind41, werden die im IMTStatut niedergelegten Rechtssätze heute zum „gesicherten Bestand des Völ­ker­ gewohn­heitsrechts“ gezählt.42

II. Zwischen Berichtspflicht und Weisungsunterworfenheit: Die Arbeitsweise der sowjetischen Delegation in London Gemäß Ziff. 7 und 8 der unmittelbar vor der Abreise nach London den sowjetischen Vertretern Nikitčenko und Trajnin zugeleiteten Direktiven43 waren die sowjetischen Vertreter verpflichtet, der sowjetischen Regierung zu allen neuen Vorschlägen durch andere Delegationen einen Bericht mitsamt eigener Bewertung vorzulegen44 und bis zum Eintreffen weiterer Weisungen keine Entscheidungen zu treffen, die von bisher erhaltenen Direktiven inhaltlich nicht gedeckt waren.45 Diese Vorgaben haben sie weitgehend umgesetzt. Während der Verhandlungen berichteten Nikitčenko und Trajnin fortlaufend an das NKID in Moskau. In den meisten Fällen übermittelten sie ein bis zwei Tage nach Sitzung einen entsprechenden Bericht und leiteten ggf. in der Sitzung ausgeteilte Entwürfe zur Kenntnisnahme und weiteren Veranlassung weiter. Zu Verhandlungsbeginn übersandte der Delegationsleiter Nikitčenko am 27. Juni 1945 den am 25. Juni 1945 von J­ ackson vorgelegten amerikanischen Entwurf46 in englischer Textfassung und in russischer Übersetzung an Vyšinskij.47 Die aus London übermittelten Entwürfe wurden in Moskau umgehend einer Überprüfung zugeführt. Eine Mitarbeiterin des NKID und Expertin für internationales Recht, G. Osnickaja, bereitete für Vyšinskij in vielen Fällen die Dokumente in einer für die weitere Überprüfung und für den Erlass von Direktiven geeigneten

41 Vgl. m. w. Nachw. Quaritsch, Carl Schmitt, S. 182–185 („Die zerstrittene Wissenschaft“); Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 147 ff.; Tomuschat, JICJ 4 (2006), S. 830–844, Zimmermann, in: Zimmermann/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 266–277. 42 M. w. Nachw. Werle, Völkerstrafrecht, Rdnr. 28. 43 Ausf. hierzu Kap. D. III. 44 Ziff. 7 der Direktiven (o. Kap. D, Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 45 Ziff. 8 der Direktiven (o. Kap. D, Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 46 Amer. Entwurf v. 14. Juni 1945 (Fn. 14). 47 Für den Zeitpunkt der Übergabe an die sowjet. Delegation vgl. das von Erofeev für Vyšinskij für den Zeitraum ab dem 3. Mai 1945 zusammengestellte Dossier v. 9. Juli 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 1–4, hier Bl. 4, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 60, S. 203 (204). Dem Dossier waren alle erwähnten Dokumente im Anhang beigefügt, hier Anhang No 12, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 54–62 und 12a, ebd., Bl. 63–66. Für das Anschreiben Nikitčenkos v. 27. Juni 1945 siehe AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 23, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 56, S. 189–194, hier S. 189, sowie der beigefügte amer. Entwurf AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 24–31, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 56, S. 189–194.

228

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Form vor. Sie erstellte kommentierende Vergleiche der neuen mit alten ­Entwürfen und arbeitete Hinweise auf relevante Änderungen ein.48 Die Berichte enthielten auch Aussagen darüber, ob die sowjetische Position bereits Berücksichtigung gefunden hatte und ggf. welche Einschätzungen und Empfehlungen von Nikitčenko und Trajnin zum einschlägigen Sachkomplex übermittelt worden waren. Darüber hinaus erhielt Vyšinskij überblickartige Berichte über den allgemeinen Gang der Verhandlungen.49 Angesichts der Dringlichkeit der zu entscheidenden Fragen wurden die von Osnickaja erstellten Berichte und Kommentierungen oftmals am Tag nach Eingang der Telegramme aus London Vyšinskij vorgelegt50 und ggf. ein Antwortentwurf beigefügt.51 Die beschriebene Vorgehensweise erwies sich trotz des sichtbaren Bestrebens um zügige Überprüfung der aus London erstatteten Berichte als sehr zeitintensiv52 und führte als typische Folge einer räumlichen Trennung der entscheidungsbefugten Personen vom Verhandlungsort zu zeitlichen Verzögerungen bei der Entscheidungsfindung in London. Neben der Arbeit an den Entwürfen anderer Delegationen entstand im NKID auch ein vollständiger sowje­tischer Entwurf für ein interalliiertes Abkommen und ein Statut, den die sowjetische­

48

Siehe z. B. die „Beschreibung des 3.  amerikanischen Entwurfs und Vergleich mit dem 2. amerikanischen Entwurf unter Beachtung unserer Änderungen“ (Ispolnitel’noe Soglašenije o sudebnom presledovanii voennych prestupnikov evropejskich stran. Charakteristika 3-go amerikanskogo proekta, sravnitel’no so 2-m amerikanskim proektom i s učetom našich ­popravok) v. 5. Juli 1945, Ü. d. Verf., AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65–75. Beigefügt war ferner der Entwurf eines Antwortschreibens an Nikitčenko und Trajnin mit entsprechenden Direktiven, ebd., Bl. 64 (Vorders. und Rücks.). 49 Siehe z. B. „Bericht über die Frage der Hauptkriegsverbrecher“ (Spravka k voprosu o voen­ nych prestupnikach) (Ü. d. Verf.) v. 17. Juli 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 43–45, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 61, S. 205–207. 50 Den Entwurf des Unterkomitees v. 11. Juli 1945 (Fn. 14), Jackson Report, Dok. XXV, S. 194–201, übermittelten Nikitčenko und Trajnin am 16. Juli 1945 nach Moskau. Am 17. Juli 1945 legte Osnickaja ihren Bericht vor (Zaključenie po podgotovlennomu podkomissiej če­ty­ rech delegacij Ustavu meždunarodnogo voennogo tribunala, soobščennomu nam tt. Niki­tčenko i Trajninym iz Londona 16 ijulja s.g.), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 2, Bl. 51–56, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 62, S. 207–209. 51 Siehe Bericht v. 17. Juli 1945 (Fn. 48). Vgl. auch den von Osnickaja erstellten Bericht und den Entwurf einer Antwort auf das am 18. Juli 1945 eingegangene Telegramm aus London über die Sitzungen v. 16. und 17. Juli 1945 (K telegrammam iz Londona ot 18 ijulja o stat’jach proekta Ustava, obsuždavšimsja v Komissii 16 i 17 ijulja), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 110–111. 52 Der zeitliche Aufwand lässt sich beispielhaft anhand der Überprüfung des dritten amerikanischen Entwurfs veranschaulichen, den die sowjetische Delegation am 2. Juli 1945 erhielt (Revised Draft of Agreement and Memorandum Submitted by American Delegation, June 30, 1945, Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119–125). Eine inhaltliche Gegenüberstellung des dritten und des zweiten amerikanischen Entwurfs v. 14. Juni 1945 und eine ausführliche Kommentierung nahm am 5. Juli 1945 Osnickaja vor (Fn. 48, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65–75). Der Entwurf eines für Nikitčenko und Trajnin vorgesehenen Antwortschreibens trug das Datum 6.  Juli 1945 (Fn.  48). In London fanden währenddessen am 3.  und 4. Juli Sitzungen im Plenum (Fn. 10) und ab dem 5. tägliche Sitzungen der Unterkommission (Fn. 11) statt.

II. Die Arbeitsweise der sowjetischen Delegation in London

229

Delegation am 2. Juli 1945 auf der Londoner Konferenz zur Diskussion stellte.53 Beide Entwürfe wurden am nächsten Tag, dem 3. Juli 1945, in der Verhandlungssitzung erörtert.54 Dem üblichen Arbeitsablauf im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten entsprechend, der bei wichtigen Entwurfsdokumenten des NKID die Unterzeichnung durch Molotov und die Zuleitung an Stalin vorsah, welchers sodann in der Sache abschließend entschied55, wurden auch die offenen Diskussionspunkte der Londoner Konferenz Stalin vor ihrer Unterzeichnung zur abschließenden Genehmigung vorgelegt. Am 25. Juli 1945 erstellte Vyšinskij einen Bericht über den Gang der Verhandlungen in London, der Molotov am gleichen Tage vorgelegt wurde.56 Ausweislich dieses Berichts waren die sowjetischen Vertreter auf der Londoner Konferenz angewiesen worden, gegenüber zwei der im Entwurf des Statuts vorgesehenen und auch in die endgültige Statutsfassung überführten Straftatbestände Widerspruch anzumelden, namentlich „a) ‚Invasion oder Androhung von Invasion oder Anstiftung zum Krieg gegen andere Länder unter Bruch von Verträgen, Abkommen oder Zusicherungen zwischen Ländern oder in anderweitiger Verletzung des Völkerrechts‘“ und „b) ‚Beteiligung an einem Gesamtplan oder einer Einzelhandlung, die auf die Erlangung der Herrschaft über andere Nationen zielte‘“57. Ferner wies Vyšinskij darauf hin, dass die Frage des Tribunal­sitzes weiterhin offen geblieben sei und dass die sowjetischen Vertreter im Falle der Beilegung der dargestellten Differenzen das Abkommen und das Statut des IMT unterzeichnen könnten.58 Diese Punkte wurden zwei Tage vor der Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens in London mit Stalin persönlich abgestimmt, wie ein handschriftlicher Vermerk Vyšinskijs vom 6. August 1945 belegt, in dem es heißt „Wurde Gen. Stalin berichtet – Einverständnis liegt vor“59.

53 Entwurf des Abkommens, 2. Juli 1945, Proekt soglašenija o Meždunarodnom Voennom Tribunale, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 76–77, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 58, S. 196–197, sowie der Entwurf des Statuts, Proekt položenija (Statuta) o Mež­ dunarodnom Voennom Tribunale, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 78–88, abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 59, S. 197–203. Für die engl. Fassung siehe Draft of Agreement Presented by Soviet Delegation v. 2. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XIX, S. 128 und Soviet Draft, Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165–184. 54 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143–154. 55 Vgl. hierzu Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, S. XXVIII. 56 Bericht v. Vyšinskij v. 25. Juli 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 119–120 = AVP RF, f. 07, op. 10, p. 8, d. 83, Bl. 44–45, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 20, S. 182–183 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 62, S. 207–209; dt. Übersetzung in Laufer/­Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 20, S. 57–58. 57 Bericht v. 25. Juli 1945 (Fn. 56), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 20, S. 57 (57). 58 Bericht v. 25. Juli 1945 (Fn. 56), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 20, S. 57 (57). 59 Bericht v. 25. Juli 1945 (Fn. 56), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 20, S. 57 (57).

230

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

III. Ausgangslage der sowjetischen Verhandlungsführung: Kommentierung zum zweiten amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945 Am 28.  Juli 1945 überreichte der sowjetische Delegationsleiter Nikitčenko­ Jackson die sowjetischen Änderungsvorschläge zum zweiten amerikanischen Entwurf. Der erste Vorschlag bezog sich auf die formale Struktur des amerikanischen Entwurfs und enthielt die Anregung, das Executive Agreement60 in zwei Teile aufzugliedern.61 Den ersten Teil sollte ein völkerrechtlicher Vertrag über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher und die Einrichtung eines Internationalen Militärtribunals, den zweiten ein Statut dieses Tribunals bilden.62 Der zweite Änderungsvorschlag betraf die in Ziff. 5 des amerikanischen Projekts getroffene Regelung zum Vorsitz des Internationalen Militärtribunals. Der amerikanische Entwurf sah vor, dass der Vorsitzende des internationalen Militärtribunals aus der Mitte der Richter gewählt und – sollten die Richter sich nicht auf eine Person einigen können – in einem Losverfahren bestimmt werden sollte.63 Die sowjetische Delegation schlug vor, den Vorsitz jeweils demjenigen Vertreter zu übertragen, auf dessen Territorium das Tribunal tagen würde. In allen anderen Fällen sollte der Vorsitz nach einem System der Rotation bestimmt werden.64 Ziff. 6 des amerikanischen Entwurfs, der für alle Handlungen des Gerichts eine Mehrheitsentscheidung festlegte, sollte aus sowjetischer Sicht um eine Regelung für den Fall der gleichen Stimmenverteilung ergänzt werden. Im Falle der Stimmengleichheit sollte nach Ziff. 3 der sowjetischen Änderungsvorschläge die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag geben.65 Aus Ziff. 7 des amerikanischen Entwurfs sollte bezüglich der möglichen Verhandlungsorte die ausdrückliche Erwähnung von Deutschland, Österreich und Italien entfernt werden, mit der Folge, dass das Tribunal auch in jedem anderen Land außerhalb Deutschlands verhandeln könnte, das hierzu seine Zustimmung erteilt hatte.66 Alle Dokumente sollten in englischer, russischer und französischer sowie der Sprache der Verhandlungsorts verfügbar gemacht werden. Entsprechend der zuvor mehrfach zum Ausdruck gebrachten Vorbehalte gegenüber der im amerikanischen Entwurf vorgesehenen Anklage von Organisationen forderte die sowjetische Seite die Streichung der entsprechenden Bestimmungen in Ziff. 10 und

60

Amer. Entwurf v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55–60. Comments and Proposals of Soviet Delegation on American Draft, June 28, 1945, Jackson Report, Dok. XVI, S. 92–96, hier S. 92. 62 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (92). 63 Ziff. 5 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (56). 64 Ziff. 2 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 65 Ziff. 3 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 66 Ziff. 4 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 61

III. Kommentierung zum zweiten amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945

231

16 lit. c des amerikanischen Entwurfs.67 Die darin avisierte Regelung, wonach die vier Alliierten jeweils einen Hauptankläger ernennen sollten68, wollte die sowjetische Delegation dahingehend abändern, dass die Hauptankläger in einer Ermittlungskommission (Investigation Commission) organisiert werden sollten.69 In der Konsequenz sollte die amerikanische Regelung über die Aufgaben der Hauptankläger die Aufgaben der Ermittlungskommission determinieren.70 Die Aufzählung der strafbaren Handlungen (Ziff. 12 des amerikanischen Entwurfs) sollte aus sowjetischer Sicht um den Mord und die Folter der Kriegsgefangenen und die „Verschleppung der Zivilbevölkerung in die Sklaverei“ ergänzt werden.71 Die Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen sollte aufgrund einer Initiative der Regierungen der Signatarstaaten, des Tribunals oder der Ermittlungskommission erfolgen können und das Statut durch Inkorporierung von entsprechenden Vorschriften ergänzt werden.72 Im Hinblick auf die amerikanischen Beweisvorschriften enthielten die sowjetischen Änderungsvorschläge in Ziff. 10 die Initiative, den Dokumenten der nationalen Beweissammlungskommissionen denselben Beweiswert beizumessen wie den offiziellen Handlungen der interalliierten Ermittlungskommission.73 Gemäß Ziff. 11 der sowjetischen Vorschlagsliste sollte der Kontrollrat das Recht erhalten, das Urteil des IMT zu annullieren und die weitere Überprüfung zu veranlassen.74 Zur Frage der Kosten schlug die sowjetische Seite schließlich vor, die Ausgaben des Tribunals und der Anklageteams aus den Mitteln des Kontrollrats zu begleichen.75 Außer dieser an konkreten Normen des amerikanischen Entwurfs orientierten Kommentierung unterbreitete die sowjetische Delegation Vorschläge allgemeiner Art (basic questions), die sich überwiegend auf die formale Struktur und Gliederung des zu schaffenden Statuts bezogen.76 Im ersten Teil sollte das Statut allgemeine Vorschriften über die Struktur und die Tätigkeit des IMT enthalten.77 Hierzu 67

Ziff. 5, 8 und 12 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93–94). 68 Ziff. 10 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (57). 69 Ziff. 5 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 70 Ziff. 6 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 71 Ziff. 7 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 72 Ziff. 9 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93–94). 73 Ziff. 10 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94). 74 Ziff. 11 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94). 75 Ziff. 13 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94). 76 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94–96). 77 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94).

232

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

zählten u. a. die Bestimmung der Gerichtsaufgaben, die Deliktstatbestände, aber auch Regelungen über die zu bildenden Gerichtzweige, die Amtssprache sowie die Ermächtigung zur Aufstellung einer Verfahrensordnung. Im zweiten Teil sollten Normen über die am IMT eingesetzten Personen geschaffen werden.78 Hierzu zählten Regelungen über die Ernennung der Richter und ihrer Stellvertreter sowie die Abberufung und den Modus der Entscheidungsfindung unter den Richtern. In einem dritten Abschnitt wäre die Organisation und Funktionsweise der Internationalen Ermittlungskommission zu regeln. Ein weiterer Abschnitt sollte schließlich verfahrensrechtliche Prinzipien festlegen, namentlich die Modalitäten der Er­öffnung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens sowie die Anklage­ erhebung, Regelungen über die Überstellung der Beschuldigten an das Gericht und alle das Hauptverfahren betreffenden Normen.79 Hierzu zählte die sowjetische Seite u. a. Regelungen über die Ankläger und die Verteidigung, verfahrensmäßige Garantien zugunsten der Angeklagten und Beweisregeln. Darüber hinaus wollte die sowjetische Seite materiellrechtliche Fragen geregelt wissen. In diesem Zusammenhang waren nach sowjetischem Dafürhalten Vorschriften über die Bedeutung einer amtlichen Stellung des Angeklagten sowie des Handelns auf Befehl, die Verantwortlichkeit von Hilfspersonen und über die Strafe zu schaffen.80 In sprafprozessualer Hinsicht sollten schließlich Appelationsmöglichkeiten gegen das Urteil des Tribunals, die Möglichkeit der Änderung der Strafaussprüche und der Vollzug der Strafe statutarisch fixiert werden.81 Die sowjetische Delegation legter ferner Wert auf die Feststellung, dass die meisten dieser Anregungen bereits im amerikanischen Statut enthalten gewesen seien und die Vorschläge lediglich einen Beitrag zur Präzisierung und Vereinfachung der Arbeit leisten sollten.82

IV. Zwischen Kompromiss und Unnachgiebigkeit: Der sowjetische Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

1. Gliederung und formale Struktur Die formale Trennung des Londoner Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 von dem ihm beigefügten und zu seinem wesentlichen Bestandteil erklärten Statut für den Internationalen Strafgerichtshof geht auf eine Anregung der sowje 78 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (95). 79 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (95). 80 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (95). 81 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (95). 82 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (95–96).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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tischen Delegation zurück. Der zur Grundlage der Verhandlungen genommene amerikanische Entwurf des ‚Executive Agreement Relating to the Prosecution‘ vom 14. Juni 1945 hatte noch alle das Abkommen und das Tribunal betreffenden Normen in einem Dokument zusammengefasst.83 Bereits zu Beginn der ersten Sitzung schlug Nikitčenko vor, einen eigenständigen, aber knappen Text für das Viermächte-Abkommen zu verfassen und das Statut als Annex beizufügen.84 Den gleichen Vorschlag formulierte die sowjetische Delegation sodann in ihren Änderungsvorschlägen vom 28. Juni 1945.85 Jackson stimmte dieser Initiative bereits in der zweiten Sitzung zu mit der Folge, dass Maxwell Fyfe, der die Verhandlung formell leitete, im Anschluss daran allseitiges Einvernehmen in Bezug auf die zweiteiligen Struktur zu Protokoll geben konnte.86 2. Die Verfassung des Internationalen Militärgerichtshofs (Abschnitt I) Der Wortlaut des Art. 1 IMT-Statut in seiner endgültigen Fassung übernimmt die Formulierung des sowjetischen Entwurfs, enthält jedoch eine auf Jackson zurückzuführende Ergänzung. Während der sowjetische Entwurf vom Tribunal „for the just and prompt punishment of the major war criminals of the European Axis Powers“87 sprach und damit den gerichtlichen Zuständigkeitsbereich auf Verbrechen der Achsenmächte beschränkte, sprach das amerikanische Projekt vom 30. Juni 1945 allgemein von „trial and punishment of major war criminals“88. ­Jackson bemängelte die sowjetische Formulierung und verlangte, dass die Vorschrift statt „punishment“ besser „trial“ bzw. „trial and punishment“ als Zielsetzung des Tribunals ausweisen sollte.89 Das Unterkomitee nahm in der ­Sitzung vom 5. Juli den sowjetischen Text 83 Vgl. Fn. 14. Für Normen zur Verfassung des Tribunals, seine Zuständigkeiten, das Verfahren etc. vgl. Ziff. 5 ff. des Entwurfs. 84 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (71). 85 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 61), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (92). 86 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (117). Zu Jacksons Einschätzung der Verhandlung nach der ersten Sitzung siehe das Schreiben­ Jacksons an Rosenman v. 27. Juni 1945: „First days of conferences indicate a good deal of revision in form but general agreement by all parties in substance. If fundamental grounds of difference exist, they have not appeared.“, Seite 3 der „Copy of telegram from Samuel Rosenman to Robert Jackson, accompanied by related correspondence, June 29, 1945“, War Crimes File Rosenman Papers, Harry S. Truman Presidential Museum & Library, 3 Seiten. Eine Ablichtung des Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S.  Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 87 Art. 1 (Funkcii Tribunala/Task of the Tribunal) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (167). 88 Ziff. 2 des Annex zum Executive Agreement d. amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119–125, hier S. 120 = Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165–184, hier S. 168. 89 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 155 (155).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

zur Grundlage, änderte ihn jedoch Jacksons Wusch entsprechend ab.90 In die endgültig angenommene Fassung des Art.  1 IMT-Statut fand die Formulierung „an­ International Military Tribunal […] for the just and prompt trial and punishment of the major war criminals of the European Axis“ Eingang.91 Dass das Verhältnis der amerikanischen zur sowjetischen Delegation durch tiefes Misstrauen geprägt war, lässt sich u. a. anhand der Debatten im Zusammenhang mit der Rolle des Kontrollrats sowie der Möglichkeit des Richterwechsels veranschaulichen. Der Diskussionsverlauf in Bezug auf Art. 2 und 3 IMT-Statut, die u. a. die Zusammensetzung des Tribunals, die Ernennung der Tribunalsmitglieder und die Möglichkeiten des Richterwechsels regelten, legen die Befürchtungen Jacksons offen, die sowjetische Seite könne die Unabhängigkeit der richterlichen Urteilsfindung dadurch unterminieren, dass die sowjetische Regierung politisch nicht folgsame Richter abberufen und durch gehorsame Richter ersetzen würde. Die amerikanischen Entwürfe enthielten zunächst keine Regelung zu den Details der Ernennung oder Abberufung der Richter. Sie sahen lediglich vor, dass für den Fall des Todes oder einer die Amtsausübung behindernden Erkrankung (incapacity) eines Tribunalsmitglieds dessen Stellvertreter den Richtersitz einnehmen sollte.92 Der amerikanische Entwurf vom 14. Juni 1945 bestimmte ferner in Ziff. 5, dass die Einrichtung des IMT durch den Kontrollrat erfolgen sollte.93 Dem Alliierten Kontrollrat kam im amerikanischen Entwurf aber auch im Abschnitt ‚Strafe‘ (Ziff. 19 und 20) eine wesentliche Rolle zu. Ziff. 19 des amerikanischen Entwurfs sah die Möglichkeit des Kontrollrats vor, die vom Tribunal verhängte Strafe durch eine Mehrheitsentscheidung zu genehmigen, herabzusetzen oder auf andere Weise zu verändern, nicht jedoch, sie zu erhöhen.94 Nach Ziff. 20 des Entwurfs sollten die Strafen nach der Genehmigung des Kontrollrats und in der darin bestimmten Weise, entsprechend den schriftlichen Anordnungen (written orders) des Kontrollrats, vollstreckt werden.95 An diese Gedanken knüpfte die sowjetische Delegation in ihrem eigenen Entwurf vom 2. Juli 1945 an96, in dem in einem eigens das Verhältnis des Tribunals und des Kontrollrats re 90 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11 Juli 1945 (Fn. 11), Jackson ­Report, Dok. XXIV, S. 185 (187). 91 Vgl. die engl. Fassung des IMT-Statuts (Fn. 3), IMT, Vol. I, S. 10 (10). Die deutsche amtliche Fassung enthält die Formulierung „zwecks gerechter und schneller Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse“, IMT, Bd. I, S. 10 (10). 92 Ziff. 6 des amer. Entwurfs v. 14.  Juni 1945 (Fn.  12), Jackson Report, Dok. IX, S.  55 (56) bzw. Ziff. 12 des Annex des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123) = Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (173). 93 Ziff. 5 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (56): „There shall be set up by the Control Council for Germany one or more international military tribunals (hereinafter reffered to as ‚International Military Tribunal‘) […].“ 94 Ziff. 19 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (59). 95 Ziff. 20 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (59). 96 So Nikitčenko in der Sitzung v. 3. Juli 1945 (Fn. 9), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (150).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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gelnden Art. 5 die Errichtung des Tribunals in Berlin und „beim Kontrollrat“ festgeschrieben werden sollte.97 Als gedankliche Fortentwicklung dieser Verknüpfung sah der sowjetische Art.  8 die Ernennung der Tribunalsrichter durch den Alliierten Kontrollrat nach vorheriger Abstimmung mit den jeweiligen nationalen Regierungen vor.98 Art. 9 des sowjetischen Entwurfs regelte ferner die Möglichkeit der Abberufung und Ersetzung von Richtern auf Initiative der alliierten Regierungen durch den Kontrollrat.99 Die sowjetischen Vorschläge lösten prompt Jacksons Protest aus. Er erklärte, die Mitglieder eines Tribunals dürften nach der Errichtung des Tribunals nicht durch ein Organ der Exekutive ausgewechselt werden können, da die Gerichtsentscheidungen andernfalls dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht gerecht würden.100 Nikitčenko wies dagegen darauf hin, es erscheine kaum möglich, in dem zu findenden Verfahren eine Richterwahl nach nationalstaatlich bewährten Prinzipien durchzuführen und dass ein Richter gleichzeitig nicht unter allen Umständen im Amt belassen werden dürfe.101 Dass Jacksons Befürchtungen bei Lichte besehen sich als deutlich übertrieben erweisen, belegt Nikitčenkos nachvollziehbare Antwort auf Jacksons Nachfrage, ob außer im Falle des Todes oder einer Krankheit ein Richterwechsel auch nach nicht zufriedenstellenden richterlichen Entscheidungen würde stattfinden könnten102: „If the Government has the right through the Control Council to appoint a member of the Tribunal, it should also have the right to replace him if that may be necessary – if a member is needed for the fulfillment of some other duties in some other place, or he may be ill even though he might not be actually confined to his bed. In that case the government should have the right to replace him by some other person.“103 97 Art. 5 (Tribunal i Kontrol’nyj Sovet v Germanii/The Tribunal and the Control Council for Germany) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), hier Ü. d. Verf. aus der russ. Fassung, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 59, S. 197 (198). Vgl. auch die im Jackson Report abgedruckte engl. Übersetzung von Art. 5: „The tribunal shall be set up in Berlin and shall be attached to the Control Council. […]“, Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (171). 98 Art. 8 (Členy Tribunala i ich zamestiteli/Members of the Tribunal and Their Alternates) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 59, S. 197 (198 f.); engl. Übersetzung abgedr. in Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (172): „The tribunal shall consist of four members. The members of the Tribunal and their alternates shall be appointed by the Control Council – one Member of the Tribunal and one alternate each by the USSR, USA, Great Britain and France – after consultation with the governments of their respective countries.“ 99 Art. 9 (Otvod i otzyv členov Tribunala/Challenge and Recall of the Members of the Tribunal) des sowjet. Entwurfs v. 2.  Juli 1945 (Fn.  53, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  59, S. 197 (199); engl. Übersetzung abgedr. in Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (173): „The members of the Tribunal cannot be challenged by the defendants, the prosecution or the counsel for the defence. The Control Council upon the proposal of the respective governments may recall a member of the Tribunal or his alternate and replace then by other persons.“ 100 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (150). 101 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (150). 102 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (151): „Replace for what reason – sickness or death or inability to go on, or replace him because his decisions were not satisfactory?“ 103 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (151).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Die Regelung des Art. 3 S. 2 IMT-Statut, in dem ein Richterwechsel vorgesehen ist, wurde schließlich im Unterkomitee in Anlehnung an das sowjetische Projekt konzipiert.104 Gründe, die das Auswechseln eines Richters rechtfertigen können – gesundheitliche oder andere triftige Gründe – wurden in die Vorschrift explizit aufgenommen. Jackson griff das Thema des Richterwechsels in der sechsten Sitzung trotz der bereits erzielten Einigung erneut auf und bestand auf dem Zusatz, dass es während des Prozesses keinen Richterwechsel geben dürfe, außer durch den stellvertretenden Richter.105 Erneut betonte er, dass er einer Vorschrift nicht zustimmen könne, die den Austausch eines Richters zulasse, dessen Entscheidungen der jeweiligen Heimatregierung nicht genehm seien. Im Ergebnis wurde die sowjetische Vorlage um die von Jackson geforderten Zusätze ergänzt. Einen relevanten Beitrag leistete die sowjetische Delegation auch bei der Formulierung des Art. 4 IMT-Statut. Der Einfluss der sowjetischen Seite lässt sich besonders bei der Frage des Vorsitzes sowie der Vorgehensweise im Falle der richterlichen Stimmengleichheit nachvollziehen. Während der erste Unterabsatz des Art. 4 lit. b IMT-Statut die Wahl des Gerichtspräsidenten und seinen Vorsitz während des ersten Verfahrens zum Gegenstand hat, bestimmt der zweite Teil  von Art. 4 lit. b IMT, dass bei aufeinanderfolgenden Prozessen ein Vorsitzwechsel stattfinden soll. Die Regelung über den Vorsitzwechsel geht dabei auf den Vorschlag der sowjetischen Vertreter zurück.106 Dieser Artikel konnte mangels weiterer Prozesse zwar niemals praktische Geltung erlangen; er reflektiert jedoch die sowjetische Perspektive, die stets von einer längeren Zusammenarbeit der Alliierten bei der Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern ausging. Wie bereits die Direktiven an die sowjetischen Delegierten vor ihrer Abreise nach London belegen, stand der sowjetischen Führung die Vorstellung einer längeren alliierten Zusammenarbeit vor Augen, die eine Reihe von Prozessen auf den Territorien verschiedener Länder, gegebenenfalls unter Einbeziehung anderer Richter ins Tribunal, zur Folge haben würde.107 Für die verschiedenen von Gericht zu behandelnden Fälle (cases) bzw. durchzuführenden Prozesse sollte nach einem Rotationsprinzip ein Vorsitzwechsel stattfinden, wobei demjenigen Richter, auf dessen Landesterritorium das Verfahren stattfinden würde, der Vorzug gewährt werden sollte.108 Diese bereits zu Beginn der Verhandlungen eingenommene Position über den Vorsitzwechsel109 104 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok.XXIV, S. 185 (187). 105 Verhandlungsprotokoll v. 13. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXVII, S. 211 (232 f.). 106 Vgl. die Ausführungen Trajnins und Nikitčenkos in den Konferenzsitzungen am 26., 29. Juni und 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (73 f.), ebd., Dok. XVII, S. 97 (111) und ebd., Dok. XXI, S. 143 (148 f.). 107 Ziff. 3 a) bis c) der Direktiven v. 24. Juni 1945, (Kap. D, Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 108 Ziff. 3 e) der Direktiven v. 24. Juni 1945 (o. Kap. D, Fn. 56), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 109 Nikitčenko sprach das Thema des Vorsitzwechsels bereits in der ersten Sitzung an, Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (73 f.). Vgl. auch

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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behielten die sowjetischen Repräsentanten durchgehend bei. In einem internen, im NKID für Vyšinskij vorbereiteten Bericht über den dritten amerikanischen Entwurf vom 30. Juni 1945, wurde festgestellt, dass sowohl Nikitčenko als auch Trajnin den amerikanischen Vorschlag, wonach der Vorsitzende durch Mehrheitsbeschluss der Tribunalsmitglieder zu wählen sei und (nur) im Falle der Uneinigkeit ein täglicher Vorsitzwechsel stattfinden sollte110, nicht für sinnvoll und daher nicht für annehmbar hielten.111 Die sowjetischen Delegierten wurden angewiesen, auf der sowjetischen Position weiter zu bestehen.112 Letztendlich setzte sich der sowjetische Vorschlag im Unterkomitee durch und wurde in die endgültige Fassung des Art. 4 lit. b IMT-Statut aufgenommen.113 Als praxisrelevant erwies sich demgegenüber der Vorschlag der sowjetischen Delegation zur Vorgehensweise bei der richterlichen Stimmenmehrheit, der sich in Art. 4 lit. c IMT-Statut niedergeschlagen hat. Die amerikanischen Entwürfe sahen lediglich vor, dass die Richter per Majoritätsbeschluss entscheiden sollten und adressierten nicht den problematischen Fall, dass in einem durch vier Personen besetzten Gremium die Entscheidungsfindung durch gleiche Stimmenverteilung verhindert wird.114 Gleich in der ersten Verhandlungssitzung schlug Nikitčenko die Aufnahme einer Regelung vor, nach der im Falle der Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden ausschlaggebend sein sollte.115 Dieser Standpunkt wurde nach der Sitzung von der sowjetischen Seite in ihren Anmerkungen und Vorschlägen wiederholt und letztlich als eigener Artikel im sowjetischen Entwurf ausformuliert.116 Nach weiteren Diskussionen im Unterkomitee wurde die sowjetische Vorlage zwar redaktionellen Überarbeitungen unterzogen, der Kerngedanke, wonach die Stimme des Vorsitzenden das entscheidende Gewicht bei Stimmengleichheit haben sollte, blieb jedoch erhalten.117 Die sowjetische Position, bei Entscheidungen über die Todesstrafe seien die Stimmen von mindestens drei Mitgliedern des Tribunals notwendig, wurde im Unterkomitee auf Entscheidungen über Verurteilung und Bestrafung ausgeweitet und fand mit unwesentlichen Modifikationen Eingang in den endgültigen Wortlaut des Art. 4 lit. c IMT-Statut. Ziff. 2 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 110 Ziff. 6 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (121). 111 Bericht v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (69). 112 Vgl. die handschriftliche Randnotiz von Vyšinskij („darauf bestehen“) auf dem Bericht v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, l. 65 (69). 113 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945, (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (188). 114 Ziff. 6 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (56). Die gleiche Formulierung findet sich in Ziff. 12 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123). 115 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (73). 116 Art. 10 (Kvorum i golosovanie/Quorum and Voting) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (173). 117 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (188).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

3. Die Deliktstatbestände und allgemeine Grundsätze (Abschnitt II) a) Art. 6 IMT-Statut aa) Verbrechen gegen den Frieden, Art. 6 lit. a IMT-Statut Mustergültig nachvollziehen lassen sich sowohl der Einfluss der sowjetischen Seite auf die juristischen Grundlagen des IMT als auch die konzeptionellen Unterschiede zu Jacksons Prozessidee anhand der Debatten um Art. 6 IMT-Statut und hier besonders am Straftatbestand des Verbrechens gegen den Frieden  – Art.  6 lit. a IMT-Statut. Die Delegierten diskutierten ausgiebig über die Grundsatzfrage, ob Angriffskriege überhaupt strafbare Völkerrechtsverbrechen darstellten und im Zusammenhang hiermit, ob eine allgemeingültige Definition des Begriffs ‚Angriffskrieg‘ im IMT-Statut aufgenommen werden sollte. Ein weiterer kontrovers erörterter Punkt war die Notwendigkeit einer einleitenden Feststellung, wonach es sich bei den aufgelisteten Tatbeständen um Völkerrechtsverbrechen handelte. Durch diesen anglo-amerikanischen Vorschlag sollte während des Prozesses u. a. die Diskussion vermieden werden, ob es sich bei den im Statut fixierten Verbrechenstatbeständen überhaupt um strafbare Verletzungen des Völkerrechts handele. In beiden angeführten Punkten wichen die Meinungen der anglo-amerikanischen Delegierten und der Vertreter der UdSSR sowie Frankreichs erheblich voneinander ab. (1) Das amerikanische Konzept – statutarische Fixierung einer Definition des Aggressionsvorwurfs Die Kriminalisierung und juristische Verankerung des Angriffskriegs als internationales Verbrechen lagerte im Zentrum der amerikanischen Prozessidee, deren Ursprung in den amerikanischen Memoranda bis Ende 1944 bzw. Anfang 1945 nachvollzogen werden kann.118 Neben dem offenkundigen Prozesszweck  – Ab­ urteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher – ging es Jackson im Wesentlichen darum, die sich durch den Prozess bietende historische Chance zur Weiterentwicklung des traditionellen Völkerrechts zu nutzen.119 Während der Konferenz 118

Smith, Road to Nuremberg, S.  91 ff.; Taylor, Nürnberger Prozesse, S.  55 ff.; Pompe, Aggressive War, S.  191; Bloxham, in: Heberer/Matthäus (Hrsg.), Atrocities, S.  263 (272); zur wissenschaftlichen Diskussion in der 1940er Jahren über die Strafbarkeit des Angriffskriegs siehe Quaritsch, Carl Schmitt, S. 182 ff.; Segesser, Recht statt Rache, S. 313 ff., 329 ff.; Brown, in: Reginbogin/Safferling (Hrsg.), Nuremberg Trials, S. 21 (25); zur Entstehung von Art. 6 lit. a IMT-Statut siehe auch Clark, Wash. U. Global Stud. L. Rev. 6 (2007), S. 527–550;­ Ronneberg, Tatbestand, S. 81 ff. 119 Diese Ambitionen drückte Jackson in seinem Report an den amerikanischen Präsidenten am 6. Juni 1945 wie folgt aus: „Unless we are prepared to abandon every principle of growth

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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erklärte Jackson, dass der Glaube, der Krieg sei an sich illegitim, die USA überhaupt erst dazu bewogen habe, in diesem Krieg Position zu beziehen, Hilfslieferungen zu leisten und so von ihrer vormals neutralen Position abzurücken. Aus diesem Grund läge den USA viel daran, die Strafbarkeit des Angriffskriegs als Völkerrechtsverbrechen im Statut zu fixieren.120 Dem Anklagevorwurf der Planung oder Beteiligung an einem Angriffskrieg müsse jedoch das Verteidigungsrecht der Angeklagten gegenüber gestellt werden, darzulegen und zu beweisen, dass der Krieg kein Angriffskrieg gewesen sei.121 Von diesem Standpunkt aus erschien eine allgemein und abstrakt formulierte Definition des Angriffskriegs notwendig, da es ohne eine solche Definition dem Tribunal selbst überlassen geblieben wäre, die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Angriffskrieges zu bestimmen. Eine bereits in das Statut inkorporierte Definition dagegen schien geeignet, die Rechtslage insoweit dem Streit zu entziehen und den zur Rechtsanwendung berufenen Richtern als verbindlicher Maßstab zur Seite zu stehen.122 Die amerikanische Delegation legte am 19. Juli 1945 den Entwurf einer Definition für die weitere Diskussion vor.123 Die von Jackson vorgeschlagene Definition enthielt die Feststellung, dass politische, militärische, ökonomische oder sonstige Erwägungen einen Angriffskrieg nicht rechtfertigen könnten – ein Zusatz, der in erster Linie dem Zweck diente, der Argumentation, es habe sich um einen Defensivkrieg gehandelt, die Grundlage zu entziehen. Damit sollten eine politische Kontroverse über die Ursachen des Krieges vor Gericht unterbunden und Gegenanschuldigungen gegen die Anklägerstaaten der Boden entzogen werden.124

for International Law, we cannot deny that our own day has its right to constitute customs and conclude agreements that will themselves become sources of newer and strengthened International Law. […] We therefore propose to charge that a war of aggression is a crime, and that modern International Law has abolished the defense that those who incite or wage it are engaged in legitimate business. […] Any legal position on behalf of the United States will have considerable significance in the future evolution of International Law. […] Such occasions rarely come and quickly pass. We are put under a heavy responsibility to see that our behavior during this unsettled period will direct the world’s thought toward a firmer enforcement of the laws of international conduct, so as to make war less attractive to those who have governments and the destinies of peoples in their power.“, Report to the President by Mr. Justice Jackson v. 6.  Juni 1945, Jackson Report, Dok. VIII, S.  42–54, hier S. 51 f., 53. 120 Verhandlungsprotokoll v. 25. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LI, S. 376 (383 f.). 121 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (305 f.). 122 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (309). 123 Definition of „Aggression“, Suggested by American Delegation as Basis of Discussion, July 19, 1945, Jackson Report, S. 294. 124 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (300, 302).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

(2) Das sowjetische Konzept – Justiziabilitätsausschluss in Bezug auf konkrete Aggressionsvorwürfe Ausweislich des Vortrags der sowjetischen Delegation stand für die UdSSR die Bestrafung wegen konkreter Gräueltaten im Vordergrund, wobei die Aggression selbst auch zu konkreten Taten in diesem Sinne gezählt wurde. Die Frage der erstmaligen Fixierung der Strafbarkeit von internationalen Verbrechen, z. B. des Angriffskriegs, lag an sich außerhalb des sowjetischen Interesses.125 Dass nationalsozialistische Hauptkriegsverbrecher für die unter ihrer Führung begangenen Gräueltaten bestraft werden sollten, hatten aus sowjetischer Sicht die Alliierten schon seit langem in gemeinsamen oder unilateralen Erklärungen zum Ausdruck gebracht.126 Als charakteristisch kann in diesem Zusammenhang u. a. die folgende Aussage Nikitčenkos gelten: „The policy which has been carried out by the Axis powers has been defined as an aggressive policy in the various documents of the Allied nations and of all the United Nations, and the Tribunal would really not need to go into that.“127

Die Aufgabe der Londoner Konferenz bestand aus sowjetischer Perspektive insofern nicht zuletzt gerade in der Umsetzung dieser Absichtserklärungen. Auf internationalen Konferenzen zwischen den Regierungen abgestimmte Punkte galten als feststehend und sollten aufgrund eines angenommenen Hierarchieverhältnisses dem Kompetenzbereich des Tribunals entzogen bleiben. Insbesondere der Tatbestand des Angriffskriegs sollte mit Blick auf entsprechende vorgelagerte Fest­ legungen der alliierten Führungen als gleichsam gesicherter juristischer Befund der Justiziabilität des Tribunals entzogen sein. In der Sitzung vom 19. Juli 1945 führte der sowjetische Delegationsleiter Nikitčenko hierzu aus: „The Tribunal would not be competent to judge really what kind of war was launched by the defendants; neither would it go into the question of the causes of war. It would really be up to the United Nations or the security organization which has already been established to go into questions of that sort. […] The task of the Tribunal is to try war criminals who have committed certain criminal acts.“128 125 Vgl. Verhandlungsprotokoll v. 19.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (298). Für ähnliche Aussagen Nikitčenkos vgl. ebd., S. 303, 377. Eine deutliche Positionierung enthalten die Ausführungen von Trajnin in der Sitzung am 23. Juli 1945: „I welcome the fact that in the French draft personal responsibility is well emphasized and that we should try to incorporate it in our draft, but I still think the question of declaration of law remains. That is, the four countries may, for the purpose of this trial, declare certain acts to be criminal; and for the purposes of this trial the laws declared by the Four Powers should be sufficient.“, Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli, 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (335). 126 Konkrete Bezüge auf die Moskauer und Jalta Deklarationen im Zusammenhang mit dem Prozesszweck findet man wiederholt in Nikitčenkos Redebeiträgen, so z. B. in: Jackson Report, S. 298, 377, 382. 127 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok.XXXVII, S. 295 (303). 128 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (303).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Der kontinuierliche argumentative Rückgriff auf die Verhandlungsergebnisse der Konferenzen von Moskau und Jalta zum einen und ihre Qualifikation als Entscheidungsquelle zum anderen ist für das sowjetische Konzept in Bezug auf den Prozess in Nürnberg charakteristisch. Vor dem Hintergrund ihrer Regierungsdeklarationen erblickte die sowjetische Seite im Prozess eine Aufgabe, die von vornherein auf einen bestimmten Tätertypus (nationalsozialistische Hauptkriegsverbrecher) und bestimmte Taten (Vielzahl der nationalsozialistischen Gräuel­ taten) konkretisiert und beschränkt war. Dieser Grundannahme folgend vertrat Nikitčenko den Standpunkt, dass den Deklarationen auch bereits eine Definition des Begriffs ‚Kriegsverbrecher‘ bzw. „the conception of what is a war criminal“ zu entnehmen war.129 Insofern sollte aus sowjetischer Sicht für die Väter des Statuts außer Frage stehen, wessen Bestrafung und welche Verbrechen Gegenstand der Urteilsfindung sein sollte. Wie C. A. Pompe in seiner Dissertation „Aggressive War An International Crime“ bereits 1953 zutreffend ausführte, war dem Tribunal in dieser Perspektive der Charakter eines reinen ad hoc-Tribunals zugedacht.130 Aus dieser Konzeption heraus konnten und sollten beispielsweise die Tatbestände auch ad hoc anwendbare Normen sein mit der Folge, dass die höchst umstrittene Grundsatzfrage über die völkerrechtliche Strafbarkeit des Angriffskriegs und die seiner allgemeinen Definition für die sowjetische Seite nachrangig war. In ihrem eigenen Entwurf führte die sowjetische Delegation den Angriffskrieg ähnlich wie die amerikanischen Entwürfe als eines der Verbrechen auf, welches in die Zuständigkeit des Tribunals fallen sollte.131 Da es in Anbetracht der Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Verbrechen unmöglich wäre, mit einer Auflistung der Einzelverbrechen zu arbeiten und die Aufzählung von einigen wenigen konkreten Verbrechen das Ausmaß der NS-Gräueltaten nur unzureichend abbilden würde, lag die Schwierigkeit aus sowjetischer Sicht darin, eine juristische Grundlage zu finden, die für die verschiedenen Verbrechen dehnbar genug war und gleichzeitig aufgrund der konkreten Zielsetzung nicht zu viel Interpretationsspielraum ­beließ.132

129 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (298). 130 Pompe, Aggressive War, S. 192. 131 Art. 2 lit.  a (Krug prestuplenij/Range of crimes) des sowjet. Entwurfs v. 2.  Juli 1945 (Fn.  53), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  59, S.  197 (198); engl. Übersetzung abgedr. in­ Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (169): „Among the crimes coming under the jurisdiction of the Tribunal are: a) initiation of war in violation of the principles of International Law and in breach of treaties; b) launching a war of aggression […].“ 132 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (298): „[…] we should work out a formula which would make it possible to bring to trial and punish those who have committed all the various atrocities.“

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

(3) Beschränkung auf die europäische Achse und Justiziabilität bei Verzicht auf definitorische Einengungen: Genese einer Kompromissformel Obwohl sich die sowjetischen Delegierten auch für die Strafbarkeit des Angriffskriegs aussprachen133, führte der andersartige Zugriff der Sowjets zu großen Differenzen mit Jackson. Der in der zehnten Sitzung am 19. Juli 1945 besprochene amerikanische Formulierungsvorschlag wurde von Nikitčenko wegen seines allgemeinen Wortlauts und damit verbundener Interpretations- und Ergebnisoffenheit als unakzeptabel abgelehnt. Nikitčenko gab anstelle dessen dem französischen Entwurf134 den Vorzug.135 Am 23. Juli 1945 legte die sowjetische Delegation einen eigenen Entwurf für Art. 6 IMT-Statut vor.136 Im einleitenden Teil wurde festgestellt, dass dem Tribunal die Kompetenz zur Aburteilung von „nachfolgend aufgezählten“ Handlungen (following acts, designs and attempts) zugewiesen sein sollte.137 Die Aggression wurde als erste der aufgelisteten strafbaren Handlung aufgeführt und normtextlich auf Handlungen der Achsenmächte beschränkt.138 Der Entwurf wurde von der britischen Delegation überarbeitet und der Konferenz am 23. Juli 1945 vorgelegt.139 Darin wurde die Einschränkung der Aggression auf die Achsenmächte beibehalten, jedoch im einleitenden Teil festgehalten, dass die nachfolgend aufgezählten Handlungen als Verbrechen gelten sollten, zu deren Bestrafung das Tribunal ermächtigt sein sollte. Die britischen Änderungen hielt die sowjetische Seite für annehmbar, wie sich dem neuen sowjetischen Entwurf für Art. 6 IMT-Statut vom 25. Juli 1945 entnehmen lässt.140 Dieser Entwurf 133 Verhandlungsprotokoll v. 23.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XLIV, S.  328 (335); Verhandlungsprotokoll v. 25. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LI, S. 376 (386). 134 Draft Article on Definition of „Crimes“, Submitted by French Delegation, July 19, 1945, Jackson Report, Dok. XXXV, S. 293: „The Tribunal will have jurisdiction to try any person who has in any capacity whatsoever, directed the preparation and conduct of: i) the policy of aggression against, and of domination over, other nations, carried out by the European Axis Powers in breach of treaties and in violation of international law […].“ 135 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (298). 136 Redraft of Definition of „Crimes“, Submitted by Soviet Delegation, July 23, 1945, Jackson Report, Dok. XLIII, S. 327: „The Tribunal shall have power to try any person who has in any capacity whatever directed or participated in the preparation or conduct of any or all the following acts, designs or attempts namely: a) Aggression against or domination over other nations carried out by the European Axis in violation of the principles of international law and treaties b) […].“ 137 Fn. 136. 138 Fn. 136. 139 Redraft of Soviet Definition of „Crimes“ (Article 6), Submitted by British Delegation, July 23, 1945, Jackson Report, Dok. XLVI, S. 359: „The following acts or designs or attempts at any of them shall be deemed crimes on conviction of which punishment may be imposed by the Tribunal upon any person who is proved to have in any capacity whatever directed or participated in the preparation or planning for or carrying out of any or all acts designs or attempts: (a) Aggression against or domination over other nations carried out by the European Axis in violation of treaties, agreements and assurances (b) […].“ 140 Redraft of Definition of „Crimes“, Submitted by Soviet Delegation, July 25, 1945, Jackson Report, Dok. XLVIII, S. 373: „The following acts, design or attempts at any of them shall be

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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behielt die von den Briten vorgeschlagenen Formulierungen in der Einleitung im Kern bei und kürzte den einleitenden Text lediglich etwas ab. Die in der Folgezeit zirkulierten amerikanischen Entwürfe vom 25.141, 30.142 und 31. Juli 1945143 sahen zwar sämtlich eine Kompetenzeinschränkung des Tribunals auf Handlungen der Achsenmächte im einleitenden Teil von Art. 6 vor, ohne jedoch bei der Aufzählung der Verbrechen eine solche Einschränkung vorzunehmen. Letztlich einigten sich alle Delegationen in der letzten Sitzung auf einen Kompromiss. In Anlehnung an die amerikanischen Entwürfe wurde der Tatbestand zwar allgemein formuliert, die personelle Reichweite jedoch dadurch eingeschränkt, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs insoweit auf die Verfolgung von Angehörigen der europäischen Achsenmächte eingeschränkt wurde. Eine Definition, wie sie Jackson vorgeschlagen hatte144, wurde nicht in das Statut inkorporiert. In der letzten Sitzung am 2. August 1945 einigten sich die Delegierten zudem auf die Beibehaltung der Tatbestandsüberschriften bei Art. 6 lit. a bis c IMT-Statut, obwohl Nikitčenko sich gegen die Einfügung der Titel ausgesprochen hatte. Er wies außerdem darauf hin, dass bei Art. 6 lit. a IMT-Statut die Bezeichnung „Verbrechen gegen den Frieden“ präziser erscheine. Letztlich akzeptieren alle Delegierten den Vorschlag des Lord­ Chancellor William Jowitt, der den Terminus ‚Verbrechen gegen den Frieden‘ favorisierte und zur Begründung auf die in den Studien von Aron Trajnin anzutreffende Terminologie verwies, die er als gegenüber der bisherigen Rubrizierung als crime of war vorzugswürdig erachtete.145

deemed crimes and shall come within the jurisdiction of the Tribunal: a) Aggression against or domination over other nations carried out by the European Axis in violation of treaties, agreements and assurances; (b) […].“ 141 Redraft of Definition of „Crimes“, Submitted by American Delegation, July 25, 1945, Jackson Report, Dok. XLIX, S. 374: „The following acts shall be deemed criminal violations of International Law, and the Tribunal shall have the power and jurisdiction to convict any person who committed any of them on the part of the European Axis powers.“ 142 Revised Definition of „Crimes“, Submitted by American Delegation, July 30, 1945,­ Jackson Report, Dok. LIV, S. 393: „The Tribunal established by the Agreements referred to in Article 1 hereof shall have the power and jurisdiction to hear, try and determine charges of crime against only those who acted in aid for the European Axis Powers. The following acts, designs and attempts at any of them, shall be deemed to be crimes coming within its jurisdiction: (a) Initiation of a war of aggression […].“ 143 Revision of Definition of „Crimes“, Submitted by American Delegation, July 31, 1945, Jackson Report, Dok. LVI, S. 395: „The Tribunal established by the Agreements referred to in Article 1 hereof shall have the power and jurisdiction to try and determine charges of crime against individuals who and organizations which acted in aid for the European Axis P ­ owers and to impose punishment on those found guilty. The following acts, or any of them, are crimes coming within its jurisdiction for which there shall be individual responsibilty: (a) The Crime of War […].“ 144 Vgl. Proposed Definition of „Aggression“, Submitted by American Delegation, July 25, 1945, Jackson Report, Dok. L, S. 375. 145 Verhandlungsprotokoll v. 2.  Aug. 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. LIX, S.  399, (416 f.); vgl. hierzu Schabas, in: Politi/Nesi (Hrsg.), International Criminal Court, S. 17 (28); Segesser, in: Richter (Hrsg.), Krieg und Verbrechen, S. 219 (220).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

(4) Mutmaßliche Ursachen für den sowjetischen Widerstand gegen die Inkorporation einer Aggressionsdefinition: Furcht vor Anwendung der Aggressionsdefinition auf eigene Handlungen? Einem in der Literatur anzutreffenden Erklärungsversuch für den Grund des sowjetischen Widerstands gegen die Aufnahme einer allgemeinen Aggressionsdefinition ins Statut liegt der Gedanke zu Grunde, dass die Sowjets die spätere Anwendung dieser Norm auf ihre eigene Politik fürchteten.146 Konkreten Anlass hierzu konnten ohne Zweifel der sowjetische Angriff auf Polen am 17. September 1939 oder der im November 1939 stattgefundene Angriff der Sowjetunion auf Finnland sowie der darauf folgende, bis März 1940 dauernde Winterkrieg bieten. Ein Indiz für solche Befürchtungen könnte auch einem Berichtentwurf Molotovs an Stalin im Juli 1945 zu entnehmen sein.147 Darin informierte Molotov Stalin über den Gang der Verhandlungen in London und die beiden Punkte, die noch offen geblieben waren. Von Interesse sind besonders seine kurzen Ausführungen zu den Gründen für die Anweisung der sowjetischen Delegation, diesen Punkten zu widersprechen. Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich die Frage des Sitzes des Tribunals und Art. 6 unabgestimmt. Molotov führte aus, dass die äußerst unbestimmten Formulierungen die Möglichkeit bieten würden, ach solche kriegerische Operationen als Völkerrechtsverbrechen zu qualifizieren, die tatsächlich als Verteidigungshandlungen gegen Aggression durchgeführt worden waren. Es sei allgemein bekannt, dass im Laufe des Krieges die eigenen (sowjetischen) und anglo-amerikanischen Truppen in Deutschland eingedrungen waren. Dieser Umstand dürfe jedoch unter keinem Gesichtspunkt als internationales Verbrechen betrachtet werden. Aus diesem Grund habe man bisher die Annahme dieser Punkte nur unter der Voraussetzung für möglich gehalten, dass ein klarer Hinweis aufgenommen wird, dass es sich um faschistische Aggression handeln müsse. Molotov bat schließlich um Erteilung von weiteren Anweisungen.148 Seine Worte lassen zumindest ein gewisses Maß an Furcht vor Gegenanschuldigungen anschaulich werden, auch wenn insoweit nicht von ausschließlich sowjetischer Vorgehensweise die Rede war. Schließlich war es auch Nikitčenko selbst, der diesen Gedanken in der Londoner Verhandlung aussprach: „In my opinion we should not draw up this definition for the future. The critics will try to find any inconsistencies and any points that are not clear and to turn these points against those who draw up the definition in the charter. In my opinion our task should be to form the basis for the trial not of any criminals who may commit international crimes in the future but of those who have already done so.“149 146 Bassiouni, Introduction, S. 409; Dawson, N. Y.Sch.J.Int’l & Comp.L. 19 (2000), S. 413 (423); Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 81. 147 AVPRF f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 121–123, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 64, S. 211–212. 148 AVPRF f. 07, op. 13, p. 41, d. 3, Bl. 121 (123), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 64, S. 211 (212); hierzu Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (78). 149 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (298).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Die Annahme, das Verhalten der sowjetischen Seite auf der Londoner Konferenz hinsichtlich der Formulierung von Art. 6 IMT-Statut tatsächlich entscheidend durch die Sorge, sich selbst in Zukunft wegen Angriffskriegs juristisch verantworten zu müssen, motiviert war, erscheint indes nicht zwingend. Trajnin äußerte sich in der zwölften Sitzung zwei Mal ausdrücklich zu der Frage, ob aus sowjetischer Sicht der Angriffskrieg auch allgemein als internationales Verbrechen zu werten sei,und zwar unabhängig davon, welchem Land ein solcher Vorwurf zur Last fiele.150 Dazu erklärte der sowjetische Jurist: „There might come a time when there will be a permanent international tribunal of the United Nations organization, but this tribunal has a definite purpose in view, that is to try criminals of the European Axis powers […]. Although, of course aggression or domination would not be permissible by any power, this Tribunal has been established for the trial of European Axis criminals.“151

Dem sowjetischen Konzept entsprechend war die Fixierung der von Jackson geforderten Definition nicht nur im Hinblick auf den verfolgten Zweck entbehrlich, sondern vor allem deshalb praktisch undurchführbar, weil den Konferenzteilnehmern die Kompetenz fehlte, eine allgemeine Definition auszuarbeiten. Viele Male wies Nikitčenko die Delegierten auf die zurückliegenden Konferenzen und Deklarationen hin, infolge derer aus sowjetischer Sicht der Prozesszweck festgelegt und die Kompetenz der Verhandelnden entsprechend beschränkt worden war.152 Die Notwendigkeit, den Begriff ‚Aggressor‘ oder ‚Angriffskrieg‘ im Sinne Jacksons allgemein zu definieren, stellte Nikitčenko jedoch nicht grundsätzlich in Abrede; vielmehr gab er vor, diese Aufgabe den Vereinten Nationen überlassen zu wollen: „If we try to enter a definition of aggression into the charter, that we would not be competent to do, as the Tribunal would not be competent to do so. It would be really up to the United Nations or the security organization which has already been established to go into questions of that sort. There is an international court forming part of the U. N.’s organization which would pass judgment on conflicts and arguments between the different states. The task of the Tribunal is to try war criminals who have committed certain criminal acts.“153

Aron Trajnin, der in seinen Publikationen die Aggression als direkten Verstoß gegen den Frieden und das gefährlichste ‚internationale Verbrechen‘ eingeordnet hatte154, wies selbst auf das Problem der mangelnden Kodifikation hin. Bemerkenswerterweise beriefen sich Jackson und Fyfe zur Untermauerung ihres Standpunkts auf die Arbeiten von Trajnin, während der Autor Trajnin selbst sich für das 150 Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (334, 337). 151 Verhandlungsprotokoll v. 23.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XLIV, S.  328 (333 f.). 152 Jackson Report, S. 298, 302 f., 308, 377, 382, 389. 153 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (303). 154 Hierzu ausf. Kap. B. III.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

sowjetische Konzept stark machte und mit dem Hinweis auf die Beschränkung des Prozesses auf die Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte gegen eine allgemeine Definition der Aggression eintrat. Trajnin erkannte zwar im Laufe der Verhandlungen auch die Notwendigkeit an, dass das Statut nicht nur die konkreten zu verhandelnden Verbrechen bezeichnen, sondern auch die Straftatbestände, die die Grundlage der Anklage bilden sollten, würde offenlegen müssen mit der Folge, dass – ähnlich wie Jackson es vorgeschlagen hatte – eine „declaration of law“ unausweichlich erschien. Er ging jedoch unverändert von dem sowjetischen Gedanken eines ad hoc-Tribunals aus und hatte daher nicht die Fixierung der von Jackson geforderten allgemein formulierten Verbrechenstatbestände vor Augen, sondern derjenigen Verbrechen, für die die vier alliierten Mächte die Anzuklagenden konkret bestrafen sollten. In diesem Zusammenhang erklärte er: „[…] but I still think the question of declaration of law remains. That is the four countries may, for the purpose of this trial, declare certain acts to be criminal; and for the purpose of this trial the laws declared by the Four Powers should be sufficient.“155

Dass sich die Sowjetunion trotz ihrer eigenen Angriffskriege nicht davon abbringen ließ, sich vor und nach 1945 für eine allgemeingültige Definition der Aggression international einzusetzen, zeigen neben den erwähnten Studien von Trajnin ihre Bemühungen um eine solche Definition in anderen Zusammenhängen. Zu erwähnen sind an dieser Stelle der sowjetische Vorschlag einer Definition im Februar 1933156 sowie die Unterzeichnung mehrerer Konventionen zur Definition der Aggression im Juli 1933157. Als Forderungen nach einer Definition der Aggression 1950 wieder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufflammten, konnte die sowjetische Seite wieder unumwunden auf ihre Projekte aus dem Jahr 1933 Bezug nehmen.158 Die sowjetische Definition wurde durch eine Resolution der Generalversammlung am 17. November 1950 ohne nennenswerte Änderungen der International Law Commission (ILC) zugeleitet.159 Sieht man davon ab, dass dieser Einsatz in Anbetracht der realiter geführten Angriffskriege nicht einer ebenso angriffsfreien politischen Realität entsprach, fügte er sich doch auf theoretischer Ebene nicht zuletzt in das Pazifismuspostulat der sowjetischen Ideologie ein. Bedenkt man außerdem, dass der Zweite Weltkrieg die internationale Position der UdSSR insofern grundlegend umgestaltet hatte, als erst er aus 155

Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (335). Abgedr. bei Bassiouni, International Criminal Law, Vol. 1, S. 211–212. 157 Siehe Art.  II, Convention defining aggression between Afghanistan, Estonia, Latvia, Persia, Poland, Rumania, Turkey and the U. S. S. R. v. 3. Juli 1933, abgedr. in Soviet Union Review 11 (1933), S. 169–170 = AJIL 27 (1933), Supplement: Official Documents, S. 192–194, hier 193. Vgl. auch Convention defining aggression between Czechoslovakia, Rumania, Turkey, the U. S. S. R. and Yugoslavia v. 4. Juli 1933, Soviet Union Review 11 (1933), S. 170, sowie AJIL 27 (1933), Supplement: Official Documents, S. 194–195; Convention defining aggression zwischen der UdSSR und Litauen v. 5. Juli 1933, Soviet Union Review 11 (1933), S. 170 und AJIL 27 (1933), Supplement: Official Documents, S. 195. 158 Ausf. Bassiouni, International Criminal Law, Vol. 1, S. 211 ff. 159 Bassiouni, International Criminal Law, Vol. 1, S. 217. 156

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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ihr eine weltweit anerkannte Großmacht hatte entstehen lassen160, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die sowjetischen Machthaber (trotz des aufziehenden sog. Kalten Krieges) reale Befürchtungen hegten, wegen der eigenen Verbrechen juristisch zur Verantwortung gezogen zu werden. Plausibel erscheint daher, den sowjetischen Widerstand gegen Jacksons Konzept in erster Linie auf die sowjetische Gesamtkonzeption dieses konkreten Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher der ­Achsen­mächte zurückzuführen. Erstaunlich bleibt gleichwohl, dass die UdSSR die Chance, die sich ihr durch Jacksons Bemühungen bot, nicht erkannte und nicht entsprechend nutzte.161 bb) Kriegsverbrechen, Art. 6 lit. b IMT-Statut Im Kontrast zu den schwierigen Verhandlungen über den Regelungsinhalt und den Wortlaut des Art. 6 lit. a IMT-Statut gestaltete sich die Formulierung des Tatbestands der Kriegsverbrechen, wie er in Art.  6 lit.  b IMT-Statut enthalten ist, weitaus weniger konfliktträchtig. In den Protokollen der Verhandlungen sind kaum Diskussionen über diesen Teil des Art. 6 IMT-Statut verzeichnet. Die verfügbaren Quellen illustrieren, dass die sowjetische Seite der Regelung über klassische Kriegsverbrechen gegenüber, die der erste amerikanische San Francisco-Entwurf noch als „violations of the customs and rules of warefare“ bezeichnet hatte162, von Anfang an Zustimmung signalisierte. Die vollständige, alle Tatbestände enthaltende Vorschrift wurde im sowjetischen Memorandum vom 9.  Juni  1945 lediglich derart kommentiert, dass sie durch eine ausdrückliche Nennung von Gräueltaten und anderen Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung sowie Plünderung und Zwangsvertreibung der Bevölkerung konkretisiert werden müsse.163 Dass die explizite Aufnahme dieser Punkte für die sowjetische Seite von besonderer Bedeutung war, lässt sich anhand der konsequenten Forderung ihrer Einbeziehung in den Wortlaut der Vorschrift nachvollziehen. In den sowjetischen Änderungsvorschlägen vom 28. Juni 1945 forderte die Sowjet­ regierung erneut die Ergänzung des Verbrechenstatbestandes um einen Hinweis auf die Verantwortlichkeit für die Ermordung und Folter von Kriegsgefangenen sowie die Verschleppung der Zivilbevölkerung zum Zwecke der Zwangsarbeit.164 160 Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  1, S.  XXXI. Beispielsweise zeigte die UdSSR 1946 durch die Umbenennung der Volkskommissariate in Ministerien, also einen Verzicht auf eine Bezeichnung aus der Zeit des revolutionären Umbruchs, ein „gewachsenes Selbstbewußtsein und die Ankunft auf einem neuen Platz der internationalen Politik, die Einnahme eines Großmachtstatus“, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. X. 161 Siehe auch Clark, Wash. U. Global Stud. L. Rev. 6 (2007), S. 527 (531, 534). 162 Amer. Entwurf v. San Francisco (Kap. D., Fn. 1 u. 2), April 1945, Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (24). 163 Ziff. 5 des sowjet. Aide-mémoires v. 9. Juni 1945 (Kap. D. Fn. 25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62). 164 Ziff. 7 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Nachdem Nikitčenko denselben Punkt nochmals ausdrücklich in der zweiten Verhandlungssitzung aufgegriffen hatte, fand er im nächsten amerikanischen Entwurf teilweise Berücksichtigung.165 Dass der sowjetischen Seite an der in Rede stehenden Ergänzung besonders gelegen war, spiegelt sich sodann auch in der für ­Vyšinskij angefertigten Kommentierung des dritten amerikanischen Projekts durch eine Mitarbeiterin des NKID wieder. Darin wurde erneut die fehlende Referenz auf die Verschleppung zur Zwangsarbeit bemängelt verbunden mit der Anweisung, auf diesem Punkt zu beharren.166 Vyšinskij stimmte dem zu.167 Ein Entwurf der Anweisungen, die für den sowjetischen Botschafter zur Weiterleitung an Nikitčenko bestimmt waren, empfahl dementsprechend, auf dieser Ergänzung weiterhin zu bestehen.168 Nachdem der Statut-Entwurf des Unterkomitees vom 11. Juli 1945 den sowjetischen Forderungen entsprochen hatte169, fanden von der sowjetischen Delegation begehrten Ergänzungen schließlich in abgeändertem Wortlaut und in einer anderen Reihenfolge Eingang in die Endfassung des Art. 6 lit. b IMT-Statut. cc) Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Art. 6 lit. c IMT-Statut Das Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit hielt hingegen erst allmählich Einzug in die verschiedenen Entwürfe der Londoner Konferenz.170 Besondere Herausforderung bei der Schaffung dieser Norm lag insbesondere in dem Umstand begründet, dass bestimmte Verbrechen, wie zum Beispiel die Behandlung eigener Staatsangehöriger vor Kriegsbeginn, sich nicht mit dem klassischen Konzept der Kriegsverbrechen erfassen ließen und für ihre Bestrafung ein eigener, spezifischer Tatbestand formuliert werden musste.171

165 Art. 5 (a)  des amer. Entwurfs v. 30.  Juni 1945 (Fn.  88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (121) – dieser zählte nunmehr „mass murder and ill-treatment of prisoners of war and civilian population and the plunder of such populations“ auf. 166 Bericht v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (68). 167 Vgl. seine handschriftliche Anmerkung „stimme zu“, Bericht v. 5.  Juli 1945 (Fn.  48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (68). 168 Entwurf vom 6. Juli 1945 (Fn. 48), AVPRF f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 64. 169 Art. 6 (a) des Entwurfs des Unterkomitees v. 11. Juli 1945 (Fn. 14), Jackson Report, Dok. XXV, S. 194 (197). 170 Zur Entstehung von Art.  6 lit.  c IMT-Statut ausf. Clark, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S.  177–199; ders, in: Sadat (Hrsg.), Forging  a Convention, S.  8 (8 ff.); Bassiouni, Crimes Against Humanity, S. 111 ff., 117 ff.; Kirsch, Begehungszusammenhang, S.  38 ff.; zur weiteren Entwicklung der Völkerrechtsnormen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit siehe Safferling, Internationales Strafrecht, S.  180 ff.; Reshtov, in: ­Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S.  199–212; Bassiouni, Crimes Against­ Humanity, S. 167 ff.; Robertson, Crimes Against Humanity, S. 32 ff. 171 Zur Entstehung der Norm ausf. Clark, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 177 (181 ff.).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

249

Der sowjetische Entwurf enthielt keinen gesonderten Tatbestand für Gräuel­ taten, die über klassische Kriegsverbrechen hinausgingen.172 Auch lassen sich ihm keine Anhaltspunkte entnehmen, dass die sowjetische Delegation zu Beginn der Konferenz die konkrete Absicht hatte, Verbrechen, die in Deutschland gegen die eigene Zivilbevölkerung vor oder nach Kriegsbeginn begangen worden waren, überhaupt einer Verfolgung zuzuführen. Aufschluss über das sowjetische Verständnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bietet schon das 1944 ver­öffentlichte und ins Englische übersetzte Werk von Trajnin „Ugolovnaja otvetstvennost’ Gitlerovcev“ (engl. Titel: Hitlerite Responsibility Under Criminal Law).173 Neben der selbstständigen Kategorie „Verbrechen der Hitleristen gegen den Frieden“174 behandelte Trajnin auch die sog. „Verbrechen der Hitleristen im Zusammenhang mit dem Krieg“175, die er in vier Verbrechenskategorien einteilte. Darunter befand sich einerseits der Typus der klassischen Kriegsverbrechen, nämlich Verbrechen gegen Kriegsgefangene und verwundete bzw. kranke Soldaten. Eine andere Kategorie bildeten die sog. „Verbrechen gegen die friedlichen Bürger“176, deren detaillierte Beschreibung jedoch Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung vor Kriegsbeginn nicht aufgriff. Der Bezug zur deutschen Bevölkerung findet sich lediglich in einem Zitat Trajnins aus einer Note des Volkskommissars Molotov vom 27. April 1942177 wieder, in der Molotov von der „Hitlerite clique, born in violent acts against its own people“ sprach.178 Die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung behandelte er jedoch nicht, sondern widmete sich den Gräuel­taten, die die deutschen Besatzungsmächte während des Kriegs gegenüber anderen Zivilbevölkerungen begangen haben. Die Verfolgung namentlich jüdischer Mitbürger griff Trajnin zwar explizit auf, betrachtete sie aber lediglich innerhalb des dargestellten Rahmens des Besatzungsverhaltens: „Among the atrocities committed by the Hitlerites against the Jewish population of the territories they occupied, the system of wholesale massacre reached such dimensions as are difficult for the human consciousness to realize. […] They are not the result of anti-­ Semitism or war excesses. They represent a blood bath organized by means of the machinery of the State, in broad daylight, under the eyes of shocked humanity. Great will be the responsibility for these atrocities.“179

172 Vgl. Art. 2 des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (169); ähnlich in Art. 6 des sowjet. Entwurfs zur Definition von Verbrechen v. 23. Juli 1945 (Fn. 136), Jackson Report, Dok. XLIII, S. 327. 173 Dazu weiter in Kap. B. III. 6. 174 Ü. d. Verf., Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 41 ff.; Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 42 ff. 175 Ü. d. Verf., Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 45 ff.; Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 46 ff. 176 Ü. d. Verf., Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 53 ff.; Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 54 ff. 177 Note v. 27. April 1942 (Fn. 32). 178 Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 54; Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 53. 179 Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 58, 59; Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 57.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Anhaltspunkte, dass die Verfolgung von deutschen Juden nach Auffassung Trajnins einen eigenständigen, völkerrechtlichen Straftatbestand erfüllen könnte, sind seinem Werk dagegen nicht zu entnehmen. Vielmehr lässt sich bei ihm die auch in London von sowjetischer Seite vertretene Grundhaltung nachvollziehen, dass alle Gräueltaten innerhalb der Kategorie der Kriegsverbrechen abgestraft werden sollten, während auf vor Kriegsbeginn begangene Verbrechen gegen die deutsche Zivilbevölkerung nicht gesondert eingegangen wurde. Die Vertreter der anderen Delegationen auf der Londoner Konferenz waren hingegen bereits vermittelt über ihre jeweiligen Vertreter in der UNWCC mit dem Themenkomplex durch die ausgiebigen Diskussionen über das Konzept der klassischen Kriegsverbrechen sowie die Strafbarkeit der darüber hinausgehenden ­Gräueltaten konfrontiert worden.180 Gerade weil sich die britischen und amerikanischen UNWCC-Mitglieder für die Strafbarkeit der über klassische Kriegsverbrechen hinausgehenden Gräueltaten gegen die deutsche Zivilbevölkerung in der UNWCC eingesetzt hatten, erscheint es naheliegend, dass die Problematik einer diesbezüglichen ‚Öffnung‘ des klassischen Kanons an Kriegsverbrechen den amerikanischen, britischen und französischen Konferenzteilnehmern zumindest allgemein geläufig sein musste. David Maxwell Fyfe wies während der Londoner Konferenz im Zusammenhang mit dieser Diskussion explizit darauf hin, dass die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen an Juden politisch besonders wichtig sei, da ihre Behandlung das britische Volk und alle Vereinten Nationen schockiert hätten. Er berichtete, dass er den Wünschen von jüdischen Verbänden, die sich an ihn gewandt hätten, in dieser Hinsicht gerne entsprechen wolle.181 Die oben geschilderte sowjetische Fassung des späteren Art. 6 begegnete der Kritik ­Jacksons, der im Statut zwar über das Verständnis der Kriegsverbrechen im engeren, klassischen Sinne hinausgehen wollte, gleichzeitig aber betonte, dass die (unrecht­ mäßige)  Behandlung eigener Staatsangehöriger grundsätzlich nicht eine fremde oder internationale Einmischung in diese staatsinternen Angelegenheiten rechtfertigen könne. Auf internationaler Ebene sah er den Strafgrund für Verbrechen, die von deutschen Behörden im eigenen Land begangen worden sind, z. B. die Verfolgung der Juden oder die Beschneidung der Rechte von Minderheiten, Deportationen und Ähnliches, nur in Verbindung mit dem Argument, dass es sich bei diesen Einzelakten um einen Teil des Plans handelte, einen völkerrechtswidrigen Krieg zu führen.182 Der sowjetische Vorschlag bildete im weiteren Verlauf die Grundlage für einen Neuentwurf durch die Briten, der einen von klassischen Kriegsverbrechen unab 180 Über die Diskussion innerhalb der UNWCC siehe ausf. Kochavi, Prelude, S.  138 ff.; Clark, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 177(179 f.); Aroneanu, Verbrechen, S. 12 ff. 181 Verhandlungsprotokoll v. 23.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XLIV, S.  328 (329). 182 Verhandlungsprotokoll v. 23.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XLIV, S.  328 (331 ff.).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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hängigen Straftatbestand für Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung normierte und die Strafbarkeit dieser Verbrechen entsprechend Jacksons Forderung an die Verfolgung eines Planes der Aggression knüpfte.183 In den Diskussionen der darauffolgenden Sitzung konnte jedoch noch keine Einigung erzielt werden. Ein weiterer sowjetischer und ein amerikanischer Entwurf folgten.184 Der Wortlaut des Art. 6 lit. c IMT-Statut mit seiner Ausweitung der Geltung ratione temporis auf den Zeitraum vor und während des Krieges, der Verbindung zu anderen Verbrechen, für die das Tribunal zuständig war, der Einbeziehung von Verbrechen gegen irgendeine, also auch deutsche, Zivilbevölkerung sowie der Hinweis auf die Unerheblichkeit des damals geltenden deutschen Rechts, ist als Kompromiss­ lösung zu werten, in die sowohl sowjetische Bemühungen als auch die der übrigen Beteiligten eingeflossen sind. Die Schaffung des Tatbestands ist auf britisch-­ amerikanischen Einsatz zurückzuführen. Die sowjetische Seite, die erst keinen eigenen Tatbestand für Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Blick hatte, akzeptierte allerdings im Laufe der Verhandlungen ohne großen Widerstand diese von Jackson und Fyfe vorangetriebene Differenzierung. Die hierbei zugrunde gelegte Terminologie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf Hersch Lauterpacht zurückführen, den Jackson im Juli 1945 in London traf und der ihm die drei Verbrechenstypen, die in der Charta verankert worden sind, vorgeschlagen haben soll.185 b) Art. 7 und Art. 8 IMT-Statut Die Formulierung von Art. 7 und 8 IMT-Statut verlief ohne nennenswerte Reibungen. Schon der erste amerikanische Entwurf enthielt eine Regelung, die die Verteidigung mit dem Argument der amtlichen Stellung als Staatsoberhaupt oder als leitender Beamter ausdrücklich für unzulässig erklärte.186 Auch war dem Einwand des Befehlsnotstands in der Form Rechnung zu tragen, dass dem Befehl eines Vorsetzten die Wirkung eines Strafausschließungsgrunds versagt blieb, jedoch als Verteidigungsvorbringen oder Strafmilderungsgrund Berücksichtigung

183 Redraft of Soviet Definition of „Crimes“ (Article 6), Submitted by British Delegation v. 23. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XLVI, S. 359. 184 Redraft of Definition of „Crimes“, Submitted by Soviet Delegation v. 25.  Juli 1945 (Fn.  140), Jackson Report, Dok. XLVIII, S.  373, sowie Redraft of Definition of „Crimes“, Submitted by American Delegation v. 25. Juli 1945 (Fn. 141), Jackson Report, Dok. XLIX, S. 374. 185 Robinson, Isr. Law Rev 7 (1972), S. 1(3); Clark, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 177 (189 f.). 186 Ziff. 10 des amer. Entwurfs v. 3.  Mai 1945 (San Francisco) (Kap.  D., Fn.  2), Jackson­ Report, Dok. IV, S. 22 (24): „The parties to this Agreement declare that any defense based upon the fact that the accused is or was the head or purported head or other principal official of a state is legally inadmissible, and will not be entertained by any tribunal before which charges brought pursuant to this Agreement are tried.“

252

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

finden können sollte.187 Die sowjetische Seite unterbreitete in ihrem Memorandum vom 9. Juni 1945 einen Änderungsvorschlag in Bezug auf die Regelung des Befehlsnotstands, dem zufolge der Einwand des Befehlsnotstands nicht als ein die „Schuld rechtfertigender Umstand“ („justifying the guilt circumstance“)188 betrachtet werden dürfe, ohne jedoch eine etwaige Berücksichtigung im Rahmen der richterlichen Erwägungen zur Strafzumessung überhaupt zu thematisieren. Gleich zu Beginn der Verhandlungen erklärte die sowjetische Delegation indes, dass die amerikanischen Regelungen im zweiten amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945 zur amtlichen Stellung der Angeklagten und zum Befehlsnotstand189 als akzeptable Basis zu Weiterverhandlungen angesehen werden könnten.190 Als die amerikanische Delegation am 30. Juni 1945 ihren dritten Entwurf mit der darin vorgesehenen Strafmilderungsmöglichkeit in Konstellationen des Handelns auf Befehl vorlegte191, sah die sowjetische Seite keine Veranlassung, Änderungen hierzu vorzuschlagen.192 Der sodann am 2. Juli 1945 vorgelegte eigene Entwurf der sowjetischen Seite enthielt einen eigenen, drei Artikel umfassenden 187

Ziff. 11 des amer. Entwurfs v. 3. Mai 1945 (San Francisco) (Kap. D, Fn. 2), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (24): „The fact that a defendant acted pursuant to order of a superior or gov­ernment sanction shall not constitute an absolute defense but may be considered either in defense or in mitigation of punishment if the tribunal before which the charges are being tried determines that justice so requires.“ 188 Ü. d. Verf., Ziff. 7 des sowjet. Aide-mémoire (Kap. D. Fn. 25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62). 189 Ziff. 14 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 13), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (58): „In any trial before an International Military Tribunal any defense based upon the fact that the accused is or was the head or purported head or other principal official of a state is legally inadmissible and will not be entertained.“ und Ziff. 15 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945, ebd.: „In any trial before an International Military Tribunal the fact that a defendant acted pursuant to order of a superior or government sanction shall not constitute a defense per se, but may be considered either in defense or in mitigation of punishment if the tribunal determines that justice so requires.“ 190 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (96). Ähnliches erwähnte Trajnin in der zweiten Verhandlungssitzung am 29. Juni 1945, Verhandlungsprotokoll v. 29.  Juni 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XVII, S.  97 (110). Bereits 1944 befasste sich Trajnin mit der Bedeutung des Befehls in völkerstrafrechtlicher Hinsicht in seinem Werk „Ugolovnaja otvetstvennost’“. Darin führte er aus, dass der Befehl eines Vorgesetzten den Untergebenen jedenfalls dann nicht von seiner Verantwortung befreien könne, wenn der kriminelle Charakter des Befehls offensichtlich war, Trajnin, Ugolovnaja­ otvetstvennost’, S. 91; Trainin, Hitlerite Responsibilty, S. 90 191 Ziff. 16 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (124) = Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (180): „Any defense based upon the fact that the accused is or was the head or purported head or other principal official of a State is legally inadmissible and will not be entertained“ und Ziff. 17 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn.  88), Jackson Report, Dok. XVIII, S.  119 (124) = Jackson Report, Dok. XXIII, S.  165 (181): „The fact that a defendant acted pursuant to order of a superior or government sanction shall not constitute a defense per se, but may be considered either in defense or in mitigation of punishment if the tribunal determines that justice so requires.“ 192 Bericht zum 3. amer. Entwurfs von Osničkaja v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (73).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Abschnitt „Verantwortlichkeit“, der die Frage der amtlichen Stellung und des Befehlsnotstands abdeckte.193 Zur Frage der amtlichen Stellung der Angeklagten sah der sowjetische Entwurf in Art. 28 vor, dass weder die Stellung als Staatsoberhaupt oder Leiter einer Abteilung von der Verantwortlichkeit befreien sollte noch als Milderungsgrund berücksichtigt werden konnte.194 Art. 29 („Erfüllung von Befehlen“) sah sodann eine an den amerikanischen Vorschlag angenäherte Regelung vor, in der die Strafmilderung für diejenigen Fälle in das richterliche Ermessen gestellt wurde, in denen der Untergebene bei der Ausführung eines Befehls blindlings (blindly) gehandelt hatte.195 Der Vergleich des sowjetischen Entwurfs und der im Unterkomitee am 11. Juli 1945 ausgearbeiteten Formulierung mit der Endfassung des Art. 7 IMT-Statut lässt eine starke Anlehnung des Wortlauts an den sowjetischen Formulierungsvorschlag erkennen. Der Wortlaut von Art.  8 IMT-­ Statut lehnt sich dagegen stark an den amerikanischen Formulierungsvorschlag an. ­Nikitčenko griff die Frage des Befehlsnotstands am Ende der Verhandlungen erneut in sehr grundsätzlicher Form wieder auf. Er betonte, dass er zwar keine Änderungen vorschlagen, jedoch die Frage aufwerfen wollte, ob man bei Hauptkriegsverbrechen überhaupt von einem Befehlsnotstand sprechen könnte.196 Ohne sich grundsätzlich gegen die ratio einer solchen Vorschrift auszusprechen, gab er zu bedenken, dass es bei dieser Art von Kriegsverbrechern an sich nicht notwendig sei, von Befehlsbefolgung zu sprechen. Der sowjetische Delegationsleiter lenkte jedoch nach einer kurzen Diskussion rasch ein, sodass diese Vorschrift ohne weitere Modifikationen Eingang in das Statut finden konnte. c) Art. 9 bis Art. 11 IMT-Statut Zu den am kontroversesten diskutierten Regelungen zählen die die ‚Anklage‘ von Organisationen betreffenden Art. 9 und 10 IMT-Statut. Die Konstruktion des Organisationsverbrechens und der damit verknüpfte Verschwörungsgedanke bildeten einen der Kernpunkte des amerikanischen Modells für das internationale Tribunal.197 Das Ziel bestand darin, durch ein klares Präjudiz, nämlich ein gericht 193

Abschnitt IX (Otvetstvennost’/Liability) des sowjet. Entwurfs v. 2.  Juli 1945 (Fn.  53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (180–181). 194 Art. 28 (Dolžnostnoe položenie/official position) des sowjet. Entwurfs v. 2.  Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (180 f.). 195 Ü. d. Verf., Art. 29 (Ispolnenie prikaza/Carrying out of an Order) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (181). 196 Verhandlungsprotokoll v. 24. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLVII, S. 367 f. 197 Jackson bezeichnete die Verknüpfung des Verschwörungsgedankens mit der Anklage von Organisationen als „the heart of our proposal“, Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XVII, S.  129 (129). Zur Entstehung des amer. Konzepts siehe ausf. Smith, Road to Nuremberg, S.  48 ff.; Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S.  54 ff. sowie P ­ omorski, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 213 (215 ff). Zur Herkunft des strafrechtlichen Verschwörungskonzepts sowie zum Verschwörungs-‚Verbrechen‘ im Rahmen des IMT-Statuts siehe Safferling, KritV 2010, S. 65–82.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

liches Urteil über den verbrecherischen Charakter einer Organisation, die Verantwortlichkeit einer Vielzahl von einzelnen Mitgliedern zu konstruieren, sodass sie in nationalen Verfahren wegen ihrer Zugehörigkeit strafrechtlich verfolgt werden konnten.198 In den Folgeprozessen gegen Organisationsmitglieder sollten die Freiwilligkeit der Organisationszugehörigkeit und die Kenntnis der kriminellen Ziele der Vereinigung vermutet werden mit der Folge, dass dem Angeklagten die Beweislast für das Gegenteil auferlegt werden würde.199 Für Nachverfahren, die sich mit der Bestrafung der Mitglieder solcher ORganisationen befassen sollten, wurde sodann Art. II Ziff. 1 d) des Kontrollratsgesetzes Nr. 10200 geschaffen, der die Zugehörigkeit zu Vereinigungen oder Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen Militärgerichtshof festgestellt worden war, zu einem Verbrechen erklärte. aa) Anfänglicher sowjetischer Widerstand gegen die Aufnahme von die Organisationen betreffenden Normen In der zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess erschienenen Literatur findet nicht selten die ablehnende Haltung der sowjetischen Seite zur Idee der gerichtlichen Anklage von Organisationen besondere Erwähnung.201 Dieser Befund 198

Vgl. das amer. Memorandum v. 30.  April 1945, (Kap.  D, Fn.  1 u. 2), Jackson Report, Dok. V, S. 28 (32–33): „The findings of the tribunal in the trial provided for in paragraph a above should be taken to constitute  a general adjudication of the criminal character of the groups and organizations referred to, binding upon all the members thereof in their sub­ sequent trials in occupation tribunals or in other tribunals established under this instrument. In these subsequent trials the only necessary proof of guilt if any particular defendant, as regards the charge of complicity, should be his membership in one of those organizations. Proof should also be taken of the nature and the extent of the individual’s participation.“ Vgl. hierzu ­Rauschenbach, Nürnberger Prozeß, S. 12; siehe auch Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 1035; Hahnenfeld, Herkunft, S. 120; Pomorski, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 213 (220). 199 So explizit in Ziff. 21 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (59): „[…] Upon proof of membership in such an organization, the burden shall be upon the defendant to establish any circumstances relating to his membership or participation therein which are relevant either in defense or in mitigation.“ Ziff.  23 des amer. Ent­ wurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (125) = Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (181–182): „[…] Upon proof of membership in such an group or organization, such person shall be deemed to have participated in and be guilty of its criminal activities unless he proves the absence of voluntary participation.“ 200 Kontrollratsgesetz Nr. 10 v. 20. Dez. 1945 betr. die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, in Kraft getreten am 24. Dezember 1945 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 3 [1946], S. 50–55, ber. Nr. 13 [1946], S. 241); für die Bundesrepublik Deutschland geändert durch Art. 2 des Gesetzes Nr. A-37 der Alliierten Hohen Kommission vom 5.5.1955 (ABl. AHK 126/1955, S. 3267–3270) und aufgehoben durch § 1 i. V. m. Anl. 2 zu § 2 des Ersten Gesetzes zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. I. S. 437–445) – jedoch ohne Aufhebung der bisherigen Rechtsauswirkungen dieses Gesetzes. 201 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 81; Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 64.

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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trifft jedoch nur für die sowjetische Position vor Beginn der Konferenz und den anfänglichen Standpunkt in den Verhandlungssitzungen in London zu. So enthält das sowjetische Aide-mémoire vom 9. Juni 1945 einen Hinweis darauf, dass dem Alliierten Kontrollrat in Übereinstimmung mit der Krim-Deklaration die Kompetenz verliehen sein sollte, verbrecherische Organisationen zu verbieten und aufzulösen.202 In den Direktiven, die Trajnin und Nikitčenko am 24. Juni 1945 vor ihrer Abreise nach London von Vyšinskij erhielten, befand sich u. a. auch die Anordnung, auf den sowjetischen Veränderungsvorschlägen zum San FranciscoEntwurf auch insoweit zu bestehen.203 Entsprechend wies Nikitčenko bereits in der ersten Sitzung darauf hin, dass schon die Krim-Deklaration die NS-Organisationen für illegal und kriminell erklärt habe und die Arbeit der Verhandlungsteilnehmer diese Erklärung der Regierungschefs zum Ausgangspunkt nehmen müsste.204 Ein gleichlautendes Änderungsbegehren fand sich auch in den sowjetischen Anmerkungen zum zweiten amerikanischen Entwurf vom 28. Juni 1945 wieder.205 bb) Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Bemühungen um gegenseitige Aufklärung Unabhängig vom genannten Zuständigkeitsargument sah sich die sowjetische Delegation in der Verhandlung vor allem mit der Schwierigkeit konfrontiert, den amerikanischen Vorschlag in seiner konkreten Form überhaupt inhaltlich zu erfassen.206 Aus den ersten amerikanischen Entwürfen, dem San Francisco-Memorandum sowie seiner überarbeiteten Version vom 14. Juni 1945, ging nämlich nicht hinreichend deutlich hervor, in welcher exakten Form Organisationen vor Gericht gestellt werden sollten. Äußerst missverständliche Formulierungen wie „organizations […] may be charged […] with criminal acts“207, „conviction of an organization“208 oder „bring to trial […] the major criminals, including organizations“209 202

Ziff. 8 des sowjet. Aide-mémoires v. 9. Juni 1945 (Kap. D, Fn. 25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62). 203 Ziff. 2 der Direktiven v. 24. Juni 1945 (Kap. D. Fn. 25), Diplomatičeskij vestnik 1995, No 12, S. 74 (75). 204 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (72); hierzu Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 64. 205 Ziff. 12 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94): „Articles 21 and 22 of the draft, concerning the criminal resposibility of organizations, should be eliminated for the reasonst’which were set forth by the Soviet Delegation at the session of June 26.“ 206 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 64 ff. 207 Art. 12 lit. c des Entwurfs v. San Francisco (Kap. D, Fn. 1 u. 2), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25). 208 Art.12 lit. d, des Entwurfs v. San Francisco (Kap. D, Fn. 1 u. 2), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25). 209 Art. 10 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (57).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

veranlassten die sowjetische Seite zu der Annahme, dass Organisationen entsprechend dem im angloamerikanischen Strafrecht in begrenzter Form entwickelten Verbandsstrafrecht210 selbst als Personenverbände angeklagt und bestraft werden sollten: „[W]hen we examined the first draft of the American proposal, we actually made our notes on that draft, and what we were protesting against really was the wording of 21 and 22. We understood from this, perhaps incorrectly, that it was the question of the trial of organizations without individuals and that the organization would simply be tried as a body. We considered that to be wrong. We considered that the trial of the organization should be through the individuals, and therefore we suggested the exclusion of that portion of the memorandum.“211

Erst im Verlauf eines langwierigen, bis zum Ende der Verhandlungen sich erstreckenden Meinungsaustausches konnte allmählich Einvernehmen darüber erzielt werden, zu welchem Zweck und in welcher Funktion der Prozess gegen Organisationen stattfinden sollte, auch wenn man sich der missverständlichen Wortwahl, wie etwa Jacksons Formulierung „main trial to establish the guilt of the organizations“212 belegt, weiterhin bediente. Verständnisschwierigkeiten barg die Vereinbarkeit des strafrechtlichen Prinzips der individuellen, kriminellen Schuld mit der nicht immer übersichtlichen Idee der Organisationenverfolgung. Die Anklage von Organisationen als Personenverbänden selbst erwies sich für die sowjetische Seite in erster Linie aus dogmatischen Gründen als nicht praktikabel, da dem sowjetischen Strafrecht eine Verbandsstrafe für juristische Personen oder Personenvereinigungen fremd war.213 Die anfängliche sowjetische Forderung nach Streichung der die Organisationen betreffenden Normen214 führte auf Seiten der Amerikaner zu der gleichermaßen nachvollziehbaren Annahme, dass die sowjetische Delegation gegenüber einem Verfahren gegen nationalsozialistische­ Organisationen in jeder Form ablehnend gegenüber stand.215 Die meisten dieser Fehlinterpretationen konnten in der dritten Verhandlungssitzung am 2. Juli 1945 ausgeräumt werden. Die sowjetische Position wurde in sehr ausführlicher Form von Delegationsleiter Nikitčenko wie folgt zusammengefasst: 210

Vgl. Rauschenbach, Nürnberger Prozeß, S. 19. Nikitčenko in der Verhandlung v. 2. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (137). Zur von Anfang an bestehenden Absicht, lediglich den verbrecherischen Charakter von Organisationen festzustellen und nicht Organisationen als Verbände zu bestrafen, vgl. R ­ auschenbach, Nürnberger Prozeß, S. 14 ff. 212 Verhandlungsprotokoll v. 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (141). 213 Nikitčenko ausf. in der Sitzung am 2.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (134 ff.). 214 Ziff. 8 des sowjet. Aide-mémoires v. 9.  Juni 1945 (Kap.  D. Fn.  25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (62); Ziff. 12 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94). 215 Vgl. Jackson zu Beginn der Sitzung am 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (129): „I understand the Soviet memorandum to reject the possibility of trying organizations.“ 211

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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„The view that the Soviet Delegation has excluded the possibility of the trial of members of organization for criminal participation in the work of such organizations is not correct. The Soviet law, criminal law, fully recognizes in exactly the same way as the French, and probably others, the collective responsibility of members of an organization for the crimes committed by the organization. […] Where we do not agree is in the idea that the trial of organization should form actually the basis of the agreement for the trial of criminals. An organization is not a physical body, but the members of that organization are physical, and, if they have committed individual crimes as members of the organization, then they should be tried individually as physical persons who have committed acts because they were members of a criminal organization.“216

Jackson erläuterte seinerseits ausführlich, dass auch aus amerikanischer Sicht der verbrecherische Charakter einer Organisation durch individuelle Taten von Einzelpersonen manifestiert werde und nicht, wie von sowjetischer Seite vermutet, nach einem Prozess gegen die Organisation selbst von ihr auf die individuelle Schuld einzelner Hauptkriegsverbrecher geschlossen werden sollte.217 In der Sache konnten auf diese Weise während der Sitzung am 2. Juli 1945 zahlreiche Missverständnisse ausgeräumt werden. cc) Endgültige Aufgabe des sowjetischen Widerstandes gegen die Idee der Organisationenverfolgung Nachdem die Amerikaner am 30.  Juni 1945 ihren dritten Entwurf vorgelegt hatten, riet die sowjetische Gutachterin Osničkaja hinsichtlich der Regelungen zu verbrecherischen Organisationen dazu, die zuvor erteilten Anweisungen an­ Nikitčenko und Trajnin aufrecht zu erhalten, dass nämlich nur der Kontrollrat mit der grundsätzlichen Befugnis ausgestattet sein sollte, Organisationen für verbrecherisch zu erklären, dass jedoch das Tribunal eine solche Bestimmung im Zusammenhang mit der Verurteilung einer führenden Persönlichkeit dieser Organisation ebenfalls sollte treffen können.218 Diesem Vorschlag stimmte Vyšinskij zu.219 Schon am 12. Juli 1945 wies das NKID die sowjetischen Vertreter in London an, den Vorschriften betreffend die Verantwortlichkeit der Organisationen nicht weiter zu widersprechen.220 In der Verhandlung vom 13. Juli 1945 brachte Trajnin die volle Zustimmung der sowjetischen Seite in Bezug auf die gerichtliche Etikettierung von Organisationen als verbrecherisch unmissverständlich zum ­Ausdruck.221 216

Verhandlungsprotokoll v. 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (134). Verhandlungsprotokoll v. 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (137 f.). 218 Bericht v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (74). 219 Vgl. die handschriftliche Anmerkung Vyšinskijs „einverstanden“, Bericht v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (74). 220 In dem Bericht von Osnickaja v. 17. Juli 1945 zum Entwurf des Unterkomitees (Fn. 14), Jackson Report, Dok. XXV, S. 194–201) wird auf dieses Telegramm mit dem dargestellten Inhalt Bezug genommen (Fn. 50), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 62, S. 207 (208). 221 Verhandlungsprotokoll v. 13. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXVII, S. 211 (218). 217

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

dd) Exkurs: Das Prinzip der gemeinschaftlichen Verantwortung im sowjetischen Strafrecht und im Völkerstrafrecht aus sowjetischer Perspektive Die schlussendlich aufgeschlossene Haltung der Sowjetunion gegenüber der Konzeption einer Organisationsverantwortlichkeit, die im Nachgang als Zurechnungsgrund für individuelles Fehlverhalten fungieren sollte, dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass auch dem seinerzeitigen sowjetischen Strafrecht und einem seiner zentralen Protagonisten, Trajnin, das Prinzip der gemeinschaftlichen Verantwortung bzw. Beteiligung (součastie, engl. complicity) keineswegs fremd war.222 (1) Gemeinschaftliche Verantwortung im System des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926 Art. 17 des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926223 bestimmte: „Maßnahmen des sozialen Schutzes gerichtlich-bessernder Art werden ebenso wie auf Personen, die das Verbrechen ausgeführt haben – die Täter –, auch auf Personen angewandt, die daran teilgenommen haben – Anstifter und Gehilfen. Als Anstifter gelten Personen, die zur Begehung des Verbrechens bestimmt haben. Als Gehilfen gelten Personen, die zur Ausführung des Verbrechens durch Ratschläge, Hinweise, Zur-Verfügung-Stellen von Mitteln, Beseitigen von Hindernissen oder die zum Verbergen des Täters oder der Spuren des Verbrechens beitragen.“224

Gemäß Art. 18 StGB RSFSR waren die Maßnahmen des sozialen Schutzes gerichtlich-bessernder Art für jeden Teilnehmer einzeln zu bestimmen und richteten sich nach dem „Umfang seiner Teilnahme an dem betreffenden Verbrechen als auch nach dem Grad der Gefährlichkeit dieses Verbrechens und der Person des Teilnehmers“225. Zu den Maßnahmen des sozialen Schutzes gerichtlich-bessern­ der Art zählten nach Art.  20 unterschiedliche Maßnahmen und Kriminalstrafen, darunter z. B. die Erklärung zum Feind der Werktätigen und Aberkennung der Staatsangehörigkeit, aber auch Freiheitsentziehung, Besserungsarbeit, Verschickung, öffentlicher Tadel oder Geldstrafen usw.226 Die Norm des Art. 17 StGB RSFSR enthielt damit zum einen eine Legaldefinition des unmittelbar handeln 222

Für eine ausf. Darstellung siehe Trajnin, Učenie o sostave prestuplenija, Kapitel IV, S. 141 ff. Zum StGB RSFSR (Ugolovnyj kodeks) 1926 siehe die Nachw. in Kap. B, Fn. 201. 224 StGB RSFSR (Kap. B, Fn. 201), vgl. die Übersetzung bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (4). 225 StGB RSFSR (Kap. B, Fn. 201), vgl. die Übersetzung bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 1 (4). 226 StGB RSFSR (Kap. B, Fn. 201), vgl. die Übersetzung bei Gallas, Strafgesetzbuch, S. 5; insgesamt kannte das sowjetische Strafrecht drei Kategorien von Maßnahmen des sozialen Schutzes. Neben den o. g. Maßnahmen gerichtlich-bessernder Art fasste Art. 24 unter Maßnahmen des sozialen Schutzes medizinischer Art die Zwangsheilung und die Unterbringung in einer Heilanstalt, verbunden mit Isolierung, sowie unter die Maßnahmen des sozialen Schutzes medizinisch-pädagogischer Art die Überweisung von Minderjährigen unter eine Obhut und die Unterbringung in einer besonderen heilpädagogischen Anstalt. 223

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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den Alleintäters, der das Verbrechen unmittelbar ausführen, d. h. alle Tatbestandsmerkmale in eigener Person verwirklichen musste. Ferner ließ sich ihr nach ihrem eindeutigen Wortlaut die Rechtsfigur der Teilnahme an einer fremden Tat entnehmen, und zwar in den beiden auch dem geltenden deutschen Strafrecht bekannten Formen der Anstiftung (§ 26 StGB) und der Beihilfe (§ 27 StGB). Beide Teilnahmeformen setzten eine Haupttat voraus und folgten damit dem auch im System des deutschen Teilnahmestrafrechts227 wesenstypischen Prinzip der Akzessorietät. Das sowjetische Recht wich damit insgesamt nicht wesentlich von den deutschen und französischen Rechtsordnungen ab.228 Dagegen sind die aus dem geltenden deutschen Strafrecht bekannten, ebenfalls unter den Begriff der Beteiligung (vgl. § 28 Abs. 2 StGB) fallenden weiteren Täterschaftsformen, nämlich die mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB) und die Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB)229, vom Wortlaut des Art. 17 des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926 nicht 227

Siehe Fischer, StGB, Vor § 25 Rdnrn. 1, 6, § 26 Rdnr. 2, § 27 Rdnr. 3 m. w. Nachw. Zu den Voraussetzungen der Anstiftung sowohl im deutschen als auch im französischen Recht und für eine Kurzdarstellung des sowjetischen Rechts sowie zu Mittäterschaft und Beihilfe, siehe Hahnenfeld, Herkunft, S. 86 ff., 96 ff., 98 ff., 108 ff. 229 Ein mittelbarer Täter begeht die Straftat durch eine andere Person, verwirklicht also die Tatbestandsmerkmale nicht oder nicht sämtlich durch unmittelbar eigenes Handeln, sondern bedient sich dazu eines Tatmittlers. Die Mittäterschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mittäter die Tat gemeinschaftlich mit einem oder mehreren anderen als Täter begeht. Zur­ Figur des mittelbaren Täters und des Mittäters im deutschen Strafrecht siehe im Überblick­ Fischer, StGB, § 25 Rdnrn. 4 ff., 11 ff. Das vom französichen Code Pénal (Code Pénal de 1810, dekretiert am 12. Feb. 1810 und verkündet am 22. Feb. 1810, Édition Originale et Seule Officielle, Paris, Imprimerie Impériale, 1810; zu den Teilnahmeformen siehe Livre II, Art. 59–74, ebd., S.  14–17) inspirierte PreussStGB v. 14.  April 1851 (PreussGS S.  101–145) stellte in § 34 lediglich eine Regelung zur Teilnahme bereit, enthielt sich jedoch ausdrücklicher Bestimmungen zum Begriff des Täters und den Täterschaftsformen oder sonstigen Zurechnungsgründen, insbesondere auch der Mittäterschaft. Nach der seinerzeitigen Kommentarliteratur war der Begriff des Täters bei der Schaffung des Gesetzes indes stillschweigend voraus­gesetzt worden, so dass trotz des Fehlens entsprechender Regelungen auch verschiedene Formen der Miturheberschaft, neben der Mittäterschaft also insbesondere auch das Komplott und die Bande als Zurechnungsgründe anerkannt waren, siehe Beseler, Kommentar über das PreussStGB, S. 151–160 (zu § 34), insbes. S. 152. In § 47 des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund v. 31.  Mai 1870, verkündet am 8.  Juni 1870 (BGBl. Norddt. Bd. Nr. 16, S. 197–221), wurde sodann eine dem heutigen § 25 Abs. 2 StGB vergleichbare Regelung aufgenommen: „Wenn Mehrere eine strafbare Handlung gemeinschaftlich ausführen, so wird Jeder als Thäter bestraft.“ Zu den gesetzgeberischen Erwägungen, die der Schaffung der sodann ohne Änderungen in § 47 des Reichsstrafgesetzbuches vom 15. Mai 1871 (RGBl. S.  127–205) überführten Bestimmungen zugrunde lagen, siehe die amtl. Begründung zum Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. III, 302 Seiten, Berlin 1870, hier Anlage Nr. 5, S. 2–26, Motive ebd., 26–122, hier S.  53–54 (zu § 54 StGB-E), insbes. S.  54 = Meyer, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bunde v. 31. Mai 1870, S. 53 (zu § 47): „Zunächst hat der Entwurf geglaubt, in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Deutschen Gesetzgebungen, obgleich in Abweichung von dem Preußischen Strafgesetzbuche, eine Bestimmung über die „Mitthäter“ aufnehmen zu sollen. […] erschien es zweckmäßig, den allgemeinen Gesichtspunkt, auf welchen die Schuld des Mitthäters zurückzuführen ist und in welchem sie ihre Begründung, insbesondere auch die gleich 228

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

explizit umfasst.230 Entsprechend hatte auch das hier interessierende Konzept der Komplizenschaft bzw. Zurechnung aufgrund von Organisationszugehörigkeit unabhängig von der konkreten Tatbeteiligung wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation als allgemeines Prinzip des Strafrechts im Gesetzeswortlaut weder des Art. 17 noch in anderen Normen des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1926 expressis verbis Niederschlag gefunden. Allerdings enthielt das StGB RSFSR mit Art. 47 lit. c eine Regelung im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs bereit, die die Begehung eines Verbrechens durch eine Gruppe oder Bande als erschwerenden Umstand bei der Frage nach der Sozialgefährlichkeit des zu beurteilenden Verbrechens wertete. Vor allem enthielt der besondere Teil  des Strafgesetzbuchs der RSFSR für bestimmte Verbrechen Zurechnungstatbestände, die eine allgemeine Strafaus­ dehnung auf solche Personen anordneten, die sich zu einer Organisation zwecks Begehung bestimmter Verbrechen zusammengeschlossen hatten. In diesem Sinne ordnete Art. 58–11 StGB RSFSR für den Bereich der gegenrevolutionären Verbrechen die Geltung des für das betreffende Verbrechen selbst geltenden Strafrahmäßige Beurtheilung der Mitthäter ihre Berechtigung findet, in dem Gesetze selbst festzustellen, zugleich aber auch die Gesetzesbestimmung so zu fassen, daß die erwähnte Vermischung der Kriterien der Mitthäterschaft und der Beihülfe abgewendet wird […]. Dagegen konnte davon abgesehen werden, in den Entwurf besondere Bestimmungen über die zufällige Miturheberschaft, über den strafrechtlichen Begriff der „Bande“ im Gegensatze zu dem „Komplotte“ […] aufzunehmen. […] Im Einzelnen Falle wird die richterliche Prüfung sich darauf zu richten haben, ob nach Lage der Dinge diese Thätigkeit als eine solche aufzufassen sei, daß sie sich als einen Theil gemeinschaftlicher Ausführung und die That selbst hierdruch zugleich als eine gemeinschaftliche darstelle.“ Für die auf Ebene der deutschen Partikularstaaten vormals geltenden, überwiegend erstaunlich detaillierten Regelungen zu Täterschaft und Teilnahme vgl. Art. 45–56 des Bayerischen Strafgesetzbuches vom 6. Mai 1813, abgedr. in: Stenglein (Hrsg.), Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, Bd. I, Kap. I, S. 23–164, hier S. 36–40; Art. 67–96 des Strafgesetzbuches für die Herzoglich-Oldenburgischen Lande v. 10.  Sept. 1814, ebd., Kap. II, S. 11–191, hier S. 36–48; Art. 33–41 des Criminalgesetzbuches für das Herzogthum Sachsen-Altenburg v. 3. Mai 1841, ebd., Kap. III, S. 18–159, hier S. 40–43; Art. 74–88 des Strafgesetzbuches für das Königreich Würtemberg v. 1. März 1839, ebd., Kap. IV, S. 11–180, hier S.  36–39; §§ 41–54 des Criminalgesetzbuches für dass Herzogthum Braunschweig v. 10. Juli 1840, ebd., Kap. V, S. 15–144, hier S. 31–37; Art. 52–75 des Criminalgesetzbuches für das Königreich Hannover v. 8. Aug. 1840, abgedr. bei Stenglein (Hrsg.), Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, Bd. II, Kap. VI, S. 13–198, hier S. 34–44; Art. 71–93 des Straf­ gesetzbuches für das Großherzogthum Hessen v. 17. Sept. 1841, ebd., Kap. VII, S. 27–200, hier S. 49–56; §§ 119–146 des Strafgesetzbuches für das Großherzogthum Baden v. 6. März 1945, ebd., Kap. VIII, S. 9–223, hier S. 48–55; Art. 67–89 des Strafgesetzbuches für das Herzog­ thum Nassau v. 14. April 1849, ebd., Kap. IX, S. 11–180, hier S. 31–38. 230 Jedenfalls missverständlich insofern Zeidler, bei dem – ungenau – von einer exzessiven Auslegung des Tatbestands der Mittäterschaft nach § 17 StGB RSFSR durch Vyšinskij im letzten der drei Moskauer Schauprozesse im März 1938 die Rede ist, siehe Zeidler, Stalin­ justiz, S. 38, Fn. 91. Zur Diskussion um die Einordnung der Rechtsfigur der Mittäterschaft und der mittelbaren Täterschaft in den Rahmen des § 17 StGB RSFSR sowie für einen darüber hinausgehenden Überblick über die leitenden Gesichtspunkte des sowjetischen Strafrechts siehe Maurach, System des Russischen Strafrechts, S. 140.

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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mens an für jede auf solche Verbrechen bezogene organisatorische Tätigkeit sowie die Teilnahme an einer Organisation, die zur Vorbereitung oder Begehung eines gegenrevolutionären Verbrechens gebildet worden war. Art.  59–3 StGB RSFSR stellte Banditentum unter Strafe, das als Organisation von bewaffneten Banden und Teilnahme an ihnen und den von ihnen veranstalteten Ausschreitungen definiert war.231 (2) Strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Organisationszugehörigkeit als rechtspraktisch motivierte Argumentationsfigur Vyšinskijs Für die Möglichkeit einer Verantwortlichkeit wegen Organisationszugehörigkeit im Sinne eines über den vermeintlich in Art. 17 StGB RSFSR festgeschriebenen numerus clausus der Beteiligungsformen hinausreichenden allgemeinen Prinzips war Vyšinskij bereits in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt der UdSSR und Chefankläger während der Moskauer Schauprozesse in den Jahren 1936 bis 1938232 vehement eingetreten. Für die weitere Entwicklung dieses Zurechnungskonzepts richtungsweisend war insoweit seine Rede vom 11. März 1938233 in dem vom 2. bis 13. März 1938 vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR u. a. gegen Nikolaj Ivanovič Bucharin und Aleksej Ivanovič Rykov wegen Verbrechen nach Art. 58 StGB RSFSR (insbesondere Art. 58–1a, 58–11) geführten Strafprozess. Materiellrechtlich erlangte in diesem Prozess der bereits erwähnte Art.  58–11 StGB RSFSR zentrale Bedeutung. Zum Abschluss seiner Rede in der Sitzung vom 11. März 1938 warf Vyšinskij in seiner Funktion als sowjetischer Generalstaatsanwalt die allgemeine Frage nach der „Mitbeteiligung“234 auf. Anlass hierfür bot die Feststellung, dass nicht alle Angeklagten in demselben Grad an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen unmittelbar beteiligt gewesen seien. Den „unter den Kriminalisten“ vertretenen Standpunkt, „dass für das Vorhandensein der Mitbeteiligung ein allgemeines Einverständnis und die Zustimmung eines jeden einzelnen Verbrechers, der Komplicen, zu jedem einzelnen der Verbrechen erforderlich ist“235, verwarf Vyšinskij in diesem Zusammenhang als unzutreffend, weil er zu „eng und scholastisch“236 sei. Er führte u. a. aus: 231 Ausf. zum Begriffsgebrauch von „Bande“, „Gruppe“ und „Organisation“ im StGB RSFSR Trajnin, Učenie o součastii, S. 89. 232 Zur Chronik der Moskauer Schauprozesse siehe Hedeler, Chronik. Zu Vyšinskijs Rolle in den Jahren 1937 bis 1938 sowie zu den Auswirkungen des großen Terrors auf die in der­ Sowjetunion tätigen Juristen siehe Solomon, Soviet Criminal Justice, S. 230 ff. 233 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676–754. 234 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (751 f.). 235 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (752). 236 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (752).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

„Für die Mitbeteiligung ist es notwendig, dass ein alle Komplicen des gegebenen Verbrechens vereinigendes Prinzip, ein gemeinsamer verbrecherischer Vorsatz vorhanden ist. Für die Mittäterschaft ist eine Vereinigung des Willens in einer gemeinsamen und für alle Teilnehmer des Verbrechens einheitlichen Richtung notwendig. Wenn zum Beispiel eine Bande von Räubern so handeln wird, daß der eine der Komplicen an einem Orte Häuser anzündet, Frauen vergewaltigt, mordet usw. und der andere Teil der Bande an einem anderen Orte, so werde sie, obwohl die einen und anderen in die von irgendeinem Teile der allgemeinen Bande getrennt verübten Verbrechen nicht eingeweiht waren, für die Gesamtheit der Verbrechen in vollem Umfange die Verantwortung tragen, sobald es bewiesen sein wird, daß sie sich über die Teilnahme an dieser Bande zur Verübung dieser oder anderer Verbrechen verständigt haben.“237

Der auf diese Weise geschaffene umfassende Zurechnungsgrund ließ jedoch laut Vyšinskij eine einzelfallbezogene Korrektur im Rechtfolgenausspruch zu, da das Strafmaß vom Gericht weiterhin individuell zu bestimmen war.238 Für das in seiner Rede entworfene Konzept der Mitbeteiligung führte Vyšinskij in diesem Zusammenhang ausschließlich pragmatische und an Zweckmäßigkeitserwägungen orientierte Gründe an. Er argumentierte, dass das alltägliche Leben „weiter“, vielschichtiger und facettenreicher sei als es die von ihm als unrichtig verworfene Meinung einiger Kriminalisten vermuten lasse, da es Beispiele gäbe, „wo das ­Resultat einer allgemeinen verbrecherischen Tätigkeit durch selbstständige Beteiligung der Komplicen an dieser Tätigkeit erreicht wird, die bloß durch eine einheitliche, allen gemeinsame verbrecherische Aufgabe vereinigt sind“239. (3) Strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Organisationszugehörigkeit im staatsanwaltschaftlichen Kurzlehrbuch von 1939 Ein 1939 von der Staatsanwaltschaft der UdSSR unter Vyšinskijs Redaktion herausgegebenes Kurzlehrbuch zum sowjetischen Strafrecht240 definierte die Beteiligung (součastie) zunächst allgemein und ohne konkrete normative Bezugnahme auf positive Strafrechtsbestimmungen als vorsätzliche Beteiligung von zwei oder mehr Personen an der Begehung einer vorsätzlichen Straftat.241 Danach ging das 237

Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (752). 238 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (752). Aus diesem Grund schlug er vor, wegen einer gewissen Distanz vom „Block der Rechten und Trotzkisten“ bei den zwei Angeklagten – Rakowskij und Bessonov – ein weniger strenges Strafmaß anzuwenden. 239 Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hrsg.), Prozessbericht über die Straf­ sache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, S. 676 (752). 240 Dabei handelt es sich um Band III aus einer siebenteiligen Reihe von Kurzlehrbüchern zum Aufbau und den Funktionen der Staatsanwaltschaft, dem Straf- und Strafprozessrecht­ sowie dem Zivil- und Zivilprozessrecht, die neu eingestellten und noch unerfahrenen Staatsanwälten auf regionaler Ebene eine schnelle Orientierung vermitteln sollten, Staatsanwaltschaft der UdSSR (Hrsg.), Sovetskoe ugolovnoe pravo, vyp. III. 241 Staatsanwaltschaft der UdSSR (Hrsg.), Sovetskoe ugolovnoe pravo, vyp. III, S. 12.

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sowjetische Recht zwar grundsätzlich vom Prinzip der individualisierten Verantwortlichkeit eines jeden Beteiligten aus. Das Konzept der Verantwortlichkeit wegen Organisationszugehörigkeit wurde in dieser Darstellung jedoch bereits explizit aufgenommen, wenn auch beschränkt auf konterrevolutionäre Verbrechen. Die besondere Gefährlichkeit dieser Straftaten und der sich zu ihrer Begehung bildenden Zusammenschlussformen bildete nach dem Dafürhalten der Verfasser des Kurzlehrbuchs den Rechtfertigungsgrund dafür, dass die „Teilnehmer von kriminellen Organisationen die Verantwortlichkeit für die Gesamtheit der Straftaten, die durch diese Organisation begangen worden sind“,242 tragen müssten, „auch wenn der eine oder andere Teilnehmer über einzelne Straftaten nicht Bescheid wusste“243. (4) Nachträgliche rechtsdogmatische Fundierung des Vyšinskij-Konzepts durch Trajnin (a) Beteiligung und Organisationsverantwortlichkeit im sowjetischen Strafrecht 1941 widmete sich Aron Naumovič Trajnin den juristischen Fragen der Beteiligung im nationalen Strafrecht im Rahmen einer eigenständigen Monographie.244 Er unternahm in diesem Zusammenhang auch eine ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zurechnungsgrund der Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. Seiner umfassenden Untersuchung, die neben vielen Einzelaspekten auch die Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die Beteiligungsformen und die verschiedenen Typen der Beteiligten rekonstruierte, ging eine detaillierte rechtshistorische und rechtsvergleichende Recherche und Darstellung der westeuropäischen Konzepte und des vorrevolutionären russischen Verständnisses der strafrechtlichen Dimensionen gemeinschaftlicher Verantwortung voraus.245 Der im zaristischen Russland an der juristischen Fakultät der Moskauer Universität in den Jahren 1903 bis 1908 in der Tradition der europäischen (Rechts-) Wissenschaft sozialisierte Trajnin ging dabei in bemerkenswerter Detailtiefe unter anderem auch auf die Arbeiten deutscher Rechtsgelehrter wie u. a. Theodor Mommsen oder Anselm von Feuerbach ein und zog ferner Rechtsquellen wie den Sachsenspiegel, die Hals oder Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1533, den Codex juris Bavarici Criminalis von 1751 oder französische Quellen wie z. B. die Strafgesetzbücher von 1791 und 1810246 für seine Untersuchun 242

Ü. d. Verf., Staatsanwaltschaft der UdSSR (Hrsg.), Sovetskoe ugolovnoe pravo, vyp. III, S. 12. 243 Ü. d. Verf., Staatsanwaltschaft der UdSSR (Hrsg.), Sovetskoe ugolovnoe pravo, vyp. III, S. 12. 244 Trajnin, Učenie o součastii (1941). 245 Trajnin, Učenie o součastii, Kap. I, S. 6–45. 246 Code Pénal de 1810, dekretiert am 12. Feb. 1810 und verkündet am 22. Feb. 1810, Édition Originale et Seule Officielle, Paris, Imprimerie Impériale, 1810, 99 Seiten, zu den Teilnahmeformen siehe Livre II, Art. 59–74, ebd., S. 14–17.

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gen heran. Die enge Verbindung zwischen Vyšinskij und Trajnin247 offenbarte sich auch in diesem Werk sowohl in dem von Vyšinskij verfassten Vorwort als auch an vielen anderen Stellen der Studie. So gab Trajnin Vyšinskijs folgenorientierte Begründung des Zurechnungskonzepts der kriminellen Organisation bei konter­ revolutionären Verbrechen mit den Worten wieder, dass das Konzept der Komplizenschaft als strafrechtliches Problemfeld eine enorme theoretische und politische Rolle erlangt habe. In Anbetracht der Vielzahl an sowjetischen Feinden, Agenten und des antisowjetischen Untergrunds wohne diesem Konzept auch der Charakter einer „Form des politischen Kampfes“ inne.248 Im Allgemeinen wähnte Trajnin im StGB von 1926 ein grundlegendes Prinzip des sozialistischen Rechts verwirklicht, die Absage an die Einteilung von Beteiligungsformen nach rein formalen Kriterien. Die Gerichte hätten diese Frage abhängig vom Umfang der Teilnahme an dem betreffenden Verbrechen, der Gefährlichkeit der Person des Handelnden und der Gefährlichkeit des Verbrechens selbst zu beurteilen. Unter Beteiligung war nach Trajnin die Begehung einer Straftat durch mehrere Personen zu verstehen, zwischen denen eine (zumindest minimale)  subjektive Verbindung nachgewiesen werden könne.249 In objektiver Hinsicht setzte die individuelle Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne auch bei Beteiligten zwingend die Kausalität zwischen einem strafrechtlich relevanten Resultat und einer Handlung voraus. In subjektiver Hinsicht von Nöten war zudem die Schuld, nämlich vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln. Die Typisierung der verschiedenen Beteiligungsformen erfolgte sodann nach subjektiven Merkmalen, wobei Trajnin insgesamt zwischen drei Stufen der Beteiligung differenzierte.250 Bei der einfachen und der am wenigsten gefährlichen Form erreichte die Verbindung derTeilnehmer nur das für die gemeinschaftliche Verantwortlichkeit minimale Maß, nämlich das Wissen der Teilnehmer, z. B. das eines Anstifters oder Gehilfen, um die Teilnahme an einer Straftat, wobei zwischen den Handelnden keine Vereinbarung oder ähnlich starke Übereinkunft geschlossen sein ­ inimalmaß an subjektiver Verbindung bestehe beispielsdurfte. Ein solches M weise bei Teilnehmern von Massenausschreitungen, Art. 59–2 des StGB RSFSR von 1926 (massovye besporjadki). Bei der zweiten – qualifizierten – Form der Beteiligung agierten die Handelnden aufgrund einer Übereinkunft. Als Beispiele aus dem besonderen Teil des sowjetischen Strafgesetzbuchs diente Trajnin hier u. a. Art. 60 – die Nichtzahlung bzw. Hinterziehung durch eine Gruppe trotz vorheriger Vereinbarung. Schließlich gab es die komplexeste Form aller Beteiligungs­ arten – die Beteiligung der besonderen Art bzw. eine Beteiligung sui generis. Die schwerwiegendste Form dieser besonderen Beteiligungsweise war die Beteiligung an einer Gemeinschaft, die sich zwecks Begehung von Straftaten organisiert 247

Vgl. dazu S. 264. An dieser Stelle zitiert Trajnin einen Beitrag Vyšinskijs in der Zeitung Pravda v. 26. Juli 1938, No 204, S. 3–4, hier S. 4; Trajnin, Učenie o součastii, S. 4. 249 Trajnin, Učenie o součastii, S. 76. 250 Trajnin, Učenie o součastii, S. 78. 248

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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hatte (součastie v soobščestve, organizovannom dlja soveršenija prestuplenij).251 In diesem Bereich bestand zwischen den Handelnden nicht nur eine verbrecherische Übereinkunft, gerichtet auf die Begehung von Straftaten. Vielmehr erfuhr die Verabredung eine besonders stabile und auf Dauer angelegte Organisationsform, den Prototyp der kriminellen Organisation. Die sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtssetzung zahlreicher Staaten gängige Differenzierung zwischen einer Bande oder Gruppe, die auf die Begehung von noch nicht genau bestimmten oder geplanten Straftaten gerichtet ist, und einem Komplott, dessen Zweck die Begehung von einem oder mehreren konkreten Straftaten ist252, bewertete Trajnin als 251

Trajnin, Učenie o součastii, S. 80 ff. Neben verschiedenen Lehrmeinungen nahm Trajnin insbesondere Bezug auf Art. 50 und Art. 54 des Strafgesetzbuchs für das Königreich Baiern von 1813. Art. 50 mit der amtlichen Überschrift „Von den Urhebern durch Komplott“ und Art. 54 mit der amtlichen Überschrift „Von Banden“ enthielten die oben genannte Unterscheidung. Art. 50 des Strafgesetzbuches für das Königreich Baiern vom 6. Mai 1813 war mit der amtlichen Überschrift „Von den Mit­ urhebern durch Komplott“ versehen und definierte in seinem Abs. 1 den spezifischen Zurechnungsrund des „Komplotts“ als über die schlichte Beihilfe („gemeinen Hülfleistung“) qualitativ hinausreichende Mitwirkung wie folgt: „Wenn zwei oder mehrere aus gemeinschaftlichem Interesse ein Verbrechen mit einander beschließen, und sich zu dessen gemeinschaftlicher Ausführung durch Verabredung eines gegenseitigen Beistandes verpflichten, so ist diese Vereinigung ein Komplott, unter dessen Voraussezung jeder Theilnehmer des Komplotts, welcher auf was immer für eine Weise vor, bei, oder nach der Ausführung mitgewirkt, oder sich zur Mitwirkung bereitwillig gezeigt, oder seine Mitverbündeten bei der Überzeugung der von ihm zu erwartenden Beihülfe erhalten hat, nach Vollendung des Verbrechens als ein Mit­urhe­ ber desselben zu betrachten ist.“ Abs. 2 lautete wie folgt: „Diejenigen, welche, ohne an der Hauptverabredung und den Berathschlagungen eines Komplottes Theil zu nehmen, gleichwohl zur Beförderung der Absicht desselben Beihülfe versprochen oder geleistet haben, sind bloß als Gehülfen zu bestrafen, soferne die Art. 45 Nr. III. bestimmte Voraussetzung nicht zur Anwendung kommt.“ Zit. nach Redaktion des allgemeinen Regierungsblatts (Hrsg.), Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern, München 1813, 384 Seiten, hier S. 21 (Art. 50) = abgedr. in: Stenglein (Hrsg.), Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, Bd. I, Kap. I, S. 23–164, hier S. 38–39; gem. Art. 54 handelte es sich bei der Bande um eine qualifizierte Form des Komplotts: „Die Gesetze wider das Komplott überhaupt (Art. 50–53) sind auch auf Banden anzuwenden, worunter solche Komplotte verstanden werden, welche zur Verübung mehrerer, einzeln noch ganz unbestimmter Verbrechen einer gewissen Art oder Gattung eingegangen sind.“, Redaktion des allgemeinen Regierungsblatts (Hrsg.), ebd., S. 23 (Art. 54) = ­Stenglein (Hrsg.), ebd., S.  40. Zur gesetzgeberischen Motivation vgl. die amtl. Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern nach den Protokollen des Königlichen Geheimen Raths, Erster Bd., Redaktion des allgemeinen Regierungsblatts (Hrsg.), S. 162–170 (zu Art. 50–53), hier insbes. S. 164 f. zur besonderen Strafwürdigkeit des Komplotts: „Das Komplott ist wegen seiner grossen Gefährlichkeit eine sehr strafbare Handlung; und es liegt in demselben eine ganz eigenthümliche und von der gemeinen Hülfleistung wesentlich verschiedene Mitwirkung zu einem Verbrechen. Wenn sich mehrere, wozu schon zwei genügen, zur gemeinschaftlichen Ausführung eines Verbrechens durch Verabredung eines gegenseitigen Beistands verpflichten, so ist ein Komplott vorhanden. Ein gemeinschaftliches Interesse, wovon der Artikel redet, muß unter allen Komplotteurs vorhanden seyn; denn sonst entsteht in Ansehung dessen, welcher ohne gemeinschaftliches Interesse, wenn gleich mit einigem Vortheil, dazu beiwirkt, nur eine Hülfleistung; indessen wird nicht erfordert, daß dieses gemeinschaftliche Interesse bei allen Komplotteurs ganz gleichartig sey: den Einen kann Rache, den Anderen Habsucht, den Dritten Neid oder eine andere Leidenschaft zur Theilnahme bewe 252

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

irrelevant, da die Gefährlichkeit dieser Beteiligungsform ausschließlich darin bestünde, dass sich ein menschliches Kollektiv einem verbrecherisches Ziel zuwende.253 Die Anzahl der geplanten oder ausgeführten Verbrechen sei dagegen eine faktische Frage oder eine Frage des Tatplans, die aber die Natur dieser Beteiligungsform nicht ändern könne.254 Um die rechtshistorischen Wurzeln dieser Beteiligungsform – Beteiligung sui generis – im russischen Recht nachzuzeichnen, ging Trajnin auf die erste russische Strafrechtskodifikation aus dem Jahr 1649 zurück und würdigte hiervon ausgehend sodann alle seitdem auf russischem Boden in Kraft gesetzten Gesetzeswerke.255 Auf diesem Wege gelangte er zu der Erkenntnis, dass das Wissen um die Ziele bzw. Zwecke einer Organisation oder Gemeinschaft das subjektive Kernelement der gravierendsten Form der Beteiligung sui generis ausmache und zwar auch dann, wenn das einzelne Glied der Organisation über die Begehung einer bestimmten Straftat keine Kenntnis hatte.256 Bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Beteiligten handelte es sich auch in diesen Fällen um eine persönliche Verantwortlichkeit, nämlich für die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation, nicht jedoch eine Verantwortlichkeit für fremde Straftaten. Die bezeichneten Beteiligungsstufen entwickelte Trajnin losgelöst von der Vorschrift des Art. 17 StGB RSFSR. Bei seinen Ausführungen zu den genannten drei Formen der Beteiligung und der Differenzierung nach der Art der subjektiven Verbindung stellte er keinen Bezug zu dieser Gesetzesnorm her. Dies verwundert jedenfalls insofern, als das in Art. 16 StGB RSFSR angeordnete Analogie­gebot257 gen, und dennoch sie Alle ein gemeinschaftliches Interesse dabei haben, daß das beschlossene Verbrechen begangen werde.“ Für vergleichbare Differenzierungen in weiteren partikularstaatlichen Strafrechtsordnungen vor Reichsgründung siehe etwa Art. 7 des Strafgesetz­buches für die Herzoglich-Oldenburgischen Lande v. 10.  Sept. 1814, abgedr. in Stenglein (Hrsg.), Strafgesetzbücher, Bd. I, Kap. II, S. 11–191, hier S. 38–40. 253 Auch das Reichsstrafgesetzbuch v. 15. Mai. 1871 (RGBl. S. 127–205) hatte auf eine entsprechende Differenzierung entgegen der vormaligen Rechtslage in zahlreichen Einzelstaaten (Nachw. in Fn. 229) bewusst verzichtet. Vgl. insoweit die amtl. Begründung zum Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. III, 302 Seiten, Berlin 1870, hier Anlage Nr.  5, S.  2–26, Motive ebd., 26–122, hier S.  53–54 (zu § 54 StGB-E), insbes. S.  54 = Meyer, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bunde v. 31. Mai 1870, S. 53 (zu § 47): „Dagegen konnte davon abgesehen werden, in den Entwurf besondere Bestimmungen über die zufällige Miturheberschaft, über den strafrechtlichen Begriff der „Bande“ im Gegensatze zu dem „Komplotte“ […] aufzunehmen. […] Im Einzelnen Falle wird die richterliche Prüfung sich darauf zu richten haben, ob nach Lage der Dinge diese­ Thätig­keit als eine solche aufzufassen sei, daß sie sich als einen Theil gemeinschaftlicher­ Ausführung und die That selbst hierdurch zugleich als eine gemeinschaftliche darstelle.“ 254 Trajnin, Učenie o součastii, S. 81. 255 Trajnin, Učenie o součastii, S. 82 ff. 256 Trajnin, Učenie o součastii, S. 93. 257 Art. 16 StGB RSFSR hatte folgenden Wortlaut: „Wenn die eine oder die andere sozialgefährliche Handlung in diesem Gesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen ist, so bestimmen sich Grund und Umfang der Verantwortlichkeit dafür nach den Artikeln dieses Gesetzbuchs,

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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auf die Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs (Art. 1 bis 57) auf Grundlage der von Trajnin selbst an anderer Stelle getragenen Auslegung keine Anwendung finden sollte und daher eine die Teilnahmeformen erweiternde Auslegung stricto sensu nicht vorgesehen war. Zwar ließe sich für die Anwendung des Analogiegebots auf Art. 17 StGB RSFSR die systematische Stellung des Art. 16 vor Art. 17 StGB RSFSR und seine Bezugnahme auf die „Artikel dieses Gesetzbuchs“ anführen. In seiner Kommentierung von Art. 16 RSFSR verneinte Trajnin jedoch mit dem Hinweis auf den Wortlaut der Norm die Anwendbarkeit des Analogiegebots auf die Vorschriften des allgemeinen Teils mit der schwerlich zu widerlegenden Erwägung, dass Art. 16 nur die analoge Heranziehung von solchen Vorschriften anordnete, die „ihrer Art nach am meisten ähnliche Verbrechen vorsehen“, womit der Sache nach nur Normen des besonderen Teils gemeint sein konnten.258 (b) Beteiligung und Organisationsverantwortlichkeit aus völkerrechtlicher Perspektive Aus einem völkerstrafrechtlichen Blickwinkel wandte sich Trajnin diesem Themenkomplex in einem eigenständigen Kapitel mit der Überschrift „Beteiligung in Völkerrechtsverbrechen. Die hitlerische Clique“ (Součastie v meždunarodnych prestuplenijach. Gitlerovskaja klika, engl. Fassung: Complicity in International Crimes. The Hitlerite Clique)  in seinem 1944 unter dem Titel „Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen“ auf Russisch erschienenen und 1945 ins Englische übersetzten Publikation erneut259. Dem Problem der Zurechnung von Verantwortung maß Trajnin auch hier eine zentrale Rolle bei. Die Zurechnung erreichte er ebenfalls über das oben dargestellte Konzept der Beteiligung, wobei er betonte, dass gerade im Bereich des ‚internationalen Verbrechens‘ die Komplizenschaft (als besonders gefährliche Form der Beteiligung) von besonderer Relevanz sei, da die meisten Völkerrechtsverbrechen gemeinschaftlich durch Gruppen, Banden oder ähnliche feingegliederte Apparate begangen werden.260 Die Verknüpfung im Verhältnis zu dem ausführenden unmittel­ baren Täter eines einfachen, nationalen Verbrechens schuf er dadurch, dass er dem nach nationalem Recht volldeliktisch handelnden unmittelbaren Täter eine Werkzeugeigenschaft attestierte, derer sich der Verbrecher im internationalen Sinne für die ihrer Art nach am meisten ähnliche Verbrechen vorsehen.“, vgl. Gallas, Strafgesetzbuch, S. 4; zur Anwendung des Analogiegebots zwischen Anfang der 1930er Jahre bis nach dem Krieg siehe Berman, Soviet Criminal Law and Procedure, S. 34. 258 Trajnin, in: Gernet/Trajnin (Hrsg.), Ugolovnyj kodeks, 1927, Art. 16, S. 26–29, hier S. 28. 259 Trajnin, Ugolovnaja otvetsvennost’, S. 78–91, für die eng. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 78–90. Vgl. Kap. B. III. 6., zum folgenden Themenkomplex bereits auch Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (707). 260 Trajnin, Ugolovnaja otvetsvennost’, S.  79, für die eng. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite­ Responsibility, S. 79.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

die ­Begehung seiner Tat bediente. Im Zusammenhang mit Gruppen und Organisationen sprach er sogar ausdrücklich von einer Verschwörung (russ.: zagovor bzw. engl.: conspiracy): „When complicity takes the dangerous form of participation in an organization, a band, a bloc, a gang, a conspiracy, i. e., participation in a combination of persons for the purpose of committing a crime, the connections and inter-relations of the accomplices correspondingly assume more complex forms.“261

Trajnin griff dabei auf die von Vyšinskij im Prozess gegen den sog. ‚antisowjetischen Block der Rechten und Trotzkisten‘ vorgetragenen Position zurück, der zu Folge für die sog. complicity das Vorhandensein eines „common criminal design“ bzw. „united will, directed towards a single object, common to all participants in the crime“262 erforderlich oder auch ausreichend sein sollte: „Thus, the more complex forms of complicity in general crimes (participation of an organization, band, bloc, etc.) acquire new characteristics, and the individual accomplices, without knowing each other, must answer for the ‚sum-total of the crimes‘, committed by all the participators.“263

Auf diese Weise erschien aus sowjetischer Sicht auch im Völkerstrafrecht eine mit dem nationalen Recht vergleichbare Konstruktion für die Erstreckung der Verantwortlichkeit von handelnden Organisationsmitgliedern auf solche Mitglieder, die von der konkreten Verbrechensbegehung keine Kenntnis besaßen, ohne weiteres denkbar. Vor dem Hintergrund des dargestellten sowjetischen Verständnisses von Organisationsverantwortlichkeit und der Idee der Verschwörung aus nationaler und völkerstrafrechtlicher Perspektive erweist sich die von Nikitčenkos und Trajnin angeführte Begründung der anfangs ablehnenden Haltung der UdSSR zur amerikanischen Idee eines Prozesses gegen die Organisationen264 als plausibel. Bei der zunächst kategorisch formulierten sowjetischen Forderung, die betreffenden­ Normen aus den amerikanischen Entwürfen zu streichen265, hatte die sowjetische Regierung zunächst wohl in erster Linie die für solche Entscheidungen aus sowjetischer Perspektive fehlende Kompetenz des Tribunals und die hierfür bestehende Zuständigkeit des Alliierten Kontrollrats vor Augen. Im Übrigen ging es der sowjetischen Regierung offensichtlich nicht um Verhinderung der von amerikanischer Seite vorgebrachten Idee an sich, sondern um die dogmatische Begründung der Mitgliederverantwortlichkeit. 261

Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 84. An dieser Stelle erfolgt die Wiedergabe eines Auszugs von Vyšinskijs Vortrag im Prozess gegen den ‚trotzkistischen Block‘, Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 84. 263 Trainin, Hitlerite Responsibility, S.  84; vgl. auch Trajnin, Ugolovnaja otvetsvennost’, S. 85. 264 Siehe beispielhaft die Ausführungen in der dritten Sitzung, Verhandlungsprotokoll v. 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (134 ff.). 265 Zur ablehnenden Haltung zu Beginn der Konferenz siehe Kap. E. IV. 3. c). 262

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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ee) Die prozessuale Ausgestaltung der Organisationen‚anklage‘ Abgesehen von materiellen Fragen des Strafrechts stieß auch die prozessuale Gestaltung einer gegen die Organisationen gerichteten Anklage anfänglich auf Unverständnis im sowjetischen Lager. Die Durchschlagkraft der IMT-Entscheidung auf nationale Ebene und der präjudizielle Charakter in Verfahren gegen untergeordnete Organisationsmitglieder konnten aus Jacksons Sicht nur dann juristisch legitimiert werden, wenn die Organisationsmitglieder eine Chance erhielten, den von dem IMT erhobenen Vorwurf, eine Organisation sei verbrecherisch, zu entkräften und die Organisation insofern zu verteidigen. Andernfalls würde die weitreichende Entscheidung des IMT nicht dem Erfordernis eines fairen Verfahrens gerecht werden können.266 Um das zu bewerkstelligen, sollte eine öffentliche Bekanntmachung die unbekannte Zahl der Organisationsmitglieder davon in Kenntnis setzen, dass der verbrecherische Charakter der Organisationen vor dem IMT verhandelt wird, um so den einzelnen Mitgliedern die Möglichkeit zu eröffnen, dies im Prozess zu bestreiten. Was Jackson als zwingende Voraussetzung für ein gerechtes Verfahren ansah, erschien der sowjetischen Seite wie eine äußerst komplizierte, unverständliche und zudem unnötige Konstruktion. Unklar und schwer einzuschätzen war, wie viele der auf diese Weise benachrichtigten Organisationsmitglieder sich zum Zweck der Verteidigung ihrer Organisation an das IMT richten würden und wie man vorgehen müsste, wenn sich Hunderte oder Tausende an das Gericht wenden würden. Unklar war auch, in welcher exakten Funktion – z. B. als Angeklagte, Zeugen oder Sachverständige – sie vor Gericht auftreten würden oder welche Konsequenzen ihre Beteiligung am Verfahren vor dem IMT in Hinblick auf ihre eigene Verantwortung hätte.267 Schließlich sorgte dieses Konzept angesichts des bereits erreichten Konsenses, dass die Organisationen nicht als Personenverbände angeklagt werden sollten, für Verwirrung, da Jackson nunmehr missverständlich vom Prozess gegen Organisationen als solche und ihrer Verteidigung sprach268 und nicht in der Lage war, auf die von sowjetischer Seite aufgeworfenen Fragen eindeutige Antworten zu liefern. Die amerikanischen Vorschläge über die Bekanntmachung der Anklage und die Berechtigung der Organisationsmitglieder, Anträge über die Frage des verbrecherischen Charakters der Organisation zu stellen, fanden schließlich Eingang in die Endfassung des Art. 9 IMT-Statut. Im Ergebnis kann die Schaffung der Art. 9 und 10 IMT mit der darin veranker­ ten Möglichkeit des Tribunals, Organisationen für verbrecherisch zu erklären, als Beispiel für einen Kompromiss dienen, dem eine gleichermaßen offene, wenn auch jedenfalls zunächst sehr skeptische Haltung der sowjetischen Delegation zu Grunde lag. Der Widerstand der sowjetischen Seite gegen Jacksons Konzept 266

Verhandlungsprotokoll v. 13. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXVII, S. 211 (236). Verhandlungsprotokoll v. 13.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXVII, S.  211 (235, 237, 240). 268 Verhandlungsprotokoll v. 13.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXVII, S.  211 (234 ff.). 267

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

der Anklage von Organisationen erschöpfte sich in der Frage nach der dogmatischen Notwendigkeit und der praktischen Durchführbarkeit eines solchen Vor­ gehens. Die Skepsis der sowjetischen Seite betraf aber gerade nicht die Idee der Zurechnung von Verantwortlichkeit allgemein. Sieht man mit Stanisław Pomorski in Art. 9 und 10 IMT über ihre rechtliche Funktion hinaus auch eine große moralische oder politische Bedeutung im Sinne einer symbolischen Verurteilung und Stigmatisierung des Nationalsozialismus seitens der Allierten269, so ent­sprachen diese Ziele ohnehin den von der sowjetischen Seite mit dem Prozess vehement verfolgten Zwecken. d) Art. 12 IMT-Statut Die Formulierung des Art. 12 IMT-Statut, der die Möglichkeit der Durchführung eines Verfahrens in absentia vorsah, erfolgte ohne nennenswerte Differenzen. Der sowjetische Entwurf vom 2. Juli 1945 enthielt in Artikel 33 eine eigenständige Regelung zum Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten.270 Der amerikanische Entwurf vom 30. Juni 1945 hatte dem Tribunal dagegen lediglich das Recht zur Festlegung des Umfangs und der Gründe für die Durchführung von Verhandlungen ohne die Anwesenheit des Angeklagten eingeräumt.271 Der vom Unterkomitee am 11. Juli 1945 vorgelegte Entwurf von Art. 12 IMT-Statut gab nahezu wörtlich die von sowjetischer Seite vorgeschlagene Formulierung wieder.272 Eine Diskussion dieser Norm fand schließlich in der Sitzung am 16. Juli 1945 statt. Jackson kritisierte den Ausdruck „hiding“, da er große Beweisschwierigkeiten befürchtete.273 Der Wortlaut wurde im Ergebnis leicht abgeändert, sodass statt der Formulierung „if he should be hiding or if the Tribunal, for other reasons […]“ in die Endfassung die auf das objektive Kriterium der Auffindbarkeit abstellende Wendung „if he has not been found or if the Tribunal for any reason […]“ aufgenommen wurde. 269

Pomorski, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 213 (225). Art. 33 (Zaočnoe rassmotrenie del/Trial in the Absence of the Defendant) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (183): „The Tribunal shall have the right to take proceedings against persons charged with the crimes set out in Article 2 of this Agreement, in the absence of the defendant, if the defendant should be hiding or if the Tribunal should for other reasons find it necessary to conduct the hearing in the absence of the defendant.“ 271 Ziff. 14 (b) (2), 2. Satz des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123) = Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (183): „[…] The Tribunal shall determine to what extent and for what reason proceedings against defendants may be taken without their presence.“ 272 Vgl. Ziff. 13 des im Unterkomitee erarbeiteten Entwurfs v. 11. Juli 1945 (Fn. 14), ­Jackson Report, Dok.  XXV, S.  194 (198): „The Tribunal shall have the right to take proceedings against a person charged with crimes set out in Article 6 of this Charter in his absence if he should be hiding or if the Tribunal, for other reasons, finds it necessary, in the interests of justice, to conduct the hearing in his absence.“ Für den Wortlaut des sowjetischen Vorschlags siehe oben Fn. 270. 273 Verhandlungsprotokoll v. 17. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (248 f.). 270

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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e) Art. 13 IMT-Statut Zu den kontrovers erörterten Aspekten gehörte u. a. die Befugnis des Tribunals, auf autonomer Basis Verfahrensregeln zu formulieren. Art.  13 IMT-Statut sieht vor, dass der Gerichtshof die Regeln für sein Verfahren selbst aufstellt, jedoch diese mit den Bestimmungen des Statuts nicht im Widerspruch stehen sollen. Vervollständigt wird die Norm durch die in Art. 14 lit. e IMT-Statut geregelte Berechtigung des Ausschusses der Generalstaatsanwälte, einen Entwurf der in Art. 13 IMT vorgesehenen Prozessregeln vorzubereiten und dem Gerichtshof vorzulegen. Der Gerichtshof konnte die vorgeschlagenen Prozessregeln sodann mit oder ohne Änderungen annehmen oder ablehnen. Jacksons Vorschlag zur Aufstellung von Verfahrensregeln bestand darin, dass das Tribunal das Recht erhalten sollte, Verfahrensregeln selbst zu schaffen, sie jedoch nicht detailliert zu kodifizieren. Auf diese Weise sollte das Gericht die Möglichkeit erhalten, auf alle unvorhergesehenen Situationen flexibel zu reagieren.274 Die sowjetische Delegation stimmte dem amerikanischen Vorschlag im Grundsatz zu, sprach sich jedoch – unterstützt von britischer Seite – dafür aus, die das Verfahren regelnden Grundprinzipien im Statut zu definieren.275 Im weiteren Verhandlungsverlauf differenzierte Trajnin die sowjetische Ansicht weiter aus, indem er zwischen „basic rules on which the Tribunal will operate“ und „methods of procedure“ bzw. „actual procedure“ unterschied.276 Die Festlegung der erstgenannten Regeln sollte seiner Ansicht nach zwingend durch die vier auf der Konferenz vertretenen Mächte erfolgen; die darauf basierenden detaillierten Verfahrensregeln seien dagegen dem Tribunal zur eigenen Ausgestaltung zu überlassen. Im Unterkomitee löste das Thema lange Debatten aus277, denen als Diskussionsbasis der sowjetische Artikel 4278 zugrunde lag, welcher in der Folgezeit noch umformuliert wurde.279 Während zu diesem Punkt Konsens erreicht werden konnte und die sowjetische Ansicht schlussendlich allseitige Unterstützung erfuhr, stand die Frage des Vorschlagsrechts der Anklagebehörde noch längere Zeit im Streit. Französisches und sowjetisches Lager vertraten dabei die Auffassung, dass die Einbeziehung der Ankläger in diesen kraft Natur der Sache originär dem Gericht zugeordneten Bereich dessen Kompetenzen einschränken würde.280 274

Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (74 f.). Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (75). 276 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (98). 277 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (188, 190 f.). 278 Art. 4 (Instrukcija/Instructions) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 59, S. 197 (198), zit. nach der engl. Übersetzung in Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (171): „For a more detailed definition of the procedure the Tribunal shall draw up instructions. These instructions shall not be inconsistent with the Statute.“ 279 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (188): „The Tribunal shall draw up rules of procedure which shall not be inconsistent with this Charter.“ 280 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (190 f.). 275

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Die britischen und amerikanischen Vertreter erachteten eine solche Regelung dagegen nicht als problematisch, da die endgültige Festlegung der Verfahrensregeln dem Gericht selbst vorbehalten bleiben würde. Auch wenn der genaue Verlauf der Debatten nicht rekonstruiert werden kann, zeigt die endgültige Fassung des Art. 13 IMT-Statut, dass diese Norm eine Kompromisslösung und das Ergebnis einer produktiven Zusammenarbeit darstellte. Die am 29. Oktober 1945 vom Internationalen Militärgerichtshof angenommene Verfahrensordnung erging sodann auf Grundlage von Art. 13 IMT-Statut.281 4. Der Ausschuss für die Untersuchung von Kriegsverbrechen und die Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern (Abschnitt III) Die Ausarbeitung von Art. 14 und 15 IMT-Statut gehörte zu den schwierigsten Angelegenheiten, die die Delegierten zu bewältigen hatten. Die letztlich gefundene Kompromisslösung ist Ausdruck des Versuchs, unterschiedliche Verständnisse über die Organisation und Rolle der Anklagebehörde miteinander in Einklang zu bringen. a) Ausschuss der Generalstaatsanwälte und zur selbstständigen Wahrnehmung übertragene Funktionen (Art. 14 und Art. 15 IMT-Statut) Das Statut weist den Generalstaatsanwälten Aufgaben zu, die sie entweder als Ausschuss (Art.  14 IMT-Statut) oder selbstständig und in Zusammenarbeit (Art. 15 IMT-Statut) erfüllen sollten. Diese Unterscheidung bildet den kleinsten gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Vorstellungen der Konferenzteilnehmer über die Arbeitsweise der Anklage vor und während des Verfahrens. Der zu Beginn der Konferenz zur Diskussionsgrundlage erklärte amerikanische Entwurf vom 14. Juni 1945 enthielt in Ziff. 10 und 11 eine Regelung über die Arbeitsweise der Hauptankläger, wonach für die Kernaufgaben der Anklagebehörde ein Handeln nach dem Mehrheitsprinzip vorgesehen war, nämlich die Festlegung der anzuklagenden Personen und Organisationen, die Vorbereitung der Anklage, aber auch die Einleitung und die Durchführung der Strafverfolgung (institute and conduct the prosecution).282 Diese Regelung wurde im dritten amerikanischen Entwurf vom 30.  Juni 1945 überarbeitet.283 Die neue Fassung zählte die Aufgaben der Anklagebehörde nunmehr enumerativ auf und bestimmte, dass diese durch 281

Verfahrensordnung v. 29. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 20–25. Vgl. Ziff. 10 des amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (57). 283 Vgl. Ziff. 8 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945, (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (122). 282

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Vereinbarung (by agreement) wahrgenommen werden sollten.284 Zwei Bereiche waren jedoch vom Abstimmungsgrundsatz ausgenommen und eröffneten den Haupt­anklägern ein gänzlich eigenständiges Vorgehen. Zum einen sollte jeder Hauptankläger jede in Haft seiner oder einer anderen die Anklage befürwortenden Regierung befindliche Person vor Gericht stellen dürfen.285 Auch sollte jeder Hauptankläger alle aus seiner Sicht beweiserheblichen Beweismittel ohne Abstimmung mit anderen Hauptanklägern dem Tribunal vorlegen dürfen286. Was die amerikanische Seite mit dem Terminus „by agreement“ meinte, erläuterte Jackson in der vierten gemeinsamen Verhandlungssitzung am 3. Juli 1945. Für den Arbeitsmodus der Anklage schwebte ihm eine Kooperation zwischen vier einzelnen und grundsätzlich voneinander unabhängigen Teams vor, die durch informelle Absprachen ihre Arbeit aufeinander abstimmen sollten.287 Auch der sowjetische Entwurf enthielt eine mit der Überschrift „die Anklage“ versehene Regelung.288 Die sowjetische Delegation wollte die Anklagebehörde im Gegensatz zu Jacksons Konzept als eine kollegial organisierte und operierende Kommission ausgestalten.289 Zwar sollten die Hauptankläger nicht ausschließlich gemeinsam, sondern in Einzel­ fällen auch unabhängig voneinander agieren können. Grundsätzlich sollte die Anklagebehörde im bevorstehenden Prozess jedoch als Gremium in Erscheinung treten, das gemeinsam die vier Regierungen repräsentieren, Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip treffen und in der Regel gemeinsam handeln würde.290 Die amerikanische Konzeption widersprach aus sowjetischer Perspektive dem inter­ nationalen Wesen des geplanten Prozesses: „To provide for the right of one, or in case of equal division, of two prosecutors to act on their own initiative, is to adopt a principle which is contrary to the whole charter of the ­International Tribunal […]. The whole agreement and the charter are based on combined action, on cooperation between the Four Powers. Now, if we introduce at one point in one paragraph a principle which departs from this and allows the action of only one power independently, then we are going completely contrary to the whole idea on which the charter is based, and the introduction of that one exception would mean that a whole series of regulations would have to be provided as to what would be done when that happens. It is quite contrary to the whole spirit of the charter.“291 284

Vgl. Ziff. 8 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (122). 285 Vgl. Ziff. 8 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945, (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (122). 286 Vgl. Ziff. 8 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945, (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (122). 287 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (151 f.). 288 Art. 23 (Obvinitel’/Prosecution) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (178): „A prosecutor shall take part in each trial. The prosecutor shall be a member of the Commission or some other competent person so entrusted by the Commission.“ 289 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (151 f.). 290 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (153). 291 Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (254).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Jackson lehnte die Idee einer festen Kommission, die gemeinsam die vier alliierten Regierungen repräsentieren sollte, schon deswegen ab, weil er sich in e­ rster Linie als Vertreter und Repräsentant des amerikanischen Präsidenten, der ihn zum Hauptankläger ernannt hatte, betrachtete.292 Jacksons Einsatz für eine möglichst informale Art der Kooperation findet seinen Ursprung zudem in der Befürchtung, schwerwiegende Differenzen zwischen den Anklageteams bei Prozessvorbereitung und -durchführung würden die Arbeit der Anklagebehörde und dabei insbesondere die Arbeit des amerikanischen Teams lähmen.293 Dass Jackson die Arbeit der Anklage am liebsten überwiegend unter amerikanischer Kontrolle gehalten hätte, veranschaulicht außerdem sein Memorandum an Colonel Storey vom 17.  September 1945, in dem Jackson zur Vorbereitung der Anklageschrift Stellung bezog: „I think we must utilize Committee 4294 as the basis for keeping control of the bulk of the case in American hands.“295

Im Unterkomitee sprach sich Trajnin gegen die im amerikanischen Vorschlag enthaltene Einschränkung des Mehrheitsprinzips und die Verankerung des Rechts auf individuelles Vorgehen von einzelnen Hauptanklägern aus.296 Aus dem Bericht des Unterkomitees geht ferner hervor, dass die Unterscheidung zwischen Aufgaben als Ausschuss und selbstständig bzw. in Zusammenarbeit zu erledigenden Aufgaben letztlich auf einen Vorschlag von Trajnin zurückgeht. Der im Unterkomitee ausgearbeitete Entwurf vereinigte den amerikanischen und sowjetischen Ansatz, indem er in Ziff.  15 einerseits die Aufgaben der Ankläger regelte, die diese nach dem Mehrheitsprinzip als Komitee erfüllen sollten (Abs. 1) und Aufgaben aufzählte, die von den Hauptanklägern individuell und in Zusammenarbeit miteinander gelöst werden sollten (Abs.  2). Diese charakteristische Zweiteilung wurde in der Endfassung von Art. 14 und 15 IMT beibehalten.297 Der Vorschlag, die Regelung zur Anklagebehörde in zwei eigenständige Artikel zu teilen, wurde

292

Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (151). Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (251), Verhandlungsprotokoll v. 24. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLVII, S. 260 (369 ff.). 294 Die Vertreter der vier Teilnehmerstaaten verständigten sich nach Abschluss der Londoner Verhandlungen auf die Einrichtung von vier Arbeitsausschüssen zur inhaltlichen Aus­ arbeitung der Anklageschrift. Der Ausschuss Nummer vier stand unter der Leitung der USA. Ausf. hierzu vgl. Kap. F. II. 295 Jacksons Memorandum for Colonel Storey v. 17. Sept. 1945, Correspondence between­ Robert Jackson and Robert G. Storey, September 17, 1945, War Crimes File, K. Lincoln ­Papers, Harry S. Truman Presidential Museum & Library, War Crimes File, Rosenman P ­ apers, Harry S. Truman Presidential Museum & Library, 3 Seiten, hier S. 1. Eine Ablichtung des einseitigen Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S. Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 296 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (189). 297 Ziff. 15 des Unterkomitee-Entwurfs v. 11. Juli 1945 (Fn. 14), Jackson Report, Dok. XXV, S. 194 (198 f.). 293

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

275

in der siebten Sitzung von Nikitčenko vorgetragen.298 Im Rahmen dieser Kompromisslösung setzte sich Jackson für einen größtmöglichen Erhalt von selbstständigen Handlungsräumen der einzelnen Anklageteams ein. Der Erfolg seiner Bemühungen lässt sich unschwer an Art. 15 IMT-Statut erkennen, der die wesentlichen zur Prozessvorbereitung und sämtliche zur Prozessdurchführung gehörenden Aufgabenbereiche der Anklage dem selbständig zu erledigenden Bereich zuordnet. Zu solchen essentiellen prozessvorbereitenden Maßnahmen zählten die Sammlung und Prüfung der Beweismittel, Vernehmung von Zeugen oder die Vorbereitung der Anklageschrift. Während des Prozesses sorgte die Regelung des Art. 15 lit. a und lit. d IMT-Statut – Vorlage des Beweismaterials während der Hauptverhandlung und das Auftreten vor dem Gerichtshof als Anklagebehörde – für eine weitgehende Selbstständigkeit der Anklageteams. Zu den gemäß Art. 14 IMT den Generalstaatsanwälten als Ausschuss überantworteten Aufgabenbereichen zählten letztlich nur formale prozessvorbereitende Maßnahmen. Hierunter fiel die Ausarbeitung eines Arbeitsplans für die Generalstaatsanwälte (lit. a), die Entscheidung über die Angeklagtenauswahl (lit.  b), die Entscheidung über die Form und den Umfang der Anklageschrift (lit. c), die Einreichung der Anklage und der dazu­ gehörigen Urkunden (lit. d) sowie der Entwurf und die Vorlage von Prozessregeln an den Gerichtshof (lit. e). b) Modus der Entscheidungsfindung im Komitee der Ankläger Die institutionelle Ausgestaltung der Anklagevertretung als Kollegialorgan der Chefankläger stellte die Konferenzteilnehmer vor die Frage, wie das Gremium Entscheidungen fassen würde. Problematisch erschien insbesondere der von ­Jackson mehrfach angesprochene Fall, dass in Streitfall zwischen den vier Anklägern Stimmgleichgewicht bestand und eine Konsensfindung unmöglich war. Besonders intensive Diskussionen löste die Frage aus, wie die Entscheidung darüber, wer als Hauptkriegsverbrecher vor dem IMT angeklagt werden sollte (Art.  14 lit.  b IMT-Statut), getroffen werden sollte. Jackson, der wiederholt auf die Möglichkeit von Differenzen zwischen den Anklageteams u. a. bei der Angeklagtenauswahl und generell im Verfahrensverlauf hingewiesen hatte, setzte sich für eine explizite und möglichst klare Regelung ein, um die Situation der Stimmenparität zu lösen. Bei der Frage der Bestimmung der Angeklagten befürwortete Jackson eine Abweichung vom Prinzip der Stimmmajorität, sodass im Fall einer Stimmenverteilung zwei zu zwei derjenige Ankläger, der die Anklage einer bestimmten Person vorgeschlagen hatte, dennoch würde fortfahren können. Nur wenn sein eigenes Votum mit drei Gegenstimmen überstimmt werden würde, sollte die für die Angeklagtenliste vorgeschlagene Person nicht angeklagt werden, da auch Jackson nicht für eine Fortsetzung der Anklage gegen eine Mehrheit der Ankläger war. Auf diese Weise würde nur eine Stimmverteilung drei zu eins 298

Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (255).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

die Anklage einer Person abwenden können. Jackson wollte mit seinen Vorschlägen ersichtlich verhindern, dass die von amerikanischer Seite durchgeführte Arbeit oder die Pläne zur Verfolgung von amerikanischen Gefangenen am Widerstand von zwei Anklägern scheitern würden.299 Die sowjetische Delegation schlug dagegen vor, dass die Stimme des Vorsitzenden, der nach einem Rotationsprinzip wechseln sollte, bei einer Stimmenverteilung zwei zu zwei im Sinne eines primus inter pares den Ausschlag geben sollte.300 Die sowjetischen Vertreter argumentierten zur Stützung ihres Vorbringens wiederholt mit dem internationalen Charakter des Tribunals.301 Wollte man einem Ankläger die Möglichkeit einräumen, als Vertreter eines einzelnen Staates die Anklage trotz zweier Gegenstimmen weiter zu forcieren, war nach Auffassung von Trajnin das Risiko gegeben, ein internationales Tribunal mit den Abstimmungsregeln eines nationalen Gerichts auszustatten, was nach seinem Verständnis der internationalen Besetzung des in Aussicht genommenen Tribunals durch Vertreter von vier unabhängigen Staaten zuwiderlief.302 Jackson beharrte indes auf seinem Standpunkt und verlangte weiterhin eine klare statutarische Regelung für das Problem des Stimmengleichgewichts im Anklägerausschluss. In dieser Hinsicht zeigte er sich weitaus pessimistischer als seine britischen, französischen und sowjetischen Kollegen, die einen überwiegend reibungsfreien Ablauf bei der Arbeit der Anklageteams und bei der Auswahl der Angeklagten erwarteten.303 Auch wenn die anderen Konferenzteilnehmer Jacksons offensichtliche Bedenken in dieser Form nicht teilten, zeigten sie sich kompromissoffen. Fyfe stimmte Jacksons Vorschlag mit der Erwägung zu, dass man die von Jackson vorgeschlagene Regelung als bloßen Sicherheitsmechanismus gefahrlos in das Statut aufnehmen könne. Nikitčenko stimmte in der neunten und der elften Sitzungen ebenfalls zu, dass eine Anklage vor dem Gerichtshof auch dann sollte erhoben werden können, wenn sich die Stimmen der Ankläger im Verhältnis zwei zu zwei gegenüber stehen würden.304 Die sodann beschlossene Endfassung von Art. 14 IMT-Statut legte u. a. fest, dass der Ausschluss grundsätzlich mit der Mehrheit der Stimmen entscheiden und einen Vorsitzenden ernennen sollte. Für die Frage, wer als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden sollte, sah das Statut eine besondere Regelung vor, wonach im Falle der Stimmengleichheit der 299

Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (251 f.). Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (252). 301 Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (254). 302 Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (251 f.). 303 Fyfe in der Verhandlung v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (251): „I don’t think there is much reason for disagreement in practice. That is my point to the matter“, Professor Gros, ebd.: „I would like to support your views. We think also that there might be come disagreement but cannot see why that should happen.“ Professor Trainin, ebd.: „We do not foresee any practical difficulty any more than the French member. He is quite ­convinced that in the majority of cases all steps will be taken unanimously, but I do foresee considerable difficulty if it is possible for only one of the prosecuting officers to take charge of a case.“ 304 Verhandlungsprotokoll v. 18. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXIII, S. 280 (287); Verhandlungsprotokoll v. 20. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLII, S. 315 (320 f.). 300

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Vorschlag derjenigen Partei ausschlaggebend sein sollte, die beantragt hatte, dass eine bestimmte Person abgeurteilt werden soll oder dass eine bestimmte Anklage gegen diese Person erhoben werden soll. c) Umfang der Anklageschrift und beizufügende Dokumente Art. 14 lit. c und d IMT-Statut (Entscheidung über die Anklage und die Einreichung der Anklageschrift) stellen eine Kompromisslösung dar. Diskussionen über die Form und den Umfang der Anklageschrift entbrannten bereits am ersten Sitzungstag der Londoner Konferenz.305 Während die französische und sowjetische Seite die Anklageschrift bei ihrer Übergabe an das Tribunal mit allen Beweisenmitteln versehen wissen wollten306, sahen die Briten und Amerikaner in der Anklageschrift lediglich eine „bill of accusation“, eine Aufzählung der dem Beschuldigten zur Last gelegten Punkte ohne gleichzeitige Vorlage von Beweisen.307 In ihrem dritten Entwurf vom 30. Juni 1945 schlugen die Amerikaner eine Regelung vor, die zwar in der Sache dem anglo-amerikanischen Konzept folgte, aber den Vorstellungen der sowjetischen und französischen Delegierten insofern entgegenkam, als dass die Anklageschrift nunmehr umfangreicher und ausführlicher gestaltet werden sollte: „There shall be lodged with the Court prior to the commencement of the trial an indictment, supported by full particulars, specifying in detail the charges against the defendants being brought to trial. No proof shall be lodged with the Court except at the trial, and copies of any matters to be introduced in writing shall be furnished the defendant prior to their introduction.“308

305

Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (76 ff.). Für die franz. Seite vgl. Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (79). Für den sowjet. Standpunkt vgl. ebd., S. 78 ff. Die sowjetische StPO sah mit Art. 210 StPO RSFSR eine sehr detaillierte Regelung über die äußere Form und den Inhalt einer Anklageschrift vor. Demnach bestand die sowjetische Anklageschrift aus zwei­ Teilen. Der erste („deskriptive“) Teil sollte eine Beschreibung der Fallumstände enthalten, die durch das Ermittlungsverfahren festgestellt wurden, inklusive eines Hinweises auf die Beweise, auf die der Ermittler sein Urteil über die Notwendigkeit der gerichtlichen Anklageerhebung gestützt hatte. Im zweiten („beschließenden“) Teil erfolgten Angaben zur Person des Be­schuldigten, den Ort, die Zeit, die Mittel und Motive der Tatbegehung sowie über die anzuwendenden Strafnormen. Der Anklageschrift war eine Liste mit Personen beizufügen, gegen die strafrechtlich ermittelt wurde oder in Bezug auf die Ermittlungen beendet worden waren sowie eine Liste mit Personen, die für die Gerichtsverhandlung geladen werden sollten. 307 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (76 ff.). „The indictment itself merely shows that one is accused and informs him of the charges against him but the indictment itself is not much more than a notice of trial and of the charges and does not stand as evidence. Therefore the prosecuting officers would conduct the trial at which all the proof would be brought out.“, ebd., S. 77. 308 Ziff. 11 des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123). 306

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Bei der gutachterlichen Überprüfung des amerikanischen Entwurfs im NKID rief diese Norm keine Änderungswünsche hervor. Zur o.  g. Vorschrift stellte Vyšinskij in einer handschriftlichen Anmerkung auf dem Bericht von Osni­ckaja vom 5. Juli 1945 knapp fest: „Man kann zustimmen“309. Der sowjetische Entwurf vom 2. Juli 1945 hatte keine mit Ziff. 11 des amerikanischen Entwurfs vergleichbare Norm enthalten.310 Während der Verhandlung der Unterkommission stimmte Trajnin dem amerikanischen Entwurf grundsätzlich zu, plädierte jedoch dafür, dass u. a. die Formulierung „No proof shall be lodged with the Court ­except at the trial“ gestrichen wird311. Die vom Unterkomitee am 11. Juli 1945 in Art. 15 konzipierte Regelung bestimmte, dass mit der Anklageschrift auch (nicht näher bestimmte) Dokumente eingereicht werden sollten.312 Diese Formulierung wurde in der Folgezeit nur noch minimalen redaktionellen Änderungen unterzogen und fand sich in der Endfassung von Art. 14 lit. c und lit. d IMT-Statut wieder.313 Dass zwischen den Delegationen Mitte Juli jedoch nach wie vor große Differenzen über die Auslegung dieser Norm bestanden, zeigten die folgenden Sitzungen und der am 17. Juli 1945 von britischer Seite vorgelegte, sehr knapp gefasste Entwurf der Anklageschrift.314 Bei der Beratung von Art. 15 des Unterkomitee-Entwurfs warf Jackson erneut die Frage auf, ob hinsichtlich der Beifügung von Dokumenten bei der Einreichung der Anklageschrift Einigung erreicht worden wäre.315 Nikitčenko führte den insoweit völlig eindeutigen Wortlaut von Art. 15 lit. d an: „I think we have all come to the conclusion that the indictment, all the evidence, all the documents, everything concerning the case, should be passed on to the Tribunal. It is in subparagraph (d) of article 15.“316 309 Siehe Bericht v. Osnickaja v. 5. Juli 1945 (Fn. 48), AVP RF, f. 7, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (72). 310 Eine Bezugnahme auf die Anklageschrift enthielt der lediglich den Verfahrensgang beschreibende Art. 25 (Porjadok sudebnogo processa/Procedure at the Trial) des sowjet. Entwurfs des Statuts v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 59, S. 197 (201), engl. Übersetzung in Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (179). 311 Bericht über die Arbeit im Unterkomitee v. 11.  Juli 1945 (Fn.  11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (189). 312 Ziff. 15. Abs. 1, lit. c: „The approval of the indictment and the accompanying documents therewith“, lit. d: „The lodgement of the indictment and the accompanying documents with the Tribunal“, Entwurf des Unterkomitees v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXV, S. 194 (198). 313 Vgl. die engl. Fassung des Art. 14 lit. c und lit. d des IMT-Statuts (Fn. 3), IMT, Vol. I, S. 10 (13): „(c) to approve the Indictment and the documents to be submitted therewith, (d) to lodge the Indictment and the accompanying documents with the Tribunal“. Für die dt. Fassung siehe IMT, Bd. I, S. 10 (14). 314 Illustrative Draft of Indictment, Submitted by British Delegation, July 17, 1945, Jackson Report, Dok. XXXI, S. 259–261. 315 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (267). 316 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (267).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Jackson widersprach diesem Verständnis der Norm317 und führte zur Begründung aus, Einigung sei aus seiner Sicht nur insoweit erreicht worden, als der Anklageschrift nur einige wenige Dokumente beigefügt werden sollten und die Anklage den ‚Fall‘ mit der hierfür notwendigen Vorlage der Beweise in der öffentlichen Verhandlung präsentieren würde.318 Es kam erneut zu einer ausführlichen Erörterung aller Vor- und Nachteile der aus unterschiedlichen Rechtssystemen stammenden Konzeptionen zum Umfang und Form der Anklageschrift. Am 19. Juli 1945 unterbreiteten die Briten einen Kompromissvorschlag, der eine ausführliche Aufzählung der beizufügenden Dokumente enthielt, darunter völkerrechtliche Verträge, offizielle Regierungsdokumente, Kopien von Zeugenvernehmungsprotokollen, eidesstattliche Versicherungen und Kopien von Angeklagtenvernehmungsprotokollen.319 Dieser Vorschlag wurde in der elften Sitzung am 20. Juli 1945 ausgiebig diskutiert und letztlich abgelehnt. Die vom Unterkomitee entworfene Regelung wurde in der Endfassung ohne inhaltliche Änderungen aufgenommen. In der Gesamtschau vereinigen Art. 14 und 15 IMT-Statut mehrere Kompromisslösungen. Jackson vermochte durchzusetzen, dass in Art.  14 eine explizite Regelung für den Fall des Stimmgleichgewichts bei der Auswahl der Angeklagten aufgenommen wird. Auf sowjetischen Einfluss ist dagegen nicht nur die Einrichtung des Ausschusses an sich zurückzuführen, sondern auch das gegen den Widerstand Jacksons durchgesetzte Prinzip des Vorsitzwechsels. Gleichzeitig vermochte sich die sowjetische Delegation mit ihrem Vorschlag, wonach die Stimme des Vorsitzenden bei gleicher Stimmenverteilung im Allgemeinen den Ausschlag für die Gesamtentscheidung geben sollte, nicht durchzusetzen. Für die sowjetische Seite erwies sich die Endfassung von Art. 14 und 15 IMT-Statut, vergegenwärtigt man sich ihren ursprünglichen Vorschlag, alle Entscheidungen der Anklage­behörde kollegial auszugestalten, als großer Misserfolg. Art.  15 IMT-Statut gewährleistete die individuelle und nicht durch Abstimmung mit anderen Hauptanklägern eingeschränkte Aufgabenerfüllung durch die Generalstaatsanwälte in allen wesentlichen Bereichen der Prozessvorbereitung und -durchführung. Diese Eigenständigkeit war insbesondere im Hinblick auf die Arbeit während des Prozesses statutarisch garantiert. In Bezug auf die Auswahl der Angeklagten war eine weitgehende Selbstständigkeit ebenfalls gewährleistet, da der Vorschlag eines Hauptanklägers nur durch drei Gegenstimmen vereitelt werden konnte. Mit Blick auf das 317 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (267): „Well, I was afraid that was the interpretation that was arrived by the different delegations on the instrument, and I must say we could not accept that system as carrying out our idea of a trial.“ 318 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (267): „Well then, how does it work if all the evidence must be submitted with the indictment, what do you call then [die Zeugen, d. Verf.] for? I do not understand. What I had supposed we had agreed by this language was that we would put such documents as it is convenient to put in with the indictment, but that we would in open court prove our case.“ 319 Proposed Revision of Article 15 of Draft Agreement, Submitted by British Delegation, July 19, 1945, Jackson Report, Dok. XXXVIII, S. 310–311.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

letztendlich fixierte Recht, dem Tribunal selbstständig eigens geprüfte Beweise vorzulegen und vor dem Gerichtshof als Anklagebehörde selbstständig aufzutreten, erscheint eine Bewertung durchaus gerechtfertigt, wonach Jackson seinem Konzept mit unwesentlichen Einschränkungen zur Durchsetzung verholfen hat. 5. Fair Trial – gerechtes Verfahren für die Angeklagten (Abschnitt IV) Dem lediglich aus Art.  16 IMT bestehenden Abschnitt IV gingen sonderlich kontroverse Erörterungen nicht voraus. Die Rechte des Angeklagten, mit Hilfe derer die Garantie des fairen Verfahrens eingelöst werden sollte, wurden von der ersten Sitzung an erörtert.320 Als Grundlage der weiteren Beratungen wurde Ziff. 16 des amerikanischen Entwurfs vom 14.  Juni 1945.321 Unterschiedliche Auffassungen über den Inhalt oder den Umfang der fair trial-Garantien bestanden auf den ersten Blick jedoch nicht. Auch enthielt das sowjetische Memorandum vom 28. Juni 1945 zum amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945 keine Änderungsbegehren hinsichtlich der Rechte der Angeklagten. In Bezug auf Art. 16 des amerikanischen Entwurfs forderte die sowjetische Seite lediglich die Streichung der die Organisationenanklage regelnden lit. c.322 In der zweiten Sitzung am 29. Juni 1945 stellte Trajnin das sowjetische Memorandum vom 28. Juni 1945323 vor und sprach auch die Rechte des Angeklagten an. Auf die Nachfrage von Jacksons Assistent Donovan324 zählte Trajnin zu den prozessualen Garantien des Angeklagten das Recht, verteidigt zu werden, eine in seiner Muttersprache abgefasste Anklageschrift zu erhalten sowie alle notwendigen Erklärungen im Prozess abzugeben.325 Auf weitere Nachfrage bezeichnete Trajnin diese Aufzählung als vorläufig und zeigte sich gegenüber der Aufnahme von weitergehenden Garantien aufgeschlossen. Der sowjetische Entwurf vom 2. Juli 1945 enthielt in Art. 24 zwar eine Regelung mit der Überschrift „Verteidigung“326. Darin verankert war jedoch lediglich das Recht, durch einen zugelassenen Verteidiger oder eine andere vom Tribunal autorisierte Person verteidigt zu werden. Wie der Bericht des amerikanischen Vertreters im Unterkomitee vom 9.  Juli 1945 belegt, hatte sich Trajnin im Unterkomitee für die Ausweitung der Rechte der 320

Vgl. Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (83). Ziff. 16 des amer. Entwurfs v. 14. Juni (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (58 f.). 322 Ziff. 8 der sowjet. Ergänzungsvorschläge v. 28. Juni 1945 (Fn. 85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (93). 323 Sowjet. Änderungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92–96. 324 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (110). 325 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (110 f.). 326 Art. 24 (Zaščita/Defence) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S.  165 (179): „The right of the defence shall be recognized. Duly authorized lawyers or other persons admitted by the Tribunal shall plead for the defendant at his request.“ 321

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Angeklagten ausgesprochen, indem er den amerikanischen Entwurf als Basis für einen die Rechte der Angeklagten noch umfassender ausgestaltenden Neu­entwurf heranziehen wollte.327 Das Unterkomitee arbeitete sodann einen Entwurf des Art. 16 aus, den die sowjetische Seite grundsätzlich unterstützte. Die Verfasserin des NKID-internen Berichts zum Entwurf vom 11. Juli 1945 Osnickaja kommentierte Art. 16 dahingehend, dass man der Entwurfsplanung zustimmen könne.328 Eine in Art. 16 lit. b des Unterkomitee-Entwurfs enthaltene Formulierung, nämlich „the right to give any explanation which he may desire with regard to the charges made against him“, begegnete Kritik auf Seiten der sowjetischen Delegation, namentlich des Inhalts, dass man sie dahingehend verstehen könnte, der Angeklagte könne sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Auch Jackson missfiel die Formulierung, insbesondere der Ausdruck „explanation“, den er als aus juristischer Sicht bedeutungsleer bezeichnete und der den Angeklagten ermöglichen würde, „jede Rede zu halten, die er [ein Angeklagter, d. Verf.] wollte“329. Fyfe begegnete den sowjetischen Bedenken mit dem Vorschlag, dass man nur von relevanten Erklärungen sprechen könnte.330 Dieser Vorschlag wurde akzeptiert, sodass die Endfassung von Art. 16 lit. b IMT-Statut den Angeklagten in den Stand versetzte, auf jede der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen eine erhebliche Erklärung abzugeben.331 Das Recht des Angeklagten, jeden von der Anklagebehörde geladenen Zeugen im Kreuzverhör zu vernehmen (Art. 16 lit. e IMT-Statut), wurde erst in der letzten Konferenzsitzung am 2. August 1945 auf Jacksons Vorschlag hin aufgenommen332. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang die Frage Nikitčenkos nach der Bedeutung des Begriffs cross examination in der letzten Konferenzsitzung.333 Der Begriff des Kreuzverhörs stammt aus dem anglo-amerikanischen Strafprozessrecht und steht für eine ‚über Kreuz‘, d. h. abwechselnd durch den Anklagevertreter und den Verteidiger durchgeführte Vernehmung eines Angeklagten oder Zeugen.334 Dahinter 327 Bericht über die Arbeit des Unterkomitees v. 11.  Juli 1945 (Fn.  11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (189 f.): „Professor Trainin had no objection on principle to the American article 14 (a) and (b) (Fair Trial for the Defendants). He would like to take this as a basis and redraft it so as to make it even somewhat broader than the American draft.“ Für die amer. Regelung vgl. den Entwurf v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123). 328 Bericht von Osnickaja v. 17.  Juli 1945 (Fn.  50), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  62, S. 207 (208). 329 Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (256). 330 Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXX, S. 246 (256). 331 Art. 16 lit. b IMT-Statut (Fn. 3), IMT, Bd. I, S. 10 (15). 332 Vgl. Memorandum on Changes in Subcommittee Draft Desired by American Delegation, July 31, 1945, Jackson Report, Dok. LVII, S. 396–397, hier 396 f., sowie Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (403). 333 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (403). 334 Für eine zeitgenössische Definition des Begriffs cross-examination siehe Black, Law Dictionary, 2.  Aufl. (1910), S.  455: „The examination of  a witness upon  a trial or hearing, or upon taking a deposition, by the party opposed to the one who produced him, upon his­ evidence given in chief, to test his truth, to further develop it, or for other purposes.“

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

steht der Grundsatz der Waffengleichheit der Beteiligten, dessen Ausgestaltung im anglo-amerikanischen Prozess zu einem „Parteien-Prozess zwischen dem Vertreter der Anklage und der Beschuldigtenseite“ geführt hat.335 Typischerweise nimmt der Richter dabei eine eher passive Rolle ein, eine „Schiedsrichterposition zur Überwachung der ‚Wettkampf‘-Regeln“336. Bei der Durchführung eines Kreuzverhörs besteht die Intention darin, durch Anwendung von spezifischen Befragungsmethoden337 die Antworten des Befragten zu kontrollieren bzw. zu lenken338, den Befragten ggf. unter Druck zu setzen, um widersprüchliche Aussagen aufzudecken und seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen.339 Um die Kontrolle über die Aussage zu bewahren, sind der Staatsanwalt bzw. Verteidiger meistens bemüht, die Fragen so zu formulieren, dass der Befragte nur noch mit Ja oder Nein antworten muss.340 Der Begriff des Kreuzverhörs ist auch dem geltenden deutschen Strafprozessrecht bekannt. Gemäß § 238 Abs.  1 StPO obliegt die gesamte Prozessleitung, nämlich die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme, grundsätzlich dem Vorsitzenden. Mit § 239 StPO enthält die deutsche Strafprozessordnung für das Kreuzverhör eine eigenständige Regelung mit der Möglichkeit, dass der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen auf deren übereinstimmenden Antrag überlässt.341 Von dieser Möglichkeit wird jedoch in der deutschen 335

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 26. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 26; vgl. auch Polchinski, Cross-examination, S. viii. 337 Zur Technik vgl. Polchinski, Cross-examination, S. 23–42. 338 Iannuzzi, Handbook of Cross Examination, S. 4: „To be an effective cross-examiner, you must know just where you want to go with your cross-examination, go only there, and not an inch beyond. Simply, you must control every aspect of the examination: its direction, its questions, the witness, and even the answers the witness gives. You must know the answers a witness will give before you ever ask a question, and must not ask questions that will hurt your case.“ 339 Siehe beispielhaft Wellman, Art of cross examination, S. 23–35, der den „instinct to discover the weak point in the witness under examination“ für die wichtigste Fähigkeit für die­ erfolgreiche Durchführung eines Kreuzverhörs hält, ebd., S. 25. 340 Vgl. hierzu Iannuzzi, Handbook of Cross Examination, S. 93–102. 341 Die heute geltenden §§ 238, 239 StPO waren als §§ 237, 238 bereits in der ursprünglichen Fassung der Strafprozeßordnung v. 1. Feb. 1877 (RGBl. Bd. I, S. 253–346) enthalten. Für die seinerzeitige gesetzgeberische Motivation vgl. die Begründung zu den §§ 201, 202 des Entwurfs der Strafprozessordnung, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 2. Legislatur-Periode, II. Session 1874/1875, Dritter Band, Nr. 5, S. 101–127, hier S. 112. Als Grund für die Schaffung dieser Vorschriften diente u. a. der Gedanke, dass das Kreuzverhör den Richter „von einer seine sonstigen Aufgaben vielleicht gefährdenden Arbeitslast befreit“ und „bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Staatsanwalt und dem Vertheidiger eine größere Objektivität der Entscheidung“ sichert, vgl. Motive zum Entwurfe einer Strafprozeß-Ordnung und zum Entwurf des Einführungs-Gesetzes, ebd., S. 127–241, hier 183. Der Entwurf sah dennoch von der vollständigen Übertragung dieser „nach dem Vorbilde des englischen Verfahrens“ konzipierten Beweismethode ab. Begründet wurde es u. a. damit, dass der Anwendungsbereich der Regelung, die ja einen übereinstimmenden Antrag des Staatsanwalts und Verteidigers erfordert, letztlich sehr gering sei, da „nur in einem Bruch­ theil sämmtlicher Strafsachen die Mitwirkung eines Verteidigers stattfindet.“, ebd., S. 184. 336

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Strafrechtspraxis faktisch kein Gebrauch gemacht.342 Dem sowjetischen Prozessrecht war ein Kreuzverhör im Sinne des anglo-amerikanischen Prozessrechtssystems hingegen nicht bekannt. Die StPO der RSFSR von 1923343 sah zwar ein Fragerecht des Vorsitzenden, der beisitzenden Richter sowie der Vertreter der beiden Seiten – des Staatsanwalts und des Verteidigers – vor. Im Gegensatz zum oben geschilderten anglo-amerikanischen Verfahren waren im sowjetischen Recht die Verhandlungsleitung und die Beweisaufnahme indes exklusiv dem Vorsitzenden übertragen (Art. 257 StPO RSFSR). Zunächst wurde die Anklageschrift verlesen (Art. 279 StPO RSFSR). Sodann fasste der Vorsitzende das Wesentliche aus der Anklageschrift für den Angeklagten in einer ihm verständlichen Form zusammen und fragte ihn, ob er die gegen ihn erhobenen Anklagevorwürfe anerkenne und ob er sich sofort zur Sache äußern wolle (Art. 280 StPO RSFSR). Sodann hörte das Gericht die Erklärungen der Seiten an und entschied über den Ablauf der Verhandlung sowie über die Frage, ob und welche Vernehmungen stattfinden sollten. Für die Vernehmung des Angeklagten regelte Art. 283 StPO RSFSR, dass die Befragung erst durch den Vorsitzenden und die beisitzenden Richter erfolgen sollte und erst danach durch die Ankläger, den Adhäsionskläger, den Ver­teidiger und andere Angeklagten in der gleichen Sache.344 Die Vernehmung der Zeugen regelten Art. 284 bis 297 StPO RSFSR.345 Nach Art. 285 StPO RSFSR sollte der Zeuge ­zunächst auf Aufforderung des Vorsitzenden allgemein schildern, was ihm zur ­Sache bekannt ist. Im Anschluss an diese Schilderung räumte der Vorsitzende den Vertretern der Anklage und Verteidigung die Möglichkeit ein, den Zeugen zu b­ efragen, wobei er die Aufklärung der Sache nicht betreffende Fragen ausschließen konnte. Die Befragung sollte zuerst durch die Seite erfolgen, die den Zeugen benannt hatte, im Anschluss daran durch die andere Seite (Art. 287 StPO RSFSR). Der Vorsitzende und die beisitzenden Richter konnten gemäß Art. 289 StPO RSFSR dabei jederzeit Fragen an den Zeugen richten. Gab es bei diesem Vorgehen noch offene Fragen, erfolgte eine weiterführende Befragung gemäß dem­ geschilderten Ablauf, bis zur einstweiligen Klärung für alle Seiten. Vergleichbare Prinzipien galten im französischen Strafprozessrecht.346 Im Anschluss an die Verlesung der Anklageschrift (Art. 313 Abs. 2 CIC) schilderte der 342

Meyer-Goßner, StPO, § 239, Rdnr. 1. Strafprozessordnung der RSFSR 1923 (Ugolovno-Processual’nyj Kodeks RSFSR) v. 15. Feb. 1923, siehe die Nachw. in Kap. C, Fn. 292. 344 Hierzu Vyšinskij, Sovetskij ugolovnyj process, S. 53. 345 Hierzu Vyšinskij, Sovetskij ugolovnyj process, S. 53–57. 346 Code d’instruction criminelle (im Folgenden CIC), dekretiert am 17. Nov. 1808, promulgiert am 27. Nov. 1808, abgedr. in: Haeberlin (Hrsg.), Sammlung, S. 3–88 = Tripier (Hrsg.), Les codes français, S.  681–796 = Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordon­ nances, etc., T. 18, S. 3–66. Der Code d’instruction criminelle v. 17. Nov. 1808 wurde abgelöst durch Art. 3 Loi n° 57–1426 v. 31. Dez. 1957, portant institution d’un code de procédure­ pénale, Journal Officiel de la République Française v. 8. Jan. 1958, S. 258–277. Zum franz. Prozessrecht ausführl. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 41–66, speziell zum Beweisrecht, ebd., S. 58–66. 343

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Präsident gemäß Art. 314 CIC zusammenfassend die in der Anklageschrift enthaltenen Vorwürfe. Sodann enthielt der Staatsanwalt die Möglichkeit, die Anklage und das Beweismaterial in mündlicher Form darzulegen (Art. 315 Abs. 1 CIC). Wie auch im sowjetischen Strafprozess oblag dem Präsidenten aufgrund seiner „pouvoire discrétionnaire“347 die Bestimmung des Ablaufs, des Umfangs und die Leitung der Beweisaufnahme, die mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache begann. Nach der Vernehmung des Angeklagten348 folgte die Vernehmung der Zeugen, die zunächst in Form einer zusammenhängenden Darstellung auszusagen hatten. In einem noch stärkeren Kontrast zum anglo-amerikanischen Kreuzverhör als die entsprechenden sowjetischen strafprozessualen Regelungen stand der französische Art. 319 CIC, der die Befragung der Zeugen durch die Prozessbeteiligten regelte. Das Recht, Fragen unmittelbar an den Zeugen zu richten, hatten mit Erlaubnis des Präsidenten lediglich die Richter, der Staatsanwalt und die Geschworenen.349 Der Angeklagte konnte zwar nach jeder Zeugenvernehmung eine Erklärung abgeben350, durfte seine Fragen jedoch nur mittelbar durch den Präsidenten an den Zeugen richten: „Le témoin ne pourra être interrompu: l’accusé ou son conseil pourront le questionner par l’organe du président, après sa déposition, et dire, tant contre lui que contre son témoignage, tout ce qui pourra être utile à la défense de l’accusé.“351

Zu den persönlichen Aufgaben des Präsidenten gehörten der Vorsitz und die allgemeine Leitung der während der Beweisaufnahme (l’instruction) stattfindenden Erörterungen (le débat).352 Am französischen Prozessrecht nach dem Code­ d’instruction criminelle von 1808 ist u. a. die fehlende Waffengleichheit und die übermäßig dominante Stellung des Gerichtsvorsitzenden kritisiert worden.353 347

Art. 268 CIC (Fn. 346), Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (26): „Le président est investi d’un pouvoir discrétionnaire, en vertu duquel il pourra prendre sur lui tout qu’il croira utile pour découvrir la vérité, et la loi charge son honneur et sa conscience d’employer tous ses efforts pour en favoriser la manifestation.“ 348 Vgl. hierzu Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 60. 349 Art. 319 CIC (Fn. 346), Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (30–31): „Les juges, le procureur général et les jurés auront la même faculté, en demandant la parole au président. La partie civile ne pourra faire de questions, soit au témoin, soit à l’accusé, que par l’organe du président.“ Hierzu Mittermaier, Mündlichkeit, S. 215. 350 Art. 319 CIC (Fn. 346), Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (30): „Après chaque déposition, le président demandera au témoin si c’est de l’accusé présent qu’il a entendu parler; il demandera ensuite à l’accusé s’il veut répondre à ce qui vient d’être dit contre lui.“ 351 Art. 319 CIC (Fn. 346), Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (30). 352 Art. 267 CIC (Fn. 346), Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (26). Hierzu Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 56. 353 Mittermaier, Mündlichkeit, S.  214: „Verfolgt man genauer die Garantien, welche der französische Code in Bezug auf die Hauptverhandlung gewährt, so zeigen sich wesentliche Verschiedenheiten von dem englischen Strafverfahren. Die Staatsbehörde ist hier vielfach zum Nachtheile des Angeklagten begünstigt.“ Siehe auch ebd., S. 215 ff.

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Auf der Londoner Konferenz ist das Kreuzverhör mehrmals thematisiert worden354, jedoch ist die Feinmechanik dieses anglo-amerikanischen Instrumentariums der französischen und sowjetischen Delegation zu keinem Zeitpunkt in der notwendigen Form vor Augen geführt worden. Die Beschreibung, die Nikitčenko am 2. August 1945 von Lord Chancellor Jowitt auf seine oben erwähnte Nachfrage erhielt355 war derart vage, dass sie die französische und sowjetische Delegierten zu der Annahme verleitete, es bestünden zu den ihnen aus der vorstehend skizzierten kontinentaleuropäischen Strafprozesstradition bekannten Befragungsmethoden keine wesentlichen Unterschiede. Als Jowitt seine Annahme zum Ausdruck brachte, in Frankreich sei die Vorgehensweise ähnlich der von ihm für das anglo-amerikanische System geschilderten, antwortete Robert Falco völlig unzutreffend „Yes, the same“356. Auch Nikitčenko stellte fest: „According to Continental pro­cedure, that is very widely used too“357. Offenbar waren beide wegen des völlig unzureichenden Informationstands der Fehlvorstellung erlegen, dass es sich um eine reguläre Befragung des Angeklagten oder Zeugen zunächst durch eine und dann durch die andere Seite handelte. Dabei unterscheidet das IMT-Statut selbst zwischen dem Kreuzverhör einerseits und dem einfachen Verhör von Zeugen oder Angeklagten andererseits. Nach Art. 24 lit. g IMT-Statut haben Anklagebehörde und Verteidiger das Recht, jeden Zeugen und Angeklagten zu verhören, zudem sind sie befugt, sie im Kreuzverhör zu vernehmen. Die oben erwähnte Nachfrage ­Nikitčenkos in der letzten Verhandlungssitzung nach der Natur des Kreuzverhörs veranschaulicht, dass das sowjetische Lager auch am Ende der Londoner Verhandlungen zumindest ein wesentliches Detail des anglo-amerikanischen Prozessrechts in seiner spezifischen Komplexität nicht durchdrungen hatte und ohne Weiteres auch nicht durchdringen konnte. Die sowjetische Delegation stimmte im Fall von Art. 16 lit. e IMT-Statut letztlich auf Grundlage eines voreilig angenommenen Konsenses und ohne inhaltliche Detailkenntnis zu. In der Hauptverhandlung konnten die sowjetischen Anklagevertreter aufgrund der Unkenntnis bzw. Unerfahrenheit mit der Technik des Kreuzverhörs nie wie ihre britischen oder die amerikanischen Kollegen die Kontrolle über das Aussageverhalten der Angeklagten oder Zeugen erlangen. Das Kreuzverhör des Angeklagten Sauckel durch den sowjetischen Hilfsankläger Aleksandrov358 geriet zum Desaster. Sauckel verlor sich in langatmigen Ausführungen und fiel dem Anklagevertreter teilweise ins Wort.359 Aleksandrovs 354 Vgl. die Sitzungen vom 16., 17. und 18. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, S. 256 f., 262, 282. 355 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (403): „In an English or American trial, after a witness has given testimony for the prosecution he can be questioned by the defense in order that the defense may test his evidence – verify his evidence, to see whether it is really worthy of credit. In our trials the defendant or his counsel is always entitled to put question in cross-examination.“ 356 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (403). 357 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (403). 358 Zur Person siehe Kap. G, Fn. 33. 359 Vgl. Protokoll der Verhandlungen v. 30. u. 31. Mai 1946, IMT, Bd. XV, S. 143–194.

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Fragetechnik, seine Verknüpfung der Fragen mit „abwertenden Unterstellungen“360, führten immer wieder zu Ermahnungen des Vorsitzenden L ­ awrence. Nicht minder misslich gestaltete sich das Kreuzverhör Fritzsches durch den sowjetischen Hauptankläger Rudenko.361 6. Rechte des Gerichtshofs und verfahrensmäßige Ausgestaltung (Abschnitt V) a) Art. 17 IMT-Statut Den Debatten um Art.  17 IMT-Statut lagen in erster Linie unterschiedliche Rechtstraditionen der Verhandlungsteilnehmer zu Grunde. Besonders kontrovers erörtert wurde die Frage, ob die Angeklagten entsprechend dem amerikanischen Vorschlag362 vom Tribunal als Zeugen vernommen werden durfen. Eine solche Doppelrolle des Angeklagten war sowohl aus sowjetischer als auch aus französischer Sicht nicht zulässig.363 Diese Ansicht setzte sich letztlich durch, sodass das Statut in Art. 17 lit. a nur das Recht des Gerichts, Zeugen zu laden sowie ihre Anwesenheit und Aussage zu verlangen, regelte, ohne die Angeklagten einzubeziehen. Art. 17 lit. b IMT-Statut regelte demgegenüber die Vernehmung des Angeklagten. Im Zusammenhang mit dieser Problematik entstand Diskussionsbedarf hinsichtlich der Frage, ob der Angeklagte in seiner Stellung als Zeuge vom Gerichtshof zur Aussage gezwungen werden kann. Sämtliche Verhandlungsteilnehmer waren der Ansicht, dass der Schutz des Angeklagten vor Selbst­ bezichtigung gewährleistet sein müsse und der Angeklagte insofern nicht zu einer Aussage verpflichtet werden dürfe. Solange die Idee im Raum stand, dass die Angeklagten als Zeugen hätten befragt werden können, erwies sich dieser Punkt für die sowjetische und französische Seite als besonders problematisch.364 Schließlich einigte man sich auf eine von Nikitčenko vorgeschlagene einfache Formulierung, wonach das Gericht berechtigt sein sollte, den Angeklagten zu vernehmen,

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Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 499. Protokoll der Verhandlung v. 28. Juni 1946, IMT, Bd. VII, S. 215–256. 362 Art. 10 (b) des amer. Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (122): „The International Military Tribunal shall have the power […] (b) to summon witnesses, including defendants, and to require their attendance and testimony.“ 363 Vgl. den Bericht über die Sitzungen des Unterkomitees (Fn.  11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (190): „In the discussion on the powers of the Tribunal Professor Trainin boggled at the words ‚witness, including defendants‘. He could not understand calling defendants as witnesses. He says it could not be done under Russian practice. And if they were called and refused to answer, the Tribunal could not force them to answer. Judge Falco said a person is either a witness or a defendant – he can’t be both.“ 364 Vgl. den Bericht über die Sitzungen des Unterkomitees v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (190); Verhandlungsprotokoll v. 16. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson­ Report, Dok. XXX, S. 246 (257). 361

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Art. 17 lit. b IMT-Statut.365 Auf Nikitčenkos Vorschlag geht auch die fehlende statutarische Fixierung des Aussageverweigerungsrechts des Angeklagten zurück, auch wenn der sowjetische Delegationsleiter in der Verhandlung betonte, dass das Schweigen nicht zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden dürfe. Die ausdrückliche Erwähnung dieses fundamentalen Rechts hätte aus Nikitčenkos Sicht das Risiko geborgen, die Angeklagten zu einer missbräuchlichen Nutzung des Aussageverweigerungsrechts zu animieren.366 Unverständnis löste im sowjetischen Lager zudem die Idee der Einsetzung der sog. masters and examiners aus. Aus britischer und amerikanischer Sicht war die Einsetzung der masters and examiners bzw. court officials in einem aufwendigen Verfahren wie dem geplanten unerlässlich, da sich im Prozess jederzeit die Notwendigkeit ergeben konnte, zusätzliches Beweismaterial von entlegenen Orten zu besorgen.367 Dieser Vorschlag stieß auf sowjetischen Widerstand, da die Sammlung von Beweisen aus sowjetischer Sicht als eine der prozessvorbereitenden Aufgaben nur der Anklagebehörde gebühren konnte.368 Darüber hinaus entzündete sich Kritik der sowjetischen Delegation auch an dem Umstand, dass sich das Tribunal infolge einer solchen Delegation zentraler Beweiserhebungs- und -würdigungsfuntionen ureigenster Kernkompetenzen beraubt sehen würde.369 Im Verhandlungsverlauf schien Konsens zunächst insofern erzielt, als man die Einsetzung von delegiertem Hilfspersonal an sich für statthaft zu erklären gedachte, aber gleichzeitig eine Formulierung zu wählen bestrebt war, die die Delegation von originären Gerichtskompetenzen nicht ausdrücklich authorisierte oder auch nur nahelegte.370 Ob die sowjetischen und französischen Delegierten wirklich erfasst hatten, welche Funktion die ihren nationalen Prozessrechtsordnungen in dieser Form fremden Gerichtshelfer erfüllen sollten, ist zweifelhaft. Diskussionen über die Rolle der masters and examiners setzten sich bis in die letzte Verhandlungssitzung fort. Einigung konnte letztlich erzielt werden, nachdem die sowjetische Seite in dieser Frage eingelenkt hatte.371

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Verhandlungsprotokoll v. 17. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXII, S. 262 (264). Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (263 f.). 367 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (265 f.). 368 Verhandlungsprotokoll v. 5. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXII, S. 155 (160); bei der Arbeit des Unterkomitees fiel es Trajnin schwer, die Stellung und Funktion der ‚special masters‘ genau einzuordnen, vgl. Bericht über die Sitzungen des Unterkomitees v. 11. Juli 1945 (Fn. 11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (190). 369 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (265); Verhandlungsprotokoll v. 2.  Aug. 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. LIX, S.  399 (405). 370 So Fyfes zusammenfassende Einschätzung gegen Ende der achten Sitzung, Verhandlungsprotokoll v. 17. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXII, S. 262 (272). 371 Verhandlungsprotokoll v. 2. Aug. 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. LIX, S. 399 (405). 366

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b) Art. 18 IMT-Statut Die im Jackson-Report nachgewiesenen Debatten zum Ringen um die richtige Formulierung dieser Vorschrift im Rahmen der Londoner Konferenz geben Aufschluss über die von den Signatarstaaten bei der Schaffung der Norm in ihrer konkreten Ausgestaltung zugrunde gelegte Regelungsintention. Die dem Tribunal in Art. 18 lit. b IMT-Statut auferlegte Pflicht zur effektiven Prozessleitung war demnach nicht nur in den Dienst der Verfahrensbeschleunigung im Sinne einer allgemeinen Prozessmaxime gestellt worden. Eine authentische Lektüre der im­ Jackson-Report zusammengestellten travaux préparatoires zum IMT-­Statut legt darüber hinaus ein Verständnis nahe, wonach die Vorschrift nicht minder auch als Instrument zur Abwehr nationalsozialistischer Propaganda oder politisch motivierter Anschuldigungen gegenüber den alliierten Siegermächten konzipiert worden ist. Die Sensibilisierung für die von einer etwaigen Politisierung des Verfahrens durch die Verteidigung ausgehenden Risiken und das hierauf gründende Bestreben nach Gewährleistung angemessener Kontrolle im Sinne einer jeder­ zeitigen thematischen Prozesshoheit lässt sich für alle Verhandlungsteilnehmer vom Beginn der Verhandlungen an nachweisen. Schon das in San Francisco präsentierte amerikanische Projekt sah mit Art. 14 des Entwurfs eine im Verhältnis zum späteren Art. 18 lit. b IMT-Statut ähnlich formulierte Bestimmung vor.372 In seinem Bericht an den Präsidenten vom 6. Juni 1945 wies ­Jackson auf den Umstand hin, dass die Verhandlungen durch verfahrensverzögernde oder ­-behindernde Taktiken der Angeklagten oder ihrer Verteidiger beeinträchtigt zu werden drohten, sollten nicht prozessuale Vorkehrungen gegen einen derartigen Msisbrauch von Verfahrensrechten getroffen werden.373 Die sowjetische Delegation befürwortete im Grundsatz die Aufnahme einer entsprechenden Vorgabe zu disziplinierenden Maßnahmen der Verhandlungsleitung. Sie brachte indes eine wesentliche Ergänzung der Entwurfsfassung von San Francisco ein, der zufolge das Tribunal nicht nur verfahrensverzögernde Handlungen, sondern auch die „­ Propaganda gegen die Vereinten Nationen“374 unterbinden können sollte. Die konkrete Formulierung der Vorschrift war sodann Gegenstand bereits der ersten Sitzung der Londoner Verhandlungen. Die sowjetischen Delegierten bekundeten in diesem Zusammenhang ihr Interesse an der Schaffung einer Regelung, mittels derer allen denkbaren Versuchen der Verteidigung, den Prozess für propagandis­tische Zwecke oder für Ge 372 Art. 14 des amerikanischen Entwurfs war wie folgt formuliert: „The tribunal shall […] (c) disallow action by defendants the effect of which will be to cause unreasonable delay or the introduction of irrelevant issues or evidence“, siehe American Draft of Definitive Proposals, Presented to Foreign Ministers in San Francisco (Kap. D., Fn. 1 u. 2), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25). 373 Report to the President by Mr. Justice Jackson v. 6. Juni 1945, Jackson Report, Dok. VIII, S. 42 (46). 374 Ü. d. Verf., Ziff. 9 des sowjet. Memorandums v. 9. Juni 1945 (Kap. D. Fn. 25), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 48, S. 175–177, hier S. 176, engl. Übersetzung in Jackson Report, Dok. X, S. 61–xx, hier S. 62. 

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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genanschuldigungen zu instrumentalisieren, die prozessuale Rechtfertigung eines Verteidigungsmittels entzogen werden könnte.375 Dieser Standpunkt fand schnell die Unterstützung der Briten, die es jedoch vorzogen, von „irrelevant propaganda“376 zu sprechen. Fyfe fasste die britische Position in der zweiten Sitzung mit folgenden Worten zusammen: „[…] I think there are two things to avoid – one is Nazi propaganda; the other is the trial of the actions of the countries of the prosecutor. We don’t want the trial to be swung over by the defense in an attempt to attack and have a trial in the eyes of the public of the action of the prosecution countries […].“377

Dass die Briten, indem sie das Merkmal der „Unerheblichkeit“ (irrelevant) in die Debatte einbrachten, in erster Linie die Unterbindung politischer Propaganda im Sinn hatten, lässt sich anhand der nachfolgenden Äußerung Fyfes veranschaulichen: „Paragraph 18 emphasizes our desire that there will not be delay or interruption or the misuse of the hearing for political purposes. Subparagraph (a) deals with confining the trials to expeditious hearing of the issues raised by the charges; (b) takes strict measures to prevent any action which will cause any delay and rules out irrelevant issues, including attempts to bring in political propaganda. That is what we envisage.“378

Die Diskussionen über die konkrete Ausgestaltung des Verbots politischer Gegenanschuldigungen dauerten bis zum Schluss der Verhandlungen an. Jackson pflichtete den britischen und sowjetischen Verhandlungsteilnehmern zwar ausdrücklich darin bei, dass das anwendbare Verfahrensrecht Instrumentarien bereitstellen musste, um nationalsozialistische Propaganda, politische Attacken oder Diskussionen über die Ursachen des Krieges unterbinden zu können. Er vermochte sich jedoch der von der sowjetischen Delegation vorgeschlagenen generalklauselartigen Untersagung von als „Propaganda“ qualifiziertem Verteidigungsverhalten nicht anzuschließen. Die explizite Statuierung eines Propagandaverbots barg seiner Einschätzung nach sogar das Risiko, erst Recht zum Anlass für etwaige Gegenvorwürfe genommen zu werden, da ein solches Verbot womöglich als Ausdruck der alliierten Angst vor politischen Attacken hätte gewertet ­werden­ 375 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 9), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (84): „We think it is perhaps very advisable to remind the judges that there may be a possibility of attempts by the Fascists to use the court as a sounding board for accusing the Allies of imperial design“; siehe ferner ebd.: „Don’t you think it is reasonable that provisions must be made to stop all attempts to use the trial for propaganda?“ 376 Verhandlungsprotokoll v. 26. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XIII, S. 71 (84). Die britischen Änderungsvorschläge zum amerikanischen Entwurf enthielten hierzu den folgenden Formulierungsvorschlag: „An International Military Tribunal shall […] (b) take strict measures to prevent any action which will cause unreasonable delay and rule out any irrelevant issues including attempts to introduce irrelevant political propaganda“, Amendments Proposed by the United Kingdom v. 28. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XIV, S. 86 (88). 377 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (102). 378 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (101).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

können.379 Zentraler noch war für Jackson das Argument, dass in prozes­sualer Hinsicht eine Differenzierung nur zwischen erheblichen bzw. unerheblichen Beweisantritten oder Einlassungen kaum durchführbar erschien. Die von sowjetischer Seite letztlich befürwortete Bewertung der Zulässigkeit prozessualer Erklärungen nicht anhand ihres Wahrheitsgehalts oder ihrer Verfahrensrelevanz, sondern anhand ihrer politischen Unbedenklichkeit fand in seinem Prozessverständnis keinen Raum.380 Jackson, der im Laufe der Diskussionen mehrmals seine Zustimmung mit den von sowjetischer Seite verfolgten und von den Briten unterstützten Zielen bekundete381, war der Auffassung, dass man die intendierte Wirkung auch mit weniger offenkundigen Mitteln würde herbeiführen können. Er gab insoweit zunächst zu bedenken, dass die Richter des Tribunals als Staatsangehörige der vier alliierten Siegermächte aller Voraussicht nach selbst wenig Interesse verspüren dürften, einen Prozess zu führen, der schamlosen Gegenbeschuldigungen allzu breiten Entfaltungsraum gewährt. Diese Annahme basierte auf der expressis verbis bekundeten Erwartung Jacksons, dass von den einzelnen Staaten als Richter und Ankläger nur vertrauenswürdige Personen nomminiert würden, von denen also angenommen werden könne, dass sie den Prozess nicht sehenden Auges zu einem propagandistischen Instrumentarium verkommen lassen würden.382 Jacksons eigentliche Sicherung, politischen Gegenanschuldigungen zu begegnen, bestand jedoch in der genauen Formulierung der Verbrechenstatbestände. Würde man beispielsweise die Aggression, wie Jackson es vorschlug, so definieren, dass politische, militärische, ökonomische und ähnliche Gesichtspunkte a priori nicht als Rechtfertigung für eine Angriffshandlung in Betracht gezogen werden konnten, würde man die Erörterung der politischen Kriegsursachen vermeiden. Bei entsprechender Ausgestaltung der Verbrechenstatbestände und der hiermit einhergehenden Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten erschien aus amerikanischer Sicht zur Sicherstellung des allseits erstrebten Ziels für die bezweckte Verfahrensbestimmung eine möglichst wertungsneutrale, dafür breit angelegte Formulierung wie „rule out irrelevant issues“ ausreichend, wobei diese Wendung durch den Zusatz „of whatever kind or nature“ (jedweder Art) sogar noch eine Weiterung erfahren könnte. Jackson konnte die Briten letztlich davon überzeugen, dass sich die ausdrückliche Erwähnung von Propaganda als Auslöser für die verfahrensrechtliche Untersagungsermächtigung letztlich als kontraproduktiv erweisen würde. Fyfe sprach sich in der achten Verhandlungssitzung am 17. Juli 1945 nunmehr ebenfalls gegen den von sowjetischer Seite in die Verhandlungen ein­ 379

Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (102); Verhandlungsprotokoll v. 4. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXII, S. 155 (160). 380 Jackson in der zweiten formellen Verhandlungssitzung: „If an offer of proof is irrelevant, it should be excluded merely because it is irrelevant. If it is relevant to the defence, would it be conceivable to exclude it because it might have unpleasant political implications?“, Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (102). 381 Jackson Report, S. 102, 160, 273. 382 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (102); Verhandlungsprotokoll v. 4. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXII, S. 155 (160).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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gebrachten Passus aus. In Anbetracht des Widerstands seitens der Amerikaner und Briten nahm auch Nikitčenko von der angetragenen Fassung letztlich Abstand. Er legte er jedoch gleichzeitig besonderen Wert auf die Feststellung, welche große Bedeutung die sowjetische Seite diesem Punkt beimaß: „When the charter was considered in the committee and in discussions that took place here before the committee took over the matter, the Soviet Delegation were always stressing the necessity of preventing the accused having the possibility of using the trials for propaganda because it is quite possible that the accused would like to become the accusers in the course of the trial. Therefore, the Soviet Delegation thought it right to alter this particular sentence dealing with measures to prevent such action and attached considarable importance to the point. To make it impossible for the accused to use the trial for a platform for propaganda and accusation but in order to arrive at a unanimous decision as soon as possible, the Soviet Delegation are prepared to accept the suggestion and omit the last sentence, seeing that the other delegations think that that sentence might diminish the authority of the Tribunal.“383

Dass die sowjetische Regierung nach intensivem Meinungsaustausch nicht weiter an ihrer Forderung nach Einführung eines expliziten Propagandaverbots festhielt, mutet zunächst keinesfalls selbstverständlich an. Das Einlenken Nikitčenkos steht in gewissem Widerspruch zu dem hartnäckigen Eintreten für eine Normfassung, auf deren Grundlage das Tribunal die als Propaganda deklarierten Gegenanschuldigungen hätte unterbinden sollen. Die Redebeiträge von Nikitčenko belegen indes, dass den sowjetischen Forderungen nach Statuierung eines Pro­ pagandaverbots weniger die Furcht vor nationalsozialistischer Propaganda als­ solcher zugrunde lag. Handlungsleitendes Motiv war vielmehr die Unterbindung von öffentlich vorgetragenen Gegenanschuldigungen in eigener Sache, wie sie vorhersehbar etwa im Falle des Katyn-Komplexes zu erwarten standen. Eine gewichtige Rolle für die Aufgabe der sowjetischen Position dürfte insoweit der Umstand gespielt haben, dass sowohl die amerikanischen als auch die britischen Delegierten wiederholt den Eindruck erweckten, dass hinsichtlich der angestrebten Ziele uneingeschränkter Konsens mit dem sowjetischen Anliegen bestehe und bei Übereinstimmung in der Sache lediglich eine unverfänglichere Formulierung erdacht werden müsse. Selbst nach dem Einlenken Nikitčenkos auf die von Jackson vorgeschlagene Linie brachte dieser nochmals seine in der Sache uneingeschränkte Zustimmung mit dem von sowjetischer Seite verfolgten Regelungsanliegen, „for the purpose of the Soviet Delegation in suggesting this sentence“, zum Ausdruck, wiewohl er sich der konkreten normativen Implementierung („use of this sentence“) nicht anzuschließen vermochte.384

383

Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (272 f.). 384 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10) Jackson Report, Dok. XXXII, S.  262 (273).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

c) Art. 19 bis 21 IMT-Statut Die Ausarbeitung der Beweisregeln, wie sie in Art. 19 bis 21 IMT-Statut niedergelegt sind, kann insgesamt als unproblematisch bezeichnet werden. Mit Art. 19 IMT-Statut legten die Verfasser des Statuts fest, dass für das IMT der Streng­beweis nicht gelten sollte, sondern dass sich der Prozess an einem schnellen und nicht formellen Verfahren orientieren sollte. Im sowjetischen Strafprozessrecht gab es für die Anordnung des Freibeweises mit Art. 57 StPO RSFSR eine analoge Regelung. Die Kernideen dieser Vorschrift waren bereits vollständig in Ziff. 13 und 14 des Rosenman-Entwurfs vom 3. Mai 1945 enthalten.385 Insbesondere der Gedanke der Prozessbeschleunigung war bereits in frühen amerikanischen Entwürfen enthalten. Keine explizite Erwähnung im Statut fanden die sog. affidavits, eidesstattliche Versicherungen bzw. Vernehmungsniederschriften von außerhalb der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen.386 Ihre prozessuale Bedeutung war dennoch enorm, da das IMT um die 300.000387 dieser Erklärungen prüfen musste. Die Zulässigkeit dieses Beweismittels stützte das Tribunal auf Art. 19 IMT-Statut.388 Der Einsatz der affidavits und der Umstand, dass der Zeuge nicht zwingend vernommen werden musste, stehen im Zusammenhang mit der oben erwähnten Ausrichtung des Prozesses am Prinzip des schnellen und nicht formellen Verfahrens. Der Grundsatz der persönlichen Vernehmung, also ein Vorrang des Zeugenbeweises vor dem Urkundenbeweis, bestimmte den Strafprozess im kontinentaleuropäischen Rechtssystem. Dieser im deutschen Strafprozessrecht in § 250 StPO ausdrücklich geregelte389 und als Prinzip der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit bekannte Grundsatz war, wenn auch nicht explizit normiert, fester Bestandteil 385 Vgl. Ziff. 13 und 14 des Rosenman-Entwurfs (Kap. D, Fn. 1 u. 2), Jackson Report, Dok. IV, S.  22 (25). Ziff.  13: Tribunals established pursuant to this Agreement shall adopt and apply, to the greatest extent possible expeditious and non-technical procedures. Ziff. 14: „Such tribunals shall (a) admit any evidence which in their opinion has probative value, (b) confine trials strictly to an expeditious hearing of the issues raised by the charges, (c) disallow action by defendants the effect of which will be to cause unreasonable delay or the introduction of irrelevant issues or evidence, and (d) employ with all possible liberality simplifications of proof, such as but not limited t: requiring defendants to make proffers of proof; taking judicial notice of facts of common knowledge; and utilizing reasonable presumptions.“ 386 Safferling, Internationales Strafrecht, § 4 Rdnr. 32. 387 Zentner, Nürnberger Prozeß, S. 10. Klaus Kastner nennt die Zahl von mind. 200.000, Kastner, Völker, S. 70. 388 Siehe die ausdrückliche Bezugnahme des Vorsitzenden Lawrence auf Art. 19 IMT-Statut bei der Prüfung der eidesstattlichen Versicherung (Beweisstück 2753-PS = US-515) des früheren Wächters des Konzentrationslagers Mauthausen Alois Höllriegl, Verhandlungsprotokoll v. 2. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 330. 389 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz war, wie auch die oben erwähnte Prozessleitungsaufgabe des Vorsitzenden oder das Kreuzverhör (hierzu oben Fn. 341), bereits Teil der StPO 1877 (Fn. 352). § 249 lautete: „Beruht der Beweis einer Thatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist die letztere in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden.“

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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des sowjetischen Strafprozesses. Die Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen durch den Vorsitzenden und die beisitzenden Richter regelten Art.  283 bis 297 StPO RSFSR. Die sowjetische Strafprozessordnung sah die Möglichkeit der Verlesung von zuvor protokollierten Aussagen von Angeklagten (Art. 295 StPO RSFSR) und Zeugen (Art. 297 StPO RSFSR) zwar vor, doch handelte es sich hierbei um Ausnahmen vom Grundsatz der persönlichen Vernehmung. Die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls eines Angeklagten war nur bei in Abwesenheit geführten Prozessen möglich oder im Falle, wenn ein Angeklagter verstorben war, Art. 295 StPO RSFSR. Die Verlesung von Vernehmungsniederschriften von Zeugen stand gemäß Art. 297 StPO RSFSR im Ermessen des Gerichts oder musste von einer Seite explizit beantragt werden. Auch Vyšinskij zählte den Grundsatz der Unmittelbarkeit in seinem 1938 ver­öffentlichten Lehrbuch zum sowjetischen Strafprozess zu den zentralen Prozessmaximen.390 Ausnahmen vom Prinzip der Unmittelbarkeit waren nur in seltenen Ausnahmen zulässig, nämlich wenn die Überprüfung eines Beweismittels während der Hauptverhandlung unmöglich war oder nur unter äußerst schwierigen Bedingungen erfolgen konnte. Einen solchen Ausnahmefall beschrieb Vyšinskij wie folgt: „Wenn ein bereits im Ermittlungsverfahren vernommener Zeuge im Zeitpunkt der Hauptverhandlung verstorben oder unbekannt verzogen ist, muss das Gericht notwendigerweise seine Aussage nicht unmittelbar zur Kenntnis nehmen, sondern mittels des Vernehmungsprotokolls der Ermittlungsperson. Man muss immer beachten, dass Abweichungen vom Prinzip der Unmittelbarkeit immer unerwünscht sind und nur in Ausnahmefällen zugelassen werden sollten.“391

Auch die französische Strafprozessordnung, der Code d’instruction criminelle vom 1808, enthielt zwar keine den Vorrang des Zeugenbeweises vor dem Urkundenbeweis explizit regelnde Norm. Allerdings statuierte Art. 317 CIC für Zeugen die Pflicht, in der Hauptverhandlung mündlich auszusagen.392 Die auf der Konferenz in London zu Beginn der Verhandlung vorgelegten amerikanischen Entwürfe und Dokumente waren sämtlich dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung und Beweiserleichterung untergeordnet. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit hingegen fand keine erkennbare Berücksichtigung. Als Diskussionsbasis diente der amerikanische Entwurf vom 14. Juni 1945, der wie bereits sein Vorentwurf393 eine Ausrichtung an einem schnellen und informal ausgestalteten Verfahren vorsah.394 Ein Prioritätsverhältnis zwischen Zeugen und Urkunden war 390

Vyšinskij, Sovetskij ugolovnyj process, S. 7–9. Ü. d. Verf., Vyšinskij, Sovetskij ugolovnyj process, S. 7. 392 Art. 317 CIC a. E. (Fn. 346): „les témoins déposeront oralement“, Lepec (Hrsg.), Recueil général des lois, décrets, ordonnances, etc., T. 18, S. 3 (30). 393 Vgl. Ziff. 13 u. 14 des Entwurfs v. 3. Mai 1945 (Fn. 385), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25). 394 Amer. Entwurf v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55–60. Vgl. auch das Planning Memorandum Distributed to Delegations at Beginning of London Conference, June 1945, Jackson Report, Dok. XI, S. 64–68, insbesondere Abschnitt III (Admissibility of Evidence) auf S. 66. 391

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

darin nicht vorgegeben. Diesen Entwürfen folgend sah auch die Endfassung des sehr wenige verfahrensrechtliche Regelungen enthaltenden395 IMT-Statuts eine Anordnung des Vorrangs des Zeugenbeweises vor dem Urkundenbeweis nicht vor. In Art. 17 lit. a fanden Zeugen als Beweismittel Erwähnung, in Art. 17 lit. c Urkunden und andere Beweismittel. In Ermangelung einer speziellen Regelung für ein Vorrangverhältnis stehen diese Beweismittel daher gleichberechtigt neben­ einander. Entsprechend sah die auf Grundlage von Art. 13 IMT-Statut erlassene Verfahrensordnung in Vorschrift 4 lit. a bis lit. e für die Vorlage von Beweisen durch die Verteidigung ebenfalls kein Rangverhältnis zwischen Urkunden und Beweisen vor.396 Einen wesentlichen Einfluss übte die sowjetische Delegation auf die Formulierung in Art. 21 IMT-Statut aus, derzufolge das Gericht u. a. allgemein bekannte Tatsachen ohne Beweisführung von Amts wegen zur Kenntnis nehmen, was sich auch auf öffentliche Urkunden der Regierungen und Berichte der Vereinten Nationen, einschließlich der Handlungen und Urkunden der in den verschiedenen­ alliierten Ländern eingesetzten Untersuchungskomitees erstrecken sollte. Die Ausdehnung dieser Regelung auf Berichte der Vereinten Nationen und nationalen Komitees geht auf die Initiative der sowjetischen Delegation zurück.397 Damit vermochte die UdSSR die Berichte und Dokumente ihrer eigenen Beweissammlungskommission, der ČGK398, aber auch amtliche Berichte der tschechoslowakischen, polnischen und jugoslawischen Regierungen399 in vereinfachter Form in den Prozess einführen.400 d) Art. 22 IMT-Statut Als äußerst kompliziert stellte sich die Festlegung des Sitzes des Gerichtshofs dar, der zwischen den Verhandlungsteilnehmern bis in die letzte Sitzung im Streit stand. In der Endfassung des Art. 22 IMT-Statut einigte man sich schließlich auf Berlin als ständigen Sitz. Die ersten Sitzungen des Gerichtshofs und der 395

Safferling, Internationales Strafrecht, § 4 Rdnr. 32. Verfahrensordnung v. 29. Okt. 1945 (Fn. 281), IMT, Bd. I, S. 20 (21–22). 397 Ziff. 13 des sowjet. Aide-mémoire v. 9. Juni 1945 (Kap. D., Fn. 25), Jackson Report, Dok. X, S. 61 (63). 398 Nach Angaben des Leiters der sowjetischen Dokumentationsabteilung Karev legte die sowjetische Anklage insgesamt 44 Berichte der Außerordentlichen Staatskommission, überwiegend zum Nachweis von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vor, Bericht „Vorläufige Angaben über die Dokumente, die die sowjetische Anklage dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vorgelegt hat“, Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 7–10, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407–409. 399 Für einen Überblick über die sowjet. Beweise siehe den Vortrag des Hilfsankläger Karev am 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 219–223. 400 Für eine Übersicht über die sowjetischen Anklagedokumente siehe Kap. G. III. 3. a) aa). 396

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Generalstaatsanwälte sollten ebenfalls in Berlin stattfinden, der erste Prozess dagegen in Nürnberg eröffnet werden. Für die nachfolgenden Prozesse sah Art. 22 IMT-Statut vor, dass der Gerichtshof über den Verhandlungsort jeweils konkret zu entscheiden hatte. Den Verhandlungen der Londoner Konferenz als Kernproblem lagen unterschiedliche Strategien der sowjetischen und amerikanischen Seite hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der internationalen Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern zu Grunde. Die sowjetische Seite ging stets davon aus, dass sich das gemeinsame Anliegen, die Verfolgung von Hauptkriegsverbrechern, nicht nur in einem singulären Prozess erschöpfen würde, sondern eine längere Zusammenarbeit in Form von vielen Verfahren allseits avisiert sei. Der Gerichtshof würde, abhängig von den angeklagten Personen und ihren Verbrechen, in Kammern oder ähnlichen Abteilungen nicht nur in verschiedenen ­Teilen Deutschlands, sondern auch auf den Territorien verschiedener Länder Verfahren durchführen können. Aus diesem Grund unterschieden sie scharf zwischen dem ständigen Sitz des Tribunals und den Verhandlungsorten. In Bezug auf den dauerhaften Sitz des Militärtribunals nahmen die sowjetischen Delegationsvertreter eine unnachgiebige Haltung ein. Als Ort, der als Adresse, Sitz und Zentrale des Tribunals gelten konnte, kam aus ihrer Sicht nur Berlin in Frage. Das hierfür vorgetragene Hauptargument war die Nähe zum Kontrollrat. Berlin hatte zudem eine starke symbolische Bedeutung, da es die einzige deutsche Stadt war, in der alle vier Regierungen repräsentiert waren und die insofern neutral schien. Nikitčenko und Trajnin brachten ferner das Argument vor, Berlin sei wegen seiner geogra­phischen Lage geeigneter und biete durch die Nähe zum Kontrollrat Möglichkeiten, sich – wenn notwendig – auf die Einrichtungen des Kontrollrats zu stützen. Auch ein großer Teil der Prozessvorbereitung konnte aus sowjetischer Sicht dort stattfinden.401 Im Verlauf der Diskussionen vertraten Nikitčenko und Trajnin konsequent das Konzept eines internationalen Militärtribunals als einer längerfristigen, dauerhaften Einrichtung. Die amerikanische Position war dagegen nicht immer gleicher­maßen eindeutig und beständig. Die ersten amerikanischen Entwürfe waren ebenfalls auf eine dauerhafte Zusammenarbeit angelegt mit der darin enthaltenen Idee von (mehreren) Tribunalen, wobei der Sitz des IMT in Deutschland, Österreich, Italien oder – mit der Zustimmung des betreffenden Landes – in jedem anderen Land belegen sein konnte.402 Jacksons Redebeiträge offenbarten dagegen erhebliche Widersprüche. Einerseits musste aus seiner Sicht die Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher nicht gezwungenermaßen auf ein Verfahren beschränkt bleiben. Gleichzeitig sprach er sich eindeutig gegen eine langfristige judizielle Z ­ usammenarbeit aus und zeigte 401 Verhandlungsprotokoll v. 17. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXII, S. 262 (278); Report of American Member of Drafting Subcommittee v. 20.  Juli 1945, Jackson Report, Dok. XL, S. 313; Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (340 f.); Verhandlungsprotokoll v. 24. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLVII, S. 360 (365). 402 Art. 15 und 17 des San Francisco Entwurfs (Kap. D., Fn. 1 u. 2), Jackson Report, Dok. IV, S. 22 (25 f.); Art. 7 d. amer. Entwurfs v. 14. Juni 1945 (Fn. 12), Jackson Report, Dok. IX, S. 55 (56).

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

sich lediglich daran interessiert, einen bzw. maximal mehrere große Prozesse unter gemeinsamer Regie durchzuführen.403 Jackson begründete seine ablehnende Haltung gegenüber dem sowjetischen Standpunkt ferner mit dem Argument, Berlin erscheine als Stadt, in der die vier Militärverwaltungen errichtet werden sollten, gerade nicht geeignet. Es erscheine zu aufwendig, dort für eine adäquate Unterbringung, den Transport oder die Kommunikation zu sorgen sowie andere für den Prozess notwendigen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.404 Die sowjetische Delegation erklärte bereits in der Sitzung vom 18. Juli 1945 ihr Einverständnis, den ersten Prozess in Nürnberg zu organisieren.405 Die Frage nach dem offiziellen Sitz des Tribunals blieb dagegen bis zur letzten Sitzung strittig.406 Eine zentrale Rolle spielte im Hintergrund auch die „entschiedene Überzeugung“ ­Jacksons, dass es ohnehin besser wäre, einen Prozess ohne Beteiligung der UdSSR durchzuführen.407 Seine Ressentiments und die Abneigung gegen einen internationalen Prozesses unter Einschluss der UdSSR offenbarte Jackson mehrfach während der Verhandlungen der Londoner Konferenz.408 Die Endfassung des Art. 22 IMTStatut belegt, dass die Konferenzteilnehmer schließlich eine Kompromisslösung finden konnten. Die oben skizzierten Diskussionen über die Auswahl des Verhandlungsorts für den ersten Prozess und den offiziellen Sitz des Tribunals hatten jedoch auch eine im Verborgenen gebliebene politische Dimension, die sich den Verhandlungsprotokollen nicht eindeutig entnehmen lässt. Bereits in informellen Gesprächen vor Beginn der Londoner Verhandlung hatten sich die amerikanische und britische Delegation darauf ver­ständigt, dass der Prozess voraussichtlich in Deutschland und in diesem Fall entweder in der britischen oder amerikanischen Zone stattfinden sollte.409 In der Folgezeit leisteten die amerikanische und britische 403 Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (148 f.); Verhandlungsprotokoll v. 13. Juli 1945(Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXVII, S. 211 (232); Verhandlungsprotokoll v. 17. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXII, S. 262 (278 f.); Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (342). 404 Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (341). 405 Verhandlungsprotokoll v. 18. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXIII, S. 280 (281): „The arguments advanced by Mr.Justice Jackson yesterday regarding the seat of the first trial to be held in Nürnberg seem to be convincing, and there would be no objection from the Soviet Delegation to that first trial being in Nürnberg.“ 406 Verhandlungsprotokoll v. 2.  August 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. LIX, S.  399 (418–419). 407 Aufzeichnungen Rosenmans für Byrnes v. 1. Aug. 1945 (Fn. 18), zit. nach Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1061 (1062). 408 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII S. 97 (115): „[…] It raises the question of whether procedural differences are not so great that the idea of separate tribunals for each nation for the trial of its separate groups of prisoners may not be the easiest and most satisfactory way of reconciling it. I do not know, but just put that forward“; Verhandlungsprotokoll v. 23.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok.  XLIV S.  328 (343): „I am really getting very discouraged about the possibility of conducting an international trial with the different viewpoints.“ 409 Summary Record of Two Informal Gatherings of British and American Delegations, v. 21. u. 24. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XII, S. 69 (70).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

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Delegation insbesondere deswegen Widerstand gegen Berlin als Verhandlungsort oder Tribunalssitz, weil sie die Kontrolle der sowjetischen Seite vor Ort weitgehend zu minimieren trachteten. Die ­britische Position wird aus einem Schreiben des Staatssekretärs ­Cadogan an Premierminister ­Churchill am 6. Juli 1945 deutlich: „Die Amerikaner und wir wollen keinen großen Prozess an einem Ort haben, der ausschließlich von sowjetischen Streitkräften kontrolliert wird, und selbst wenn der Prozeß in der interalliierten Zone stattfände, wäre es wahrscheinlich schwierig, die sowjetischen Behörden daran zu hindern, die Kontrolle darüber zu erlangen.“410

Aus Cadogans Sicht schließlich erschien es ratsam, den ersten Prozess in der amerikanischen Besatzungszone, etwa in München oder Nürnberg, durchzuführen, nämlich „aus Höflichkeit gegenüber den Amerikanern, die in dieser ganzen Angelegenheit so viel Arbeit geleistet haben“ und weil auch praktische Erwägungen für eine solche Standortwahl sprachen, namentlich weil „es den britischen Militärbehörden die sehr schwere Last abnehmen würde, die praktischen Vorbereitungen für den Prozess zu treffen“411. Den Gedanken, dass man sich auf diese Weise auch einer sowjetischen Kontrolle würde entziehen können, formulierte noch deutlicher der britische Außenminister Eden in einem Schreiben an ­Churchill am 17. Juli 1945: „In Artikel 23 ist der Ort des Prozesses offengelassen. Ich bin entschieden dagegen, daß der Prozeß an einem sowjetischer Kontrolle unterstehenden Ort stattfindet, und meines Wissens sind die Amerikaner in diesem Punkt fest. Nürnberg oder München scheint mir der richtige Ort zu sein, und da wir und die Amerikaner fast alle Gefangegen in Gewahrsam haben, müssen die Russen wohl zustimmen.“412

Ein weiterer Grund für den anglo-amerikanischen Widerstand speiste sich aus der Befürchtung, ein unter sowjetischer Kontrolle ausgetragener Prozess würde sich negativ auf die öffentliche Wahrnehmung auswirken: 410 Schreiben Cadogans an Churchill v. 6. Juli 1945, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1042–1043, hier 1042. 411 Cadogan an Churchill, 6. Juli 1945 (Fn. 410), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1042 (1042). 412 Eden an Churchill am 17. Juli 1945, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1049–1050, hier S. 1049. Das Argument, dass die sowjetische Seite nur wenige Gefangene hatte, setzte Jackson am Verhandlungstisch mit der sowje­ tischen Delegation auch erfolgreich als Druckmittel ein: „Now the British have filed a list naming nine and two more for consideration as defendants. Our plan has been, as I have said here, to include key men in a single trial and to reach others through that trial of organizations so that we would not have to hold more than one trial or least not more than a few ­trials. We think on studying our list of prisoners that we would reach, through the trial of organizations, almost all of these people by our methods. Now I gather there is a different idea in the Soviet Delegation’s mind, and I would like to inquire how many prisoners they are. What is their rank, what is their position, what is the problem of reaching your prisoners, as you see it?“, Verhandlungsprotokoll v. v. 23. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328 (342). Vgl. auch ebd., S. 343: „Well, I think we agree on certain things, but I have got to get our prisoners some place where we can go to work on their cases, and the only place I can find to do it is Nürnberg.“

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E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

„Aus politschen Gründen liegt uns sehr daran, daß der Prozeß nicht in der sowjetischen Zone stattfindet, da es sehr wichtig ist, daß er unter Umständen stattfindet, die von der öffent­lichen Meinung jetzt und in Zukunft gebilligt werden. Wir und die Amerikaner haben Nürnberg vorgeschlagen, und die Russen haben dem vorläufig für den ersten Prozeß zusgestimmt, vorausgesetzt, der ständige Sitz und die Verwaltung des Gerichts sind in Berlin.“413

In der Gesamtbewertung erweist sich Art. 22 IMT-Statut als typisches Kompromissprodukt. Die aus sowjetischer Sicht essenzielle Unterscheidung zwischen dem ständigen Sitz des Gerichtshofs in Berlin und den folgenden Prozessen an noch zu bestimmenden Verhandlungsorten hat genauso Eingang in den Wortlaut der Vorschrift genommen wie die anglo-amerikanische Präferenz für einen ersten Verhandlungsort innerhalb ihrer Einflusssphäre. Die praktische Relevanz dieser Rege­lung stellte sich im Nachhinein jedoch als gering heraus, da weitere Prozesse dieser Art nicht folgen sollten. e) Art. 24 IMT-Statut Der die Reihenfolge und die wichtigsten Abschnitte des Verfahrensverlaufs regelnde Art. 24 IMT-Statut gehörte ungeachtet des zwischen dem angloamerikanischen und dem kontinentalen Modell bestehenden rechtstraditionellen Konfliktpotenzials nicht zu den besonders kontrovers diskutierten Regelungsbereichen. Die Ausarbeitung der Vorschrift fand überwiegend im Unterkomitee statt.414 Als Diskussionsgrundlage diente dabei der knapp formulierte Art.  25 des sowjetischen Entwurfs: „Court proceedings shall begin with the reading of the indictment. This shall be followed by the examination of the defendants and witnesses and by the reading of documents in the order established by the Presiding Officer. After the inquest the pleadings of the prosecution and of the counsel for the defense shall take place. After the pleadings the defendant shall be called upon to make his final speech.“415

Dieser Entwurf stellte eine knappe Zusammenstellung der wichtigsten sowje­ tischen Regelungen zum Verfahrensablauf nach der StPO RSFSR dar.416 Unbekannt war sowohl für die sowjetische als auch französische Seite die einleitende 413 Anlage zur Arbeitsunterlage der brit. Delegation auf der Konferenz von Potsdam, 28. Juli 1945, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1054–1056, hier 1055. 414 Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee (Fn.  11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (191). 415 Als Entwurf diente Art. 25 (Porjadok sudebnogo processa/Procedure at the Trial) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (179). 416 Für die Verlesung der Anklageschrift siehe Art.  279 StPO RSFSR; für die Entscheidung des Vorsitzenden über die Reihenfolge der Vorlage von Beweismitteln siehe Art. 281 StPO RSFSR; für die Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen siehe u. a. Art. 283 bzw. Art. 284–293 StPO RSFSR; zu den Plädoyers siehe Art. 304 StPO RSFSR sowie zum Recht auf das letzte Wort siehe Art. 307 StPO RSFSR.

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

299

Erklärung der Anklage.417 Aron Trajnin sprach sich jedoch schnell für eine solche Erklärung aus. Eine einleitende Erklärung der Angeklagten lehnte er dagegen ab, da sie den Gang der Beweisaufnahme unterbrechen würde. Erörterungs­bedarf bestand ferner zu der Frage, welche Reihenfolge für die Befragung der Angeklagten durch die Tribunalsmitglieder, Staatsanwälte und Verteidiger festgelegt werden sollte. Aus sowjetischer und französischer Sicht sollte das Fragerecht zuerst dem Tribunal als der mit der höchsten Autorität ausgestatteten Instanz gebühren.418 Bei der Befragung der zusätzlich geladenen Zeugen konnte es sich jedoch aus sowjetischer Sicht anders verhalten, da diese zuerst von der Seite befragt werden sollten, die ihre Ladung verlangt hatte. Im Allgemeinen wurde den Richtern des Tribunals, insbesondere dem Vorsitzenden, eine viel aktivere Rolle zugedacht, indem sie u. a. berechtigt sein sollten, an den Angeklagten oder an die Zeugen jederzeit Fragen zu richten.419 Um bei der Formulierung der Verfahrensregelungen eigene Vorstellungen besser zur Geltung bringen zu können, nutzten die britischen und amerikanischen Delegierten den bereits erwähnten420 Umstand, dass sich die meisten Hauptkriegsverbrecher in ihrer Gefangenschaft befanden. Dass dieses politische Druckmittel ganz bewusst eingesetzt worden war, belegen die der Vorbereitung der Gespräche auf der Potsdamer Konferenz421 dienenden britischen Dokumente: „Unser bester Trumpf in diesen Verhandlungen ist schließlich die Tatsache, daß wir und die Amerikaner zusammen fast alle Hauptnaziführer gefangenhalten. Dies hat uns ermöglicht, im Statut das Verfahren festzulegen, das weitgehend dem anglo-amerikanischen Verfahren entspricht, und darauf zu bestehen, daß zumindest der erste Prozeß in der amerikanischen Zone stattfindet.“422

In Bezug auf Art. 24 IMT-Statut war diese Einschätzung durchaus zutreffend. Obwohl in der Endfassung des Art. 24 IMT-Statut in lit. f entsprechend dem sowjetischen und französischen Wunsch das Recht des Gerichtshofs verankert wurde, jederzeit Fragen an den Zeugen oder den Angeklagten zu stellen, enthält die Vorschrift auch das für den anglo-amerikanischen Strafprozess wesenstypische Kreuzverhör423 oder ein in der kontinentaleuropäischen Rechtstradition nicht bekanntes Eröffnungsplädoyer. 417

Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee (Fn.  11), Jackson Report, Dok. XXIV, S. 185 (192). 418 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  261 (263). 419 Verhandlungsprotokoll v. 17.  Juli 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XXXII, S.  261 (263). Das Recht des Vorsitzenden und der beisitzenden Richter, jederzeit Fragen zu stellen, war in der sowjetischen Prozessordnung in Art. 289 StPO RSFSR verankert. 420 Vgl. Kap. E. IV. 6. d). 421 Vgl. dazu oben Kap. E. I. 422 Anhang zur Arbeitsunterlage der brit. Delegation v. 28. Juli 1945 auf der Potsdamer Konferenz, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1054–1056, hier 1056. 423 Zum Themenkomplex des Kreuzverhörs bereits ausführl. S. 281 ff. Vgl. auch Murphy, in: Ginsburgs/Kudriavtsev (Hrsg.), Nuremberg Trial, S. 61 (71).

300

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

7. Urteil und Strafe (Abschnitt VI) Die Ausarbeitung der in Abschnitt VI des Statuts geregelten Normen (Art. 26 bis 29 IMT-Statut) vollzog sich ebenfalls überwiegend im Unterkomitee. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zu Art. 26 bis 28 IMT-Statut bezüglich des Urteils, der Strafe und des Besitztums der Verurteilten sind dabei nicht zu Tage getreten. Unstimmigkeiten traten allerdings im Hinblick auf die von Art. 29 IMTStatut normierte Frage auf, nämlich die Rolle des Kontrollrats nach der Verkündung des Urteils. Die sowjetische Delegation machte sich bereits zu Beginn der Verhandlungen dafür stark, dass dem mit höchster Entscheidungskompetenz ausgestattete Organ in Deutschland das Recht auf Bestätigung des Urteils gebühren sollte. Der Kontrollrat sollte zudem Urteile annullieren und eine nochmalige Prüfung bzw. die Wiederaufnahme des Verfahrens begehren können.424 Gleichzeitig sollte der Kontrollrat nach diesem Vorschlag berechtigt sein, das ausge­urteilte Strafmaß quantitativ zu senken bzw. qualitativ zu ändern, nicht jedoch heraufzusetzen. Jackson hegte dagegen die Befürchtung, dass auf diese Weise der Kontrollrat zu einer Art Appellationsinstanz avancieren würde bzw. dass die Entscheidungen des IMT von einem politischen Organ überprüft werden könnten.425 In den Verhandlungen kam es erst nach einer Diskussion darüber, ob der Kontrollrat über die Schuldfrage befinden und das Strafmaß nicht anheben können sollte, zu einer Annäherung. Die sowjetische Delegation konnte sich mit ihrem Vorschlag nicht durchsetzen. Die Entscheidungsgewalt darüber, ob aufgrund einer neuen Beweislage erneut Anklage erhoben werden könne, wurde im Statut nicht dem Kontrollrat überlassen, sondern sollte der Anklagebehörde bzw. dem nach Art. 14 IMT-Statut einzurichtenden Anklägerkomitee überantwortet werden, welches gemäß Art.  29  IMT-Statut dann die geeignet erscheinenden Schritte ein­ zuleiten hatte.

424 Ziff. 11 der sowjet. Ergänzungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  85), Jackson Report, Dok. XVI, S.  92 (94): „right of the Control Council in Germany to cancel  a sentence and to hand over the case for further examination“; Nikitčenko stellte diesen Vorschlag in der zweiten Sitzung nochmals ausführlich dar, Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10),­ Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (108): „right of the Control Council in Germany to annul the verdict of the Tribunal and oder a new trial“. 425 Verhandlungsprotokoll v. 4. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXII, S. 155 (161). Die dritte Fassung des amerikanischen Entwurfs sah u. a. vor, dass das Urteil des Tribunals zu Schuld oder Unschuld endgültig und nicht revidierbar sein sollte, Ziff. 10 Entwurfs v. 30. Juni 1945 (Fn. 88), Jackson Report, Dok. XVIII, S. 119 (123 f.). An diesem Punkt riet die NKID-Mitarbeiterin Osnickaja in ihrem Bericht dazu zu widersprechen. Vyšinskij stellte dagegen in einer handschriftlichen Bemerkung fest, dass man zustimmen könnte, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (71). Eine entsprechende Formulierung findet sich in dem Entwurf der Direktiven nach London vom 6. Juli 1945, Punkt III. 3) des Entwurfs v. 6. Juli 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 64. Dagegen folgte Vyšinskij in der Frage über das Recht des Kontrollrats auf Einforderung einer neuen gerichtlichen Überprüfung dem Vorschlag der Gutachterin, auf der sowjetischen Position zu beharren, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 65 (74).

IV. Sowjetischer Einfluss auf die konkrete normative Ausgestaltung des Statuts

301

8. Kosten (Abschnitt VII) Keine nennenswerten Probleme bereitete die Frage der Finanzierung, der in das Statut in Art. 30 normiert. Die sowjetische Seite hatte den Vorschlag unterbreitet, die Kosten für den Gerichtshof, die Anklagebehörde sowie ihres Mitarbeiterstabs aus den Fonds für den Kontrollrat zu begleichen.426 Jackson hatte in Bezug auf die Kostenregelung keine feste für oder gegen den sowjetischen Vorschlag gerichtete Position427 und stimmte sich deswegen direkt zu Beginn der Verhandlungen mit Rosenman ab, der den sowjetischen Vorschlag für befürwortenswert hielt.428 Im Unterkomitee widersprachen die amerikanischen Unterhändler gleichwohl der Übernahme der Kosten der Anklagevertreter durch den Kontrollrat und führten dabei das Argument an, dass die Anklagevertreter – unmittelbar von den Regierungen ernannt – diese während des Prozesses repräsentieren würden und deswegen die Kosten der Anklage auch jeweils selbst tragen müssten.429 Im letzten amerikanischen Entwurf vom 30. Juni 1945 wurde in der Kostenfrage eine an den sowjetischen Vorschlag angelehnte Regelung aufgenommen. Die Kosten der Anklageteams wurden jedoch von denen des Tribunals ausgenommen und den Unterzeichnerstaaten auferlegt.430 Die von amerikanischer Seite angestrebte Differenzierung vermochte sich letztlich nicht durchzusetzen. Die Endfassung des Art. 30 IMT-Statut spricht in mehrdeutiger Weise von den Kosten des Gerichtshofs und des Verfahrens, die aus den Fonds des Kontrollrats beglichen werden sollten.

426 Ziff. 13 der sowjet. Ergänzungsvorschläge v. 28.  Juni 1945 (Fn.  85), Jackson Report, Dok. XVI, S. 92 (94). S. ferner Art. 36 (Raschody/Expenses) des sowjet. Entwurfs v. 2. Juli 1945 (Fn. 53), Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (184). 427 Vgl. Jacksons Telegramm an Rosenman v. 27. Juni 1945: „Russians propose that costs and expenses of international tribunal and of prosecution be made a charge against the control council and thereby included in the bill against Germany. I do not know reasons for present provisions that expenses shall be borne by the signatories, not do I know the merits of the proposition to charge against control commission. How far have American member control commission been consulted and should not this proposal and other provisions be cleared with Clay or Eisenhower?“, siehe Seite 3 der „Copy of telegram from Samuel Rosenman to Robert ­ osenman Jackson, accompanied by related correspondence, June 29, 1945“, War Crimes File R Papers, Harry S.  Truman Presidential Museum & Library, 3 Seiten. Eine Ablichtung des­ Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S.  Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 428 Rosenmans Telegramm an Jackson v. 29. Juni 1945: „I can see no objection to Russian proposal that costs and expenses of international tribunal and of prosecution be made a charge against the control council and thereby included in the bill against Germany. The only reason for the present provisions in the draft is that we thought that a convenient method but on reconsideration I think the Russian proposal is preferable.“, siehe Seite 1 zu oben Fn. 427. 429 Bericht über die Verhandlungen im Unterkomitee v. 11 Juli 1945 (Fn. 11), Jackson ­Report, Dok. XXIV, S. 185 (193). 430 Art. 25 Revised Draft of Agreement and Memorandum Submitted by American Delegation v. 30.  Juni 1945, S.  119 (125). Vgl. auch den amerikanischen (Art.  25) und sowjetischen (Art. 36) Entwurf, Draft Showing Soviet and American Proposals in Parallel Columns,­ Jackson Report, Dok. XXIII, S. 165 (184).

302

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

V. Fazit Der Befund, dass die UdSSR auf die Schaffung der meisten Normen des IMTStatuts wesentlichen Einfluss ausgeübt hat und sich die während der Konferenz gefundenen Lösungen in den meisten Fällen als Produkte der Kompromissfindung darstellen, mutet wenig überraschend an. Dieses Ergebnis ist vielmehr die logische Konsequenz der Tatsache, dass sich an der Konferenz die Vertreter von vier verschiedenen nationalen Rechtsordnungen und Rechtstraditionen selbstbewusst und aktiv an der Schaffung eines gemeinsamen juristischen Regelwerks für ein internationales Tribunal beteiligt haben. Als Lösungsergebnisse erweisen sich die im Statut niedergelegten Normen allerdings oftmals nur oberflächliche Kompromisse. Denn der scheinbar eindeutige Wortlaut ließ allenfalls bei flüchtiger Betrachtung den Schluss auf eine weit­gehende Übereinkunft der Parteien zu. Die dahinter fortbestehenden Diskrepanzen vermochte der Wortlaut der Regelungen indes nur notdürftig zu kaschieren. Besonders deutlich traten die verschiedenen Konzeptionen der sowjetischen und amerikanischen Seite über die Aufgaben und den Handlungsrahmen des ­Tribunals bei der Formulierung von Art. 6 lit. a IMT-Statut ans Tageslicht. Die u. a. in diesem Zusammenhang getätigten Redebeiträge der sowjetischen Delegierten legen ein Prozessverständnis offen, nach dem die Entscheidung über die Frage der Schuld des einzelnen Angeklagten nicht mehr bewiesen werden musste und bereits feststand. Charakteristisch ist die wohl bekannteste Aussage des Delegationsleiters Nikitčenko in der zehnten Sitzung: „The fact that the Nazi leaders are criminals has already been established. The task of the Tribunal is only to determine the measure of guilt of each particular person and mete out the necessary punishment – the sentences.“431

Die apodiktische Einordnung der Führungsriege des NS-Regimes als Verbrecher sowie die kontinuierlich in die Diskussionen eingeflochtene Darstellung der Prozesszwecke stützen diese Schlussfolgerung.432 Den Verhandlungsprotokollen lassen sich allerdings auch Äußerungen Nikitčenkos entnehmen, die die Schuldfrage weitaus offener formulieren: „The court decides by this majority the question of both guilty or not guilty, and the question of suitable punishment, except where the question of death sentence is involved.“433 431 Verhandlungsprotokoll v. 19. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXXVII, S. 295 (303). 432 Vgl. u. a. Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (105). 433 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (107). Vgl. auch seine Ausführungen zu Mitgliedern von verbrecherischen Organisationen, Verhandlungsprotokoll v. 2. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XX, S. 129 (140): „According to the Soviet criminal law the members of a criminal organization are tried individually, but their being found guilty, if they are found guilty, does not mean that […].“ Verhandlungsprotokoll v. 3. Juli 1945 (Fn. 10), Jackson Report, Dok. XXI, S. 143 (154): „After the collection of evidence

V. Fazit

303

Gleichwohl lassen seine gesamten Ausführungen keine großen Zweifel daran, dass das Ergebnis der richterlichen Entscheidung in seinem Verständnishorizont letztlich nur eine Verurteilung sein konnte. Womöglich am deutlichsten lässt sich das sowjetische Verständnis des Prozesszwecks an Nikitčenkos Begründung dafür festmachen, warum die Rolle der Anklage nur eine dem Tribunal assistierende Rolle sein konnte: „[A]t the time when the declaration was made by the leaders of the United Nations on the question that the chief criminals should be tried, it was not certain whether these criminals would actually be tried by a court or would be punished by some purely political ­action. That is to say, they might have been dealt with by means other than a trial, but the object of that trial is, of course, the punishment of the criminals, and therefore the role of the prosecutor should be merely a role of assisting the court in the actual cases. The difference is that the prosecution would assist the judge, and there would be no question that the judge has the character of an impartial person. Only rules of fair trial must, of course, apply because years and centuries will pass and it will be to posterity to examine these trials and to decide whether the persons who drew up the rules of the court and carried out the t­ rials did execute their task with fairness and with justice but subject giving the accused an opportunity for defense to that extent. The whole idea is to secure quick and just punishment for the crime.“434

Die hier dargestellte Konzeption der sowjetischen Delegation war eine der Ursachen für die zum Teil heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Delegationen auf der Londoner Konferenz. In vielen Fällen verbargen sich rechtstraditionelle Unterschiede hinter besonders langwierigen Verhandlungen. Als charakteristisch erweist sich insoweit die Erörterung zur Form und zum Umfang der Anklageschrift. Schließlich erschwerten starke persönliche Spannungen zwischen Jackson und der sowjetischen Delegation die Verhandlungen. Es war nicht zuletzt die „schroffe antisowjetische Einstellung“, die der Einigung auf einen Statutstext mancherorts im Wege gestanden haben mag. Zudem haben die langwierigen Überprüfungen der auf der Konferenz diskutierten Vorschläge im „bürokra­ tische[n] Labyrinth“ der nationalen Regierungen die Verhandlungen zusätzlich stark verkompliziert. Die sowjetische Delegation war sicherlich nicht die einzige, bei der alle bedeutsamen Änderungsvorschläge und Entscheidungen einer Prüfung unterzogen wurden. Vielmehr stellte Jackson als vom amerikanischen Präsidenten unmittelbar ernannter und nicht in den Apparat eines Ministeriums eingebundener has taken place, the commission does not take a decision on whether the person is guilty or not. It just decides on whether there is sufficient evidence to warrant starting court proceedings, to warrant turning the case over to the court, and at the same time the defendants are furnished with all the evidence the commission had collected in the case so that they know exactly with what they are charged. The task of the Tribunal, after it had received the indictment with all the evidence, would not be to hear that evidence but to decide which of the witnesses should be called for examining in regard to the points raised by the charges, and, summing up all the evidence and the ­results of the examinations, to pass judgment.“ 434 Verhandlungsprotokoll v. 29.  Juni 1945 (Fn.  10), Jackson Report, Dok. XVII, S.  97 (105–106).

304

E. Die Ausarbeitung des IMT-Statuts im Zuge der Londoner Verhandlungen 

Vertreter eine Ausnahme unter den Delegationsleitern dar. Alle anderen Delegationen unterstanden den jeweiligen Außenministerien und waren in entsprechende Weisungsverhältnisse eingebunden.435 Schon die in unmittelbarer Regierungsnähe verhandelnde britische Delegation stieß bei ihren Abstimmungen mit dem Foreign Office auf Schwierigkeiten.436 In wohl die überwiegende Anzahl der Normen des Statuts haben jedenfalls auch Vorschläge der sowjetischen Delegation Eingegang gefunden. Schon die äußere Form und die Gliederung des Statuts lassen sich auf eine sowjetische Initiative zurückführen. Der sowjetische Entwurf vom 2. Juli 1945 diente überdies auch in vielen Fällen als Grundlage für die konkrete Formulierung von in die End­fassung überführten Normen. Trotz der in der Folgezeit zahlreich eingebrachten Änderungsvorschläge und vorgenommenen Modifikationen erwiesen sich indes die in dem amerikanischen Konzept niedergelegten Ideen als richtungweisend für das gesamte Statut des IMT. Als Beleg hierfür angeführt werden können die Möglichkeit, Organisationen für verbrecherisch zu erklären, das schlussendlich vereinbarte Konzept der Verschwörung und das an die anglo-amerikanische Tradition angelehnte Verfahrensrecht.

435

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 68. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 68.

436

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung: Zwischen organisatorischer Herausforderung und Behauptung der politischen Deutungshoheit Nachdem die Vertreter der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR das Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 mit dem ihm beigefügten Statut für den Internationalen Militärgerichtshof unterzeichnet hatten, war zunächst eine Auswahl von anzuklagenden Personen vorzunehmen. Sodann waren eine gemeinsame Anklageschrift in wechselseitiger Abstimmung zu formulieren sowie eine Vielzahl von organisatorischen Vorbereitungsaufgaben zu bewältigen. Die defizitäre Organisation auf sowjetischer Seite, insbesondere die völlig unzureichende personelle und sachliche Ausstattung der Delegationen in London und Nürnberg, sollte sich dabei als ernsthafte Barriere für eine interessengerechte Einbringung eigener Positionen erweisen.

I. Vorverständigung über eine Aufstellung von als Angeklagte in Betracht kommenden Individuen Gemäß der auf der Potsdamer Konferenz zwischen den Alliierten erzielten Übereinkunft sollte noch vor dem 1. September 1945 ein Verzeichnis anzuklagender Individuen erstellt werden.1 Bereits im Vorfeld der Londoner Verhandlungen hatte sich das NKID um Informationen zu Schicksal und Aufenthaltsort der poli­ tischen und militärischen Führungspersonen des NS-Regimes bemüht. So hatte ein Mitarbeiter des NKID unter dem Datum vom 16. Juni 1945 anhand allgemein zugänglicher Informationen eine Liste von als Angeklagte potentiell in Betracht 1

Abschn. VII (Kriegsverbrecher) der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, unterzeichnet von Stalin, Truman und Attlee am 2. Aug. 1945, Mitteilung der Dreimächtekonferenz von Berlin (Kap. E, Fn. 21), Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1 (1946), S. 13 (18): „Die Liste der Angeklagten wird vor dem 1. September dieses Jahres veröffentlicht werden.“ Siehe insoweit auch Protocol of the proceedings of the Berlin ­conference v. 2. Aug. 1945, PRO, CAB 66/67, Bl. 149–154, hier Bl. 152. Ein Vorschlag der sowjetischen Delegation, in die o. g. Erklärung eine zehn Personen umfassende Liste der „Hauptverantwortliche[n] der Hitlerclique“ aufzunehmen, die zuerst vor Gericht gestellt werden sollten (Göring, Heß, Ribbentrop, Ley, Keitel, Dönitz, Kaltenbrunner, Frick, ­Streicher und Krupp), konnte sich nicht durchsetzen. Für den Wortlaut des sowjet. Vorschlags v. 30. Juli 1945 siehe Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1056–1057, hier 1056; FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 984. Für die Besprechung dieses Vorschlags auf der zehnten Sitzung der Außenminister v. 30. Juli 1945, siehe Tagesordnungspunkt acht in FRUS, The Conference of Berlin (the Potsdam Conference) 1945, Vol. II, S. 483–497, hier 494 f.

306

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

kommenden Personen erstellt, in die 39 Individuen unter der Kategorie der „regierenden Spitze“ und 22 Personen unter der Kategorie „Generalität“ aufgenommen wurden.2 Die Aufstellung des NKID beschränkte sich nicht auf in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenes politisches oder militärisches Führungspersonal, sondern erstreckte sich auf sämtliche überhaupt für eine Anklage als Kriegsverbrecher in Betracht kommende Personen. War die Liste des NKID noch internen Zwecken vorbehalten, so ging ein erster Anstoß in Richtung einer gesamtalliierten Diskussion über die Auswahl der anzuklagenden Personen von einer zehn Personen umfassenden britischen Liste aus.3 Aufgeführt waren neben Hermann­ Göring auch Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Wilhelm Keitel, Ernst ­Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick und Julius­ Streicher.4 In einem mit „Draft List of Defendants and Indictment“ überschriebenen Dokument der britischen Delegation vom 17.  Juli 1945, das während der Londoner Konferenz unter den teilnehmenden Delegationen zirkulierte, wurden dieselben Personen erneut aufgeführt5, aber auch eine Erstreckung der Anklage auf Baldur von Schirach und Fritz Saukel in Erwägung gezogen.6 Dezidierte Unterhaltungen über die gedanklichen Anstöße des Dokuments hierüber fanden zwar parallel zu den Verhandlungen über das Statut zunächst nicht statt. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Statuts am 8. August 1945 indes warf Nikitčenko die Frage nach der Auswahl der Angeklagten gegenüber den Verbündeten auf.7 Obwohl zu diesem Zeitpunkt von sowjetischer Seite noch keine endgültige Festlegung darüber getroffen worden war, welche unter den in sowjetischer Kriegs­gefangenschaft befindlichen Personen für eine Anklage im Rahmen eines ersten internationalen Prozess benannt werden sollten, verdichteten sich bereits die auf eine entsprechende Auswahl abzielenden internen Maßnahmen. Am 18. August 1945 legte Vyšinskij 2

Mitteilung über den Aufenthaltsort der politischen und militärischen Leiter von H ­ itler-­ Deutschland, 16. Juni 1945, AVP RF, f. 082, op. 27, p. 122, d. 23, Bl. 11–15, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 51, S. 179–183. 3 Vgl. Bezugnahme und Wiedergabe der Namen in einem Schreiben des Staatssekretärs Alexander Cadogan an Churchill v. 6.  Juli 1945, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1042–1043. Die gleichen Namen enthält auch die 3Vorlage des Außenministers Eden für Churchill v. 17. Juli 1945, ebd., S. 1049–1050, hier S. 1050. 4 Cadogan an Churchill am 6. Juli 1945 (Fn. 3), Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1042 (1043). 5 Illustrative Draft of Indictment Submitted by Britisch Delegation v. 17. Juli 1945, abgedr. in Jackson Report, Dok. XXXI, S. 259–261; für frühere britische Überlegungen zur listenmäßigen Erfassung deutscher Kriegsverbrecher – allerdings vor dem Hintergrund der von ­Churchill favorisierten ‚politischen‘ Liquidationslösung – siehe insbesondere das von Eden dem Kriegskabinett im Sommer 1944 vorgelegte Memorandum on the ‚Treatment of Major War Criminals‘ v. 16. Juni 1944, WP (44) 330, 6 Seiten, PRO, CAB 66/51/30, Bl. 142–145 mit Annex I (List of Major German War Criminals), ebd., S. 3–5, Bl. 143–144 und Annex II (List of Major Italian War Criminals), ebd., S. 5–6, Bl. 144. 6 Beide Namen sind mit Klammern und dem Zusatz „for consideration“ versehen, siehe­ Illustrative Draft (Fn. 5), Jackson Report, Dok. XXXI, S. 259 (259). 7 Hierzu Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 113.

I. Aufstellung von als Angeklagte in Betracht kommenden Individuen

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Molotov eine Zusammenstellung von fünf in sowjetische Gefangenschaft geratenen Personen vor, die nach seinem Dafürhalten Aufnahme in die Liste der vor dem Internationalen Militärtribunal anzuklagenden Individuen finden sollten.8 Zu den Genannten zählten Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, der Leiter der Rundfunkabteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Hans Fritzsche, Vizeadmiral Hans-Erich Voss, SA-Obergruppenführer AdolfHeinz Beckerle und Generalleutnant Rainer Stagel. Molotov leitete den Vorschlag nach Durchsicht zwei Tage später an den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Berija9 zur Stellungnahme weiter. Dieser ergänzte Vyšinskijs Liste um neun weitere Namen, darunter an prominentester Stelle den des in sowjetischer Gefangenschaft befindlichen Großadmirals Erich Raeder.10 Am 24. August 1945 fand in London sodann eine Zusammenkunft der Hauptankläger statt, in deren Verlauf eine vorläufige Einigung auf eine 22 Personen umfassende Liste von Angeklagten erzielt werden konnte.11 Bezeichnenderweise enthielt die vereinbarte Aufzählung kein einziges der auf den Listen der Sowjets verzeichneten Individuen. Im Protokoll der Sitzung wurde hierzu lediglich vermerkt, dass zwar auch die Aufnahme weiterer Namen in Erwägung gezogen worden sei. Allerdings sei man im weiteren Verlauf dahin übereingekommen, dass die Liste für den Moment bereits ausführlich genug geraten sei und weitere Fälle ggf. noch zu einem späteren Zeitpunkt einer Untersuchung zugeführt werden könnten.12 In der 8

Schreiben Vyšinskijs an Molotov betreffend die in der UdSSR befindlichen Hauptkriegsverbrecher, 18. Aug. 1945, AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 210, Bl. 1–3, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 75, S. 229–231; siehe hierzu auch Hilger, VfZ 2006, S. 461 (475, Fn. 82). 9 Berija, Lavrentij Pavlovič (1899–1953) war von 1938 bis 1945 Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, von 1934 bis 1953 Mitglied des ZK und fungierte von 1941 bis 1953 als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats. Von 1941 bis 1953 war er überdies Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR, seit 1944 zudem deren stellvertretender Vorsitzender, seit 1946 schließlich auch Mitglied des Politbüros/Präsidiums des ZK der VKP(b) bzw. KPdSU. Berija gilt als Organisator der Massenhinrichtungen von kriegsgefangenen polnischen Offizieren im Wald von Katyn. Ausführliche biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 70 f. 10 Schreiben Berijas an Molotov No  992/5 v. 27.  Aug. 1945, AVP RF, f. 07, op. 7, p.  20, d. 210, Bl. 4–10, dt. Übersetzung abgedr. bei Hilger, VfZ 2006, S. 461, 475–480 (Dok. Nr. 1). Berijas Schreiben führte neben Raeder noch folgende Personen auf: den Gauleiter Sachsens Martin Mutschmann, Generalleutnant Friedrich Gustav Bernhard, Generalleutnant Hilmar Moser, Generalleutnant Johann Georg Richert, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, Generalleutnant Wilhelm Robert Ochsner, Generalleutnant Hans Julius Traut und Generalmajor Günther Walter Klammt. 11 Record of a Meeting of the Four Chief Prosecutors v. 24. Aug. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 203–204, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 79, S. 234–235; nichtamtliche Übersetzung ins Russische ebd., S. 235–236. Die Liste umfasste Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Wilhelm Keitel, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Karl Dönitz, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Albert Speer, Martin Bormann, Franz von Papen, Alfred Jodl, Constantin von Neurath, Arthur Seyß-Inquart. 12 Record v. 24. Aug. 1945 (Fn. 11), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 79, S. 234 (235).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Folgezeit vermochte der provisorische Repräsentant der sowjetischen Anklage­ delegation und spätere IMT-Richter Nikitčenko indes eine Ergänzung des Beschlusses immerhin insoweit zu bewirken, als er die Bündnispartner zur Einwilligung in die Aufnahme von Erich Raeder und Hans Fritzsche veranlassen konnte.13 Den Er­innerungen des später zum amerikanischen Hilfsankläger berufenen Telford Taylor zufolge waren weitere vier der von Nikitčenko insgesamt ergänzend vorgeschlagenen sechs Namen in sowjetischem Gewahrsam befindlicher Personen von den Verhandlungspartnern demgegenüber als zu unbedeutend bewertet und daher ihre Aufnahme mehrheitlich abgelehnt worden. Auch Raeder war erst in die Liste aufgenommen worden, nachdem Nikitčenko Zweifel daran zu zerstreuen vermochte, dass dieser sich tatsächlich in sowjetischer Gefangenschaft befand.14 Während auch die Anklageerstreckung auf Fritzsche mit Blick auf dessen ex­ ponierte Rolle letztlich auf alliierte Zustimmung stieß, wiedersetzten sich die alliierten Partner der von der Sowjetunion begehrten Aufnahme Schörners mit dem Argument, dass „kein Anlass bestehe, seinen Fall gegenüber dem zahlreicher anderer hochrangiger deutscher Heerführer herauszuheben“15. Die im weiteren Verlauf angeordnete Überführung von Raeder und Fritzsche nach Berlin und ihre Überstellung in die Gewahrsamssphäre des Tribunals wurde von Mitarbeitern der Hauptverwaltung für Spionageabwehr Smerš ausgeführt.16 Während ihrer Überführung auf dem Luftweg nach Berlin wurden Raeder und Fritzsche von ihren Ermittlern, dem Leiter der Ermittlungsabteilung der Hauptverwaltung für Spionageabwehr Smerš Tupikov und dem Ermittler der zweiten und sechsten Abteilung Grišaev sowie zwei Übersetzern begleitet. Die Anklageschrift wurde Hans Fritzsche und Erich Raeder am 18. Oktober 1945 in Berlin eröffnet.17 Das sowjetische Insistieren auf Aufnahme von zumindest zwei in ihrer Obhut befindlichen Gefangenen in das Verzeichnis der anzuklagenden Individuen dürfte nicht zuletzt Prestigegründen geschuldet gewesen sein. Ungeachtet der allgemeinkundigen Erkenntnis, dass sich nicht wenige der später in Nürnberg und anderenorts angeklagten Kriegsverbrecher gezielt in westalliierte Kriegsgefangenschaft begeben hatten, um sich so zumindest dem sowjetischen Zugriff zu entziehen, war es mit dem Verständnis der Sowjetunion als primäre Lastenträgerin des Kriegsgeschehens kaum vereinbar, wenn gerade sie bei Beschickung der Anklagebank mit leeren Händen dagestanden hätte. Naheliegend erscheint zudem die Annahme, dass die Sowjetführung auf diesem Wege zumindest in Teilbereichen ein Mindestmaß an Einfluss auf die den Angeklagten zu unterbreitenden Vorwürfe und das 13 Taylor, Nürnberger Prozesse, S.  116; Kastner, Völker, S.  35; Goda, Kalter Krieg um Speer und Heß, S. 53. 14 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 116. 15 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 116. 16 Christoforov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 55 (59). 17 Zustellungsbestätigung der Angeklagten Fritzsche und Raeder, abgedr. in IMT, Bd.  I, S. 134. Die Übergabe an die übrigen Angeklagten erfolgte am nächsten Tag in Nürnberg, vgl. Nachweis über die Zustellung an die Einzelangeklagten v. 24. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 128.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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von diesen zu erwartende Verteidigungsvorbringen zu wahren bemüht war, das am zuverlässigsten über den Inhalt bisheriger, in nationaler Regie durchgeführter Vernehmungen antizipierbar schien.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift 1. Organisation und äußerer Rahmen der vorbereitenden Arbeiten In organisatorischer Hinsicht hatten sich die Vertreter der vier Teilnehmerstaaten nach Abschluss der Londoner Verhandlungen auf die Einrichtung von vier Arbeitsausschüssen zur inhaltlichen Ausarbeitung der Anklageschrift verständigt, denen jeweils die Vorbereitung bestimmter Abschnitte der Anklageschrift gegeben worden war.18 Nach Angaben des amerikanischen Hilfsanklägers­ auf­ Whitney R. Harris ging die thematische Aufteilung der Anklageschrift in vier Blöcke ursprünglich auf einen entsprechenden Vorschlag von Nikitčenko zurück, der angeregt hatte, dass die Amerikaner den allgemeinen Vorwurf der Verschwörung und des Angriffskriegs, die Briten den der Verbrechen auf hoher See sowie der Verletzung von internationalen Verträgen und die Franzosen sowie Sowjets die Anklagepunkte der Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den westlichen und den östlichen Gebieten vorbereiten und im Prozess vortragen sollten.19 Der UdSSR wurde vor diesem Hintergrund der Vorsitz in Ausschuss Nummer zwei übertragen, der für die Formulierung der Anklageschrift in Bezug auf Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Osteuropa verantwortlich zeichnete. Auf Vorschlag von Jacksons Assistent Taylor, der in Ausschuss Nummer zwei die amerikanische Delegation repräsentierte, führten die Komitees zwei und drei20 ihre Sitzungen in der Folgezeit zusammen, die sodann zwischen Mitte August bis zur Unterzeichnung der Anklageschrift Anfang Oktober in regelmäßigen Abständen stattfanden.21 Die nach Verabschiedung des Londoner Statuts aufgenommenen Vorarbeiten zur Anklageschrift in den Arbeitsgruppen und die Auswertung des Beweismaterials fanden überwiegend in London statt. Allerdings ließ Jackson bereits Mitte September den größten Teil  des amerikanischen Mitarbeiterstabs nach Nürnberg verlegen, wo das britische und amerikanische Team ihre Teile der Anklageschrift im Wesentlichen aufeinander abzustimmen und zu finalisieren gedachten.22 18

Vgl. Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 105. Harris, Tyrannen vor Gericht, S. 28. 20 Der Ausschuss Nummer drei stand unter der Leitung Frankreichs und befasste sich mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Westeuropa. 21 In der Zeit zwischen Mitte August und dem 1. Okt. 1945 trafen die Ausschüsse zwei und drei achtmal zusammen, Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 105, 109. 22 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 124 ff. 19

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Da der bisherige Generalstaatsanwalt der Ukrainischen SSR Roman Andreevič­ Rudenko23 von der sowjetischen Regierung erst am 5.  September 1945 formell zum Hauptankläger für die UdSSR bestimmt worden war24, wurde die Interessenvertretung und Verhandlungsführung bei der Vorbereitung der Anklage für die UdSSR im Anschluss an die Unterzeichnung des Viermachte-Abkommens am 8. August 1945 zunächst weiterhin von Iona Timofeevič Nikitčenko wahrgenommen. In dieser Eigenschaft als provisorischer sowjetischer Repräsentant der Anklage nahm Nikitčenko noch bis zum 1. September 1945 an den quadrilateralen Zusammenkünften der Anklagevertreter teil, wurde sodann jedoch nach Moskau abberufen und – ebenfalls mit Beschluss vom 5. September 1945 – seinerseits zum sowjetischen Richter beim IMT bestimmt.25 Vom 1. bis zum 14. September vertrat der Politberater des sowjetischen Vertreters in der Europäischen Beratenden Kommission (EKK) in London Nikolaj Vasil’evič Ivanov26 die Sowjetdelegation auf allen stattfindenden Sitzungen und Gesprächen zur Anklagevertretung.27 Der sowjetische Hauptankläger Rudenko dagegen traf erst am 14. September 1945 in London ein.28 23

Biograph. Nachw. zu Rudenko u. Kap. G., Fn. 10. Beschluss d. Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945, Punkt 238 aus dem Protokoll No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1053, Bl. 52, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. Die Ernennung Robert H. Jacksons war bereits am 2. Mai 1945 erfolgt, vgl. Executive Order by President Truman, May 2, 1945,­ Jackson Report, Dok. III, S. 21. Die Ernennung David Maxwell Fyfes zum britischen Anklagevertreter gab am 29. Mai 1945 Churchill bekannt, vgl. die Antwort Churchills auf Nachfrage des Abg. Marlowe, House of Commons Debates, 29 May 1945, HC Hansard Series 5, Vol. 411, Col. 58: „I should, however, like to take this opportunity of announcing that my hon. and learned Friend the Attorney-General has been appointed as the representative of the United Kingdom, to join with Justice Robert Jackson, of the United States, and with the Soviet and French representatives when they are apointed, in preparing and prosecuting charges of atrocities and war crimes against such leaders of the European Axis Powers and other principal agents and accessories as the Government of the United Kingdom may agree with any of the United Nations to bring to trial before an Inter-Allied Military Tribunal.“ 25 Punkt 238 aus dem Protokoll No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945 (Fn. 24), siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 26 Ivanov, Nikolaj Vasil’evič (1905–1996), sowjetischer Diplomat, arbeitete 1940 bis 1944 im zentralen Apparat des NKID, übernahm 1944 bis 1945 die Funktion des Beraters für poli­ tische Angelegenheiten des sowjetischen Vertreters bei der EKK. Zwischen 1946 und 1948 war er stellvertretender Politberater der SMAD. Für ausf. biograph. Nachw. siehe Foitzik, SMAD, S.  463; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  2, Personenregister, S.  675 (686);­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (553). 27 Vgl. hierzu den Bericht des Rechtsberaters der sowjetischen Botschaft in London Ivanov v. 27. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18–20, vgl. auch die Sitzung des Komitees zwei am 10. Sept. 1945, „Minutes of Meeting of Committee Four“, September 10, 1945, War Crimes File, Rosenman Papers, Harry S. Truman Presidential Museum & Library, 9 Seiten. Eine Ablichtung des neunseitigen Dokuments ist auf der Internetseite der Harry S. Truman Library abrufbar: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 28 Schreiben von Charlamov an Avseevič, 13. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 2. Der am 2.  Mai 1945 zum amerikanischen Hauptankläger ernannte Robert Jackson befand sich bereits seit dem 28. Mai 1945 in London und beschäftigte sich intensiv mit der Sichtung 24

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

311

2. Die Moskauer Regierungskommission: Fernsteuerung der sowjetischen Verhandlungsführung a) Personelle Zusammensetzung des Gremiums In einem Atemzug mit der Einsetzung Rudenkos zum sowjetischen Haupt­ ankläger und der Berufung des stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Gerichts der UdSSR Iona Timofeevič Nikitčenko zum Richter am Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof (IMT) hatte das Politbüro ZK VKP(b) mit Beschluss vom 5. September 194529 auch eine Kommission unter dem Vorsitz des stellvertretenden Volkskommissars für äußere Angelegenheiten Andrej Januar’evič V ­ yšinskij ins Leben gerufen, der die Vorbereitung der Materialien der Anklage und die Steuerung der operativen Arbeit der sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg förmlich aufgegeben war.30 Neben der Einsetzung von Vyšinskij zum Vorsitzenden des Gremiums wurden gemäß Gründungsstatut zu Mitgliedern der „Kommission zur Vorbereitung der Anklagematerialien und der Arbeit der sowjetischen Vertreter beim Internationalen Militärtribunal und im Komitee der Ankläger“31 auch der Generalstaatsanwalt der UdSSR Konstantin Petrovič Goršenin32, der ­Präsident des Obersten Gerichtshofs der UdSSR Ivan Terent’evič Goljakov33, der Erste Stellvertreter des Volkskommissars für Staatssicherheit der UdSSR ­Bogdan Zacharovič­ Kobulov34, der Stellvertretende und ab 29. Dezember 1945 Erste Volkskommissar und Prüfung des Beweismaterials, führte Besprechungen mit dem Ausschuss der Vereinten Nationen zur Bestrafung von Kriegsverbrechen, dem britischen Kronanwalt David Maxwell Fyfe oder dem Leiter der Rechtsabteilung im Schatzamt. Zur Ernennung Jacksons vgl. Presse­ erklärung des Weißen Hauses, Appointment of Justice Robert H. Jackson as Chief of Counsel for the United States, Statement by the President, Department of State Bulletin 12 (1945), Nr. 306 (May 6, 1945), S. 866–867 = Jackson Report, Dok. III, S. 21; zu den in London im Mai und Juni unternommenen Vorbereitungsarbeiten und seiner Ankunft in London vgl. Report to the President by Mr. Justice Jackson, June 6, 1945, Jackson Report, Dok. VIII, S. 42–54, hier insb. 45–46, dt. Übersetzung abgedr. bei Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1026–1036, hier insb. S. 1028–1029. 29 Punkt 238 des Protokolls No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1053, Bl. 52, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. Ein gleichlautender Beschluss wurde noch am selben Tag im SNK SSSR gefasst, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239, Fn. 1. 30 Zu Mitgliedern und Arbeitsweise der Kommission siehe Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (711 ff.); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (31 f.) 31 So die Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 680, Anm. 153; für in der Korrespondenz gelegentliche anzutreffende Kurzbezeichnungen des Gremiums siehe ebd., Bd. 2, Dok. 44, S. 142: „Kommission zur Leitung der Tätigkeit der sowjetischen Ver­ treter beim Internationalen Militärtribunal“; vgl. auch die ebd., Bd. 2, S. LXXXVII anzutreffende Rubrizierung als „Regierungskommission zur Leitung der sowjetischen Vertreter im­ Internationalen Militärtribunal.“ 32 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 155 f. (Eintrag Goršenin). 33 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 149 (Eintrag Goljakov). Für w. Nachw. siehe S. 33. 34 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 282 f. (Eintrag Kobulov).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

für Innere Angelegenheiten Sergej Nikiforovič K ­ ruglov35, der Leiter der Abteilung der ČGK Dmitrij Ivanovič Kudrjavcev sowie Aron N ­ aumovič Trajnin36 ernannt.37 Durch am 6. September 1945 gefassten Beschluss des Politbüro ZK VKP(b) wurde ferner der Chef der Hauptverwaltung für Spionage­abwehr Smerš des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR Viktor Semenovič Abakumov38 als weiteres Kommissionsmitglied aufgenommen39, auf Antrag Vyšinskij vom 3. November 194540 zudem der Volkskommissar der Justiz Nikolaj Michajlovič Ryčkov41 zum Vollmitglied ernannt. In der Folgezeit rückte noch der Sekretär der ČGK42, Pavel I. Bogojavlenskij43, in den Kreis der Kommissionsmitglieder auf. Zu den Mitgliedern kann in einem weiteren Sinne auch der Volkskommissar für Staatssicherheit der UdSSR Vsevolod Nikolaevič Merkulov44 gezählt werden, der zwar weder im Gründungsakt vom 5. September 1945 noch in nachfolgenden Ergänzungs­akten expli-

35 Sergej Nikiforovič Kruglov (1907–1977) war als führender Leiter der Organe der Staatssicherheit seit dem 20. Dezember 1938 zum Sonderbevollmächtigten des NKVD eingesetzt und seit Februar 1943 Kommissar der Staatssicherheit im 2.  Rang. Zum Zeitpunkt seiner­ Ernennung war Kruglov stellvertretender Volkskommissar für Innere Angelegenheiten und Leiter der Personalabteilung des NKVD. Er genoss die Unterstützung des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten Lavrentij Pavlovič Berija (Fn. 9), welchen er am 29. Dezember 1945 in dessen Funktion ablösen sollte, vgl. hierzu und zu weiteren biograph. Details­ Zalesskij, Kto est’ kto, S. 315 f. (Eintrag Kruglov). 36 Zur Person ausf. in Kap. B., Fn. 35. 37 Punkt 238 des Protokolls No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945 (Fn. 29), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 38 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 9 f. (Eintrag Abakumov). 39 Punkt 240 des Protokolls No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 6. Sept. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d.  1053, Bl.  52, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  83, S. 239–240. 40 Hierzu Auszug aus dem Protokoll No  239 der Sitzung des Sekretariats ZK VKP(b) v. 3. Nov. 1945, RGASPI, f. 17, op. 163, d. 1473, Bl. 129, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 111, S. 277–278. 41 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 511. 42 Dazu Kap. G. III. 3. a) bb). 43 Eine beschlussförmige Einsetzung Bogojavlenskijs ist nicht dokumentiert. Der Anstoß, Bogojavlenskij in die Kommission aufzunehmen, ging aus vom Vorsitzenden der ČGK­ Švernik. Dieser setzte Vyšinskij mit Schreiben v. 10. Sept. 1945 darüber in Kenntnis, dass er die Aufnahme des verantwortlichen Sekretärs Bogojavlenskij in die Kommission für notwendig und sinnvoll halte, siehe AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 1, auszugsweise abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239, Fn. 1. Vyšinskij begrüßte den Vorschlag und veranlasste die Vorbereitung eines Entwurfs für den Ernennungsbeschluss des Politbüro ZK VKP(b), vgl. hierzu den handschriftlich angebrachten Vermerk Vyšinskijs auf dem ihm vorgelegten Exemplar des Schreibens Šverniks, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d.  4, Bl.  1.  Eine formelle Entscheidung des Politbüro ZK VKP(b)  über die Ernennung Bogo­javlenskijs zum Kommissionsmitglied wurde in der Folge augenscheinlich zwar nicht herbeigeführt. Indes zeugt die konstante Anwesenheit Bogojavlenskijs in den Sitzungen der Regierungskommission davon, dass er an der Arbeit der Kommission im Status eines (faktischen) Vollmitglieds aktiv partizipiert hat, vgl. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239, Fn. 1. 44 Biograph. Nachw. bei Zalesskij, Kto est’ kto, S. 395 (Eintrag Merkulov).

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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zite Erwähnung erfuhr, in die Vorbereitungen und die Durchführung des Nürnberger Prozesses jedoch auf vielfältige Weise involviert war und an der Arbeit der Regierungskommission aktiv mitwirkte.45 b) Mandat und Aufgabenwahrnehmung der Regierungskommission Das Mandat der Kommission bestand nach Maßgabe des Gründungsakts in der Koordinierung der vorbereitenden Maßnahmen in Bezug auf die Erstellung der sowjetischen Anklagematerialien und der Steuerung der Arbeit der in den Prozess involvierten sowjetischen Repräsentanten.46 Mit ihren denkbar weitreichenden Kompetenzen und der Möglichkeit einer direkten Einwirkung auf das prozessbezogene Verhalten der sowjetischen Vertreter war die Kommission neben der im weiteren Verlauf unmittelbar in Nürnberg konstituierten „Vyšinskij-Kommission“47 für potentiell sämtliche Sachbereiche mit Bezug zum Prozessgeschehen zum maß­ gebenden Entscheidungsgremium erhoben worden. Für die Formulierung der Direktiven an die sowjetische Delegation zeichnete das Gremium ebenso verantwortlich wie für die Auswahl nahezu aller auf der sowjetischen Seite am Prozess partizipierenden Personen bis hin zu der Bestellung von Übersetzungsfachkräften. In den Sitzungen der Kommission wurde der jeweilige Stand der prozessvorbereitenden Maßnahmen regelmäßig diskutiert und der Fortschritt in der von Nikitčenko und Rudenko geleisteten Arbeit erörtert.48 Zu der ihr ebenfalls überantworteten Koordination der Beweisdokumentation hatte die Kommission den nachträglich aufgenommenen49 Chef der Hauptverwaltung für Spionageabwehr Smerš, Abakumov, mit dem Auffinden und der Zusammenstellung von Beweis­mate­ rial für etwaig anzuklagende Verbrechen beauftragt. Dessen Mit­arbeiter führten 45 Merkulov nahm etwa an der Sitzung der Regierungskommission v. 21. März 1945 teil, in deren Verlauf ihm diverse Aufgaben im Zusammenhang mit dem Massenword an polnischen Offizieren im Wald von Katyn zur Wahrnehmung übertragen wurden; so wurde er mit der Vernehmung und „Vorbereitung“ eines deutschen Zeugen (gemeint war offenbar dessen Instruktion) betraut, „der an der deutschen Provokation in Katyn teilgenommen hat“, siehe Ziff. 6 der Aufzeichnung der Sitzung der Regierungskommission zum Nürnberger Prozess v. 21. März 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 49, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 218, S. 421–422, hier S. 422 = Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 222, S. 555–556, hier S. 556. 46 Punkt 238 des Protokolls No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945 (Fn. 29), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 47 Dazu ausf. in Kap. G. II. 48 Vgl. z. B. die Sitzung v. 9. Nov 1945, in der Vyšinskij zum ersten Tagesordnungspunkt über die Arbeit von Nikitčenko und Rudenko referierte, siehe Protokoll der Kommissionssitzung v. 9. Nov. 1945, GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 17–24 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 68–70, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 115, S. 281–283. Für die Sitzung v. 16. Nov. 1945 figurierte ein Bericht über den Gang der Prozessvorbereitungsarbeit an erster Stelle der Tagesordnung, siehe Protokoll der Kommissionssitzung v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 75–76, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 123, S. 290–291. 49 Siehe Fn. 39.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

in diesem Zusammenhang umfangreiche Vernehmungen unter in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Militärpersonen durch. So machte Abakumov dem Kommissionsvorsitzenden Vyšinskij etwa Protokolle der Vernehmungen von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, Vizeadmiral Hans-Erich Voss sowie Generalleutnant Rainer Stagel zugänglich, die dieser dem sowjetischen Hauptankläger Rudenko umgehend zur weiteren Veranlassung zukommen ließ.50 Darüber hinaus befasste sich die Kommission mit der Auswahl der für den Prozess benötigten Übersetzer, der Benennung möglicher Zeugen, dem bisherigen Verteidigungsverhalten der in den Blick genommenen Angeklagten einschließlich befürchteter Gegenangriffe auf die sowjetischen Vertreter und weiteren Themen, auf die in den nachfolgenden Abschnitten noch im Detail einzugehen sein wird. 3. Nikitčenkos Maßnahmenkatalog: Delegationsarbeit unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft Angesichts der in der Schwerfälligkeit des sowjetischen Staatsapparats und seiner komplexen Weisungsketten gründenden mühsamen Kommunikations­praxis Moskaus sahen sich sowohl Nikitčenko als sodann auch Rudenko bei den von ihnen zu veranlassenden Maßnahmen mit denselben praktischen Herausforderungen konfrontiert, die bereits bei der Ausarbeitung des Viermächte-Abkommens und des Statuts zu allerlei Friktionen und häufig auch effektiven Einbußen an Verhandlungsspielräumen geführt hatten. Erhebliche Zeitverluste auf Seiten der sowjetischen Repräsentanten ergaben sich aus den ihnen auferlegten Verpflichtungen, über jede Sitzung Bericht zu erstatten und ihnen vorgelegte Entwürfe zunächst nach Moskau zu übermitteln. Bis eine verbindliche Abstimmung mit den anderen Delegationen herbeigeführt und endgültige Entscheidungen in der Sache getroffen werden konnten, ja vor jeder Äußerung zur Sache bei thematisch bislang nicht durch entsprechende Weisungen abgedeckten Fragestellungen, waren Direktiven aus Moskau einzuholen. Die aus dem aufwendigen Entscheidungsverfahren resultierenden Belastungen für die sowjetischen Vertreter vor Ort erfuhren eine weitere Verschärfung durch die völlig unzureichende personelle Ausstattung der Mitarbeiterstäbe, die Rudenko wie auch zuvor Nikitčenko zugewiesen waren. Die sowjetische Vertretung erwies sich in einem Maße als chronisch unterbesetzt, dass eine auch nur halbwegs zufriedenstellende Wahrnehmung der ihnen überantworteten Funktionen mit dem Personalbestand, der ihnen an die Hand gegeben war, faktisch ausgeschlossen erschien. Unmittelbar nach Zusammenkunft in London und Einnahme der Arbeitsstrukturen waren die allgemeinen Anstrengungen der nationalen Vertreter zunächst auf die Sichtung und Prüfung der als Beweismaterial in Frage kommenden Dokumente gerichtet. In einem Bericht an Vyšinskij über die Arbeit der Anklagever 50 Hierzu AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 2, Bl. 2–3; siehe dazu Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 83, S. 239 f., Fn. 1.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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treter bis zum 1. September 1945 setzte der bis Anfang September kommissarisch als sowjetischer Anklagevertreter amtierende spätere IMT-Richter Nikitčenko­ Moskau darüber in Kenntnis, dass man im Rahmen einer Erörterung unter den Hauptanklägern zu dem Entschluss gelangt sei, die Sammlung des Beweismaterials bis zum 15. September 1945 abzuschließen und erst im Anschluss hieran zur Erstellung der Anklageschrift überzugehen.51 Zu diesem Zeitpunkt wollte ­Jackson ausweislich des Berichts bereits mit der Verlegung seines Mitarbeiterstabs nach Nürnberg zwecks Befragung von Angeklagten und Zeugen begonnen haben, und auch die französische und die britische Delegation hatten angekündigt, ihren Mitarbeiterstab ab Mitte September 1945 in Nürnberg konzentrieren zu wollen. Der endgültige Abschluss der Arbeiten an der Anklageschrift und deren anschließende Vorlage zum zunächst in Berlin tagenden Tribunal wurden für den Zeitraum zwischen dem 20. und 25. September 1945 avisiert. Aus Nikitčenkos Bericht ging ferner hervor, dass in der Sitzung ein Beschluss dahingehend gefasst worden war, alle den Hauptanklägern zur Verfügung stehenden Dokumente gegen die Hauptkriegsverbrecher wegen Verbrechen nach Art. 6 des Statuts in einem gemeinsamen Dossier zusammenzuführen.52 Vyšinskij wurde insoweit auch darüber in Kenntnis gesetzt, dass in Ausführung der genannten Entscheidung eine erste Sichtung und Auswahl der Dokumente, die Amerikanern und Briten zur Verfügung standen, bereits stattgefunden habe. Nikitčenko selbst hielt zu diesem Zeitpunkt indes keinerlei potentiell beweiserhebliche Dokumente in den Händen, die er in das gemeinsame Dossier hätte einführen können. Vor diesem Hintergrund sah er sich veranlasst, Vyšinskij auf den wenig schmeichelhaft anmutenden Umstand aufmerksam zu machen, dass sich der von ihm bislang eingebrachte sowjetische Beitrag in der Vorlage mehrerer Ausgaben allgemein zugänglicher sowjetischer Tageszeitungen erschöpft habe, in denen amtliche Noten Molotovs sowie ein Bericht der sowjetischen Beweissammlungskommission ČGK ganz oder in Auszügen abgedruckt waren. Darüber hinausgehendes Material sei ihm weder im Rahmen seiner Entsendung nach London an die Hand gegeben noch bis einschließlich 1. September 1945 von Seiten der zuständigen Organe im sowjetischen Staatsapparat an ihn übermittelt worden.53 Über den Mangel an aussagekräftigem Beweismaterial hinaus identifizierte Nikitčenko weitere Defizite seiner derzeitigen Arbeitssituation, die ihn zur Vorlage einer zwölf Punkte umfassenden Liste mit aktuell notwendigen Maßnahmen veranlassten, deren baldige Ergreifung er für eine effektive Prozessvorbereitung als geboten erachtete.54 An erster Stelle 51

Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 „Über die Arbeit des Komitees der Ankläger bis zum 1. September 1945“ (Ü. d. Verf.), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1–6, hier Bl. 2. 52 Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (1). 53 Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (2); hierzu auch Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 111. 54 Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (3–6).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

befand Nikitčenko es für notwendig, so rasch wie möglich einen sowjetischen Hauptankläger und/oder einen Stellvertreter nach London zu entsenden, wenn möglich in Begleitung eines Sekretärs und mindestens zweier Übersetzer. Ein Vertreter des Hauptanklägers sollte, unterstützt von zwei Sekretären und Übersetzern, für die deutsche und englische Sprache nach Nürnberg und ein weiterer Helfer nach Berlin abgeordnet werden. Nikitčenko ersuchte überdies mit Nachdruck darum, alle in Moskau in Vorbereitung befindlichen Materialien jeweils unverzüglich nach London und ab dem 15. September 1945 zudem nach Nürnberg zu übermitteln.55 Nikitčenkos Aufstellung notwendiger Sofortmaßnahmen entsprang einem als akut empfundenen Handlungsbedarf und erstreckte sich auf nahezu sämtliche von der Aufgabe der Prozessvorbereitung berührten Organisationsaspekte. Sie betraf etwa auch die Beschaffung von Büromaterial wie Papier und Schreibmaschinen mit den Schriftzeichen des kyrillischen Alphabets, Absprachen mit der amerikanischen Besatzungsmacht zwecks Organisation einer Kommunikationsverbindung zwischen Nürnberg und Moskau oder die Bestimmung von weiterem Personal, das den sowjetischen Hauptankläger bei der Be­fragung der Angeklagten unterstützen sollten56. Praktische Konsequenzen zeitigte der von Nikitčenko am 1. September 1945 formulierte Katalog von Sofortmaßnahmen nur in bescheidenen Umfang. Zwar ernannte das Politbüro ZK VKP(b) Roman Rudenko am 5. September 194557 zum sowjetischen Hauptankläger und schuf damit zumindest eine wesentliche Voraussetzung für eine sach- und interessengerechte Wahrnehmung sowjetischer Positionen in London – obschon reichlich spät. Weitere der von Nikitčenko angeregten Maßnahmen wurden sodann jedoch zunächst nicht in Angriff genommen. Da auch eine schriftliche Erwiderung auf den von Nikitčenko angemeldeten Bedarf an sofortigen Maßnahmen nicht erfolgte, sah dieser sich dazu veranlasst, mit einem Schreiben vom 12. September 1945 erneut an Vyšinskij heranzutreten und konkret um die Aufstockung des sowjetischen Stabes um acht Übersetzer, drei Stenographisten, einen Sekretär, einen Registratursachbearbeiter und einen Stabstellenleiter zu ersuchen.58 Vyšinskij maß den Bedarfsanmeldungen Nikitčenkos und der zu ihrer Substantiierung vorgetragenen derzeitigen Mangelsituation augenscheinlich eine gewisse Überzeichnungstendenz bei. Jedenfalls korrigierte er die Zahl der angeforderten Übersetzer in der Personalanforderung Nikitčenkos eigenhändig von acht auf fünf, die Zahl der Stenographisten von fünf auf drei Personen.59 Eine zeitnahe Abstellung zumindest fand gleichwohl nicht statt. 55

Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (4.). 56 Bericht von Nikitčenko an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (5). 57 Punkt 238 aus dem Protokoll No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1053, Bl. 52, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 58 Schreiben Nikitčenko an Vyšinskij v. 12. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 4. 59 Siehe die entsprechenden handschriftlichen Korrekturen Vyšinskijs in dem an ihn adressierten Schreiben Nikitčenkos v. 12. Sept. 1945 (Fn. 58), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 4.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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4. Erste Konturierung des Anklageentwurfs: Amerikanische Vorlage einer Anklageschrift Ab Mitte September nahmen die Vorbereitungsarbeiten zur Anklageschrift konkretere Gestalt an. Eine erste Zusammenstellung möglicher Anklageinhalte war zwar bereits in dem von der britischen Delegation noch während der Londoner Verhandlungen am 17. Juli 1945 an die übrigen Delegationen überreichten Dokument60 enthalten. Zu diesem Zeitpunkt lag Art.  6  IMT-Statut mit seinen vier in lit. a bis lit. c aufgeführten Tatbeständen indes noch nicht in seiner endgültigen Form vor, so dass dem britischen Entwurf Differenzierungen anhand der einzelnen Verbrechensformen nicht zu entnehmen waren. Im Übrigen lag dem dreiseitigen Dokument ein Anklagekonzept ganz nach anglo-amerikanischen Muster zugrunde, das lediglich eine kurze Aufzählung der den Angeklagten im Wesentlichen zur Last gelegten Rechtsbrüche vorsah. Belege dafür, dass der britische Entwurf im sowjetischen Lager über eine bloße Kenntnisnahme hinaus zu Reaktionen geführt haben könnte, liegen indes nicht vor. Am 13. September 1945 fand in London eine Besprechung auf Ebene der Hauptankläger statt, bei der die UdSSR in Ermangelung eines offiziellen sowjetischen Repräsentanten durch den sowjetischen Diplomaten Ivanov vertreten werden musste.61 Nach dessen Schilderungen fand Jacksons Vorschlag, innerhalb der folgenden zehn Tage einen vollständigen Text der Anklageschrift fertigzustellen, auf britischer und französischer Seite volle Unterstützung.62 Ivanov berichtete ferner, dass Jackson einen ersten 198 Seiten umfassenden amerikanischen Entwurf der Anklageschrift63 vorgestellt habe, von dem allerdings 124 Seiten auf biografische Angaben zu den einzelnen Angeklagten entfielen.64 Schließlich einigte man sich 60

Illustrative Draft (Fn. 5), Jackson Report, Dok. XXXI, S. 259–261. Note of Meeting of Heads of Delegations v. 13.  Sept. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 1, Bl. 137–140, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 84, S. 240–242; nichtamtliche Übersetzung ins Russische ebd., S.  242–244; vgl. auch den internen Bericht Ivanovs an ­Vyšinskij v. 13. Sept. 1945 (Fn. 61), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 14–16, von dem ausweislich des Verteilvermerks auch Roman Rudenko eine Kopie zugeleitet wurde; zu der betreffenden Sitzung siehe auch Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 126. 62 Bericht Ivanovs an Vyšinskij v. 13. Sept. 1945 (Fn. 61), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 14 (15). 63 Für ins Russische übersetzte Auszüge aus dem Anklageentwurf Jacksons siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 2, Bl. 44–51. 64 Bericht Ivanovs an Vyšinskij v. 13. Sept. 1945 (Fn. 61), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 14 (15); das mit dem Bericht Ivanovs in den meisten Punkten übereinstimmende Protokoll enthält dagegen keinen Hinweis auf eine Einführung des amerikanischen Entwurfs in diese Sitzung. In Punkt eins der Zusammenfassung der Sitzungsergebnisse wird lediglich fest­ gestellt „The American Delegation should circulate their draft of the Indictment“, siehe Note of Meeting (siehe Fn. 61), hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 84, S. 240 (242). Ob Jackson den amerikanischen Entwurf entsprechend Ivanovs Bericht tatsächlich bereits in­ dieser Sitzung vorgestellt hat, ist damit nicht mehr endgültig aufzuklären. Telford Taylor jedenfalls erwähnt die behauptete Einführung des amerikanischen Entwurfs ebenfalls nicht, siehe Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 126. 61

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

auf Vorschlag des britischen Anklagevertreters auf einen nächsten Besprechungstermin am 17. September 1945 und einen abschließenden Termin am 25. September 1945, bevor sodann in Berlin die Anklageschrift finalisiert werden sollte.65 In seinem Bericht an Vyšinskij resümierte Ivanov, dass die Arbeit nunmehr konkretere Züge annehmen würde und dass es daher dringend notwendig erscheine, die wörtliche Ausarbeitung des der Sowjetunion zugewiesenen Teils der Anklageschrift in Angriff zu nehmen und parallel hierzu die Prüfung der von amerikanischer Seite in Nürnberg hinterlegten Dokumente aufzunehmen. Wollte man die Verfügbarkeit der russischen Übersetzung der Dokumente in Nürnberg effektiv sicherstellen, sei es notwendig, bereits in den nächsten Tagen mindestens zehn sowohl der deutschen als auch der englischen Sprache mächtige Mitarbeiter nach Nürnberg zu entsenden.66 Die Mahnungen Ivanovs zu baldigem Handeln indes verhallten – ähnlich wie zuvor der in Nikitčenkos Bericht vom 5. September enthaltene Maßnahmenkatalog67 – im Wesentlichen, ohne in Moskau sichtbare Reaktionen auszulösen. 5. Die späte Ankunft des sowjetischen Hauptanklägers in London: Rudenko und das sowjetische „Schema“ Am 14.  September 1945 fand sich schließlich der erst einen Tag zuvor förmlich abgeordnete sowjetische Hauptankläger Roman Rudenko in Begleitung seines Stellvertreters Jurij Vladimirovič Pokrovskij68 und nur einer weiteren Mitarbeiterin, der Übersetzerin des NKID, Elena Dmitrieva, in London ein.69 Pokrovskij, der während des Prozesses die Rolle als Stellvertreter Rudenkos übernehmen sollte, war zu diesem Zeitpunkt seitens des ZK VKP(b)  noch nicht einmal offiziell in die Funktion des Vertreters eingesetzt worden.70 Ebenfalls am 13. September 1945 65 Insoweit stimmen die Angaben im Protokoll und im Bericht Ivanovs (für beide oben Fn. 61) überein. 66 Bericht Ivanovs an Vyšinskij v. 13. Sept. 1945 (Fn. 61), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 14 (16). 67 Bericht Nikitčenkos an Vyšinskij v. 5. Sept. 1945 (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (3–6). 68 Zur Person Kap. G., Fn. 17. 69 Schreiben von Charlamov an Avseevič, 13. Sept. 1945 (Fn. 28), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 2, vgl. hierzu auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 89, S. 250 (251, Fn. 1); Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 129. 70 Dies ergibt sich aus einem Brief Rudenkos an Vyšinskij v. 17.  Sept. 1945, in dem er Vyšinskij mit Hinweis auf die regierungsseitig jeweils offiziell nominierten Stellvertreter der anderen Hauptankläger zum einen darum ersuchte, Oberstleutnant Pokrovskij als seinen als Stellvertreter förmlich zu bestätigen und zum anderen darum bat, diesen entsprechend dem amerikanischen Stellvertreter in den militärischen Rang eines polkovnik (Oberst) zu erheben. Der Frage des Ranges käme im Rahmen der Verhandlungsführung nämlich prinzipielle Bedeutung zu, siehe Rudenko an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl.  10–13, hier Bl.  12.  Dieser Bitte wurde seitens Moskau offensichtlich entsprochen, da­ Pokrovskij in den Verhandlungsniederschriften zum Prozess den Rang eines Obersten führt, siehe z. B. IMT, Bd. I, S. 4.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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wurden Oberstleutnant (podpolkovnik) Z. A. Ozol’, Major der Justiz (major justicii) F. G. Denisov sowie die Übersetzerin V. I. Valickaja zur Vorbereitung einer Aufbaustruktur nach Nürnberg entsandt.71 Nur einen Tag nach seinem Eintreffen in London am 14. September 1945 zeigte auch der sowjetische Hauptankläger Rudenko dem NKID gegenüber an, dass die Bereitstellung weiterer Übersetzungskräfte und mindestens einer Schreibkraft dringend von Nöten sei.72 Er bat sogar um Entschuldigung für die lediglich handschriftliche Abfassung seines Briefes, die der Überlastung der ihm allein (eingeschränkt) zur Verfügung stehenden Schreibkräfte in der sowjetischen Botschaft geschuldet sei.73 Außerdem trug er die Entsendung Dmitrij Stepanovič Karevs74 an, seines späteren Assistenten und Leiters der Dokumentationsabteilung der sowjetischen Delegation.75 Bei seiner Ankunft in London führte Rudenko ein als „Schema“ (schema obvi­ nitel’nogo akta)76 überschriebenes sowjetisches Grundkonzept für die Ausarbeitung der Anklageschrift mit sich, auf das er in seinen Berichten wiederholt Bezug nahm.77 Das in fünf grobe Abschnitte untergliederte undatierte Dokument aus dem Einflussbereich der Moskauer Regierungskommission präsentierte ausgehend von Art. 6 des IMT-Statut ein auf inhaltliche Anreicherung angelegtes Skelett für die spätere Abfassung des Anklageschriftsatzes. Abschnitt 1 des Schemas78 führte in offenkundiger Ausrichtung an dem Wortlaut des in Art. 6 lit. a IMT-­Statut enthaltenen Tatbestands den Vorwurf der „materiellen und diplomatischen Vorbe 71 Schreiben von Charlamov an Avseevič, 13. Sept. 1945 (Fn. 28), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 2. 72 Vgl. hierzu den in Bezug genommenen Inhalt des Schreibens vom 15. Sept. 1945 im Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (12). 73 Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (13). 74 Karev, Dmitrij Stepanovič (1905–1978) lehrte an der juristischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität MGU und trat als Verfasser zahlreicher juristischer Lehrbücher in Erscheinung, vgl. Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 58; Lebedeva (Hrsg.), SSSR,Imennoj ukazatel’, S. 533 (554). Zu Karevs Rolle als sowjetischer Hilfsankläger während der Hauptverhandlung vor dem IMT siehe Kap. G, Fn. 39. Die Ernennung Karevs zum Leiter der Dokumentationsabteilung erfolgte durch Verfügung Rudenkos „Über den Apparat des Hauptanklägers der UdSSR beim IMT“ am 21. Jan. 1946, siehe Ziff. 2 der Verfügung, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 61, Bl. 304–305, hier Bl. 304, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386–387, hier S. 386. 75 Dies bekräftigte er in seinem Brief an das NKID v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (12). Zur Unterstützung des sowjetischen Teams in Nürnberg bat er in diesem Zusammenhang zudem um die Entsendung von Georgij Nikolaevič Aleksandrov, dem späteren Leiter der Ermittlungsabteilung, mindestens 14 Übersetzern und mindestens drei Schreibkräften, ebd., Bl. 13. 76 Schema der Anklageschrift (schema obvinitel’nogo akta), undatiert, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1–3; vgl. auch GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 78–80 und Bl. 84–86. 77 Das Schema (Fn. 76) nahm Rudenko etwa in seinen Berichten v. 17. Sept. und v. 18. Sept. 1945 in Bezug, siehe Schreiben Rudenko an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (10) sowie, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 10–11, hier Bl. 10. 78 Ziff. 1 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (1).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

reitung eines Angriffskriegs“ von Seiten der deutschen Regierung und zentraler Funktionsträger aus dem Industrie- und Finanzsektor als Gegenstand der in Vorbereitung befindlichen Anklage ein. Ergänzt wurde der Abschnitt durch den an die maßgeblichen Akteure im deutschen Generalstab adressierten Vorwurf der Ausarbeitung und der Durchführung eines räuberischen Angriffs auf friedensliebende Länder mit dem Ziel, deutsche Herrschaftsgewalt über euro­päische und andere Staaten zu etablieren. Zur Konkretisierung des Anklagegegenstandes führte Abschnitt 1 die Einrichtung spezieller Organisationen wie Gestapo und SS, die Schaffung des Systems der Konzentrationslager und die Propagierung der nationalsozialistischen Rassenideologie (lit. a), ferner die intensive Militarisierung für zukünftige Angriffskriege (lit. b) und schließlich den Bruch völkerrechtlicher Verträge und bilateraler Übereinkommen zum Nichtangriff unter prominenter Inbezugnahme des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts (lit. c) ins Feld. Als in Betracht kommende Beweismittel zu dem als Abschnitt 1 aufgenommenen Anklagepunkt nimmt das Schema u. a. auf den manifesten Widerklang Bezug, den die deutsche Kriegsrhetorik in aggressiv-agitatorischen Publikationen wie ­Hitlers „Mein Kampf“79 und öffentlichen Auftritten erzeugt hat.80 Im unmittel­ baren Anschluss an den in Abschnitt 1 unterbreiteten Anklagegegenstand erhob Abschnitt 281 unter impliziter Bezugnahme auf die Tatbestände des Art. 6 lit. b und c IMT-Statut den Angeklagten gegenüber den Vorwurf der Ausführung der Angriffsplanung, der Versklavung anderer Völker und der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die in dieser Oberkategorie zusammengefassten Einzelvorwürfe spezifizierte das „Schema“ in Abschnitt 2 wie folgt82: Hinterlistiger Angriff auf die Sowjetunion zum Zweck der Versklavung der Völker der UdSSR (lit. a), Tötung und grausame Behandlung der Zivilbevölkerung auf besetzten Territorien (lit. b), Tötung und grausame Behandlung von Personen auf See (lit. c), Tötung von Parlamentariern (lit. d), Geiselnahme im Widerspruch zu Normen des internationalen Rechts (lit. e), Plünderung des öffentlichen und privaten Eigentums (lit. f), barbarische Zerstörung von Städten und Dörfern (lit. g), Zer­störung von Kulturgütern und Kunst (lit. h) sowie Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Motiven (lit. i). Als Beweismittel führte die abschließende Erläuterung zu Abschnitt 2 die insoweit ergangenen und in schriftlicher Form vorliegenden Erlasse und Instruktionen seitens der Regierung und der Wehrmachtsführung auf. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit ­spezifischem örtlichen Bezug auf bestimmte Länder und Regionen, namentlich die UdSSR, England, Frankreich, Polen, Jugoslawien u. a. hatte der in der Sache ebenfalls auf Art. 6 lit. b und c des IMT-Statuts rekurrierende Abschnitt 383

79 Ausf. zur Rezeptionsgeschichte von Hitlers „Mein Kampf“ in der Sowjetunion Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“, S. 513–548. 80 Abschn. 1 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (1). 81 Abschn. 2 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (2). 82 Abschn. 2 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (2). 83 Abschn. 3 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (2).

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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des Schemas zum Gegenstand. Abschn. 484 befasste sich mit allgemeinen Angaben zu Schäden, die der UdSSR und anderen Staaten als Resultat der faschistischen Aggression zugefügt worden waren. Abschnitt 5 schließlich war konkretisierten verbrecherischen Handlungen einzelner individualisierter Angeklagter85 gewidmet, namentlich derjenigen der Regierungsmitglieder und Parteiführer (lit. a), Repräsentanten des obersten Kommandos der Wehrmacht (lit. b) sowie der Führer von SS, Gestapo und Hitlers Vertretern in den besetzten Territorien (lit. c).86 Im Schlussteil des Dokuments erfolgten noch knappe Ausführungen zu den Rechtsgrundlagen der Anklage, der Anwendbarkeit des IMT-Statuts auf die anzuklagenden Sachverhalte und der Zuständigkeit des IMT.87 In einen noch zu erstellenden Anhang zur An­klageschrift sollte eine Liste der Zeugen der Anklage sowie ein Verzeichnis der der Anklage zugrunde liegenden Dokumente aufgenommen werden.88 6. Fortschreibung der Entwurfsarbeiten: Der britische Anklageentwurf als weitere Verhandlungsgrundlage Einen Tag vor der nächsten Sitzung am 17.  September 1945  – der ersten unter Beteiligung des offiziell ernannten sowjetischen Hauptanklägers – ließen die Briten der sowjetischen Delegation Änderungsvorschläge zum amerikanischen Entwurf (Introduction und First Count) und ihren Teil des Entwurfs der Anklageschrift (Second Count) zukommen.89 Dass sich die sowjetische Seite mit den eigenen Prozessvorbereitungen bereits zu diesem Zeitpunkt in erheblichem Rückstand befand, wird nicht zuletzt anhand des Umstands ersichtlich, dass der amerikanische Hauptankläger Jackson im Zeitpunkt der ersten Sitzung unter Mitwirkung Rudenkos bereits mit der Überführung seines Mitarbeiterteams von London nach Nürnberg befasst war.90 Auch der britische Repräsentant David Maxwell Fyfe und der französische Hauptankläger François de Menthon gaben kurz darauf bekannt, bereits in der darauffolgenden Woche nach Nürnberg abreisen zu wollen, um von dort aus die Arbeit an der Anklageschrift in unmittelbarer Anbindung an Jackson abzustimmen.91 Auf der Sitzung stellten die Briten sodann i­hren bereits vorab kommunizierten Entwurf der Anklageschrift vor. Rudenko sicherte Vyšin 84

Abschn. 4 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (3). Abschn. 5 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (3). 86 Abschn. 5 Schema der Anklageschrift (Fn. 76), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (3). 87 Schema der Anklageschrift (Fn. 23), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (3). 88 Schema der Anklageschrift (Fn. 23), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1 (3). 89 Hierzu Begleitschreiben des British War Crimes Executive an Troyanovsky, 16. Sept. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 680. Für eine Darstellung des britischen Entwurfs siehe den Bericht von Rudenko an Vyšinskij v. 19. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1–4. Eine mit den sowjetischen, französischen und amerikanischen Anmerkungen ver­sehene undatierte Übersetzung des britischen Entwurfs findet sich in GARF, f. R-7445, op. 2, d. 2, Bl. 104–113. 90 Bereits am 18. Sept. 1945 reisten Jacksons Hilfsankläger Sidney S. Alderman und siebzehn weitere Mitarbeiter nach Nürnberg ab, siehe Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 127, 130. 91 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 130. 85

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

skij noch am gleichen Tage zu, den von britischer Seite vorgelegten Entwurf unverzüglich übersetzen und einer Überprüfung in der Sache unterziehen zu wollen, um unter Berücksichtigung des sowjetischen Schemas eigene Vorschläge einbringen zu können.92 In einer weiteren, sodann auf den darauffolgenden Tag anberaumten Sitzung am 18. September 1945 wurde der britische Entwurf der Anklageschrift einer gemeinsamen Erörterung zugeführt, an deren Ende sich die amerikanische und französische Delegationen für die Annahme dieses Entwurfs als Grundlage weiterer Überlegungen aussprachen. In einem in Ermangelung ausreichender Schreibmaschinenkapazitäten erneut von Hand verfassten Brief an Vyšinskij legte der sowjetische Hauptankläger Rudenko dar, dass er der Annahme des britischen Entwurfs deshalb nicht entgegen getreten sei, weil dieser in groben Zügen durchaus dem sowjetischen „Schema“ entsprochen habe.93 Er habe es jedoch nicht versäumt, bei dieser Gelegenheit seinen Verhandlungspartnern gegenüber unvermeidbaren Ergänzungs- und Änderungsbedarf im Detail anzumelden, der indes noch der Konkretisierung bedürfe. Gleichzeitig übermittelte er den britischen Entwurf in seiner Originalfassung nach Moskau, verbunden mit dem Hinweis, dass sich die am Vortag in Aussicht gestellte Übersetzung aus technischen Gründen als vorerst nicht realisierbar erwiesen habe. Einen ersten Teil der im Nachgang gleichwohl noch angefertigten russischen Übersetzung des britischen Entwurfs übersandte Rudenko am 19. September 1945 an Vyšinskij.94 Die übrigen Teile seiner Übersetzung übermittelte Rudenko erst am 21. September 1945 an das NKID.95 7. „[N]icht zufriedenstellend“: Der britische Anklageentwurf auf dem Prüfstand der Moskauer Regierungskommission Die umfangreiche Mandatierung der Moskauer Regierungskommission mit der Koordination sämtlicher prozessvorbereitender Maßnahmen96 brachte es mit sich, dass der Kommission auch der von Rudenko übermittelte britische Entwurf einer Anklage zur Prüfung und weiteren Veranlassung vorgelegt wurde. Am 23.  September 1945 übermittelte Vyšinskij Rudenko eine ausführliche Aufstellung von Änderungsvorschlägen.97 Die Änderungsvorschläge zum ersten Teil des britischen 92 Rudenko an Vyšinskij am 17.  Sept. 1945 (Fn.  70), AVP RF, f. 07, op. 13, p.  41, d.  9, Bl. 10–13. 93 Rudenko an Vyšinskij am 18. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 10–11. 94 Rudenko an Vyšinskij v. 19. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1–3 mit Begleitvermerk ebd., Bl. 4. 95 Vgl. hierzu das Begleitschreibens Rudenko an Vyšinskij v. 21. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 12. 96 Punkt 238 des Protokolls No 46 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. Sept. 1945 (Fn. 29), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 82, S. 239. 97 Schreiben Vyšinskijs an Rudenko, 23. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40–43. Ihren Anmerkungen legte die Kommission dabei eine eigene Moskauer Übersetzung der britischen Vorschläge zu Grunde, die von den von Rudenko angefertigten und am 19. Sept. 1945 (AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 1–4) bzw. am 21. Sept. 1945 (AVP RF,

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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Entwurfs Zhatten im Schwerpunkt den Themenkomplex der Aggression zum Gegenstand und zielten darauf ab, den rücksichtslosen Charakter der deutschen Kriegsführung sprachlich deutlicher zu akzentuieren.98 Ziffer 7 des Entwurfs99 enthielt eine ausführliche Kommentierung zu Ziffer 3 lit. c des britischen Entwurfs betreffend das Münchener Abkommen vom 29. September 1938.100 Vyšinskij regte eine Änderung der im britischen Entwurf enthaltenen Formulierung101 an, da die v­ orgelegte f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 12) übermittelten Fassungen partiell abwichen. Die Beauftragung einer weiteren Übersetzung durch Vyšinskij dürfte namentlich dem Umstand geschuldet sein, dass Mitarbeiter des NKID in der von Rudenko unter widrigen Bedingungen und ohne Rückgriff auf nennenswerte personelle Ressourcen gefertigten Übersetzung erhebliche Übersetzungsfehler identifiziert hatten. Ein Berater der Rechtsabteilung des NKID namens Krylov, der die von Rudenko vorgelegten Übersetzungen auf Anordnung Vyšinskijs einer Überprüfung zugeführt hatte, übermittelte Rudenko mit Schreiben vom 26. Sept. 1945 einige Hinweise auf besonders schwerwiegende sprachliche Fehler der Londoner Übersetzung, siehe Schreiben Krylov an Rudenko, 26. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 44. 98 Ziff. 1 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (40) sah in Bezug auf den im britischen Entwurf enthaltenen Abschnitt 2 (S. 7 ff.) über die Erlangung der Kontrolle über Deutschland eine Klarstellung des Inhalts vor, dass die Machtergreifung gerade zum Ziel der Vorbereitung einer Aggression erfolgte. Zu entsprechenden Ausführungen im Text der späteren Anklage vor dem IMT vgl. Anklagepkt. Eins, Abschn. F („Verwendung der Nazi-Kontrolle für den Angriff auf das Ausland“) der Anklageschrift, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 38–44. Nach der in Ziff. 3 der sowje­tischen Änderungsvorschläge (AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40) vorgesehenen Einfügung einer neuen Ziffer 11 im Anschluss an Ziffer 10 (S. 11) des britischen Entwurfs sollte zusätzlich ein Passus aufgenommen werden, wonach die „nazistischen Verschwörer“ den deutschen Generalstab zum Zentrum der Vorbereitung und Ausarbeitung der Pläne zum Angriffskrieg umfunktioniert hatten. Eine auf S. 12 des britischen Entwurfs aufgenommene Formulierung, wonach die „Nazi-Verschwörer“ erkannt hätten, „dass für ihre Zielerreichung die Liquidation des Versailler Vertrages erforderlich sei“, sollte nach Ziff. 4 (AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40) der sowjetischen Vorschläge dahin abgeändert werden, dass die deutschen Aggressoren nicht nur zur Einsicht in die Notwendigkeit der Überwindung des Versailler Vertrages gelangt waren, sondern sich die Realisierung dieser Einsicht auch zum Ziel gesetzt hatten. Ein dem sowjetischen Änderungsbegehren entsprechender Passus findet sich unter Anklagepkt. Eins, Abschn. F, Unterabschn. 2 der schlussendlich verabschiedeten Anklageschrift (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 38) wieder. 99 Pkt. 7 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). 100 Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien in München, am 29. Sept. 1938 geschlossen, RGBl. 1938 II, S. 853–855. Vgl. zum Inhalt des Abkommens, seinen internationalen Implikationen und seiner Wirkungsgeschichte mit zahlreichen Einzelbeiträgen den 2013 von Zarusky und Zückert vorgelegten Sammelband zur­ Thematik, Zarusky/Zückert (Hrsg.), Münchener Abkommen. Zur spezifisch sowjetischen Perspektive auf die Sudetenkrise siehe Slutsch, Die Sowjetunion und die Sudetenkrise. Aspekte einer Appeasement-Politik, ebd., S. 179–210. 101 Ziff. 3 lit. c des britischen Entwurfs (S. 16) lautete wie folgt: „Nachdem die Nazi-Verschwörer mit Krieg gedroht hatten, schlossen Großbritannien, Frankreich und Italien im Angesicht einer gewaltigen kriegerischen Bedrängnis am 29. September 1938 mit Deutschland einen Vertrag, demzufolge die Tschechoslowakei auf Deutschland übergehen sollte.“ Ü. d. Verf., zit. nach dem Schreiben Vyšinskijs an Rudenko, 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Fassung in der Sache eine versteckte Billigung der „Münchener Position der Briten und Franzosen“ zum Ausdruck bringe. Vyšinskij unterbreitete daher einen ausführlichen Formulierungsvorschlag, der an die Stelle eines Teils der bisherigen einleitenden Ausführungen zur Sudetenkrise treten sollte. Das Münchener Abkommen fand nurmehr im Schlusssatz des sowjetischen Gegenentwurfs kurze Erwähnung, ohne dass die im britischen Entwurf offenkundig aus Rechtfertigungsmotiven noch plastisch umschriebenen deutschen Drohgebärden auch nur eines Wortes gewürdigt worden wären.102 Die Änderungsvorschläge geben zudem Zeugnis von dem Ringen der sowjetischen Regierung um das ‚richtige‘ Verständnis des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939103 und machen die sowjetischen Befürchtungen um eine ihren Zielen nicht entsprechende Interpretation dieser Ereignisse deutlich. In Ziffer 8 der an Rudenko in Form von Einzelanweisungen gerichteten Änderungsverlangen fand sich etwa folgendes Korrekturbegehren wieder: „In § 7 des amerikanischen104 Entwurfs sollte die Formulierung betreffend den Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen Deutschland und der UdSSR gestrichen werden, der zufolge es sich herausgestellt habe, dass dieser Vertrag mittelbar den Grund für den Überfall Deutschlands auf Polen darstellte. Wenn Ihre Partner [die alliierten Verhandlungspartner Rudenkos, d. Verf.] auf der Beibehaltung dieses Textes bestehen werden, dann müssen Sie [Rudenko, d. Verf.] in jedem Fall eine Redaktion durchsetzen, der zufolge der Pakt zwischen Deutschland und der UdSSR im Jahr 1939 unter keinen Umständen als Trampolin für den Angriff auf Polen verstanden werden darf. Die endgültige Redaktion dieses Punktes schicken Sie uns zur vorherigen Zustimmung zu.“105 102 Pkt. 7 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). Die zwischen den Alliierten schlussendlich vereinbarte Fassung der Anklageschrift (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 41 [Anklagepkt. Eins, Abschn. F., Unterabschn. 3, lit. c, Nr. 3.]) nahm einen Großteil der in den von Vyšinskij vorgelegten Änderungsvorschlägen enthaltenen Formulierungen auf, behielt aber den einleitenden Satzteil zum Münchener Abkommen bei, wonach dem Abschluss des Abkommens deutsche Kriegsdrohungen vorangegangen seien. Offenbar infolge des sowjetischen Änderungsbegehrens entfiel allerdings der in der britischen Fassung (Fn. 101) noch enthaltene exkulpierende Zusatz, wonach der Vertragsschluss mit Deutschland unter dem Eindruck „einer gewaltigen kriegerischen Bedrängnis“ erfolgt sei. 103 Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken v. 23.  August 1939, abgedr. bei Lipinsky, Das Geheime Zusatzprotokoll Zum Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag, S. 632–634; russ. Fassung (Dogovor o nenapadenii meždu Germaniej i Sovetskim Sojuzom), ebd., S. 636–637. 104 Der britische Entwurf nahm auf S. 16 Bezug auf mehrere Paragraphen des amerikanischen Entwurfs (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). 105 Ü. d. Verf., Ziff. 8 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). In der Sache scheint dem sowjetischen Verlangen nach Streichung der kompromittierenden Passage Erfolg beschieden gewesen zu sein. In der endgültigen Fassung der Anklageschrift findet sich in der Passage zur Vorbereitung und Durchführung des Angriffskrieges auf Polen (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 41–42 [Anklagepkt. Eins, Abschn. F., Unterabschn. 4]) eine entsprechende Bezugnahme auf den Nichtangriffspakt nicht mehr wieder. Lediglich die Feststellung (ebd., S. 42), im Falle eines Überfalls auf Polen ­hätten die deutschen

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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Die im britischen Entwurf enthaltene detaillierte Aufzählung anzuklagender Kriegsverbrechen wies in der Wahrnehmung Vyšinskijs zudem „epischen Charakter“106 auf und bedurfte daher aus seiner Sicht aus Gründen der Praktikabilität erheblicher Straffung. Das Dokument schlug insofern die allgemeine Charakterisierung der den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen als „monströse Gräuel­taten der Nazisten“107 vor, die sodann durch Verwendung von zwei oder drei prägnanten Formulierungen konkretisiert werden könnte. Vyšinskij wies Rudenko dementsprechend an, sich unverzüglich Gedanken über geeignet erscheinende Formulierungen zu machen und die Vorschläge umgehend nach Moskau zu übermitteln. An der auf Seite 21 des britischen Entwurfs in Bezug auf den Vorwurf der Plünderung von Rohstoffen noch enthaltenen Wendung, wonach die widerrechtlichen Requisitionen von Gütern in den besetzten Territorien jedes vertretbare Maß überschritten hätten, nahm Vyšinskij ebenfalls Anstoß mit der Begründung, der vorgeschlagene Wortlaut sei mindestens missverständlich geraten, lege er doch einen Umkehrschluss des Inhalts nahe, dass verhältnismäßige Enteignungen unter den Bedingungen der deutschen Aggression im Grundsatz durchaus auch als zulässig hätten beurteilt werden können. Die von Vyšinskij dirigierte Kommission forderte anstelle dessen die Einfügung einer Formulierung, wonach den militärischen Requisitionen des Deutschen Reiches der Charakter eines „gemeinen Raubes“ zu attestieren sei.108 Einen gleichgerichteten Einwand erhob die Kommission auch gegen die Formulierung des auf Seite 22 des britischen Entwurfs niedergelegten Befundes, wonach die Angeklagten die Einwohner der besetzten Gebieten flächendeckend zwangsweise zu Arbeitsdiensten herangezogen hätten, dies jedoch für Zwecke, die mit den Bedürfnissen der Besatzungsarmeen in keinerlei Zusammenhang standen und in einem Ausmaß, das in keinem Verhältnis zu den Kräften der betroffenen Länder stand. Die Moskauer Regierungskommission schlug zu diesem Anklagekomplex demgegenüber eine „mehr kategorische Formulierung“ vor in dem Sinne, dass sich die einleitende Passage in der Feststellung einer gewaltsamen Überführung der Zivilbevölkerung in die deutsche Zwangsarbeit erschöpfen ­ essourcen des Lansollte. Insbesondere sollte insoweit eine Bezugnahme auf die R (lediglich) einen „gleichzeitigen Konflikt mit den Westmächten“ gewärtigen müssen, mag man als Nachhall der ursprünglichen Referenz auf den Nichtangriffspakt an dieser Stelle deuten. 106 Ziff. 10 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). 107 Ü. d. Verf., Ziff. 10 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). 108 Ziff. 11 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). Mit ihren diesbezüglichen Einwänden scheint sich die sowjetische Delegation in der Sache schlussendlich weitgehend durchgesetzt zu haben. Die endgültige Anklageschrift enthält in dem zur Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums gewidmeten Abschnitt (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 59–65 [Anklagepkt. Drei, Abschn. E]) keinen Hinweis mehr auf einen irgendwie gearteten Verhältnismäßigkeitsmaßstab in Bezug auf die deutschen Requisitionen. Eine Qualifikation der von den deutschen Kräften durchgeführten Aneignungen als „räuberisch“ findet sich in der Anklageschrift etwa unter Abschn. E, Unterabschn. 6, ebd., S. 60.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

des als Grenze zulässiger Indienstnahmen unterbleiben.109 Widerstand auf Seiten der Regierungskommission entzündete sich auch an der im britischen Entwurf vorgesehenen und auch für die endgültige Fassung des gesamten Anklagepunkts Drei der dem IMT vorgelegten Anklageschrift (Kriegsverbrechen)110 charakteristischen Aufteilung der maßgeblichen Begehungsorte in westliche und östliche111 Einflusssphären.112 Weiterhin riet die Kommission zur Ergänzung des in den britischen Entwurf aufgenommenen Abschnitts über die wirtschaftliche Kriegsvorbereitung um die spezifische Rolle der deutschen Industriellen, insbesondere Krupp und Schacht, bei der Entfesselung des Krieges, wobei insoweit eine Heranziehung der entsprechenden Passagen des amerikanischen Entwurfs113 befürwortet wurde.114 Den gesamten zweiten Teil  der Anklageschrift über Verbrechen gegen die Menschlichkeit stufte die Kommission indes als „nicht zufriedenstellend“115 ein. Aus diesem Grund beschloss das Gremium, Rudenko per Luftpost und nicht später als am 26. September 1945 eine vollständig überarbeitete Alternativfassung zum zweiten Teil der Anklageschrift zukommen lassen. Anhand der beiläufigen Bemerkung, man gehe davon aus, dass die erforderliche Übersetzung dieses zweiten Teils von London aus ohne größere Mühe zeitnah würde geleistet werden können116, wird ohne weiteres ersichtlich, dass namentlich Vyšinskij die desolaten Arbeitsbedingungen, insbesondere die völlig unzureichende materielle und personelle Ausstattung der sowjetischen Anklagevertretung, im Wesentlichen verborgen geblieben war oder er sich dieser Einsicht bewusst verschloss. Den Entwurf dieses zweiten Teils übersandte Vyšinskij am 24. September 1945 an Rudenko.117 109

Ziff. 12 der sowjet.Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). Im Gegensatz zu Ziff. 11 der sowjet. Änderungsvorschläge (Fn. 108) vermochte die Sowjetführung mit ihren in Ziff. 12 erhobenen Einwänden letztendlich nicht durchzudringen. Der Einleitungssatz zu Anklagepkt. Drei, Abschn. H der Anklageschrift (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 67), enthält eine dem britischen Entwurf entsprechende Referenz auf den (legitimierenden) Rekrutierungszweck für Bedürfnisse der Streitkräfte und die Wahrung der Leistungsfähigkeit des betreffenden Landes: „Überall in den besetzten Gebieten rekrutierten die Angeklagten die Einwohner zwangsweise zur Arbeit und verlangten ihre Dienstleistungen für Zwecke, die mit den Bedürfnissen der Besatzungsarmeen nichts zu tun hatten, und in einem Ausmaß, das in keinem Verhältnis zu den Kräften der betroffenen Länder stand.“ 110 Anklagepunkt Drei, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 46–70. 111 Vgl. etwa Anklagepunkt Drei, Abschn. B, Unterabschn. 1 (westliche Länder) und Unterabschn. 2 (östliche Länder), IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 55–56. 112 Ziff. 13 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). 113 Vgl. Fn. 63. 114 Ziff. 14 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42). 115 Ü. d. Verf., Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (43). 116 Schreiben Vyšinskijs an Rudenko, 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (43). 117 Anschreiben Vyšinskijs an Rudenko, 24. Sept. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 61, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 85, S. 245. Der erste Teil eines sowjetischen

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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Die Moskauer Instruktionen an Rudenko schlossen mit der allgemeinen Verpflichtung desselben auf die strikte Wahrung der ihm durch die Anweisungen zur Einbringung von Änderungsvorschlägen gezogenen Grenzen. Wenn auch gewissen Abweichungen im Wortlaut der vorgelegten Änderungsvorschläge bei Bedarf keine unüberwindbaren Schranken gezogen werden sollten, wurde Rudenko doch nachdrücklich an die ihm obliegende Pflicht erinnert, während der Verhandlungen stets den Sinn der jeweiligen Änderungsvorschläge im Blick zu behalten und nur diesem gemäß zu verfahren. Jede Zustimmung zu konkreten Textfassungen aufseiten Rudenkos war überdies mit einem allgemeinen Genehmigungsvorbehalt in Bezug auf die endgültige Redaktion zu versehen.118 Substantieller Verhandlungsspielraum verblieb Rudenko demnach nicht. In einem daraufhin an Vyšinskij gerichteten Schreiben vom 30.  September 1945119 bestätigte Rudenko den Erhalt der Anweisungen und berichtete von Maßnahmen, die er zur Umsetzung der ihm erteilten Instruktionen bereits getroffen hatte. Die sowjetischen Änderungs- und Ergänzungsvorschläge zum Projekt seien zeitnah sämtlichen Delegationen zur internen Prüfung unterbreitet worden. Diese und die Vorschläge anderer Delegationen würden nach Ankunft Jacksons in London von den Delegationen diskutiert werden, eine entsprechende Sitzung werde kurzfristig vermutlich auf den 3. Oktober 1945 anberaumt werden.120 Für die auf den Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen der UdSSR und Deutschland verweisende Passage des britischen Entwurfs einer Anklageschrift legte Rudenko entsprechend der ihm erteilten Anweisung121 einen eigenen Formulierungsvorschlag zur Genehmigung vor, der die Aufnahme eines mit „heimtückischer Angriff auf die UdSSR“ (verolomnoe napadenie na SSSR)122 überschriebenen Unterabschnitts vorsah: „Am 22. Juni 1941 haben die nazistischen Verschwörer, in hinterhältiger Weise den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR vom 23. August 1939 brechend, ohne vorangegangene Kriegserklärung an vielen Grenzübergängen und Orten der sowjetischdeutschen Grenze ihre Armeen auf das sowjetische Territorium geführt und damit einen Angriffskrieg auf die UdSSR begonnen.“123

Entwurfs der Anklageschrift leitete man Rudenko am 17. Sept. 1945 zu, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 85, S. 245, Fn. 1.  118 Hierzu und zum Vorstehenden Abschn. II des Schreibens Vyšinskijs an Rudenko, 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (42 f.). 119 Bericht von Rudenko an Vyšinskij v. 30. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45–47, hier Bl. 45. 120 Rudenko an Vyšinskij v. 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (45). 121 Ziff. 8 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). 122 Ü. d. Verf., Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (45). 123 Ü. d. V., Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (45).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Rudenko wies ferner auf den Umstand hin, dass Amerikaner und Briten auf die alsbaldige Ausarbeitung und Unterzeichnung der endgültigen Fassung der Anklageschrift drängten mit dem Ziel, diese nicht später als am 8. oder 10. Oktober in Berlin vorlegen zu können, wo die erste Sitzung des Tribunals stattfinden sollte.124 Die amerikanische Delegation habe die Verantwortung für die Übersetzung sämtlicher Dokumente ins Deutsche übernommen. Im Zusammenhang mit der kurz zuvor beschlossenen Einrichtung eines internationalen Übersetzerbüros, bestehend aus vier Sektionen125, meldete Rudenko Vyšinskij gegenüber einen von sowjetischer Seite für die Einnahme einer endgültigen Arbeitsstruktur zeitnah zu deckenden Personalbedarf von zwölf Übersetzern, vier Sekretären und Stenographisten sowie einem Büroleiter, insgesamt 17 Personen, an.126 Zur Deckung des akuten personellen Sofortbedarfs sei indes schon jetzt die Abordnung von mindestens sechs Übersetzern und vier Schreibkräften für die Übersetzung der Dokumente zwingend geboten.127 Ferner teilte Rudenko mit, dass er es für ratsam erachte, noch vor Beginn der Verhandlungen mit dem sowjetischen Gerichtsmitglied Nikitčenko zwecks Grobabstimmung in London zusammenzutreffen, bevor dieser endgültig nach Berlin abreisen würde.128 8. Ivanovs Bestandsaufnahme zur prekären Situation der Londoner Sowjetdelegation In der Sitzung der Hauptankläger vom 17. September 1945 legte Rudenko zum ersten Mal originäres sowjetisches Beweismaterial aus nichtveröffentlichten Quellen vor. Es handelte sich dabei um von der Außerordentlichen Staatskommission (ČGK) zusammengestellte Dokumente sowie einige beschlagnahmte amtliche Schriftstücke deutschen Ursprungs.129 Allerdings stand Rudenko jeweils nur ein einziges Exemplar der vorgelegten Dokumente zur Verfügung, die außerdem bis auf die deutschsprachigen sämtlich in russischer Sprache abgefasst und nicht übersetzt worden waren. Um den Inhalt des von sowjetischer Seite unterbreiteten Materials für die Aufgabenerfüllung der Anklagevertreter überhaupt zu erschließen, nahm sich der amerikanische Sowjetologe und Jurist John N. Hazard, der während des Nürnberger Prozesses als Jacksons Berater fungierte, der Übersetzung der von Rudenko eingereichten Dokumente an.130 Es nimmt nicht wunder, dass die praktischen Probleme, mit denen sich die sowjetischen Vertreter bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Funktionen konfrontiert sahen, auch für die anderen Dele 124

Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (45). Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (46 f.). 126 Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (47). 127 Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (47). 128 Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945 (Fn. 119), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45 (46). 129 Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (10); hierzu Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 130. 130 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 131. 125

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gationen rasch zu Tage traten. So war die Rudenko zur Seite gestellte Übersetzerin Dmitrieva in der Wahrnehmung der westalliierten Verhandlungspartner den ihr anvertrauten Aufgaben bereits in Ermangelung ausreichender rechtssprachlicher Qualifikationen offenkundig nicht gewachsen. Telford Taylor fasste die hiermit einhergehenden Komplikationen, insbesondere auch im direkten Austausch mit Rudenko, in seinen persönlichen Memoiren wie folgt zusammen: „Fräulein Dmitrijewa war zwar eine reizende Person, aber der Aufgabe, juristische Begriffe zu übersetzen, in keinster Weise gewachsen – eine Diskussion mit Rudenko war, wie Alderman es formulierte, wie eine Unterhaltung durch eine doppelte Matratze.“131

Auch wenn die sprachlichen Missgriffe der einzigen Rudenko zur Verfügung stehenden Übersetzerin während der Sitzungen Zeitzeugenberichten zufolge regelmäßig zur Erheiterung beitrugen132, waren Dmitrijevas Fehlleistungen in der Sache mitunter doch von ganz erheblicher Tragweite. Die unter der Regie Rudenkos in London unter widrigen Bedingungen gefertigten Übersetzungen wurden von Vyšinskij regelmäßig einem Experten der Rechtsabteilung des NKID133 zur Überprüfung zugeleitet.134 In den von dort aus am 26. September 1945 an Rudenko übermittelten Hinweisen auf einige besonders schwerwiegende sprachliche Fehler der in London erstellten Übersetzung135 wurde etwa für den in der Erstübersetzung enthaltenen Begriff der „Annexion“ eine Korrektur dahingehend vorgenommen, anstelle dessen den Begriff der „Anlagen“ einzusetzen. Insoweit drängt sich die Vermutung auf, dass Dmitrieva den englischen Begriff „Annexes“ fehlerhaft als „Annexion“ übersetzt haben muss. Der sowjetische Diplomat Ivanov, der in der Interimszeit zwischen der Abreise von Nikitčenko am 1. September 1945 und der Ankunft von Rudenko am 14. September 1945 das entstandene Repräsentanzvakuum in seiner Funktion als kommissarischer sowjetischer Anklagevertreter auszufüllen bemüht war und der auch danach in die Arbeit des sowjetischen Teams eingebunden blieb136, fertigte unter 131

Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 130: „Miss Dmitrieva, though personally rather winsome, was wholly unequal to the task of translating legal concepts; discussion with Rudenko was, as Alderman put it, like conversation through a double mattress.“ 132 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 131. 133 Bei dem ohne weitere Zusätze nur mit ‚Krylov‘ bezeichneten Mitarbeiter handelte es sich vermutlich um Sergej Borisovič Krylov, Mitarbeiter im zentralen Apparat des NKID der UdSSR, Völkerrechtler und Diplomat, siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (688); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (559). 134 Siehe hierzu etwa den mit Namenszeichen Vyšinskijs versehenen handschriftlichen Weiterleitungs- und Prüfvermerk auf dem Begleitschreibens Rudenkos an Vyšinskij v. 21. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 12. 135 Schreiben Krylovs an Rudenko, 26. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 44. 136 Die über den 14. Sept. 1945 fortdauernde Anbindung Ivanovs an das sowjet. Anklageteam belegt wird u. a. anhand einer an Ivanov adressierten Notiz des Briten E. G. Robey v. 25. Sept. 1945 ersichtlich, in der Ivanov um die Beschaffung eines Zertifikats der sowjet. Regierung darüber ersucht wird, dass Berichten der sowjet. Außerordentlichen Staatskommission die Eigenschaft offizieller Regierungsdokumente i. S. v. Art. 21 IMT-Statut innewohnt, siehe Notiz Robey an Ivanov v. 25. Sept. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 1, Bl. 123.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

dem 27. September 1945 einen ausführlichen Bericht „Über die Arbeit des Komi­ tees der Hauptankläger wegen des Gerichtsverfahrens über die Hauptkriegsverbrecher“ an.137 Das Dokument enthält eine detaillierte Bestandsaufnahme der enormen praktischen Widrigkeiten, mit denen sich die sowjetische Vertretung bei ihrer täglichen Arbeit in London konfrontiert sah, ergänzt durch eine vor diesem Hintergrund entwickelte Liste von möglichen Maßnahmen zur Abhilfe.138 Das Leistungsvermögen Dmitrievas bewertete Ivanov in Übereinstimmung mit den westalliierten Eindrücken ebenfalls als äußerst schwach. Nur mit großer Mühe sei die einzige zur Verfügung stehende Übersetzerin im Stande, die eingehenden Materialien im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Anklageschrift auch nur annähernd sachgerecht zu übersetzen. Noch verheerender fiel das Urteil Ivanovs in Bezug auf ihre mündlichen Dolmetscherleistungen aus, da sie die Ausführungen Rudenkos nicht selten sinnentstellend übersetze.139 Anlass zu sehr viel grundsätzlicheren Zweifeln an der Arbeitsfähigkeit der sowjetischen Abordnung in London indes nährte die von Ivanov an Moskau übermittelte Perspektive auf die Leistungen des sowjetischen Hauptanklägers selbst. Bereits in der ersten Ziffer seines Berichts verlieh Ivanov seiner Einschätzung Ausdruck, Rudenko sei mit dem zu einem gewaltigen Konglomerat angewachsenen Bestand von aus britischen und amerikanischen Quellen zusammengetragenen Dokumenten140 gänzlich unvertraut. Die Unkenntnis der Dokumente sei dabei überwiegend dem Umstand geschuldet, dass der überwiegende Teil der maßgeblichen Dokumente in deutscher oder englischer Sprache abgefasst sei und realistische Perspektiven auf die zeitnahe Erstellung russischsprachiger Übersetzungen durch eigene oder amerikanische Kräfte nicht abzusehen seien.141 Ivanov nahm das Schreiben abermals142 zum Anlass, Moskau gegenüber die nach seinem Dafürhalten für eine sinnvolle Auf­gabenerfüllung völlig unzureichende personelle Situation zur Sprache zu bringen, in der sich die durch 137 Ü. d. Verf., Schreiben von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18–20. Zu Ivanov siehe bereits Fn. 26. Für eine knappe inhaltliche Zusammenfassung des Berichts siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 679 f., Anm. 152.  138 Schreiben Ivanovs an Vyšinskij, 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (20). 139 Ziff. 1 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (18). 140 In einem Schreiben v. 29. Sept. 1945 an Rudenko bezifferte Jackson die Zahl derjenigen von amerikanischer Seite bereits gesichteten und überschlägig ausgewerteten deutschsprachigen Dokumente mit erkennbarer Relevanz für das angestrengte Verfahren, die bislang nicht einmal ins Englische hatten übersetzt werden können, auf über 2000. Hinzu kamen über 600 ins Englische, aber nicht ins Russische und Französische übersetzte Dokumente. Zusätzlich verfügten die Amerikaner über zahlreiches Filmmaterial, Fotografien und ähnliche Ressourcen, die ebenfalls noch einer Übersetzung bedurft hätten, siehe Schreiben Jacksons an Rudenko v. 29. Sept. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 1, Bl. 124–125, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 86, S. 245–247. 141 Ziff. 1 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (18). 142 Vgl. bereits den Bericht v. 13.  Sept. 1945 (Fn.  61), AVP RF, f. 07, op. 13, p.  41, d.  9, Bl. 14–16.

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

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die späte Ankunft Rudenkos in London ohnehin desorientierte sowjetische Delegation befinde. Die unzulängliche personelle Ausstattung der sowjetischen Vertretung führe nicht nur zu einer erheblichen Komplizierung bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben, sondern barg aus Sicht Ivanovs auch die auf der Hand liegende Gefahr, dass der sowjetische Hauptankläger über den Inhalt der von anderen Anklageteams in den Abstimmungsvorgang eingebrachten Dokumente nicht oder nur unzureichend informiert sein könnte. Die mangelnde Inhaltskenntnis wiederum könne zur Folge haben, dass Rudenko die Moskauer Führung wegen der etwa beabsichtigten Einführung solcher Dokumente nicht rechtzeitig würde warnen können, die den Prozess in eine für die sowjetische Seite ungünstige Richtung zu lenken drohten oder gar den Verteidigern bzw. den Angeklagten selbst die Möglichkeit eröffnen könnten, Erklärungen abzugeben, die die Position des sowjetischen Anklägers verkomplizieren oder in Misskredit bringen könnten.143 Überdies brächten weder Rudenko noch sein Vertreter nennenswerte Kenntnisse im Bereich der internationalen Beziehungen und speziell der deutschen Politik in ihre Ämter ein. Nach Einschätzung Ivanovs lag gerade in dieser weitgehenden Unerfahrenheit ein weiteres Risiko insofern begründet, als sich Engländer, Amerikaner, in erster Linie aber die sachkundig verteidigten Angeklagten versucht fühlen könnten, historische Fakten zum Nachteil der Sowjetunion im Wege des Richterspruchs zu falsifizieren.144 Auch insoweit wirke sich die frappierende Disparität hinsichtlich der den nationalen Anklage-Delegationen von ihren Entsendestaaten zur Auftragserfüllung zugewiesenen Ressourcen zwangsläufig zum Nachteil der sowjetischen Position aus. So setze sich die britische Delegation aus handverlesenen Spezialisten, bewanderten Historikern und hochqualifizierten Juristen zusammen und genieße die rückhaltlose Unterstützung des britischen Ministeriums für äußere Angelegenheiten, dessen Vertreter den Sitzungen der britischen Anklage-Delegation regelmäßig beiwohnen würden. Ein Historiker stehe immerhin auch der französischen Delegation zur Verfügung.145 Weiteres Ungemach drohe dem Anliegen einer effektiven sowjetischen Interessenwahrnehmung bei der Prozessvorbereitung eingedenk des Umstandes, dass die Amerikaner kategorisch auf einer unverzüglichen Ortsverlegung der Hauptankläger nach Nürnberg bestünden und bereits in Kürze die gesamten Materialien dorthin verbracht haben würden. In London sei nur noch ein nach­geordneter Mitarbeiter – Taylor – verblieben. Auch Briten und die Franzosen hätten bereits ganze Gruppen von Mitarbeitern nach Nürnberg entsandt, im Falle der Briten sogar unter Leitung des stellvertretenden Hauptanklägers. Der französische Hauptankläger habe sich ebenfalls, wenn auch vorübergehend, nach Nürnberg begeben. Die sich beschleunigende Schwerpunktverlagerung der Vorbereitungs­arbeiten nach Nürnberg habe bereits zur Folge gehabt, dass sich 143 Ziff. 2 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (18 f.). 144 Ziff. 3 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (19). 145 Ziff. 3 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (19).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Rudenko im ­Rahmen einer Zusammenkunft in der zurückliegenden Woche auf Seiten der drei Westalliierten nurmehr Stellvertretern der Hauptankläger gegenüber gesehen habe146, die mit Kompetenzen zur verbindlichen Mitwirkung an endgültigen Entscheidungen nicht ausgestattet waren.147 Im internationalen Umgang seien weder Rudenko noch sein Gehilfe hinreichend bewandert. Die Bearbeitung von auf der Tagesordnung befindlichen Fragestellungen nähme daher enorm viel Zeit in Anspruch. Nicht zuletzt strahle Rudenko bei seinen Auftritten vor den international besetzten Gremien eine allenthalben wahrnehmbare Unsicherheit aus, was den Fortgang des Abstimmungsprozesses mit den Alliierten zusätzlich hemme.148 Aus den ihm vorliegenden Berichten Rudenkos entnahm Ivanov schließlich noch, dass sich auch in den Reihen der nach Nürnberg entsandten sowjetischen Vertreter149 kein einziger Historiker oder Deutschlandspezialist wiederfinde, der im Stande wäre, sich einen raschen Überblick über die vielen Hunderte von als Beweismaterial in Betracht kommenden Dokumenten zu verschaffen. Um Abhilfe bezüglich der in vielerlei Hinsicht als prekär empfundenen Situation zu schaffen, hielt Ivanov es für geboten, Rudenko umgehend Unterstützung in Gestalt hochqualifizierter Übersetzer für Englisch, Deutsch und Französisch angedeihen zu lassen und ihm qualifizierte Historiker und Juristen mit fundierten Kenntnissen über Deutschland und die Geschichte der internationalen Beziehungen an die Seite zu stellen. Derart qualifiziertes Personal sollte schnellstmöglich sowohl nach London als auch nach Nürnberg entsandt werden.150 Mit Blick auf die skizzierte Unerfahrenheit Rudenkos auf internationalem Parkett erachtete Ivanov es ferner für dringend geboten, Rudenko einen erfahrenen diplomatischen Mitarbeiter als Berater beizuordnen.151 Ivanovs augenscheinliche Zweifel am Vorhandensein des für die Anklagevorbereitung unabdingbaren Hintergrundwissens bei Ankläger Rudenko kulminierten in dem Vorschlag, Rudenko umgehend mit konkreten Materialien aus deutschen Quellen vertraut zu machen, aus denen dieser sich Hauptmotive und Ziele des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion erschließen solle.152 146 Ziff. 4 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (19). 147 Dass Ivanov die fehlende Letztentscheidungskompetenz der westalliierten Ankläger-Stellvertreter monierte, mutet jedenfalls insoweit befremdlich an, als Rudenko selbst aufgrund seiner uneingeschränkten Weisungsgebundenheit und der Pflicht zur permanenten Rückabsicherung in Moskau wohl – wie Ivanov sich aus seiner zweiwöchigen Interimsverwendung sicherlich erinnern konnte – den denkbar weitgehendsten Beschränkungen unterlegen haben dürfte. 148 Ziff. 5 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (19 f.). 149 Für deren initiale Zusammensetzung vgl. Schreiben von Charlamov an Avseevič v. 13. Sept. 1945 (Fn. 28), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 2. 150 Ziff. 6.1 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27.  Sept. 1945 (Fn.  27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (20). 151 Ziff. 6.2 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27.  Sept. 1945 (Fn.  27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (20). 152 Ziff. 6.2 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27.  Sept. 1945 (Fn.  27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (20).

II. Auswertung relevanter Dokumente und Abfassung der Anklageschrift

333

Besondere Erwähnung gebührt auch dem Ratschlag, Rudenko anhand von Richtlinien darüber zu orientieren, „welche Position im Hinblick auf den 1939 zwischen Deutschland und der UdSSR abgeschlossenen Nichteingriffspakt zu vertreten und was auf diesbezügliche Fragen zu antworten ist“153. Der Bericht Ivanovs löste in Moskau ernsthafte Bemühungen aus, zumindest die gröbsten Missstände umgehend anzugehen, namentlich in Gestalt personeller Maßnahmen. Bereits am 28. September 1945 legte der Sekretär der Regierungskommission zur Leitung der sowjetischen Vertreter im Internationalen Militärtribunal D. I. Gorbunov154 Vyšinskij ein zweiseitiges Dokument mit der Überschrift „Praktische Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit von Hauptankläger Rudenko“ zur Durchsicht vor155, dass die Kommission nach Beratung der von Ivanov unterbreiteten Vorschläge beschlossen hatte. Der Bedarf an Übersetzern, die Rudenko unmittelbar zu unterstellen waren, wurde auf fünfzehn Kräfte taxiert, die für die Phase der Durchführung des Prozesses um weitere sechs Personen ergänzt werden sollten.156 Im Interesse einer möglichst zeitnahen Einnahme des derart fixierten Sollbestandes an Übersetzungskräften wurde unter anderem angeordnet, den bereits in Angriff genommenen Vorgang der Überprüfung von zehn ausgewählten Übersetzern zu beschleunigen. Zwei weitere für grundsätzlich geeignet befundene Übersetzungskräfte wurden namentlich bezeichnet und ihre zeitnahe Überprüfung angeregt. Zur Deckung des verbleibenden Personalbedarfs wurde zudem der Vorschlag unterbreitet, an den stellvertretenden Volkskommissar für Verteidigung und Leiter der Hauptabteilung des Militärnachrichtendienstes Smerš157 Abakumov158 153 Ü. d. Verf., Ziff. 6.3 des Schreibens von Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18 (20), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 679 f., Anm. 152.  154 Gorbunov war ein Mitarbeiter des NKID und Sekretär der Regierungskommission zur Leitung der sowjetischen Vertreter im Internationalen Militärtribunal, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (545). 155 Ü. d. Verf., Gorbunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5–6. 156 Ziff. 1 des Schreibens von Gorbunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945 (Fn. 155), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5 (5). 157 Der Begriff Smerš bezeichnet einen 1943 mit dem Auftrag der Spionageabwehr eingerichteten sowjetischen Militärnachrichtendienst. Das Akronym Smerš (Smert‘ Špionam) steht für „Tod den Spionen“; zur Genese dieser Wortschöpfung siehe Hilger, in: ders. (Hrsg.), ‚Tod den Spionen!‘, S. 7 (17) m. w. Nachw. 158 Abakumov, Viktor Semenovič (1908–1954), war seit 1941 stellvertretender Volkskommissar für Innere Angelegenheiten und gleichzeitig Leiter der Verwaltung der besonderen Abteilungen (Upravlenie osobych otdelov). Dieser Verwaltung oblag die Leitung der Tätigkeit der Staatssicherheitsorgane in der sowjetischen Armee, der Marine sowie in allen anderen bewaffneten Gruppierungen wie Polizei, Grenzschutz etc. 1943 wurden die besonderen Abteilungen aus dem NKVD ausgegliedert und Abakumov zum Leiter der Hauptabteilung des militärischen Nachrichtendienstes Smerš ernannt. Gleichzeitig wurde er stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung. Zwischen 1946 und 1951 bekleidete er das Amt des Ministers für Staatssicherheit der UdSSR. Zum Vorstehenden und für weitere biograph. Nachw. vgl. Zalesskij, Kto est’ kto, S. 9 f. (Eintrag Abakumov); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (533).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

mit der Bitte heranzutreten, aus dem Kreis der bereits im Rahmen des Prozesses von Char’kov eingesetzten und seiner Befehlsgewalt unterstehenden Übersetzer zwei bis drei Personen mit entsprechendem Erfahrungshorizont zu benennen.159 Für den Fall, dass auch danach der erforderliche Bedarf noch nicht sichergestellt sein würde, wurde schließlich angeregt, Marschall Žukov160 und den Politischen Berater161 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD)162 Sobolev163 um Abordnung von acht bis zehn Übersetzern aus dem Stab der SMAD zu ersuchen. Die Notwendigkeit der von Ivanov nachdrücklich angemahnten politischen und juristischen Begleitung Rudenkos erkannte die Moskauer Kommission ebenfalls ausdrücklich an.164 Für die Sicherstellung einer adäquaten juristischen Beratung Rudenkos erachtete das Gremium die Beiordnung von Aron Trajnin und des Beraters der Rechtsabteilung des SMAD Boris Stepanovič Man’kovskij165 für zweckmäßig.166 Beratungskompetenz auf dem Feld der internationalen Beziehungen versprach man sich von der Einbeziehung des Dozenten für Geschichte der internationalen Beziehungen an der Militär-Politischen Akademie des V. I. Lenin. Schließlich sollten nach dem Willen der Kommission sämtliche bereits nominierten und für unbedenklich befundenen Mitarbeiter der sowjetischen Delegation des IMT unverzüglich nach Nürnberg entsandt werden und sich dort umgehend um die Einrichtung einer direkten telefonischen Verbindung nach Moskau bemühen.167 Der 159

Abakumov stimmte daraufhin einer Abordnung von zwei Übersetzern zu, siehe den handschriftlichen Vermerk am linken Rand der ersten Seite des Schreibens von Gorbunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945 (Fn. 155), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5 (5). 160 Žukov, Georgij Konstantinovič (1896–1974), Marschall der UdSSR, nahm in der Nacht auf den 9. Mai 1945 als Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation entgegen, seit Juni 1945 Oberster Chef SMAD und Mitglied des Kontrollrats, Zalesskij, Kto est’ kto, S. 212 ff. (Eintrag Žukov); Foitzik, SMAD, S. 475. 161 Zur Funktion der Politischen Berater siehe Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Einführung, S. XIX ff. 162 Zur sowjet. Besatzungsverwaltung und zur Bildung der SMAD ausf. Foitzik, SMAD; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Einführung, S. XIV ff. 163 Sobolev, Arkadij Aleksandrovič (1903–1964), war von 1939 bis 1942 Generalsekretär des NKID, danach bis 1945 Botschaftsrat der Sowjetunion in Großbritannien. Von 1945 bis 1946 fungierte er als Politischer Berater der Leitung des SMAD und Direktor der Abteilung Politik Kontrollrat, von 1946 bis 1949 als Assistent des Generalsekretärs der UNO und Leiter des Departements für politische Fragen und Angelegenheiten des Sicherheitsrats der UNO, von 1949 bis 1950 schließlich als Leiter der UNO-Abteilung des MID der UdSSR, siehe­ Foitzik, SMAD, S.  478; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd.  1, Personenregister, S.  675 (697); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (580). 164 Ziff. 2 des Schreibens von Gorbunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945 (Fn. 155), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5 (6). 165 Der sowjetische Jurist Boris Stepanovič Man’kovskij (1904–1980) war in den Jahren 1945 bis 1946 Berater der Rechtsabteilung des SMAD, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (564). 166 Die Vorgenannten waren sodann auch während des Prozesses für das sowjetische Team beratend tätig. 167 Ziff. 3 des Schreibens von Gorbunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945 (Fn. 155), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5 (6).

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

335

Kommissionsvorsitzende Vyšinskij brachte am Rand des an ihn adressierten Empfehlungskatalogs einen handschriftlichen Genehmigungsvermerk an, verbunden mit der an Bazarov168 und Smirnov169 gerichteten Anweisung, die zeitnahe Realisierung sämtlicher Forderungen sicherzustellen.170 Die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen verlief trotz dem auch von Seiten der Kommission nunmehr als akut erkannten Handlungsbedarf wiederum schleppend. So erging die endgültige Anweisung an Sobolev171, Semönov und ­Mankovskij als politischen bzw. juristischen Berater zur Unterstützung Rudenkos nach Nürnberg abzuordnen, erst am 6. Oktober 1945.172

III. Vorläufige Finalisierung der Anklageschrift und nachträgliche Revisionsbemühungen III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

1. Vertreter ohne Vertretungsmacht: Rudenkos weisungswidrige Unterschriftsleistung unter Änderungsvorbehalt In den letzten beiden Sitzungen der gemeinsam tagenden Ausschüsse zwei und drei am 29.  September und am 1.  Oktober  1945 wurde für die Anklagepunkte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine weitgehende Einigung erzielt und diese in eine nahezu endgültige Form überführt.173 In den Anklagepunkten Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden konnten Amerikaner und Briten als Ergebnis eines regen Austauschs in Nürnberg ebenfalls einen revidierten Entwurf präsentieren, den Patrik Dean vom Foreign Office Rudenko am 30. September 1945 zukommen ließ.174 Bereits am 30. September 1945 hatte Rudenko Vyšinskij darüber in Kenntnis gesetzt, dass Briten und Amerikaner auf die Finalisierung der Anklageschrift drängten und ihre Arbeit an der Anklageschrift dementsprechend in der ersten Oktoberwoche zu einem Abschluss zu bringen bestrebt waren, damit bereits für den Zeitraum zwischen dem 8. und 10. Oktober 1945 die erste Sitzung des ­Tribunals in

168

Zu dessen Person vgl. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (535). Smirnov, Andrej Andreevič (1905–1982), war von 1943–1949 Leiter der 3. Europäischen Abteilung des NKID, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (580). 170 Handschriftlicher Vermerk Vyšinskijs v. 29.  Sept. 1945 auf dem Schreibens von Gor­ bunov an Vyšinskij v. 28. Sept. 1945 (Fn. 155), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 5 (6). 171 Zu dessen Funktion vgl. bereits den Nachw. oben Fn. 163. 172 Schreiben von Vyšinskij an Sobolev v. 6. Okt. 1945, AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 7–8, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. 89, S. 250. 173 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 132. 174 Für den engl. Originaltext sowie eine russ. Übersetzung des Anschreibens Deans an Rudenko v. 30. Sept. 1945 siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 1, Bl. 409, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 87, S. 247–248. 169

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Berlin anzuberaumen sein würde.175 In der am 6. Oktober 1945 in Berlin einberufenen Sitzung unterzeichneten die Hauptankläger sodann unter Beifügung diverser Vorbehalte eine englische Fassung der Anklageschrift176, nachdem insbesondere der britische Hauptankläger Shawcross auf die vorläufige Unterschriftsleistung noch an diesem Tage hingewirkt hatte.177 Rudenko behielt sich bei der Unterzeichnung der englischsprachigen Urkunde spätere Änderungen und Ergänzungen im Zuge der Endredaktion sämtlicher Sprachfassungen ausdrücklich vor178, und auch Shawcross ging von der freien Annullierbarkeit der vorläufigen Zustimmung im Falle von inhaltlich divergierenden Sprachfassungen aus.179 Vollständige russische und französische Versionen der Anklageschrift lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in unterschriftsreifer Form vor. Jackson seinerseits meldete einen Vorbehalt für den Sprachgebrauch der Anklageschrift in Bezug auf die Territorien Estlands, Lettlands und Litauens an.180 Die von Rudenko ohne vorherige Einholung einer abschließenden Genehmigung durch die Moskauer Kommission und vor Fertigstellung einer vollständigen russischen Übersetzung geleistete Unterschrift unter die Anklageurkunde führte zu großer Verärgerung Vyšinskijs. Vieles spricht dafür, dass Rudenko am 6. Oktober 1945 selbst nicht auf eine Unterzeichnung der Anklageschrift  – wenn auch nur vorläufiger Natur – gefasst war, hatte er doch noch am 6. Oktober 1945 an das NKID telegrafiert, dass für denselben Tag in Berlin ein Treffen der Hauptankläger terminiert sei, in dessen Verlauf eine Übereinkunft über die Modalitäten der (späteren) Unterzeichnung der Anklageschrift herbeigeführt werden solle.181 Den voraussichtlichen Zeitpunkt für die Fertigstellung der Übersetzung der Anklageschrift hatte Rudenko in diesem Zusammenhang auf den 8. Oktober 1945 datiert. Bis zum 10. Oktober 1945 erhielt das NKID von Seiten des sowjetischen Haupt 175

Bericht von Rudenko an Vyšinskij, 30. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 45–47, hier Bl. 45. 176 Vgl. hierzu Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  90, S.  251 f., Anm.  1; Kastner, Völker, S. 41; Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 149. Für eine Zusammenfassung der am 6. Okt. 1945 unterzeichneten vorläufigen Fassung der Anklageschrift siehe Bericht Vyšinskij an Molotov v. 13. Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 10–13, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255–258. 177 Vgl. insoweit die Schilderung in der Mitteilung Rudenkos an Molotov v. 16. Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 16. 178 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  90, S.  251 f., Anm.  1; Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVII; Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 149. 179 Hierzu Mitteilung Rudenkos an Molotov v. 16. Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 16. 180 Letter of Reservation by the United States Prosecutor in Regard to Wording of the Indictment v. 6. Okt. 1945 (o. Kap. C, Fn. 218), für das von Jackson unterzeichnete Original des Vorbehaltsschreibens siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 500, abgedr. auch in der englischen Ausgabe von IMT, Vol. 1, S. 95; vgl. für die Erläuterung der Beweggründe auch die Mitteilung an den Clerk of Recording Officer beim IMT, oben D., abgedr. ebd., S. 103–104. 181 Der Inhalt dieses Telegramms erschließt sich aus der schriftlichen Auskunft Vyšinskijs an Molotov v. 16. Okt. 1945 über die von Rudenko erhaltenen Nachrichten zur Vorbereitung der Anklageschrift, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 21.

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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anklägers keine weiteren Sachstandsmitteilungen zur Lageentwicklung mehr, so dass Vyšinskij sich veranlasst sah, Rudenko die Abgabe einer entsprechenden Stellungnahme förmlich aufzugeben.182 Unter dem Datum vom selben Tage erhielt das NKID per Telegramm eine von Rudenko und dem sowjetischen Botschafter in Großbritannien Gusev unterzeichnete Erklärung des Inhalts, dass die Anklageschrift am 6. Oktober 1945 unterzeichnet worden sei und noch am Tag der Mitteilung – dem 10. Oktober 1945 – an das Tribunal übergeben werden würde. Ihre Veröffentlichung sei für den 12. Oktober 1945, der Prozessbeginn für den 5. November 1945 vorgesehen.183 Der von Rudenko und Gusev Vyšinskij gegenüber in Aussicht gestellten unverzüglichen Übermittlung der Anklageschrift per Luftpost nach Moskau ließ Rudenko bis einschließlich 16. Oktober indes augenscheinlich keine dahingehenden Bemühungen folgen. Eine Mitteilung über die Unterzeichnung der Anklageschrift und den von ihm formulierten Vorbehalt allerdings ließ er Molotov am 16. Oktober 1945 zukommen.184 2. Schwerfälliger Apparat in Zeitnot: Bemühungen zur kurzfristigen Einbringung weiterer sowjetischer Änderungsvorschläge Trotz der Versäumnisse Rudenkos sollten der englische Originaltext sowie eine nicht amtliche russische Übersetzung Vyšinskij und seinen Mitarbeitern bald zur Verfügung stehen. Am 10.  Oktober 1945 sicherten Nikitčenko und Trajnin von Berlin aus zu, alsbald den englischen Originaltext der von Rudenko unterzeichneten Anklageschrift mitsamt einer aus Zeitmangel „möglicherweise lückenhaft und unbefriedigend“185 durchgeführten Übersetzung nach Moskau übermitteln zu wollen, da von einem vorherigen Eintreffen des von Rudenko in Aussicht gestellten Textes der Anklageschrift wohl nicht mehr ausgegangen werden könne.186 Nikitčenko konnte überdies die beruhigende Kunde überbringen, dass man unter den Mitgliedern des Tribunals eine Einigung dahingehend erzielt habe, dass die Überreichung der Anklageschrift an das Tribunal in öffentlicher Sitzung erst dann zugelassen würde, wenn die Anklageschrift von allen Haupanklägern in englischer, russischer und französischer Sprache unterzeichnet worden sei und das Tribunal eine Mitteilung zur ihrer Veröffentlichung seitens der entsprechenden Regierun 182 Vgl. hierzu die Inhaltswiedergabe zum Aufforderungsschreiben im Bericht Vyšinskijs an Molotov v. 16. Okt. 1945 (Fn. 181), AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 21. 183 Zum Inhalt des Telegramms siehe Bericht Vyšinskijs an Molotov v. 16. Okt. 1945 (Fn. 181), AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 21. 184 Schreiben Rudenko an Molotov v. 16.  Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p.  20, d.  208, Bl. 16; hierzu Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVII. 185 Ü. d. Verf., Bericht Nikitčenkos und Trajnins an Vyšinskij v. 10. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 48–49, hier Bl. 48. 186 Bericht Nikitčenkos und Trajnins an Vyšinskij v. 10. Okt. 1945 (Fn. 185), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 48 (48).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

gen erhalten habe.187 In seiner Eigenschaft als sowjetisches Mitglied des IMT versicherte Nikitčenko überdies, seine Zustimmung zur Veröffentlichung der Anklageschrift bis zu deren endgültiger Sanktionierung durch Vyšinskij zurückhalten zu wollen. Der angekündigte Text der Anklageschrift ging dem NKID am 12. Oktober 1945 zu, woraufhin umgehend eine weitere russische Übersetzung des englischen Textes veranlasst wurde.188 Am selben Tage erreichte Vyšinskij indes eine weitere Mitteilung, wonach die Übergabe der Anklageschrift an das Tribunal bereits drei Tage später, nämlich für den Morgen des 15. Oktober 1945 vorgesehen sei.189 Unter dem Eindruck des akuten Handlungsbedarfs bediente sich Vyšinskij nunmehr aller zu Gebote stehenden Kommunikationskanäle, um dem sich zuletzt auffallend zurückhaltend gerierenden Chefankläger Rudenko Änderungsvorgaben mit der Maßgabe zukommen zu lassen, diese noch vor der Überreichung in die Endredaktion zur Anklageschrift einzubringen. Noch am 12.  Oktober 1945 Tag übermittelte er Nikitčenko überdies eine zur unmittelbaren Weiterleitung an Rudenko bestimmte Anweisung des­ Inhalts, dass die Anklageschrift vor ihrer endgültigen Sanktionierung „von der Instanz [Stalin, d. Verf.] bestätigt werden muss“190 und kündigte an, allfällige Änderungsbegehren und eine endgültige Bestätigung bis spätestens Sonntag, den 14. Oktober 1945, zu übermitteln. Mit Blick auf die gleichwohl bestehende Möglichkeit einer erst nach diesem Zeitpunkt zugehenden Genehmigung seitens „der Instanz“ sah sich Vyšinskij zu der nachdrücklichen Ermahnung Rudenkos veranlasst, dieser dürfe sich ohne vorherige Freigabe sämtlicher Sprachfassungen durch Moskau auf die Überreichung der Anklageschrift an das Tribunal am 15. Oktober 1945 keinesfalls verbindlich einlassen.191 a) Akute Änderungsanliegen aus der Etappe: Vyšinskijs Bericht an Molotov vom 13. Oktober 1945 Die von Vyšinskij am Vortag beauftragte interne Übersetzung der Anklageschrift ins Russische wurde unmittelbar nach ihrer Fertigstellung am 13. Oktober 187

Bericht Nikitčenkos und Trajnins an Vyšinskij v. 10. Okt. 1945 (Fn. 185), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 48 (48 f.). 188 Dies folgt aus dem Schreiben Vyšinskijs an die Mitglieder der Regierungskommission zur Leitung der sowjetischen Vertreter im Internationalen Militärtribunal v. 13. Okt. 1945, mit dem er diese um alsbaldige Prüfung und Stellungnahme bat, vgl. hierzu etwa das Schreiben an den ersten Stellvertreter des Volkskommissars für Staatssicherheit Kobulov v. 13. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 57. 189 Telefonogramm des Mitarbeiters des NKID I. V. Lobanov an Vyšinskij v. 12. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 24, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 93, S. 254–255; hierzu auch Lebedeva, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S.139 (154). 190 Ü. d. Verf., Telefonogramm von Vyšinskij an Nikitčenko v. 12. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 24 (m. Rücks.), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 94, S. 255. 191 Telefonogramm von Vyšinskij an Nikitčenko (Fn.  190), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 94, S. 255.

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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1945 sämtlichen Mitgliedern der Regierungskommission zur Leitung der sowjetischen Vertreter im Internationalen Militärtribunal eröffnet, verbunden mit der Bitte, den Text im Eilverfahren zu prüfen und allfällige Anmerkungen bis zum Nachmittag anzuzeigen.192 Keinerlei Änderungsbedarf hatten der spätere Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Kruglov193 und der erste Stellvertreter des Volkskommissars für Staatssicherheit Kobulov194 anzumelden. Änderungsvorschläge lediglich redaktioneller Natur übermittelte der Präsident des Obersten Gerichtshofs der UdSSR Goljakov.195 Auf überwiegend stilistische Überarbeitungen waren auch die Eingaben der Mitarbeiter der ČGK Bogojavlenskij und Kudrjavcev gerichtet.196 Ihr letzter Änderungsvorschlag indes betraf mit dem Vorwurf der Tötung polnischer Offiziere im Wald von Katyn einen aus sowjetischer Perspektive höchst neuralgischen Anklagekomplex, bei dem auf eine partielle Überarbeitung dergestalt hingewirkt werden sollte, dass die Zahl der erschossenen polnischen Offiziere von bislang 925197 auf 11.000 angehoben werden sollte.198 Die ausführlichste Aufstellung an Änderungsanträgen legte indes der sowjetische Generalstaatsanwalt Goršenin199 vor, der u. a. detaillierte Alternativvorschläge zur Formulierung des Abschnitts, der den Angriff auf die UdSSR betraf, unterbreitete. Er war insbesondere der Auffassung, dass der Angriffskrieg gegen die UdSSR ins­ gesamt „blass dargestellt wird und der UdSSR im Allgemeinen weniger Platz eingeräumt wird als manchen anderen kleinen Staaten“200. Ebenfalls noch am 13.  Oktober 1945 berichtete Vyšinskij nach Auswertung der ihm zugeleiteten Änderungsvorschläge in dieser Sache an Molotov.201 Nach einer überblicksartigen Darstellung der Anklageschrift und der ihr beigefügten Anhänge202 legte Vyšinskij Molotov sechs von ihm befürwortete Änderungsvorschläge mit der Bitte um Bestätigung vor. Ziff. 1 des von Molotov vollständig 192

Siehe etwa Anschreiben an Goršenin v. 13. Okt. 1946, GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 71. 193 Mitteilung Kruglovs an Vyšinskij, 13. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 58. 194 Mitteilung Kobulovs an Vyšinskij, 13. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 57. 195 Mitteilung Goljakov an Vyšinskij, 13. Sep. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 56. 196 Mitteilung Bogojavlenskijs und Kudrjavcevs an Vyšinskij v. 13. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 50–51. 197 Zu diesem Wert aus der am 6. Okt. 1945 vorläufig unterzeichneten Fassung der Anklageschrift siehe Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 157. Zur Dokumentation der sowjetischen Urheberschaft der Verbrechen siehe die Quellenedition v. Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’; ausf. Kap. G. III. 3. a) bb) (3). 198 Mitteilung Bogojavlenskijs und Kudrjavcevs an Vyšinskij v. 13.  Sept. 1945 (Fn.  196), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 50–51, hier Bl. 51. 199 Goršenin an Vyšinskij, 13. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 52–55 = GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 87–90. 200 Goršenin an Vyšinskij v. 13. Okt. 1945 (Fn. 199), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 52 (52). 201 Bericht Vyšinskijs an Molotov v. 13.  Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p.  20, d.  208, Bl. 10–13, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255–258. 202 Bericht Vyšinskijs an Molotov v. 13. Okt. 1945 (Fn. 201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (255–257).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

autorisierten Katalogs von Änderungsvorschlägen sah eine Ergänzung des in der von Rudenko unterzeichneten englischen Fassung der Anklageschrift e­ nthaltenen Unterabschnitts zur Vorbereitung und Durchführung der deutschen Invasion des Gebietes der UdSSR vor.203 Die einleitende Passage zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt sollte demnach mit dem Zusatz versehen werden, NSDeutschland habe den Nichtangriffspakt bereits mit dem „Ziel einer Lüge“ abgeschlossen, denn im Zeitpunkt seiner Paraphierung sei Deutschland bereits intensiv mit der Ausarbeitung von Aggressionsplänen befasst gewesen.204 Die aus dem Nichtangriffsabkommen resultierenden Verpflichtungen sei das Deutsche Reich mit Vorbedacht und von Anfang an nur zum Schein eingegangen, um so die sowjetische Abwehrbereitschaft abzusenken und im Falle einer späteren Aggression von einem gesteigerten Überraschungseffekt profitieren zu können.205 Ziff. 3 der von Vyšinskij vorgelegten Ergänzungsanträge sah die Ergänzung des Unterabschnitts über die Judenverfolgung durch einen in die schlussendliche Fassung der Anklage übernommenen206 Abschlusssatz vor, wonach als Konsequenz der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik „nur Reste der jüdischen Bevölkerung Europas […] übrig geblieben“ seien.207 Die von Vyšinskij unter Ziff. 4 seiner Vorlage befürwortete Ergänzung des Unterabschnitts über den deutschen Einmarsch in Österreich um die Feststellung, der Anschluss an Deutschland sei auf gewaltsame Weise herbeigeführt worden208, vermochte sich in den späteren Verhandlungen hingegen nicht durchzusetzen.209 Kein Erfolg beschieden war letztlich auch dem Molotov unter Ziff.  5 vorgelegten und von diesem autorisierten Ansinnen, die in der englischen Fassung enthaltene Aufzählung von dem Massenmord zum 203

Ziff. 1 der Vorschläge v. 13. Okt. 1945 (Fn. 201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). 204 Vgl. zur historischen Bewertung der Motive Hitlers bei Abschluss des Nichtangriffspakts insb. Slutsch, in: Foerster (Hrsg.), „Unternehmen Barbarossa“, S. 69–88. 205 In die endgültige Fassung der Anklageschrift wurde im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Vorbereitung und Durchführung der deutschen Invasion des Gebietes der UdSSR am 22.  Juni 1941 (IMT, Bd.  I, S.  29–99, hier S.  43 [Anklagepkt. Eins, Abschn. F., Unterabschn. 6]) lediglich ein Hinweis auf die im Überfall auf die Sowjetunion liegende „hinterhältige“ Kündigung des Nichtangriffspakts „ohne jegliche Kriegserklärung“ aufgenommen. Die von Vyšinskij angestrebte Ergänzung der betreffenden Ausführungen um eine Feststellung dahingehend, dass das Deutsche Reich den Nichtangriffspakt von 1939 bereits in der Absicht seiner späteren Verletzung und mit dem Ziel einer Schwächung der sowjetischen Abwehr­ bereitschaft eingegangen sei, fand in die endgültige Fassung indes keine Aufnahme. 206 Für die Übernahme des vorgeschlagenen Abschlusssatzes in die endgültige Fassung der Anklageschrift siehe Anklagepkt. Eins, Abschn. D., Unterabschn. 3 d), IMT, Bd. I, S. 36–37, hier S. 37. 207 Ziff. 3 der Änderungsvorschläge v. 13.  Okt. 1945 (Fn.  201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). 208 Ziff. 4 der Änderungsvorschläge v. 13.  Okt. 1945 (Fn.  201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). 209 In der schlussendlich verabschiedeten Fassung der Anklageschrift (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 40 [Anklagepkt. Eins, Abschn. F., Unterabschn. 3 b)]) ist insoweit lediglich wiederholt von deutschen Drohungen mit einem Einmarsch die Rede.

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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Opfer gefallenen Nationalitäten und Rassengruppen („Juden und Zigeunern“) auf sämtliche „Slawen“ auszuweiten.210 Ziff. 6 schließlich sah redaktionelle Änderungen an den Ausführungen der Anklageschrift zu Besatzungsgeld und -steuern211 vor.212 In seinem Bericht setzte Vyšinskij Molotov ferner darüber in Kenntnis, dass Rudenko zu einigen Punkten bereits vorab instruiert worden sei, unter anderem bezüglich der angestrebten Änderung der Anzahl polnischer Offiziere, die nach sowjetischer Darstellung der deutschen Aggression im Wald von Katyn zum Opfer gefallen seien.213 Den bestätigten Änderungsanträgen fügte Vyšinskij am nächsten Tag einige kleinere Änderungsvorschläge redaktioneller Natur hinzu.214 In Berlin richteten Rudenko und Nikitčenko unterdessen ihre Bemühungen ganz auf die Realisierung des ihnen aufgegebenen Ziels, eine Verschiebung der ersten öffentlichen Sitzung zu erwirken und auf diese Weise einen zeitlichen Korridor für Empfang, Einarbeitung und Einbringung der Moskauer Änderungsvorschläge offenzuhalten. Rudenko etwa berief sich anlässlich des Treffens der Hauptankläger am 14. Oktober 1945 auf sprachliche Abweichungen in der nunmehr im Entwurf vorliegenden russischen Fassung der Anklageschrift und führte weitere tatsächliche oder vermeintliche Unstimmigkeiten ins Feld, die einer Änderung bedürften. Entsprechend der ihm bereits vorab erteilten Direktiven nutzte Rudenko hierbei die allseitige Ungewissheit hinsichtlich der tatsächlichen An 210

Ziff. 5 der Änderungsvorschläge v. 13. Okt. 1945 (Fn. 201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). In der endgültig verabschiedeten Fassung der Anklageschrift wird im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 47–54 [Anklagepkt. Drei, Abschn. A) vielmehr auf „insbesondere Juden, Polen, Zigeuner usw.“ Bezug genommen (ebd., S. 47), wobei sich die ursprünglich nicht vorgesehene explizite Erstreckung auf die polnischen Opfer der Massenvernichtungspolitik wohl auch britischer Intervention zu verdanken haben dürfte, aber auch als Zugeständnis gegenüber der sowjetischen Forderung gewertet werden kann. Der im Wortlaut angelegte Hinweis auf den nicht-abschließenden Charakter der Aufzählung („insbesondere“, „usw.“) jedenfalls lässt sich als immerhin partielles Entgegenkommen an die sowjetische Forderung nach Einbeziehung aller „Slawen“ verstehen. Bemerkenswert erscheint indes, dass die in Pravda v. 19. Okt. 1945 (No 250), S. 2–3, hier S. 2 abgedruckte sowjetische Fassung der Anklageschrift eine Bezugnahme auf konkrete Opfergruppen schlicht nicht enthält. Der dem in IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 47 veröffentlichten Text der Anklageschrift entsprechende Satz endet dort abrupt nach dem Satzteil „Rassen, Volksklassen und nationale, rassische oder religiöse Gruppen“. Auch der 1987 auf Grundlage des Originaltextes bei ­Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 274–340, veröffentlichte Text der­ sowjetischen Anklageschrift entspricht an der hier entscheidenden Stelle (S. 281) der in der Zeitung Pravda abgedruckten Version, in der eine Konkretisierung der in den Blick genommenen Opfergruppen nicht erfolgt. 211 Anklagepkt. Drei, Abschn. E, Unterabschn. 6 der endgültigen Fassung, IMT, Bd.  I, S. 29–99, hier S. 60. 212 Ziff. 6 der Änderungsvorschläge v. 13.  Okt. 1945 (Fn.  201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). 213 Bericht Vyšinskijs an Molotov v. 13. Okt. 1945 (Fn. 201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). 214 Schreiben Vyšinskijs an Molotov v. 14. Okt. 1945, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 8–9.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

zahl getöteter polnischer Offiziere im Wald von Katyn. In Übereinstimmung mit der ihm von Vyšinskij auf Grundlage der ČGK-Empfehlungen215 erteilten Anweisung wusste Rudenko insoweit schließlich eine Korrektur der in der entsprechenden Passage der Anklageschrift ausgewiesenen Opferzahl von 925 auf 11.000 Personen durchzusetzen.216 Auch die übrigen im Bericht Vyšinskijs an Molotov vom Vortag enummierierten Änderungsempfehlungen brachte Rudenko  – teilweise mit Erfolg217 – in die interalliierten Abstimmungen ein. Rudenkos Vorschlag, das Tribunal um eine erneute Verlegung der ersten öffentlichen Sitzung zu ersuchen, stieß demgegenüber indes auf starken Widerstand von Seiten der anderen Delegationen.218 Unmittelbar dem Tribunal gegenüber führte Rudenko Unstimmigkeiten innerhalb der russischen Textfassung und hieraus resultierenden Abstimmungsbedarf als Motiv für die gewünschte Terminverlegung an. Die Möglichkeit einer weiteren zeitlichen Verschiebung des Prozessbeginns wurde am selben Tage – einen Tag vor dem an sich vereinbarten Termin zur ersten Sitzung am 15.  Oktober  – auch einer Erörterung unter den Richtern des IMT zugeführt. Nikitčenko wies in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf den nicht nur der UdSSR drohenden Schaden hin, der einzutreten drohe, sollte im Nachgang publik werden, dass die sowjetische Anklagevertretung ohne eine unterschriebene Anklageschrift auf­ getreten sei.219 Im Zuge einer daraufhin unter Ausschluss der sowjetischen Richter Nikitčenko und Volčkov220 durchgeführten Beratung einigten sich die westalliierten Richter schließlich auf eine Verschiebung des ursprünglich auf den 15. Oktober 1945 anberaumten Termins um drei Tage. b) Finale Änderungsempfehlungen an die „Instanz“: Die Vorlage an Stalin vom 16. Oktober 1945 Am späten Abend des 16. Oktober 1945, zwei Tage vor dem nunmehr endgültig fixierten Termin zur Verkündung der Anklageschrift, übermittelten Molotov, der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten und stellvertretende Vorsitzender des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR (GKO) Berija221, der Sekretär des ZK VKP(b) Malenkov sowie der Volkskommissar für Außenhandel und

215 Mitteilung Bogojavlenskijs und Kudrjavcevs an Vyšinskij v. 13.  Sept. 1945 (Fn.  196), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 50 (51). 216 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 157; Harris, Tyrannen vor Gericht, S. 30; Kastner, Völker, S. 41. 217 Vgl. oben Fn. 206 und 210. 218 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 157. 219 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 158. 220 Volčkov, Aleksandr Federovič (1902–1978), Oberstleutnant (podpolkovnik) der Justiz, Volčkov war seit 1931 im NKID beschäftigt und stand während des Krieges als Inspektor der Leitung von Militärtribunalen im Dienst des Volkskommissariats der Justiz, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (541); Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 61. 221 Nachw. oben Fn. 9.

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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Mitglied des Politbüro des ZK VKP(b) Mikojan einen sieben Punkte umfassenden Katalog von finalen Änderungsforderungen an Stalin, verbunden mit der Bitte um Freigabe.222 Das als Entwurf einer letzten Direktive für den sowjetischen Hauptankläger konzipierte Dokument basierte maßgeblich auf einer entsprechenden Vorlage Vyšinskijs an Molotov vom selben Tage.223 Obwohl die Änderungsvorschläge ihren Ursprung mit einer Ausnahme letztlich nicht unverrückbaren Kernpositionen der Sowjetführung verdankten, bildete der an Rudenko gerichtete Katalog an Instruktionen die sowjetische Perspektive auf die Anklageschrift und die ihr innewohnenden politischen Implikationen dennoch anschaulich ab. Die erste Forderungsposition des Katalogs hatte den in der Anklageschrift an zwei Stellen behandelnden Sachkomplex der auf hoher See begangenen Kriegsverbrechen zum Gegenstand, wozu die sowjetische Seite die Aufnahme ergänzenden Faktenmaterials und tatsächlicher Belege für geboten erachtete.224 Anlass für die sowjetischen Beanstandungen war der Umstand, dass nach der vorliegenden Fassung der Anklageschrift trotz der jeweils in der Abschnittsüberschrift aufgeführten Verbrechen „auf hoher See“ weder Abschnitt A noch Abschnitt C des dritten Anklagepunktes tatsächliche Ausführungen oder konkretisierende Belege zu diesem Vorwurfsgegenstand zu entnehmen waren. In Ermangelung den Anklagevorwurf insoweit stützender tatsächlicher Ausführungen meldete die ­Sowjet­ führung erhebliche Zweifel an der juristischen Belastbarkeit des erhobenen Tatvorwurfs an. Insbesondere war der bloßen Erwähnung von Verbrechen auf hoher See ihrem Verständnis zufolge ein beweiserheblicher Aussagegehalt nicht abzugewinnen. Die Sowjetführung versah Rudenko daher mit Instruktionen, den westalliierten Anklägern den Vorschlag zu unterbreiten, die beiden Abschnitte mit Sach­ausführungen anzureichern, die zur tatsächlichen Abstützung des Anklagepunktes geeignet erschienen. Substantiiert werden sollte der Anklagesatz nach den Vorstellungen der sowjetischen Instruktionsgeber namentlich anhand von konkreten Belegen etwa für die von deutscher Seite zu verantwortende Versenkung von Handelsschiffen, Hospital- bzw. Lazarettschiffen und von Konvois zum Kriegs­ 222

Für das um 23:50 Uhr an Stalin übermittelte und von Molotov, Berija, Malenkov und­ Mikojan unterzeichnete Anschreiben v. 16. Okt. 1945 siehe AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl.  22, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  97, S.  259. Für den beigefügten Bericht siehe AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 23–26, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260–262; für die handschriftlichen Anmerkungen Stalins siehe AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27–31. Eine Ablichtung des einseitigen Anschreibens (Bl. 22) sowie des fünfseitigen Dokuments mit eigenhändigen Korrekturen Stalins (Bl. 27–31) sind auf der Webseite der Föderalen Archivagentur Russlands Rosarchiv abrufbar unter: [letzter Abruf am: 18. Dez. 2015]. 223 In dem von Vyšinskij und G. Aleksandrov am 16. Okt. 1945 an Molotov und Malenkov übermittelten Entwurf von Änderungsforderungen sind die meisten der sodann an Stalin kommunizierten Punkte enthalten, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 66–69 = AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 17–20 (mit handschriftl. Korrekturen). Vyšinskij erhielt eine Kopie des an Stalin übermittelten Dokuments, siehe AVP RF, f. 06, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 62–65. 224 Ziff. 1 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (260).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

gefangenentransport. Die Forderung nach konkretisierender B ­ erücksichtigung der auf hoher See verübten deutschen Verbrechen dürfte dabei nicht nur einem originären Eigeninteresse der Sowjetführung geschuldet gewesen sein.225 Der bei Lichte besehen mindestens auch die auf britischer Seite zu beklagenden Opfer der deutschen Seekriegsführung in Rechnung stellende Vorstoß dürfte zumindest auch als verdeckte Anerkennung der vom britischen Bündnispartner auf diesem Gebiet getragenen Kriegslasten226 zu deuten sein. Wohl aus diesem Grund war der von Stalin ohne Änderungsvermerke sanktionierten227 Direktive zu Ziff. 1 auch der Vorbehalt beigefügt worden, dass Rudenko bei sich abzeichnendem alliiertem Widerstand gegen den angemeldeten Ergänzungsbedarf an der Forderung nach Substantiierung der auf hoher See begangenen Verbrechen nicht unnötig festhalten möge.228 Einer spitzfindigen juristischen Lesart entsprang das Änderungsbegehren zu Ziffer 2229 der Direktiven, mit der Rudenko dazu angehalten werden sollte, auf die Änderung einer Formulierung hinzuwirken, der zufolge sich die Angeklagten mit den ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht nur in Widerspruch zu diversen internationalen Konventionen begeben hatten, sondern ihnen überdies auch ein Verstoß gegen Art. 6 lit. c des IMT-Statuts zur Last fiele. Die gewählte Formulierung drohte nach sowjetischer Deutung zumindest den Anschein zu erwecken, als seien die in Rede stehenden Verbrechen als Verstoß gegen den Tatbestand Art. 6 lit. c des Statuts zu qualifizieren. In dieser Lesart hätte sich die verwendete Terminologie nach sowjetischer Überzeugung indes als inkorrekt erwiesen, standen die angeklagten Verbrechen doch in Wirklichkeit nicht im Widerspruch zum Straftatbestand des Art. 6 lit. c IMT-Statut, sondern waren bei dessen Schaffung vielmehr vorausgesetzt worden und füllten die Vorschrift daher auf tatbestandlicher Ebene nunmehr gerade aus. Die unter Anwendung juristischer Maßstäbe in der Tat missverständlich geratene Formulierung bot aus Sicht der Sowjetführung Anlass zu klarstellender Änderung. Auch insoweit war Rudenko allerdings die Anweisung mit auf den Weg gegeben worden, bei ernsthaften Widersprüchen gegen die zu unterbreitende terminologische Überarbeitung von dem Änderungsbegeh 225 Siehe zu entsprechenden Vorwürfen etwa die Ausführungen des sowjetischen Anklägers Rudenko vor dem IMT, Protokoll der Verhandlung v. 29. Juli 1946, IMT Bd. XX, S. 671: „Die Sowjetbürger haben nicht vergessen, daß Dönitz’ Unterseeboote Lazarettschiffe und Schiffe, auf denen die friedliche Bevölkerung, Frauen und Kinder, evakuiert wurden, in der Ostsee und im Schwarzen Meer versenkten.“ 226 Vgl. etwa das in den Urteilsgründen des IMT angeführte Beispiel der Versenkung eines britischen Lazarettschiffes als Vergeltungsmaßnahme, IMT Bd.  I, S.  189–414, hier S.  367; ebd., S. 359 zum Vorwurf der Versenkung von unbewaffneten Handelsschiffen. 227 Vgl. hierzu die mit handschriftlichen Korrekturanweisungen Stalins versehene Über­ arbeitung des ihm vorgelegten Entwurfs des Forderungskatalogs (Fn.  222), AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27 (27). 228 Ziff. 1 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (260). 229 Ziff. 2 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (260).

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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ren Abstand zu nehmen.230 Durchzusetzen vermochte sich die sowjetische Seite mit ihrem durchaus nachvollziehbaren Ansinnen in der Sache nicht.231 Ziff. 3232 der an Rudenko gerichteten Instruktionen zur Einbringung letzter Überarbeitungsanträge entsprang ähnlich wie Ziff. 1 dem Bedürfnis, die Anklageschrift mit weiteren tatsächlichen Ausführungen anzureichern. Als „ernsthaftes Manko“ im Strickmuster der Anklageschrift identifizierte die sowjetische Führung das Fehlen jeglicher Angaben zu britischen Verlusten, insbesondere zu materiellen Schäden, zu Tötungen und zur grausamen Behandlung von britischen Kriegsgefangenen und britischer Zivilpersonen. In Ermangelung entsprechender Angaben werde lediglich „ein unvollkommenes Bild der Taten“ vermittelt, auf dessen Vervollständigung Rudenko hinzuwirken angewiesen wurde. Die wiederum unter Durchsetzungsvorbehalt gestellte Anweisung233 führte ebenso wenig wie die Instruktion zur Substantiierung der angeklagten Seekriegsverbrechen zur Überarbeitung der Anklageschrift. Eine mangelnde, womöglich sogar dezidiert entgegen stehende Interessenlage des britischen Verhandlungspartners in Bezug auf die detaillierte Wiedergabe eigener Verluste erscheint als Begründungsansatz für den Misserfolg der prima facie britischen Interessen in die Hände spielenden sowjetischen Änderungsanträge durchaus plausibel. Die Stalin unter Ziff. 4234 unterbreitete Instruktion sah die Überarbeitung des in die Anklageschrift aufgenommenen Abschnitts über das Verbot politischer Parteien in Deutschland vor. Die sowjetische Kritik an der vorliegenden Fassung entzündete sich an den konkreten Formulierungen, derer sich der Text der Anklage­ schrift zur Erläuterung der Einparteienherrschaft, die unter Regie der NSDAP etabliert worden war, bediente. Gegenüber der mit der endgültig verabschiedeten Anklageschrift textidentischen Fassung235 meldete die sowjetische Führung Änderungsbedarf in zweifacher Hinsicht an. Nicht nur sollte die Wendung „Verbot aller politischen Parteien“ um einen Bezug auf die ebenfalls vom Totalverbot erfassten Gewerkschaften ergänzt werden. Im Anschluss an die Umschreibung der in jeder Hinsicht singulären und exklusiven Stellung der NSDAP im national­ 230

Ziff. 2 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (260). 231 Vgl. insoweit etwa Anklagepkt. Drei, Abschn. A der endgültigen Fassung der Anklageschrift, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 48: „Diese Morde und Mißhandlungen standen im Widerspruch zu […] Artikel 6 (b) des Statuts.“ 232 Ziff. 3 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (260). 233 Bei Widerstand gegen das Änderungsbegehren sollte Rudenko wiederum nicht auf ihre Einfügung bestehen. 234 Ziff. 4 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 235 Anklagepkt. Eins, Abschn. D, Unterabschn. 2 der endgültigen Fassung der Anklageschrift, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 34: „Die Verschwörer setzten ein Verbot aller politischen Parteien mit Ausnahme der NSDAP durch. Sie erreichten es, daß die NSDAP als eine regierungsähnliche Organisation mit weitgehenden und außergewöhnlichen Vorrechten anerkannt wurde.“

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

sozialistischen Staatsgefüge („regierungsähnliche Organisation mit weitgehenden und außergewöhnlichen Vorrechten“) sah die sowjetische Instruktion die Aufnahme eines abschließenden Relativsatzes zur fehlenden rechtlichen Einhegung und zur Illegitimität des nationalsozialistischen Systems der Einparteienherrschaft vor („die nicht durch eine Konstitution und nicht durch Gesetze beschränkt ist“). Ziff. 4 des von Stalin vorgelegten Forderungskatalogs war mit dem Entwurf einer Anweisung versehen, wonach Rudenko auf der geforderten Änderung in jedem Fall zu insistieren haben würde. Sollte ein Einverständnis der übrigen Delegation nicht zu erlangen sein, müsse „als Minimum“ die Streichung der beiden in Rede stehenden Sätze236 erzielt werden. Ohne Durchsetzung zumindest die­ inimalposition dürfe die Anklageschrift keinesfalls unterzeichnet werden.237 ser M Der auf das vorstehende Änderungsverlangen gerichtete Instruktionsentwurf gab Rudenko insoweit eine offizielle Argumentationslinie ausdrücklich vor: „Motivieren Sie [Rudenko, d. Verf.] Ihr Änderungsbegehren mit der Notwendigkeit, auf den Charakter des nazistischen (hitlerischen) Staates und der der nazistischen (hitlerischen) Partei hinzuweisen, die mit den Prinzipien der Demokratie und Gesetzlichkeit nicht vereinbar sind.“238

Ungeachtet der Ziff. 4 des Anweisungsentwurfs beigegebenen offiziellen Argumentationshilfen dürfte das Änderungsverlangen in der Sache indes weniger im Bemühen nach stärkerer Akzentuierung demokratischer Prinzipien begründet gelegen als vielmehr der Vermeidung von Präjudizien in Bezug auf die eigene politische Verfasstheit gegolten haben. Den eigentlichen Beweggrund der Instruktion wird man insoweit wohl auch weniger in dem Streben nach stärkerer Berücksichtigung der Gewerkschaften als neben die Parteien tretende (Mit-)Leidtragende der umfassenden nationalsozialistischen Gleichschaltungsstrategie zu verorten haben, worauf die vorgeschlagene Erstreckung auf Gewerkschaften hindeuten könnte. Denn deren machtpolitisch motivierte Zerschlagung und Überführung in den nationalsozialistischen Einflussbereich hatte bereits an anderer Stelle textlich hinreichende Berücksichtigung gefunden.239 Hinter dem Änderungsverlangen dürfte sich mit Blick auf die vorgeschlagene Einfügung des abschließenden Relativsatzes vielmehr das Anliegen verborgen haben, jedem Ansatz in Richtung einer Analogie zu dem auch im Sowjetstaat etablierten Einparteiensystem die Grundlage zu entziehen. Augenscheinlich sollte mit dem angestrebten Zusatz einer Lesart der Weg 236

Siehe oben Fn. 235. Ziff. 4 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 238 Ü. d. V., Ziff. 4 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 239 Hierzu Anklagepkt. Eins, Abschn. D, Unterabschn. 3 lit. c) 1) der endgültigen Fassung der Anklageschrift, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 35: „zerstörten die Nazi-Verschwörer die freien Gewerkschaften in Deutschland durch Einziehung ihres Kapital- und Grundvermögens, durch Verfolgung ihrer Führer und Verbot ihrer Tätigkeit, und ersetzten sie durch eine Parteiuntergliederung.“ 237

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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bereitet werden, der zufolge nicht jede Form der Einparteienherrschaft per se als illegitim zu qualifizieren war, sondern nur dann, wenn deren Machtausübung – wie im Falle Hitlerdeutschlands – nicht Einschränkungen durch Verfassung oder Gesetz unterworfen worden war. Von einer solchen hinreichenden konstitutionellen Erfassung und Einhegung ging die Sowjetführung vor dem Hintergrund der formalen verfassungsrechtlichen Situation in der UdSSR augenscheinlich aus, die für die Privilegierung der VKP(b) als „Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“ und als „leitender Kern aller Organisationen der Werktätigen“ eine ausdrückliche verfassungskräftige Legitimationsgrundlage vorsah.240 Die Gefahr einer Übertragung der Ausführungen zur willkürlichen Kontrollerlangung auf das in der UdSSR etablierte Einparteiensystem schien mit der erstrebten Ergänzung gebannt. Umso überraschender mutet an, dass Stalin im Zuge seiner Überarbeitungen der Vorlage nicht nur den an Rudenko gerichteten Totalvorbehalt, sondern den gesamten unter Ziff. 4 unterbreiteten Änderungsvorschlag ersatzlos aus dem Dokument strich.241 Offenbar drängte sich Stalin eine Parallele zwischen den beanstandeten Passagen zur Errichtung der Einparteienherrschaft und der innenpolitischen Situation der UdSSR nicht in gleicher Weise auf, wofür die erwähnte verfassungsrechtliche Fundierung der Vorrechte der VKP(b) eine plausible Begründung bieten könnte. Denkbar erscheint daneben aber auch, dass Stalin schlicht einer Entwicklung entgegen wirken wollte, in der die alliierten Partner durch mehr oder weniger durchschaubare rhetorische Manöver mit ungewissem Ausgang erst für die Möglichkeit entsprechender Analogien sensibilisiert worden wären. Die von Molotov, Berija, Malenkov und Mikojan als wichtigste Änderung bezeichnete Direktive unter Ziff. 5242 hatte denjenigen Unterabschnitt der Anklageschrift zum Gegenstand, der sich mit dem Angriff auf die UdSSR befasste. Da 240 Hierzu Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, am 5. Dez. 1936 beschlossen durch den VIII. außerordentlichen Sowjetkongress der UdSSR, abgedr. in: Günther, Staatsverfassungen, S. 559–586; Dennewitz/Meissner, Verfassungen der modernen Staaten, Bd.  1, S.  191–224. Die russ. Originalfassung ist abgedr. etwa bei Kukuškin/Čistjakov, Očerk istorii Sovetskoj Konstitucii, S. 285–313. Art. 126 Halbs. 2 der Verfassung von 1936 adressierte, akzentuierte und legitimierte die besondere Stellung der VKP(b) gegenüber anderen „gesellschaftlichen Organisationen“ i. S. v. Art. 126 Abs. 1 wie folgt: „In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zur Entwicklung der organisatorischen Selbsttätigkeit und politischer Aktivität der Volksmassen wird den Bürgern der UdSSR das Recht gewährleistet, sich in gesellschaftlichen Organisationen zu vereinigen: in den Gewerkschaften, genossenschaftlichen Vereinigungen, Jugendorganisationen, Sport- und Verteidigungsorganisationen, Kulturvereinigungen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften; die aktivsten und bewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse vereinigen sich freiwillig in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die der Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft ist und den leitenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen, bildet.“ 241 Handschriftliche Korrekturen Stalins auf dem ihm vorgelegten Entwurf des Forderungskatalogs, AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27 (29). 242 Ziff. 5 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

die auf den britischen Entwurf der Anklageschrift243 zurückgehende Fassung als schlicht „unannehmbar“ bewertet wurde, sah die Direktive eine Neuformulierung des gesamten Abschnitts vor.244 Nach sowjetischer Überzeugung thematisierte die bisherige Fassung „nicht nur die faktische Seite der Frage“, sondern unternahm „auch den Versuch, eine bestimmte politische Deutung der Ereignisse vorzunehmen, die den Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen der UdSSR und Deutschland betreffen“245. Dieser Deutung könne man sich keinesfalls anschließen, und überhaupt solle man in einer Anklageschrift „die eine oder politische Deutung von politischen Ereignissen nicht zulassen“246. In der an Rudenko gerichteten Anweisung wurde hervorgehoben, dass die Forderung nach einer Änderung der betreffenden Passage entsprechend der sowjetischen Neuformulierung für die Sowjetführung einen herausragenden Stellenwert einnehme. Während der Stalin vorgelegte Direktiventwurf an Rudenko noch die kategorische Unterschriftsverweigerung als einzig zulässige Reaktion auf die etwaige Nichtannahme des Änderungsvorschlags durch die alliierten Partner vorgesehen hatte247, milderte Stalin die Fassung der Instruktionen dahingehend ab, dass Rudenko die Anklageschrift im Falle alliierten Widerstandes gegen die angetragene Neufassung jedenfalls nicht ohne vorherige Einholung weiterer Instruktionen aus Moskau unterzeichnen dürfe.248 Der Unnachgiebigkeit der sowjetischen Position zu diesem Änderungsantrag dürfte geschuldet sein, dass der von Rudenko namens der Sowjetführung eingebrachte Änderungsvorschlag bis auf zwei unwesentliche Korrekturen unverändert in den Text der Endfassung der Anklageschrift überführt worden ist.249 Mit Ziff. 6250 betraf ein weiterer Änderungsvorschlag die im Anhang zur An­ klage­schrift vorgesehene Formulierung zur Besetzung der Tschechoslowakei. Auch 243 Es handelte sich u. a. um die oben bei Fn. 104 bereits dargestellte und ihrerseits von § 7 des amerikanischen Entwurfs inspirierte Passage, wonach der deutsche Überfall auf Polen durch den Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts zumindest erleichtert worden war. 244 Ü. d. Verf., Ziff. 5 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 245 Ü. d. Verf., Ziff. 5 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 246 Ü. d. Verf., Ziff. 5 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 247 Ziff. 5 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261). 248 Handschriftliche Korrekturen Stalins auf dem ihm vorgelegten Entwurf des Forderungskatalogs, AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27 (29). 249 Anklagepunkt Eins, Abschn. F, Unterabschn. 6 mit der Überschrift „Die deutsche Invasion des Gebietes der USSR am 22. Juni 1941 in Verletzung des Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939“, IMT, Bd. I, S. 43; für die russische Fassung der Anklageschrift siehe Pravda v. 19. Okt. 1945 (No 250), S. 2–3, hier S. 2. Die einzige Änderung gegenüber dem von ­Molotov, Berija, Malenkov und Mikojan vorgeschlagenen Text betraf die ergänzende Einfügung des „deutschen Generalstabes“ im letzten Absatz des Unterabschnitts und die Änderung der Formulierung „deutschen Oberkommando“ in „Oberkommando der Deutschen Wehrmacht.“ 250 Ziff. 6 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261 f.).

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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hinter der ihr vorliegenden Fassung der Anklageschrift witterte die sowjetische Führung den Versuch, die gemeinsam zu unterzeichnende Anklageschrift als Medium im Ringen um die politische Deutungshoheit zu instrumentalisieren. Sie versah Rudenko daher mit einer Instruktion, die in einen weiteren Appell zur Ent­ politisierung und Versachlichung der Anklageschrift einmündete: „Sagen Sie den Anklägern, dass in dieser Redaktion nicht nur Fakten dargestellt sind, sondern der Versuch unternommen wird, eine bestimmte politische Deutung zu vermitteln. Diese Deutung ist indes kontrovers und kontroverse Dinge sollte man nicht für den Text einer Anklageschrift zulassen. Man sollte sich darauf beschränken, lediglich die Fakten des Falles darzustellen.“251

Anstelle der – mit der endgültig verabschiedeten Fassung textidentischen252 – Formulierung von Abschnitt VIII des Anhangs C zur Anklageschrift, wonach sich die Tschechoslowakei infolge von „Nötigung und Drohung mit militärischer Macht“ seitens des Deutschen Reiches letztlich „gezwungen“ gesehen habe, das Schicksal des Landes und seiner Einwohner an Hitler „auszuliefern“, befürwortete die sowjetische Seite eine Fassung, in der die gewaltsame Okkupation stärker in den Vordergrund rücken sollte. Nicht von einer – wenngleich unter dem Eindruck einer Zwangslage – letztlich freiwilligen Auslieferung an Deutschland sollte die Rede sein, sondern von einer gewaltsamen Annexion.253 Einen ähnlichen, im Ergebnis gleichfalls erfolglosen Änderungsantrag in Bezug auf Österreich hatte zuvor bereits der Rudenko zugeleitete Bericht Vyšinskijs an Molotov vorgesehen.254 Sah die ursprüngliche Fassung der Instruktionen noch vor, dass Rudenko auf einer entsprechenden Überarbeitung unbedingt bestehen und im Falle von Meinungsunterschieden eine Vertagung der Frage mit dem Ziel hätte herbeiführen müssen, Anweisungen über die finale Formulierung in Moskau einzuholen255, änderte Stalin den Inhalt der Anweisung dahin ab, dass der Änderungsvorschlag bei Widerstand seitens der anderen Delegationen zurückzuziehen war.256 Die unter Ziff. 7257 erörterten Änderungsvorschläge betrafen ausschließlich redaktionelle Anpassungen der russischen Fassung. Anders als nach der zur Prüfung vorliegenden Fassung der Anklageschrift sollte für die Kennzeichnung der Funktion Hitlers nicht das im Russischen für die Bezeichnung der kommunistischen 251 Ü. d. Verf., Ziff. 6 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (262). 252 Vgl. Begründung zu Anhang C Abschn. VIII der Anklageschrift, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 94. 253 Ziff. 6 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (262). 254 Vgl. oben Fn. 208. 255 Ziff. 6 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (262). 256 Handschriftliche Korrekturen Stalins auf dem ihm vorgelegten Entwurf des Forderungskatalogs, AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27 (30). 257 Ziff. 7 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (262).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Staatsführer wie Lenin und Stalin besetzte Wort „vožd“ (= Führer, Leader) Verwendung finden. Vielmehr sollte insoweit jeweils das für Adolf Hitler reservierte deutsche Wort „fjurer“ eingesetzt werden. Das Wort „totalitär“ (totalitarnyj) sollte in der russischen Fassung zwar erhalten bleiben, jedoch jeweils durch einen in erläuternden Klammerzusatz (vseob’’emljuščij = allumfassend) ergänzt werden.258 Die von Rudenko den anderen Anklage-Delegationen weisungsgemäß unterbreiteten Änderungsvorschläge wurden noch am 17. Oktober 1945 einer gemeinsamen Erörterung zugeführt259. Neben den weitgehenden Änderungen im Abschnitt über den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion (Ziffer 5 der Instruk­tionen)260 konnte Rudenko bei dieser Gelegenheit allerdings lediglich die Einarbeitung der oben erwähnten redaktionellen Änderungen (Ziffer 7)261 in die russische Textfassung erwirken.262 Weitergehenden sowjetischen Änderungsverlangen indes blieb der Erfolg versagt. 3. „Unvermögen, in einer solchen Umgebung zu arbeiten“: Maßregelung der sowjetischen Repräsentanten vor der Moskauer Regierungskommission Die Verkündung der endgültigen Fassung der Anklageschrift263 fand schließlich am 18. Oktober 1945 im Rahmen der ersten öffentlichen Sitzung des Tribunals264 unter dem Vorsitz von Nikitčenko statt.265 An symbolträchtiger Stelle – dem 258 Vyšinskij hatte in seinen Änderungsforderungen v. 14. Okt. 1945 noch vorgeschlagen, das Wort „totalitär“ (totalitarnyj) jeweils durch den Begriff „allumfassend“ (vseob’’emljuščij) zu ersetzen, siehe oben Fn. 214, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 8 (9). Er erhielt eine Kopie des an Stalin übermittelten Dokuments, siehe AVP RF, f. 06, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 62–65. 259 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 159. 260 Siehe oben Fn. 242. 261 Für die russische Fassung der Anklageschrift siehe Pravda v. 19. Okt. 1945 (No 250), S. 2–3. 262 Zu dieser Erkenntnis vgl. auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 262, Fn. 1, dort allerdings mit der unzutreffenden Behauptung, der in Ziff. 6 der Instruktionen enthaltene Änderungsvorschlag sei erfolgreich umgesetzt worden. Tatsächlich gemeint ist insoweit wohl Ziff. 5 (nach Stalins Überarbeitung Ziff. 4) des Forderungskatalogs. Unzutreffend jedenfalls Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVII, mit der Behauptung, die am 17. Okt. 1945 diskutierten Änderungsvorschläge hätten keine Berücksichtigung mehr gefunden: „Ein eilig unternommener Versuch Vyšinskijs, durch ein Schreiben Molotovs, Berijas, Manlenkovs und Mikojans von Stalin Änderungsforderungen sanktionieren zu lassen, kam zu spät.“ 263 Siehe für die endgültige russische Fassung der Anklageschrift GARF, f. R-7445, op. 1, d. 1, abgedr. in Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 274–340. 264 Siehe Bericht über die Eröffnungssitzung des IMT in Berlin am 18.  Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 26–28. 265 Nikitčenko wurde gem. Art. 4 lit. b IMT-Statut zum Vorsitzenden der ersten Sitzung in Berlin gewählt, Lord-Richter Lawrence zum Gerichtsvorsitzenden für den Prozess in Nürnberg, siehe den Bericht über die Eröffnungssitzung des IMT am 18. Oktober 1945, IMT, Bd. I, S. 26–28, hier S. 28. Vgl. hierzu Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 99, Fn. 1, S. 262; Kastner, Völker, S. 44; Harris, Tyrannen vor Gericht, S. 30.

III. Finalisierung der Anklageschrift und Revisionsbemühungen

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Saal des preußischen Kammergerichts und des ehemaligen Volksgerichtshofs in Berlin-­Schöneberg (vgl. Art. 22 Abs. 1 IMT-Statut) – überreichte Rudenko dem Gericht den Text der Anklageschrift in russischer Fassung, die anderen Anklagevertreter entsprechend in ihren Landessprachen.266 Vyšinskij wurde am selben Tag über die Bekanntgabe der Anklageschrift und die Abreise des sowjetischen Richters Nikitčenko nach Nürnberg in Kenntnis gesetzt.267 Die Zeitung Pravda druckte am 19. Oktober 1945 den russischen Text der Anklageschrift268 und einen Bericht über die erste öffentliche Sitzung ab.269 Auch wenn der Realisierung der wichtigsten Überarbeitungsanliegen, insbesondere der alternativen Fassung des Abschnitts betreffend den Angriff auf die UdSSR, letztlich Erfolg beschieden war, zeigte sich Vyšinskij in Moskau höchst unzufrieden mit der Arbeitsweise sowohl Rudenkos als auch Nikitčenkos. Im Rahmen der Sitzung der Regierungskommission am 9.  November 1945, zu der sowohl der sowjetische Hauptankläger als auch der sowjetische Richter persönlich geladen waren, machte der Kommissionsvorsitzende aus seiner Verärgerung über die Fehlleistungen der beiden sowjetischen Repräsentanten keinen Hehl und bedachte diese im Beisein sämtlicher Kommissionsmitglieder mit massiver Kritik.270 Insbesondere die Amtswahrnehmung Rudenkos charakterisierte Vyšinskij wiederholt als unverantwortlich. Zur Veranschaulichung rekurrierte er auf diverse Verfehlungen Rudenkos, bei denen dieser einer eindeutigen Weisungslage seitens der Kommission zuwider gehandelt oder Anordnungen jedenfalls nicht ausgeführt habe. Für besonders kritikwürdig erachtete Vyšinskij die weisungswidrige Unterzeichnung des englischen Textes der Anklageschrift durch Rudenko, obwohl dieser selbst über keinerlei Englischkenntnisse verfügte und lediglich auf einen nicht autorisierten internen Übersetzungsentwurf hatte zurückgreifen können.271 Ohne diesbezügliche Anweisungen seitens der Kommission einzuholen, habe ­Rudenko den Entwurf der Anklageschrift eigenmächtig unterzeichnet und damit das Risiko weitgehender Bindungen der Sowjetunion in womöglich evident

266

Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 94, S. 255, Fn. 1. Urheber der Mitteilung war allerdings nicht Rudenko, sondern Vsevolod Nikolaevič Durdenevskij, ein Mitarbeiter des zentralen Apparats des NKID, der über ein Telefonat mit Trajnin berichtete und einen Entwurf eines für Nikitčenko und Trajnin bestimmten Telegramms mit Änderungsvorschlägen zur Verfahrensordnung übermittelte, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 5, Bl. 52–53. Für einen am 16. Okt. 1945 von Nikitčenko an Vyšinskij übermittelten Entwurf der Verfahrensordnung siehe AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 5, Bl. 45 (Anschreiben) und Bl. 46–51 (Text der Verfahrensordnung). 268 Pravda v. 19. Okt. 1945 (No 250), S. 2–3. 269 Pravda v. 19. Okt. 1945 (No 250), S. 4. 270 Pkt. 1 („Über die Arbeit von Nikitčenko und Rudenko“) des Sitzungsprotokolls der Regierungskommission v. 9. Nov. 1945, GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 17–24 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d.  468, Bl.  68–70, abgedr. in Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  115, S. 281–283, hier S. 282. 271 Pkt. 1 des Sitzungsprotokolls der Regierungskommission v. 9.  Nov. 1945 (Fn.  270),­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 115, S. 281 (282). 267

352

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

interessenwidrigen Fragen heraufbeschworen. Dass das weisungswidrige Gebaren R ­ udenkos nachteilige Konsequenzen letztlich nicht zur Folge hatte, sei einzig dem glücklichen Zufall geschuldet, dass die anderen Delegationen das Dokument selbst keiner ausreichenden Überprüfung unterzogen hätten und dass man drei potentielle juristische Fehler hatte identifizieren können, deren Aufklärung bzw. Behebung eine gewisse Verzögerung zu rechtfertigen geeignet war. Rudenko räumte sein Fehlverhalten im Grundsatz ein, berief sich zur Begründung indes auf sein „Unvermögen, in einer solchen Umgebung zu arbeiten“272. Die auch ­Nikitčenko zur Last gelegte Sorglosigkeit im Zusammenhang mit der vorschnellen Unterzeichnung der Anklageschrift wollte dieser nicht auf sich beruhen lassen. Dem von Vyšinskij ihm gegenüber erhobenen Vorwurf trat Nikitčenko unter anderem mit dem Hinweis entgegen, dass die Überreichung der Anklageschrift erst auf seine Intervention im Tribunal überhaupt verschoben worden war. Kritik am dienstlichen Verhalten Nikitčenkos schien auch deshalb angebracht, weil dieser in der Wahrnehmung Vyšinskijs nicht immer über denjenigen Kenntnisstand verfügte, der hinsichtlich der Motive der übrigen Alliierten und der sich anbahnenden Entwicklungen der Sache nach geboten erschien. Die Missbilligung Vyšinskijs hatte sich Nikitčenko auch deshalb zugezogen, weil er sich der Ernennung eines britischen Vorsitzenden273 angeschlossen hatte, ohne entsprechende Anweisungen der Kommission einzuholen. Die Kommission kam schließlich überein, einerseits Nikitčenko und Rudenko jeweils die Anfertigung dienstlicher Erklärungen über ihr Fehlverhalten in schriftlicher Form aufzugeben. Beide wurde zudem nachdrücklich dazu angehalten, aus ihrem partiellen Versagen entsprechende Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, ihre Kräfte zu bündeln, ihre Bemühungen aufeinander abzustimmen und fortan allgemein strikte Disziplin walten zu lassen.274

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg Während sich ein großer Teil des amerikanischen Teams spätestens seit Mitte September in Nürnberg auf den Beginn des Prozesses vorbereitete, trafen die sowjetischen Vertreter erst später vor Ort ein. Die Sichtung und Prüfung des zu Dokumentationszwecken bereitgestellten Materials, die Befragung der Angeklagten und ggf. auch der bereits in Nürnberg befindlichen Zeugen waren ohne weiteren Zeitverlust in Angriff zu nehmen und eine Vielzahl organisatorischer Maßnahmen unverzüglich zu treffen, um den spürbaren Rückstand bei der Vorbereitung wenigstens aufzuhalten oder gar partiell zu kompensieren. 272 Ü. d. Verf., Pkt. 1 des Sitzungsprotokolls der Regierungskommission v. 9.  Nov. 1945 (Fn. 270), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 115, S. 281 (282). 273 Siehe oben Fn. 265. 274 Pkt. 1 des Sitzungsprotokolls der Regierungskommission v. 9.  Nov. 1945 (Fn.  270),­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 115, S. 281 (282).

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

353

Der Politische Berater beim Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen Sobolev275 etwa wurde erst Anfang Oktober in die Vorbereitungen des­ Prozesses einbezogen.276 Am 6. Oktober 1945 informierte Vyšinskij ihn über den bevorstehenden Beginn des Prozesses und ersuchte ihn darum, „den reibungslosen Arbeitsablauf des Apparats des sowjetischen Chefanklägers und des sowjetischen Teils des Internationalen Militärtribunals in umfassender Weise zu unterstützen“277. Vyšinskij bat ferner um zeitnahe Entsendung des Leiters des Ermittlungsteams und späteren Assistenten Rudenkos, Aleksandrov, nach Nürnberg und kündigte an, dass in naher Zukunft auch der Berater in politischen Fragen Semenov278 sowie der juristische Berater Man’kovskij279 nach Nürnberg abkommandiert werden würden. Gleichzeitig ersuchte Vyšinskij Sobolev um die Schaffung der organisatorischen Rahmenbedingungen für die Einnahme der Arbeitsstruktur wie die Eröffnung eines Verbindungswegs für sowjetische Kuriere zwischen Berlin nach Nürnberg, die Errichtung einer abhörsicheren Standleitung zwischen Nürnberg und Moskau und die Unterbringung und Verpflegung der sowjetischen Delegation, deren Mitgliederzahl er zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 100 Personen schätzte.280 Vor diesem Hintergrund trat Sobolev in der Folge in intensive schriftliche Korrespondenz mit den zuständigen Stellen in Moskau ein, in deren Zentrum die technische Organisation der Delegationsarbeit in Nürnberg stand.281 Trotz der nunmehr entfalteten Bemühungen hatte der reichlich späte Eintritt in konkrete organisatorische Vorbereitungsmaßnahmen im Zusammenspiel mit der Schwerfälligkeit des sowjetischen Verwaltungsapparats unter anderem zur Folge, dass die Kommunikation zwischen den sowjetischen Delegationsmitgliedern und dem NKID in der Anfangsphase des Prozesses zunächst überwiegend über die in Berlin eingerichtete abhörsichere Hochfrequenzleitung VČ geführt werden musste.

275

Zu Sobolev siehe oben Fn. 163. Hierzu Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVIII. 277 Ü. d. Verf., Schreiben Vyšinskij an Sobolev v. 6. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 7–8, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 44, S. 258–259; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 89, S. 250–251; zit. nach der dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 44, S. 141–142. 278 Semenov, Valdimir Semenovič (1911–1992), war von 1945 bis 1946 stellvertretender­ olitischer Berater und von 1946 bis 1949 Politischer Berater der SMAD, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 1, Personenregister, S. 675 (696). 279 Fn. 165. 280 Schreiben Vyšinskij an Sobolev v. 6. Okt. 1945 (Fn. 277), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 44, S. 141 (142). 281 Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVIII. 276

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

1. Interne Aufgliederung der Anklagekomplexe für die Verlesung in der Hauptverhandlung Etwa gegen Ende Oktober konnten die Chefankläger Einigung darüber erzielen, in welcher Reihenfolge und zu welchen Punkten der Anklage die Teams vor Gericht auftreten und Beweise vorlegen würden. Die Aufgabenverteilung sollte sich demnach im Groben an den bei der Ausarbeitung der Anklageschrift bereits getroffenen thematischen Zuweisungen orientieren282 – das amerikanische Anklägerteam demnach zu Anklagepunkt eins (gemeinsamer Plan oder Verschwörung), das britische Team zu Anklagepunkt zwei (Verbrechen gegen den Frieden), das französische Team zu Anklagepunkt drei und vier (Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) in den westlichen Gebieten und die UdSSR zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den östlichen Gebieten vortragen.283 Am 22. Oktober 1945 setzte Jackson die übrigen Hauptankläger über die interne Reorganisation und Kompetenzverteilung der amerikanischen Delegation ins Bild, bei der nunmehr ca. fünfzig Anwälte in sieben verschiedene Abteilungen organisiert wurden.284 Das Memorandum bestimmte auch Verbindungspersonen zu den anderen Delegationen, wobei für die Kommunikation mit den sowjetischen Kollegen Telford Taylor eingesetzt worden war. Die an der Anklagevorbereitung ausgerichtete Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Anklageteams begegnete auf Seiten der sowjetischen Führung jedoch nachdrücklicher Kritik. Am 1. November 1945 ließ Vyšinskij Rudenko wissen, dass man die insoweit getroffene Übereinkunft für missglückt halte. Rudenko wurde angewiesen, mit den anderen Chefanklägern eine Verabredung herbeizuführen, nach der die UdSSR zum Anklagepunkt des Verbrechens gegen den Frieden „als zentralen Teil der Anklage“ ebenfalls würde vortragen dürfen, soweit der Anklagevorwurf sowjetische Belange berührte.285 Mit seinem diesbezüglichen Ansinnen traf Rudenko auf Seiten der Verbündeten auf offene Ohren, so dass die sowjetische Anklage zu allen Tatbeständen des Art. 6 des IMT-Statuts vortrug und entsprechende Beweise vorlegte.286 282

Vgl. Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 105. Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (79); dies., SSSR, Dok. No 109, S. 276 (276 f.). 284 General Memorandum No. 5, 22. Okt. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 78, Bl. 39–41, für die russ. Fassung siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 78, Bl. 35–38 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 263–265, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 101, S. 264–266; eine ausführliche Darstellung zur Ende Oktober neu eingenommenen Struktur des Teams Jacksons findet sich bei Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 172 ff. 285 Schreiben Vyšinskijs an Rudenko v. 1. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 46, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 109, S. 276. 286 Im Anschluss an Rudenkos Eröffnungsrede am 8.  Feb. präsentierte sein Stellvertreter Pokrovskij im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Angriffs auf die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien zunächst Beweise zu „Verbrechen gegen den Frieden“ (Pokrovskij begann am 8. und beendete den Vortrag am 11. Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  223–272). Dem folgte ein von Hilfsankläger Zorja vorgetragener Abschnitt über den Angriff auf die Sowjetunion (Zorja begann seinen Vortragsteil am 11.  und beendete ihn am 13.  Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 274–282, 292–309, 337–381). 283

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

355

2. Bemühungen um die tatsächliche Aufbereitung des Anklagematerials durch die sowjetische Delegation Ein Großteil der Vorbereitungsarbeit am Gerichtsort Nürnberg entfiel auf die Sichtung und Aufbereitung des Beweismaterials, insbesondere die Prüfung und ggf. Übersetzung von Dokumenten. Nach einer vorläufigen Auswertung des Leiters des sowjetischen Dokumentationsteams in Nürnberg, Dmitrij Karev287, verfügte die sowjetische Anklage zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Anklageschrift am 18. Oktober 1945 über siebzig Dokumente bzw. Dokumenteinheiten.288 Hierzu zählten unter anderem Dokumente der ČGK und beschlagnahmte deutsche Unterlagen, die Rudenko seinen alliierten Verhandlungspartnern bereits am 17. September 1945 in London vorgelegt hatte.289 Mitte Oktober beauftragte das NKID einen Mitarbeiter mit der Überführung weiteren Dokumentationsmaterials nach Nürnberg.290 Die Gesamtzahl der registrierten Dokumente wuchs bis zur ­Präsentation des sowjetischen Teils der Anklage im Februar 1946 nach Angaben Karevs auf 443 Dokumente an.291 Den sowjetischen Vertretern wurde während der Vorbereitung ihres Teils der Anklage freier Zugang zu den von amerikanischer Seite bereitgestellten Prozessdokumenten gewährt, von welchen sie unter Zuhilfe­nahme der von Seiten der USA vorgehaltenen technischen Einrichtungen unbeschränkt Ablichtungen anfertigen konnten.292 Ein enger Mitarbeiter Rudenkos, Aleksandrov, bezifferte die Zahl der durch das sowjetische Team in den amerikanischen Beständen gesichteten Dokumente auf mehr als 5000, von denen sodann einige Hundert für eigene Zwecke ausgewählt und in das sowjetische Inventar überführt worden sind.293 Die 287 Ausf. zum Aufbau der sowjetischen Delegation in Nürnberg und der Zusammensetzung ihrer Mitglieder siehe Kap. G. I. 288 Bericht Karevs an Goršenin über „vorläufige Angaben über die Dokumente, die die sowjetische Anklage dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vorgelegt hat“ v. 28. Feb. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 7–10, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407–409. Die Bezeichnung ‚Dokument‘ ist dabei laut Bericht mit der Einschränkung zu verstehen, dass unter einer Dokumentennummer auch mehrere – in manchen Fällen zehn oder mehr – Dokumente zu verstehen sind. 289 Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (10); hierzu Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 130. 290 Hierzu Schreiben Vyšinskijs an Malenkov v. 17. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 7. In dem Schriftstück ersucht Vyšinskij um zeitnahe Erteilung der Erlaubnis für die Ausreise von Ivan Ivanovič Lobanov nach Berlin zwecks Übermittlung von Dokumenten nach Nürnberg. 291 In diese Größenangabe flossen ausweislich der Erläuterungen Karevs auch Dokumente amerikanischen, britischen, tschechoslowakischen, jugoslawischen und polnischen Ursprungs ein, deren Originale dem sowjetischen Anklageteam übergeben worden waren und die sodann mit einer sowjetischen Zählnummer versehen worden waren, siehe Bericht Karev (Fn. 288), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). 292 Fernspruch über VČ von Semenov an Vyšinskij v. 26. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p.  41, d.  8, Bl.  34, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  105, S.  270. Zu den Be­ weis­sicherungsaktivitäten und der Ermittlungstätigkeit der Vereinigten Staaten siehe Jung, Rechtsprobleme, S. 17–22 m. w. Nachw. 293 Aleksandrov, Novoe vremja 1965 No 43, S. 16 (18).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Arbeit bei der Auswertung und Festlegung des relevanten Beweismaterials wurde von zwei Mitarbeitern der ČGK, S. T. Kuz’min und E. I. Smirnov, begleitet.294 Der akute Mangel an sowjetischen Übersetzern, insbesondere solchen mit deutschen Sprachkenntnissen295, erschwerte und verlangsamte die Arbeit in hohem Maße. Ende Oktober sah sich das evident unterbesetzte sowjetische Team gar gezwungen, bei Jackson vergeblich um Unterstützung bei der Übersetzung russischer Dokumente ins Deutsche nachzusuchen.296 Die Masse der russischen und – wegen einer ähnlich verheerenden Unterbesetzung innerhalb der französischen Delegation297 – auch der französischen Dokumente wurden schließlich von Mitarbeitern der bri­ tischen Delegation in die deutsche und englische ­Sprache übersetzt.298 Darüber hinaus führten die sowjetischen Ankläger auf Grundlage von Art. 15 lit. c des IMT-Statuts vor Prozessbeginn eigene299 Vernehmungen von Angeklagten und als Zeugen in Betracht kommenden Personen durch.300 Einen von ideologischen Wertungen nicht gänzlich unbeeinflussten und nicht immer objektiven Einblick in die Arbeitsweise des sowjetischen Teams vor und während der sowjetischen Vernehmungen gewähren die vom Leiter der sowjetischen Ermittlungsabteilung in Nürnberg Georgij Nikolaevič Aleksandrov301 – zum Teil in Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Solomon Jakovlevič Rozenblit302 – vorgelegten Berichten zur Vernehmungsarbeit in Nürnberg.303 Demnach hatten sich die erst

294

Siehe Schreiben Vyšinskijs an den Leiter der ČGK Švernik 16.  Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 16, mit der Bitte um Benennung von ein bis zwei Mitarbeitern der ČGK. Die Mitarbeiter der ČGK Kuz’min und Smirnov nahmen auch an der Sitzung der von Vyšinskij eingesetzten Kommission in Nürnberg am 1. Dez. 1945 teil. In dieser Sitzung wurde u. a. auch Kuz’min mit der Aufgabe betraut, die seitens der ČGK neu angelieferten Materialien zu prüfen und zu den aus seiner Sicht maßgeblichen Dokumenten jeweils Übersetzungen ins Deutsche zu veranlassen, siehe Protokoll der Nürnberger Kommission No  2 v. 1. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 39–42, hier Bl. 40, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323–325, hier S. 324. Eine authentische Darstellung der Arbeit der beiden Repräsentanten der ČGK in Nürnberg findet sich bei Kuz’mins, Kuz’min, Sroku davnosti, S. 31 ff. 295 Vgl. Ziff. I des Berichts von Nikitčenko und Smirnov an Vyšinskij v. 9. Nov. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 115–116, hier Bl. 115. 296 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 174. 297 Zu den ebenfalls schleppend verlaufenden französischen Vorbereitungen siehe etwa Tusa/ Tusa, Nuremberg Trial, S. 144. 298 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 175 f. 299 Das französische und britische Team führten hingegen keine eigenen Vernehmungen durch, sondern leiteten ihre Fragen an das amerikanische Anklageteam weiter. 300 Für Protokolle der Zeugenbefragungen bis zum Beginn des Prozesses siehe den 218 Seiten umfassenden Bestand in GARF, f. R-7445,op. 2, d. 42. 301 Zur Person siehe Kap. G, Fn. 33. 302 Zur Person siehe Kap. G, Fn. 35. 303 Rozenblit/Aleksandrov, Socialističeskaja zakonnost’ 1946, No 1–2, S. 20–26; siehe insbes. die detaillierten Vernehmungsberichte von Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 44, S. 20–23 (Vernehmung von Heß); ders., Novoe vremja 1965, No 46, S. 16–19 (Keitel, Jodl, Raeder und Dönitz); ders., Novoe vremja 1965, No 47, S. 16–19 (von Ribbentrop, Rosenberg); ders., Novoe

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

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zu einem vorangeschrittenen Zeitpunkt der Prozessvorbereitung in Nürnberg eingetroffenen sowjetischen Vernehmungsbeamten vor Aufnahme der eigenen Befragungen zunächst gründlich mit der Arbeitsweise der Amerikaner und ihren Dokumenten vertraut gemacht. Im unmittelbaren Anschluss an seine Ankunft in Nürnberg im September 1945 begab sich Aleksandrov eigenen Schilderungen zufolge sofort in die Dokumentarabteilung der amerikanischen Anklage, wo er sich von deren Leiter Oberst Robert G. Storey in den umfangreichen Bestand der Vereinigten Staaten einführen ließ.304 In diesem Zusammenhang wurde ihm vom Leiter der amerikanischen Ermittlungsabteilung John Harlan Amen auch die Zurverfügungstellung der von amerikanischer Seite über bereits durchgeführte Verhöre angefertigten Vernehmungsprotokolle in Aussicht gestellt. Da innerhalb des sowjetischen Ermittlungsteams indes niemand des Englischen mächtig war, stellte man der sowjetischen Delegation von amerikanischer Seite zur Erleichterung der wechselseitigen Kommunikation zunächst den über hinreichende Russischkenntnisse verfügenden Mitarbeiter Prof. Nicholas Doman und später Mark Priceman zur Seite.305 Ankündigungsgemäß stellten die amerikanischen Ermittler ihren sowjetischen Kollegen sodann sämtliche Protokolle zur Verfügung, die diese in ihrer zweimonatigen Arbeit in Nürnberg bereits angefertigt hatten.306 Zur Vorbereitung auf die geplanten Vernehmungen unter eigener Regie werteten die sowjetischen Mitarbeiter die ihnen zur Verfügung gestellten amerikanischen Protokolle aus und nahmen an laufenden amerikanischen Vernehmungen als Beobachter teil. Während die von amerikanischer Seite angewendeten Vernehmungsmethoden nach Einschätzung von Aleksandrov allerdings einen auf Tatsachenermittlung und Sachverhaltsaufklärung gerichteten (sondierenden) Charakter aufwiesen307, galt das von prozesstaktischen Erwägungen geleitete Erkenntnisinteresse vremja 1965, No 48, S. 28–31 (Kaltenbrunner, Schacht); ders., Meždunarodnaja žizn’ 1970, No 11, S. 85–89; siehe auch die 1971 erschienene Monographie Aleksandrov, Njurnberg. Die Darstellungen Aleksandrovs fallen in ihrer Gesamteinschätzung stellenweise unobjektiv aus, wenn dieser den amerikanischen Ermittlern etwa mangelnde Erfahrung oder fehlenden Er­ mittlungseifer attestiert, siehe etwa Aleksandrov, Njurnberg, S. 26: „Man spürt keine Zielstrebigkeit und kein Interesse am Ergebnis der eigenen Arbeit, was für die sowjetischen Juristen geradezu kennzeichnend ist.“ Offenkundig war Aleksandrov auch darum bemüht, das Ausmaß der organisatorischen Probleme innerhalb der sowjetischen Delegation herunterzuspielen. Seine Schilderungen über den Ablauf der Vernehmungen und zu vielen weiteren Details wird man gleichwohl als im Kern authentische Wiedergabe seiner Wahrnehmungen begreifen dürfen. Insbesondere sprechen die überaus positiven Schilderungen zu den umfangreichen Vor­a rbeiten der USA und die wiederholte Hervorhebung des Umstandes, dass die sowjetischen Verhör­beamten erst nach einem Studium der amerikanischen Unterlagen zur Durchführung eigener Vernehmungen imstande waren, gegen eine zu einseitige Darstellung der Vorgänge durch ­Aleksandrov; vgl. auch Goršenin u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 27–30. 304 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 43, S. 16 (16). 305 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 43, S. 16 (18); ders., Njurnberg, S. 17 f. 306 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 43, S. 16 (18); ders., Njurnberg, S. 15. 307 Aleksandrov, Novoe vremja, 1965, No 44, S. 20 (20); ders., Njurnberg, S. 27; Rudenko (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, Einleitung, S. 5–64, hier 30.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

der ­sowjetischen Vernehmungsbeamten eher dem präsumtiven Aussageverhalten der Aussagepersonen im Prozess. Dementsprechend stand die Beobachtung des Verhaltens der Angeklagten mit dem Ziel im Vordergrund, für die jeweiligen Angeklagten eine prozesstaktisch sinnvolle weitere Vorgehensweise festzulegen und vor überraschenden Situationen im prozessualen Umgang mit dem jeweiligen Angeklagten gefeit zu sein.308 Zur Vorbereitung konkreter Vernehmungen von Aussagepersonen zogen die sowjetischen Ermittler zunächst die von amerikanischer Seite gefertigten Protokolle und die dossierzugehörigen Dokumente zu Rate und erstellten auf dieser Grundlage sodann Fragelisten, die vor ihrem Einsatz Rudenko zur Sanktionierung vorzulegen waren.309 Darüber hinaus wurden Ablichtungen von Original­ dokumenten310 angefertigt, die man den zu Vernehmenden während der Befragung vorzulegen gedachte.311 Zielsetzung und Vorgehen im Rahmen der vorprozessualen sowjetischen Vernehmungen fasste Aleksandrov wie folgt zusammen: „Wir arbeiteten eine Liste von Fragen aus, die zur Grundlage der Vernehmung der deutschen Hauptkriegsverbrecher werden sollten. Die Aufgabe bestand darin, ihre Verhaltenslinie in Erfahrung zu bringen, die Reaktion auf den einen oder anderen Punkt der Anklage. Aus diesem Grund waren unsere Listen nicht gleichermaßen umfangreich wie die amerikanischen. Der zeitliche Umfang für die Vernehmung war derart geplant, dass die Vernehmung eines Angeklagten in der Regel nicht länger als einen sechsstündigen Arbeitstag ­einnehmen sollte.“312

308

Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 44, S. 20 (21); ders., Njurnberg, S. 28. Aleksandrov, Njurnberg, S. 47. Unerwähnt lässt Aleksandrov freilich den Umstand, dass neben Rudenko weitere, für die übrigen Prozessteilnehmer in ihrer Funktion indes ‚unsichtbare‘ Entscheidungsträger, insbes. Mitglieder der Vyšinskij-Kommission in Nürnberg – hierzu ausf. Kap. G. II. – in die von ihm geschilderten Freigabeverfahren in Bezug auf die Fragelisten involviert waren. Die Aufgabenverteilung hinsichtlich der Erstellung der Fragelisten wurde von Vyšinskijs Stellvertreter in Nürnberg Goršenin organisiert. Am 5. Dez. 1945 erteilte dieser sein Einverständnis zu einem Vorgehen, dem zufolge einzelne Mitarbeiter des sowjetischen Teams in einer bestimmten Frist Fragebögen für ihnen jeweils persönlich zugewiesene Angeklagte erstellen sollten. Diesem Plan entsprechend sollte Hilfsankläger Šejnin bis zum 6. Dez. Fragelisten für Göring und Heß vorbereiten, Hilfsankläger Ozol’ bis zum 8. Dez. für Frick, die Mitarbeiter des Ermittlungsteams Aleksandrov und Rozenblit bis zum 10.  Dez. für Dönitz, Raeder, Keitel, Jodl, Sauckel und Speer, der Hilfsankläger Raginskij bis 11. Dez. für Ribbentrop, von Neurath und von Papen, der juristische Berater Trajnin bis 10. Dez. für­ Streicher und bis 15. Dez. für von Schirach, der jurist. Berater Man’kovskij bis 12. Dez. für Rosenberg und bis 15. Dez. für Seyß-Inquart, der Mitarbeiter des Ermittlungsteams Piradov bis 12. Dez. für Schacht und Funk sowie der Mitarbeiter der Staatssicherheit und Spionageabwehr Smerš Lichačev bis 10. Dez. für Fritzsche und Frank, siehe GARF, f. R7445, op. 2, d. 391, Bl. 37. Zu den einzelnen Personen siehe Kap. G. I. 310 Siehe als Beispiel die Dokumentenübersicht zur Vorbereitung der Befragung von Ribben­ trop, GARF, f. R7445, op. 2, d. 194, Bl. 1. 311 Rozenblit/Aleksandrov, Socialističeskaja zakonnost’ 1946, No 1–2, S. 20 (24). 312 Ü. d. Verf., Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 44, S. 20 (22); ähnlich ders., Njurnberg, S. 47 f. 309

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

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Die sowjetischen Mitarbeiter führten schließlich Vernehmungen von fast allen Angeklagten durch, darunter Heß313, von Ribbentrop314, Keitel315, Rosenberg316, von Schirach317 und anderen sowie vielen in Nürnberg verfügbaren Zeugen.318 In die Durchführung der Vernehmungen waren zumeist auch der sowjetische Hauptankläger Rudenko319 und auf Vorschlag Aleksandrovs auch die vor Ort weilenden Mitarbeiter der Hauptverwaltung für Spionageabwehr Smerš320 eingebunden. Darüber hinaus waren auch die Mitarbeiter der ČGK bei einigen Vernehmungen­ zugegen.321 Unterdessen leitete in Moskau die Regierungskommission Maßnahmen zur Ermittlung weiterer Belastungszeugen in die Wege. Auf ihrer Sitzung am 9. November 1945 wurde eine vorläufige Liste von 18 als Zeugen in Betracht kommenden Personen zur Erörterung gestellt.322 Entsprechend der in der Sitzung erteilten Anweisung übermittelten die Kommissionsmitglieder Goršenin, Ryčkov, Goljakov, Bogojavlenskij und Kudrjavcev am 12.  November 1945 ergänzende Listen mit insgesamt 59 Zeugen an den Kommissionsvorsitzenden Vyšinskij.323 Die nach Zeugengruppen gegliederte Zusammenstellung ordnete den unter Nennung biographischer Eckdaten aufgeführten potentiellen Zeugen jeweils spezifische Beweisthemen zu. Das Kompendium setzte sich zusammen aus einer 40 Personen umfassenden Liste von potentiellen Zeugen der ČGK324, einer Liste mit zehn als Zeugen besonders in Betracht kommenden Angehörigen der Roten Armee325 sowie einer zehn Personen (darunter vier deutsche Staatsangehörigen) umfassenden Zusammenstellung des NKVD.326 Die ergänzenden Zeugenlisten wurden auf der nächsten Sitzung der Regierungskommission am 16. November von Goršenin

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Ausf. Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 44, S. 20–23. Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 47, S. 16–19. 315 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 46, S. 16–19. 316 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 47, S. 16–19. 317 Aleksandrov, Novoe vremja 1965, No 48, S. 28–31. 318 Für einen Überblick vgl. die Aufzählung bei Aleksandrov, Meždunarodnaja žizn’ 1970, No 11, S. 85 (87); ausführlich ders., Njurnberg, S. 50 ff.; hierzu auch Rudenko (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, Einleitung, S. 5–64, hier 31. Zu den Vorbereitungen der Fragelisten im Vorfeld der Vernehmungen siehe oben Fn. 309. 319 Siehe z. B. das Protokoll der von Rudenko durchgeführten Vernehmung des Zeugen Erich Buschenhagen v. 5. Jan. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 133, Bl. 190–191. 320 Christoforov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 55 (59). Siehe als Beispiel die Einbindung Lichačevs in die Erstellung der Fragelisten für die Vernehmungen der Angeklagten, oben Fn. 309. 321 Kuz’min, Sroku davnosti, S. 33. 322 Anhang z. Sitzungsprotokoll der Kommission v. 9. Nov. 1945 (hierzu bereits Fn. 270), GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 22–24 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 71–73. 323 Ergänzende Liste von Zeugen für den Nürnberger Prozess v. 12.  Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 396, Bl. 1–19. 324 Zeugenliste v. 12. Nov. 1945 (Fn. 323), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 396, Bl. 2–15. 325 Zeugenliste v. 12. Nov. 1945 (Fn. 323), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 396, Bl. 16–17. 326 Zeugenliste v. 12. Nov. 1945 (Fn. 323), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 396, Bl. 18–19. 314

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

präsentiert und im Anschluss erörtert. Man kam überein, die angeführten Zeugen zum Zwecke einer näheren Überprüfung durch Goršenin nach Moskau zu laden, wobei für eine angemessene Bekleidung und Verpflegung der Zeugen während der Vernehmungen Gewähr geleistet werden sollte.327 Von Moskau aus wurden zum Zwecke der Prozessvorbereitung ferner Dokumentarfilme geprüft und thematisch vorbereitet328 sowie Vorkehrungen für die Arbeit von sowjetischen Pressevertretern getroffen.329 Am 8. November erhielt der Politische Berater der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD)­ Sobolev eine Liste mit 23 vom ZK VKP(b)  bereits bestätigten Pressevertretern und eine Aufzählung von 15 zusätzlichen Journalisten und Schrift­stellern.330 3. Das Abhilfegesuch Nikitčenkos und Smirnovs vom 9. November 1945: Perpetuierung der desolaten Personalsituation der Sowjetdelegation in Nürnberg Ende Oktober meldete der stellvertretende Politische Berater Semenov im Auftrag von Nikitčenko an das NKID, dass nach wie vor ein erheblicher Bedarf an ausreichend qualifizierten Übersetzern bestehe.331 Unter den zur Verfügung stehenden Übersetzerinnen gebe es keine einzige, die den an sie gestellten Anforderungen vollauf entspreche. Eine Generalprobe für das gesamte Übersetzungssystem sei auf den 13. November 1945 angesetzt worden, weswegen Nikitčenko um die Auswahl und Entsendung von sechs qualifizierten Übersetzern und Stenografisten bis zum 10. November ersuchte. Es kann davon ausgegangen werden, dass Vyšinskij den erbetenen Zulauf von sechs Übersetzern zum gewünschten Datum in Nürnberg tatsächlich sicherzustellen vermochte. Am 6. November 1945 erbat er den u. a. für die Erteilung von Auslandsvisa zuständigen Sekretär des ZK VKP(b) Malenkov unter Vorlage der jeweiligen Personalien um die dringende Abfertigung (oformlenie)  einer Gruppe von sechs Übersetzern (T.  Ju. ­Solov’eva, N.  Ju. Topuridze,

327 Sitzungsprotokoll v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-9492, f. 1a, d. 468, Bl. 75–76, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 123, S. 290–291. Ausführlicher zu den Zeugen der sowje­ tischen Anklage siehe Kap. G. III. b). 328 Vyšinskij an Bol’šakov, 23. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 26–27, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 102, S. 266–277. 329 Siehe z. B. Fernspruch über VČ von Sobolev an Vyšinskij v. 6.  Nov. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 100–101; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 112, S. 278–279. 330 Vom ZK bereits bestätigt waren Mitarbeiter der Nachrichtenagentur TASS (6 Pers.), der Zeitungen Pravda (6 Pers.), Izvestija (3 Personen, darunter Il’ja Erenburg), Krasnaja Zvezda (2 Pers.), Komsomol’skaja pravda (1 Pers.), Krasnyj Flot (1 Pers.), das Radiokomitee Vsesojuznyj radiokomitet (2 Pers.), die Zeitungen Trud und Radjan’ska Ukraina (jew. 1 Pers.), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 110–111. 331 Nachricht Semenovs an Vyšinskij v. 31. Okt. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 94–95.

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

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T. A. Ruzskaja, I. M. Kulakovskaja, K. V. Curinov, M. A. Soboleva) zur Ausreise nach Deutschland.332 Wie aus einer Anfrage Vyšinskijs an den Sekretär des ZK VKP(b) Malenkov vom 10. November 1945 hervorgeht, ging das NKID noch kurz vor Beginn des Prozesses von einer Prozessdauer von voraussichtlich vier Monaten (November bis Februar) aus. Sowohl Nikitčenko und Rudenko sollten im Laufe dieses Zeitraums wiederholt für Konsultationen und zur Entgegennahme von Direktiven nach Moskau einbestellt werden. Um drohende zeitliche Reibungsverluste bei der Einreise in Deutschland oder der UdSSR zu vermeiden, ersuchte Vyšinskij ­Malenkov daher darum, die Ausstattung Rudenkos und Nikitčenkos mit mehrfach gültigen Visa ressortintern anzuweisen.333 Für alle Aufgaben, die die Verbindung mit der sowjetischen Delegation in Nürnberg betrafen, insbesondere für die Zuleitung der „notwendigen Direktiven, Anweisungen und Materialien usw.“334 aus Moskau wurde ein Mitarbeiter der Dritten Europäischen Abteilung (Deutschland und Österreich), I. M. Lavrov, bestimmt. Vyšinskij bat ferner Marschall Žukov zu Verbindungszwecken um dringende Benennung einer Person aus dem Mitarbeiterstab der SMAD.335 Trotz intensiver Bemühungen war die Sowjetunion mit ihren vorbereitenden Maßnahmen derart in Rückstand geraten, dass die operative Arbeitsfähigkeit der Delegation noch kurz vor Beginn des Prozesses akut gefährdet schien. Fünf Tage vor Beginn der ersten vorbereitenden Verhandlung am 14. November 1945 bzw. elf Tage vor der ersten Hauptverhandlung des IMT am 20. November 1945 wandten sich Nikitčenko und Smirnov unter detaillierter Schilderung der Sachlage mit einem hieraus abgeleiteten Abhilfegesuch an Vyšinskij.336 Dabei stand erneut der sowohl quantitativ als auch qualitativ unzureichende Bestand an Übersetzungskräften im Vordergrund. Ihrer Bestandsaufnahme gemäß waren mit Stand vom 9. November 1945 insgesamt acht337 Übersetzer nach Deutschland abkommandiert, von denen lediglich zwei der deutschen Sprache überhaupt mächtig waren. Zu diesem Zeitpunkt lagen insgesamt sechs338 weitere Namen zur Bestätigung durch das 332

Schreiben Vyšinskijs an Malenkov v. 6. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 10; Das Ergebnis der Überprüfung der Sprachkenntnisse wurde Vyšinskij erst am11. Nov. 1945 in schriftlicher Form zugeleitet AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 102–104. 333 Vyšinskij an Malenkov, 10. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 15. 334 Ü. d. Verf., Anordnung von Vyšinskij No 479 v. 2. Nov. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 98, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 110, S. 277. 335 Siehe den undatieren Entwurf eines Schreibens Vyšinskijs an Žukov, oben D., AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 114; hierzu auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie S. 5 (37). 336 Nikitčenko und Smirnov an Vyšinskij v. 9. Nov. 1945 (Fn. 295), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 115–116. 337 Es handelte sich um Andreeva-Chaljutina, Štejman, Litvak, Svidovskaja, Barsuk, Šizkaja, Dobrovenskaja und Giljarovskaja, siehe oben Fn. 336. 338 Solov’eva, Topuridze, Ruzskaja, Kulakovskaja, Curina und Soboleva, vgl. das Schreiben Vyšinskijs an Malenkov v. 6. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 10; das Ergebnis der Überprüfung der Sprachkenntnisse wurde Vyšinskij erst am 11. Nov. 1945 in schriftlicher Form zugeleitet AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 102–104.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

ZK vor. Während man die Auswahl der Übersetzer für Englisch und Französisch als zufriedenstellend erachtete, stellte sich die Sachlage in Bezug auf die Übersetzer für Deutsch ihrer Bewertung zufolge als äußerst prekär dar, da die bereits in Nürnberg eingesetzten Übersetzer Litvak und Štejman mangels ausreichender Qualifikation für Simultanübersetzungen während der Sitzungen des Tribunals nicht zur Verfügung stünden. Nikitčenko und Smirnov baten daher um Nominierung und zeitnahe Abordnung von vier hochqualifizierten Übersetzern für Deutsch nach Nürnberg.339 Auch der zum Zeitpunkt des Sachstandsberichts erreichte Stand der administrativen Konsolidierung der Delegationsarbeit stellte sich aus der Perspektive von Nikitčenko und Smirnov als mindestens bedenklich dar.340 Die Bewältigung von verwaltungsbezogenen Angelegenheiten wurde dem Bericht zufolge weiterhin von IMT-Richter Nikitčenko wahrgenommen, da entgegen entsprechender Personalanforderungen weder das Volkskommissariat der Justiz noch die SMAD einen zur administrativen Koordinierung geeigneten Mitarbeiter abgeordnet hätten.341 Um ihrem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, Marschall Žukov zur Abordnung eines Gesamtverantwortlichen für die Wahrnehmung der administrativen Aufgaben der sowjetischen Delegation während der Dauer des Prozesses zu ersuchen, legten Nikitčenko und Smirnov ihrem Bericht an Vyšinskij den Entwurf eines Telegramms an Žukov bei342, der seine Wirkung nicht verfehlen sollte: Ein textidentischer Fernspruch wurde durch den Leiter der 3. Europäischen Abteilung des NKID Smirnov auf Anweisung von Vyšinskij noch am gleichen Abend über die abhörgesicherte Leitung VČ nach Berlin abgesetzt.343 Auch im Bereich des technischen Personals stellte sich die Situation in Nürnberg als dringend verbesserungsbedürftig dar. Mit Stand vom 9. November 1945 gehörten der sowjetischen Delegation lediglich vier Mitarbeiter mit technischer Funktion an, nämlich ein Sekretär und drei Stenographisten. Weitere vier Stenographisten waren dem ZK zu diesem Zeitpunkt bereits vorgestellt worden, ihre 339 Nikitčenko und Smirnov an Vyšinskij, 9. Nov. 1945 (Fn. 295), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 115 (115); vgl. auch handschriftl. Anmerkung Vyšinskijs „Einverstanden“. 340 Die völlig unzureichende Betreuung sowjetischer Pressevertreter – gerade auch im Vergleich zu den ihren amerikanischen Kollegen gewährten Vergünstigungen – durch die sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg wird in einem Bericht der Korrespondenten der Nachrichtenagentur TASS v. 17. Nov. 1945 betr. ihre Reise nach Nürnberg eingehend geschildert, RGASPI, f. 558, op. 11, d. 99, Bl. 13–20, hier Bl. 20, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 126, S. 293–297, hier S. 297. 341 Über erhebliche Probleme bei der Bewältigung der administrativen Aufgaben berichtete auch der Mitarbeiter des Spionageabwehrdienstes Smerš, S. N. Kartašov, der auf Weisung seines Chefs Abakumov (Fn. 158) Anfang September nach Nürnberg entsandt worden war. Kartašov nahm Anstoß insbesondere an dem Umstand, dass die sowjetische Delegation keinen Gesamtverantwortlichen für sämtliche im Zusammenhang mit der Verwaltung anfallenden Aufgaben zu benennen imstande war, vgl. hierzu Christoforov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 55 (58). 342 Entwurf eines Telegramms v. Vyšinskij an Žukov, oben D., AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 114. 343 Fernspruch Smirnovs v. 9. Nov. 1945 an Žukov, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 132.

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

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Überprüfung dauerte jedoch an. Ebenfalls bereits bewilligt worden war zu diesem Zeitpunkt die Entsendung zweier Maschinenschreibkräfte (maschinistki) nach Nürnberg. Nikitčenko bat vor diesem Hintergrund um weitere Aufstockung des technischen Personals. Abschließend ersuchte er um unverzügliche Entsendung des Beraters in politischen Fragen Semenov sowie des juristischen Beraters Man’kovskij344 nach Nürnberg.345 4. Tropische Infektionskrankheiten und andere Widrigkeiten: Vergebliches Eintreten für eine Vertagung des Prozessauftakts Mehrmals stand in der Folgezeit eine Verschiebung der auf den 20. November terminierten Eröffnungsverhandlung vor dem IMT konkret im Raum. Eine Kontroverse um das weitere Vorgehen der Anklage entzündete sich zunächst aus Anlass der nach Zustellung der Anklageschrift auch an Gustav Krupp von Bohlen346 auf Anweisung des Gerichtshofs angeordneten ärztlichen Untersuchung dessen Gesundheitszustandes. Am 24. Oktober 1945 setzte Jackson den sowjetischen Ankläger Rudenko per Telegramm über den ihm vorliegenden medizinischen Befund347 in Kenntnis, demzufolge Krupp aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes vorläufig weder nach Nürnberg verbracht noch dem Verfahren unterzogen werden könne.348 In diesem Zusammenhang schlug er vor, für den 26. Oktober 1945 ein Treffen der Hauptankläger in dieser Angelegenheit herbeizuführen. Von amerikanischer Seite wurde angeregt, die Anklageschrift entsprechend zu modifizieren und anstelle Krupps andere Akteure der deutschen Schwerindustrie wie z. B. Alfried Krupp von Bohlen – den Sohn von Gustav Krupp von Bohlen – oder H ­ ermann Schmitz in die Anklageschrift aufzunehmen, sollte sich die Verhandlungsunfähigkeit Gustav Krupps tatsächlich erweisen.349 Jacksons diesbezügliche Anregung begegnete nicht nur auf Seiten des Rudenko-Stellvertreters ­Pokrovskij350, sondern 344

Siehe Fn. 165. Nikitčenko und Smirnov an Vyšinskij, 9. Nov. 1945 (Fn. 295), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 115 (116); vgl. auch die handschriftl. Anmerkung Vyšinskijs „Einverstanden“. 346 Nachweis über die Zustellung an den Angeklagten Gustav Krupp v. Bohlen am 19. Okt. 1945 und beigefügte ärztliche Gutachten, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 129–133. 347 Siehe etwa das im Antrag für den Angeklagten Krupp v. 4. Nov. 1945 an das IMT betreffend Aussetzung des Verfahrens wiedergegebene ärztliche Gutachten v. 8./9. Sept. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 135–137, hier S. 137 (Anl. I). 348 Telegramm von Gusev an Molotov v. 24. Okt. 1945, mit dem Text des Telegramms von Jackson an Rudenko, AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 32, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 103, S. 267–268. 349 Ausf. Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 188 ff. 350 Pokrovskij hatte seine ablehnende Haltung gegenüber dem Vorschlag in verschiedenen Zeitungen öffentlich mit der hierdurch notwendig eintretenden zeitlichen Verschiebung des Prozessbeginns begründet, vgl. hierzu die Telefonogramme Rudenkos an Volčkov und­ Pokrovskij über die Notwendigkeit der Verlegung des Verfahrensbeginns v. 14. und 15. Nov. 1945, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 121, S. 287. 345

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

auch im Lager der britischen und französischen Anklageteams wegen der mit der Ergänzung der Anklageschrift notwendig einhergehenden Verfahrensverzögerungen dezidierter Ablehnung. Am 30. Oktober 1945 entschieden die Richter des IMT, eine Ärztekommission zur Klärung der Frage von Krupps Verhandlungsfähigkeit einzusetzen. Für die von sowjetischer Seite insoweit vorgesehenen Mediziner Evgenij Konstantinovič Sepp, Evgenij Konstantinovič Krasnuškin sowie Nikolaj Aleksandrovič Kuršakov war bereits am 27. Oktober 1945 vorsorglich eine Ausreiseerlaubnis seitens der Kommission des ZK VKP(b) über Reisen ins Ausland erteilt worden.351 Die Mitglieder der Ärztekommission352 stellten am 7.  November 1945 einstimmig fest, dass ­Gustav Krupp von Bohlen „körperlich und geistig nie in der Lage sein wird, vor dem Internationalen Militärgerichtshof zu erscheinen“353. Über diese Entscheidung informierte Volčkov das NKID bereits am darauffolgenden Tag.354 Während die Mediziner Sepp und Kuršakov am 9. November 1945 die Rückreise aus Nürnberg antraten, verblieb Professor Krasnuškin zunächst in Nürnberg, wo er gemeinsam mit anderen Ärzten an der Erstellung eines Untersuchungsberichts über den Geisteszustand und die Verhandlungsfähigkeit von Rudolf Heß mitwirkte.355 Auf Grundlage der ihm vorliegenden ärztlichen Erkenntnisse und nach Anhörung der Hauptankläger356 verfügte das Tribunal am 15. November 1945 die von Seiten der Verteidigung beantragte357 Vertagung des Verfahrens gegen den Angeklagten Gustav Krupp.358 In Anbetracht der weiterhin stockenden Vorbereitungen auf die Einnahme einer arbeitsfähigen Delegationsstruktur entwickelte die sowjetische Führung zu 351 Siehe Erlaubnisanfrage Vyšinskijs an den Sekretär des ZK VKP(b) Malenkov über die Ausreise der Ärzte Sepp, Krasnuškin sowie Kuršakov nach Berlin-Nürnberg v. 27. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 8, und die Mitteilung über die Erlaubniserteilung des Sekretärs der Kommission des ZK VKP(b) über Reisen ins Ausland Konkin v. 27. Okt. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 9. 352 Dazu zählten neben sowjet. Ärzten auch ein beratender Arzt der Brit. Rheinarmee R. E. Tunbridge, ein Professor der Pariser Medizinischen Fakultät und Gerichtssachverständiger Rene Piedelievre sowie der Neuropsychiater und Major im Sanitätskorps der amerikanischen Armee Bertram Schaffner, vgl. Bericht der zur Untersuchung des Angeklagten Gustav Krupp von Bohlen ernannten Ärztekommission v. 7. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 138–145, hier S. 138 f. 353 Bericht der zur Untersuchung des Angeklagten Gustav Krupp von Bohlen ernannten Ärztekommission v. 7. Nov. 1945, IMT, Bd. I, S. 138–145, hier S. 138. 354 Fernspruch über VČ an Vyšinskij v. 8.  Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p.  41, d.  8, Bl. 48–49. 355 Vgl. den unter Mitwirkung Prof. Krasnuškins verfassten Bericht der Kommission zur Untersuchung des Angeklagten Heß v. 17. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 175–182. 356 Protokoll der vorbereitenden Verhandlung am 14. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 7–26. 357 Antrag für den Angeklagten Krupp v. 4. Nov. 1945 an das IMT betreffend Aussetzung des Verfahrens v. 4. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 135–137. 358 Beschluss des IMT über die Vertagung des Verfahrens gegen Gustav Krupp v. Bohlen v. 15. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 156.

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

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nehmend ein Interesse daran, den Prozessbeginn nach Möglichkeit um mehrere Wochen zu verschieben. Zwar sollte die sowjetische Anklage erst mit der Eröffnungsrede des sowjetischen Hauptanklägers am 8.  Februar 1946 in den für sie maßgeblichen Verfahrensabschnitt eintreten. Gleichwohl war schon für den Beginn des Prozesses am 20.  November 1945 das notwendige technische Personal, namentlich die für die Simultanübersetzung und Protokollierung notwendigen Übersetzer und Stenografisten sowie etwaige Pressesprecher, vorzuhalten. Pokrovskij und Volčkov wurden mit dementsprechenden Anweisungen versehen. Wie die über die abhörgesicherte Direktverbindung VČ (Telefonogramma po VČ) geführte Korrespondenz erkennen lässt, avancierte die Möglichkeit einer Verschiebung des Prozessbeginns spätestens Mitte November zum zentralen Anliegen der sowjetischen Prozesspolitik. Im Rahmen eines Ferngesprächs am 15. November 1945 instruierte der tatsächlich zu Konsultationen in Moskau weilende Chef­ ankläger Rudenko Volčkov dahingehend, dass einer Verschiebung des Prozesses um zwei bis drei Wochen fortan oberste Priorität einzuräumen sei. Er nehme an, dass Volčkov alles vor Ort Notwendige in die Wege zu leiten verstehen werde, um den Prozessbeginn um mindestens die in Rede stehende Zeitspanne zu verzögern. Die äußeren Umstände für den Erfolg des Anliegens stünden gut.359 Mit ähnlichen Instruktionen versah Rudenko auch Pokrovskij, der nunmehr ausdrücklich angewiesen wurde, Jackson bei seinen Bemühungen zur Änderung der Anklageschrift mit Blick auf Alfried Krupp und der hiermit notwendig einhergehenden Verschiebung des Prozessbeginns jede erdenkliche Unterstützung zu gewähren. Rudenko wies seinen Stellvertreter auch darauf hin, dass dessen gegen eine Überarbeitung der Anklageschrift gerichteten und durch keinerlei Anweisung gedeckten Äußerungen in Moskau mit Befremden aufgenommen worden seien und man mit der hierdurch ausgelösten öffentlichen Aufmerksamkeit „sehr unzufrieden“360 sei. Trotz der auch an Pokrovskij gerichteten Aufforderung, die politisch gewünschte Verschiebung des auf den 20. November 1945 anberaumten Prozessbeginns mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu betreiben, sollte das in der Sache dem defizitären Vorbereitungsstand geschuldete eigene Interesse gerade an einer Prozessverzögerung keinesfalls offen zu Tage treten. Rudenko wies Pokrovskij dementsprechend wie folgt an: „Ich wiederhole: das Wichtigste besteht darin, den Prozess um zwei, drei Wochen zu verschieben. Treffen sie alle für diese Aufgabe erforderlichen Maßnahmen, wobei die Initiative keinesfalls von uns ausgehen darf. Unterstützen sie Jackson in aktiver Form.“361

Mit der an Volčkov und Pokrovskij ausgegebenen Devise, eine Verzögerung des Prozessbeginns aktiv zu betreiben und zu diesem Zweck die Aufnahme Alfried Krupp von Bohlens in die Anklageschrift gerade mit Blick auf die erwarteten Verzögerungseffekte aktiv zu forcieren, wusste sich Rudenko in voller Übereinstimmung 359

Fernspruch über VČ von Rudenko an Volčkov und Pokrovskij v. 14. und 15. Nov. 1945, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 121, S. 287. 360 Ü. d. Verf., Fernspruch über VČ (Fn. 359), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 121, S. 287. 361 Ü. d. Verf., Fernspruch über VČ (Fn. 359), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 121, S. 287.

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

mit der Moskauer Regierungskommission, die ein solches Vorgehen im Rahmen der Sitzung am 16. November 1945 angesichts des defizitären Vorbereitungsstands in Nürnberg ausdrücklich sanktionierte.362 Einen entsprechenden Antrag der Hauptanklagevertreter vom 16. November 1945 über die Abänderung der Anklageschrift durch Einbeziehung von Alfried Krupp von Bohlen als Angeklagten, den für die UdSSR Rudenkos Stellvertreter Pokrovskij unterzeichnete363, wurde durch am 17. November verkündeten Beschluss des Gerichtshofs mit den Stimmen des britischen, französischen und amerikanischen Richters364 allerdings zurückgewiesen.365 Die aus sowjetischer Sicht begrüßenswerte Verschiebung des Prozesses konnte nun nicht mehr mit dem Erfordernis der Anklageänderung begründet werden. Gleichzeitig ließ der offenkundig unzureichende Vorbereitungsstatus einen zusätzlichen Zeitgewinn weiterhin dringend notwendig erscheinen. Darüber geben nicht nur die oben dargestellten Lageberichte von Nikitčenko und Smirnov und ihre ständigen Bitten um Aufstockung des Personals Aufschluss. Auch die Moskauer Regierungskommission zur Leitung der Tätigkeit der sowjetischen Vertreter musste den unzureichenden Vorbereitungsstand in Nürnberg wiederholt und mit wachsendem Missmut zur Kenntnis nehmen. Im Zuge der Sitzung vom 16. November  1945 monierte Vyšinskij, Rudenko hätte augenscheinlich noch keinen konsistenten Plan für die Durchführung des Prozesses entwickelt und sei auf die Durchführung des Prozesses allem Anschein nach nicht in gebührendem Umfang vorbereitet.366 Besonders dramatisch stellte sich nach wie vor die Unterausstattung der sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg mit qualifizierten Übersetzungsfachkräften dar, wobei auch die wenigen bereits vor Ort eingesetzten Kräfte den Inhalt fremdsprachiger Redebeiträge in den Sitzungen des Tribunals nicht selten stark verzerrt wiedergaben367 – ein Manko, das im Übrigen auch im späteren Prozessverlauf zu keinem Zeitpunkt endgültig überwunden werden konnte.368 362 Sitzungsprotokoll der Regierungskommission v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 75–76, hier Bl. 75, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 123, S. 290–291, hier S. 290. 363 Antrag des Kollegiums der Hauptanklagevertreter v. 16.  Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 158. 364 Vgl. zum Inhalt der Beratung des IMT am 16.  November 1945 und den bereits am Schluss dieser Sitzung gefassten Beschluss das Telefonogramm Volčkovs an Vyšinskij am 16. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 24. Der Text des Telefonogramms wurde außer den Mitgliedern der Regierungskommission auch Molotov, Berija, Malenkov und Mikojan zugeleitet. 365 Beschluss des Gerichtshofs v. 17. Nov. 1945, IMT, Bd. I, S. 159. 366 Sitzungsprotokoll der Regierungskommission v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 75–76, hier 75, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 123, S. 290–291, hier 290. 367 Vgl. hierzu den an Stalin, Molotov, Mikojan, Berija, Malenkov, Merkulov, Vyšinskij und Dekanozov weitergeleiteten Bericht der Korrespondenten der Nachrichtenagentur TASS v. 17. Nov. 1945 (Fn. 340), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 126, S. 293 (297): „Die ganze Sache leidet durch die Verzerrung der Redebeiträge durch die Übersetzer erheblich“ (Ü. d. Verf.). 368 Nach einem Zeitzeugenbericht des Historikers Michael Voslensky, der 1946 im Nürnberger Prozess selbst als Dolmetscher für die UdSSR tätig war, konnten die schwerwiegenden

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

367

Nachdem im Rahmen der Sitzung der Hauptankläger am 16. November 1945 die Frage nach dem Verbleib und der voraussichtlichen Rückkehr des zu Abstimmungszwecken in Moskau weilenden Rudenko nach Nürnberg aufgeworfen worden war, wusste sich dessen Stellvertreter Pokrovskij in Ermangelung jeglicher offizieller Sprachregelung zur Abwesenheit Rudenkos nicht anders zu behelfen, als Mutmaßungen über den Gesundheitszustand seines Vorgesetzten in den Raum zu stellen. Bereits vor der Abreise Rudenkos aus Nürnberg habe dieser seiner Wahrnehmung nach Symptome einer Malaria-Erkrankung aufgewiesen.369 Mit Telegramm vom selben Tage erbat Pokrovskij daher Instruktionen zum weiteren Vorgehen. Im Bewusstsein um die Sensibilität der Angelegenheit und in Kenntnis des Risikos unautorisierten Zugriffs auf die geführte Korrespondenz bat Pokrovskij Rudenko unter Schilderung der Sachlage im Übrigen nicht nur um allgemeine Instruktionen zu den weiteren prozessvorbereitenden Maßnahmen, sondern auch um Auskunft darüber, ob Rudenkos „Gesundheitszustand es erlauben würde, am 20. November 1945 [dem Tag des Prozessbeginns, d. Verf.] in Nürnberg zu sein oder ob die Ärzte es für angezeigt hielten, dass er noch für mehrere Tage in Moskau verbleibt“370. Am nächsten Tag, dem 17.  November, richtete Pokrovskij ein Schreiben an die anderen Delegationen, in dem er die Erkrankung Rudenkos bestätigte und um Verschiebung des Prozesses bis zur Gesundung des sowjetischen Hauptanklägers bat: „I just received the information that my suggestion made yesterday during the meeting of the Chief Prosecutors was correct  – the Chief Prosecutor for the USSR Lt. General Rudenko R. A. is sick. The state of General’s health is not so bad that a question of substituting him by another representative at the Trial should arise but at the same time the doctors consider it impossible that his arrival in Nuremberg should be possible earlier that in ten days or a fortnight. In accordance with Article 15 of the Charter the Chief Prosecutor alone may fulfill certain duties before the trial and during the same. There is no substitute to Lt. General Rudenko who has been approved by the Soviet Government. None of his assistants has the authority to represent the USSR as a Chief Prosecutor at the Trial. In this

praktischen Probleme auch während des Verfahrens nicht behoben werden. Die über die Prozesseröffnung hinaus andauernde Minderausstattung der sowjetischen Delegation beschrieb Voslensky mit folgenden Worten: „Die Akustik im Saal war schlecht, die Qualität der russischen Simultanübersetzung bescheiden. Ein mit der Antike nicht vertrauter Dolmetscher zögerte bei der Erwähnung des Trojanischen Pferdes und sagte dann ‚irgendein Pferd‘ – ein anderer beschrieb dramatisch einen Knaben, der über Bord ins Meer geworfen wurde – bis sich herausstellte, daß im Englischen ‚boy‘ und ‚buoy‘ (Boje) gleich klingen. Als wir später in Leipzig das Stenogramm mit der Originaltonbandaufnahme verglichen, mußte man den russischen Text seitenweise umschreiben.“, siehe Voslensky, „Stalin war mit Nürnberg unzufrieden“, in: Der Spiegel Nr. 41/1986, S. 55–60, hier S. 55. 369 Vgl. Telegramm Pokrovskijs an Rudenko v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 32–35, hier Bl. 33, auszugsweise wiedergegeben bei Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (91, Fn. 37). 370 Telegramm Pokrovskijs an Rudenko v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 32–35, hier Bl. 33, auszugsweise wiedergegeben bei Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (91, Fn. 37).

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F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

connection I beg the Committee of the Chief Prosecutors to inform the Tribunal of the impossibility to open the Trial on 20-th of November 1945 because of those unforeseen circumstances till the recovery of the Chief Prosecutor for the USSR.“371

Die von der plötzlichen Malaria-Diagnose372 wenig überzeugte373 britische Delegation erwiderte ebenfalls schriftlich, sie sähe keine Möglichkeit, der von­ Pokrovskij vorgetragenen Bitte um Verschiebung des Prozessbeginns entgegen zu kommen, da Rudenkos erstes Auftreten vor Gericht ohnehin erst für einen späteren Zeitpunkt, nämlich drei bis vier Wochen nach Prozessbeginn, vorgesehen sei.374 Noch am 18. Dezember 1945 berichtete Pokrovskij nach Moskau, dass er in der für den nächsten Tag anberaumten Sitzung der Hauptankläger die sowjetische Forderung nach Verschiebung des Prozesses weiter forcieren wolle.375 ­Pokrovskij berichtete auch, dass die ebenfalls mit massiven organisatorischen Widrigkeiten konfrontierte französische Seite376 ihm bereits auf informalem Wege Unterstützung signalisiert habe, dies allerdings nur in mündlicher Form. Er bat um Direktiven für sein weiteres Vorgehen, insbesondere auch zu der Frage, ob er den anderen Anklageteams notfalls gar die Ankündigung unterbreiten solle, dass die sowjetische Delegation im Falle fortgesetzter Verweigerung gegen die angetragene Vertagung bei der Eröffnung des Prozesses mit ihren Vertretern schlicht nicht anwesend sein könnte.377 Vyšinskij indes wies Pokrovskij am Folgetag an, bis zu einer allfälligen Entscheidung des Tribunals in dieser Sache keine weiteren Erklärungen abzuge 371 Mitteilung Pokrovskijs an die Chefankläger v. 17. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d.  404, Bl.  225 = GARF, f. R-7445, op. 2, d.  6, Bl.  225a; auszugsweise zit. bei Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (91, Fn. 37), hier zit. nach der engl. Fassung, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 225b. 372 Zu den auf westalliierter Seite allgemein gehegten Zweifeln am Wahrheitsgehalt dieses von sowjetischer Seite vorgetragenen Hinderungsgrundes siehe etwa Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 199, der die Diagnose selbst jedoch angesichts der im November in Moskau vorherrschenden Bedingungen für derart fernliegend hielt, dass er ihr gerade deshalb erhöhte Glaubwürdigkeit beizumessen bereit war: „[…] ich selbst bin stets der Ansicht gewesen, wenn diese Behinderung ausschließlich diplomatische Gründen gehabt hätte, dann hätte der Kreml sie auf eine näherliegende Krankheit als Malaria zurückgeführt, die man gemeinhin nicht mit Moskau im November verbindet.“ 373 Siehe zu dem von britischer Seite erhobenen Vorwurf, bei Rudenkos behaupteter Erkrankung handele es sich augenscheinlich um eine „malaria of the diplomatic variety“, Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 144 m. Quellennachw. auf S. 174 (zu Endnote 2); zu diesem Zitat auch Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 39 („Malaria diplomatischer Art“). 374 Vgl. hierzu Telegramm Pokrovskijs an Rudenko v. 18. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 68. Über die ablehnende Haltung Großbritanniens berichtete am 19. Nov. 1945 auch Semenov an Vyšinskij, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 57–58 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 79–80, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 128, S. 299–300. 375 Telegramm Pokrovskijs an Rudenko v. 18. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 68. Eine Abschrift des Telegramms wurde auch Molotov, Berija, Malenkov und Mikojan zugeleitet. 376 Auch die französischen Vorbereitungen waren Mitte November noch nicht zu einem Abschluss geführt worden, Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 144. 377 Telegramm Pokrovskijs an Rudenko v. 18. Nov. 1945 (Fn. 375), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 68.

IV. Unmittelbare Prozessvorbereitungen in Nürnberg

369

ben.378 Auf der nächsten Sitzung der Hauptankläger am 19. November 1945 trat auch das amerikanische Team dem sowjetischen Ersuchen um Vertagung des Prozessbeginns dezidiert entgegen.379 Jackson machte deutlich, dass die amerikanische Öffentlichkeit ebenso wie die amerikanische Regierung auf eine Verschiebung des Prozessbeginns aus derartigem Grund äußerst ablehnend reagieren würden. Jede weitere Verzögerung könnte dort als Unvermögen auf Seiten der Anklage und der Richterschaft gewertet werden, der mit dem Prozess einhergehenden Herausforderungen Herr zu werden.380 Der Vertreter des französischen Haupt­anklägers trug in Antizipation entsprechender sowjetischer Androhungen indes vor, dass die französische Delegation entsprechend einer Direktive des ­französischen Anklägers­ Dubost an der Eröffnung des Prozesses nicht würde teilnehmen können, wenn der sowjetische Hauptankläger nicht von Anfang an zugegen sei.381 Dieses Junktim der französischen Anklage wurde indes unter dem Vorbehalt formuliert, dass die sowjetischen Repräsentanten den fortdauernden französischen Bemühungen um eine sofortige Anklage von Alfried Krupp382 volle Unterstützung gewähren würden383. 378

Vgl. hierzu den handschriftlichen Vermerk Vyšinskijs v. 19. Nov. 1945 unter dem Telegramm Pokrovskijs an Rudenko (Fn. 375), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 68: „Zu diesem Telegramm hat Pokrovskij die Anweisungen erhalten: 1) Keine Erklärungen abzugeben. bis uns eine Entscheidung des Tribunals mitgeteilt wird; 2) klarzustellen, welche Zeiträume für die Eröffnungsreden der Ankläger vorgesehen sind.“ 379 Fernspruch über VČ von Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 75–76 = AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 36–37 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 83–84, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301–302. 380 Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (302). 381 Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (302); zur Berufung Dubosts auf eine entsprechende interne Weisungslage auch Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 198. 382 Auch nach der Ablehnung des Antrags auf Einbeziehung Alfried Krupps in die Anklageschrift durch das IMT (Fn.  365) offenbarte Frankreich weiterhin erhebliches Interesse an einer Anklage Krupps. Die Bemühungen richteten sich nunmehr darauf, eine „neue/ eigenständige“ Anklage gegen Krupp einzubringen und dessen Fall aus Gründen der Praktikabilität parallel zu dem der bereits aktuell Angeklagten zu verhandeln, siehe Erklärung der französischen Anklagevertretung zu dem Beschluss des Gerichtshofes über die Ablehnung des Antrages auf Ergänzung der Anklageschrift v. 20. Nov. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S.  160–161. Die Briten erklärten sich bereit, öffentlich zu verlautbaren, dass man an einer Anklage gegen Krupp arbeite, der Prozess jedoch zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden würde. Pokrovskij hielt den britischen Vorschlag für zweckmäßig, siehe zum Vorstehenden Semenov an ­Vyšinskij am 19.  Nov. 1945 (Fn.  379), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  130, S. 301 (302). 383 Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (301). Nach einem Bericht an das britische Außenministerium zur Sitzung am 19. Nov. 1945 gingen jedenfalls die britischen Sitzungsteilnehmer davon aus, dass der von sowjetischer wie französischer Seite vorgetragene Wunsch, „eine Verschiebung herbeizuführen, und möglicherweise auch schon ihre vorherige Einstellung zur Einbeziehung von Alfried Krupp, in Wirklichkeit darauf zurückzuführen waren, daß beide Delegationen noch nicht mit den Vorbereitungen fertig waren, obwohl beide öffentliche vor der Presse das Gegenteil erklärten“, wiedergegeben nach Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 200.

370

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

Das Komitee der Hauptankläger (vgl. Art. 14 Abs. 2 und 3 des IMT-Statuts) fasste daraufhin den Beschluss, sich zwar als Komitee für eine Verschiebung des Prozesses nicht auszusprechen, gegen einen entsprechenden Antrag der sowjetischen Anklage aber auch keinen Einspruch zu erheben.384 Ihre Bemühungen um Verschiebung des Prozessbeginns gab die sowjetische Regierung sodann indes gleichsam in letzter Minute auf.385 Vyšinskij setzte die britische und amerikanische Botschaft darüber in Kenntnis, dass der vorgesehenen Eröffnung der Verhandlung am 20.  November  1945 von sowjetischer Seite keine Einwände entgegen stünden.386 Noch am 19. November berichtete ­Vyšinskij sodann an Molotov, Malenkov, Berija und Mikojan, dass das sowjetische Einverständnis damit, den Prozess wie geplant am 20. November 1945 zu eröffnen, von sämtlichen Repräsentanten der verbündeten Länder mit großer Erleichterung aufgenommen worden sei.387 Über die Motive für die unvermittelte sowjetische Abstandnahme von der zuvor noch kategorisch vorgetragenen Forderung nach Vertagung der Eröffnungsverhandlung um mindestens zwölf Tage liegen schriftliche Aufzeichnungen nicht vor. Dass die sowjetische Seite durch eine von britischer Seite kurzerhand veranlasste Beistellung einiger weiterer Übersetzungs- und Schreibkräfte zum Einlenken bewogen worden sein könnten388, erscheint angesichts der Defizite, die über unzureichende personelle Ressourcen in organisatorischer Hinsicht weit hinausreichten, indes wenig naheliegend. Die Kehrtwende dürfte vielmehr jedenfalls auch der Einsicht in die für den Fall eines Boykotts der Eröffnungsverhandlung durch die sowjetische – und in der Konsequenz wohl auch die französische – Delegation zu gewärtigenden diplomatischen Weiterungen geschuldet gewesen sein. Ein gänzliches Fernbleiben der Anklagevertreter gleich der Hälfte der IMT-Signatarstaaten schien geeignet, ein verheerendes Signal in Bezug auf das Schicksal des weiteren Prozessverlaufs auszusenden und die Legitima­ tionsgrundlagen des gesamten Verfahrens in Frage zu stellen. Darüber hinaus barg auch der britische Hinweis auf den erst mehrere Wochen nach Prozessbeginn vorgesehenen ersten Verfahrensabschnitt mit aktiver sowjetischer Beteiligung389 ein nur schwerlich von der Hand zu weisendes Überzeugungspotential, dem mit dem schlichten Hinweis auf formelle Anwesenheitserfordernisse nur schwerlich zu begegnen war. Dies galt umso mehr angesichts des Umstandes, dass sich Pokrovskij seinen Aufgaben als Vertreter Rudenkos während der von ihm wahrgenommenen 384 Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379) hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (302). 385 Vgl. hierzu auch Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 198 f. 386 Schreiben Vyšinskijs an Molotov, Malenkov, Berija und Mikojan, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 57 = AVP RF, f. 06, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 38, auszugsweise wiedergeben bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 133, S. 304 (305, Anm. 1). 387 Siehe oben Fn. 386. 388 Vgl. Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 144. 389 Den sowjetischen Verfahrensabschnitt eröffnete Rudenko tatsächlich erst am 8.  Februar 1946, siehe die Eröffnungsrede Rudenkos am 8. Feb. 1946, abgedr. in IMT, Bd. VII, S. 166–218.

V. Fazit

371

vorbereitenden Verhandlungen390 vor dem IMT vollauf gewachsen gezeigt hatte. Überdies war dem sowohl von französischer als auch sowjetischer Seite im Laufe der Sitzung der Anklagevertreter am 19. November zur Rechtfertigung der Notwendigkeit weiterer Verzögerungen391 wiederum aufgegriffenen Anliegen einer Einbeziehung Alfried Krupps in die Anklageschrift mit der in diesem Zusammenhang von britischer Seite erklärten Zusicherung392 in weiten Teilen der Boden entzogen worden. Dieser Erkenntnis vermochte sich auch Pokrovskij nicht zu verschließen, der die Eröffnung eines separaten Prozesses über Krupp in Gegenwart des Anklägerkollegiums als zweckmäßig bezeichnen musste und vor diesem Hintergrund erneute Instruktionen aus Moskau anforderte.393 In Abwesenheit Rudenkos konnte der Prozess sodann am 20. November 1945 planmäßig mit einer Eröffnungsrede des Vorsitzenden und der Verlesung eines ersten Teils der Anklageschrift durch den amerikanischen Ankläger Alderman beginnen.394

V. Fazit Wie bereits in früheren Stadien sollte sich die völlig unzureichende personelle und sachliche Ausstattung der sowjetischen Repräsentanten zunächst in London, sodann in Nürnberg, auch in der Phase der Anklagevorbereitung als Konstante erweisen. Trotz wiederholter Aufrufe der maßgeblichen Akteure vor Ort395 390 Protokoll der vorbereitenden Verhandlung am 14. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 7–26, hier S. 21; Protokoll der vorbereitenden Verhandlung v. 15. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 27–35, hier S. 34; Protokoll der vorbereitenden Verhandlung v. 17. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 36–38, hier S. 38. 391 Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 144; vgl. aber auch Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 200, dort auch zu der Annahme Jacksons, bei dem französischen Ankläger Dubost handele es sich um einen ‚mutmaßlichen‘ Kommunisten, der mit den Sowjets nur allzu gerne gemeinsame­ Sache machte. 392 Der britische Chefankläger Shawcross hatte im Rahmen der Sitzung der Hauptankläger am 19. Nov. 1945 angekündigt, sich der Forderung nach Anklage Krupps – über die allerdings im Rahmen eines gesonderten Verfahrens entschieden werden müsste – durch öffentliche Erklärungen anzuschließen, siehe Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (301 f.). 393 Siehe Schreiben Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945 (Fn. 379), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 130, S. 301 (302). 394 Protokoll der Sitzung v. 20. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 39–110. 395 Vgl. den von Nikitčenko an Vyšinskij am 5. Sept. 1945 vorgelegten Maßnahmenkatalog (Fn. 51), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 1 (3–6), die erneute Bedarfsanforderung­ Nikitčenkos gegenüber Vyšinskij v. 12. Sept. 1945 (Fn. 58), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 4, den Bericht Ivanovs in seiner Eigenschaft als Interimsvertreter der sowjetischen Anklage an Vyšinskij v. 13. Sept. 1945 (Fn. 61), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 14–16, den Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (12), den Bericht Rudenkos an Vyšinskij, 30. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d.  10, Bl.  45–47 und den Bericht Nikitčenkos und Smirnovs an Vyšinskij v. 9.  Nov. 1945 (Fn. 295), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 115–116.

372

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

und entsprechender Sachstandsberichte ortsnaher Sowjetfunktionäre396 reagierte die sowjetische Führung namentlich in Gestalt der Regierungskommission nur schwerfällig auf die immer akuter formulierten Bedarfsanmeldungen aus Mitteleuropa. Neben unzureichenden materiellen Ressourcen war es vor allem der Mangel an ausreichend qualifiziertem, v. a. sprachkundigem Personal, der die Arbeit der sowjetischen Repräsentanten vor Ort zu einer alltäglichen Herausforderung am Rande des organisatorischen Existenzminimums werden ließ. Vieles spricht dafür, dass die wiederholten Hilferufe aus Europa im schwerfälligen Verwaltungsapparat der Moskauer Machtzentrale auch deshalb weitgehend wirkungslos verhallten, weil man in Bezug auf das Leistungsvermögen der Akteure in den Sowjetdelegationen ein reichlich unrealistisches Vorstellungsbild kultivierte. Von derartigen Fehlvorstellungen zeugt etwa die in Moskau gehegte Erwartungshaltung, die Londoner Sowjetdelegation könne die Übersetzung selbst umfangreicherer Texte ohne größere Mühe zeitnah und fehlerfrei bewältigen397, obwohl sich Rudenko in Er­mangelung eigener Schreibkräfte streckenweise nicht einmal im Stande sah, seine Berichte nach Moskau in maschinenschriftlicher Form abzusetzen.398 Auch die von Vyšinskij in einer entsprechenden Personalanforderung Nikitčenkos eigenhändig vorgenommenen Korrekturen des angemeldeten Bedarfs nach unten399 veranschaulichen, wie wenig Bedeutung man den wiederholten Brandbriefen aus London und Nürnberg in der Sache einzuräumen geneigt war. Hinzu trat ein langwieriges Genehmigungsverfahren bei Personalabstellungen ins Ausland, das selbst bei für fachlich geeignet befundenem Personal weitere persönliche Überprüfungen etwa auf die politische Zuverlässigkeit vorsah. Vor dem Hintergrund der praktischen Widrigkeiten, mit denen sich die sowjetischen Vertreter bei ihren Vorbereitungsarbeiten konfrontiert sahen, nimmt es nicht Wunder, dass die Sowjet­delegationen im Vergleich zum Arbeitsfortschritt insbesondere der Amerikaner und Briten rasch ins Hintertreffen gerieten und alsbald den Anschluss ganz verloren hatten. In der Folge sah man sich gezwungen, zur Anklagedokumentation weitgehend auf amerikanisches Quellenmaterial zurückzugreifen und sich zu Übersetzungszwecken sogar fremden Personals zu bedienen. Dass die Anklagevorbereitung in der Sache durch westalliierte Initiativen angetrieben wurde und den redaktionellen Arbeiten am Anklageentwurf amerikanische bzw. später bri-

396 Vgl. hierzu den nach dem Amtsantritt Rudenkos verfassten Bericht des vormaligen Interimsvertreters Ivanov an Vyšinskij v. 27. Sept. 1945 (Fn. 27), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 18–20; Nachricht Semenovs an Vyšinskij v. 31. Okt. 1945 (Fn. 331), AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 94–95. 397 Schreiben Vyšinskijs an Rudenko v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40–43, hier Bl. 43. 398 Vgl. den handschriftlich verfassten und mit entsprechender Entschuldigung versehenen Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10–13; Bericht Rudenkos an Vyšinskij v. 18. Sept. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 10–11. 399 Siehe die entsprechenden handschriftlichen Korrekturen Vyšinskijs in dem an ihn adressierten Schreiben Nikitčenkos v. 12. Sept. 1945 (Fn. 58), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 4.

V. Fazit

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tische Vorlagen zugrunde lagen, ist nicht einem geschickten Taktieren der West­ alliierten, sondern dem weitgehenden Versagen des sowjetischen Verhandlungs­ apparats geschuldet, der das Heft des Handelns längst aus der Hand gegeben und sich auf bloß reaktive bzw. verzögernde Maßnahmen zurückgezogen hatte. Als zentrales und trotz aller Widrigkeiten weitgehend erfolgreich verfolgtes Motiv bei der sowjetischen Mitwirkung an der Anklagegestaltung erwies sich das Anliegen, die offene oder verdeckte Aufnahme vermeintlicher oder tatsächlicher politischer Präjudizien in den Anklagetext zu unterbinden oder umgekehrt eigene Wertungen in die Anklageschrift hineinzutragen. Die einzelnen Passagen der Anklageschrift gerieten dabei nicht selten unversehens zum Gefechtsfeld im Kampf um die politische Deutungshoheit in Bezug auf zurückliegende historische Ereignisse, deren Aufarbeitung nicht einmal begonnen hatte. Mit der Unterschriftsleistung unter das gemeinsame Dokument drohte der jeweilige Signatar­staat nämlich, bestimmte Interpretationen und Wertungen nicht nur vor den Angeklagten, sondern vor der Weltöffentlichkeit verbindlich anzuerkennen oder er lief jedenfalls Gefahr, dass bestimmte Formulierungen im Wege der Analogiebildung im Nachgang unversehens auch gegen ihn selbst gerichtet werden konnten. Wenn sich die sowjetische Führung daher gegen die Aufnahme politisch kontroverser Bewertungen kategorisch verwahrte400, so galt dies tatsächlich vor allem in Bezug auf für sie nachteilige oder die Partner begünstigende Interpretationen. Von Erfolg gekrönt war insofern etwa der sowjetische Widerstand401 gegen die im britischen Entwurf der Anklageschrift noch anklingende Teilexkulpation der am Abschluss des ­ Münchener Abkommens mit Hitlerdeutschland mitwirkenden westalliierten Akteure402 oder die im Zusammenhang mit dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts angedeutete inhaltliche Verbindungslinie zum späteren deutschen Überfall auf Polen.403 Dass das von der sowjetischen Führung formulierte Gebot der politischen Neutralität der Anklageschrift im Falle gleichfalls kontroversenbehafteter, aber ihr günstiger Wertungen indes keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen sollte, belegt etwa der von der Sowjetunion erfolglos unternommene Versuch, die einleitende Passage zum deutsch-sowjetischen Nicht­angriffs­pakt mit dem Zusatz zu versehen, NS-Deutschland habe den Nicht­angriffs­pakt bereits mit dem „Ziel einer Lüge“ abgeschlossen, um so die sowjetische Abwehrbereitschaft zu schwächen.404 Gleiches gilt für die ebenfalls

400 Ziff. 6 des Forderungskatalogs v. 16.  Okt. 1945 (Fn.  222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (262). Vgl. hierzu die auszugsweise Übersetzung ins Deutsche im Text zu Fn. 251. 401 Hierzu Ziff. 7 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). 402 Siehe oben Fn. 101. 403 Vgl. Ziff. 8 der sowjet. Änderungsvorschläge v. 23. Sept. 1945 (Fn. 97), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 40 (41). 404 Ziff. 1 der Änderungsvorschläge v. 13.  Okt. 1945 (Fn.  201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257).

374

F. Der sowjetische Beitrag zur Anklagevorbereitung

weitgehend gescheiterten Bemühungen, die in der englischen Fassung enthaltene Aufzählung von der ethnischen Verfolgung zum Opfer gefallenen Gruppen­ („Juden und Zigeunern“) auf sämtliche „Slawen“ zu erstrecken405 oder die letztlich durch einen Federstrich Stalins unterbundenen406 Bestrebungen, die im britischen Entwurf der Anklageschrift enthaltenen Ausführungen zur Errichtung der Ein­ parteienherrschaft der NSDAP durch Formulierungen zu ergänzen, die jegliche Übertragbarkeit auf die VKP(b) hätten ausschließen sollen.407

405 Ziff. 5 der Änderungsvorschläge v. 13. Okt. 1945 (Fn. 201), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 95, S. 255 (257). In der endgültig verabschiedeten Fassung der Anklageschrift wird im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten (IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 47–54 [Anklagepkt. Drei, Abschn. A) vielmehr auf „insbesondere Juden, Polen, Zigeuner usw.“ Bezug genommen (ebd., S. 47). 406 Handschriftliche Korrekturen Stalins auf dem ihm vorgelegten Entwurf des Forderungskatalogs (Fn. 222), AVP RF, f. 07, op. 7, p. 20, d. 208, Bl. 27 (28–29). 407 Ziff. 4 des Forderungskatalogs v. 16. Okt. 1945 (Fn. 222), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 98, S. 260 (261).

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung I. Struktur und personelle Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn Zu Prozessbeginn besetzte die sowjetische Delegation wie vorgesehen die ihr zugedachten Positionen in den unterschiedlichen Funktionsebenen des IMT. Auf der Richterbank nahmen für die UdSSR der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR, Generalmajor der Justiz Iona Tomofeevič Nikitčenko1, sowie sein Stellvertreter, Oberstleutnant der Justiz Aleksandr Federovič Volčkov2, Platz.3 In das Sekretariat des Internationalen Militärtribunals4 abgeordnet wurde von sowjetischer Seite zunächst der auf der ersten organisatorischen Sitzung des Gerichts am 9. Oktober 1945 ernannte5 und am 19. November 1945 gemeinsam mit anderen Tribunalssekretären vereidigte6 Vasilij Jakovlevič Kolomackij7, der am 1. Dezember 1945 sodann von Arkadij Iosifovič Poltorak8 abgelöst werden sollte.9 Die sowjetische Anklage wurde von dem zum Zeitpunkt seiner Ernennung erst 38 Jahre alten Hauptankläger Roman Andreevič Rudenko10 angeführt. Neben seinen 1

Für biograph. Nachw. siehe Kap. B., Fn. 105. Für biograph. Nachw. siehe Kap. F., Fn. 220. 3 Während der Verhandlungen trugen einzig die sowjetischen Richter militärische Uniformen, während die übrigen Richter in der in ihren Ländern üblichen Amtstracht auftraten. Die Entscheidung zugunsten des Erscheinens in Militäruniformen war dem Umstand geschuldet, dass das sowjetische Justizsystem jenseits militärischer Uniformen spezifisch richterliche Amtstrachten nicht vorsah. Gegenüber der von sowjetischer Seite erwogenen Alternative, das Richteramt in Zivilkleidung wahrzunehmen, hielt es das Richterkollegium für angeraten, den sowjetischen Mitgliedern des Tribunals das Erscheinen in Militäruniform zu empfehlen, siehe Telegramm v. Volčkov an Nikitčenko (o. D., Mitte Dez. 1945), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 29–30. 4 Vgl. zu dessen Funktion und Zusammensetzung Vorschrift 8 derVerfahrensordnung des IMT v. 29. Okt. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 20–25, hier S. 23. 5 Protokoll der organisatorischen Sitzung v. 9. Okt. 1945, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2609, Bl. 162–164, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 92, S. 253–254. 6 Protokoll der organisatorischen Sitzung v. 19. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2608, Bl. 139–140, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 129, S. 300–301. 7 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (557). 8 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (572). 9 Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (79); Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (38). 10 Rudenko stammte als Sohn einer Bauernfamilie aus ärmlichen Verhältnissen. Nach dem Abschluss der siebten Klasse im Jahr 1922 verdingte er sich seit seinem 15. Lebensjahr als Hilfsarbeiter in einer Zuckerfabrik. Bereits in diesem Zusammenhang betrieb er aktive Parteiarbeit 2

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Eröffnungs-11 und Abschlussreden12 führte Rudenko in der Hauptverhandlung zahlreiche Zeugenvernehmungen13 und Kreuzverhöre gegenüber Angeklagten14 und Zeugen15 durch. Seine Vertretung übernahm der ehemalige Militärstaatsanwalt und kurz vor der Prozesseröffnung aus Gründen der Rangparität im Verhältnis zu den übrigen Anklagestellvertretern in den Rang eines Obersten der Justiz erhobenen16 und engagierte sich als Aktivist des Komsomol. Im Jahr 1926 trat er mit 19 Jahren in die kommunistische Partei ein. Seit 1929 nahm Rudenko Funktionen in den Organen der Staats­ anwaltschaft wahr, zunächst in den Städten Nižin, Cernigov, Borislav, Nikolaev und Mariupol’. 1933 wurde er zum Assistenten des Staatsanwalts und im Jahr 1936 zum Staatsanwalt von ­Makiivka berufen. Seit 1936 fungierte er zudem zunächst als stellvertretender, seit der Verhaftung seines Vorgängers im Oktober 1937 sodann als Erster Generalstaatsanwalt im Bezirk Donezk. Nach Darstellung Zalesskijs war Rudenko involviert in die massiven staatlichen Repressionen, die jener Tage auf dem Boden der Ukraine um sich griffen. Gegen offenkundig willkürliche Arrestanordnungen und Falsifizierung von Belastungsmaterial schritt Rudenko demnach nicht ein, vgl. hierzu Baberowski, Verbrannte Erde, S. 395. Nach seiner Suspendierung im Jahr 1940 besuchte Rudenko seit September 1940 als Gasthörer Kurse an der Rechtsakademie und schrieb sich gleichzeitig am externen Ableger der Moskauer Rechtsschule des Volkskommissariats der Justiz ein. Die Kurse beendete er am 27. Juni 1941, das Examen an der Rechtsschule legte er am 1. Juli 1941 ab. Bereits im Juni 1941 wurde Rudenko daraufhin zum Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft der UdSSR ernannt, 1942 zum stellvertretenden, 1944 schließlich zum ersten Generalstaatsanwalt der Ukrainischen Sowjetrepublik berufen. Nach Stalins Tod 1953 rückte Rudenko in das Amt des Generalstaatsanwalts der UdSSR auf, eine Position, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1981 bekleiden sollte. 1953 leitete er die Vorbereitung der Anklage gegen L. P. Berija wegen parteiinterner Verschwörung. Für biograph. Nachw. siehe Zalesskij, Kto est’ kto, S. 504 (Eintrag Rudenko); Zvjagincev, Njurnbergskij nabat, S. 159–166 (mit Abdruck einer handschriftlich verfassten Autobiografie R ­ udenkos v. 20. April 1944); Zvjagincev, Rudenko, S. 17 ff.; Zvjagincev/Orlov, Prokurory dvuch ėpoch, S. 205 ff. 11 Eröffnungsrede v. 8. Febr. 1946, IMT, Bd. VII, S. 166–218; russ. Fassung abgedr. in Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 573–615 u. 632–636 (Fortsetzung). 12 Seine Abschlussrede zu den Einzelangeklagten hielt Rudenko am 29. u. 30. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 639–694 sowie IMT, Bd. XX, S. 7–21; russ. Fassung abgedr. in Rekunkov/ Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 469–524; sein Plädoyer gegen die Organisationen datiert vom 30. Aug. 1946, IMT, Bd. XXII, S. 352–376; russ. Fassung abgedr. in Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 7, S. 683–735. 13 Vernehmung von Friedrich Paulus am 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 283–291; Maurice Lampe am 25. Jan. 1946, IMT, Bd. VI, S. 216–217; François Boix am 29. Jan. 1946, IMT, Bd. VI, S. 300–301; Erwin Lahousen am 30. Nov. 1946, IMT, Bd. II, S. 518–523. 14 Hermann Göring am 21.–22. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 684–720; Joachim v. Ribbentrop am 2. April 1946, IMT, Bd. X, S. 479–500; Wilhelm Keitel am 5. April 1946, IMT, Bd. X, S. 671–700; Alfred Rosenberg am 17. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 618–639; Hans Fritzsche am 28. Juni 1946, IMT, Bd. XVII, S. 215–255. 15 Erhard Milch am 11. März 1946, IMT Bd. IX, S. 149–154; Paul Körner am 12. März 1946, IMT, Bd. XI, S. 190–197. 16 Rudenko hatte Vyšinskij um eine entsprechende Beförderung des bisherigen Oberstleutnants Pokrovskij ersucht, um einen rangmäßigen Gleichlauf mit den auf Seiten der übrigen Anklagedelegationen auftretenden Stellvertretern herzustellen, siehe Schreiben Rudenkos an Vyšinskij v. 17. Sept. 1945 (o. Kap. F, Fn. 70), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 10 (12).

I. Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn

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Jurij Vladimirovič Pokrovskij.17 Pokrovskij trug die Anklage wegen Verbrechen gegen den Frieden, dem Angriff auf die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien18, Verbrechen im Umgang mit Kriegsgefangenen19 und präsentierte die sowjetische Stellungnahme zu den Tötungen in Katyn20. Er führte zudem eigenständig Zeugenvernehmungen21 und Kreuzverhöre22 durch. Zu Rudenkos Hilfsanklägern zählten Staatsjustizrat II. Klasse Mark Jurievič Raginskij23, Oberstaatsjustizrat Lev Nikolaevič Smirnov24, Staatsjustizrat II. Klasse Lev Romanovič Šejnin25, seit Mitte 17

Pokrovskij, Jurij Vladimirovič (1902–1953), bekleidete als ehemaliger Militärstaats­anwalt seit seiner Ernennung zum Stellvertreter Rudenkos den Rang eines Obersten der Justiz, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (571); Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 55. 18 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 223–272; russ. Fassung auszugsweise abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 138–152 (Polen); ebd., S. 340–352 (Jugoslawien). 19 Protokoll der Verhandlung v. 13. u. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 381–482. 20 Protokoll der Verhandlung v. 11. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 476–477. 21 Otto Ohlendorf am 3. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 365–370; Dr. Franz Blaha am 11. Jan. 1946, IMT, Bd. V, S. 203–208; Dr. Eugen A. Kiveliša (protokollierte Schreibweise Kiwelischa) am 26. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 299–307; Adolf Westhoff am 10. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 205–211; Erich von dem Bach-Zelevski am 11. Mai 1946, IMT, Bd. IV, S. 534–538. 22 Karl Dönitz am 10. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 437–445; Erich Raeder am 20. Mai 1946, IMT, Bd. XIV, S. 244–253; Alfred Jodl am 7. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 559–571. 23 Raginskij, Mark Jurievič (1903–1991), war seit 1923 in den Organen der Staatsanwaltschaft aktiv, zunächst auf lokaler Ebene, seit 1934 als Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft der UdSSR und Hilfsstaatsanwalt. Während des Krieges bekleidete er die Position des Leiters einer operativen Gruppe der Staatsanwaltschaft zur Kontrolle der Munitionsherstellung, seit Mai 1942 war er als Bevollmächtigter des Staatlichen Verteidigungskomitees in eine Munitionsfabrik abgeordnet, vgl. Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 56 f.; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (574). In der Hauptverhandlung trug Raginskij die Anklage zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten und willkürliche Zerstörung von Städten und Dörfern vor, siehe Protokolle der Verhandlungen v. 21.–22. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 64–148. Er befragte den Zeugen Joseph A. Orbeli am 22. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 142–146, und führte am 7. Mai 1946 mit Walter Funk, (IMT, Bd. XIII, S. 204–219), am 21. Juni 1946 mit­ Albert Speer (IMT, Bd. XVI, S. 617–639) und am 25. Juni 1946 mit Constantin v. Neurath (IMT, Bd. XVII, S. 86–106) Kreuzverhöre durch. 24 Smirnov, Lev Nikolaevič (1911–1986), war seit 1934 in der Staatsanwaltschaft tätig, u. a. als Generalinspektor der Staatsanwaltschaft im Bezirk von Leningrad und Murmansk sowie der städtischen Staatsanwaltschaft von Leningrad. Ab 1941 war Smirnov in der Militärstaatsanwaltschaft beschäftigt. Nach dem Nürnberger Prozess bekleidete Smirnov u. a. die Position des Präsidenten der Assoziation der sowjet. Juristen, Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 57 f.; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (580). Während der Hauptverhandlung trug Smirnov den Abschnitt zu Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung der UdSSR, Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien vor (am 14. u. 19. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 482–661). Ihm wurde ferner im Juli 1946 das Kreuzverhör der zusätzlichen Zeugen der Verteidigung und die Befragung der Zusatzzeugen der sowjet. Anklage im Fall von Katyn übertragen, 1.–2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 301–407. Ausf. in diesem Kap. Absch. III. 3. a), bb), (3). 25 Šejnin, Lev Romanovič (1906–1967), Staatsjustizrat II. Klasse sowie Schriftsteller und Filmemacher. Šejnin war seit 1923 in der Staatsanwaltschaft tätig und leitete die Ermittlungsabteilung der Staatsanwaltschaft der UdSSR über einen Zeitraum von 12 Jahren. Er galt in dieser Zeit als ‚Spezialist für politische Angelegenheiten‘ und rechte Hand von ­Andrej ­Vyšinskij,

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Dezember auch Staatsjustizrat III. Klasse Nikolaj Dmitrievič Zorja26. Als Hilfs­ ankläger fungierten ferner der Leiter der Dokumentationsabteilung Karev27, Oberstleutnant Z. A. Ozol’28 und der Mitarbeiter des NKGB Vadim Vitol’dovič Kučin29. Die offizielle Ernennung der Hilfsankläger Pokrovskij und Ozol’ erfolgte formell durch einen Beschluss des Politbüro ZK VKP(b).30 Eine entsprechende Entscheidung des Politbüro ZK VKP(b)  ist in Bezug auf die übrigen Rudenko unterstellten Hilfs­ ­ yšinskijs ankläger formell zwar nicht ergangen.31 In Anbetracht des Schreibens V und des Generalstaatsanwalts der UdSSR Goršenin an Stalin und ­Molotov vom 28. Dezember 1945, in welchem um die offizielle Anerkennung der übrigen Mitarbeiter Smirnov, Šejnin, Raginskij und Piradov in der Funktion sowjetischer Ankläger ersucht wurde32, ist jedoch anzunehmen, dass eine ‚Ernennung‘ durch ­Stalin zumindest in informeller Form erfolgt ist. siehe Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 58–60; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, I­ mennoj ukazatel’, S. 533 (590 f.). In der Hauptverhandlung trug er zum Anklagepunkt Plünderung von Privat-, öffentlichem und Staatseigentum in den östlichen Gebieten vor, Protokoll der Verhandlung v. 20. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 7–63 (u. Fn. 212). 26 Zorja, Nikolaj Dmitrievič (1907–1946), bekleidete zunächst Funktionen auf der Ebene der regionalen Staatsanwaltschaften, u. a. in Pjatigorsk, Tambov und Voronež. Während des Krieges war er als stellvertretender Frontstaatsanwalt eingesetzt. Im Jahr 1944 wurde Zorja zum rechtlichen Berater des sowjet. Repräsentanten im sog. polnischen Komitee der nationalen Befreiung berufen. 1945 wurde er zum Hilfsstaatsanwalt in der Staatsanwaltschaft der UdSSR ernannt, siehe Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 55 f.; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj­ ukazatel’, S. 533 (552). In der Hauptverhandlung trug Zorja zum Angriff gegen die Sowjetunion vor (11. bis 13. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 274–282, 292–309, 337–342, 349–381 u. Fn. 209), befragte den Zeugen Erich Buschenhagen (12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 343–349) und führte das Kreuzverhör von Adolph von Steengracht (27. März 1946. IMT, Bd. X, S. 169–176). 27 Zur Person siehe unten Fn. 39. In der Hauptverhandlung schilderte Karev als Anklagevertreter im Anschluss an Rudenkos Eröffnungsrede am 8. Feb. 1946 (Fn. 11) den Ablauf des sowjetischen Beweisvortrags und die Reihenfolge, in der die sowjetischen Anklagevertreter ihre Vorträge halten würden (8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 219–223). Darüber hinaus präsentierte er am 1. Aug. 1946 Dokumente über die Tätigkeit der Gestapo, (1. Aug. 1946, IMT, Bd. XX, S. 203 f.). 28 Ozol’ verlas am 21. Nov. 1945 für die UdSSR einen Teil der Anklageschrift, nämlich zu Anklagepunkt drei (Kriegsverbrechen in den östlichen Ländern), IMT, Bd, II, S. 73–80. 29 IMT, Bd. I, S. 4; Kučin, Vadim Vitol’dovič (1920–unbekannt), war Mitarbeiter im Staatssicherheitsdienst NKGB. Während des Prozesses übernahm Kučin verschiedene Sonderaufgaben, z. B. die Vorbereitung des zur Befragung von Hermann Göring notwendigen Materials, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (560). In der Hauptverhandlung verlas Kučin am 21. Nov. 1945 einen Teil der Anklageschrift betr. Kriegsverbrechen in den östlichen Ländern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, siehe Protokoll der Verhandlung v. 21. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 80–87. 30 Dies ergibt sich aus dem Schreiben von Vyšinskij und Goršenin v. 28.  Dez. 1945 an­ Molotov und Stalin im Zusammenhang mit der geplanten Ernennung der weiteren sowjet. Hilfsankläger, AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 4, Bl. 18, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 187, S. 375–376. 31 Schreiben von Vyšinskij und Goršenin v. 28.  Dez. 1945 (Fn.  30), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 187, S. 375 (375–376, Fn. 1). 32 Schreiben von Vyšinskij und Goršenin v. 28.  Dez. 1945 (Fn.  30), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 187, S. 375–376.

I. Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn

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Rudenko war ferner das Ermittlungsteam unter der Leitung von Georgij­ Nikolaevič Aleksandrov33 unterstellt, dessen Arbeitsweise bereits im vorherigen Kapitel skizziert worden ist.34 Zum Ermittlungsteam zählten ferner die Mitarbeiter Solomon Jakovlevič Rozenblit35, Nikolaj Andreevič Orlov36 und Sergej Kasparovič Piradov37. Das Ermittlungsteam wurde als solches bereits zu Beginn des Prozesses aufgelöst, seine Mitarbeiter wurden als Assistenten dem sowjetischen Hauptankläger unmittelbar unterstellt.38 Darüber hinaus war der sowjetischen Anklage eine Dokumentationsabteilung unter der Leitung von Dmitrij Stepanovič Karev39 und seiner Stellvertreterin ­Tatjana Aleksandrovna Illerickaja40 zur Seite gestellt. Der förmlich erst am 21. Januar 1946 durch eine Verfügung von Rudenko eingerichteten Abteilung war die Funktion zugewiesen, für die Systematisierung und die Aufbereitung des sowjetischen Beweismaterials zur Einführung in die Hauptverhandlung Gewähr zu leisten.41 Karev war insbesondere für die Aufbewahrung, Übersetzung und Vervielfältigung von Dokumenten sowie Weiterleitung der notwenigen Unterlagen an das Tribunal, andere 33

Aleksandrov, Georgij Nikolaevič (1902–1979), war seit 1934 in der Staatsanwaltschaft der UdSSR tätig, u. a. als stellvertr. Leiter der Ermittlungsabteilung der Staatsanwaltschaft der UdSSR, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (533); Zvjaginzev, Njurnbergskij process, S. 61 f. 34 Vgl. Kap. F. IV. 2. 35 Rozenblit, Solomon Jakovlevič (1897–1969), war seit 1929 Militärstaatsanwalt, seit 1941 erst stellvertretender Leiter und später Leiter der Ermittlungsabteilung in der Militärstaats­ anwaltschaft, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S.  533 (576); Zvjaginzev, Njurnbergskij process, S. 62. 36 Orlov, Nikolaj Andreevič (1908–1970), arbeitete seit 1933 in den Organen der Staats­ anwaltschaft, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S.  533 (569); Zvjaginzev, Njurnbergskij process, S. 62. 37 Piradov, Sergej Kasparovič (1893–1974), Oberstleutnant der Justiz, war in der Staats­ anwalt seit 1923 tätig. Piradov hatte u. a. leitende Funktionen in der Militärstaatsanwaltschaft inne, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (571); Zvjaginzev, Njurnbergskij process, S. 62. 38 Sitzungsprotokoll No 2 der Nürnberger Kommission Vyšinskijs v. 1. Dez. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 06, Bl. 6–8 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 39–42, hier Bl. 41, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323–325, hier S. 325. 39 Karev, Dmitrij Stepanovič (1905–1978), lehrte an der juristischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität MGU und ist als Verfasser zahlreicher juristischer Lehrbücher in Erscheinung getreten, siehe Zvjagincev, Njurnbergskij process, S. 58; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (554). Zu Karevs Rolle als sowjet. Hilfsankläger der Hauptverhandlung siehe bereits oben Fn. 27. Die Ernennung Karevs zum Leiter der Dokumentationsabteilung erfolgte durch Ziff. 2 der Verfügung Rudenkos „Über den Apparat des Hauptanklägers der UdSSR beim IMT“ am 21. Jan. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 61, Bl. 304–305, hier Bl. 304, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386–387, hier S. 386. 40 Illerickaja, Tatjana Aleksandrovna (1912–unbekannt), bekleidete im Jahr 1945 das Rang einer Abteilungsleiterin innerhalb der ČGK, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ­ukazatel‘, S. 533 (553). Zur Ernennung Illerickajas siehe Ziff. 4 der Verfügung Rudenkos v. 21. Jan. 1946 (Fn. 39), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386 (386). 41 Verfügung Rudenkos v. 21. Jan. 1946 (Fn. 39), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386 (386).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Anklageteams, Verteidiger, die sowjetische wie internationale Presse und die Hilfsankläger verantwortlich.42 Zur Unterstützung Karevs ordnete Rudenko sechs weitere Personen, darunter eine Mitarbeiterin der ČGK und zwei Pressevertreter, bei.43 Zum Dokumentationsteam zählten ferner der Kamera­mann und Dokumentarfilmemacher Roman Lazarevič Karmen (Kornman), der mit der Vorbereitung des zur Vorführung im Prozess bestimmten Filmmaterials betraut war. Als juristische Berater der Anklage wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten u. a. Aron Trajnin44, der zuvor als Berater der Rechtsabteilung des SMAD tätige Boris Stepanovič Man’kovskij45 und als hochrangiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften Michail Solomonovič Strogovič46 eingesetzt. Für die Beratung in politischen Fragen zeichnete der stellvertretende Politische Berater des SMAD Vladimir Semenovič Semenov47 verantwortlich. Wie sich aus einem Bericht des ehemaligen Leiters des Ermittlungsteams Aleksandrov an Malenkov ergibt, weilten weder Trajnin noch Semenov durchgehend in Nürnberg.48 Vielmehr wurden sie bei Bedarf wiederholt von Nürnberg aus angefordert und von den zuständigen sowjetischen Stellen daraufhin vorübergehend an das IMT abgeordnet. So sah sich Aleksandrov im April 1946 zu der Empfehlung veranlasst, „Prof. Trajnin um­ gehend nach Nürnberg zu entsenden, um die sowjetische Anklage in Rechtsfragen zu beraten“ und „einen qualifizierten Mitarbeiter des Außenministeriums als poli 42

Ziff. 3 der Verfügung Rudenkos v. 21. Jan. 1946 (Fn. 39), hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386 (386). 43 Ziff. 8 der Verfügung Rudenkos v. 21. Jan. 1946 (Fn. 39), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 196, S. 386 (387), nennt an dieser Stelle Smirnov E. I., Molčanova S. V., Lykov I. I., Raevskaja E. M. (ČGK), Dorodnov und Gorbovskaja (Presse). 44 Für biograph. Nachw. siehe Kap.  B, Fn.  35. Trajnin wurde gleichzeitig zum Mitglied der geheimen Kommission unter der Leitung von Vyšinskij ernannt und übernahm in dieser Funktion sehr unterschiedliche Aufgaben für die sowjetische Delegation, Vgl. Kap. G. II. 1. und 2. 45 Für biograph. Nachw. siehe Kap. F, Fn. 165. 46 Strogovič, Michail Solomonovič (1894–1984), Mitglied im Rang des Člen-korrespondent der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel‘, S. 533 (582). Zum Assistenten von Rudenko wurde Strogovič am 1. Dez. 1945 durch eine Entscheidung von Vyšinskijs Nürnberger Kommission (hierzu ausf. Kap. G. II.) bestimmt, siehe Sitzungsprotokoll No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 47 Für biograph. Nachw. siehe Kap. F, Fn. 158. 48 Die eigentliche Lagebeschreibung ist in dem fünfseitigen Bericht Charlamovs an Malenkov enthalten (Dokladnaja zapiska o položenii na Njurnbergskom processe glavnych fašistskich prestupnikov [Bericht über den Stand auf dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher]), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112–116. Aleksandrov leitete dieses Papier am 3.  April 1946 an Malenkov weiter und unterbreitete auf Grundlage von Charlamovs Beobachtungen mehrere Verbesserungsvorschläge. Malenkov wiederum leitete den Bericht am nächsten Tage an Molotov weiter, für das Schreiben Malenkovs siehe AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 111, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 102, S. 450–451 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 223, S. 427, dt. Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350–351. Ausf. zu diesen Berichten unten Kap. G. III. 4. b) bb) und cc).

I. Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn

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tischen Berater zum Prozeß abzukommandieren“49. Semenov wurde daraufhin auf Weisung Vyšinskijs nach Nürnberg entsandt und befand sich zwischen dem 9. bis 17. April 1946 vor Ort.50 Schließlich standen der sowjetischen Anklage noch verschiedene Hilfsdienste zur Verfügung. Die Leitung des Übersetzerbüros übernahmen bis Mitte Dezember der Übersetzer für Französisch S. A. Tokarev51 und der ehemalige Mitarbeiter beim NKID V. V. Postoev52 als Stellvertreter.53 Nach ihrer Abreise übernahm der Tribunalssekretär Poltorak das Amt, dem der dem Ermittlungsteam zugeordnete Rozenblit bei der Leitung des Übersetzerbüros zur Seite stehen sollte.54 ­Darüber hinaus gab es ein Pressebüro, eine Verwaltungseinheit sowie einen Verbindungsdienst. Alle den Organen des Spionageabwehrdienstes angehörenden und in Nürnberg bereits eingetroffenen Funktionsträger wie operative Mitarbeiter, Ermittler oder Übersetzer wurden in das Team von Rudenko eingegliedert und während des Prozesses auf verschiedenen Tätigkeitsfeldern aktiv.55 Sie trugen u. a. für die Sicherheit des sowjetischen Personals Sorge, wirkten aktiv an Verhören von Angeklagten und Zeugen mit56 oder übernahmen in der Folgezeit die Initiative bei der Einrichtung der abhörsicheren Hochfrequenzleitung VČ auch zwischen Nürnberg und Moskau mit der Folge, dass ein Rückgriff auf die zwischen Berlin und Moskau bereits installierte VČ-Verbindung fortan nicht mehr von Nöten war.57

49 Bericht Alexandrovs an Malenkov v. 3.  April 1946 (Fn.  48), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (351). 50 Bericht Semenovs aus Berlin über VČ an Vyšinskij v. 20.  April 1946, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109; auszugweise abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 229, S. 435; auszugsweise dt. Übersetzung des Berichts findet sich bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 717, Anm. 321. 51 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (583). 52 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj ukazatel’, S. 533 (573). 53 Die Ernennung von Tokarev und Postoev erfolgte am 1. Dez. 1945 durch einen gemeinsamen Beschluss von Rudenko und Nikitčenko über die Zusammenfassung der Dienste der Übersetzerdienste von sowjetischer Anklage und Richterschaft, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 296, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 151, S. 329. 54 Ziff. 8 des Sitzungsprotokolls No 11 der Nürnberger Kommission v. 14. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 11–13, hier Bl. 13, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 175, S.  359–361, hier S.  361.  Zu den Übersetzern zählten u. a. K. F. Starikov, K. F., ­Kuznecova, M. A. Sobolev, T. S. Stupnikova, T.  Ju. Solovjova, N.  Ju. Topuridze, T. A. Ruzskaja, I. M.­ Kulakovskaja, K. V. Zurinova und Char’kova. Der bereits in der Vorbereitungsphase zum Nürnberger Prozess während der Londoner Verhandlungen für die sowjetische Delegation tätig gewordene Oleg Trojanovskij arbeitete überwiegend als Übersetzer für Englisch für die­ sowjetischen Richter, siehe Trojanovskij, Čerez gody, S. 111. 55 Lichačev war beispielsweise in die Erstellung der Fragelisten für die Vernehmungen der Angeklagten für Fritzsche und Frank eingebunden, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 37. Vgl. hierzu Christoforov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 55 (59). 56 Hierzu bereits oben Kap. F. IV. 2. 57 Christoforov, in: Lebedeva/Iščenko (Hrsg.), Uroki Istorii, S. 55 (59).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Im Vergleich zu anderen Delegationen, insbesondere dem amerikanischen Team, wies die sowjetische Abordnung in Nürnberg eine unverändert dünne Personal­ decke auf. Robert H. Jackson etwa standen sechs weitere Ankläger (zwei Ankläger und vier beigeordnete Ankläger) sowie fünfzehn Hilfsankläger zur Verfügung58, während Roman Rudenko lediglich ein Stellvertreter und sieben Hilfsankläger zur Seite gestellt waren. Der amerikanischen Delegation waren 680 Übersetzer unterstellt, die sowjetische Delegation dagegen hatte Zugriff auf die Dienste von gerade einmal 40 sowjetischen Übersetzern59, die den Herausforderungen der­ forensischen Simultanübersetzung – wie auch den Angeklagten nicht entging60 – in zahlreichen Fällen nicht hinreichend gewachsen waren. Nicht nur zahlreiche der eingangs genannten sowjetischen Funktionsträger in Nürnberg, sondern auch diverse in der vorstehenden Darstellung unerwähnt gebliebene sowjetische Delegationsmitglieder haben ihre während des Nürnberger Prozesses niedergelegten Erinnerungen im Nachgang der Öffentlichkeit­ zugänglich gemacht, namentlich Volčkov61, Rudenko62, Poltorak63, Raginskij64, 58

Zur offiziellen Zusammensetzung der amerikanischen Anklagedelegation IMT, Bd. I, S. 2. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (38). 60 Siehe Speer, Erinnerungen, S. 520: „Nach einem weiteren Kreuzverhör mit dem Vertreter der sowjetischen Anklage, General Raginsky, das durch Übersetzungsfehler voller Mißverständnisse war, […] war die Behandlung meines Falles beendet.“ 61 Volčkov/Poltorak, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1957, No 1, S. 27–37; Volčkov, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1976, No 10, S. 12–20. 62 Rudenko, Socialističeskaja zakonnost’ 1965, No 3, S. 2–7; ders./Smirnov/Karev, Pravda v. 27.  Feb. 1965 (No  58), S.  4. Rudenko war ferner (Mit-)Herausgeber mehrerer Editionen zum Nürnberger Prozess, zum einen der zwischen 1957 und 1961 erschienenen siebenbändigen Materialsammlung, Rudenko (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1–7, einer dreibändigen Publikation aus den Jahren 1965 bis 1966, Rudenko (Hrsg.), Njurnbergskij process nad ­glavnymi nemeckimi voennymi prestupnikami, T. 1–3; zusammen mit Nikitčenko Mit­ heraus­geber der zweibändigen Edition zum Nürnberger Prozess aus dem Jahr 1954, Goršenin/ Rudenko/ ­Nikitčenko (Hrsg.), Njurnbergskij process, T.  1–2, sowie eines Sammelbandes zu Aron Trajnin, Rudenko (Hrsg.),Trajnin, Izbrannye proizvedenija. 63 Volčkov/Poltorak, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1957, No  1, S.  27–37; Poltorak, Ot Mjunchena do Njurnberga (2.  Aufl., 1961, 3.  Aufl. 1968); ders., Novaja i novejšaja istorija 1965, No 3, S. 3–19; ders., Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1965, No 6, S. 58–66; ders., Njurnbergskij process (1966); ders., Pod sudom fašizm (1966); ders., Nauka i žizn’ 1966, No 12, S. 14–17; ders., Njurnbergskij ėpilog (1. Aufl. 1965, 2.  Aufl. 1969 u. 3.  Aufl. 1983); ders./ Zajcev, Rurskie gospoda i vašingtonskie sud’i (1968); dies, Zvezda 1967, No  5, S.  141–164; dies., Zvezda 1967, No 6, S. 136–160; dies., Zvezda 1967, No 7, S. 180–191; dies., Zvezda 1967, No 8, S. 141–168; dies., Opoznanie (1973); Poltorak, Neva 1970, No 5, S. 161–171; Poltorak/ Lebedeva, Voprosy istorii 1971, No 9, S. 85–106; Poltorak, Meždunarodnaja žizn’ 1975, No 8, S. 96–102., ders., Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1975, No 5, S. 77–85. 64 Raginskij, Novyj mir 1949, No  2, S.  273–275; ders., Sovetskaja justicija 1976, No  19, S.  28–30; ders., Sovetskaja justicija 1979, No  9, S.  16–17; Raginskij, Socialističeskaja za­ konnost’ 1979, No  5, S.  63–65; ders., Socialističeskaja zakonnost’ 1981, No  10, S.  23–26; ders., in: Pogoržel’skij (Hrsg.), Nacistskich prestupnikov – k otvetu!, Bd. 1 (1983), S. 38–44 u. S. 101–108; ders., Sovetskaja justicija 1985, No 23, S.  23–25; ders., Socialističeskaja za­ konnost’ 1985, No 7, S. 29–32; ders., Novoe vremja 1985, No 46, S. 26–31; ders., Čelovek i zakon 1985, No 5, S. 85–113; ders., Njurnberg (1986). 59

I. Zusammensetzung der sowjetischen Delegation zu Prozessbeginn

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Smirnov65, Aleksandrov66, Karev67, Rozenblit68, Kuz’min69, Trajnin70. Detaillierte Darstellungen zu ihren Wahrnehmungen in Nürnberg haben auch die sowjetischen Übersetzer Oleg Trojanovskij71 und Tatjana Stupnikova72 sowie der auf Anweisung des Politbüro ZK VKP(b)73 aus Nürnberg berichtende Spezialkorrespondent der Zeitung Pravda Polevoj74 vorgelegt.

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Smirnov, Socialističeskaja zakonnost‘ 1956, No  12, S.  8–11; ders., Socialističeskaja­ zakonnost‘ 1959, No 8, S. 49–56; ders., Sovetskaja justicija 1965, No 6, S. 4–6; ders., Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1966 No 12, S. 3–11; ders., Socialističeskaja zakonnost‘ 1969, No 1, S. 11–16; Rudenko/Smirnov/Karev, Pravda v. 27. Feb. 1965 (No 58), S. 4. 66 Rozenblit/Aleksandrov, Socialističeskaja zakonnost’ 1946, No 1–2, S. 20–26; Aleksandrov, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1968, No  2, S.  117–118; ders., Socialističeskaja zakonnost’ 1961, No 12, S. 51–54; ders., Novoe vremja 1965, No 43, S. 16–19; ders., Novoe vremja 1965, No 44, S. 20–23; ders., Novoe vremja 1965, No 45, S. 18–21; ders., Novoe vremja 1965, No 46, S. 16–19; ders., Novoe vremja 1965, No 47, S. 16–19; ders., Novoe vremja 1965, No 48, S. 28–31; ders., Meždunarodnaja žizn’ 1970, No 11, S. 85–89; ders., Njurnberg (1971); ders., Socialis­ tičeskaja zakonnost’ 1976, No 10, S. 34–37; ders., Pravovedenie 1977, No 1, S. 103–105; ders. war ferner Mitherausgeber einer Edition Aleksandrov/Popov/Raginskij (Hrsg.), Otvetstvennost’ (1969). Zu den Publikationen Aleksandrovs im Zusammenhang mit den von sowjetischer Seite durchgeführten Vernehmungen siehe bereits oben Kap. F, Fn. 303. 67 Karev, Njurnbergskij process (1976); ders., Socialističeskaja zakonnost’ 1971, No  10, S. 41–42; Rudenko/Smirnov/Karev, Pravda v. 27. Feb. 1965 (No 58), S. 4. 68 Rozenblit/Aleksandrov, Socialističeskaja zakonnost’ 1946, No 1–2, S. 20–26; Rozenblit, Pokazanija svidetelej i podsudimych v meždunarodnom ugolovnom processe (1948), Vgl. hierzu auch die Rezension von Raginskij, Novyj mir 1949, No 2, S. 273–275. 69 Kuz’min, in: Pogoržel’skij (Hrsg.), Nacistskich prestupnikov – k otvetu!, Bd. 1, S. 44–55; ders., Sroku davnosti (1985). 70 Trajnin, Novoe vremja 1946, No 1, S. 15–17 = ders., in: Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 219–222; zu Trajnins Auseinandersetzung mit einigen materiell-rechtlichen Fragen des Nürnberger Prozesses siehe Trajnin, Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1946, No 11–12, S.  41–49. Den Straftatbeständen des IMT-Statuts (Art.  6 lit.  a, Verbrechen gegen den Frieden; Art. 6 lit. b, Kriegsverbrechen und Art. 6 lit. c, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) lag nach Auffassung Trajnins ein allen internationalen Verbrechen immanentes und bereits im Jahr 1937 mit der Arbeit ‚Verteidigung des Friedens und Strafgesetz‘ (o. Kap. B, Fn. 49) aufgedecktes Wesensmerkmal zugrunde, namentlich die Verletzung der Basis der internationalen Kommunikation (ebd., S. 45); zu dem in Nürnberg verhandelten Themenkomplex der Mit­ täterschaft (součastie) aus strafrechtsdogmatischer Sicht auch Trajnin, Sovetskoe Gosudarstvo i pravo 1947, No 3, S. 15–23; für einen Kommentar Trajnins in Bezug auf die Personen und die Arbeit der Verteidiger in Nürnberg vgl. Trajnin, Novoe vremja 1946, No 15, S. 10–12; siehe auch dens., Novoe vremja 1946, No 8, S. 21–23; ders., Novoe vremja 1948, No 12, S. 11–14; ders.,­ Socialističeskaja zakonnost’ 1949, No 1, S. 23–29. 71 Trojanovskij, Čerez gody, S. 100–123. 72 Stupnikova, Ničego krome pravdy (2003); eine dt. Übersetzung wurde unter dem Titel „Die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ 2014 von Dörte Andres und Martina Behr vorgelegt. 73 Pkt. 159 des Protokolls No 47 der Sitzung des Politbüros des ZK VP(b) v. 30. Nov. 1945, RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1054, Bl. 37, abgedr. bei Lebeveda (Hrsg.), SSSR, No 148, S. 323. 74 Polevoj, Socialističeskaja zakonnost’ 1966, No 10, S. 54–64.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

II. ‚Unsichtbare‘ Protagonisten: Die Nürnberger Vyšinskij-Kommission zur Steuerung der Handlungen der sowjetischen Prozessteilnehmer 1. Errichtung, Zusammensetzung und Organisation Angesichts der bereits bei der Abfassung der Anklageschrift zu Tage getretenen Schwierigkeiten, auf die am Prozessgeschehen teilnehmenden Akteure der Sowjet­delegation im Wege entsprechender Einzelanweisungen von Moskau aus steuernd Einfluss zu nehmen75, wurde unmittelbar zu Beginn des Prozesses durch Beschluss des Politbüro ZK VKP(b) eine neben die Moskauer Regierungskommission76 tretende zweite Kommission – wiederum unter dem Vorsitz des stellvertretenden Volkskommissars für äußere Angelegenheiten Andrej Vyšinskij – ins Leben gerufen, die die Arbeit der sowjetischen Mitarbeiter nunmehr unmittelbar von Nürnberg aus dirigieren sollte.77 Zu ihren Mitgliedern wurden neben dem Generalstaatsanwalt der UdSSR Goršenin (stellvertretender Leiter der Kommission) auch Rudenkos juristische Berater (Aron) Trajnin, Man’kovskij und Strogovič sowie L. F. Kuz’min78 bestimmt.79 Das Politbüro hielt es im Interesse einer effektiven Aufgabenerfüllung für geboten, den Tätigkeits- und Wirkungsort des Gre­ miums unmittelbar in Nürnberg vorzusehen und anzuordnen, dass der Vorsitzende des Gremiums Vyšinskij – wann immer notwendig – in Nürnberg zugegen sein sollte.80 Die Aufgabe der Kommission bestand laut Beschluss darin, Nikitčenko und Rudenko jede notwenige Hilfe und Unterstützung während des gesamten Prozesses zuteilwerden zu lassen.81 Daneben erlegte der Beschluss den Mitgliedern der Kommission die Pflicht zur zeitnahen Berichterstattung über den Prozessverlauf nach Moskau und zur unverzüglichen Vorlage von instruktionsbedürftigen Vorschlägen auf.82 Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn des Prozesses am Vormittag des 20. November 194583 nahm die Vyšinskij-Kommission in Nürnberg ihre Tätigkeit auf. Der Vorsitzende der Kommission Vyšinskij reiste für diesen Anlass persönlich nach Nürnberg und verweilte zwischen dem 25. November und 75

Vgl. z. B. Kap. F. III. Hierzu bereits oben Kap. F. II. 2. 77 Ziff. 131 aus dem Protokoll No 47 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 21. Nov. 1945, RGASPI, f. 17, op.  162, d.  37, Bl.  159, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  136, S. 308; vgl. hierzu Zorja, in: Kutafin (Hrsg.), Inkvizitor, S. 268 (271–288). 78 Zu Kuz’min siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Imennoj Ukazatel‘, S. 533 (560). 79 Ziff. 1 des Beschlusses des Politbüro ZK VKP(b) v. 21. Nov. 1945 (Fn. 77), hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 136, S. 308. 80 Ziff. 1 des Beschlusses des Politbüro ZK VKP(b) v. 21. Nov. 1945 (Fn. 77), hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 136, S. 308. 81 Ziff. 2 des Beschlusses des Politbüro ZK VKP(b) v. 21. Nov. 1945 (Fn. 77), hier zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 136, S. 308. 82 Siehe oben Fn. 77. 83 Protokoll der Verhandlung v. 20. Nov. 1946, IMT, Bd. II, S. 39 ff. 76

II. ‚Unsichtbare‘ Protagonisten: Die Nürnberger Vyšinskij-Kommission

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dem 2. Dezember 1945 vor Ort.84 Während dieser Zeit leitete er am 26. November85 und am 1. Dezember 194586 die ersten beiden Sitzungen des Gremiums. In der Folgezeit übernahm sein Stellvertreter Goršenin für mehrere Wochen bis zum Beginn der Verhandlungspause des Tribunals87 die faktische Leitung der Kommissionsarbeit.88 Am 20. Dezember 1945 kam die Kommission im Rahmen ihrer Sitzung zudem überein, dass während der Abwesenheit des Stellvertreters Goršenin das Kommissionsmitglied Man’kovskij „für die Steuerung der sowjetischen Anklage und des sowjetischen Teils des Internationalen Militärtribunals“ im Namen der Kommission verantwortlich zeichnen sollte.89 2. Weitreichende Interventionspraxis in Bezug auf die Aufgabenwahrnehmung der sowjetischen Repräsentanten in Nürnberg Einen Eindruck davon, wie weitreichend die Interventionskompetenzen der Kommission in Bezug auf die Aktivitäten der sowjetischen Anklage und der sowjetischen Richter am Tribunal de facto ausgestaltet waren, vermitteln insbesondere die an das Staatsarchiv der Russischen Föderation abgelieferten Sitzungsprotokolle.90 Diese legen u. a. offen, dass sich die Tätigkeit dieses Gremiums – im Kontrast zu 84 Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. LXXXVIII; Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (316, Fn. 1). Eine offizielle Begrüßung widmete Robert Jackson Vyšinskij und Goršenin in der Nachmittagssitzung des IMT am 27. Nov. 1945, siehe Protokoll der Verhandlung v. 27. Nov. 1946, IMT, Bd. II, S. 359. 85 Sitzungsprotokoll v. 26. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 6, Bl. 1–4 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 43–48, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314–316. 86 Sitzungsprotokoll No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323–325. 87 Nach Abschluss der Nachmittagssitzung am 20. Dez. 1945 vertagte sich das Gericht bis zum 2. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 280–281. 88 In der Sitzung v. 1. Dez. 1945 fasste die Kommission u. a. den Beschluss, dass die Leitung der Kommission in Abwesenheit von Vyšinskij auf Goršenin übergehen sollte. Ferner sollte das Gremium regelmäßig und grundsätzlich in vollständiger Besetzung mit Rudenko, Nikitčenko und ihren jeweiligen Assistenten zusammenkommen, siehe das Sitzungsprotokoll No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 89 Ü. d. Verf., Ziff. 1 b) des Sitzungsprotokolls No 13 v. 20. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 1–7, hier Bl. 1, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 184, S. 369–372, hier S. 369. Vgl. ebd. auch für den beigefügten Protokollanhang mit einem Arbeitsplan für den Zeitraum 21. Dez. 1945 bis 5. Jan. 1946. 90 Die heute erhaltenen Protokolle von dreizehn Sitzungen zwischen dem 26.  Nov. und 20. Dez. 1945 sowie ein Arbeitsplan für den Zeitraum 21. Dez. 1945 bis 5. Jan. 1946 befinden sich in GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391 und sind vollständig abgedr. in der Edition v. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No. 142, 149, 153, 157, 158, 159, 163, 167, 170,172, 175, 179, 184. S. auch den Bericht über die von der Kommission im Zeitraum vom 1. bis 20. Dez. 1945 getroffenen Maßnahmen, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 68 (u. Rücks.), abgedr. Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 183, S. 367–369. Weitere Protokolle für die nach dem 20. Dez. 1945 abgehaltenen Sitzungen sind – soweit ersichtlich – nicht angefertigt worden.

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dem im Gründungsbeschluss des Politbüros verwendeten Vokabular – keineswegs auf bloß zuarbeitende Hilfestellungen zugunsten des sowjetischen Hauptanklägers und des sowjetischen Richters Nikitčenko beschränkte. Tatsächlich übte die Kommission – jedenfalls zu Beginn des Prozesses – steuernden Einfluss auf die Arbeit aller auf sowjetischer Seite am Prozess mitwirkenden Personen in ganz erheblichem Umfang aus.91 Die Kommission befasste sich in den ersten Wochen des Prozesses mit allen Themenbereichen und praktischen Auf­gaben, welche die sowjetische Anklage, die IMT-Richter und ihr Hilfspersonal aktuell zu bewältigen hatten. Die Einflussnahme auf das Prozessgeschehen von der internen Berichterstattung, der allgemeinen Planung über die konkrete Aufgabenverteilung bis hin zur praktischen Implementierung der den sowjetischen Mitarbeitern erteilten Instruktionen lässt sich besonders für die Anfangsphase des Prozesses anhand des Inhalts des ersten Sitzungsprotokolls beispielhaft nachvollziehen. Gleich in der ersten Sitzung am 26. November 194592 befassten sich die Anwesenden mit der Eröffnungsrede des sowjetischen Hauptanklägers93 und den von der sowjetischen Anklage vorzulegenden Beweisen94, mit den Zeugen der sowjetischen Anklage95 oder Fragen der Vorlage von Dokumenten an das Tribunal.96 Die Kommission befasste sich insbesondere auch mit einem Fragenkatalog bezüglich solcher Themen, deren öffentliche Erörterung im Prozess für inakzeptabel befunden worden war.97 91

Vor dem Hintergrund des Scheiterns sowjetischer Geheimhaltungsbemühungen bezüglich der Funktionen der Vyšinskij-Kommission nimmt es nicht wunder, dass der Name Vyšinskij in der bundesrepublikanischen Nachkriegsdebatte nicht nur mit sowjetischen Schauprozessen (Abg. Heinrich Krone vor dem Deutschen Bundestag, 2. Legislaturperiode, Stenograph. Bericht der 202. Sitzung am 5. April 1957, BT-Plenarprotokoll 2/202, S. 11492 (A) und willkürlichen Liquidationen (vgl. den Zwischenruf des Abg. Ernst Majonica, Deutscher Bundestag, 1. Legislaturperiode, Stenograph. Bericht der 200. Sitzung am 20. März 1952, S. 8603 [A])­ assoziiert wurde, sondern bald auch als Sinnbild galt für ein System, „in dem das ‚Komitee‘ irgendwo im Hintergrund alle Fäden zieht“, siehe die Ausführungen des Abg. Herbert Wehner vor dem Deutschen Bundestag, 2. Legislaturperiode, Stenograph. Bericht der 201. Sitzung am 4. April 1957, BT-Plenarprotokoll 2/201, S. 11457 (D). 92 Sitzungsprotokoll v. 26.  Nov. 1945 (Fn.  85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  142, S. 314–316. 93 Die Eröffnungsrede hielt Rudenko am 8. Feb. 1946 (Fn. 11), IMT, Bd. VII, S. 166–218. 94 Vgl. hierzu unten Kap. G. III. 1. 95 Sitzungsprotokoll v. 26.  Nov. 1945 (Fn.  85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  142, S. 314–316. 96 Zu diesem Thema referierte wie bereits zu den vorigen Themenkomplexen der Leiter der Kommission Vyšinskij. Der Wortlaut seines Vortrags ist jedoch nicht protokolliert, siehe oben Fn. 92. 97 Ziff. 3. I-2 des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). Den Hintergrund dieser Liste bildete die im November 1945 zwischen den Hauptanklägern getroffene Übereinkunft des Inhalts, dass eine politische Erörterung des Vorgehens der Alliierten vor Gericht grundsätzlich unerwünscht sei und dass deswegen mögliche ‚politische Attacken‘ der Angeklagten oder ihrer Verteidiger, insbesondere im Zusammenhang mit dem Anklagepunkt Verbrechen gegen den Frieden (u. a. Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskriegs) unterbunden werden müssten. Vgl. ausf. unten Kap. G. III. 4.

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Vyšinskij präsentierte in diesem Zusammenhang einen vorläufigen Katalog von aus sowjetischer Perspektive ‚unerwünschten‘ Themen, die er zu folgenden neun Punkten zusammengefasst hatte: „1. Die Beziehung der UdSSR zum Versailler Vertrag 2. Der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt98 aus dem Jahr 1939 und alle hiermit in Verbindung stehenden Fragen 3. Molotovs Besuch in Berlin, Ribbentrops Besuch in Moskau 4. Fragen im Zusammenhang mit dem sozio-politischen System der UdSSR 5. Sowjetische baltische Republiken 6. Sowjetisch-deutsche Vereinbarung über den Austausch der deutschen Bevölkerung in Lettland, Litauen und Estland mit Deutschland 7. Außenpolitik der UdSSR, insbesondere Fragen bezüglich der Meerengen und über angebliche Gebietsansprüche der UdSSR 8. Die Balkanfrage 9.  Sowjetisch-polnische Beziehungen (Fragen bezüglich West-Ukraine und West-Weiß­ russland).“99

Die Bearbeitung der vorstehend wiedergegebenen Themenkomplexe zur ersten Sitzung des Gremiums bildet indes nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Aktionsfeld der Kommission ab, auf dem sich eine Vielzahl weiterer thematischer Bezüge entfalten sollte. Diese mündeten regelmäßig in entsprechende Berichte oder Beschlüsse, mittels derer die Aktivitäten der sowjetischen Prozessteilnehmer gesteuert werden konnten. Die Kommission befasste sich dabei nicht nur mit grundsätzlichen Fragen richtungsweisender Natur, sondern unterzog bei Bedarf auch konkrete Dokumente eingehender Prüfung100, nahm Einfluss auf die Kon 98 „Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, unterzeichnet v. Molotov und Ribbentrop am 23. August 1939 in Moskau, RGBl. 1939 II, S. 968–969 (dt. und russ. Fassung unter dem Titel ‚Dogovor o nenapadenii meždu Germaniej i Sovetskim Sojuzom‘), abgedr. bei Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 632–634, russ. Fassung, ebd., S. 636–637. Im Nürnberger Prozess wurde der Vertrag von der britischen Anklage als Beweisstück GB-145 (= TC-25) am 9. Jan. 1946 vorgelegt, siehe Protokoll der Verhandlung v. 9. Jan. 1946, IMT, Bd. V, S. 11. 99 Ü. d. Verf., siehe Anhang zum Protokoll der Sitzung v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 43–47, hier Bl. 47, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S.  314–316, hier S.  316. Für eine Übersetzung dieser Liste ins Englische siehe Lebedeva/­ Zorya, International Affairs, 1989, No 10, S. 117 (120). Die dt. Übersetzung eines Auszugs aus dem Protokoll und das dort sog. „Vyšinskij-Verzeichnis“ veröffentlichte Lew Besymenski bereits 1991 unter dem Titel „Niemand kann uns überführen. Sowjethistoriker Lew Besymenski über die Entdeckung der Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt“, in: Der Spiegel, 3/1991, S. 104–112, hier S. 110. 100 In der fünften Sitzung am 5.  Dez. 1945 beauftragte die Kommission Rudenko und­ Nikitčenko per Beschluss mit der Prüfung des Entwurfs eines Memorandums, den das Komitees der Ankläger bei dem Tribunal mit dem Ziel einzureichen beabsichtigte, eine erneute

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turierung von Positionen, welche die Anklagevertreter oder Richter nach außen hin vertreten sollten101, ordnete organisatorische Veränderungen innerhalb der sowjetischen Delegation an102 und befand sogar über die Bewältigung technischer Herausforderungen aus dem Arbeitsalltag der sowjetischen Delegation, wie die Beschaffung zusätzlicher Schreibmaschinen103 oder die Bereitstellung von Transportmitteln für Mitarbeiter des Verbindungsdienstes.104 Besondere Erwähnung verdient der Umstand, dass sich unter den geladenen Sitzungsteilnehmern der Nürnberger Vyšinskij-Kommission stets sowohl die Vertreter der Anklage als auch die sowjetischen Richter befanden. Den protokollarisch Entscheidung des Tribunals über die zugelassenen Zeugen der Verteidigung herbeizuführen, durch die die Anzahl geladener Zeugen erheblich reduziert werden sollte, siehe Ziff. 1 der Beschlüsse aus dem Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 28–30, hier Bl. 29, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336–338, hier S. 337. Bereits am nächsten Tag wurde der Entwurf in der Kommissionssitzung erörtert und der Beschluss gefasst, den ersten Teil des Entwurf als „annehmbar“ zu behandeln und im Falle der Bestätigung aus Moskau einige weitergehende Änderungen einzubringen, siehe Ziff. 1 des Sitzungsprotokolls No 6 v. 6. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 24–26, hier Bl.  24, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  159, S.  338–340, hier S.  338. Als weiteren Beleg kann auf den Vorschlag an den Hilfsankläger Šejnin Bezug genommen werden, die von ihm erstellte Frageliste in Sachen Göring unter Berücksichtigung der in der Sitzung geäußerten Meinungen zu überarbeiten, siehe Ziff.  4 des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323–325, hier S. 325. 101 Am 11. Dez. 1945 etwa fasste die Kommission zur Frage der kriminellen Organisationen folgenden Beschluss: „Den Gen. [Genossen, d. Verf.] Rudenko und Nikitčenko wird nahe­ gelegt, in dieser Frage entschieden die folgende Linie zu verfolgen: auf der Anklagebank sind Repräsentanten all jener Organisationen vertreten, die die Anklage für kriminell erachtet. Für diese Organisationen sind zudem Verteidiger berufen, die die von der Anklage vorgelegten Beweise zu entkräften bestrebt sein werden. Anträge einzelner Mitglieder der kriminellen Organisationen [auf Anhörung i. S. v. Art. 9 Abs. 2 Satz 2 IMT-Statut, d. Verf.] sind hingegen nicht zuzulassen, da eine derartige Verfahrensweise in Anbetracht der großen Anzahl potentieller Vorladungsanträge praktisch undurchführbar wäre. Sollte das Tribunal hierzu eine andere Sichtweise einnehmen, ist [in Ausübung des durch Art.  9 Abs.  2 Satz 3 IMT-­ Statut eingeräumten richterlichen Ermessens, d. Verf.] auf die Einführung einer Obergrenze zulassungsfähiger Vorladungsanträge hinzuwirken.“, Ü. d. Verf., Ziff.  1 des Sitzungsprotokolls No 9 v. 11. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 16–18, hier Bl. 16, abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 170, S. 354–355, hier S. 354. 102 Die Auflösung des Ermittlungsteams und die Eingliederung ihrer Mitglieder in die Reihe der Rudenko zugewiesenen Hilfsankläger erfolgten aufgrund eines Kommissionsbeschlusses v. 1. Dez. 1945, siehe Ziff. 5 g) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 103 Mit der Besorgung von vier weiteren Schreibmaschinen mit lateinischer Schriftzeichenbelegung innerhalb der nächsten drei Tage beauftragte die Kommission Rudenko und Nikitčenko in der zweiten Sitzung am 1.  Dez. 1945, Ziff.  2 b)  des Sitzungsprotokolls No  2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324). 104 Am 12. Dez. 1945 wies die Kommission IMT-Richter Nikitčenko an, dem Mitarbeiter des Verbindungsdienstes Agapov einen PkW zur Verfügung zu stellen, siehe Ziff. 3 des Sitzungsprotokolls No 10 v. 12. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 14–15, hier Bl. 14, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 172, S. 356–357, hier S. 357.

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überlieferten Sitzungen des Gremiums wohnte Hauptankläger Rudenko jedenfalls ausnahmslos bei, zumeist in Begleitung seines Stellvertreters Pokrovskij105 und seiner Hilfsankläger. Die sowjetischen IMT-Richter Nikitčenko und Volčkov blieben den Sitzungen jeweils drei Mal fern.106 Die (kurze) morgendliche Kommis­ sionssitzung am 5. Dezember 1945 konnte wegen einer gleichzeitig stattfindenden Sitzung zur Hauptverhandlung keiner der beiden Gerichtsvertreter wahrnehmen. An diesem Tag traf sich die Kommission ein zweites Mal zur wesentlich längeren abendlichen Sitzung, zu der sich sodann wieder beide sowjetischen Richter ­ ikitčenko oder sein einfanden.107 In den übrigen Fällen waren jeweils entweder N Stellvertreter Volčkov anwesend. Der nur von wenigen Ausnahmefällen durchbrochenen Dauerpräsenz beider Richter in den Sitzungen des Gremiums lag die noch vor der Abreise Vyšinskijs geschaffene Beschlusslage zugrunde, nach der sich die Kommission zu regelmäßigen Treffen in vollständiger Besetzung unter Anwesenheit von Rudenko, Nikitčenko und ihrer Stellvertreter zusammenzufinden hatte.108 Sowohl die gleichzeitige persönliche Ladung der sowjetischen Protagonisten in Anklagekomitee und Tribunal zu informalen nationalen Zusammenkünften außerhalb der Hauptverhandlung als auch die von der Kommission diesen gegenüber im Einzelfall getroffenen Anordnungen zeugen von einem Justizverständnis, in dem das auch in der Sowjetverfassung grundsätzlich anerkannte Prinzip der Unabhängigkeit von Anklagevertretung und Gericht109 weitgehend einge­ebnet war und in welchen daher die Funktion der betreffenden Akteure in Anklage und Tribunal im Wesentlichen auf die Vollstreckung des konkretisierten Parteiwillens reduziert schien. Vor allem aber wurde hierdurch der nicht nur im IMT-Statut

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Dieser fehlte nur in insgesamt drei Sitzungen, nämlich am 5., 12. und 14. Dez. 1945. Nikitčenko fehlte in der vierten Sitzung am 5. Dez., in der sechsten Sitzung am 6. Dez. sowie in der zehnten Sitzung am 12.  Dez. 1945. Am 5.  und 12.  Dez. war an seiner Stelle Volčkov erschienen. Volčkov hingegen blieb der zweiten Sitzung am 1. Dez. 1945, der vierten am 5. Dez. 1945 und der zwölften am 16. Dez. 1945 fern. 107 Siehe Teilnehmerliste des Sitzungsprotokolls No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (336). 108 Ziff. 5 b) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 109 Zur grundsätzlichen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft im System der Sowjet-Justiz vgl. Art. 117 der Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, am 5. Dez. 1936 beschlossen durch den VIII. Außerordentlichen Sowjetkongress der UdSSR, abgedr. in: Günther, Staatsverfassungen, S. 559–586 = Dennewitz/Meissner, Verfassungen der modernen Staaten, Bd. 1, S. 191–224. Die russ. Originalfassung ist abgedr. etwa bei Kukuškin/­Čistjakov, Očerk istorii Sovetskoj Konstitucii, S.  285–313.  Art. 117 der Sowjetverfassung lautete wie folgt: „Die Organe der Staatsanwaltschaft üben ihre Funktionen unabhängig von jeglichen örtlichen Organen aus und sind nur dem Staatsanwalt der UdSSR unterstellt.“ Im geltenden deutschen Gerichtsverfassungsrecht ist der Grundsatz der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in § 150 GVG kodifiziert. Er findet sich als § 151 GVG in nahezu identischer Fassung bereits im Gerichtsverfassungsgesetz des Deutschen Reiches v. 27. Jan. 1877 (RGBl. S. 41–76) wieder. 106

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zumindest angelegte110, sondern auch im sowjetischen Verfassungs111- und Gerichtsverfassungsrecht112 kodifizierte Grundsatz113 der richterlichen Unabhängigkeit nicht bloß partiell suspendiert, sondern systematisch außer Kraft gesetzt. Mit der Erteilung synchronisierter Weisungen an sowjetische Anklagevertreter und IMT-Richter sollte ein ergebnisorientierter Gleichlauf sowohl der anklägerischen als auch der richterlichen Aktivitäten sichergestellt werden. Bereits angesprochen wurde der an Rudenko und Nikitčenko per Beschluss gemeinsam erteilte Auftrag zum Entwurf eines Memorandums des Komitees der Ankläger an das Tribunal mit dem Ziel, eine erneute Entscheidung des Tribunals über die zugelassenen Zeugen der Verteidigung zu erwirken, um so deren Anzahl möglichst gering zu halten.114 Im vorliegenden Zusammenhang der Erwähnung bedürfen ferner die Anordnung der gemeinsamen Überprüfung aller einzelnen im Umlauf befindlichen Dokumente und die Beurteilung ihrer Annehmbarkeit durch Rudenko und Nikitčenko115 oder in Bezug auf die von beiden zur Problematik der krimi 110 Gem. Art. 3 Abs. 2 Halbs. 2 des IMT-Statuts konnten die Mitglieder des Gerichtshofes von ihren Signatarstaaten nur aus „Gesundheitsgründen oder anderen triftigen Gründen“ abberufen werden. In diesem Fall sollte der bisherige Stellvertreter an die Stelle des Richters treten, ohne dass während des Hauptverfahrens die Möglichkeit von Nachnominierungen er­ öffnet war. Mit den vorgenannten Einschränkungen stellte das IMT-Statut auch ohne formelle Statuierung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit sicher, dass eine Abberufung missliebiger oder etwaigen Weisungen zuwider handelnder Richter zumindest unter Berufung hierauf ausgeschlossen war. 111 Art. 112 der Sowjetverfassung von 1936 (Fn. 109) lautete wie folgt: „Artikel 112. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ 112 Art. 6 des Gerichtsverfassungsgesetzes der UdSSR v. 16.  August 1938, Zakon SSSR „O sudoustrojstve SSSR, sojuznych i avtonomnych respublik“, Vedomosti VS SSSR 1938, No 11. Art. 6, hatte folgenden, mit Art. 112 der Sowjetverfassung 1936 (Fn. 111) übereinstimmenden Wortlaut: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ 113 Zum sozialistischen Verständnis des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit siehe insbesondere die von Vyšinskij im Jahr 1937 vorgelegte monographische Abhandlung über das „Gericht und die Staatsanwaltschaft“, Vyšinskij, Sud i prokuratura, S. 28–61. Demnach war die richterliche Unabhängigkeit im strengen Sinne nur unter den Funktionsbedingungen der sozialistischen Staatsverfassung gewährleistet: „Das sowjetische Gericht ist das einzige Gericht in der Welt, welches wahrhaft unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist“ (Ü. d. Verf., ebd., S. 45). Demgegenüber fällte Vyšinskij über die von ihm identifizierte „bourgoise Theorie der sogenanten richterlichen Unabhängigkeit“ ein vernichtendes Urteil, ebd. S. 5–27. Nach V ­ yšinskij war die formell verbriefte Unabhängigkeit der Richter in bourgoisen Systemen tatsächlich nur eine „scheinbare“ (ebd., S. 9), eine „Fiktion“ (ebd., S. 10): „Es gibt keine Unabhängigketi der bourgoisen Richter, die von einem König, einem Präsidenten oder einem Justizminister ernannt und nach deren Anweisungen abgesetzt werden. Die Richter in bourgoisen Staaten können in ihrer gerichtlichen Tätigkeit keinen einzigen Schritt unternehmen entgegen den Wünschen und dem Willen ihrer jeweiligen Herren“ (Ü. d. Verf., ebd., S. 9). Zu der den verfassungsrechtlichen Anforderungen (Art. 112 der Sowjetverfassung) nicht selten diametral entgegenstehenden sowjetischen Justizpraxis siehe etwa Maurach, Kriegsverbrecherprozesse, S.  83 f.: „In Wirk­lichkeit bestehen diese sehr wesentlichen Garantien für ein objektives Verfahren nicht.“ 114 Siehe Fn. 100. 115 Ziff. 4. I-3. des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315).

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nellen Organisationen in ihren jeweiligen Gremien zu vertretenden Linie.116 Als weitere Belege für die koordinierte Einwirkung sowohl auf Anklagevertreter als auch auf Angehörige des Tribunals angeführt seien der an Rudenko, Nikitčenko und Kuz’min gemeinsam erteilte Auftrag, ein Memorandum über unerwünschte politische Themen zur Vorlage im Komitee der Ankläger vorzubereiten117 oder die­ Anweisung an Rudenko und Nikitčenko, die Fragelisten für die Vernehmung der Angeklagten einer Überarbeitung zu unterziehen.118 Anhand der bereits in der ersten Sitzung der Kommission bestätigten Liste unerwünschter Themen wird besonders anschaulich, welch großen Wert die Sowjetführung darauf legte, einer öffentlichen Erörterung bestimmter Themengebiete unbedingt aus dem Weg zu gehen. Wie sehr die sowjetische Führung die Preisgabe bestimmter Informationen fürchtete und wie sehr sie daher bestrebt war, Kontrolle über die im Prozess zu erörternden Themen zu erlangen bzw. zu bewahren, belegen aber auch die wiederholten Anweisungen an Rudenko und Nikitčenko, Zugriff auf sämtliche bei dem Anklagekomitee vorliegenden bzw. eingehenden Dokumente zu gewährleisten bzw. alle beim Tribunal eingehenden Anträge und von diesem getroffenen Entscheidungen zu dokumentieren und vorzulegen. Auch in die anschließende Durchsicht und Auswertung der Dokumente wurden Rudenko und Nikitčenko mitunter persönlich eingebunden. Bereits in der ersten Kommissionssitzung waren beide dazu angehalten worden, sämtliche von den übrigen Delegationen überreichten Dokumente im Voraus zu überprüfen und darauf zu insistieren, dass diese erst nach einer Bestätigung durch das Komitee der Ankläger in das Verfahren eingeführt würden.119 Jedes der gesichteten Dokumente war entsprechend der Beschlussfassung überdies unter Berücksichtigung spezifisch sowjetischer Interessen einer schriftlich nachvollziehbaren Beurteilung in Hinblick auf seine Annehmbarkeit (oder Nicht­ annehmbarkeit) zu unterziehen. Im Falle eines Widerspruchs gegen sowjetische Interessen war die Überreichung des betreffenden Materials an das Tribunal bzw. dessen Verlesung mit allen Mitteln zu unterbinden.120 Für die inhaltliche Über­ prüfung der von Seiten der anderen Delegationen überreichten und von Rudenko und Nikitčenko weitergeleiteten Dokumente zeichneten die Mitarbeiter des sowjetischen Ermittlungsteams Aleksandrov und Rozenblit, Richter Volčkov und 116

Fn. 101. Ziff. 5 des Sitzungsprotokolls No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (338). Dieses Memorandum wurde in der nächsten Sitzung diskutiert und von der Kommission gebilligt, Ziff. 2 des Sitzungsprotokolls No 6 v. 6. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 159, S. 338 (339). 118 Ziff. 1 g) des Sitzungsprotokolls No 13 v. 20. Dez. 1945 (Fn. 89), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 184, S. 369 (269). 119 Ziff. 4. I-3. des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). 120 Ziff. 4.  I-3 a. E. des Sitzungsprotokolls v. 26.  Nov. 1945 (Fn.  85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). 117

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Hilfsankläger Pokrovskij verantwortlich, denen auch eine Vorentscheidung darüber oblag, welche der untersuchten Dokumente für die öffentliche Verhandlung zugelassen werden sollten.121 Im Zuge ihrer Sitzung am 16. Dezember 1945 gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass es notwendig erscheine, den bisherigen Rechtsberater der Kommission Trajnin in die Arbeit des Sekretariats des Gerichtshofes einzubinden.122­ Nikitčenko wurde beauftragt, den Generalsekretär des Tribunals Mitchell offiziell darüber zu unterrichten, dass er Trajnin für die Durchführung von Aufgaben wie die vorherige Durchsicht von an das Tribunal gerichteten Anträgen und die Ausarbeitung von Empfehlungen vorgesehen habe.123 Nikitčenko versäumte es allerdings, dieser Vorgabe zeitnah nachzukommen, woraufhin seine Amtswahrnehmung seitens der Kommission mit massiver Kritik bedacht wurde.124 Den in Nürnberg in Gestalt von Trajnin, Kuz’min und Man’kovskij vorhandenen juristischen Sachverstand machte sich die Kommission im Übrigen zu eigen, indem sie die Genannten ergänzend mit der Analyse aller bei dem Tribunal eingereichten Anträge und weiterer erörterungsbedürftiger Dokumente betraute, verbunden mit dem Auftrag, der Kommission im Bedarfsfall geeignet erscheinende Gegenvorschläge zur Beschlussfassung vorzulegen.125 Im Rahmen der Sitzung vom 1. Dezember 1945 war Nikitčenko überdies dahingehend angewiesen worden, Ablichtungen und eigene Aufzeichnungen über jedwede förmliche Entscheidung oder sonstige inhaltliche Festlegung (opredelenija) des Tribunals vorzuhalten bzw. anzufertigen. Auf diese Weise sollte eine permanente und tagesaktuelle Nachvollziehbarkeit der Willensbildungsprozesse 121 Ziff. 5 des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). Für die Durchsicht des ersten Teils der Dokumente wurde den Genannten lediglich eine Frist von einem Tag eingeräumt. 122 Ziff. 3 a)  des Sitzungsprotokolls No  12 v. 16.  Dez. 1945 (Fn.  122), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 179, S. 364–365 (hier 365). 123 Vgl. zu der jedem Sekretär eröffneten Möglichkeit, mit Zustimmung des nationalen Richters Assistenten zu ernennen Vorschrift 8 lit.  a Satz 3 derVerfahrensordnung des IMT v. 29. Okt. 1945, abgedr. in IMT, Bd. I, S. 20–25, hier S. 23. 124 In der Sitzung am 20. Dez. 1945 fasste die Kommission den Beschluss, „es für unakzeptabel zu erklären, dass Nikitčenko von der Verfahrungsordnung bisher keinen Gebrauch gemacht hat und bisher seinen Repräsentanten für das Sekretariat nicht benannt hat mit der Folge, dass der Generalsekretär entgegen der Verfahrensordnung eigenmächtig über wichtige Fragen ohne jegliche Kontrolle und jeglichen Einfluss der sowjetischen Mitglieder des Tribunals entscheidet.“, Ü. d. Verf., Ziff. 7 a) Ziff. 3 a) des Sitzungsprotokolls No 13 v. 20. Dez. 1945 (Fn. 89), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 184, S. 369 (370). Dass Trajnin in der Folgezeit an der Sekretariatsarbeit des Tribunals tatsächlich teilnahm, zeigt das Protokoll einer nicht­ öffentlichen Sitzung der Richter beim IMT v. 9. Feb. 1946, in dem u. a. dem juristischen Berater Trajnin für seine Hilfestellung bei der Begutachtung der an das Tribunal gerichteten Anträge gedankt wird, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2616, Bl. 6–7, hier Bl. 7, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 205, S. 394–395, hier S. 395. 125 Ziff. 3 c)  des Sitzungsprotokolls No  12 v. 16.  Dez. 1945 (Fn.  122), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 179, S. 364 (365).

II. ‚Unsichtbare‘ Protagonisten: Die Nürnberger Vyšinskij-Kommission

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innerhalb des Tribunals und der insoweit maßgeblichen Einflussfaktoren sichergestellt werden. Entsprechende Entscheidungen sollten Kommission und dem sowjetischen Hauptankläger jeweils unverzüglich zur Kenntnis gebracht werden.126 Durch die obligatorische Teilnahme entweder von Rudenko oder ­Pokrovskij an sämtlichen Sitzungen des Tribunals127 sowie die regelmäßige Anwesenheit der Kommissionsmitglieder128 sollte ergänzend gewährleistet sein, dass die sowjetische Delegation über die von anderen Delegationen vorgelegten Dokumente oder gestellten Anträge stets im Bilde war. Dass derartige Vorsichtsmaßnahmen das Risiko delikater Situationen im Verhandlungsverlauf dennoch nicht restlos zu eliminieren vermochten, belegt wohl am anschaulichsten die Ein­reichung einer eidesstattlichen Versicherung des früheren Botschafters Dr. Friedrich Gaus durch Verteidiger Seidl in Bezug auf das Geheime Zusatzprotokoll129 am 25. März 1946.130 Ob der von der Kommission den sowjetischen Delegationsmitgliedern abverlangte Einsatz stets auf einer realistischen Wahrnehmung der jeweiligen Leistungsfähigkeit gründete, erscheint zweifelhaft. Dies gilt namentlich für die von der Kommission Rudenko und Nikitčenko getroffene Anordnung zur Überprüfung aller einzelnen im Umlauf befindlichen Dokumente. Ob und inwiefern dieser Anweisung seitens ihrer Adressaten tatsächlich Folge geleistet werden konnte, lässt sich zwar nicht mehr sicher rekonstruieren, da den thematisch einschlägigen archivarischen Beständen schriftliche Zeugnisse hierüber  – soweit ersichtlich  – nicht entnommen werden können. Die Annahme, dass Rudenko und Nikitčenko die ihnen übertragene Aufgabe selbst unter Rückgriff auf das ihnen nachgeordnete Personal auch nur annähernd weisungskonform haben bewältigen können, erscheint indes schon eingedenk des schieren Umfangs des von der Anweisung erfassten Materials sowie des mit einer sachgerechten Aufgabenerfüllung einhergehenden zeitlichen Aufwands wenig lebensnah. Dagegen spricht auch, dass eine inhaltliche Prüfung der betroffenen Dokumente auf deren Vereinbarkeit mit sowjetischen Positionen entweder die sprachliche Kompetenz von Rudenko und Nikitčenko oder die Übersetzung aller Dokumente ins Russische vorausgesetzt hätte. Da allerdings längst nicht alle in Frage kommenden Dokumente in ­sämtliche

126 Ziff. 5 z) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 127 Ziff. 5 v) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 128 Ziff. 5 ž) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (325). 129 Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt v. 23. Aug. 1939, abgedr. bei Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 638–639, russ. Fassung unter dem Titel ‚Sekretnyj dopol­ nitel’nyj protokol‘, abgedr. ebd., S. 640–641; Anhang zum Schreiben Kapitanovs an Vyšinskij v. 7. Mai 1946, AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121–124 (hier 122–123). 130 Protokoll der Verhandlung v. 25.  März 1946, IMT, Bd.  X, S.  15. Hierzu ausf. unten Kap. G. III. 4. b).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Sprachen übersetzt worden waren131, Rudenko und Nikitčenko über hinreichende sprachliche Kompetenzen in Bezug auf Englisch, Deutsch und Französisch jeweils nicht verfügten und Übersetzungen in nennenswertem Umfang durch eigene sowjetische Kräfte vor dem Hintergrund des akuten personellen Notstands gerade in diesem Bereich nicht geleistet werden konnten132, ist anzunehmen, dass die ­Rudenko und Nikitčenko auferlegte umfassende Prüfpflicht weitgehend unerfüllt bleiben musste.

131 Auf die mangelnden personellen Kapazitäten gerade bei der Übersetzung der von amerikanischer Seite dem Anklagekomitee vorgelegten Dokumente ins Russische und Französische hatte Jackson Rudenko Ende September 1945 mit Nachdruck hingewiesen. Vgl. hierzu den Wortlaut des Schreibens Jacksons an Rudenko v. 29. Sept. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 1, Bl. 124–125, abgedr. und ins Russ. übersetzt bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 86, S. 245: „The United States delegation cannot, however undertake also to translate these documents into Russian or French. A sufficient number of competent translators simply does not exist in the United States to do this job in time for the trials. If these documents are to be made available in Russian and in French, their translation will have to be accomplished by the­ Russian and French Delegations and time is terribly short.“ 132 Auf die bei der Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in die russische Sprache auftretenden Verzögerungen und sonstigen Komplikationen machte Jackson den Vorsitzenden des IMT Lawrence am 20.  Dez. 1945 aufmerksam. Er setzte Lawrence förmlich über den Missstand in Kenntnis, dass dem u. a. für die Fertigung der Berichte der Gerichtsverhandlungen verantwortlichen Übersetzerbüro des IMT weiterhin keine Übersetzer für Russisch zur Verfügung stünden. Die Übersetzung ins Russische sei daher trotz wiederholt getroffener Absprachen, wonach die Bereitstellung der erforderlichen personellen Ressourcen der sowjetischen Delegation obliege, weiterhin nicht sichergestellt. Die amerikanische Delegation jedenfalls verfüge nicht über das hierfür benötigte Personal siehe zu diesem Befund auch oben Fn. 131). Sollte das Problem nicht innerhalb der Verhandlungspause behoben werden, könne die Übersetzung ins Russische – ausgenommen die Simultanübersetzung und die Übersetzung für alltägliche Zwecke  – nicht mehr gewährleistet werden, siehe Schreiben Jacksons an Lawrence v. 20. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 127, abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 182, S. 367. Auch interne Berichte an die sowjetische Führung belegen, dass eine nennenswerte Verbesserung der Situation, in der sich das sowjetische Übersetzerkorps bei Prozessbeginn sowohl in personeller als auch in qualitativer Hinsicht wiederfand, auch im Laufe des Prozesses nicht zu verzeichnen war. Beispielsweise berichtete der dienstälteste (staršij) Redakteur des Sovinformbjuro Dolgopolov an seinen Vorgesetzten, den Leiter des Sovinformbjuro und stellvertretenden Außenkommissar Lozovskij, am 30. Dez. 1945, dass die „fachliche Befähigung des überwiegenden Teils“ der sowjetischen Übersetzer „keine hohe Qualität der Übersetzungen“ verheiße. Er wies auch darauf hin, dass dieser Umstand bereits zu allgemeinem Gerede geführt habe. Sowohl das Gericht als auch die Journalisten könnten die Übersetzungsleistungen der sowjetischen Kräfte nur dann unbesorgt zugrunde legen, wenn die Auftritte der Anklage von Oleg Trojanovskij (vgl. oben Fn. 54; ausf. zu Trojanovskij auch Kap. D, Fn. 45) übersetzt würden. Der Bericht Dolgopolovs wurde auch Molotov und Goršenin zugeleitet. Molotovs Verwunderung über das Ausmaß der im Bericht skizzierten (allgemeinen) Defizite kommt namentlich in einem auf dem ihm vorgelegten Berichtsexemplar angebrachten handschriftlichen Vermerk zum Ausdruck: „An Goršenin. War es nicht möglich, die ganze Sache in angemessener Form zu regeln?“ Goršenin vermerkte daraufhin Folgendes: „Maßnahmen vor Ort sind getroffen“, Ü. d. Verf., GARF, f. R-7445, op. 2, d. 407, Bl. 1–6, hier Bl. 2, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 188, S. 376–379, hier S. 377. Ausf. zu diesem Bericht auch Hirsch, AHR 113 (2008), S. 701 (722–724).

II. ‚Unsichtbare‘ Protagonisten: Die Nürnberger Vyšinskij-Kommission

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Beachtung verdient der Umstand, dass zumindest zu Beginn des Prozesses sowohl Existenz als auch Arbeitsweise der Vyšinskij-Kommission nach außen hin zielgerichtet verschleiert wurde. Die sowjetische Seite zeigte sich ersichtlich darum bemüht, den Eindruck der Unabhängigkeit ihrer Repräsentanten in An­ klage­komitee und Richterschaft aufrechtzuerhalten. Als Jackson in der Nachmittagssitzung des 27.  November 1945 den Gerichtshof darum ersuchte, ­Vyšinskij und Goršenin begrüßen zu dürfen, verknüpfte er dieses Ansinnen mit einem Hinweis auf seine tatsächliche oder vermeintliche Genugtuung ob des Umstandes, dass es Goršenin als Generalstaatsanwalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nunmehr habe einrichten können, sich „uns als Anklagevertreter anzuschließen“. Der Vorsitzende Lawrence gab daraufhin zunächst zu Protokoll, dass Goršenin in den Reihen der sowjetischen Anklagevertretung Platz genommen habe. Mit einer am folgenden Tag übersandten Notiz bat Rudenko Lawrence insoweit um Klarstellung und Berichtigung des im Entwurf vorliegenden Stenogramms. Zur Begründung führte er an, dass Goršenin entgegen dem im Protokollentwurf vermittelten Anschein lediglich die Rolle eines Beobachters eingenommen habe und in die sowjetische Anklagedelegation nicht formell eingebunden sei.133 In der endgültigen Fassung des Sitzungsprotokolls fand sich sodann lediglich der Hinweis wieder, dass „Herr Wischinski“, dessen Beobachterstatus allseits außer Frage stand, „bei der sowjetischen Hauptanklagevertretung Platz genommen“134 habe. 3. Rezentralisierung der Steuerungshoheit in Moskau Die für insgesamt dreizehn Sitzungen der Kommission überlieferten Protokolle vermittelten zwar einen guten Einblick in die Arbeitsweise der Kommission,­ decken jedoch nur den relativ überschaubaren Zeitraum zwischen dem 26. November und 20. Dezember 1945 ab.135 Einen Überblick über die weiteren von Seiten der Kommission veranlassten Maßnahmen im unmittelbaren zeitlichen Anschluss vermittelt der für den Zeitraum vom 21.  Dezember 1945 bis 5.  Januar 1946 erstellte Arbeitsplan.136 Welche Entwicklung die Arbeit der Kommission seit diesem Zeitpunkt genommen hat, lässt sich im Einzelnen indes nicht zuverlässig beurteilen, da weitere Protokolle – soweit ersichtlich – nicht angefertigt wurden. Der Abbruch der Protokollierungspraxis zur Kommissions­arbeit dürfte im Zusammenhang mit der zeitlich hiermit koinzidierenden Abreise des stellvertretenden Vorsitzenden Goršenin stehen, der am 20. Dezember 1945 die Leitungsverant-

133 Schreiben Rudenkos an Lawrence v. 28. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 228, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 147, S. 323. 134 Protokoll der Verhandlung v. 27. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 359. 135 Siehe oben Fn. 90. 136 Anhang zu Sitzungsprotokoll No 13 v. 20. Dez. 1945 (Fn. 89), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 184, S. 369 (371–371).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

wortung an Man’kovskij übertrug.137 Ob regelmäßige Kommissionssitzungen nach der Abreise sowohl Vyšinskijs als auch Goršenin überhaupt nicht mehr stattfanden oder ob man seit diesem Zeitpunkt lediglich von der schriftlichen Fixierung des Sitzungsinhalts Abstand genommen hatte, entzieht sich einer letztgültigen Bewertung. Dass die Kommission ihre Aktivitäten um die Jahreswende vollständig eingestellt haben könnte, ist indes wenig wahrscheinlich. Nahelieger erscheint vielmehr, dass sich die Kommissionsarbeit seit der mit der Abreise Goršenins verbundenen Zäsur nunmehr in Form von informellen Absprachen der maßgeblichen Akteure vollzog. Dies dürfte zur Folge gehabt haben, dass sich die vor Ort verbliebenen Kommissionsmitglieder in ihrer täglichen Arbeit in weit größerem Maße als zuvor zur eigenständigen Entscheidungsfindung veranlasst sahen. Dies legen u. a. die im April an Molotov übermittelten Berichte ­Aleksandrovs und des Leiters der sowjetischen Gruppe der Journalisten ­Charlamov nahe, die innerhalb der sowjetischen Delegation u. a. erhebliche Problemen bei der internen Abstimmung und der Abwehr von „provokativen Attacken“ aus den Reihen der Verteidiger identifizierten.138 Aus den Berichten lässt sich ferner ersehen, dass die sowjetische Delegation zum Zeitpunkt der Berichterstattung weder auf die Dienste ihres juristischen Beraters Trajnin noch auf die des politischen Beraters Semenov zurückgreifen konnte. Aleksandrov riet daher die Rückbeorderung Goršenins nach Nürnberg an, wo dieser sich wieder der Leitung der sowjetischen Delegation annehmen sollte. Zur Sicherstellung einer angemessenen Beratung der sowjetischen Anklage in Rechtsfragen regte ­Aleksandrov überdies die Berufung Trajnins nach Nürnberg an.139 Auf Weisung Vyšinskijs wurde Semenov in der Folgezeit zwar­ tatsächlich nach Nürnberg entsandt, er verblieb dort tatsächlich jedoch nur eine relativ kurze Zeit – zwischen dem 9. bis 17. April.140 Semenov berichtete Vyšinskij in diesem Zusammenhang über die von ihm im Zusammenwirken mit Goršenin zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der sowjetischen Prozessteilnehmer­ getroffenen Maßnahmen vor Ort. Ferner warnte er vor „politischen Attacken“, die von Seiten der Verteidigung zu erwarten seien. Die von Aleksandrov empfohlene  ständige Anwesenheit eines Vertreters des MID in Nürnberg befanden sowohl er – Semenov – als auch Goršenin für überflüssig. Sporadische Be­suche ent­ sprechend der konkreten Bedarfslage waren beiderseits für absolut ausreichend erachtet worden. Zur Sicherstellung einer tagesaktuellen Orientierung des MID 137

Ziff. 1 b) des Sitzungsprotokolls No 13 v. 20. Dez. 1945 (Fn. 89), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 184, S. 369 (369). 138 Bericht Charlamovs an Malenkov sowie die Vorschläge Aleksandrovs v. 3. April 1946 (Fn. 48) Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350–351. Ausführlich zu diesen Berichten unten Kap. G. III. 4. b) bb) und cc). 139 Siehe den Bericht Aleksandrovs v. 3. April 1946 (Fn. 48), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (351). Diese Vorschläge sind bereits in dem von ­Char­ lamov vorgelegten Sachbericht enthalten, siehe AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (116). 140 Bericht Semenovs aus Berlin über VČ an Vyšinskij v. 20. April 1946 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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über die Entwicklungen in Nürnberg ver­einbarten Semenov und Goršenin jedoch die unverzügliche Übersendung der stenografischen Sitzungsprotokolle nach­ Moskau.141 Anhand der vorstehend beschriebenen Vorgänge wird ersichtlich, dass die Intervention der Sowjetführung in die konkrete Arbeit der Nürnberger Akteure im Laufe des Prozesses augenscheinlich nicht von gleichbleibender Intensität war. Während die in Nürnberg eingerichtete Kommission in der Anfangsphase des Prozesses über detaillierte und aufeinander abgestimmte Einzelweisungen auf das Verhalten aller maßgeblichen sowjetischen Prozessakteure einzuwirken bestrebt war und dabei eine Koordinierung aller Aktivitäten zur Verfolgung spezifisch sowjetischer Interessen im Sinne hatte, bedurfte es einer derart minu­tiösen Steuerung durch ein Gremium vor Ort in späteren Prozessphasen nicht mehr zwingend. Fragen von grundlegender Bedeutung – wie z. B. die Vorbereitung von Dokumenten und Zeugen im Zusammenhang mit der Katyn-Problematik und alle hiermit einhergehenden Fragen142  – wurden letztlich ohnehin von der in Moskau unter dem Vorsitz von Vyšinskij tagenden Regierungskommission143 erörtert und entschieden. Das politisch gebotene Vorgehen der Nürnberger Akteure in Einzelfragen wurde mit Moskau unmittelbar namentlich über Fernkommunikationsmittel abgestimmt.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT: Zielrichtung, Vortrag und Beweisführung 1. Der Eröffnungsvortrag des sowjetischen Hauptanklägers Rudenko Die Einführung des ihrerseits zusammengestellten Beweismaterials nahm für die sowjetische Anklage am 8. Februar 1946 mit der Eröffnungsrede des Hauptanklägers Rudenko144 ihren Anfang und endete am 27. Februar 1946 mit Abschluss des Vortrags von Hilfsankläger Smirnov zu Verbrechen gegen die Humanität.145 Die Vorbereitungen zur Eröffnungsrede Rudenkos vollzog sich in mehreren Etappen, wobei der Text bis zu seiner endgültigen Freigabe durch das das ZK VKP(b)146 mehrmals geprüft, inhaltlich überarbeitet und ergänzt worden war. Ein früher Entwurf der Rede aus dem Kreis der Moskauer Regierungskommis 141

Bericht Semenovs v. 20. April 1946 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109. Dazu ausf. unten Kap. G. III. 3. a) bb) (3). 143 Vgl. Kap. F. II. 2. 144 Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946 (Fn. 11), IMT, Bd. VII, S. 166–218. 145 Protokoll der Verhandlung v. 25.  bis 27.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  266–378; russ. Fassung auszugsweise abgedr. in Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 330–360. 146 Vgl. Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (82). 142

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

sion147 lag dem stellvertretenden Leiter der Ermittlungsabteilung der Staatsanwaltschaft der UdSSR und Leiter der Ermittlungsabteilung in Nürnberg Aleksandrov bereits Anfang November vor, der Vyšinskij sein tendenziell negatives Votum am 12. November 1945 zuleitete.148 Er kritisierte, dass der Text „unordentlich zusammengestellt“ sei, dass er viele „stempelhafte Phrasen“ (štampovannye frasy) enthalte, zahlreiche Redundanzen und tatsächliche Ungenauigkeiten aufweise und daher einer „gründlichen Überarbeitung“ bedürfe.149 Nach Aleksandrovs Bewertung fand in dem Entwurf der Eröffnungsrede insbesondere nur unvollkommen Ausdruck, dass den nationalsozialistischen Kriegsverbrechern in erster Linie die Eroberung einer Reihe von europäischen Ländern und die Unterwerfung ihrer Völker zur Last gelegt wurden. Demgegenüber ließ der Entwurf nach seiner Wahrnehmung den unzutreffenden Eindruck entstehen, der zentrale Vorwurf gegen die Angeklagten entzünde sich am „Versuch der Organisation einer sog. neuen ­Ordnung“150. Nicht zuletzt bemängelte Aleksandrov, dass die „Aufzählung der Verdienste der UdSSR“ den bedeutendsten Beitrag schlicht unerwähnt lasse, nämlich die Niederschlagung und Zerstörung des größten Teils der deutschen Ar 147 Wie das Protokoll der Regierungskommission Vyšinskijs vom 16. Nov. 1945 belegt, geht der erste Entwurf der Eröffnungsrede im Wesentlichen auf Vorarbeiten der Mitglieder der Regierungskommission zurück. Wie die Formulierung des Textes genau zustande gekommen ist, geht aus der Quelle indes nicht hervor. Vyšinksij führt an der entsprechenden Stelle Folgendes aus: „Rudenko hat bis jetzt noch keinen Plan für die Durchführung des Prozesses. Er ist daher hierauf noch nicht vorbereitet. Den gemeinsam mit Euch erarbeiteten Entwurf einer Eröffnungsrede habe ich an das ZK übermittelt“, Ü. d. Verf., Sitzungsprotokoll der Regierungskommission v. 16. Nov. 1945, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 75–76, hier Bl. 75, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 123, S. 290–291, hier S. 290. 148 Bericht von Aleksandrov an Vyšinskij v. 12. Nov. 1945, AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 70–72. 149 Ü. d. Verf., Bericht von Aleksandrov an Vyšinskij v. 12. Nov. 1945 (Fn. 148), AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 70 (70). 150 Ü. d. Verf., Ziff. 1 des Berichts von Aleksandrov an Vyšinskij v. 12. Nov. 1945 (Fn. 148), AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 70 (70). Die Fokussierung auf diesen Gesichtspunkt findet sich in der Endfassung jedenfalls nicht in der vorherigen Deutlichkeit wieder. Zu Beginn der Eröffnungsrede führte Rudenko aus: „Wir beschuldigen die Angeklagten, daß sie selbst oder durch ihre Helfershelfer den verbrecherischen Plan der Verschwörung organisierten, anstifteten und unmittelbar ausführten.“, IMT, Bd.  VII, S.  167. Eine ähnliche Formulierung wählte er auch an einer anderen Stelle: „Ich, im Namen der Sowjetunion, und meine geehrten Kollegen, die Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich, wir beschuldigen die Angeklagten, daß sie durch eine verbrecherische Verschwörung die ganze deutsche Zivil- und Militärmaschine leiteten und den Staatsapparat Deutschlands in einen Apparat zur Vorbereitung und Durchführung der verbrecherischen Angriffe und in einen Vernichtungsapparat für Millionen unschuldiger Menschen umgestalteten.“, IMT, Bd. VII, S. 171. Vgl. auch ebd., S. 175. Das Element der „neuen Ordnung“ findet sich in der Rede folgendermaßen formuliert wieder: „Das Ziel der verbrecherischen Verschwörung bestand in der Errichtung einer räuberischen ‚Neuen Ordnung‘ in Europa. Diese ‚Neue Ordnung‘ stellte eine Schreckensherrschaft dar, mit deren Hilfe in den von den HitlerHorden überrannten Ländern alle demokratischen Einrichtungen und bürgerlichen Rechte der Bevölkerung vernichtet und diese Länder selbst einer raubsüchtigen Ausbeutung und Ausplünderung ausgesetzt wurden.“, IMT, Bd. VII, S. 174.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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mee durch sowjetische Truppen.151 Der viele weitere Verbesserungsvorschläge redaktioneller, aber auch inhaltlicher Natur aufzeigende Bericht schloss mit dem Ratschlag Aleksandrovs, den Entwurf der Rede von Grund auf zu revidieren.152 Am 19. November 1945 informierte der stellvertretende Politische Berater der SMAD Semenov im Auftrag Porovskijs den stellvertretenden Volkskommissar Vyšinskij über einen Beschluss der Hauptankläger, demzufolge die Eröffnungs­ reden der Hauptankläger mehr Zeit als ursprünglich vorgesehen in Anspruch nehmen würden. Zuvor hatte demnach Übereinkunft in Bezug auf eine Redezeit von lediglich bis zu zwei Stunden bestanden.153 Die in Aussicht genommene Länge der Eröffnungsreden der amerikanischen, britischen und französischen Anklage war in der Folge permanenter Gegenstand der während der Abwesenheit Rudenkos zwischen Moskau und Nürnberg eingerichteten telegrafischen Korrespondenz.154 Rudenkos Erkenntnisinteresse galt namentlich den Fragen, wie umfangreich die Eröffnungsplädoyers der übrigen Ankläger ausfallen würden, wann die anderen Anklageteams den sowjetischen Anklägern ihre Redeentwürfe zuleiten würden und wann sie ihrerseits den sowjetischen Entwurf erwarteten.155 Die Ausgestaltung der Eröffnungsrede Rudenkos war sodann auch Erörterungsgegenstand der ersten Sitzung der Nürnberger Vyšinskij-Kommission am 26. November 1945.156 Insoweit wurde der Beschluss gefasst, die zum Sitzungszeitpunkt für eine Länge von zwei Stunden konzipierte Rede Rudenkos im Hinblick auf die nunmehr ins Auge gefasste Redezeit von vier bis acht Stunden auf Seiten der ande 151

Ü. d. Verf., Ziff. 4 des Berichts von Aleksandrov an Vyšinskij v. 12. Nov. 1945 (Fn. 148), AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 70 (71). In Reinform umgesetzt werden konnte der Vorschlag indes nicht. Zu Beginn seines Eröffnungsplädoyers sprach Rudenko von „den zerschmetternden Schlägen der vereinten Streitkräfte der anglo-sowjetisch-amerikanischen Koali­tion“, IMT, Bd. VII, S. 166. An einer anderen Stelle führte er aus: „Alle diese Berechnungen der Angreifer wurden jedoch durch den heroischen Widerstand der Roten Armee zunichte gemacht, die aufopferungsfreudig die Ehre und Unabhängigkeit ihres Heimatlandes verteidigte. Die Vormarschpläne der deutschen Heere scheiterten einer nach dem anderen. […] Das Sowjetvolk hat in Schlachten von bisher ungeahnter Größe und Erbitterung tapfer und mutig die Ehre, die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Heimat verteidigt und, zusammen mit den Truppen der­ alliierten Nation, die freiheitsliebenden Völker der Welt vor der furchtbaren Gefahr der Nazi-­ Unterjochung gerettet.“, IMT, Bd. VII, S. 192 f. Auch am Ende seiner Ausführungen findet sich eine Bewertung des Kriegsausgangs als Resultat „des heldenhaften Kampfes der Roten Armee und der verbündeten Ameen“, IMT, Bd. VII, S. 219. 152 Bericht von Aleksandrov an Vyšinskij v. 12. Nov. 1945 (Fn. 148), AVPRF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 10, Bl. 70 (72). 153 Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 57–58, hier Bl. 57 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 79–80, hier Bl. 79, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 128, S. 299–300, hier S. 299. 154 Die Ablichtungen der betreffenden telefonischen Mitteilungen (Telefonogramme)  sind abgedr. bei Zvjaginzev, Njurnbergskij Nabat, S. 90–92.  155 Telefonische Mitteilung Rudenkos, oben D., abgedr. bei Zvjaginzev, Njurnbergskij Nabat, S. 92. 156 Sitzungsprotokoll v. 26.  Nov. 1945 (Fn.  85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  142, S. 314–316.

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ren Hauptankläger insgesamt zu verlängern.157 Mit einer Ausführungsfrist bis zum kommenden Tag wurden einzelne Personen angewiesen, sich der Auswahl von Dokumenten für den zu ergänzenden Teil der Eröffnungsrede und der Abfassung der entsprechenden Passagen anzunehmen.158 Den Beratern Man’kovskij und Trajnin wies man demnach den Abschnitt „Ideologie“, dem Kommissionsmitglied Kuz’min, einem Mitarbeiter des NKID Gribanov und dem Hilfsankläger Šejnin den Abschnitt „Aggression gegen die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien“ und dem Leiter der Dokumentationsabteilung Karev sowie dem Hilfsankläger Raginskij den Abschnitt „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu. Den wichtigsten Abschnitt „Aggression gegen die UdSSR“ sollten laut Protokoll V ­ yšinskij, Goršenin und Rudenko selbst bearbeiten. Dass der Beschluss, das Manuskript zur Eröffnungsrede Rudenkos an die voraussichtliche Rededauer der Eröffnungsplädoyers der anderen Hauptankläger anzupassen, im Ergebnis umgesetzt worden ist, erweist sich im Abgleich mit der tatsächlichen Länge der Eröffnungsrede vom 8.  Februar 1946, die sich über die gesamte Dauer der Sitzung am Vormittag erstreckte und etwa die Hälfte der Nachmittagssitzung desselben Tages einnahm.159 Damit unterschied sich der Eröffnungsvortrag des sowjetischen Hauptanklägers in zeitlicher Hinsicht nicht mehr wesentlich von dem der amerikanischen Anklage, für die Hauptankläger Robert H. Jackson am 21. November 1945 in nahezu160 der gesamten Vormittags- und der ganzen Nachmittagssitzung seine Eröffnungsrede vortrug161, die die Vorlage der Beweismittel der Anklage insgesamt einleitete. Eine mit Rudenkos Vortrag am 8. Februar 1946 vergleichbare stellten auch die Eröffnungs 157 Zuvor hatte der stellvertretende Politische Berater der SMAD Semenov im Auftrag­ Porovskijs aus Berlin am 19. Nov. 1945 mittels VČ Vyšinkij über die Umstände der Veränderung der Länge von Redebeiträgen informiert. Laut Pokrovskij war im Komitee der Ankläger zunächst eine Maximaldauer von zwei Stunden vereinbart worden. Diese Absprache wurde zu einem späteren Zeitpunkt revidiert, siehe Semenov an Vyšinskij am 19. Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 57–58, hier 57 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 79–80 (hier 79), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 128, S. 299–300, hier 299. Ausf. zur Er­ öffnungsrede des sowjet. Hauptanklägers Kap. G. III. 1. 158 Ziff. I. 2 v) des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (314 f.). 159 Eröffnungsrede Rudenkos v. 8. Feb. 1946 (Fn. 11), IMT, Bd. VII, S. 166–218. 160 Jacksons Vortrag gingen lediglich die (rasche) Klärung einiger Fragen seitens der Verteidiger (u. a. über die Möglichkeit, vor der Sitzung mit den Angeklagten zu sprechen) und die Erklärungen der Angeklagten zur Frage, ob sie sich schuldig oder nicht schuldig bekennen, voraus, IMT, Bd. II, S. 111–115. 161 Eröffnungsrede v. Robert H. Jackson am 21. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 115–183; für die bereits während des laufenden Prozesses im Jahr 1946 veröffentlichte Fassung in dt. Sprache vgl. Jackson, Grundlegende Rede; russ. Fassung abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/ Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 390–452; für die engl. Fassung IMT, Vol. II, S. 98–155. Rudenkos Stellvertreter Pokrovskij beurteilte die Eröffnungsrede von Jackson ausgesprochen wohlwollend. In einem von Semenov über Berlin am 21. Nov. 1945 übermittelten Kurzbericht Pokrovskijs betreffend die Vormittagssitzung des 21.  Nov. 1945 notierte er: „Jackson begann mit seiner exzellent vorbereiteten Rede. […] Einzelne Stellen sind unter dem Gesichtspunkt der internationalen Höflichkeit und der Redekunst maßstabsbildend.“, Ü. d. Verf., AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 83, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.),

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rede des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross am 4. Dezember 1945162 und die des französischen Hauptanklägers François de Menthon am 17. Januar 1945163 dar. In Bezug auf die der sowjetischen Anklage zur Verfügung stehenden und mit der Anklageschrift bereits an das Tribunal überreichten Dokumente wurde in der Kommissionssitzung am 26. November 1945 ferner beschlossen, die Dokumente entsprechend ihrer beabsichtigten Berücksichtigung im Kontext der Eröffnungsrede Rudenkos, ihrer Einbeziehung in nachfolgende Vorträge der sowjetischen Hilfs­ankläger oder im Rahmen der Vernehmung von Angeklagten aufzuteilen.164 Die Verantwortung für die Abfassung der einleitenden Passagen und des „allgemeine Rechtsfragen“165 betreffenden Teils der Eröffnungsrede war Aron Trajnin übertragen. Über den Fortgang seiner Arbeiten berichtete er in der sechsten Sitzung der Nürnberger Kommission am 6. Dezember 1945, im Zuge derer der von Trajnin vorgelegte Entwurf sogleich auch per Beschluss gebilligt wurde.166 Trajnin griff in der ihm inhaltlich überantworteten Sektion des Anklageentwurfs an vielen Stellen auf Ausführungen aus seinen bereits veröffentlichten Abhandlungen167 zurück, so z. B. bei der Feststellung, dass „der Angriffskrieg den schwersten Eingriff in die friedlichen Beziehungen der Völker und das schwerste internationalen Verbrechen darstellt“168. An diversen Stellen verwendete er bereits in seinen Studien wiedergegebene Nachweise etwa zu internationalen Verträgen ersichtlich als Textbausteine für den Entwurf des ersten Abschnitts zur Eröffnungsrede.169 Der von Trajnin entworfene Abschnitt widmete sich nach einer kurzen Einleitung zunächst der Erörterung SSSR, Dok. No 138, S. 310. Nikitčenko ging in seinem Bericht an Vyšinskij am 22. Nov. 1945 zur gleichen Sitzung in neutralerer Form nur kurz auf die Rede ein, siehe Bericht Nikitčenkos an Vyšinskij am 22. Nov. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 84, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 139, S. 310–311, hier S. 311. 162 Die Eröffnungsrede des britischen Hauptanklägers nahm die gesamte Vormittags- und den größten Teil der Nachmittagssitzung des 4. Dez. 1945 ein, IMT, Bd. III, S. 106–168; russ. Übersetzung abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 453–508; für die engl. Fassung IMT, Vol. III, S. 91–145. 163 Die Eröffnungsrede des französischen Hauptanklägers nahm ebenfalls die gesamte Vormittags- und den größten Teil der Nachmittagssitzung des 17. Jan. 1946 in Anspruch, IMT, Bd. V, S. 415–480; russ. Übersetzung abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 509–636; für die engl. Fassung IMT, Vol. V, S. 368–426. 164 Ziff. I. 2 a)-v) des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (314). 165 Vgl. hierzu Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 167–172.  166 Ziff. 8 des Sitzungsprotokolls No 6 v. 6. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 159, S. 338 (339). Die Kommission beschloss ferner, dass die Fertigstellung dieses theorielastigen Abschnitts der Rede zu beschleunigen ist. 167 Hierzu bereits ausf. Kap. B. III. 168 Vgl. das Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 168 einer-, die Ausführungen in Trajnin, Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 35 f., andererseits; für die engl. Fassung vgl. auch Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 37. 169 Die im Rahmen der Eröffnugnsrede wiedergegebene Passage aus dem Kellog-BriandPakt v. 27. Aug. 1928 (IMT, Bd. VII, S. 169) etwa hatte Trajnin bereits in 1937 in Zaščita mira, S. 44, und im Jahr 1944 in Ugolovnaja otvetstvennost’, S. 42 f., aufgenommen; für die engl. Fassung vgl. Trainin, Hitlerite Responsibility, S. 43 f.

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einiger grundlegender juristischer Fragestellungen, darunter namentlich der Geltung des Grundsatzes ‚nullum crimen sine lege‘ und des Vorliegens einer die Anwendung der Strafsanktion legitimierenden Rechtsgrundlage.170 Er reagierte damit wohl insbesondere auf die im Namen aller Verteidiger durch den Rechtsbeistand Görings, Dr. Otto Stahmer, am 19. November 1945 eingereichte Eingabe der Gesamtverteidigung, in der in erster Linie die Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege gerügt wurde.171 Trajnin war bei der Abfassung des Abschnitts ersichtlich daran gelegen, den Vorwurf eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot auszuräumen: „Durch das in London am 8. August 1945 geschlossene Abkommen der im Interesse aller freiheitsliebenden Völker handelnden vier Mächte ist der Internationale Militärgerichtshof für die Verurteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher geschaffen worden. Das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs, das einen unabtrennbaren Bestandteil des Abkommens bildet, stellt daher das unerläßliche und ausreichende Gesetz dar, das die Grundlage, das Gerichtsverfahren und die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher bestimmt. Die aus Furcht vor der Verantwortung oder im besten Falle aus Unverständnis über die rechtliche Natur der internationalen Justiz vorgebrachte Berufung auf den Grundsatz: ‚nullum crimen sine lege‘, beziehungsweise den Satz: ‚Das Gesetz hat keine rückwirkende Kraft‘ verliert jegliche Bedeutung angesichts dieses einen grundlegenden und entscheidenden Umstandes, daß nämlich das Statut des Gerichtshofs vorhanden und wirksam ist, und daß alle seine Vorschriften bedingungslose und bindende Wirkung haben.“172

Im Zuge Abfassung der übrigen Teile der Eröffnungsrede und der Planung der Auftritte der sowjetischen Hilfsankläger sollte sich namentlich der Abschnitt zur Aggression gegen die UdSSR173 als besonders problematisch erweisen. Dies war 170

Protokoll der Verhandlung, IMT, Bd. VII, S. 167–171. Abgedr. in IMT, Bd.  I, S.  186–188; russ. Übersetzung in GARF, d.  7445, op. 2, d.  8, Bl. 12–13; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 135, S. 306–308. 172 IMT, Bd. VII, S. 168. Der Hinweis auf das ‚Unverständnis über die rechtliche Natur der internationalen Justiz‘ könnte so zu verstehen sein, dass das Rückwirkungsverbot im Völker­ strafrecht keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann. Trajnin hatte zusammen mit Robert Jackson bereits auf der Londoner Verhandlung die Ansicht vertreten, dass Angriffskriege universell strafwürdige Völkerrechtsverbrechen darstellen, vgl. den Meinungsaustausch zwischen Gros, Jackson und Trajnin in der Sitzung am 23. Juli 1945, Verhandlungsprotokoll v. 23. Juli 1945, Jackson Report, Dok. XLIV, S. 328–347, hier S. 335. Für die Argumentation des britischen Hauptanklägers Shawcross am 4. Dez. 1945 zur o. g. Problematik IMT, Bd. III, S. 124; vgl. auch die Ausführungen de Menthons für die französische Anklage am 17. Jan. 1946, IMT, Bd. V, S. 418. Weiterführend zum Vorwurf des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot siehe Hahnenfeld, Herkunft, S. 25 ff., eingehend auch Jung, Rechtsprobleme, S. 138 ff. 173 Protokoll der Verhandlung v. 8.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  180 ff. Entsprechend der Einigung der Anklagevertreter im Oktober 1945 sollte die UdSSR ursprünglich lediglich zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den östlichen Gebieten vortragen. Wann der Entschluss gefasst wurde, einen Vortrag über den Angriff auf die UdSSR in die Eröffnungsrede und den späteren Vortrag der Anklage aufzunehmen, lässt sich nicht genau bestimmen. Spätestens mit der Notwendigkeit der Vergrößerung des zeitlichen Umfangs der Rede beschloss die Kommission in Nürnberg jedoch, dass der Abschnitt „Aggression gegen die UdSSR“ von Vyšinskij, Goršenin und Rudenko selbst ergänzt werden soll, Ziff. I 2 v) des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (314 f.). Vgl. hierzu auch Zorja, in: Kutafin (Hrsg.), Inkvizitor, S. 268 (275). 171

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dem Umstand geschuldet, dass die sowjetische Anklagedelegation zwar zu diesem Abschnitt vortragen wollte, die in Betracht kommenden Beweismittel indes bereits von Seiten der anderen Delegationen in das Verfahren eingeführt und auf diesem Wege ‚verbraucht‘ worden waren. Insbesondere die in den amerikanischen Fundus eingestellten Beweise waren im Zeitpunkt der sowjetischen Eröffnungsrede zum größten Teil bereits von anderen Delegationen vorgelegt und verlesen worden.174 Bereits in der ersten Sitzung der Nürnberger Kommission wurde daher beschlossen, dass (1) Rudenko mit Jackson eine Einigung darüber herbeizuführen habe, dass die thematisch den Angriff auf die UdSSR betreffenden Dokumente dem Tribunal nicht bereits im Zuge der amerikanischen Anklage überreicht, sondern dem sowjetischen Hauptankläger zur eigenen Verwendung überlassen werden sollten und dass (2) die Liste der für einen derartigen Vorbehalt in Frage kommenden Dokumente schnellstmöglich erstellt werden müsse.175 Rudenko setzte die ihm zugewiesene Aufgabe unmittelbar um und übermittelte Jackson ein Schreiben, in dem er den amerikanischen Hauptankläger förmlich um die Zuleitung aller den Angriff auf die UdSSR betreffenden Dokumente ersuchte, verbunden mit dem Hinweis, dass die sowjetische Anklage die betreffenden Beweismittel selbst dem Tribunal vorzulegen gedenke.176 In der Folgezeit unternahm die sowjetische Seite weitere Versuche, die übrigen Delegationen zur Bereitstellung der sie betreffenden Dokumente bzw. zum Verzicht auf ihre gerichtliche Einreichung zu veranlassen. Die Nürnberger Kommission fasste in mehreren Folgesitzungen weitere Beschlüsse, mittels derer Rudenko und Nikitčenko zur unbedingten Verwirklichung dieser Vorgabe angehalten wurden. Beispielsweise wies die Kommission­ Rudenko und Nikitčenko am 1. Dezember 1945 an, die Verfügbarkeit sämtlicher Dokumente betreffend die UdSSR sowie Jugoslawien, Tschechoslowakei und Polen mit einer Frist bis zum 3. Dezember 1945 sicherzustellen.177 In der Vormittagssitzung am 5. Dezember 1945 wurde ferner beschlossen, dass Rudenko in der Sitzung des Anklägerkomitees am gleichen Tag erneut auf die Übergabe der ganzen oder eines Teils dieser Dokumente bezüglich der Aggression gegen die UdSSR drängen sollte.178 Dieses Ansinnen blieb im Ergebnis weitgehend erfolglos. In der Abendsitzung am 5. Dezember 1945 berichtete Rudenko u. a., dass die begehrten Dokumente nach Jacksons Auskunft bereits editiert und für die gerichtliche Vorlage präpariert worden seien und es daher nicht mehr möglich sei, sie aus dem 174 Die Vorlage des Beweismaterials über den Angriff auf die Sowjetunion erfolgte durch den amerikanischen Hilfsankläger Sidney Alderman am 7. und 10. Dez. 1945, IMT, Bd. III, S. 366 ff. 175 Ziff. 4. I-2. des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). 176 Vgl. Schreiben Rudenkos an Jackson v. 27.  Nov. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d.  6, Bl. 234, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 145, S. 321. 177 Ziff. 2 a) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324). 178 Ziff. 1 des Sitzungsprotokolls No 4 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 178), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 157, S. 335 (335–336).

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vorbereiteten Dossier herauszulösen. Jackson erwähnte weitere 1000 Dokumente, die er der sowjetischen Anklage unter der Voraussetzung zur Verfügung stellen wollte, dass das Gericht entgegen seiner aktuell eingenommenen Position schon die Erwähnung des Dokuments statt ihrer Vorlage als Mittel der Beweisführung akzeptieren würde. Die Kommission nahm schließlich laut Protokoll „zur Kenntnis“, dass die auf Zurverfügungstellung der amerikanischen Dokumente gerichteten Bemühungen ohne Erfolg geblieben seien. Rudenko wurde daraufhin verpflichtet, bis zum Abend des 6. Dezember 1945 eine vollständige Liste der seitens der amerikanischen Delegation dem Tribunal vorgelegten oder hierfür vorgesehenen Dokumente zu erstellen.179 Dieser Vorgabe immerhin konnte Rudenko fristgerecht Rechnung tragen.180 Von der Erfolglosigkeit ihrer insoweit entfalteten Bemühungen unbeirrt, versuchte die sowjetische Seite auch in der Folge weiter auf die Übergabe der Dokumente betreffend die UdSSR hinzuwirken, u. a. im Rahmen eines persönlichen Gespräches zwischen dem Vorsitzenden der (weiterhin im Verborgen agierenden) Kommission Goršenin und Jackson am Rande der Verhandlung am 11.  Dezember 1945.181 Einem internen Memorandum über die im Zeitraum zwischen dem 1. und 20. Dezember 1945 durchgeführten Maßnahmen zufolge erhielt die sowjetische Delegation von amerikanischer Seite daraufhin indes lediglich „einige Dokumente“, die für die sowjetische Seite überhaupt von­ Belang waren182, darunter unter anderem sechs Berichte über Kriegsverbrechen gegenüber sowjetischen Staatsbürgern.183 In Anbetracht der bereits erfolgten oder in geplanten Einführung des wesentlichen westalliierten Beweismaterials bereits im Rahmen der vorhergehenden Eröffnungsvorträge und in Ermangelung gerichtsverwertbaren Materials aus eigenen Quellen musste die Vorbereitung der Eröffnungsrede weitgehend ohne Bezugnahmen auf Dokumente zur Aggression gegen die UdSSR auskommen. Am 9. Dezember 1945 berichtete Man’kovskij über die Arbeit an dem Abschnitt der Eröffnungsrede betreffend Norwegen, deren Fertigstellung nach eigenen Angaben unmittelbar bevorstand.184 In ihrer elften Sitzung am 14. Dezember 1945 ordnete

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Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (338). 180 Ziff. 3 des Sitzungsprotokolls No  6 v. 6.  Dez. 1945 (o. Fußn 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 159, S. 338 (339). 181 Vgl. hierzu Ziff.  2 des Sitzungsprotokolls No  9 v. 11.  Dez. 1945 (Fn.  100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 170, S. 354 (354). 182 GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 68 (m. Rücks.), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 183, S. 367–369, hier Bl. 358. 183 Siehe Memorandum v. Robert J. Gill an Rudenko v. 18. Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8 Bl. 63, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 181, S. 366. 184 Ziff. 6 des Sitzungsprotokolls No 8 v. 9. Dez. 1945, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 167, S. 350 (351). Wie ein Schreiben Goršenins an Molotov v. 7. Jan. 1946 belegt, umfasste der ursprünglich geplante Anklagevortrag zu Kriegsverbrechen neben Taten auf dem Territorium der UdSSR, Polens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens auch Kriegsverbrechen auf norwegischem Boden. Offenbar sollte die Eröffnungsrede auch diesen (ursprünglich R ­ aginskij

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die Nürnberger Kommission die erneute Durchsicht der Eröffnungsrede und erforderlichenfalls auch Anpassung des Textes auf Grundlage der Dokumente an, die durch die anderen Delegationen zwischenzeitlich an das Tribunal überreicht oder dort verlesen worden waren.185 Mit Beginn der bis 2. Januar 1946 andauernden Verhandlungspause des Tribunals am 20. Dezember 1945186 waren laut einem internen Bericht der Abschnitt zu Norwegen187 sowie der theoretische Teil fertiggestellt worden. Zusätzlich hatte man aus Anlass der ersten Auftritte der alliierten Ankläger vor Gericht eine Übersicht über zwischenzeitlich identifizierten Änderungsbedarf gefertigt und Überarbeitungen an dem von Shawcross seinen Partnern vorab vorgelegten Entwurf seiner Eröffnungsrede188 vorgeschlagen.189 Am 4. Januar 1946 legte Goršenin den Entscheidungsträgern in Moskau einen Entwurf der sowjetischen Eröffnungsrede vor.190 Währenddessen bemühte man sich in Moskau weiterhin um die Aushebung weiteren Beweismaterials zur originären Abstützung des sowjetischen Anklagevorwurfs in tatsächlicher Hinsicht. So wurden zwei Mitarbeiter des NKID mit der Zusammenstellung von Unterlagen über die nationalsozialistische Rassentheorie zur Einarbeitung in die Eröffnungsrede beauftragt.191 Am 6. Januar 1946 wurde durch Beschluss des Politbüro ZK VKP(b) eine Unterkommission ins Leben gerufen, deren Auftrag unter anderem darin bestand, durch Befragung rumänischer und ungarischer Kriegsgefangener Beweismaterial zur Substantiierung des Vorwurfs zu gewinnen, dass sich Rumänien, Ungarn und Deutschland lange vor dem 22. Juni 1941 – dem rumänischen Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte – auf zugewiesenen) Teil  des späteren Vortrags einbeziehen bzw. ankündigen. Mit dem vorstehend bezeichneten Schreiben wurde Molotov indes die Elimination der Norwegen betreffenden Passagen aus dem Gesamtvortrag der sowjetischen Anklage notifiziert, siehe Ziff. II. 3 des Schreibens, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 27, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 191, S. 381–382. Entsprechend enthielt Rudenkos Rede keine besonderen Ausführungen zu Kriegsverbrechen auf norwegischem Territorium mehr. Norwegen wurde in der Rede vielmehr nur noch im Zusammenhang mit der ideologischen Vorbereitung des Angriffskriegs und seiner Durchführung erwähnt. 185 Ziff. 3 des Sitzungsprotokolls No 11 v. 14. Dez. 1945 (Fn. 54), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 175, S. 359 (360). Verantwortlich für die Umsetzung des Auftrags innerhalb einer zweitätigen Frist waren Trajnin, Man’kovskij, Šejnin und Raginskij. 186 Nach Abschluss der Nachmittagssitzung am 20. Dez. 1945 vertagte sich das Gericht bis zum 2. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 280–281. 187 Zu dessen Schicksal bereits oben Fn. 184. 188 Für die Eröffnungsrede des britischen Hauptanklägers am 4. Dez. 1945 siehe IMT, Bd. III, S. 106–168. 189 Bericht über die von der Kommission im Zeitraum vom 1. bis 20. Dez. 1945 getroffenen Maßnahmen, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 68 (hier Rücks.), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 183, S. 367–369, hier S. 368. 190 Schreiben Goršenins an Berija v. 4. Jan. 1946, GARF, f. R-8131, op. 37, d. 2196, Bl. 13; Goršenin an Mikojan, ebd., Bl. 12. 191 Bericht von Lavrov u. Šumskij an Vyšinskij über die Zusammenstellung von Materialien zum Thema Rassentheorie v. 22. Dez. 1945, AVPRF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 1, Bl. 204, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 186, S. 374–375.

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den Angriff auf die UdSSR verständigt hatten.192 Darüber hinaus sollte die Unterkommission den Äußerungen des deutschen Generals Erich Buschenhagen193 zu Übereinkünften zwischen Finnland und dem Deutschen Reich den Angriff auf die UdSSR betreffend auf den Grund gehen. Die von der Unterkommission im Zuge der Vernehmungen des 1944 an die Sowjetunion ausgelieferten194 rumänischen Diktators Ion Antonescu195 und des deutschen Generals Buschenhagen196 erlangten Aussagen fanden schließlich Eingang in Rudenkos Eröffnungsrede.197 In der Folgezeit entzündete sich weitere Kritik an der im Dunstkreis der Moskauer Regierungskommission zirkulierenden Entwurfsfassung. In einer am 7. Januar 1946 vorgelegten und zur Weiterleitung an Goršenin bestimmten Analyse aus der Feder des Pravda-Redakteurs und Sowjetideologen Leont’ev198 etwa wurde die 192

Ü. d. Verf., Ziff.  17 aus dem Protokoll No  48 der Sitzung des Politbüro ZK VKP(b) v. 6. Jan. 1945, RGASPI, f. 17, op. 167, d. 38, Bl. 1–2, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 190, S. 380–381, hier S. 380. Zu Kommissionsmitgliedern wurden Ždanov (Vorsitzender), Goršenin, Rudenko, Merkulov, Kruglov und Abakumov bestimmt. 193 Buschenhagen, Erich (1895–1994), geriet als Kommandierender General der Infanterie des LII. Armeekorps im Sept. 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Schon kurz darauf trat er als Mitunterzeichner des am 8. Dez. 1944 in Moskau von einer Gruppe kriegsgefangener deutscher Offiziere im Generalsrang an „Volk und Wehrmacht“ adressierten Aufrufs in Erscheiung, der NS-Führung die Gefolgschaft zu verweigern und die Kriegshandlungen einzustellen. Das Schreiben wurde erstmals veröffentlicht im Organ des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD), „Freies Deutschland“ Nr. 50 v. 10. Dez. 1944, S. 1, und ist abgedr. bei Scheurig, Verräter oder Patrioten, S. 189–192. Weitere biograph. Nachw. zu Buschenhagen bei ­Hildebrand/ Rövekamp, in: Bradley (Hrsg.), Die Generale der Heeres 1921–1945, Bd. 2, S. 384–386. 194 Antonescu, Ion (1882–1946), wurde wegen seiner Rolle als rumänischer Militärmacht­ haber (1940–1944) und Verbündeter Hitler-Deutschlands am 17. Mai 1946 von einem in Bukarest eigens für diesen Zweck eingerichteten rumänischen ‚Volkstribunal‘ als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Für die Organisation und den verfahrensrechtlichen Rahmen dieses ‚Tribunalul Poporului‘ siehe Art. 10 bis 14 des rumänischen Gesetzes Nr. 312 über die Verfolgung und Bestrafung der für das nationale Desaster oder die Kriegsverbrechen verantwortlichen Personen (Lege Nr. 312 v. 24 April 1945, pentru urmarirea si sanctionarea celor vinovati de dezastrul tarii sau de crime de razboi, abgedr. in Monitorul Oficial Partea I Nr. 94 v. 24. April 1945, S.  3362–3366). Vollstreckt wurde das Urteil am 1.  Juni 1946. Ausf. und m. zahlr. w. Nachw. zur Einrichtung und zum Verfahren dieses Tribunals International Commission on the Holocaust in Romania, Final Report, Bukarest 2004, S. 313–332; für den Einfluss des Verfahren vor dem Nürnberger IMT auf die Arbeit des rumänischen Volkstribunals siehe ebd., S. 319 f. 195 Ein aus dem Privatarchiv Antonescus konfisziertes Protokoll der Unterredung mit­ Ribben­trop v. 12. Feb. 1942 wurde von Hilfsankläger Zorja am 11. Feb. 1946 als Beweisstück USSR-233 vorgelegt, IMT, Bd. VII, S. 309 (spätere Bezugnahmen ebd., S. 352, 361). Das Protokoll seiner Vernehmung wurde ebenfalls am 12. Feb. 1946 als Beweisstück USSR153 von Hilfsankläger Zorja vorgelegt und verlesen, IMT, Bd. VII, S. 337–341.  196 Erich Buschenhagen wurde am 12. Februar 1946 als Zeuge der Anklage in den Zeugenstand gerufen, IMT, Bd. VII, S. 343–349. Das Protokoll seiner Vernehmung v. 5. Jan. 1946 (russ. Dokumentennummer SSSR 184, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 133, Bl. 190) wurde in der Verhandlung indes nicht mehr vorgelegt, vgl. IMT, Bd. XXIII, Dokumentenindex, S. 559. 197 Für die Einführung der Aussagen Antonescus siehe Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 184–186; für die Berücksichtigung der Aussagen Buschenhagens siehe Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, ebd., S. 183 f. 198 Bericht Leont’evs v. 7. Jan. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 373, Bl. 84–85.

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von Trajnin entworfene Einleitung (Seiten 1–7) als zu langatmig und oberflächlich kritisiert. Sie weise die Anmutung eines schablonenartig montierten Zeitungsartikels auf und entbehre der in diesem Fall notwendigen Bedeutungstiefe und Ernsthaftigkeit. Der sich anschließende Abschnitt über bestimmte juristische Fragestellungen (Seiten 8–15) erweise sich zwar insgesamt als gelungener. Allerdings seien zwei auf den Seiten 14 und 15 des Entwurfs der Eröffnungsrede aufgenommene Absätze augenscheinlich einem bereits veröffentlichten Beitrag Trajnins entnommen. Da es unangebracht und peinlich wirke, denselben Text ohne Kennzeichnung noch einmal in einem offiziellen Dokument zu verwenden, seien die betreffenden – offenbar von Trajnin selbst in das Dokument eingebrachten – Passagen unbedingt zu tilgen.199 Auch die tatsächliche Fundierung der Anklage mit belastendem Beweismaterial begegne erheblichen Bedenken. So werde in dem Entwurf der Rede fast ausschließlich auf Dokumente Bezug genommen, die bereits von der amerikanischen Anklage eingeführt (Plan Barbarossa200, Plan „Grün“201 u. a.) oder der Öffentlichkeit bereits anderweitig zugänglich gemacht worden seien (Berichte der Informbjuro, Dokumente der ČGK u. a.). Dem Entwurf der Eröffnungsrede wohne das Potential zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung inne, falls in ihm zur Stützung des Anklagevorwurfs mehr als bisher auf nicht verlesene oder anderweitig veröffentlichte Dokumente Bezug genommen werden könne. Zu Beweiszwecken geeignetes Material stand den sowjetischen Behörden nach Einschätzung des Verfassers auch in hinreichendem Umfang zur Verfügung, da die Rote Armee seiner Kenntnis nach zahlreiche Unterlagen „als Trophäen“ auf ihrem Vormarsch und im besetzten Deutschland hatte sicherstellen können.202 In der Folge wurde der Text des Eröffnungsvortrags jedenfalls einer nochmaligen Überarbeitung unter Berücksichtigung des aufgezeigten Verbesserungspotentials unterzogen und sodann dem ZK VKP(b) zur endgültigen Genehmigung zugeleitet.203 199

Bericht Leont’evs v. 7. Jan. 1946 (Fn. 198), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 373, Bl. 84. Vgl. hierzu die von Hitler als Oberstem Befehlshaber der Wehrmacht erteilte Weisung Nr. 21 (Fall Barbarossa) v. 18. Dez. 1940, BA-MA Freiburg (BArch RM 7/962), Bl. 209–217; vgl. hierzu insbesondere das von Ueberschär/Wette (Hrsg.) vorgelegte Sammelwerk „Unternehmen Barbarossa“; siehe auch die Beiträge bei Foerster (Hrsg.), „Unternehmen Barbarossa“. Die Weisung Nr. 21 wurde von amerikanischer Seite mit der Signatur 446-PS versehen und bereits im Laufe der Eröffnungsdarlegungen Jacksons dem Tribunal als amerikanisches Beweisstück US-31 unterbreitet, vgl auch das Protokoll der Verhandlung v. 21. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 157. Die sowjetische Anklage konnte auf das von amerikanischer Seite bereits vorgelegte Dokument nur noch Bezug nehmen, siehe den Vortrag des Hilfsanklägers Zorja am 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 277; für weitere Bezugnahmen auf das Beweisstück vgl. IMT, Bd. XXIII, Dokumentenindex, S. 536. 201 Für die von Hitler als Oberstem Befehlshaber der Wehrmacht mit Anlage ausgegebene Weisung „Grün“ siehe das Schreiben v. 30.5.1938, abgedr. in: Akten zur Auswärtigen Deutschen Politik 1818–1945 (ADAP), Serie D (1937–1945), Bd. II, Dok. 221, S. 281–285 = Harris, Tyrannen vor Gericht, S. 89–90. Die Weisung „Grün“ wurde unter der Beweismittelsignatur 388-PS erfasst und dem Tribunal von amerikanischer Seite (Ankläger Aldermann) als Dokument US26 unterbreitet, vgl. hierzu Protokoll der Verhandlung v. 26. Nov. 1946, IMT, Bd. II, S. 309. 202 Bericht Leont’evs v. 7. Jan. 1946 (Fn. 198), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 373, Bl. 85. 203 Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (46). 200

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Dass auch die eingehende Abstimmung des Manuskripts zum Eröffnungsvortrag ein allseitiges Einvernehmen über inhaltliche Akzentuierung und Duktus des Plädoyers nicht herbeizuführen vermochte, belegt die Kritik, die im unmittelbaren Anschluss an die von Rudenko auf Grundlage der vom ZK VKP(b) sanktionierten Fassung am 8. Februar 1946 gehaltene Eröffnungsrede204 einsetzte. Trotz der im Vorfeld der Rede im Kreis der Mitglieder der Regierungskommission erfolgten Erörterungen nahm etwa Smirnov in einem auf den 12. Februar 1946 datierenden Schreiben an Molotov daran Anstoß, dass Rudenko die UdSSR im Rahmen seines Eröffnungsplädoyers zu sehr in den Vordergrund gerückt und den Weltherrschaftsbestrebungen der Nationalsozialisten nicht das ihnen gebührenden Gewicht eingeräumt habe.205 Dem Vortrag der sowjetischen Anklage im Abschnitt betreffend die Vorbereitung des Angriffs auf die UdSSR habe augenscheinlich eine nicht ganz zutreffende Deutung der deutschen Aggression zugrunde gelegen. Die Reden Rudenkos und seiner Hilfsankläger – Pokrovskij und Zorja – eröffneten jedenfalls Spielraum für eine verfehlte Interpretation des Inhalts, dass von der hitlerischen Aggression für die westlichen Mächte letztlich keine größere Gefahr ausgegangen sei, da das Hauptziel Deutschlands darin bestanden habe, Lebensraum im Osten zu gewinnen und aggressive Handlungen gegen andere europäische Länder letztlich nur vorbereitende Zwischenschritte auf dem Weg zum Angriff auf die UdSSR bildeten. Eine derartige Wahrnehmung der deutschen Aggression führe zu einem unzutreffenden Verständnis des universalen Charakters des Zweiten Weltkriegs und verkenne insbesondere die auf Erlangung der Weltherrschaft gerichteten imperialistischen Bestrebungen Hitler-Deutschlands.206 2. Die Anschlussvorträge der sowjetischen Hilfsankläger Im Anschluss an die Eröffnungsrede Rudenkos am 8. Februar 1945 legte der Hilfsankläger und Leiter der sowjetischen Dokumentationsabteilung Karev dem Tribunal den Ablauf des sowjetischen Beweisvortrags und die Reihenfolge dar, in der die sowjetischen Anklagevertreter ihre Vorträge halten würden.207 Zunächst trug Rudenkos Stellvertreter Pokrovskij zu „Verbrechen gegen den Frieden“ unter dem Blickwinkel des deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien vor.208 Dem schlossen sich Abschnitte an zum Angriff gegen die Sowjet 204 Eröffnungsrede Rudenkos (Fn.  11), Protokoll der Verhandlung v. 8.  Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 166–218. 205 Schreiben Smirnovs an Molotov v. 12. Feb. 1946, AVPRF, f. 06, op. 8, p. 33, d. 508, Bl. 3. 206 Schreiben Smirnovs an Molotov v. 12. Feb. 1946, AVPRF, f. 06, op. 8, p. 33, d. 508, Bl. 3. 207 Protokoll der Verhandlung v. 8.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  219–223.  Für die russ. Übersetzung dieses Stenogrammausschnitts siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavliščev, Njurnbergskij process, T. 1, S.  265–268. Darüber hinaus präsentierte Karev am 1. Aug. 1946 Dokumente über die Tätigkeit der Gestapo, IMT, Bd. XX, S. 203 f. 208 Pokrovskij begann seinen Vortrag am 8.  und beendete ihn am 11.  Feb. 1946 (Fn.  18), IMT, Bd. VII, S. 223–272.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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union (Zorja)209, zu Verbrechen im Umgang mit Kriegsgefangenen (Pokrovskij)210, zu Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung der UdSSR, Tschechoslowakei, Polens und Jugoslawiens (Smirnov)211, zur Plünderung von Privat-, öffentlichem und Staatseigentum von (Šejnin)212, zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten und Zerstörung von Städten und Dörfern (Raginskij)213, zur Zwangsarbeit und Verschleppung in deutsche Sklaverei (Zorja)214 sowie abschließend zu Verbrechen gegen die Humanität (Smirnov), mit dem am 27. Februar 1946 der sowjetische Beweisvortrag endete.215 Die beim Vortrag der Abschnitte letztendlich zugrunde gelegte Reihenfolge war zuvor vom Generalstaatsanwalt der UdSSR und stellvertretenden Leiter der Nürnberger Vyšinskij-Kommission Goršenin festgelegt und mit Molotov abgestimmt worden.216 Goršenin nahm – vermutlich in Absprache mit Molotov – an dem bei ihm eingereichten Ablaufplan eigenhändig grundlegende Änderungen, insbesondere Auswechslungen vor217, in deren Folge nahezu alle anderen Hilfsanklägern zugewiesen wurden als ursprünglich vorgesehen.218 So sollte etwa der sodann von Zorja vorgetragene Abschnitt zur Vorbereitung und Durchführung des Angriffs auf 209 Zorja begann seinen Vortragsteil am 11.  und beendete ihn am 13.  Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 274–282, 292–309, 337–381; Auszüge der russ. Fassung sind abgedr. bei Rekunkov/ Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 412–462. 210 Pokrovskij eröffnete diesen Abschnitt am 13. und beendete ihn am 14. Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  381–482; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 88–156. 211 Smirnov begann den Abschnitt am 14. und beendete ihn am 19. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 482–661; Auszüge der russ. Fassung sind abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/­Raginskij/­ Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 80–187. 212 Šejnin hielt seinen Vortrag am 20. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 7–63; russ. Fassung auszugsweise abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 230–277. 213 Raginskij begann seinen Vortragsabschnitt am 21. und beendete den Vortrag am 22. Feb. 1946, IMT, Bd.  VIII, S.  64–148; russ. Fassung auszugsweise abgedr. bei Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S.  406–452 sowie 490–510. 214 Zorja trug diesen Teil am 22. Feb. 1946 vor, IMT, Bd. VIII, S. 148–178; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 516–539. 215 Smirnov begann seinen Vortag am 25. und konnte ihm am 27. Feb. 1946 beenden, IMT, Bd.  VIII, S.  266–378; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 80–187. 216 Schreiben von Goršenin an Molotov v. 7. Jan. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, S. 27, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 191, S. 381–382. 217 Vgl. Goršenins handschriftliche Namensänderungen im Dokument (siehe oben Fn. 216), GARF, f. R-7445, op. 2, d.  404, S.  27, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  191, S. 381–382.  218 Einzige Ausnahmen waren zum einen der sich der Eröffnungsrede Rudenkos unmittelbar anschließende Vortrag Pokrovskijs und der abschließende Vortrag Smirnovs zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, siehe Ziff. II.1 und Ziff. 4 des Schreiben von Goršenin an Molotov v. 7. Jan. 1946 (Fn. 216), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 191, S. 381–382.

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die UdSSR ursprünglich Šejnin obliegen. Der schließlich Pokrovskij zugewiesene Vortragsanteil zu Verbrechen im Umgang mit Kriegsgefangenen wurde zu einem eigenen Abschnitt aufgewertet und aus dem Abschnitt Kriegsverbrechen (Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung und Kriegsgefangene) herausgelöst.219 Für den Vortrag zu Kriegsverbrechen gegen die friedliche Bevölkerung wurde an­ aginskij nunmehr stelle des ursprünglich hierfür vorgesehenen Hilfsanklägers R Smirnov bestimmt. In diesem Zusammenhang wurde auch Nor­wegen als territorialer Bezugspunkt der Kriegsverbrechen220 aus dem Vortragsentwurf ersatzlos gestrichen (unberührt blieb die Bezugnahme auf die Territorien der UdSSR, Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens). Zum Thema Plünderung von Privat-, öffentlichem und Staatseigentum wurde Pokrovskij von Šejnin abgelöst. Für den ursprünglich Zorja zugewiesenen Vortrag zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten, Zerstörung von Städten und Dörfern trat Raginskij an die Stelle Zorjas.221 Die endgültige Vortragsreihenfolge änderte sich nach dieser Abstimmung nicht mehr. 3. Das von Seiten der UdSSR in das Verfahren eingeführte Beweismaterial a) Urkundliche Beweismittel Wie der Leiter der sowjetischen Dokumentationsabteilung und Hilfsankläger Karev unmittelbar im Anschluss an Rudenkos Eröffnungsrede am 8. Februar 1945 einleitend vortrug, beabsichtigte die sowjetische Anklage keineswegs, sich im Rahmen ihrer Darlegungen lediglich auf Dokumente aus dem Fundus der dem Tribunal bereits unterbreiteten Urkunden zu beschränken. Vielmehr verfüge sie selbst über „eine große Anzahl von Urkunden“ aus eigenem Bestand, die sie bei der Beweisführung einzubringen beabsichtigte.222 Die vielversprechenden Ankündigungen Karevs lassen unerwähnt, mit welch erheblichen Herausforderungen sich die sowjetische Seite bei der Beschaffung gerichtsunbekannter Dokumente mit tragfähigem Aussagegehalt zeitgleich zur Abfassung der Eröffnungsrede und der Planung der Auftritte der sowjetischen Hilfsankläger konfrontiert sah. Die namentlich von Seiten der Nürnberger Vyšinskij-Kommission zu Beginn des Prozesses unternommenen Versuche, die anderen Delegationen zur Zurverfügungstellung aller die UdSSR betreffenden Dokumente (insbesondere solcher betreffend den Angriffskrieg gegen die UdSSR) bzw. zum Verzicht auf ihre Einführung in das gerichtliche Verfahren zu motivieren, waren weitgehend erfolglos verlau 219 Ziff. II. 3. des Schreiben von Goršenin an Molotov v. 7. Jan. 1946 (Fn. 216), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 191, S. 381 (381). 220 Hierzu ausf. bereits Fn. 184. 221 Ziff. III. des Schreiben von Goršenin an Molotov v. 7.  Jan. 1946 (Fn.  216), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 191, S. 381 (381). 222 Karev, Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 219.

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fen.223 In einem Bericht vom 28. Februar 1946 bezifferte Karev die Anzahl der von ame­rikanischer Seite zur Verfügung gestellten und sodann von den sowjetischen Anklägern in den Prozess eingeführten Dokumente auf lediglich 33 Einheiten. Aus ­britischen Quellen stammten zehn der bei Gericht vorgelegten Beweismittel.224 Der Sowjetunion war es insbesondere nicht gelungen, die Einführung ­einiger zentraler, im Kern den Angriff auf die Sowjetunion betreffender Dokumente durch die zeitlich zuvor vortragenden westalliierten Ankläger zu unterbinden. So wurde etwa die von Hitler unterzeichnete Weisung Nr.  21225 (Plan ­„Barbarossa“) dem Tribunal von Jackson bereits im Laufe seines Eröffnungsvortrags als amerikanisches Beweisstück US-31 unterbreitet226, während die sowjetische Anklage nicht umhinkam, sich für Bezugnahmen auf dieses die deutsche Kriegsplanung gegen die Sowjetunion schlechthin charakterisierende Schriftstück der Signatur des ame­rikanischen Beweismittels zu bedienen.227 Die erst spät ernsthaft einsetzenden Bemühungen der Sowjets228 indes, ihre Anklage im Kern auf Dokumente aus ­eigener Quelle zu stützen, wird man als insgesamt erfolgreich zu bewerten haben, wie die nachfolgend wiedergegebene statistische Auswertung Karevs vom 28. Februar 1946 bezeugt. aa) Bestandsaufnahme auf Grundlage der vorläufigen statistischen Auswertung Karevs Unter dem Datum vom 28. Februar 1946 – und damit unmittelbar nach Abschluss des Beweisvortrags der UdSSR – legte Karev dem Generalstaatsanwalt der UdSSR und stellvertretenden Leiter der Nürnberger Vyšinskij-Kommission Goršenin einen vorläufigen Bericht über die von der sowjetischen Anklage während ihrer Beweisführung zwischen dem 8.  und 27.  Februar 1946 bei Gericht eingereichten Dokumente vor.229 Diesem Bericht zufolge schloss der Fundus aller für die UdSSR 223 Zu den Bemühungen und Maßnahmen gegenüber den anderen Delegationen siehe bereits die Nachw. oben Fn. 182–183. 224 Bericht „Vorläufige Angaben über die Dokumente, die die sowjetische Anklage dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vorgelegt hat“, Ü. d. Verf., Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 7–10, hier Bl. 7, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407–409, hier S. 407. Angaben zu Dokumenten aus französischen Quellen enthält der Bericht nicht; es ist anzunehmen, dass von dieser Seite Material schlicht nicht übergeben worden ist. 225 Siehe oben Fn. 200. 226 Protokoll der Verhandlung v. 21. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 157. 227 Siehe den Vortrag des Hilfsanklägers Zorja am 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 277; für weitere Bezugnahmen auf das Beweisstück US-31 vgl. IMT, Bd. XXIII, Dokumentenindex, S. 536. 228 Für entsprechende Aufrufe zur tatsächlichen Anreicherung mit Beweismaterial aus originär sowjetischen Quellen vgl. etwa den Bericht Leont’evs v. 7. Jan. 1946 (Fn. 198), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 373, Bl. 85. 229 Bericht Karevs an Goršenin v. 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407–409.

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r­egistrierten Beweismittel zum Zeitpunkt des Auftritts der Anklage 443 Dokumente ein230, unter diesen auch die amerikanischen, englischen, tschecho­slowa­ kischen, jugoslawischen und polnischen Dokumente, die der UdSSR im Original zur Verfügung gestellt worden waren.231 Nach Karevs vorläufiger Zählung legte die sowjetische Anklage dem Tribunal im Februar 1946 insgesamt 267 Dokumente aus genuin sowjetischer Quelle vor und bezog sich während des Vortrags 43 Mal auf von amerikanischer und britischer Seite bereits eingereichtes Beweismaterial.232 Unter den vorgelegten Dokumenten sowjetischer Herkunft stellten in den Zugriff der sowjetischen Armee gelangte deutschsprachige Unterlagen mit 85 Dokumenten die größte Einheit dar. Darunter befanden sich interne Erlasse der deutschen Reichsleitung und nachgeordneter Behörden233, amtliche Bekanntmachungen234, Befehle und Pläne des deutschen Wehrmachtskommandos235, Tagebuchaufzeichnungen und Auszüge aus Archiven namhafter NS-Führungspersonen236 oder Orga 230 Die Bezeichnung ‚Dokument‘ ist dabei laut Bericht mit der Einschränkung zu verstehen, dass unter einer Dokumentennummer auch mehrere – in manchen Fällen zehn oder mehr – Dokumente zusammengefasst sein können. 231 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). Sämtliche im Verfahrensverlauf mit der Kennung USSR und fortlaufender Nummeriuerung versehenen Beweisdokumente sind verzeichnet in IMT, Bd.  XXIII, Dokumenten-Index, S. 461 (557–563). Demnach hat die sowjetische Anklage während des Prozesses insgesamt 322 Dokumente aktiv vorgelegt. Auch die Anzahl der insgesamt registrierten Dokumente sowjetischen Ursprungs wuchs weiter an; das zuletzt eingeführte sowjetische Dokument weist die Kennung USSR-522 auf, IMT, Bd. XX, S. 252, 254, 257. 232 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). Ein überschlägiger Abgleich anhand der im Dokumenten-Index der amtlichen Ausgabe der IMT-Protokoll den Bänden VII und VIII (den sowjetischen Anklagevortrag betreffend) zugeordneten Beweismittel bestätigt in etwa (259 Dokumente nach eigener Zählung) die Angaben Karevs. 233 USSR-296 (Erlaß Hitlers v. 12.  Okt. 1939), vorgelegt v. Pokrovskij am 11.  Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 256; USSR-289 (Erlaß über das Begnadigungsrecht in den besetzten polnischen Gebieten), vorgelegt v. Pokrovskij am selben Tage, ebd. 234 Vgl. USSR-256a (Bekanntmachung des deutschen Polizeikommissars Hradbetzky in Lasko über die Erschießung von Geiseln v. 12. Aug. 1941) als Beweisstück für Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung in Jugoslawien; Fotokopien ähnlicher Bekanntmachungen sind als USSR-144, USSR-145, USSR-146, USSR-147 und USSR-148 vorgelegt worden, zu all diesen Dokumenten siehe Smirnov am 18. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 576. 235 Z. B. USSR-16 (Weisung „Bandenbekämpfung“ des OKW vom 16. Dez. 1941), vorgelegt v. Smirnov am 15. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 538; USSR-114 (Kommandobefehl des OKW v. 7.  Okt. 1941 Nr.  44/1675/41), vorgelegt v. Raginskij am 22.  Feb. 1945, IMT, Bd.  VIII, S. 129 f. 236 Aus den Archiven des Angeklagten Göring vgl. z. B. USSR-170 (Beratung der Reichskommissare der besetzten Gebiete und der Militärbehördenvertreter bei Göring am 6. Aug. 1942), vorgelegt v. Šejnin am 20. Feb. 1945, IMT, Bd. VIII, S. 58; auf das Dokument bezogen sich jeweils auch Fyfe u. Rudenko während des Kreuzverhörs von Göring am 21. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 682, 695; aus dem Archiv des Adjutanten Hitlers siehe USSR-342, vorgelegt v. Smirnov am 19. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 621 f. Siehe auch aus dem Privatarchiv von Ion Antonescu (zu diesem bereits oben Fn. 194) USSR-233 (Protokoll der Unterredung v. ­Antonescu mit Ribbentrop am 12. Feb. 1942), vorgelegt v. Zorja am 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 309 (für spätere Bezugnahmen siehe ebd., S. 352, 361).

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nisationen237, aber auch Urkunden aus den Archiven des Deutschen Auswärtigen Amtes.238 An den letztgenannten Unterlagen aus dem Auswärtigen Amt, den bislang nicht offengelegten dokumentarischen „Trophäen der heroischen Roten Armee“239, offenbarte auch die amerikanische Anklage ein reges Interesse. Von der Existenz und Verfügbarkeit dieser Dokumente hatte die amerikanische Anklage erst aus dem vorab an alle Anklageteams verschickten240 Text des Eröffnungsplädoyers Rudenkos erfahren.241 Besonderes Interesse bekundete Jackson an einem in den Archiven des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reichs von der Roten Armee konfiszierten Memorandum Martin Bormanns.242 Aber auch andere Dokumente hatten seine Neugier geweckt, namentlich solche, die Einblick in Hitlers Pläne in Bezug auf die USA versprachen und die daher einen spezifischen Bezug auf die Interessen Amerikas aufzuweisen schienen.243 Zur zweitgrößten Dokumenteneinheit im sowjetischen Beweismittelarsenal waren 56 sowjetische Schriftstücke zusammengefasst, darunter insbesondere Vernehmungsprotokolle und sonstige Dokumente sowjetischen Ursprungs.244 Darüber hinaus legte die sowjetische Anklage insgesamt 44 Berichte der Außerordentlichen Staatskommission ČGK245 vor246, auf die sich ihre Beweisführung zu An 237 Aus dem litauischen Archiv der Gestapo siehe das Beweisstück USSR-57 (Fotokopie d. Berichts der „Einsatzgruppe A“ v. 10. Okt. 1941 bis 31. Jan. 1942), vorgelegt v. Smirnov am 26. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 325. 238 Vgl. USSR-271 (Niederschrift der Besprechung über sudetendeutsche Fragen v. 29. März 1938), vorgelegt v. Pokrovskij am 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 228 oder USSR-178 (Brief von Kaltenbrunner an Ribbentrop v. 28. Juni 1943), vorgelegt v. Zorja am 11. Feb. 1945 IMT, Bd. VII, S. 304. 239 Pokrovskij, Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 228; fast gleichlautend bereits die Formulierung im Bericht Leont’evs v. 7.  Jan. 1946 (Fn.  198), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 373, Bl. 85. 240 Zu dieser Praxis siehe bereits die sowjetischen Anmerkungen zu der vorab an sämtliche Delegationen kommunizierten Fassung zur Eröffnungsrede des britischen Anklägers­ Shawcross, oben Fn. 189. 241 Schreiben Jacksons an Rudenko v. 7. Feb. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 2, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 202, S. 393. 242 In der Eröffnungsrede Rudenkos hieß es hierzu: „Der sowjetischen Anklagebehörde stehen die Aufzeichnungen von Martin Bormann über die von Hitler am 2. Oktober 1940 abgehaltene Sitzung zur Verfügung. Diese Aufzeichnungen wurden in den Archiven des Deutschen Auswärtigen Amtes gefunden und von den Sowjettruppen in Berlin erbeutet. Diese Urkunde bezieht sich auf das besetzte Polen. Sie wird dem Gerichtshof vorgelegt werden.“, siehe Rudenko, Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 216. 243 Schreiben Jacksons an Rudenko v. 7. Feb. 1946 (Fn. 241), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 202, S. 393. 244 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). Zur Arbeit des sowjetischen Ermittlungsteams unter der Leitung v. Aleksandrov vor Beginn des Prozesses, insb. zur Durchführung von vorläufigen Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen unter sowjetischer Regie auf Grundlage von Art. 15 lit. c des IMT-Statut oben Kap. F. IV. 2.  245 Vgl. hierzu Kap. G. III. 3. a) bb). 246 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

klagepunkt zwei und drei – Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit  – im Kern gründete.247 Neben den Berichten der sowjetischen ČGK brachte die sowjetische Anklage aber auch amtliche Berichte der tschechoslowakischen248, polnischen249 und jugoslawischen250 Regierung in den Prozess ein. Insgesamt sind dem Tribunal laut der von Karev vorgelegten Auswertung 26 jugoslawische, 1 polnisches und 3 tschechoslowakische Dokumente unterbreitet worden. Für die Beweisführung wurden überdies weitere 33 Dokumente aus amerikanischen und 10 Dokumente aus britischen Quellen eingebracht.251 Schließlich nahm die sowjetische Anklage insgesamt 43 Mal auf von amerikanischer oder britischer Seite bereits vorgelegte Dokumente Bezug. Nach Karevs vorläufiger Information legte die UdSSR insgesamt 125 Originale, 69 Fotokopien und 73 beglaubigte Kopien der betreffenden Dokumente vor.252 Die meisten Dokumente nahm für die sowjetische Anklage Smirnov in seinem Vortrag zu Verbrechen gegen die friedliche Bevölkerung der UdSSR, Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien in Bezug.253 Er griff im Rahmen seiner Ausführungen auf insgesamt 92 Beweisstücke zurück, von denen 68 bei dieser Gelegen 247 Vgl. hierzu die Ausführungen Karevs vor dem IMT am 8.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S. 220: „Zu Punkt 2 und 3, das sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, legen wir als Beweisstücke in erster Linie die Berichte und Akten der Außerordentlichen Staatskommission zur Feststellung und Erforschung der Verbrechen vor, die von den deutschfaschistischen Eindringlingen und ihren Helfern begangen wurden.“ 248 Als amtlicher tschechoslowakischer Bericht wurde USSR-60 vorgelegt, Pokrovskij am 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 224. 249 Als amtliche Urkunden der polnischen Regierung reichte die sowjetische Anklage USSR-93 ein, erstmals vorgelegt v. Pokrovskij am 9. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, 241 f., spätere Bezugnahmen ebd., S. 472, 525 sowie in Bd. VIII, S. 13, 80, 267. 250 Im Zusammenhang mit der jugoslawischen Staatskommission zur Feststellung der Verbrechen der deutschen Besatzung und den von dieser erstellten Berichten siehe die Ausführungen Karevs am 8.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VII, S.  221 f.: „Die Erhebungen über die verbrecherische Tätigkeit der deutschen Truppenführung und der deutschen Besatzungsbehörden in Jugoslawien wurde von der jugoslawischen Staatskommission zur Feststellung der Verbrechen der deutschen Besatzung durchgeführt. Diese Kommission wurde am 29. November 1943 durch einen Erlaß des jugoslawischen antifaschistischen Komitees für Volksbefreiung geschaffen. […] Die Untersuchung der von den deutsch-faschistischen Eroberern begangenen Verbrechen wurde außer von der jugoslawischen Staatskommission auch von acht besonderen Bundeskommissionen sowie von Bezirks- und Kreiskommissionen durchgeführt. Auf der Grundlage des gesammelten Materials hat die jugoslawische Staatskommission 53 Veröffentlichungen über die Untaten der deutschen Besatzungsmacht herausgegeben.“ 251 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). Zu den vorausgegangen sowjetischen Bemühungen, die westalliierten Partner zur exklusiven Bereitstellung entsprechender Dokumente unter gleichzeitiger Abstandnahme von eigenen Verwendungsabsichten zu motivieren, siehe oben S. 403 ff. 252 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (408). 253 Vgl. für den am 14. Feb. beginnenden und am 19. Feb. 1946 endenden Vortragsabschnitt (Fn. 211), IMT, Bd. VII, S. 482–661.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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heit erstmalig eingeführt worden waren.254 Unter diesen Beweisstücken befanden sich insgesamt 24 Berichte der Außerordentlichen Staatskommission.255 Der Vortrag Raginskijs zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten und Zerstörung von Städten und Dörfern256 wurde auf insgesamt 76 Dokumente gestützt, von denen indes lediglich 26 erstmals vorgelegt wurden.257 Darüber hinaus bezog sich Raginskij insgesamt 43 Mal auf bereits eingereichte sowjetische und sieben Mal auf amerikanische Dokumente. Der sowjetische Beweisvortrag des stellvertretenden Hauptanklägers Pokrovskij zu Verbrechen im Umgang mit Kriegsgefangenen258 stützte sich auf 54259 und der den sowjetischen Beweisvortrag abschließende Abschnitt Smirnovs zu Verbrechen gegen die Humanität260 auf 51 Dokumente.261 Zum Angriff auf die UdSSR, vorgetragen von Hilfsankläger Zorja262, konnte die Sowjetunion dem Tribunal 43 Dokumente unterbreiten, von denen 36 erstmalig eingeführt wurden.263 Der Vortrag zur Plünderung von Privat-, öffentlichem und Staatseigentum von Šejnin264 schließlich nahm auf 37, derjenige zu „Verbrechen gegen den Frieden“ wegen Angriffs auf die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien (Pokrovskij)265 auf 28 und derjenige zur Zwangsarbeit und Verschleppung in deutsche Sklaverei (Zorja)266 auf 18 Zeugnisse Bezug.267

254 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (408). 255 Unzutreffend insoweit die Wiedergabe der archivalischen Quelle (Fn. 224), bei Lebedeva (SSSR, Dok. No 211, S. 407 [408]), bei der statt 24 von 64 Berichten die Rede ist. 256 Raginskij begann am 21. und beendete den Vortrag am 22. Feb. 1946 (Fn. 213), IMT, Bd. VIII, S. 64–148. 257 In seinem Bericht (Fn.  224) unterteilte Karev Raginskijs Vortrag in zwei Abschnitte, nämlich (1) Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten (Ziff. 6 des Berichts) und (2) Zerstörung von Städten und Dörfern (Ziff. 7 des Berichts). Die vorstehend angeführten Zahlenangaben ergeben sich durch die Addition der von Karev zu beiden Abschnitten ausgewiesenen Werte. 258 Vgl. für den am 13. Feb. beginnenden und am 14. Feb. 1946 endenden Vortragsabschnitt IMT (Fn. 210), Bd. VII, S. 381–482. 259 Darunter waren 50 erstmalig überreichte Quellen, Ziff.  3.  des Berichts von Karev an Goršenin v. 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (408). 260 Smirnov begann seinen Vortag am 25. und beendete ihn am 27. Feb. 1946 (Fn. 215), IMT, Bd. VIII, S. 266–378. 261 Davon 37 neu vorgelegte Stücke, Ziff. 9 d. Berichts von Karev an Goršenin v. 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (409). 262 Zorja begann seinen Vortragsteil am 11. und beendete ihn am 13. Feb. 1946 (Fn. 209), IMT, Bd. VII, S. 274–282, 292–309, 337–381. 263 Ziff. 2. des Berichts (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (408). Zu den erstmalig vorlegten Dokumenten zählten 17 erbeutete deutsche Urkunden und vier von amerikanischer und britischer Seite übergebene Unterlagen. 264 Šejnin hielt seinen Vortrag am 20. Feb. 1946 (Fn. 212), IMT, Bd. VIII, S. 7–63. 265 Pokrovskij begann seinen Vortrag am 8.  und beendete ihn am 11.  Feb. 1946 (Fn.  18), IMT, Bd. VII, S. 223–272. 266 Zorja trug diesen Teil am 22. Feb. 1946 vor (Fn. 214), IMT, Bd. VIII, S. 148–178. 267 Siehe Ziff.  5, 1, und 8 d. Berichts von Karev an Goršenin v. 28.  Feb. 1945 (Fn.  224),­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (408–409).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Die vorstehend wiedergegebenen statistischen Auswertungen Karevs lassen die Bewertung zu, dass das namentlich Prestigeerwägungen geschuldete Unterfangen der sowjetischen Anklage, ihren Vortrag zu sämtlichen Anklagepunkten in tatsächlicher Hinsicht mit Beweismaterial aus überwiegend sowjetischen Quellen zu fundieren, aller – insbesondere organisatorischer – Widrigkeiten zum Trotz überwiegend von Erfolg gekrönt war. Nicht nur in Anbetracht der personellen Unterbesetzung und der recht späten Ansätze zur Effektivierung der prozessvorbereitenden Maßnahmen mutet dieser Befund keinesfalls selbstverständlich an. Da die sowjetische Anklage mit der Eröffnungsrede Rudenkos am 8. Februar 1946 erst als letzte unter den vier Anklagedelegationen vor das Tribunal trat und die Beweisführung der Anklage insgesamt abschloss, waren nicht wenige Beweisstücke von zentraler Bedeutung für die sowjetische Anklage aufgrund vorheriger Einführung durch die drei anderen Anklagedelegationen in prozessualer Hinsicht bereits „verbraucht“ worden, was insbesondere den mannigfachen thematischen Querbezügen und Überschneidungen zwischen den Anklagekomplexen geschuldet war. bb) Die Berichte der Außerordentlichen Staatskommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden (ČGK) Ein besonderes Augenmerk bei der Auswertung der von der sowjetischen Anklage vorgelegten Dokumente gebührt den von Seiten der Außerordentlichen Staatskommission ČGK gefertigten Berichten. Nach Karevs Angaben legte die sowjetische Anklage zum Beweis der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 44 solcher Berichte vor.268 Als offizielle Regierungsdokumente bzw. Erklärungen einer zur Untersuchung von Kriegsverbrechen eingesetzten Kommission profitierten diese Dokumente grundsätzlich von der in Art. 21 IMT-Statut für bestimmte öffentliche Urkunden angeordneten beweisrechtlichen Privilegierung, wonach der Gerichtshof für die in derlei Quellen bekundeten Tatsachen nicht Beweis fordern sollte, sondern sie von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen hatte.269

268 Karev an Goršenin am 28. Feb. 1945 (Fn. 224), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 211, S. 407 (407). 269 Art. 21 des IMT-Statut, IMT, Bd. I, S. 10 (16): „Der Gerichtshof soll nicht Beweis für allgemein bekannte Tatsachen fordern, sondern soll sie von Amts wegen zur Kenntnis nehmen; dies erstreckt sich auf öffentliche Urkunden der Regierung und Berichte der Vereinten Nationen, einschließlich der Handlungen und Urkunden der in den verschiedenen alliierten Ländern für die Untersuchung von Kriegsverbrechen eingesetzten Komitees, sowie die Protokolle und Entscheidungen von Militär- oder anderen Gerichten irgendeiner der Vereinten Nationen.“ Für eine dieser Regelung nachempfundene Richtigkeitsvermutung siehe etwa Art.  XI der Verordnung Nr.  7 der amerikanischen Militärregierung für Deutschland vom 18. Okt. 1946 über Verfassung und Zuständigkeit gewisser Militärgerichte, abgedr. in Amtsblatt der Militärregierung in Deutschland, Amerikanische Zone, Ausgabe B v. 1. Dez. 1946, S. 10–15.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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(1) Mandat, Struktur und Zusammensetzung der ČGK Die „Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der UdSSR zugefügt wurden“ (Außerordentliche Staatskommission bzw. ČGK), wurde per Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR am 2. November 1942270 ins Leben gerufen.271 Das Dekret wurde am 4. November 1942 in der staatlichen Zeitung Pravda der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht.272 Ziff. 2 und 3 des Ukaz definierten den Aufgabenkanon der Kommission und statteten diese mit weitreichenden Kompetenzen aus. Zum Zwecke der Sammlung, Auswertung und Aufbereitung von Beweismaterial sowie zur Bestimmung der den sowjetischen Bürgern und staatlichen Stellen zugefügten materiellen Schäden wurde die Kommission ermächtigt, die hierfür berufenen Organe damit zu beauftragen, Ermittlungen durchzuführen, insbesondere Zeugenaussagen und andere Informationen einzuholen.273 Zum Vorsitzenden der Kommission wurde der Direktor des Zentralrates der Gewerkschaften der UdSSR und Vorsitzende des Evakuationskomitees Nikolaj Michajlovič Švernik berufen. Darüber hinaus wurden der erste Sekretär der Leningrader VKP(b) und Mitglied des Politbüro ZK VKP(b) Andrej Aleksandrovič Ždanov, der Metropolit der RussischOrthodoxen Kirche von Kiew und Galizien, Nikolaj274, die Pilotin und Vorsitzende des Antifaschistischen Komitees der sowjetischen Frauen Valentina Stepanovna 270

Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR ob obrazovanii Črezvyčajnoj Gosudarstven­ noj Komissii po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatčikov i ich soobščnikov i pričinennogo imi uščerba graždanam, kolchozam, obščestvennym organizacijam, gosudarstvennym predprijatijam i učreždenijam SSSR v. 2. Nov. 1942, GARF, f. R-7523, op. 4d, d. 113, Bl. 5–8 = GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1, Bl. 1–4, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 8, S. 83–86; der vorstehend verwendeten Komissionsbezeichnung liegt die Übersetzung ins Deutsche bei Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (510), zugrunde. Eine deutsche Übersetzung der einleitenden Absätze des Ukaz ist abgedr. bei Laufer, Pax Sovietica, S. 292; für die amtliche Übersetzung des Ukaz ins Englische durch die TASS v. 4. Nov. 1943 siehe Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, I/3, 2. Halbbd., S. 1043–1045. Zur Konkretisierung des Ukaz durch die Ausführungsbestimmungen v. 16. März 1943 sogleich Fn. 289. 271 Zur ČGK siehe insb. die Veröffentlichtungen von Marina Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797–831; dies, in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21–32; dies., in: Naučno-informacionnyj centr Memorial/­Evropejskij universitet v Sankt-Peterburge (Hrsg.), Pravo na imja: Biografika XX veka, S. 312–330; dies., Priroda 2005, No 10, S. 57–64; dies., in: Pritykina (Hrsg.), In Memoriam: Sbornik pamjati Vladimira Alloja, S. 361–389; dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (142 ff.). Hierzu auch Laufer, Pax Sovietica, S. 290 ff. 272 Pravda v. 4. Nov. 1942 (No 308), S. 1. 273 Ziff. 3 des Ukaz (Fn. 270); zu den Kompetenzen der Kommission ausf. Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (801); Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (510). Die offizielle Auflösung der Kommission erfolgte erst am 9. Juni 1951, Sorokina, in: Naučno-informacionnyj centr Memorial/Evropejskij universitet v SanktPeterburge (Hrsg.), Pravo na imja: Biografika XX veka, S. 312 (314). 274 Bürgerlicher Name Jaruševič Boris Dorofeevič.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Grizodubova und sechs weitere Individuen mit dem exponierten wissenschaftlichen Status eines ‚Akademikers‘ (akademik275) als Kommissionsmitglieder eingesetzt.276 Sämtliche Kommissionsmitglieder waren einander durch eine praktisch nachgewiesene besondere persönliche Ergebenheit gegenüber Stalin verbunden.277 Um den Untersuchungsergebnissen der Kommission besonderes Gewicht, Ansehen und Legitimität zu verleihen, war die Kommission bewusst mit Personen besetzt worden, die unterschiedlichsten Disziplinen entstammten und in der Öffentlichkeit sämtlich ein tadelloses Ansehen genossen.278 Ob die sowjetische Führung bereits bei der Besetzung dieser Kommission die internationale Anerkennung ihrer Ergebnisse bei einem internationalen Prozess und damit ihre ‚Legitimität‘ auch über die Grenzen der UdSSR hinaus im Blick hatte, wird indes nicht einheitlich beurteilt. Mit Hinweis darauf, dass eine formale Kommunikation von Untersuchungsbefunden gegenüber den Verbündeten im Zeitpunkt des Errichtungsaktes – zumindest formal – nicht vorgesehen war, gelangt der Historiker Jochen Laufer zu dem Befund, dass die „Anerkennung und Nutzung der Untersuchungsergebnisse durch die Alliierten“ bei der personellen Besetzung der Kommission und der Festlegung ihres Auftrags keine wesentliche Rolle gespielt haben könne.279 275 Das persönliche Attribut eines ‚akademik‘ galt im sowjetischen wissenschaftlichen System als höchste Auszeichnung, die nur besonders verdienten Persönlichkeiten zuteil wurde und für gewöhnlich mit einer Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften (Akademija Nauk, AN) korrelierte; vgl. zu dieser über den deutschen Begriff des ‚Akademikers‘ weit hinausreichenden Wortbedeutung etwa Grau, Berühmte Wissenschaftsakademien, S. 12. Zur nicht selten anzutreffenden Missachtung dieser fundamentalen Diskrepanz bei Übersetzungen vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt vgl. Busch, in: Alitan/Sieveking/Wedel (Hrsg.), Russische Sprache und Literatur der Gegenwart, S. 41 (42) m. w. Nachw.; unter Einbeziehung der franz. und engl. Bedeutung auch Glaser, in: Dakowska (Hrsg.), English in the modern world: Festschrift for Hartmut Breitkreuz, S. 213 (214). Zu den sechs kommissionsangehörigen ‚Akademikern‘ gehörten der Arzt und Professor an der Moskauer Staatsuniversität Nikolaj Nilovič Burdenko, der Biologe, Präsident der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften und Direktor des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften Trofim Denisovič Lysenko, der Schriftsteller Aleksej Nokolaevič Tolstoj, der Jurist und Direktor des Instituts für Recht in der Akademie der Wissenschaften Il’ja Pavlovič Trajnin, der Ingenieur Boris Evgen’jevič Vedeneev und der Historiker und Experte für französische Geschichte, internationale Beziehungen und russische Außenpolitik Evgenij Viktorovič Tarle. 276 Siehe Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (817–822); dies., in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21 (30); dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S.  111 (172 ff.); Boeckh, Stalinismus in der Ukraine, S. 268; Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (510). 277 „The ChGK members had doubtless been chosen according to their absolute personal devotion to the country’s supreme leader, as well as for the equally important fact that their devotion was proven. Even leaving aside high Soviet officials like Shvernik and Zhdanov, Stalin had met more than once with almost all the ChGK members before the war, and had directly helped advace their careers.“, Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (818). 278 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (816–817). 279 Laufer, Pax Sovietica, S. 291, siehe auch die ebd., S. 292, abgedr. deutsche Übersetzung der einleitenden Absätze des die Kommission konstituierenden Ukaz v. 2. Nov. 1942 (Fn. 270).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Zu einem entgegen gesetzten Ergebnis gelangt demgegenüber die russische Historikerin Marina Sorokina, derzufolge die sowjetische Führung die akademische Elite gerade zu Beginn des Krieges als ein zentrales Medium außenpolitischer Propaganda identifiziert hatte und namentlich international renommierte Protagonisten des Wissenschaftsbetriebes als Wortführer ihrer Agitation instrumentalisierte. Die diesem Vorgehen zugrunde liegende Erkenntnis habe sich u. a. in der personellen Besetzung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission nieder­ geschlagen.280 In einem 2005 veröffentlichten Beitrag führt sie hierzu aus: „The prospect of an international tribunal forces the Soviet leadership to take into account the traditions of Western political and legal culture, even if only superficially imitating their attributes and conforming to ‚Western Standards‘ of public opinion. On the one hand, the documentary materials that had been (and were being) collected on Nazi crimes in the USSR were supposed to have international legitimacy; on the other, they were supposed to be presented by representatives of Soviet society whose reputation in the West would be beyond question. The personal roster of the ChGK was meant to reflect its special character as an ‚export‘.“281

Die wahren Beweggründe der sowjetischen Führung bei Ein- und Besetzung der Kommission sind kaum mehr zuverlässig zu rekonstruieren. Ein konkreter Erwartungshorizont auf die spätere Durchführung eines internationalen Prozesses jedenfalls dürfte Ende des Jahres 1942 trotz der erstmaligen öffentlichen Forderung der sowjetischen Regierung nach Einrichtung eines internationalen Tribunals am 14. Oktober 1942282 allenfalls in vager Form ausgebildet gewesen sein. Indes spricht die Veröffentlichung der Berichte der Außerordentlichen Staatskommission nicht nur in russischer283, sondern auch in englischer284 Sprache deutlich für die Annahme, dass den Machthabern in Moskau eine die innersowjetische Sphäre überschreitende Rezeption der veröffentlichten Ermittlungsergebnisse vor Augen gestanden haben dürfte. Dem entspricht, dass die Erstreckung der Reichweite der in Art.  21 des IMT-Statuts vorgesehenen beweisrechtlichen Privilegierung 280 Ausführlich m. w. Nachw. Sorokina, in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (137 f.). 281 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (816–817). 282 Hierzu ausf. oben Kap. C. II. 1. 283 1946 erschien die Sammlung unter dem Titel ‚Sbornik soobščenij Črezvyčajnoj gosudarstvennoj komissii o zlodejanijach nemecko-fašistskich zachvatčikov‘. 284 Die Veröffentlichung der englischen Textfassungen erfolgte in der über die sowjetische Botschaft in London zwischen 1941 und 1945 erscheinenden Zeitung Soviet War News. Siehe beispielsweise aus dem Jahr 1943 den „Report on the gas massacre by the German-Fascist invaders in Krasnodar.“, abgedr. in Soviet War News v. 14. Juli 1943(No 611), aus dem Jahr 1944 den „Report of Special Commission for Ascertaining and Investigating the circumstances of the shooting of Polish officer prisoners by the German-Fascist invaders in the Katyn Forest“, abgedr. in Soviet War News v. 27., 28., 31. Jan. und 1. Feb. 1944 (No 774 bis 777) und als Supplement zur Soviet War News Weekly in Form einer Broschüre unter dem Titel „The Truth about Katyn“, aus dem Jahr 1945 „Report on crimes committed by the German-Fascist invaders in the Latvian Soviet Socialist Republic“, abgedr. in Soviet War News v. 17. u. 18. April 1945 (No 1134 und 1135).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

auf Dokumente nationaler Komitees einer hierauf gerichteten sowjetischen Initiative entsprang.285 Jedenfalls im Zeitpunkt der Londoner Verhandlungen war eine gerichtsfeste Einführung der von der ČGK gewonnenen Erkenntnisse in das Verfahren mithin konkret in Aussicht genommen. Auch im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess schließlich zeigte sich die sowjetische Anklage ersichtlich darauf bedacht, das in dieser Kommission vereinte personelle Renommee besonders in den Vordergrund zu rücken. Die von dem Gremium erstellten Dokumentationen erachtete die sowjetische Anklage – offenbar unter impliziter Bezugnahme auf Art. 21 des IMT-Statuts286 – als „unanfechtbare Beweismittel“287. Unmittelbar im Anschluss an Rudenkos Eröffnungsvortrag führte der Hilfsankläger Karev am 8. Februar 1946 aus: „Zu Punkt 2 und 3, das sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, legen wir als Beweisstücke in erster Linie die Berichte und Akten der Außerordent­ lichen Staatskommission zur Feststellung und Erforschung der Verbrechen vor, die von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Helfern begangen wurden. Diese Kommission wurde auf Grund eines Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der USSR vom 2. November 1942 bestellt. Für die Arbeit an Ort und Stelle wurden Staats-, Land-, Gebiete- und Ortsunterkommissionen geschaffen, um der Außerordentlichen Staatskommission bei der Feststellung und Untersuchung der Untaten der faschistischen Angreifer zu helfen. Die Zentralstelle sowie auch die Zweigstellen dieser Staatskommission bestanden aus angesehenen Staatsmännern und Vertretern verschiedener öffentlicher, wissenschaft­ licher und kultureller Organisationen sowie auch von Religionsgemeinschaften.“288

Die ČGK führte keine eigenständigen Erhebungen durch, sondern bediente sich zur unmittelbaren Beweissammlung ihrer Unterkommissionen, die auf Ebene der Republiken sowie auf regionaler und kommunaler Ebene eingerichtet worden waren. Die Einsetzung dieser Kommissionen erfolgte unmittelbar durch Ausführungsverordnung Nr. 299 des Rats der Volkskommissare vom 16. März 1943289, mit der die jeweilige Zusammensetzung dieser Untereinheiten im Einzelnen fest 285 Ziff. 13 des sowjet. Aide-mémoire v. 9. Juni 1945 (Kap. D. Fn. 25), abgedr. in Jackson Report, Dok. X, S. 61 (63); für die russ. Fassung siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 48, S. 175 (176). 286 Siehe oben Fn. 269. 287 Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 220. 288 Protokoll der Verhandlung v. 8. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 220. 289 Sovet Narodnych Kommissarov SSSR, Postanovlenie No  299 ‚O rabote Črezvyčajnoj Gosudarstvennoj Komissii po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatčikov’ v. 16. März 1943, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1a, Bl. 13. Dieser Beschluss konkretisierte in der zugleich erlassenen und beigefügten Richtlinie (položenie) in ausführlicher Form die der ČGK zugewiesenen Kompetenzen, siehe Ploženie (Priloženie k Postanovleniju Sovnarkoma SSSR No 299 ot 16 marta 1943 goda), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1a, Bl. 14–16. So sollte die Kommission gem. Ziff. 4 der Richtlinie etwa ermächtigt sein, vollstreckbare Verfügungen zu erlassen und Instruktionen zu erteilen. Ziff. 5 ermächtigte die Kommission dazu, Aufträge an entsprechende Organe zu erteilen, die ihrerseits Zeugen- und Opferbefragungen durchführen sollten. Ziff. 7 bestimmte, dass die Vertreter von öffentlichen bzw. gesellschaftlichen Organisationen, Arbeiter, Bauern, die „städtische und dörfliche Intelligenzija“ sowie Armeeangehörige in die Erstellung der Dossiers nach Möglichkeit einzubinden waren.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

421

gelegt wurde. Der Entwurf dieser Verordnung war zuvor auf der erst mehrere Monate nach ihrer Gründung anberaumten ersten Sitzung der ČGK am 15. März 1943 nach vorheriger Abstimmung mit der sowjetischen Regierung290 beschlossen worden.291 Der Vorsitz in den Unterkommissionen wurde dem jeweiligen Ersten Sekretär ZK der Kommunistischen Partei der betreffenden Republik bzw. funktionsäquivalenten Mandatsträgern auf regionaler oder kommunaler Ebene zugewiesen. Zu weiteren Mitgliedern wurden der Vorsitzende bzw. stellvertretende Vorsitzende des (republikanischen) Rats der Volkskommissare (Sovnarkom) und der Leiter des NKVD bzw. ihre regionalen und kommunalen Repräsentanten sowie als weitere Mitglieder ein oder zwei „regionale Vertreter“ bestimmt.292 Gleichzeitig wurde ein Sekretariat der Kommission mit einem verantwortlichen Sekretär der ČGK 293, acht Abteilungen und einem Archiv der ČGK eingerichtet.294 Jenseits der ČGK und ihrer Untergliederungen wurden von sowjetischer Seite für begrenzte Sachbereiche weitere Spezialkommissionen ins Leben gerufen. Hierunter fielen etwa die „Polnisch-Sowjetische Außerordentliche Kommission zur Untersuchung von deutschen Verbrechen in Lublin“295 oder die zur Untersuchung der Verbrechen von Katyn speziell eingesetzte Kommission unter der Regie des „leitenden sowjetischen Mediziners seiner Zeit“296 und Mitglieds der Akademie der Wissenschaften Nikolaj Nilovič Burdenko.297 Diese Hilfs- und Sonder­kommis­ 290

Am 23. Feb. 1943 leitete Švernik Stalin einen entsprechenden Verordnungs-Entwurf zu, siehe Schreiben Šverniks an Stalin v. 23. Feb. 1943, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 5a, Bl. 16. Am 27. Feb. 1943 übermittelte Švernik den Entwurf der Verordnung einschließlich ein­gearbei­ te­ter Korrekturen zur Struktur des Sekretariats der Kommission an Molotov, siehe Schreiben Šverniks an Molotov v. 27. Feb. 1943, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 5a, Bl. 83–86. 291 Siehe Protokoll No 1 der ČGK v. 15. März 1943, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 2, Bl. 1–5. 292 Postanovlenie No 299 v. 16. März 1943 (Fn. 289), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1a, Bl. 13. Zur Arbeitsweise dieser „Beistandskommissionen“ siehe Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (513). 293 Zum verantwortlichen Sekretär der ČGK wurde in der ersten Sitzung am 15.  März 1942 P. I. Bogojavlenskij bestimmt, siehe Ziff. IV des Sitzungsprotokolls (Fn. 291), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 2, Bl. 1 (5). 294 Ziff. 10 der Richtlinie (Fn. 289), GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1a, Bl. 16. Für eine Aufzählung der einzelnen Abteilungen und weiteren Details zur Verordnung siehe Lebedeva, Podgotovka, S. 26–27, und Sorokina, in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21 (30 f.). 295 Ü. d. Verf., siehe die Verordnung No 1103 des SNK der UdSSR v. 15. Aug. 1944, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 1a, Bl. 22, kraft derer Prof. N. I. Graščenkova, Prof. V. I. Prozorovskij sowie Prof. D. I. Kudrjavcev für die sowjetische Seite zu Mitgliedern dieser Sonderkommission bestimmt wurden. 296 Ü. d. Verf., siehe Sorokina, in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (172). 297 Für die Einrichtung der Burdenko-Kommission durch Beschluss der ČGK siehe Ziff. 1 des Protokolls No 23 der ČGK v. 12. Jan. 1944, GARF, f., R-7021, op. 114, d. 8, Bl. 39, abgedr. in Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 205, S. 498–500, hier S. 498; für das Verzeichnis der berufenen Kommissionsmitglieder siehe Ziff. 2 des Protokolls, ebd., Bl. 39 bzw. S. 498; siehe zur Burdenko-Kommission auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S.  5 (55 f.); S­orokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (804 ff.); dies., in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (197 ff.); Sanford, Katyn and the Soviet Massacre of 1940, S. 136–140.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

sionen führten in der Folgezeit bis zur formellen Auflösung der ČGK durch Beschluss des Ministerrats der UdSSR am 9.  Juni 1951298 die eigentliche Beweissammlung durch.299 Anfang 1944 waren 19 Kommissionen auf der Ebene der Republiken und der Regionen mit Beweissicherungsfunktionen betraut.300 Die Gesamtzahl der Hilfs- und Sonderkommissionen wird auf ca. 100, die Anzahl der an der Beweissammlung direkt oder indirekt beteiligten Personen gar auf sieben Millionen Personen geschätzt.301 (2) Sachberichterstattung unter politischen Auspizien: Vyšinskij als „unofficial editor and censor“ der ČGK Ungeachtet der prominenten Besetzung der ČGK wird der von ihr tatsächlich ausgeübte unmittelbare politische Einfluss heute als marginal eingeschätzt, da die Kommissionsarbeit der Kontrolle der höchsten politischen Ebenen unterlag.302 In der Wahrnehmung der sowjetischen Öffentlichkeit trat die Kommission insbesondere durch die Publikation ihrer Berichte in Erscheinung. Anstelle der ursprünglich vorgesehenen303 Publikationsfrequenz von mehreren Erscheinungen pro Woche legte die Kommission der Öffentlichkeit in den Jahren 1943 bis 1945 lediglich 27 offizielle Berichte vor.304 Mindestens 25 weitere Berichte waren für eine Veröffentlichung nicht vorgesehen oder erhielten keine entsprechende Freigabe.305 Für die inhaltliche Redaktion der Berichte und deren (vorläufige) Freigabe 298 Zur förmlichen Auflösung der ČGK durch Beschluss v. 9. Juni 1951 siehe Laufer, Pax Sovietica, S. 292, Fn. 190 sowie Karner, in: FS für Alfred Ogris, S. 509 (514) – jeweils indes ohne Nachweis zum Auflösungsakt. 299 Für die Expertenliste der ČGK siehe GARF, f. R-7021, op. 116, d. 301, Bl. 1–6. 300 M. w. Nachw. Lebedeva, Podgotovka, S. 27. 301 Weitere Zahlen sowie Nachweise bei Lebedeva, Podgotovka, S. 26 ff.; dies., SSSR, Dok. No  8, S.  83–86 (hier Fn.  1 auf S.  86); Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and­ Eurasian History 6 (2005), S. 797 (801). 302 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (823); dies., in: Griech-Polelle (Hrsg.), Nuremberg, S. 21 (30) – jew. m. w. Nachw. 303 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (825). 304 Eingerechnet sind der Abschlussbericht der ČGK v. 13. Sept. 1945 sowie der Bericht der Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Kommission (Fn. 295) v. 16. Sept. 1944 (im Prozess vorgelegt v. Pokrovskij am 13. Feb. 1946 als USSR-29, IMT, Bd. VII, 419). Für eine Auflistung aller bis 1947 veröffentlichten Berichte siehe GARF, f. R-7021, op. 116, d. 406, Bl. 2–3. 305 Namentlich die Berichte betreffend: die Leningradskaja oblast‘ (No 1, No 5 und No 16), die Krim (No 2), die Stadt Orel (No 3), die Stadt Novorossijsk (No 4), die Städte Osipenko und­ Berdjansk (No 6), die Stadt Gaganrog (No 7), die rumänischen Okkupanten (No 8), die Stadt Sumy in der Ukrainischen SSR (No 9), die Stadt Pjatigorsk (No 10), die Stadt R ­ oslavl‘(No 11), die Verschleppung von sowjetischen Bürgern in die Sklaverei (No 12 und No 13), die ­Kalininskaja oblast‘(No  14), die Char’kovskaja oblast‘(No  15), die V ­ orošilovogradskaja oblast‘(No  17),­ Zaporož’e (No 18), Dnepropetrovsk und Dneprodzeržinsk (No 19), die ­Stalinskaja oblast‘(No 20), die Kamenec-Podol’skaja oblast‘(No 21), die Stadt Kursk (No 22), die Kurskaja oblast‘(No 23), die Kurskaja und Orlovskaja oblast‘(No 24) und die Stalingradskaja oblast‘(No 25), Liste der unveröffentlichten Berichte, GARF, f. R-7021, op. 116, d. 406, Bl. 4.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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zur Veröffentlichung zeichneten der Kommissionsvorsitzende Švernik, der Leiter des Agitprop Aleksandrov306 und Vyšinskij verantwortlich.307 Als „­ un­official editor and censor“308 fungierte Vyšinskij, der die ihm zwingend zuzuleitenden309 Dokumente zur Sicherstellung ihrer Beweismitteleignung und juristischen Verwertbarkeit bei Bedarf den für erforderlich erachteten Änderungen unterzog oder die Einarbeitung entsprechender Änderungen in Auftrag gab.310 Eine Freigabe der Berichte durch Molotov zur Veröffentlichung erfolgte ohne Zustimmung Vyšinskijs nicht.311 Der Arbeit der ČGK und der Entstehung der von ihr vorgelegten Berichte kommt für die Bewertung des sowjetischen Beitrags zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess deshalb besondere Bedeutung zu, weil die sowjetische Anklagedelegation ihre Beweisführung der Statistik Karevs zufolge zu einem nicht unerheblichen Teil  – 44 Berichte  – auf die Erkenntnisse dieser Kommission stützte. In weiteren Fällen bediente sich die sowjetische Anklage zudem von Seiten der ČGK beglaubigter Ablichtungen von Dokumenten.312 Unter den für die Anklage heran 306

Zu seiner Person siehe bereits Kap. C, Fn. 23. Zum konkreten Prüfungsablauf siehe ausf. Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (826). 308 So die treffende Charakterisierung der Rolle Vyšinskijs bei Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (826 f.); dies., in: Kozlov (Hrsg.),­ Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (189). 309 Vgl. etwa den Vyšinskij zur Genehmigung vorgelegten Bericht I. Trajnins betreffend Verbrechen in Kursk und der Kursker Region, ‚Soobščenie Črezvyčajnoj Gosudarstvennoj komissii o zlodejanijach finsko-fašistskich i vengerskich okkupantov v g. Kurske i Kurskoj oblasti‘, oben D., GARF, f. R-7021, op. 116, d. 152, Bl. 44–54. 310 Siehe etwa die detaillierten handschriftlichen Anmerkungen Vyšinskijs zu dem ihm vorgelegten Berichtsentwurf zur Region Kursk (Fn. 309). Vyšinskij reichte den Berichtsentwurf zurück an Trajnin, verbunden mit dem Hinweis, dass es präziser Angaben darüber bedürfe, wer die ausgewiesenen Fakten festgestellt habe und von wem und wann diese Akten zusammengestellt worden seien. Ohne derartige Mindestangaben büße das Dokument seine Eignung im Sinne einer rechtserheblichen (und gerichtsverwertbaren) Aufzeichnung ein. Trajnin wurde angewiesen, entsprechende Ergänzungen vorzunehmen und den Entwurf sodann erneut vorzulegen, siehe GARF, f. R-7021, op. 116, d. 152, Bl. 44 (44). 311 Für die Vorlage der Berichtsentwürfe mit Anmerkungen von Vyšinskij an Molotov siehe exemplarisch den Entwurf des Berichts über die Verbrechen auf dem Territorium der KareloFinnischen SSR, ‚Soobščenie Črezvyčajnoj Gosudarstvennoj komissii o zlodejanijach finskofašistskich zachvatčikov na teritorii Karelo-Finskoj SSR‘ v. 18.  Aug. 1944, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 39–56. Den mit dem ZK der Karelo-Finnischen Partei abgestimmten Entwurf hatte Švernik Molotov am 10. Aug. 1944 zur Bestätigung vorgelegt (ebd., Bl. 40). Den von ihm überarbeiteten Entwurf des Berichts übermittelte Vyšinskij Molotov am 12. Aug. 1944, verbunden mit der Anmerkung, dass aus seiner Sicht einer Veröffentlichung des Berichts in der nunmehrigen Fassung Bedenken nicht entgegen stünden, ebd., Bl. 39. Die Veröffentlichung erfolgte entsprechend der daraufhin erteilten Anweisung Molotovs am 18.  Aug. 1944. Am 21. und 22. Aug. 1944 wurde die englische Fassung des Berichts in Soviet War News (No 940 u. 941) abgedruckt. 312 Vgl. etwa die von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission beglaubigte und als Beweisstück USSR-16 vorgelegte Kopie der Weisung ‚Bandenbekämpfung‘ des OKW vom 16. Dez. 1941, Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 15. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 538. 307

424

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

gezogenen Auswertungen befanden sich sowohl veröffentlichte313 als auch unveröffentlichte314 Berichte. Zumindest in Hinsicht auf den Anklagevorwurf der Tötung von 11.000 polnischen Offizieren im Wald von Katyn315 haben sich die im Untersuchungsbericht niedergelegten Erkenntnisse nachträglich als unzutreffend erwiesen, da die sowjetische Führung für die von ihrer Seite angeklagten Verbrechen in der Sache selbst die alleinige Verantwortung trug.316 Unter Historikern 313

Siehe z. B. den Bericht einer Sonderkommission der ČGK, der Burdenko-Kommission zur Untersuchung der Tötung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn v. 24. Jan. 1944, 55 (u. Fn. 373), vorgelegt v. Hilfsankläger Pokrovskij als Beweisstück USSR-54, Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 469. 314 Siehe beispielsweise den unter der Kennung USSR-2 vorgelegten Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über die von den deutsch-faschistischen Eindringlingen zu verantwortenden Zerstörungen im Gebiet Stalinsk, oben D., GARF, f. R-7021, op. 116, d. 406, Bl. 4 (No 20), dem Tribunal vorgelegt v. Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 18. Feb. 1946, IMT, Bd. VI, S. 586; vgl. ferner den als USSR-85 vorgelegten Bericht der Leningrader Stadtkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen, Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 15. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 599. 315 Anklagepkt. Drei, Abschn. C, Unterabschn. 2 der Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (58). Zum Problem von Katyn vor dem IMT siehe Kap. G. III. 3 a) bb) (3). 316 Auf Grundlage eines Beschlusses des Politbüro ZK VKP(b) v. 5. März 1940 hatten Einheiten des NKVD im April und Mai 1940 21.847 polnische Offiziere, Polizisten und Strafgefangene der westlichen Regionen der Ukrainischen SSR und Weißrussischen SSR im Wald von Katyn, Char’kov, Kalinin, Minsk, Kiew und Cherson hingerichtet, siehe zur Beschlusslage Protokoll No 13 der Sitzung d. Politbüro ZK VKP(b) v. 5. März 1940, abgedr. in Kozlov/ Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No  1, S.  44–45. Für die von deutscher Seite nach Eroberung Polens eingeleiteten Untersuchungen siehe die im Auftrag des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reiches von der Deutschen Informationsstelle herausgegebene Sammlung ‚Amtliches Material zum Massenmord von Katyn. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes auf Grund urkundlichen Beweismaterials zusammengestellt, bearbeitet und herausgegeben von der Deutschen Informationsstelle‘, Berlin 1943, 331 Seiten; für amerikanische Nachkriegsbemühungen zur Aufklärung der Sachlage siehe United States Congress, final report: ‚The Katyn Forest Massacre‘, House Report No. 2505, 82nd Congress, 2nd Session, 22. Dez. 1952, pt. 1, 46 Seiten. Nach Rückeroberung des zwischenzeitlich von der Wehrmacht gehaltenen Territoriums durch die Rote Armee und Einrichtung der sowjetischen Sonderkommission lokalisierte diese mit Hilfe der ortansässigen Bevölkerung und Kriegsgefangenen insgesamt 8 Massengräber. In sieben dieser Gräber wurden insgesamet 4143 menschliche Leichname gefunden, von denen 2730 identifiziert werden konnten, siehe Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Čast’ III, Vvedenie, S. 428 f. Eine offizielle Anerkennung der sowjetischen Urheberschaft erfolgte in Gestalt eines TASS-Communiqués durch den Präsidenten der UdSSR ­Michail ­Sergeevič Gorbačev erst am 13. April 1990, veröffentlicht in Izvestija v. 13. April 1990, abgedr. in Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 223, S. 580–581; siehe dazu Sanford, ­Katyn and the Soviet Massacre of 1940, S. 196 ff. Für den umfangreichen Quellenbestand zum Massaker von Katyn wird auf die einschlägigen Editionen Bezug genommen, namentlich Pichoja/Gejštor (Hrsg.), Katyn’, Plenniki neob’’javlennoj vojny: Dokumenty (1997); Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’ (2001); zur Rezeption in der russischen Literatur siehe Parsadanova, in: Novaja i novejšaja istorija, 1990 No 3, S. 19–36; Jažborovskaja, Voprosy istorii, 2011, No 5, S. 22–35; Jažborovskaja/Jablokov/ Parsadanova, Katynskij sindrom (2001); Lebedeva, Katyn‘: prestuplenie protiv čelovečestva (1994); für nichtrussische Darstellungen siehe Cienciala/Lebedeva/Materski (Hrsg.), Katyn: A Crime Without Punishment (2007); Sanford, Katyn and the Soviet Massacre of 1940 (2005); Schaubs, Streitfall Katyn (2008).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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steht mittlerweile außer Frage, dass Katyn keinesfalls als singuläres Phänomen wahrgenommen werden sollte. Es erscheint vielmehr durchaus naheliegend anzunehmen, dass sich bei Einsatz der erforderlichen Ressourcen weitere Belege für die sowjetische Strategie eines „transferred blame“317 würden nachweisen lassen. Eine ganzheitliche Untersuchung der offiziellen Ergebnisse der ČGK erscheint zwar schon bereits aufgrund des zeitlichen Abstandes und des immensen Wirkungsfelds der Kommission in territorialer wie personeller318 Hinsicht kaum durchführbar. Punktuell haben jedoch einige (überwiegend russische) Historiker Fälle von direkten Fälschungen in Auswertungen der ČGK nachweisen können.319 Einige der von den Manipulationen betroffenen Berichte beeinflussten gar unmittelbar die Beweisführung im Nürnberger Prozess. Der seitens der ČGK in Übereinstimmung mit dem ihr erteilten Mandat zu ermittelnde offizielle Wert des der UdSSR zugefügten materiellen Schadens320 wurde von der ČGK auf 679 Milliarden Rubel taxiert321. Diese Summe wurde entsprechend in die Anklageschrift aufgenommen, in der es zum Anklagepunkt Drei (Kriegsverbrechen) u. a. heißt: „Der Gesamtbetrag des der USSR zugefügten materiellen Schadens wurde, nach staatlichen Preisen von 1941, auf 679.000.000.000 Rubel geschätzt.“322

In der Hauptverhandlung fanden entsprechende Angaben in den Vorträgen Šejnins zur Plünderung von Privat-, öffentlichem und Staatseigentum323 und Raginskijs zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten sowie Zerstörung von Städten und Dörfern Erwähnung.324 Zur Konkretisierung der betragsmäßig ausgewiesenen Gesamtsumme legte die sowjetische Anklage den Bericht der ČGK als 317

Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (804). Vgl. hierzu den Nachw. oben Fn. 301. 319 Für einen Überblick siehe Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (804 f.). 320 Die in den Berichten der ČGK ausgewiesenen Opferzahlen sind u. a. wegen der ihnen zugrunde liegenden pauschalen Schätzungen kritisiert worden, siehe Pohl, in: Kaiser (Hrsg.), Täter im Vernichtungskrieg, S. 204 (206). 321 Für einen Bericht der ČGK an Molotov mit einer allgemeinen Gesamtauswertung sowie der Bezifferung des gesamten materiellen Schadens siehe Schreiben Šverniks v. 30. Dez. 1945, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 513, Bl. 1–161. Vgl. hierzu bereits die veröffentlichte Erklärung ‚Itogovoe soobščenie Črezvyčajnoj Gosudarstvennoj Komissii‘ v. 13. Sept. 1945; die engl. Fassung (‚Statement on Materials Damage Caused by the German-Fascist Invaders to State Enterprises and Institutions, collective Farms, Public Bodies and Citizends of the U. S. S. R.’) ist abgedr. in Soviet War News v. 18. Sept. 1945 (No 1257); siehe auch Knyševskij, Dobyča, S. 4. 322 Anklagepkt. Drei, Abschn. E, Unterabschn. 2 der Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (64). Dieser Teil der Anklage wurde v. Hilfsankläger Ozol’ am 20. Nov. 1945 verlesen, IMT, Bd. II, S. 83. 323 Šejnin hielt seinen Vortrag am 20. Feb. 1946 (Fn. 212), IMT, Bd. VIII, S. 7–63. 324 Raginskij begann am 21. und beendete den Vortrag am 22. Feb. 1946 (Fn. 213), IMT, Bd. VIII, S. 64–148. Ein sowjetischer Dokumentarfilm mit dem Titel „Zerstörung von Kunstwerken und Denkmälern nationaler Kultur, die von den Deutschen im Sowjetgebiet verübt wurden“ wurde auf Antrag der sowjetischen Anklage am 21.  Feb. 1946 vorgeführt, IMT, Bd. VIII, 115 f. 318

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Beweisstück USSR-35 vor, dessen Inhalt zur Schadensberechnung sie knapp rekapitulierte.325 Die Legitimität dieses Wertansatzes bzw. die Anrechenbarkeit der in ihn einfließenden Schadenspositionen werden bisweilen unter Hinweis auf den Stavka326-Befehl Nr. 0428 vom 17. November 1941 (sog. „Fackelmänner-Befehl“) in Zweifel gezogen, mit dem Stalin in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Hauptquartiers des höchsten Oberkommandos u. a. angeordnet hatte, „alle Siedlungspunkte im Hinterland der deutschen Truppen in einer Tiefe von 40 bis 60 Kilometer ab der Hauptkampflinie und 20 bis 20 Kilometer links und rechts der Straßen vollständig zu zerstören und niederzubrennen“327. Entsprechende Einwände entbehren jedenfalls nicht einer gewissen Berechtigung, denn die infolge der „Strategie der ‚Verbrannten Erde‘“328 durch die sowjetischen „Vernichtungs-Batail 325

Šejnin am 20. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 51: „Die deutsch-faschistischen Eindringlinge zerstörten und raubten 98000 Kollektivwirtschaften, 1876 Staatsgüter und 2890 Maschinenund Traktorstationen. Sie schlachteten, nahmen weg oder brachten nach Deutschland: 7 Millionen Pferde, 17 Millionen Stück Rindvieh, 20 Millionen Schweine, 27 Millionen Schafe und Ziegen, 110 Millionen Stück Geflügel. Die Außerordentliche staatliche Kommission stellte fest, daß der sowjetrussischen Volkswirtschaft und den Einwohnern von Dörfern und Städten ein Schaden in Höhe von 679 Milliarden Rubel, errechnet in den amtlichen Preisen von 1941, zugefügt wurde: Davon: 1. den Staatsbetrieben und Unternehmungen: 287 Milliarden, 2. den Kollektivwirtschaften: 181 Milliarden, 3. den Dorf- und Stadtbewohnern: 192 Milliarden und 4. den Genossenschaften, Gewerkschaften und anderen öffentlichen Organisationen: 19 Milliarden Rubel.“ 326 Die Stavka Verchovnogo Glavnokomandovanija (Hauptquartier des höchsten Oberkommandos) fungierte zwischen Juli 1941 und Januar 1946 als höchstes militärisches Entscheidungsorgan, siehe dazu Hartmann/Zarusky, VfZ 48 (2000), S. 667 (667, Fn. 1). 327 Ziff. 1 des Befehls Nr. 0428 des Hauptquartiers des Höchsten Oberkommandos über die Vernichtung von Siedlungspunkten in der frontnahen Zone v. 17. Nov. 1941, zit. nach der bei Hartmann/Zarusky, VfZ 48 (2000), S. 667–674 abgedr. Übersetzung ins Deutsche, ebd., Anh. S. 673–674, hier S. 674 = dies., in: Hartmann/Hürter/Lieb/Pohl (Hrsg.), Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944, S. 393–400, hier 398–400; der russ. Originalwortlaut des Befehls ist in Auszügen abgedr. bei Knyševskij, Skrytaja pravda vojny, S. 211. In Ziff. 1 heißt es weiter: „Zur Zerstörung der Siedlungspunkte im angegebenen Radius unverzüglich die Luftwaffe heranzuziehen, in großem Maßstab die Artillerie und Granatwerfer zu nutzen, […] 2. In jedem Regiment Jagdkommandos von je 20 bis 30 Mann zur Sprengung und Inbrandsetzung der Siedlungspunkte zu bilden, in denen sich die Truppen des Gegners niederlassen. […] 3. Bei erzwungenen Rückzügen unserer Einheiten an diesem oder jenem Abschnitt die sowjetische Bevölkerung mit sich zu führen und auf jeden Fall ausnahmslos alle Siedlungspunkte zu vernichten, damit der Gegner sie nicht benutzen kann. […] 4. […] Der Stavka ist alle drei Tage gesondert Bericht darüber zu erstatten, wie viele und welche Siedlungspunkte in den vergangenen Tagen vernichtet und mit welchen Mitteln diese Resultate erzielt worden sind.“ (ebd., S. 674). Zwar haben ­Hartmann und Zarusky (‚Stalins Fackelmänner-Befehl vom November 1941. Ein verfälschtes Dokument‘, VfZ 48 [2000], S. 667–674; vgl. auch den gleichnamigen Beitrag dies., in: ­Hartmann/Hürter/Lieb/Pohl (Hrsg.), Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944, S. 393–400) nachgewiesen, dass der Stavka-Befehl durch nachträgliche Modifikationen bewusst verfälscht worden ist, u. a. durch die Aufnahme einer Ergänzung dergestalt, dass die Jagdkommandos bei den Operationen deutsche Uniformen tragen sollten. Der vorstehend wiedergebene Teil war­ jedoch derartigen Zweifeln in Bezug auf seine Authentizität nicht ausgesetzt. 328 Dazu ausführlich Hartmann, Wehrmacht im Osten, S. 767 ff. Für die russ. Fassung weiterer auf Grundlage der Strategie der ‚Verbrannten Erde‘ erarbeiteter Dokumente wie der Befehl

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

427

lone“329 verursachten Schäden sind weder separat ausgewiesen noch von der Gesamtschadenssumme in Abzug gebracht worden. Womöglich lag dem sowjetischen Rechenwerk die – indes nicht offen ausgewiesene – Annahme zugrunde, dem Deutschen Reich sei auch die materielle Verantwortung für schadensstiftende Abwehrmaßnahmen der Landesverteidigung ungekürzt aufzuerlegen. Besonders verheerende Folgen zeitigte die von Stalin persönlich dekretierte Strategie in den Städten Kiew (September 1941) und Char’kov (November 1941). Dort hatte die sowjetische Verteidigung im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden Einnahme durch deutsche Truppen jeweils weite Teile der urbanen Flächen in Schutt und Asche gelegt und den in das Stadtzentrum vorrückenden deutschen Einheiten bereits durch das allseits um sich greifende Feuer erhebliche Verluste zugefügt.330 Zu beiden Städten legte die sowjetische Anklage unter anderem auch Berichte der ČGK331 vor, die die deutsche Besatzungsmacht pauschal mit der Haftung für die immensen Schäden belasteten. In Bezug auf Kiew legte die UdSSR als Beweis dafür, dass „die Hitler-Faschisten die friedliche Bevölkerung in Kiew ausgeplündert“332 und Schulen, Bibliotheken, Museen sowie Kathedralen zerstört333 haben, den Bericht der ČGK unter der Dokumentennummer USSR-9334 und USSR-248335 vor. Die sowjetische Anklage trug etwa zum Vorwurf der Zerstörung und Plünderung von kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen in Kiew wie folgt vor: „In Übereinstimmung mit ihren verbrecherischen Plänen für die Versklavung der freiheitliebenden ukrainischen Bevölkerung haben die Hitler-Verschwörer versucht, deren Kultur zu vernichten. Schon in den ersten Tagen ihres Einfalls in die Ukraine haben die HitlerLeute, im Rahmen der Durchführung ihrer verbrecherischen Ziele, eine systematische Zerstörung von Schulen, höheren Bildungsanstalten und wissenschaftlichen Instituten sowie

No 0012 des Kriegsrats der westlichen Front v. Anfang August 1941 zur Vernichtung der Ernte und der Bericht No 0324 v. 25. Nov. 1941 über die Umsetzung des Stavka- Befehls Nr. 0428 (mit einer Auflistung von zerstörten 53 Dörfern und mehreren Brücken) sowie v. 30. Dez. 1941, abgedr. bei Knyševskij, Skrytaja pravda vojny, S. 207 ff. 329 Zum Begriff Hartmann, Wehrmacht im Osten, S. 769. 330 Hartmann, Wehrmacht im Osten, S. 769. 331 Siehe den Bericht der ČGK über die Zerstörungen und Bestialitäten, die die deutsch-­ faschistischen Eindringlinge in der Stadt Kiew begangen haben, Soobščenie ČGK ‚O raz­ ru­šenijach i zverstvach, soveršennych necko-fašistskimi zachvatčikami v gorode Kieve‘ v. 28. Feb. 1944, 15 Seiten; für Char’kov siehe den Bericht der ČGK über die Zerstörungen und Bestialitäten, die die deutsch-faschistischen Eindringlinge in der Stadt Char’kov und dem Oblast von Char’kov begangen haben, Soobščenie ČGK ‚O zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov v gorode Char’kove i Car’kovskoj oblasti‘ v. 12. Dez. 1943, 12 Seiten. 332 Šejnin, Protokoll der Verhandlung v. 20. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 44. 333 Raginskij, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 101 ff. 334 Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission „Über die Zerstörungen und Bestia­litäten, die die deutsch-faschistischen Eindringlinge in der Stadt Kiew begangen haben“ v. 28. Feb. 1944 (Fn. 331) wurde erstmals vorlegt von Smirnov, Protokoll der Verhandlung v. 15. Feb. 146, IMT, Bd. VII, S. 559. 335 Raginskij, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 100.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Museen, Bibliotheken, Klubs und Theatern durchgeführt. Die historischen und kulturellen Schätze in den Städten Kiew, Charkow, Odessa und in den Provinzen Stalino und Rovno und in vielen anderen größeren und kleinen Städten wurden der Zerstörung und Plünderung preisgegeben.“336

Dass allerdings die den deutschen Invasoren zur Last gelegte Zerstörung von Kulturgütern in Kiew zu einem erheblichen Teil auf sowjetische Einwirkung zurückzuführen waren, hat die amerikanische Historikerin Grimsted nachgewiesen.337 Ferner liegen belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass den Nationalsozialisten im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Zerstörung von Archivbeständen auch die Vernichtung solcher Quellen in Rechnung gestellt wurde, die bereits in den 1920er und 1930er Jahren der Zerstörung anheimgefallen oder die im Rahmen konzertierter Aussonderungsmaßnahmen im Jahr 1941 von sowjetischer Hand mutwillig zerstört worden waren.338 Ähnlich ambivalente Erkenntnisse liegen auch für die den deutschen Aggressoren zugeschriebene Zerstörung von Kulturgütern auf sowjetischem Boden vor.339 336

Raginskij, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 100. Grimsted, Trophies of War and Empire, S. 184–188; Zinič, Pochiščennye sokrovišča, S. 16 f. 338 Chorchordina, Istorija i archivy, S. 258 ff., 265. S. insoweit auch Grimsted, Archives of Russia Five Years After, S. 55–56: „Considerable archival gaps and losses of materials from the 1920s and 30 have been traditionally blamed on Nazi wartime destruction during World War II. To be sure, damage by the invader was extensive in war-torn areas of the Soviet Union, during the ‚Great Patriotic War of the Fatherland‘ […]. Nevertheless, as an important component of the ‚revisionist‘ history of the war, the extent to which Soviet authorities were ordered to destroy archives during the summer of 1941, when it was possible to evacuate only a small part of the archives on the invasion route, has now been documented in shocking detail. […] All such forced destruction in 1941 and the further brutal destruction of archives and other cultural monuments by Soviet forces when retaking occupied areas in 1943–1944 was later blamed unconditionally on the Nazi invader on official postwar reports. Only g­ radually is the truth of wartime developments beginning to emerge.“ Siehe auch dies., Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 39 (1991), S.  53–80. Ausfühlich zur Evakuierung sowjetischer Archive in den Kriegsjahren Kopylova, Sovetskie archivy 1990, No 4, S. 37–44. Laut Kopylova wurden nach Angaben der Verwaltung staatlicher Archive (UGA) des NKVD der UdSSR am 5. April 1942 zu 70 Volkskommissariaten und zentralen Verwaltungseinheiten etwa die Hälfte der Bestände zur Zerstörung ausgesondert, darunter fälschlicherweise auch viele mit enormem kulturellem Wert. Für genaue Zahlen siehe Kopylova, Sovetskie archivy 1990, No 4, S. 37 (41), siehe auch Vasil’eva/Knyševskij, Kransye konkistadory (1994). 339 Für einen Überblick siehe Formozov, Russkie archeologi, S. 299; krit. Zinič, Pochiščennye sokrovišča, S.  16 f., 90 f. Zur lange Zeit umstrittenen Frage nach der Verantwortung der Zerstörung der Mariä-Entschlafens-Kathedrale (auch genannt Uspenski-Kathedrale, russ. Uspenskij sobor Kievo-Pečerskoj lavry) in Kiew siehe insbes. Petrovskij, Sokrytye straniči­ istorii, S. 69–78. Bereits der Bericht der ČGK v. 28. Feb. 1944 (Fn. 331) hatte die deutschen Invasoren als Urheber für die Zerstörung des Sakralbaus ausgemacht, siehe ebd., S. 4. ­Albert Speer bestätigte in seinen 1969 erstmals erschienenen Memoiren, dass die Kathedrale im Herbst 1941 auf Befehl des Reichskommissars der Ukraine Erich Koch gesprengt worden war, „um dieses Sinnbild ukrainischen Nationalstolzes zu beseitigen“, Speer, Erinnerungen, S. 251; vgl. hierzu auch die Aufzeichnungen des Technischen Kriegsverwaltungsinspektors Edwin Grützner vom Rüstungskommando Kiew, 1941–1943 (hier: Eintrag vom 26. Sept. 1941), abgedr. in: Müller (Hrsg.), Deutsche Wirtschaftspolitik, S. 587–646, hier S. 613 f. 337

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

429

Der Vorwurf der Zerstörung von Archivbeständen wurde auch im Nürnberger Prozess unter Bezugnahme auf die Berichte der ČGK erörtert. Hilfsankläger­ Raginskij trug insoweit am 21. Februar 1946 vor: „Am 5.  September 1943 zerstörten die Deutschen durch Brand und Sprengungen einen der ältesten Mittelpunkte ukrainischer Kultur, die ‚T. G. Schevtschenko‘-Staats-universität von Kiew, die 1834 gegründet wurde. Das Feuer zerstörte wertvolle Kulturschätze, die seit Jahrhunderten als Grundlage für die wissenschaftliche Lehrtätigkeit der Universität gedient hatten. Dem Feuer fielen ebenfalls zum Opfer: die unschätzbaren Urkunden des ­Historischen Archivs für alte Manuskripte, die Bibliothek mit mehr als 1300000 Büchern, das Zoologische Museum der Universität, das weit mehr als zwei Millionen Ausstellungsobjekte hatte, und ebenfalls eine große Reihe anderer Museen.“340

Als ergänzenden Beleg für die in der Stadt Char’kov angerichteten Verwüstungen führte die sowjetische Anklage mit Beweisstück USSR-32 die seinerzeitige Anklageschrift und das Urteil aus dem vom 15. bis 18. Dezember 1943 in Char’kov durchgeführten Strafprozess341 in das Verfahren ein. Aus den vorgelegten Dokumenten erschloss sich nach Ansicht der sowjetischen Anklage ohne weiteres, dass „die deutsch-faschistischen Armeen in der Stadt Charkow und in der Charkower Gegend auf direkte Anweisung der Hitler-Regierung Material- und Kulturwerte des Sowjetvolkes niederbrannten, zerstörten und plünderten“342. Der Erwähnung bedürfen ferner die auf entsprechenden Untersuchungsberichten der ČGK aufbauenden Ausführungen der sowjetischen Anklage zur Zerstörung von Kirchen und anderen Sakralbauten.343 Der Untersuchungsauftrag sowohl der ČGK selbst als auch der von ihr eingesetzten Spezialkommissionen erstreckte sich von Anfang an auch auf die Aufklärung der auf diesem Gebiet seitens der deutschen Invasoren angerichteten Schäden. Zur Sicherstellung eines entsprechenden Ermittlungselans und zur Einbindung des erforderlichen Sachverstandes war der Metropolit der Russisch-Orthodoxen Kirche von Kiew und Galizien

340

Raginskij, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 101. Dazu ausf. oben Kap. C. II. 12. 342 Raginskij, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 100. 343 Bereits in der Anklageschrift findet sich hierzu folgender Passus: „Die Nazi-Verschwörer zerstörten 1670 griechisch-orthodoxe Kirchen, 237 römisch-katholische Kirchen, 67 Kapellen, 532 Synagogen usw. Ferner zertrümmerten und entweihten sie in sinnloser Zerstörungswut die wertvollsten Denkmäler der christlichen Kirche, wie zum Beispiel Kiewo-Peherskaya, Lawra, Nowy Jerusalem im Istringebiet und die ältesten Mönchsklöster und Kirchen.“, siehe Anklage­ punkt Drei, Abschn. E, Unterabschn. 2 der Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (64). Für entsprechende Ausführungen im Rahmen der Hauptverhandlung siehe Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 96 ff., 102 (Ikonen, Uspenki­kathe­drale), 116 f., Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, 374 f. Am 21. Feb. 1946 führte­ Raginskij aus: „Die deutsch-faschistischen Eindringlinge zerstörten vollständig oder teilweise 1670 Kirchen, 69 Kapellen, 237 römisch-katholische Kirchen, 4 Moscheen, 532 Synagogen und 254 andere Gebäude religiösen Charakters“, Protokoll der Verhandlung v. 21. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 117. 341

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Nikolaj344 zum Mitglied der ČGK berufen worden. Auch den Unter- und Spezialkommissionen gehörten aus diesem Grund regelmäßig Geistliche als Kommis­ sionsmitglieder an. Wie bereits im Zusammenhang mit der den deutschen Invasoren allein angelasteten Zerstörung wertvoller Archivbestände bilden die im Bericht der ČGK niedergelegten Befunde zur deutschen Verantwortung und die insoweit nachgewiesenen Quellen345 die historische Realität nur unvollkommen ab. Im Gefolge einer strikt antireligiösen Politik waren nämlich noch während der Oktoberrevolution und danach zahlreiche Kirchen, Klöster und sonstige sakrale Einrichtungen auf Weisung der sowjetischen Machthaber dem Erd­boden gleich gemacht worden.346 Knyševskij beziffert die Zahl der zwischen Oktoberrevolution und Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von den Kommunisten zerstörten Sakralbauten auf etwa 50000.347 Weder den von der ČGK vorgelegten Berichten noch den auf diesen aufbauenden Vorträgen der sowjetischen Ankläger vor dem IMT waren freilich diesbezügliche Hinweise, Differenzierungen oder Relativierungen zu entnehmen. Es liegt auf der Hand, dass die Sowjetunion die zweifelsohne von deutscher Seite zu verantwortenden willkürlichen Zerstörungen von Gotteshäusern zum Anlass nahm, die im Zuge ihrer eigenen anti­ klerikalen Kampagnen verursachten Schäden in das deutsche Schuldenregister einzuschreiben. Einen konkreten Anwendungsfall von bewusster Falsifizierung des Tatsachenmaterials, einer „direct falsification of the facts“, zeichnet Sorokina anhand der vorbereitenden Dokumente zum Untersuchungsbericht der ČGK vom 6. November 1943 im Zusammenhang mit Verbrechen in Smolensk und in den Gebieten um Smolensk348 nach.349 Der im Bericht enthaltene Abschnitt zur Tötung von Kriegsgefangenen und der friedlichen sowjetischen Bevölkerung350 wurde dem Tribunal von Hilfsankläger Raginskij am 13. Februar 1946 als Beweisstück USSR-56 vorgelegt und sodann in Auszügen verlesen.351 Dem Bericht der ČGK war in An-

344 Bürgerlicher Name Jaruševič Boris Dorofeevič, Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (822). 345 Zu der von deutscher Seite angeordneten Sprengung der Mariä-Entschlafens-Kathedrale siehe bereits oben Fn. 339. 346 Zur Kirchengeschichte in Russland und der UdSSR siehe Kaševarov, Pravoslavnaja rossijskaja cerkov’ (2005); Vasil’eva/Knyševskij, Kransye konkistadory (1994); Smolič, Istorija Russkoj Cerkvi 1700–1917 (1996); Rusak (Stepanov), Svidetel’stvo obvinenija. Cerkov’ i gosu­ darstvo v Sovetskom Sojuze (1987); Regel’son, Tragedija Russkoj Cerkvi 1917–1945 (1974). Shkarovskij, in: Lehmann/Schjørring (Hrsg.), Im Räderwerk, S. 14–30. 347 Knyševskij, Dobyča, S. 5. 348 ‚Soobščenie o razrušenii gor. Smolenska i zlodejanijach, soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami nad sovetskimi graždanami‘ v. 6. Nov. 1943, 15 Seiten. 349 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (827 f.). Den nachfolgenden Ausführungen liegt das von Sorokina für ihren Aufsatz ausgewertete Quellenmaterial zugrunde. 350 Bericht v. 6. Nov. 1943 (Fn. 348), S. 15 (7–9). 351 Protokoll der Verhandlung v. 13. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 409.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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lage zudem ein Attest (‚akt‘) der gerichtsmedizinischen Expertenkommission beigefügt, der das ČGK-Mitglied Akademiker Dr. Nikolaj Nilovič Burdenko352, der leitende gerichtsmedizinische Experte des Volkskommissariats für Gesundheitswesen Dr. V. I. Prozorovskij, der Professor für Gerichtsmedizin am zweiten Moskauer Medizinischen Institut Dr. V. M. Smoljaninov sowie die beiden leitenden wissenschaftlichen Mitarbeiter am gerichtsmedizinischen Institut des Volkskommissariats für Gesundheitswesen Dr. P. S. Semenovskij und Dozent M. D. Švajkova als Sachverständige angehörten.353 Der dort niedergelegte Befund zu zahlreichen Leichenfunden in Massengräbern bei Smolensk wurde in Nürnberg ebenfalls in Auszügen verlesen.354 In Übereinstimmung mit dem für Untersuchungsberichte der ČGK etablierten Freigabeverfahren355 wurde der Bericht nach Fertigstellung zunächst einer persönlichen Überprüfung durch Vyšinskij unterzogen.356 Seine Änderungen enthielten neben stilistischen und strukturellen Korrekturen auch solche, die der sachverständigen Bewertung der Kommissionsmitglieder in Bezug auf in Betracht kommende Ursachen von Schäden eine wesentliche andere Richtung verliehen. So fand sich in der ursprüngliche Entwurfsfassung der ČGK noch eine Passage folgenden Inhalts wieder: „In den Gräbern auf dem Territorium der Siedlungen Magalenčšina-Vjazoven’ka und der Frucht- und Gemüselandwirtschaft in der Nähe des Dorfes Readovka sind Leichname gefunden worden, die Schussverletzungen und Verletzungen durch stumpfe, harte und schwere Gegenstände aufweisen, darüber hinaus weitere Leichname ohne Spuren von auf mechanischem Wege zugefügten Verletzungen. In Bezug auf die letztgenannten Leichname besteht unter Berücksichtigung einer Reihe von Zeugenaussagen eine hohe Wahrscheinlichkeit und Plausibilität dafür, dass die Todesursache auf eine Vergiftung durch

352

Burdenko fungierte ebenfalls als Leiter der Sonderkommission zur Untersuchung der Verbrechen im Wald von Katyn, der nach ihm benannten sog. Burdenko-Kommission; für deren Einrichtung siehe Protokoll No 23 der ČGK v. 12. Jan. 1944, GARF, f. R-7021, op. 114, d. 8, Bl. 39, abgedr. in Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 205, S. 498–500; für weitere Nachw. zur Kommission siehe bereits oben Fn. 297, zu dem von ihr vorgelegten Bericht vgl. die nachfolgenden Ausführungen in Fn. 373. 353 Akt sudebno-medicinskoj ėkspertizy (Befund der gerichtsmedizinischen Expertise), abgedr. als Anhang zum Bericht v. 6. Nov. 1943 (Fn. 348), S. 10–15. 354 Für Auszüge aus dem Untersuchungsbericht im Protokoll des IMT vgl. Protokoll der Verhandlung v. 13. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 411–413. 355 Vgl. hierzu bereits die Nachw. in den Fn. 309–310. 356 Der Entwurf des Berichts wurde nach seiner Fertigstellung vom Vorsitzenden der ČGK Švernik am 4. Nov. 1943 zunächst an Molotov übermittelt. Dieser versah das ihm vorliegenden Anschreiben mit der handschriftlichen Verfügung, dass die Erklärung zur Veröffent­lichung am 6. Nov. 1943 freigegeben werde – allerdings unter dem Vorbehalt vorheriger Überprüfung und gegebenenfalls Überarbeitung durch Vyšinskij, siehe handschriftl. Notiz Molotovs auf dem Anschreiben Šverniks an Molotov v. 4. Nov. 1943, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 11. Švernik übermittelte das Dokument an Vyšinskij, der Molotov bereits am 5. Nov. 1943 den seinerseits entsprechend abgeänderten Entwurf zur endgültigen Genehmigung vorlegte, siehe für den Berichtsentwurf v. 4. Nov. 1943 einschließlich der von Vyšinskij eingebrachten Korrekturen, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 12–38.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Abgase spezieller Fahrzeuge zurückzuführen ist. Nach Durchführung von gerichtsmedizinischen, gerichtschemischen und spektroskopischen Untersuchungen war es jedoch nicht möglich, den objektiven Nachweis einer Vergiftung durch Kohlenmonoxid zu führen, das den toxischen Hauptbestandteil von Abgasen darstellt; dies ist augenscheinlich auf die mit dem Verwesungsprozess einhergehenden Veränderungen der Leichname zurückzuführen, deren Beerdigungszeitpunkt über ein Jahr zurückliegt.“357

Die ohnedies etwas kryptisch anmutende Wendung „besteht […] eine hohe Wahrscheinlichkeit und Plausibilität dafür“358 ersetzte Vyšinskij ohne Einholung weiterer Erkundigungen schlicht durch die Formulierung „kann bestätigt werden“ (možno utverdit‘). Den Ausdruck „Abgase“ ersetzte er durch „Kohlen­monoxid“ ([otravlenie] okis’ju uglerodom).359 Den letzten Satz, demzufolge objektive Beweise für die Vergiftung mit Kohlenmonoxid nicht hatten beigebracht werden können, tilgte Vyšinskij gleich vollständig aus dem ihm vorgelegten Entwurf.360 Einer weiteren in der Hauptverhandlung vor dem IMT verlesenen Passage aus dem Bericht der ČGK zu Krasnodar wurde vor ihrer Freigabe eine vergleichbare ‚Modifikation‘ zuteil. Am 13. Februar 1946 gab Pokrovskij vor dem IMT auszugsweise u. a. folgende Passage des Berichts wieder: „Ein objektiver Beweis für den Hungertod ist außer dem völligen Fehlen der Fettschicht unter der Haut auch die Feststellung, dass sich in vielen Fällen im Magen Überreste von Grassubstanzen, Stücke von groben Blättern und Pflanzenstielen befanden.“361

Diese bereits in der ursprünglichen Entwurfsfassung der ČGK enthaltene Feststellung war zunächst noch dahingehend relativiert worden, dass der fortgeschrittene Verwesungsprozess bei einem Teil der Leichname einer sicheren Identifikation der Todesursache entgegen gestanden hätte: „Bei einem Teil der Leichname, exhumiert aus den Gräbern an den oben genannten Orten, konnte die Todesursache aufgrund der verwesungsbedingten Veränderungen nicht fest­ gestellt werden.“362

357

Ü. d. Verf., Berichtsentwurf v. 4.  Nov. 1943 (Fn.  356), RGASPI, f. 82, op. 2, d.  512, Bl. 12–38, hier Bl. 33; für eine Übersetzung dieses Abschnitts ins Englische siehe Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (828). 358 Streng genommen „hohe Wahrscheinlichkeit, ist es denkbar“, siehe insoweit auch die Übersetzung bei Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (828): „high degree of probability and plausibility“. 359 An einer anderen Stelle änderte Vyšinskij eine „Vergiftung durch Abgase in Fahrzeugen“ in „Vergiftung durch Kohlenmonoxid in speziell zur Tötung von sowjetischen Bürgern angepassten Fahrzeugen“, (Fn. 356) RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 12 (36). Siehe zum Einsatz dieser im Amtsdeutsch als ‚Sonderwagen‘ geführten Vehikel bereits S. 156. 360 Handschriftliche Anmerkungen Vyšinskijs im Berichtsentwurf v. 4. Nov. 1943 (Fn. 356), RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 12 (33). 361 Protokoll der Verhandlung v. 13. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 412. 362 Ü. d. Verf., Berichtsentwurf v. 4. Nov. 1943 (Fn. 356), RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 12 (34); für eine Übersetzung dieses Abschnitts ins Englische siehe Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (828).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Auch diese, die Aussagekraft des erschütternden Befundes in den Augen Vyšinskij augenscheinlich in Frage stellende Ergänzung, fiel vor ihrer Veröffentlichung den Korrekturanweisungen des „unofficial editor and censor“363 zum Opfer.364 Belege dafür, dass den Berichten der ČGK als zentralen Beweismitteln der sowjetischen Anklage zu den Anklagepunkten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Mehrzahl eine zielgerichtete Verfälschung der wahren Begebenheiten nach dem Vorbild Katyns zugrunde lag, existieren nicht. Außer Zweifel steht zwar, dass zahlreiche Berichte nachträglichen Manipulationen unterzogen wurden, indem etwa Zweifel oder Ungewissheiten kaschiert oder der Darstellungsintention der Sowjetführung zuwider laufende Angaben unterdrückt wurden. Die Überarbeitungen, die der vorstehend in Bezug genommene Unter­ suchungsbericht zu Smolensk erfuhr, legen Zeugnis ab von dieser Praxis. In Rechnung zu stellen ist andererseits aber auch, dass längst nicht allen von der ČGK zur Freigabe eingereichten Dokumenten ein solches Schicksal wiederfuhr. Der ČGKBericht in Bezug auf deutsche Gräueltaten in der Karelo-Finnischen SSR365 etwa wurde inhaltlichen Änderungen im Zuge des Genehmigungsverfahrens nicht unterzogen. Vyšinskij beschränkte sich insoweit vielmehr auf Änderungen lediglich nur redaktioneller bzw. stilistische Natur, ergänzt durch einzelne Text­verschiebungen. Perpetuiert wurden die an den Berichten vorgenommenen Manipulationen und Auslassungen durch deren förmliche Einbettung in die Beweisführung vor dem IMT. Bei der Bezifferung des materiellen Schadens etwa wurde der von sowjetischer Seite zu dessen Entstehung geleistete Beitrag bewusst nicht in Abzug gebracht, sei es in Bezug auf die Politik der „verbrannten Erde“, sei es hinsichtlich der durch antiklerikale Kampagnen oder sonstige mutwillige Zerstörungen unter sowjetischer Regie angerichteten Schäden. Obschon zumindest den maßgeblichen Protagonisten um Vyšinskij die sowjetische Urheberschaft für zahlreiche in die Wertberechnung einfließende Schäden vollauf bewusst war, lagen dem sowjetischen Anklagevortrag im Verhältnis zu den ČGK-Berechnungen ausnahmslos ungekürzte Ansätze zugrunde. Auch der ČGK-Bericht zu Smolensk wurde auf Grundlage der von Vyšinskij vorgenommenen Überarbeitungen in Auszügen verlesen366 mit der Folge, dass dem IMT insbesondere die im ursprünglichen Entwurf noch zum Ausdruck gebrachte partielle Ungewissheit in Bezug auf die Todesursache vorenthalten wurde. Nicht nur mit Blick auf Katyn (dazu sogleich) steht außer Frage, dass die Sowjetführung den Nürnberger Prozess auch zum Anlass genommen hat, das Verzeichnis der von deutscher Seite zu verantwortenden Verbrechen um zahlreiche weitere Positionen zu ergänzen, die bei Lichte besehen in das so 363

Siehe oben Fn. 308. Handschriftliche Anmerkungen Vyšinskijs im Berichtsentwurf v. 4. Nov. 1943 (Fn. 356), RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 12 (34). 365 ‚Soobščenie Črezvyčajnoj Gosudarstvennoj komissii o zlodejanijach finsko-fašistskich zachvatčikov na teritorii Karelo-Finskoj SSR‘ v. 18. Aug. 1944, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 512, Bl. 39–56. 366 Protokoll der Verhandlung v. 13. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 412. 364

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wjetische Schuldenregister hätten aufgenommen werden müssen. Dies gilt für die von sowjetischer Seite angeordneten Zerstörungen von Kirchen und sonstigen Sakral­bauten ebenso wie für die mutwillige Zerstörung von Kulturgütern und insbesondere die im Zuge der ‚Strategie der verbrannten Erde‘ angerichteten Verwüstungen. Indes würde überwiegend im Lager Hitlerdeutschlands zu verortende Verantwortlichkeit auch in Bezug auf die vorgenannten Zerstörungen verkannt, wollte man die Angeklagten insoweit als „Opfer der Anklage“ wahrnehmen. Im Rückblick erwies sich die Einsetzung der mit handverlesenen Experten besetzten und daher mit dem Nimbus der Objektivität versehenen Staatlichen Ermittlungskommission als geschicktes Manöver zur Steuerung der öffentlichen sowjetischen Wahrnehmung.367 Trotz vereinzelt anklingender Zweifel wird der ČGK, ihren Leistungen und Ergebnissen in der russischen Literatur bis in die Gegenwart hinein für gewöhnlich eine insgesamt unkritische Wertschätzung zuteil. Mit überschwänglichem Lob bedacht werden die im Zuge der Ermittlungen vermeintlich an den Tag gelegte Gründlichkeit und die Objektivität, die die Auswertung des Beweismaterials als oberste Maxime angeleitet haben soll.368 Das Vertrauen in die Richtigkeitsgewähr der von der Kommission zusammengestellten Erkenntnisse manifestiert sich auch in dem Umstand, dass die in den Berichten ausgewiesenen Wertangaben bis heute ohne weitere Infragestellung als Grundlage für statistische Auswertungen herangezogen werden.369 (3) Der Fall ‚Katyn‘ vor dem IMT: Von der Kontroverse um die Reichweite des Art. 21 IMT-Statut zum Scheitern der sowjetischen Schuldzuweisungsbemühungen Zur beweiskräftigen Abstützung des Anklagevorwurfs370 betreffend die Tötung von 11.000 polnischen Offizieren im Wald von Katyn371, auf dessen Aufnahme in die Anklageschrift die sowjetische Seite entgegen dem Anraten der westlichen Ankläger mit Nachdruck insistiert hatte372, legte die sowjetische Anklage in der Haupt 367 Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S.  797 (831): „Nearly a half-century later, it must be recognized that the Stalinist plan to create the phantom of a ‚public prosecutor‘ of fascism was a success. The ChGK fulfilled its representational function during the war years, and in the postwar years faithfully kept the topic of ‚war crimes‘ sealed off from Soviet society.“ 368 Čeremnych, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 139 (140). Die Schattenseiten der Ermittlungstätgikeit, insbesondere die erwiesenen Fälschungen im Zusammenhang mit Katyn, erwähnt Čeremnych indes mit kei­ nem Wort. 369 Vgl. z. B. Gorbunova, in: Švecova/Sucharev/Minakov/Naumov/Ponomarev/Timofeev/ Chlestov (Hrsg.), Uroki Njurnberga, S. 173–177. 370 Anklagepkt. Drei, Abschn. C, Unterabschn. 2 der Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (58). 371 Für den tatsächlichen Hergang vgl. die Ausführungen oben Fn. 316. 372 Entstehung der Anklageschrift und Aufnahme des Katyn-Verbrechen siehe Kap. F. III. 2.

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verhandlung einen Bericht373 der Sonderkommission der ČGK zur Untersuchung der Verbrechen im Wald von Katyn  – der nach ihrem Vorsitzenden benannten sog. Burdenko-Kommission374 – vor.375 Am 14. Februar 1946 verlas Hilfs­ankläger Pokrovskij Auszüge des mit der Beweismittelkennung USSR-54 versehenen Berichts376; seinen Vortrag leitete er wie folgt ein: „Wir ersehen aus der Anklageschrift, daß eine der wichtigsten verbrecherischen Handlungen, für die die Hauptkriegsverbrecher verantwortlich sind, die Massenhinrichtung polnischer Kriegsgefangener war, die in den Wäldern von Katyn bei Smolensk von den deutsch-faschistischen Eindringlingen vorgenommen wurde. Ich unterbreite dem Gerichtshof als Beweis für dieses Verbrechen die amtlichen Dokumente der Sonderkommission, die mit der Feststellung und Untersuchung der den Erschießungen zugrundeliegenden Umstände beauftragt war. Die Kommission handelte im Auftrag der Außerordentlichen Staats­ kommission.“377 373 ‚Soobščenie special’noj komissii po ustanovleniju i rassledovaniju obstojatel’stv rasstrela nemecko-fašistskimi zachvatčikami v katynskom lesu voennoplennych pol’skich oficerov‘ v. 24. Jan. 1944, 55 Seiten; eine engl. Fassung ist als ‚Report of Special Commission for Ascertaining and Investigating the circumstances of the shooting of Polish officer prisoners by the German-Fascist invaders in the Katyn Forest’, abgedr. in Soviet War News v. 27., 28., 31. Jan. und 1. Feb. 1944 (No 774 bis 777) sowie als Supplement zur Soviet War News ­Weekly in Form einer Broschüre unter dem Titel „The Truth about Katyn. Report of Special Commission“, 12 Seiten (abrufbar unter: http://libraries.ucsd.edu/speccoll/DigitalArchives/d804_ r9-t78–1944/ [letzter Aufruf am: 28. Aug. 2014]). Formell wurde die Kommission in der Sitzung der ČGK am 12. Jan.1942 gebildet und am 13. Jan. 1944 vom Politbüro ZK VKP(b) bestätigt, siehe Sitzungsprotokoll No 23 v. 12. Jan. 1944, GARF, f. R-7021, op. 114, d. 8, Bl. 39, abgedr. bei Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 205, S. 498–499. Zur Burdenko-Kommission siehe ausführlicher Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (55 f.); Sorokina, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), S. 797 (804 ff.); Sorokina, in: Kozlov (Hrsg.), Institucionalizacija, Vyp. II, S. 111 (197 ff.). 374 Zu den Grundlagen der Einsetzung dieser Kommission vgl. oben Fn. 297. 375 Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 469. 376 Nicht verwechselt werden sollte dieser als USSR-54 registrierte Bericht der BurdenkoKommission (Sonderkommission der ČGK) v. 12. Jan. 1944 mit dem am 13. Feb. 1946 unter der Signatur USSR-56 vorgelegten (IMT, Bd. VII, S. 409 ff.) Bericht der ČGK zur Untersuchung der Verbrechen in Smolensk und in den Gebieten um Smolensk v. 6. Nov. 1943. Letzterer enthält einen Abschnitt zur Tötung von Kriegsgefangenen und der friedlichen sowjetischen Bürger, siehe Soobščenie o razrušenii gor. Smolenska i zlodejanijach, soveršennych nemeckofašistskimi zachvatčikami nad sovetskimi graždanami v. 6. Nov. 1943 (Fn. 348), S. 7–9 (dieser Bericht ist – soweit ersichtlich – nicht in engl. Fassung in der Zeitung Soviet War News abgedruckt worden. Zur engl. Fassung d. Berichts der Sonderkommission zu Katyn siehe oben Fn. 373). Dem Bericht der ČGK war auch ein Attest („Akt“) der gerichtsmedizinischen Expertenkommission beigefügt, an der u. a. Burdenko als Sachverständiger teilgenommen hatte, siehe oben Soobščenie v. 6. Nov. 1943 (Fn. 348), S. 10–15. In der Hauptverhandlung vor dem IMT verlas Hilfsankläger Pokrovskij am 13. Feb. 1946 Ausschnitte sowohl aus dem Bericht als auch aus dem beigefügten Akt der gerichtsmedizinischen Expertenkommission, dazu bereits oben S. 430. Den Bericht der Sonderkommission der ČGK zu den Verbrechen im Wald von Katyn legte er erst am nächsten Tag als USSR-54 vor. Jedenfalls ungenau daher die ­Darstellung Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (55) und Zorja, in: Jasnova (Hrsg.), Katynskaja drama, S. 159 (159), die den 13. und 14. Feb. 1946 anführen. 377 Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 469.

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Aus dem verlesenen Teil des Berichts ergab sich nach der von Pokrovskij favorisierten Lesart „mit unwiderlegbarer Klarheit“, dass u. a. „von den deutschen Okkupationsbehörden im Herbst 1941 Massenerschießungen an polnischen Kriegsgefangenen“ begangen worden waren, deren Anzahl die gerichtsmedizinischen Sachverständigen auf ca. 11.000 schätzten.378 Die Massenerschießungen seien ausweislich des Kommissionsberichts von „einer deutschen Militärbehörde ausgeführt“ worden, die unter dem Decknamen ‚Stab des Baubataillons 537‘ operiert habe, und „an deren Spitze der Oberleutnant Arnes [gemeint ist Oberstleutnant Ahrens, d. Verf.379] und seine Mitarbeiter, Oberleutnant Rex und Leutnant Hott [gemeint ist Oberleutnant Hodt, d. Verf.380], standen“381. In der Hauptverhandlungssitzung vom 8.  März 1946 wandte sich Dr. Otto­ Stahmer, Verteidiger des Angeklagten Göring, mit einem ergänzenden Beweisantrag an das Tribunal und trug hierzu vor, dass sich in Reaktion auf die öffentliche Verlautbarung des Inhalts der sowjetischen Anklage Angehörige des Stabes der Heeresgruppe Mitte an ihn gewandt hätten, die die Annahmen der Anklagebehörde zur Urheberschaft der Liquidationen für unzutreffend erachteten.382 Zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte Göring keine Mitschuld an dem von der Anklage auch ihm zur Last gelegten Geschehen in Katyn trage, benannte Stahmer die bereits in der Anklageschrift namentlich bezeichneten Wehrmachtsangehörigen Oberst Ahrens, Oberleutnant Rex und Leutnant Hodt. Zusätzlich beantragte er die zeugenschaftliche Einvernahme des Generalmajors Eugen Oberhäuser und des Oberleutnants Berg.383 Als weiteren Zeugen benannte Stahmer den Rechts­ mediziner an der Universität Genf Prof. Naville384, der die Leichname in Smolensk 378

Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 469–471. Unzutreffende Dienstgradbezeichnung (Oberleutnant statt Oberst) und Namenswidergabe (Arnes statt Ahrens) nach der deutschen Ausgabe der IMT-Edition. 380 Unzutreffende Dienstgradbezeichnung (Leutnant statt Oberleutnant) und Namenswidergabe (Hott statt Hodt) nach der deutschen Ausgabe der IMT-Edition. Vgl. hierzu die klarstellende Nachfrage Smirnovs, Verhandlungsprotokoll v. 1. Juli 1945, IMT, Bd. XVII, S. 315. 381 Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 470. 382 Protokoll der Verhandlung v. 8. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 9 f. Der Stab 537 war nach Angaben Stahmers dem Stab der Heeresgruppe Mitte unmittelbar unterstellt und zu diesem in einer Entfernung von 4 bis 5 Kilometern stationiert worden. 383 Stahmer sah sich allerdings außer Stande, für jeden der als Beweisperson in Betracht kommenden Wehrmachtsangehörigen eine exakte ladungsfähige Anschrift zu benennen. Oberleutnant Rex und Leutnant Hott vermutete er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Generalmajor Oberhäuser in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Oberleutnant Berg befand sich nach seiner Auskunft in englischer Kriegsgefangenschaft in Kanada, siehe Protokoll der Verhandlung v. 8. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 10. 384 Bei diesem handelte es sich um das einzige Mitglied der von deutscher Seite zur Aufklärung der Leichenfunde in Katyn eingesetzten ‚Internationalen Ärztekommission‘, das einem nicht nur formal neutralen Staat angehörte, vgl. hierzu noch Fn. 412. Für eine Bewertung der Beteiligung Navilles als einzigem neutralem Mitglied an der von deutscher Seite eingesetzten ‚Internationalen Ärztekommission‘ und der hierdurch in der Schweiz seinerzeit ausgelösten Kritik siehe Karbowski, Schweizerische Ärztezeitung 84 (2003), Nr. 47, S. 2510–2513; ders., Bulletin de la Société des sciences médicales du Grand-Duché de Luxembourg Nr.  1/2004, 379

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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als Mitglied einer internationalen Kommission untersucht habe und dabei zu dem Schluss gelangt sei, dass die Tötungen bereits im Jahr 1940 durchgeführt worden waren.385 Das Tribunal forderte den Verteidiger zunächst dazu auf, die mündlich vorgebrachten Anträge schriftlich einzureichen, um eine Prüfung durch den Gerichtshof zu ermöglichen.386 Mit den daraufhin auch in schriftlicher Form vorgelegten Anträgen Stahmers387 befasste sich das Tribunal in einer geschlossenen Sitzung am 12. März 1946.388 Im Rahmen dieser Sitzung lagen den Richtern auch ein Antrag und ein erläuterndes Begleitscheiben des stellvertretenden Hauptanklägers für die UdSSR Pokrovskij vor, der von dem Richterkollegium die unbedingte Zurückweisung des Anliegens Stahmers einforderte.389 Um über die Anträge Stahmers in der Sache entscheiden zu können, mussten sich die Richter zunächst jedoch auf eine einvernehmliche Auslegung der in Art. 21 IMT-Statut angeordneten beweisrechtlichen Privilegierung verständigen. Nikitčenko nahm insoweit den Standpunkt ein, dass Art. 21 IMTStatut insbesondere Dokumente der Beweissammlungskommissionen der alliierten Länder einer gegenbeweislichen Anfechtung schlechthin entziehe.390 Bereits der bloßen Infragestellung des Wahrheitsgehalts derartiger Kommissionsberichte habe man mit der in Art. 21 IMT-Statut getroffenen Regelung entgegen wirken wollen. Schon die schlichte Befassung des Gerichts mit derartigen Einwänden habe daher ohne weiteres einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Statuts zur Folge. Das Statut habe die in entsprechend qualifizierten Berichten nieder­gelegten Befunde im Interesse der Verfahrensökonomie und Prozessbeschleunigung den Angriffen der Verteidigung gerade entziehen wollen. Würde sich das Tribunal auf entsprechende Einwände hin mit Tatsachenaufklärung befassen müssen, obschon die betreffenden Sachverhalte durch die Kommission in London oder nationale Kommissionen­ S. 41–61. Zu den aus Anlass der Mitwirkung Navilles in der ‚Internationalen Ärztekommission‘ im Genfer Kantonsparlament (dem Großen Rat – Grand Conseil d’Etat) unmittelbar nach Kriegsende gegen diesen erhobenen Vorwürfen siehe die entspr. Interpellation des kommunistischen Kantonsabgeordneten Jean Vincent vor dem Grand Conseil d’Etat und die diesbezügliche Aussprache am 11. Sept. 1946, Mémorial des séances du Grand Conseil de la République et Canton de Genève 1946, Session v. 11. Sept. 1946, S. 1275–1282, und hierzu die Erwiderung Navilles vom 24. Sept. 1946, abgedr. in Mémorial des Séances du Grand Conseil de la République et Canton de Genève 1947, Session v. 18. Jan. 1947, S. 38–54. Zu den von Seiten Vincents bei dieser Gelegenheit vorgebrachten Anschuldigungen Navilles gegenüber siehe auch „Katyn – Ein Verbrechen der Sowjets“, Der Spiegel Nr. 1/1952 v. 2. Jan. 1952, S. 17–19, hier S. 19. 385 Protokoll der Verhandlung v. 8. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 10. 386 Protokoll der Verhandlung v. 8. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 10. 387 Ergänzender Antrag Stahmers, oben D., GARF, f. R-7445, op. 2, d. 400, Bl. 33–34. 388 Protokoll der geschlossenen Sitzung des IMT v. 12. März 1946, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2625, Bl. 161, 166–176, Auszug GARF, f. R-7445, op. 1, d. 400, Bl. 300; Auszüge abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412–418. 389 Beide Dokumente wurden in der geschlossenen Sitzung vom Vorsitzenden Richter Lawrence verlesen, siehe Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12.  März 1946 (Fn.  388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (413). 390 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (414).

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bereits schriftlich bezeugt worden seien, drohe eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Tribunals bei der Wahrnehmung der ihm im Kern überantworteten Aufgaben.391 Neben den im Hinweis auf die drohende Fehlallokation der dem Tribunal zu Gebote stehenden personellen und zeitlichen Ressourcen zum Ausdruck kommenden teleologischen Erwägungen führte Nikitčenko als Argument für die Unanfechtbarkeit der nach Art. 21 IMT-Statut eingeführten Beweise insbesondere auch den Wortlaut des Art. 21 IMT-Statut ins Feld. Die Wendung „wird ohne Beweise annehmen“392 ließ nach der von Nikitčenko entwickelten Interpretation nur eine Auslegung dahin zu, dass tatsächliche Feststellungen in Regierungsdokumenten oder amtlichen Berichten von öffentlichen Beweissammlungsstellen jedem Angriff a priori entzogen sein sollten, die darin bezeugten Fakten also vom Tribunal „ohne Beweis“ und nicht „als Beweis“ ohne weiteres zugrunde zu legen sein sollten. Mit dieser Lesart stieß Nikitčenko im Kollegium indes auf geschlossene Ablehnung. Nach der von Lordrichter Lawrence vertretenen Auffassung war der Passus keinesfalls dahin zu verstehen, dass die auf diese Weise vorgelegten amtlichen Beweismittel durch das Statut mit dem Nimbus der Unangreifbarkeit versehen worden waren. Auch wenn sich die Prüfung gegenbeweislich eingeführter Beweismittel im Einzelfall als zeitaufwendig erweisen könne, könne die Verteidigung nicht von vornherein und kategorisch der Möglichkeit beraubt werden, die von einer Regierungskommission dokumentierten tatsächlichen Feststellungen durch substantiierten Gegenvortrag zu widerlegen.393 Der amerikanische Richter Francis Biddle stützte seine der Lesart Nikitčenkos ebenfalls entgegengesetzte Auslegung im Ausgangspunkt seinerseits auf den Wortlaut des Art. 21 IMT-Statut. Im Gegensatz zur sowjetischen Interpretation entnahm er der textlichen Fassung des Artikels lediglich eine Aussage zum Verfahren der Beweisvorlage in Bezug auf die dort aufgeführten Quellen; ein darüber hinausgehendes Gebot des Inhalts, dass nach diesem Verfahren eingeführte Beweismittel der Entkräftung durch die Verteidigung nicht ausgesetzt werden dürften, sei im Wortlaut der Norm indes nicht angelegt.394 Auch der französische IMT-Richter Henri Donnedieu de Vabres trat seinen amerikanischen und britischen Kollegen in deren ablehnender Haltung bei und führte inso 391 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12.  März 1946 (Fn.  388), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (414). 392 Der entscheidende Passus dieser Norm, Halbs. 2 (entspricht Satz 2 in der russ. und eng. Fassung), kann ausgehend von der russischen Fassung („Tribunal takže budet prinimat‘ bez dokazatel’stv oficial’nye pravitel’stvennye dokumenty i doklady Ob“edinennych Nacij, vključaja akty i dokumenty komitetov“) wörtlich wie folgt übersetzt werden: „Das Tribunal wird auch ohne [weitere] Beweise offizielle Regierungsdokumente und Berichte der Vereinten Nationen annehmen, einschließlich Akten und Dokumente der in den verschiedenen alliierten Ländern für die Untersuchung von Kriegsverbrechen eingesetzten Komitees, […]“, Ü. d. Verf., russ. Fassung des IMT-Statuts v. 8. Aug. 1945 (o. Kap. E, Fn. 3), Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 1, S. 146 (152). 393 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (414). 394 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (414).

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weit ergänzend normsystematische Erwägungen ins Feld. So stünde außer Streit, dass sich die in Art. 21 IMT-Statut ebenfalls adressierte Annahme allgemeinkundiger Tatsachen im Einzelfall als fehlerhaft erweisen könne, obwohl derartige Tatsachen nach dem Wortlaut der Norm gleichermaßen ohne Beweis zur Kenntnis zu nehmen seien. Niemand indes würde sich ernsthaft der Möglichkeit verschließen wollen, bei begründetem Anlass eine Widerlegung derartiger Annahmen in Erwägung zu ziehen.395 Das stellvertretende amerikanische Tribunalsmitglied John J. Parker schloss sich den Ausführungen von Lawrence, Biddle und de Vabres an. Argumentativ sicherte Parker sein Verständnis ergänzend mit dem systematischen Hinweis auf Art. 16 lit. b IMT-Statut ab, demzufolge der Angeklagte berechtigt sein sollte, auf jede der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen eine erhebliche Erklärung abzugeben. Außerdem habe die Anklage aus freien Stücken den Vorwurf der Tötungen im Wald von Katyn erhoben und dazu Beweise vorgelegt. Dieser Vorwurf der Anklage sei auch durch entsprechende Presseverlautbarungen allseits bekannt. Die Verteidigung habe Personen konkret benannt, die die sachliche Richtigkeit der zugrunde gelegten tatsächlichen Feststellungen vor dem Tribunal in Abrede zu stellen bereit seien. Wollte man die Verteidigung der Möglichkeit berauben, derartige Zeugen zu benennen, liefe dies auf eine partielle Suspendierung des in Art. 16 lit. b IMT-Statut garantierten Rechts auf adäquate Verteidigung hinaus.396 Auf den Vorschlag Biddles, über die Zulassung des von Stahmer eingereichten Antrags schlicht abzustimmen, entgegnete Nikitčenko, dass zunächst in der Frage der Angreifbarkeit von offiziellen Regierungsdokumenten eine Lösung herbeigeführt werden müsse. Sollten hierüber unterschiedliche Meinungen bestehen, könne er jedenfalls an einer Abstimmung über den Antrag von Stahmer nicht teilnehmen, da er sich und seine Regierung unmöglich durch eine dem Statut widersprechende Entscheidung binden könne.397 Nachdem Biddle sodann erneut angeregt hatte, über den Antrag von Stahmer abzustimmen und sich dafür ausgesprochen hatte, dem Antrag stattzugeben, schlossen sich ihm Lawrence und de Vabres an.398 Nikitčenko dagegen verweigerte sich einer weiteren Mitwirkung zu diesem Punkt und erwirkte die Aufnahme einer Erklärung in das Protokoll, wonach er an der Abstimmung wegen des offensichtlichen Widerspruchs des Verhandlungsgegenstandes – der Frage nach der Widerlegbarkeit offizieller Regierungserklärungen – zu den Vorgaben des IMT-Statuts nicht habe teilnehmen können.399 395 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12.  März 1946 (Fn.  388), zit. nach Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (414). 396 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (415 f.). 397 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (417). 398 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (417). 399 Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 12. März 1946 (Fn. 388), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 215, S. 412 (417). Für eine auszugsweise Abschrift aus dem Protokoll einschließlich des entspr. Beschlusses siehe auch GARF, f. R-7445, op. 2, d. 400, Bl. 30.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Wenige Tage nach der Entscheidung des Tribunals vom 12. März 1946 leitete die Regierungskommission in Moskau Rudenko per Telegramm Instruktionen zum weiteren Vorgehen zu.400 Sie enthielten einen vollständig formulierten Text, den Rudenko dem Tribunal als Antrag auf erneute Überprüfung des Ersuchens von Verteidiger Stahmer vorlegen sollte. Darin wiederholte die sowjetische Anklage die bereits von Nikitčenko in der nichtöffentlichen Sitzung vom 12. März 1946 dargelegte Interpretation des Regelungsgehalts von Art.  21 IMT-Statut in Bezug auf die Möglichkeit eines Gegenbeweises für die in der Vorschrift adressierten Dokumente amtlicher Herkunft. Mit der ins Auge gefassten Zulassung des Gegenbeweisantritts in Bezug auf die in Art. 21 IMT-Statut angesprochene Beweismittelkategorie drohe das Tribunal die ihm vom IMT-Statut gezogenen kompetentiellen Schranken zu überschreiten. Eine Abänderung der für das Gericht absolut bindenden normativen Vorgaben des Statuts sei ausschließlich mit Zustimmung sämtlicher Signatarstaaten denkbar.401 Mit der Eröffnung einer Anfechtungsmöglichkeit der Verteidigung in Bezug auf „unbestreitbare Beweise“ gem. Art. 21 IMT-Statut gehe die als beweisrechtliche Privilegierung konzipierte Vorschrift des Art.  21 IMT-Statut effektiv jeder Regelungswirkung verlustig. Der Frage komme überdies eine grundsätzliche Bedeutung für den gesamten Prozess zu. Die Entscheidung des Tribunals vom 12.  März 1946 berge das Risiko, sich zu einem gefährlichen Präzedenzfall für den gesamten weiteren Prozessverlauf zu entwickeln, da der Verteidigung bei positiver Bescheidung des Beweismittel­ antrags Tür und Tor geöffnet wären, den Prozess durch wiederholte Anträge dieser Art beliebig zu verschleppen.402 Für das weitere Vorgehen wurden Rudenko von Moskau mehrere konkrete Maßgaben zur unmittelbaren Veranlassung an die Hand gegeben. Vor Einreichung des Schreibens beim Tribunal etwa sollte sich der sowjetische Hauptankläger in dieser Sache mit den Anklagevertretern der anderen Nationen beraten und diese nach Möglichkeit für die eigene Position einnehmen. Dabei sollte er mit Nachdruck die potentielle Tragweite der im Raum stehenden Zulassungsentscheidung als potentielle Verletzung des Statuts aufzeigen, die wegen der ihr innewohnenden Präzedenzwirkung einem Missbrauch von Verteidigungsrechten im weiteren Prozessverlauf den Weg ebnen könnte.403 Die Moskauer Regierungskommission erachtete es für unbedingt erstrebenswert, dass die von ihr entworfene Erklärung dem Tri 400 Instruktionen der Regierungskommission an Hauptankläger Rudenko v. 15. März 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 61–63, abgedr. bei Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 220, S. 551–553 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 216, S. 418–419. 401 Instruktionen an Rudenko v. 15. März 1946 (Fn. 400), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 220, S. 551 (551); Schreiben an das Tribunal v. 18. März 1946 (u. Fn. 405), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 256 (256). 402 Instruktionen v. 15. März 1946 (Fn. 400), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 220, S.  551 (551 f.); Schreiben an das Tribunal v. 18.  März 1946 (u. Fn.  405), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 256 (256). 403 Instruktionen v. 15. März 1946 (Fn. 400), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 220, S. 551 (552).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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bunal im Namen des gesamten Anklägerkomitees überreicht werden würde. Für den Fall, dass den Bemühungen Rudenkos um Herbeiführung entsprechenden Einvernehmens kein Erfolg beschieden sein würde, sollte er sich nach dem Willen der Kommission zumindest der Unterstützung einzelner Ankläger versichern.404 Für den Fall, dass sich das Tribunal zur Korrektur seiner Entscheidung gleichwohl nicht bereit zeigen würde, wurde Rudenko angewiesen zu verkünden, dass die sowjetische Anklage ebenfalls Zeugen und Experten zu benennen gedenke. Angesichts der geschlossenen Ablehnung der sowjetischen Auslegung bereits im Richterkollegium erscheint wenig verwunderlich, dass Rudenkos Unterfangen, die anderen Hauptankläger für die sowjetische Linie einzunehmen, in der Sache kein Erfolg beschieden war. Den Text des im Namen der sowjetischen Anklage formulierten Antrags legte Rudenko dem Tribunal am 18. März 1946 vor, ohne dass er auch nur eine weitere Stimme für seine Position hätte namhaft machen können.405 Das Tribunal wies das sowjetische Anliegen im Rahmen seiner nächsten nichtöffentlichen Sitzung am 6. April 1946 ohne Bekanntgabe einer Begründung zurück.406 Rückschlüsse auf die in der Sache unveränderte Argumentationslinie der westalliierten Tribunalsmitglieder lassen sich indes einer in diesem Zusammenhang in das Protokoll der Sitzung gesondert aufgenommenen Protokollerklärung des amerikanischen Richters Biddle entnehmen, der sich nach gründlicher Auseinandersetzung mit den von Seiten der sowjetischen Anklage vorgebrachten Argumenten explizit gegen die von Rudenko unterbreitete Deutung des Art. 21 IMT-Statuts aussprach: „Die juristischen Funktionen des Tribunals drohten beträchtlichen Schaden zu nehmen, wäre das Tribunal bei seiner Arbeit an solche Berichte unbedingt gebunden, deren Entstehung auf bestimmten Verfahrensweisen beruht, die zu Ermittlungszwecken akzeptabel erscheinen, die aber womöglich jenen vom Statut vorgesehenen Garantien nicht gerecht werden, die ihrerseits schlechthin unverzichtbare Bedingungen eines gerichtlichen Verfahrens formulieren.“407

Wohl in Kenntnis der geringen Erfolgsaussichten des sowjetischen Ablehnungsgesuchs waren in Moskau unterdessen bereits Maßnahmen zur ‚Vorbereitung‘ von Zeugen in die Wege geleitet worden. Die Moskauer Regierungskommission befasste sich bereits in der Sitzung vom 21. März 1946, nur wenige Tage nach Verabschiedung der Instruktionen an Rudenko, erneut mit den in Betracht kommen 404

Instruktionen v. 15. März 1946 (Fn. 400), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 220, S. 551 (552). 405 Siehe die von Rudenko an Jackson, Fyfe und de Ribes zur Kentnnisnahme übermittelte Ablichtung der Erklärung an das Tribunal v. 18. März 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 255–257, abgedr. bei Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 221, S. 554–555 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 217, S. 420–421.  406 Siehe Ziff. 8 des Protokolls der geschlossenen Sitzung des IMT v. 6. April 1946, GARF, f. R-7445, op. 1, d.  2610, Bl.  103–109 (hier 106 ff.), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 224, S. 428–431 (429–431). 407 Ü. d. Verf., Ziff. 8 des Protokolls der geschlossenen Sitzung des IMT v. 6. April 1946 (Fn. 406), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 224, S. 428 (430).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

den Reaktionsformen auf das Katyn betreffende Beweisgesuch des Verteidigers ­Stahmer.408 Die Kommission fasste einen Beschluss über die Notwendigkeit der Auswahl von Zeugen und die Vorbereitung weiterer flankierender Beweismittel. Die Aufgabe der Herbeischaffung und Einweisung von Zeugen bulgarischer Nationalität wurde dem Leiter der Hauptverwaltung für Spionageabwehr Smerš Abakumov zugewiesen.409 Als bulgarischer Zeuge der sowjetischen Anklage wurde primär der gerichtsmedizinische Experte Marko Markov410 in den Blick genommen411, ein ehemaliger Teilnehmer der deutschen ‚Internationalen Expertenkommission‘412, deren im April 1943 vorgelegter Untersuchungsbericht den Tötungszeitpunkt auf den Frühling 1940 taxiert hatte.413 Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bul 408 Sitzungsprotokoll der Regierungskommission v. 21.  März 1946, AVP RF, f. 07, op.13, p. 41, d. 6, Bl. 14 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 49, abgedr. bei Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 222, S. 555–556 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 218, S. 421–422 = Zorja, in: Jasnova (Hrsg.), Katynskaja drama, S. 159–169, hier S. 160. 409 Ziff. 1 des Protokolls v. 21. März 1946 (Fn. 408), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 218, S. 421 (421). 410 Markov war zum Zeitpunkt seiner Berufung in die sog. ‚Internationale Ärztekommission‘ (dazu sogleich Fn. 413) ordentlicher Dozent für gerichtliche Medizin und Kriminalistik an der Universität Sofia, siehe Protokoll der ‚Internationalen Ärztekommission‘ v. 30. April 1943, abgedr. in: Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 17, S. 114–118, hier S. 114. 411 Siehe Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Čast’ III, Vvedenie, S. 428; Cienciala/Lebedeva/ Materski (Hrsg.), Katyn: A Crime Without Punishment, S. 232. Zu Markovs Ausführungen vor dem IMT betreffend seine Teilnahme an der Internationalen Ärztekommission siehe das Protokoll d. Verhandung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XXVII, S. 365 ff. 412 Die Protokolle und die Obduktionsbefunde des deutschen Gerichtsarztes und der aus Fachkräften der Achsenmächte oder aus den besetzten Staaten zusammengesetzten ‚Internationalen Ärztekommission‘ über den Leichenfund sind sämtlich abgedr. in: Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 15–18, S. 38–135. Das Protokoll der sog. „Internationalen Ärztekommission“ v. 30. April 1943 ist als Dok. 17 abgedr. ebd., S. 114–117, die Obduktionsbefunde der Professoren Orsós, Tramsen, Palmieri, Markov, Hájek, Miloslavich und Birkle v. 30. April 1943 sind unter der Dok.-Nr. 18 abgedr. ebd., S. 118–135. Die in die von deutscher Seite eingesetzte Expertenkommission berufenen Fachkräfte gehörten nahezu ausschließlich den Achsenmächten an (Bulgarien: Dr. Markov [o. Fn. 410]; Italien: Dr. Palmieri; Kroatien: Dr. Miloslavich; Rumänien: Dr. Birkle; Slowakei: Dr. Šubik; Ungarn: Dr. Orsós), entstammten den von Deutschland abhängigen oder kontrollierten (Belgien: Dr. Speleers; Dänemark: Dr. Tramsen; Niederlande: Dr. de Burlet; Protektorat Böhmen und Mähren: Dr. Hájek) oder vertraglich auf andere Weise assoziierten Staaten (Finnland: Dr. Saxén). Einzig das Schweizer Kommissionsmitglied Dr. Naville, ordentlicher Professor der gerichtlichen Medizin an der Universität Genf, gehörte einem nicht nur formal neutralen Staat an. Vgl. zu letzterem bereits die Nachw. oben Fn. 384. 413 Vgl. hierzu das „Zusammenfassende Gutachten“ zum Protokoll der Internationalen Ärztekommission v. 30. April 1943 in Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 17, S. 114–118, hier S. 118: „Die Leichen wiesen als Todesursache ausschließlich Genickschüsse aus. Aus den Zeugenaussagen, den bei den Leichen aufgefundenen Briefschaften, Tagebüchern, Zeitungen usw. ergibt sich, daß die Erschießungen in den Monaten März und April 1940 stattgefunden haben. Hiermit stehen in völliger Übereinstimmung die im Protokoll geschilderten Befunde an den Massengräbern und den einzelnen Leichen der polnischen Offiziere.“

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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garien war auf Anweisung der prosowjetischen bulgarischen Regierung sodann Anklage „gegen die bulgarischen Teilnehmer in der Sache von ­Katyn und Vinica“414 erhoben worden, in deren Zusammenhang auch Markov die aktive Mitwirkung an von deutscher Seite betriebener Falschinformation zur Last gelegt worden war. Im Angesicht seiner drohenden Verurteilung führte Markov zu seiner Verteidigung an, dass er seine Unterschrift unter dem Protokoll der Internationalen Ärztekommission415 nur unter massivem deutschem Druck geleistet und diese überdies mit einem in einem gesonderten Protokoll niedergelegten Vorbehalt versehen habe. Da er die Richtigkeit der Untersuchungsergebnisse der von deutscher Seite errichteten Kommission bestritten und eine Falsifizierung der Ergebnisse in Aussicht gestellt hatte, wurde er vor dem bulgarischen Strafgericht schließlich freigesprochen.416 Den größten Beitrag zur ‚Vorbereitung‘ der sowjetischen Zeugen im Komplex Katyn für den Nürnberger Prozess indes sollte der Volkskommissar für Staatssicherheit der UdSSR Merkulov leisten, der von der Regierungskommission zum einen mit der Auswahl und Einweisung von drei bis fünf sowjetischen Zeugen sowie zwei medizinischen Experten beauftragt worden war. Des Weiteren sollte er sich der Zusammenstellung von Originaldokumenten zum Fundort der Leichname sowie der von sowjetischer Seite erstellten Obduktionsbefunde annehmen und schließlich einen geeignet erscheinenden Zeugen deutscher Staatsangehörigkeit ausfindig machen, den man dem Tribunal als Teilnehmer der „deutschen Provokation in Katyn“ würde präsentieren können.417 414

Ü. d. Verf., zit. nach Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Čast’ III, Vvedenie, S. 428. Zu diesem weitgehend unbekannten Prozess siehe die archivalischen Nachw. bei Kozlov/Nalenč, ebd., S. 428. 415 Für die Unterschrift Markovs unter dem „Zusammenfassenden Gutachten“ siehe das Protokoll der Internationalen Ärztekommission v. 30. April 1943 in Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 17, S. 114–118, hier S. 118. 416 Über Markovs Verhalten im besagten Prozess berichtete der Mitarbeiter der Staatssicherheit in Bulgarien Kirsanov in einem Schreiben an Vyšinsij v. 23. März 1946. Kirsanov führte aus, dass Markov für den Nürnberger Prozess als Zeuge am geeignetsten erscheine, da er sich seinerzeit geweigert hätte, das deutsche Expertenprotokoll zu unterzeichnen und Aussagen zu Protokoll gegeben habe, anhand derer sich die „Katyn-Provokation entlarven“ lassen würde. Weitere Angeklagte aus dem bulgarischen Strafprozess, insbesondere drei Klostervorsteher, erschienen demgegenüber schon mit Blick auf die ihnen zur Last liegenden „antisowjetischen Verleumdungen“ im Radio nicht geeignet im Sinne des sowjetischen Beweisantritts. Überdies hätten die Angeklagten ihr Verhalten mit der allgemeinen Situation in Deutschland erklärt, indes keine Fakten über Zwangseinwirkungen oder Bedrohungen durch deutsche Stellen angeführt. Wörtl. Zitate Ü. d. Verf., zit. aus dem Schreiben Kirsanovs v. 23. März 1946, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 346, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 223, S.  427–428. Vgl. hierzu auch Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S.  5 (56), ebd., No  223, S. 427–428, Fn. 427 sowie Jažborovskaja/Jablokov/Parsadanova, Katynskij sindrom, S. 266. Zur Behauptung Markovs, die von ihm geleistete Unterschrift unter dem Bericht des Abschlussberichts der ‚Ärztekommission‘ sei das Ergebnis deutscher Nötigung siehe auch „Katyn – Ein Verbrechen der Sowjets“, Der Spiegel Nr. 1/1952 v. 2. Jan. 1952, S. 17–19, hier S. 19. 417 Ü. d. Verf., Ziff. 2, 4 und 6 des Protokolls v. 21. März 1946 (Fn. 408), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 218, S. 421 (421–422).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Mit der ‚Vorbereitung von polnischen Zeugen und ihrer Aussagen‘ betraute die Kommission den sowjetischen Generalstaatsanwalt Goršenin unmittelbar.418 Der Kommissionsvorsitzende Vyšinskij sollte sich laut Protokoll selbst noch um die die Anfertigung einer filmischen Dokumentation über Katyn bemühen.419 Parallel hierzu wurden Dokumente ausländischer Stellen mit Bezug zu Katyn zusammengetragen und die insoweit erforderlichen Beglaubigungen bei den zuständigen ausund inländischen Behörden eingeholt.420 In ihrer Sitzung am 24. Mai 1946 fasste die Moskauer Regierungskommission den Beschluss, eine Kommission bestehend aus dem Major der Staatssicherheit Rajchman, dem Hilfsankläger Šejnin und dem juristischen Berater der sowjetischen Delegation in Nürnberg A. N. Trajnin mit der Überprüfung aller den Fall von Katyn betreffenden Dokumente im sowjetischen Zugriff zu beauftragen.421 Diese sollte aus dem zur Verfügung stehenden Fundus solche Dokumente identifizieren und kenntlich machen, die geeignet erschienen, im Nürnberger Prozess zur „Enthüllung der deutschen Provokation in Katyn“ beitragen zu können. Darüber hinaus sollte es der Unterkommission obliegen, zwei weitere Zeugen zum KatynKomplex zu nominieren.422 Ferner gelangte die Kommission zu der Einschätzung, dass die Benennung von Metropolit Nikolaj, Basilevskij und Kolesnikov als Zeugen der sowjetischen Anklage keinen Bedenken begegne.423 In der Sitzung der Regierungskommission vom 11. Juni 1946 wurde der Kreis der für den Nürnberger Prozess in der causa Katyn in Betracht kommenden Zeugen einer erneuten Diskussion zugeführt.424 Auf vorläufiger Basis wurden sodann acht Zeugen namentlich benannt und Rajchman sowie Šejnin damit beauftragt, Maßnahmen zur Vorbereitung der auf den 12. Juni 1946 terminierten Abreise die 418

Ü. d. Verf., Ziff. 3 des Protokolls v. 21. März 1946 (Fn. 408), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  218, S.  421 (421). Zur Vorbereitung von zur Falschaussage bereiten Zeugen durch die Organe der Staatssicherheit in Polen u. a. durch Sammlung von kompromittierenden Informationen siehe m. w. Nachw. Jažborovskaja/Jablokov/Parsadanova, Katynskij sindrom, S. 267. 419 Ziff. 5 des Protokolls v. 21. März 1946 (Fn. 408), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 218, S. 421 (422). 420 Vgl. zum Bemühen um ‚Legalisierung‘ ausländischer Dokumente etwa das Schreiben von Kirsanov an Vyšinskij, 21. März 1946, AVPRF f. 07 op. 13 p. 41, d. 8, Bl. 106. 421 Ziff. 1 des Sitzungsprotokolls der Regierungskommission v. 24. Mai 1946, AVP RF, f. 07, op.13, p. 41, d. 6, Bl. 15–16, hier Bl. 15 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 50–51, hier Bl. 50, abgedr. bei Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 223, S. 556–558, hier S. 557 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 243, S. 461–462, hier S. 461. 422 Ü. d. Verf., Sitzungsprotokoll v. 24. Mai 1946 (Fn. 421), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 223, S. 556 (557). 423 Ziff. 2 des Sitzungsprotokolls v. 24. Mai 1946 (Fn. 421), Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 223, S. 556 (557). 424 Sitzungsprotokoll der Regierungskommission No  7 v. 11.  Juni 1946, AVP RF, f. 07, op.13, p. 41, d. 6, Bl. 17–18 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 52–53, abgedr. bei Kozlov/ Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No 224, S. 558–560 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 251, S. 472–473.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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ser Personen nach Nürnberg zu treffen, für die die Begleitung durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit angeordnet wurde.425 In der Hauptverhandlung am 11. Mai 1946 bot sich der sowjetischen Anklage in Nürnberg erneut eine Gelegenheit, den Anträgen des Verteidigers Stahmer – nunmehr auf Ladung zweier weiterer Zeugen426 – öffentlich entgegen zu treten. In dieser Sitzung führte David Maxwell-Fyfe im Namen der Anklage zunächst die Einwendungen gegen die Beweisanträge der Angeklagten aus.427 Die Anklage stellte in diesem Zusammenhang zumindest insoweit demonstrative Geschlossenheit unter Beweis, als sich Fyfe auf einem weiteren für die UdSSR politisch höchst brisanten Terrain im Namen der Anklage gegen die Vorladung des Botschafter Gaus und gegen die Vorlage eines Affidavits desselben428 aussprach. Einen entsprechenden Vorladungsantrag hatte der Verteidiger Heß’, Dr. Alfred Seidl429, mit dem Ziel formuliert, Gaus zum Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und dem Geheimen Zusatzprotokoll zu hören.430 Zum dem namens des Angeklagten Göring von Verteidiger Stahmer gestellten Antrag indes nahm Fyfe nicht ausdrücklich Stellung. Weitere Ausführungen hierzu überließ er vielmehr dem stellvertretenden Hauptankläger Pokrovskij431, der sogleich verlautbarte, dass die sowjetische Anklage sich veranlasst sehe, neues Beweismaterial vorzulegen, falls das Gericht die 425 Zu den acht ausgewählen Personen zählten (1)  die Bäuerin und Bedienstete des Regiments-Stabs 537 Anna Michajlovna Alekseeva, (2)  der Professor für Astronomie Boris Vasil’evič Bazilevskij, der während der Besatzungszeit gezwungen worden sein soll, kommissarisch den Posten des Bürgermeisters zu übernehmen, (3) und (4)  die Wächter Sergej­ Vasil’evič Ivanov und Ivan Vasil’evič Savvateev, (5) der kriegsgefangene Obergefreite Ludwig Schneider, (6) der Professor für Gerichtsmedizin an der Universität in Sofia Marko Markov (Fn. 410), (7) der Experte im Ministerium für Gesundheitsschutz der UdSSR und Leiter der Expertenkommission für die Untersuchung der Verbrechen in Katyn Viktor Il’ič Prozorovskij sowie (8) der parteilose Ingenieur Pavel Federovič Suchačev, der sich im Jahr 1941 in deutscher Kriegsgefangenschaft im Lager von Smolenks Nr. 126 befunden haben soll, siehe Sitzungsprotokoll der Regierungskommission No 7 v. 11. Juni 1946 (siehe oben Fn. 424), AVP RF, f. 07, op.13, p.  41, d.  6, Bl.  17 (17–18) = Kozlov/Nalenč (Hrsg.), Katyn’, Dok. No  224, S.  558 (558–559). Zu den Hintergründen und Begleitumständen der Aussagen der genannten Personen vgl. m. w. Nachw. ebd., S. 558 (560, Fn. 2–7). Bsp. Alekseevas Befragung durch das NKVD im Herbst 1943 sowie durch die Burdenko-Kommission und vor internationaler Presse in Smolensk im Januar 1944 sowie den Widerruf ihrer Angaben am 31. Jan. 1991 siehe­ Jažborovskaja/Jabłokow/Zoria, Katyn, S. 251–252. 426 Antrag v. Otto Stahmer v. 2. Mai 1946 auf Ladung von Rudolf Proft, GARF, f. R-7445, op. 2, d.  400, Bl.  32.  Am gleichen Tag stellte Stahmer einen weiteren Antrag auf Ladung v. Reinhart von Eichborn, siehe Auskunft d. sowjet. Sekretärs L’vov über Stahmers Antrag v. 2. Mai 1946, in der auf Proft und von Eichborn als von Stahmer benannte Zeugen Bezug genommen wird, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 400, Bl. 36–38, hier Bl. 36. 427 Protokoll der Verhandlung v. 11. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 471 ff. 428 Zu diesem Themenkomplex siehe Kap. G. III. 4. b). 429 Zur Strategie der Verteidigung Seidls siehe Safferling/Graebke, ZStW 123 (2011), S. 47 (56–58). 430 Zu diesem Themenkomplex siehe Kap.  G. III. 4.  b)  aa); hierzu Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 89. 431 Protokoll der Verhandlung v. 11. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 475.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Glaubwürdigkeit der bisher vorgelegten Beweisdokumente und Zeugenaussagen anzweifeln würde: „Sollte der Gerichtshof es für notwendig erachten, dieses Beweismaterial, das heißt zwei neue Zeugen in der Sache der Erschießungen im Walde von Katyn zuzulassen, dann wird die Sowjet-Anklagebehörde es für notwendig erachten, ungefähr zehn neue Zeugen, Sachverständige und Spezialisten zu laden, sowie dem Gerichtshof neues Beweismaterial, das uns zur Verfügung steht, das heißt neue, soeben erhaltene Dokumente vorzulegen und neuerlich den ganzen Bericht der Kommission, aus welchem wir dem Gerichtshof Auszüge verlesen haben, ins Protokoll zu lesen. Ich glaube, daß es das Verfahren sehr verzögern und nicht nur Stunden, sondern Tage in Anspruch nehmen wird. Was uns anbetrifft, ist das nicht notwendig, und wir glauben, daß es als eine unzweck­ mäßige, durch keine Notwendigkeit bedingte Maßnahme abzulehnen ist.“432

Über den Antrag Stahmers entschied das Tribunal in öffentlicher Sitzung am 14. Mai 1946. Der von Pokrovskij errichteten Drohkulisse in Bezug auf weitere Verfahrensverzögerungen zuwider beschloss das Gericht, dem „Gesuch für den Angeklagten Göring um zwei Zeugen in dem Sinne statt[zu]gegeben, daß die Zeugen in Bereitschaft gehalten werden“433. Einem daraufhin von Seiten der sowjetischen Anklage im Anschluss an den Gerichtsbeschluss unternommenen weiteren Versuch, die anderen Anklageteams auf eine gemeinsame Linie bei der Auslegung von Art. 21 IMT-Statut im Sinne des sowjetischen Verständnisses einzuschwören und zum geschlossenen Auftritt gegen die von Verteidiger Stahmer zu den Tötungen in Katyn formulierten Anträge zu motivieren, blieb wiederum der Erfolg versagt. Zwar hatte Rudenko in der Sitzung der Hauptankläger am 30. Mai 1946 einen erneuten Meinungsaustausch darüber angeregt, welche Position im Zusammenhang mit den Anträgen der Verteidigung zur Widerlegung von gemäß Art.  21 IMT-Statut eingereichten Beweisen eingenommen werden sollte.434 Er trug in diesem Zusammenhang auch vor, dass seine Ansicht zur Notwendigkeit einer geschlossenen Haltung die informale Zustimmung des französischen Hilfsanklägers Dubost gefunden habe. Seine Auffassung zur Frage der von Stahmer beantragten Zulassung zweier weiterer Zeugen habe er dem Tribunal zwar schriftlich bereits zur Kenntnis gebracht, in einer derart prinzipiellen Frage erscheine jedoch ein gemeinsamer Auftritt erstrebenswert.435 Dubost trat Rudenkos Vorschlag zur Ausbildung einer gemeinsamen Linie im 432 Protokoll der Verhandlung v. 11. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 477; für die russ. Fassung der Erklärung siehe die Auskunft d. sowjet. Sekretärs L’vov v. 2. Mai 1946 (Fn. 426), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 400, Bl. 36 (37). 433 Protokoll d. Sitzung v. 14. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 566. Für die russ. Fassung der Erklärung siehe die Auskunft d. sowjet. Sekretärs L’vov v. 2.  Mai 1946 (Fn.  426), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 400, Bl. 36 (38). 434 Protokoll d. Sitzung v. 30. Mai 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 18–20, Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465–466. 435 Protokoll d. Sitzung v. 30. Mai 1946 (Fn. 434), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465 (465).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Grundsatz ausdrücklich bei und führte ergänzend aus, dass die Anklage berechtigt sein müsse, zusätzliche Zeugen zu laden, sollte den Anträgen der Verteidigung stattgegeben werden. Auf eine vergleichbar weitreichende Zustimmung seitens der amerikanischen und britischen Kollegen stieß der Vorschlag Rudenkos indes augenscheinlich nicht. Das über das Treffen gefertigte Sitzungsprotokoll hält insoweit lediglich fest, dass der amerikanische Hilfsankläger Dodd den amerikanischen Standpunkt dargelegt und dass Fyfe das Recht der Anklage zur Benennung von weiteren Zeugen im Grundsatz anerkannt habe.436 Eingang in das Protokoll fand auch eine von Rudenko vorgenommene zusammenfassende Darstellung der unter den Anklägern in folgenden zwei Punkten erzielten Einigung: „Gemäß Art. 21 des Statuts können staatliche Dokumente ohne Beweise vorgelegt werden. Wenn das Tribunal die Vorlage von Beweisen gegen solche Dokumente seitens der Verteidigung zulässt, muss die Anklage berechtigt sein, zusätzliche Beweise vorzulegen.“437

Hinter dieser ‚Einigung‘ verbarg sich jedoch weder eine von allseitigem Einvernehmen getragene Auslegung von Art. 21 IMT-Statut noch war sie Ausdruck eines übereinstimmenden Willens im Sinne eines koordinierten Vorgehens zu den im Zusammenhang mit Katyn erhobenen Vorwürfen der Anklage. Insbesondere der erste der vorstehend wiedergegebenen Absätze ging über die Wiedergabe des in seiner Auslegung gerade streitbefangenen Wortlauts des Art. 21 IMT-Statut nicht hinaus. Dass die Anklage sich keineswegs auf eine einheitliche Lesart hatte verständigen können, wurde auch anhand des unmittelbar nachfolgenden Auftritts der Anklage ersichtlich. Als Fyfe in der Hauptverhandlung am 3. Juni 1946 die Einwände der Anklage gegen die Anträge der Angeklagten bzw. ihrer Verteidiger rekapitulierte438, verwies er zu Katyn wiederum lediglich auf die sich anschließenden, gesonderten Ausführungen Rudenkos. Der sowjetische Hauptankläger nahm im Namen der sowjetischen Anklagebehörde zu den Katyn betreffenden Anträgen in Übereinstimmung mit dem sowjetischen Standpunkt in dieser Frage Stellung439 436

Protokoll d. Sitzung v. 30. Mai 1946 (Fn. 434), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465 (465–466). Fyfe rekurrierte in diesem Zusammenhang auch auf die im britischen Recht anerkannte Beschränkung der (absoluten) Beweiskraft öffentlicher Urkunden auf gewisse amtliche Schriftstücke wie Geburtsurkunden, wobei er amtlichen Untersuchungsberichten eine hiermit vergleichbare Richtigkeitsgewähr wohl absprach. Eine ausdrückliche oder konkludente Zustimmung zur sowjetischen Auslegung von Art. 21 IMT ist jedenfalls nicht überliefert. 437 Ü. d. Verf., Protokoll d. Sitzung v. 30. Mai 1946 (Fn. 434), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465 (466). 438 Protokoll der Verhandlung v. 3. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 317 f. 439 Protokoll der Verhandlung v. 3. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 319: „Wir stehen auf dem Standpunkt, daß dieser Ausschnitt aus der verbrecherischen Tätigkeit der Nationalsozialisten durch das von der Sowjetischen Anklagebehörde vorgelegte Beweismaterial voll erwiesen ist. Es war dies ein Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission, die die Umstände untersuchte, unter denen die Massenerschießung der polnischen kriegsgefangenen Offiziere durch die nationalsozialistischen Angreifer in den Wäldern von Katyn erfolgte. Dieses Dokument wurde von der Sowjetischen Anklagebehörde als USSR-54 am 14. Februar 1946 vorgelegt, vom Gerichtshof als Beweisstück angenommen und kann gemäß Paragraph [Artikel, d. Verf.] 21 des Statuts nicht angefochten werden.“

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

und wiederholte insoweit den gegen die Ladung der Zeugen bereits erhobenen Einspruch.440 Zum Bericht der Burdenko-Kommission führte er aus: „Abgesehen von diesen Einsprüchen, die die Ansicht aller Anklagebehörden darstellen, möchte die Sowjetische Anklagebehörde noch besonders auf die Tatsache hinweisen, daß die bestialischen Verbrechen der Deutschen in Katyn von einer besonderen, kompetenten staatlichen Untersuchungskommission mit der größten Sorgfalt untersucht worden sind. Als Ergebnis dieser Untersuchung ist die Tatsache festgestellt worden, daß das Verbrechen in den Wäldern von Katyn von Deutschen verübt wurde und nur ein Glied darstellt in der Kette vieler bestialischer Verbrechen, die von den Nationalsozialisten begangen wurden und über welche dem Gerichtshof bereits zahlreiche Beweise vorgelegt worden sind. Aus den von mir dargelegten Gründen besteht die Sowjetische Anklagebehörde unbedingt auf Ablehnung des Antrages des Verteidigers.“441

Das Tribunal löste die sowohl zwischen Verteidigung und Anklage als auch zwischen den einzelnen Anklagedelegationen aufgebrochene Kontroverse zur Anfechtbarkeit von nach Art. 21 IMT-Statut vorgelegten Beweismitteln und zu Modalitäten wie etwaigen Beschränkungen eines solchen Gegenangriffs schließlich, indem es bei grundsätzlicher Anerkennung der Anfechtungsmöglichkeit die Beweisführung für beide Seiten auf jeweils drei Zeugen beschränkte. Diese Zeugen sollten entweder vorgeladen und persönlich befragt oder ihre Aussage in Form eines Affidavits vorgelegt werden können.442 Am 1. Juli 1946 notifizierte Rudenko dem Sekretariat des Tribunals die Namen der sowjetischen Zeugen: Es handelte sich um den Professor für Gerichtsmedizin Viktor Il’ič Prozorovskij, den Professor für Gerichtsmedizin an der Universität in Sofia Marko Markov und Professor Boris Vasil’evič Bazilevskij.443 Die Vernehmung der Zeugen der Verteidigung und der Anklage fand sodann am 1. und 2. Juli 1946 statt. Zu diesem Zeitpunkt weilte kein offizieller Vertreter der sowjetischen Regierung in Nürnberg. Insbesondere blieb auch Rudenko der Sitzung fern. Die nicht nur in Anbetracht der auf der Hand liegenden Sensibilität des zu verhandelnden Sachkomplexes aus sowjetischer Perspektive, sondern auch eingedenk des im Vorfeld betriebenen Aufwandes zur Verhinderung bzw. aktiven Beeinflussung der Beweisaufnahme auf den ersten Blick erstaunlich anmutende Abwesenheit maßgeblicher Akteure dürfte in dem sowjetischen Bemühen 440

Protokoll der Verhandlung v. 3. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 318 ff. Der Einspruch ­Rudenkos bezog sich auf die von Stahmer benannten drei Zeugen Psychiater Stockert, Oberleutnant von Eichborn, Hauptmann Böhmert. Für die Einspruchsbegründung zu den einzelnen Personen siehe IMT, Bd. XV, S. 319; für eine direkte Stellungnahme Stahmers in der gleichen Sitzung siehe IMT, Bd. XV, S. 321 f. 441 Protokoll der Verhandlung v. 3. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 320. 442 Vgl. dazu die Ausführungen des Vorsitzenden in der Sitzung v. 29.  Juni 1946, IMT, Bd. XVII, S. 298–300. 443 Schreiben Rudenkos an den Generalsekretär des IMT John E. Ray v. 1. Juli 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 250, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 261, S. 483.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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begründet liegen, nach außen hin den Eindruck der Gelassenheit und eines reinen Gewissens zu vermitteln.444 Für die Verteidigung wurde zunächst der Kommandeur des HeeresgruppenNachrichtenregiments 537 Friedrich Ahrens in den Zeugenstand gerufen, dessen Regimentsstab seit August 1941 im sog. Dnjepr-Schlösschen zu Katyn untergebracht war.445 Dieses Dnjepr-Schlösschen war in einer Entfernung von ca. 600 m vom Fundort der Massengräber gelegen.446 Der Zeuge Ahrens stellte in Abrede, jemals Kenntnis von den ca. 25 km von Smolensk entfernten drei (ehemaligen) sowjetischen Gefangenenlagern erlangt zu haben, in denen zuvor polnische Kriegsgefangene untergebracht gewesen waren.447 Er gab auch zu Protokoll, dass ihm ein Erschießungsbefehl aus Berlin oder Hinweise auf Liquidationsmaßnahmen seines Vorgängers Oberst Bedenck zu keinem Zeitpunkt zur Kenntnis gebracht worden seien. Auf den Grabhügel sei er erst durch entsprechende Meldungen der ihm unterstellten Soldaten aufmerksam geworden, die an der betreffenden Stelle ein ­Birkenkreuz wahrgenommen hatten. Auf ihm aus dem Kreise der regimentsangehörigen Soldaten wiederholt zugetragene Andeutungen des Inhalts, dass an besagter Stelle Erschießungen stattgefunden hätten, habe er zunächst „nichts gegeben“448. Im Winter 1943 sei er dann im Wald zufällig auf einen Wolf gestoßen, dessen Spuren er mit einem Fachmann verfolgt habe. Im Zusammenhang mit der Spurensuche sei er auf dem Hügel mit dem Birkenkreuz auf Scharrstellen aufmerksam geworden. Die hierbei offengelegten Knochen habe er untersuchen lassen und daraufhin die Information erhalten, dass es sich um menschliche Überreste handele.449 In der Folgezeit sei er im Auftrag der Heeresgruppe von Prof. Butz aufgesucht und über bevorstehende Ausgrabungen in Kenntnis gesetzt worden. Prof. Butz sei es auch gewesen, der ihn zu einem späteren Zeitpunkt darüber informiert habe, dass man schlüssige Beweise über den Zeitpunkt der Erschießungen zu haben glaubte, die im Frühjahr 1940 stattgefunden haben sollten.450 Im Zuge des von Hilfsankläger Smirnov sodann durchgeführten Kreuzverhörs gelang es der sowjetischen Anklage zwar mitunter, die Aussagen Ahrens’ in Zweifel zu ziehen. So sah sich der Zeuge zu einer irgendwie gearteten Schätzung hinsichtlich der Tiefe der die Leichname bedeckenden Erdschicht außerstande, ob 444

Zu dieser Mutmaßung auch Zorja in: Jasnova (Hrsg.), Katynskaja drama, S. 159 (161). Das sog. Dnjepr-Schlösschen war seit August 1941 zunächst von Vorkommandos und später durchgehend vom Regimentsstab besetzt. Ahrens wurde nach eigenen Angaben in der zweiten Novemberhälfte in das Schlösschen kommandiert, nachdem er die Leitung des Regiments übernommen hatte, siehe Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 306 f. 446 Schätzung des Zeugen Ahrens, Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 316 f. 447 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 308. 448 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 309. Im Rahmen des Kreuzverhörs durch Smirnov bekundete Ahrens, auf Knochen sei man erst mehrere Monate später gestoßen, nachdem der zuvor hart gefrorene Boden allmählich aufgetaut sei. 449 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 309 u. 319. 450 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 310. 445

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

wohl er nach eigenen Angaben die Grabungsstelle wiederholt habe passieren und daher immer wieder einen Blick darauf habe werfen müssen.451 Der von Ahrens vorgetra­genen Version, wonach die Entdeckung des Grabhügels und der Menschenknochen die Auswertung von Scharrspuren eines Wolfs vorausgegangen war, trat der sowjetische Ankläger mit dem Hinweis entgegen, dass die Leichen ausweislich des Berichts der Burdenko-Kommission in einer Tiefe von ein bis zwei Metern vergraben gewesen waren.452 Smirnov trug auch vor, dass von deutscher Seite Belohnungen für solche Personen in Aussicht gestellt worden seien, die belastende Informationen über Katyn einzubringen versprachen und dass auf den Straßen von Smolensk entsprechende Auslobungen ausgehängt worden seien453. Von entsprechenden Bekanntmachungen wollte Ahrens indes nie Notiz genommen haben. Als zweiten Zeugen der Verteidigung rief das Tribunal den Fernsprech-Sachbearbeiter im Stab der Heeresgruppe Mitte Reinhard von Eichborn in den Zeugenstand.454 In seiner Funktion waren Eichborn alle zwischen den Wehrmachtseinheiten und Polizeibehörden ausgetauschten Fernschreiben vorgelegt worden, insbesondere auch die als geheim klassifizierten. Der Zeuge von Eichborn gab sich überzeugt, dass die Tötung einer solch großen Anzahl von Offizieren auf dem Dienstweg gemeldet worden wäre oder dass er jedenfalls aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehungen zu den meisten deutschen Offizieren im Regiment außerdienstlich hiervon Kenntnis erlangt hätte.455 Daneben stellte er auch die praktische Durchführbarkeit einer solchen Erschießungsaktion durch sein Regiment kategorisch in Abrede.456 Smirnov griff den Beweiswert der zeugenschaftlichen Bekundungen von Eichborns u. a. mit Hinweis auf den allfälligen Einsatz von Sonderkommandos an, denen nach Angaben von Eichborns eigene Funkstellen zur Verfügung standen und denen ein Zugang zu den allgemeinen Fernschreib 451

Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 320. Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 320: Smirnov; „Auf Grund der Beweisstücke, die die Sowjet-Anklagebehörde dem Gerichtshof vorgelegt hat, steht fest, daß die Leichen in einer Tiefe von eineinhalb bis zwei Metern eingescharrt waren. Mich interessiert jetzt: Ich möchte wissen, wo Sie einen Wolf finden können, der die Erde von ein­einhalb bis zwei Meter Tiefe aufscharren konnte?“ 453 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 321. 454 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 325 ff. 455 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 329. 456 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 330: „Dieser Befehl hätte hervorgerufen, daß eine sehr starke Anzahl des Regiments von den eigentlichen Aufgaben, denen der Sicherstellung der Nachrichtenverbindungen, abgezogen worden wäre; da wir sehr knapp an Nachrichtenkräften waren, mußten wir fast über jeden einzelnen Mann des Regiments Bescheid wissen. Es ist ganz ausgeschlossen, daß es möglich gewesen wäre, für eine derartige Aufgabe Kräfte des Regiments abzuziehen, ohne daß wir es gewußt hätten.“ Zum Zeitpunkt der angeblichen Erschießungen führte von Eichborn aus: „Die Vorbereitungen für das Umziehen der Heeresgruppe nach Smolensk waren sehr intensiv. Wir hatten eine Menge von Nachrichtentruppen dafür eingesetzt, um das gut auszubauen. Das ganze Gelände wurde laufend von diesen Truppen zur Auslegung von Kabeln und von Leitungen begangen. Es ist ausgeschlossen, daß irgend etwas Derartiges gerade in diesem Raum passiert ist, ohne daß es zur Kenntnis des Regiments und damit zu meiner Kenntnis gekommen wäre“, ebd., S. 338. 452

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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verbindungen noch nicht eröffnet war. Von der internen Korrespondenz jener Einheiten habe der Zeuge – so die Argumentation Smirnovs – daher nicht notwendig Kenntnis erlangen müssen.457 Schließlich rief das Tribunal auf Antrag der Verteidigung den Nachrichtenführer bei der Heeresgruppe Mitte Eugen Oberhäuser als Zeugen auf, dem das Regiment 537 unmittelbar unterstanden hatte und der sich seit September 1941 bei Smolensk befand.458 Auch dieser trug vor, dass er von einem Erschießungs­befehl dieser Art auf dem Dienstwege oder außerdienstlich zwingend hätte erfahren müssen. Wie bereits von Eichborn bezweifelte er die praktische Durchführbarkeit einer solchen Erschießungsaktion, zumal es dem Regiment bereits an den zur Umsetzung eines solchen Befehls erforderlichen technischen Ressourcen – Pistolen und Munition – gefehlt hätte.459 Auf Antrag der sowjetischen Anklage wurde sodann Boris Vasil’evič Bazilevskij als Zeuge aufgerufen.460 Dieser schilderte, wie er von Seiten der deutschen Besatzungsmacht gezwungen worden war, sich als stellvertretender Bürgermeister von Smolensk zur Verfügung zu stellen. Die zeugenschaftlichen Bekundungen­ Bazilevskijs wirkten insgesamt wenig überzeugend. Seine Kenntnisse über die Tötungen der polnischen Kriegsgefangenen leitete er augenscheinlich aus Erzählungen des Bürgermeisters Men’šagin (protokollierte Schreibweise Menschagin461) ab. Auf Nachfragen der Verteidigung vermochte er weder konkrete Augenzeugen für die Erschießungen noch die dafür verantwortliche deutsche Einheit namhaft zu machen oder auch nur sicher zu bezeugen, dass es sich bei den getöteten Personen um Polen gehandelt hatte.462 Das Lager Kozel’sk (protokollierte Schreibweise­ 457 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 334 f. Smirnov legte als Beweismittel den Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission als Beweisstück USSR-3 vor, der unter dem Titel „Besondere Anweisungen der Hitlerregierung über die Vernichtung von Kriegsgefangenen“ u. a. ein deutsches Dokument v. 29.  Okt. 1941 betreffend „Richtlinien für die Säuberung der mit sowjetischen Kriegs- und Zivilgefangenen belegten Kriegsgefangenen- und Durchgangslager im rückwärtigen Heeresgebiet“ enthielt. 458 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 339 ff. 459 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 342 f.: „Das Regiment war etatmäßig mit Waffen und Munition naturgemäß, nachdem es ein Nachrichtenregiment im rückwärtigen Bereich war, weniger gut ausgerüstet als die eigentliche kämpfende Truppe. Ein solcher Auftrag wäre für das Regiment etwas so ungewöhnliches gewesen, denn erstens hatte ein Nachrichtenregiment ganz andere Aufgaben, und zweitens wäre es auch gar nicht in der Lage gewesen, technisch so eine Massenexekution vorzunehmen.“, ebd., S. 343. 460 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 351 ff. 461 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 354. 462 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 361 f. „Dr. Stahmer: Hat es sich um Polen gehandelt, die aus dem Lager Kosielsk waren? Bazilevsky: Im Allgemeinen wurde damals in den Besprechungen nichts darüber erwähnt, aber es ist mir auch nichts bekannt, daß es sonst noch andere polnische Kriegsgefangene gegeben haben soll, die nicht vorher in Kosielsk gewesen waren. Dr. Stahmer: Haben Sie selbst polnische Offiziere gesehen? Bazilevsky: Ich persönlich habe keine gesehen, aber meine Studenten haben mir erzählt, daß sie sie im Jahre 1941 gesehen haben.“, ebd., S. 362.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Kosielsk463) war ihm nach eigenen Angaben wegen eines gemeinsam mit seiner Frau im August 1940 dort verbrachten Urlaubs bekannt. Auf diesen Urlaubsaufenthalt stützte er auch seine Gewissheit in Bezug auf die dortige Internierung von polnischen Offizieren zu diesem Zeitpunkt.464 Demgegenüber war er um eine denkbar positive Darstellung seiner eigenen Rolle bemüht. Sein Interesse für die Kriegs­ gefangenen führte er angesichts der schlimmen Bedingungen in den Lagern, in denen „täglich Hunderte von Kriegsgefangenen starben“ auf seine Anstrengungen zurück, „alle diejenigen, für die man einen Grund zur Befreiung finden konnte, wenn möglich aus diesem Lager zu befreien“465. Die Verteidigung konfrontierte Bazilevskij mit dem während der Vernehmung entstandenen Eindruck, dessen Aussagen seien nicht nur vorbereitet, sondern vom Zeugen während der Vernehmung sogar von einem mitgeführten Manuskript unmittelbar abgelesen worden. Aus diesem Vorhalt entwickelte sich zwischen Verteidiger Stahmer und Bazilevskij sodann folgender Dialog: „Dr. Stahmer: Herr Zeuge! Sie haben Ihre Aussagen vor der Pause vorgelesen, wenn ich recht beobachtet habe. Ist das richtig? Bazilevsky: Ich habe nichts vorgelesen. Ich habe nur einen Plan dieses Gerichtsraumes in der Hand. Dr. Stahmer: Es sah so aus, als ob Sie die Antworten vorgelesen haben. Wie erklären Sie denn, daß der Dolmetscher schon Ihre Antwort in Händen hatte? Bazilevsky: Ich weiß nicht, wieso die Dolmetscher meine Antworten im voraus in Händen haben konnten. Meine Aussagen vor der Untersuchungskommission, das heißt die beim Vorverhör abgegebenen, sind jedoch bekannt.“466

Der amerikanische Ankläger Dodd ergriff kurz darauf das Wort und unternahm einen Versuch, den im Raum stehenden Vorwurf vorbereiteter Aussagen zu entkräften. Er trug vor, dass er den Dolmetschern eine entsprechende Anfrage habe zukommen lassen und ihm vom diensthabenden Leutnant hierauf beschieden worden sei, keinem der Dolmetscher hätten im Vorfeld vorbereitete Fragen oder Antworten vorgelegen. Stahmer berief sich demgegenüber zwar auf eine „zuverlässige Quelle“, aus der er vor der Sitzung von einem fertigen Aussagemanuskript erfahren haben wollte, konnte die betreffende Auskunftsperson indes namentlich nicht benennen. Er erklärte sich vor diesem Hintergrund bereit, die von ihm in den Raum gestellte Mutmaßung, die Antworten Bazilevskijs seien vorgelesen, nicht weiter aufrechtzuerhalten.467 Ob Stahmer tatsächlich handfeste Anhaltpunkte für seine Unterstellung vorlagen oder ob es sich um einen „bewährten psy 463

Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 360. Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 360. 465 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 355. 466 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 358. Das Tribunal korrigierte Stahmer daraufhin jeweils, wenn er erneut von einem „Verlesen“ sprach, ebd., S. 360. 467 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 364. 464

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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chologischen Verteidigungstrick“468 handelte mit dem durchschaubaren Ziel, den Zeugen zu verunsichern, bleibt im Dunkeln. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass die Glaubhaftigkeit des ohnehin nicht sonderlich überzeugunskräftigen Auftritts Bazilevskijs als Zeuge durch das konfrontative Manöver Stahmers zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Als zweiter sowjetischer Zeuge wurde Marko Antonow Markov469 in den Zeugenstand gerufen, ehemals bulgarisches Mitglied der von deutscher Seite eingerichteten internationalen Kommission zur Untersuchung der Leichname im Wald von Katyn. Die Markov von Seiten der sowjetischen Anklage zugewiesene Aufgabe in Nürnberg bestand in erster Linie darin, die unter seiner Mitwirkung entstandenen Befunde der Untersuchungskommission als unwissenschaftlich und­ unzutreffend erscheinen zu lassen. Auch Markov neigte augenscheinlich dazu, sein eigenes Wirken in überaus positivem Licht darzustellen: „Meiner Meinung nach konnten diese Arbeitsbedingungen keinesfalls als wissenschaftliche und objektive angesehen werden. Das einzige, was den Charakter einer wissenschaftlichen Untersuchung hatte, war die von mir durchgeführte Obduktion.“470

Das von ihm persönlich gefertigte Protokoll über die Leichenobduktion habe nur aus einem deskriptiven Abschnitt ohne wertende Schlussfolgerungen bestanden. Demgegenüber seien den Wissenschaftlern von Seiten der deutschen Auftraggeber manipulierte Untersuchungsunterlagen vorgelegt worden, mittels derer der Ärztekommission habe suggeriert werden sollen, dass die Leichen zum Untersuchungszeitpunkt schon seit drei Jahren in der Erde lagen.471 Wegen des „offensichtliche[n] Widerspruch[s]“ zwischen den Ergebnissen der von ihm vorgenommenen Sezierung und der deutschen Berichtsfassung habe er sich auf die Abfassung eines beschreibenden Abschnitts beschränkt. In der Tat trug der von Markov gefertigte Obduktionsbefund zur Leiche mit der Erkennungs-Nr. 827 lediglich beschreibende Züge, indem er die Ergebnisse der äußeren Inaugenscheinnahme und der „inneren Besichtigung“ lediglich in 15 Stichpunkten knapp fixierte472, ­während 468

Siehe die von Dörte Andres und Martina Behr herausgegebene Übersetzung der Memoiren der sowjet. Übersetzerin Tatjana Stupnikova Andres/Behr (Hrsg.), Stupnikova, Die Wahrheit, S. 141. Die Situation am Nachmittag des 1. Juli 1946 beschrieb die in der Vormittagssitzung diensthabende sowjetische Übersetzerin wie folgt: „Damit hatte sich dieser Fall erledigt. Doch wie viele Sorgen er unserer diensthabenden Dolmetscherin bereitet hatte, davon erfährt man aus der Geschichte nichts. Es besteht kein Zweifel, dass sie einige schwere Minuten durchlebt hatte, während Stahmer – laut beobachtenden Juristen – lediglich einen bewährten psychologischen Verteidigungstrick benutzt hatte, um den ohnehin bereits eingeschüchterten, unsicheren Zeugen noch weiter in die Enge zu treiben“, zit. nach Andres/Behr (Hrsg.), Stupnikova, Die Wahrheit, S. 141; für die russ. Orginalfassung siehe Stupnikova, Ničego krome pravdy, S. 111. 469 Siehe oben Fn. 410. 470 Protokoll der Verhandlung v. 1. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 368. 471 Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 371. 472 Obduktionsbericht Dr. Markov v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 827, abgedr. in: Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 15, S. 128–129.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

die ­Obduktionsbefunde der übrigen Kommissionsmitglieder verschiedentlich Annahmen zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt enthielten, sei es durch entsprechende Folgerungen aus dem Verwesungszustand der Körper473, sei es durch Bezugnahme auf bei den Leichnamen befindliche und datierte Dokumente.474 Markov machte darüber hinaus geltend, das von sämtlichen Kommissionsmitgliedern unterzeichnete allgemeine Protokoll „hinsichtlich der wirklichen gerichtsmedizinischen­ Unterlagen“ sei denkbar knapp gehalten worden und habe über den Zustand der Leichen keine weitere Feststellung enthalten als den Befund, dass sich die Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung befunden hätten, ohne dass jedoch der Grad der Verwesung beschrieben worden sei.475 Stahmer gelang es indes, die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen Markovs jedenfalls als zweifelhaft erscheinen zu lassen, indem er im Rahmen des Kreuzverhörs eine Passage aus dem Protokoll wiedergab, in welcher der Zustand der Leichname in ausführ­licherer Form beschrieben wurde.476 Als letzter Zeuge der sowjetischen Anklage trat der Professor für Gerichts­medi­ zin Viktor Il’ič Prozorovskij auf.477 Prozorovskij hatte zuvor den Vorsitz über die gerichtsmedizinischen Sachverständigen in der Spezialkommission der ČGK478 geführt, die unter Leitung von Burdenko im Januar 1944 die Tötungen in Katyn untersucht hatte. Seinen Angaben zufolge erschien es „vollkommen ausgeschlossen“, dass die im Wald von Katyn aufgefundenen Körper früher als im Herbst 473 Obduktionsbericht Prof. Orsós v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 526, abgedr. in: Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 15, S.  123: „Die beobachtete geschichtete harte Inkrustation an der Oberfläche des lehmartigen Hirnbreies läßt darauf schließen, daß die Leiche schon wenigstens 3 Jahre beerdigt gelegen war.“; Obduktionsbericht Prof. Palmieri v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 800, abgedr. ebd., S. 125–128, hier S. 128: „Wegen der teilweisen Verseifung der Leiche muß man annehmen, daß der Tod um mehr als 1 Jahr zurückliegt.“; Obduktionsbericht Prof. Miloslavich v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 832, abgedr. ebd., S. 130–132, hier S. 132: „Der Tod des Obengenannten erfolgte im Frühjahr 1940, wie dies aus den an der Leiche und an vielen umliegenden Leichen vorgefundenen Privat-Dokumenten ersichtlich ist. Hiermit stimmt auch der Stand der Leichenveränderung überein.“ 474 Obduktionsbericht Prof. Miloslavich v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 832, abgedr. in: Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 15, S. 130–132, hier S. 130 f.: „In der rechten Brusttasche der Militär-Bluse ist ein Stück polnischer Zeitung, die das Datum vom 22.3.1940 trägt, zusammengefaltet.“; Obduktionsbericht Prof. Orsós v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 835, abgedr. ebd., S. 118–123, hier S. 118: „Aus den Dokumenten des Obduzierten ist zu entnehmen, daß er Zwierzchowski, Roman Adam hieß; aus einer Postkarte ergibt sich, daß er diese aus Warta vom 29.2.40 erhielt.“; Obduktionsbericht Dr. Birkle v. 30. April 1943 zu Leiche Erk.-Nr. 834, abgedr. ebd., S. 134–135, hier S. 134: „Auf einer Postkarte findet man das Datum 25.2.40, hat einen russischen Stempel.“ 475 Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 376. 476 Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 387. Vgl. hierzu bereits Fn. 413 wiedergegebene Passage aus dem „Zusammenfassenden Gutachten“ zum Protokoll der Internationalen Ärztekommission v. 30. April 1943, Deutsche Informationsstelle (Hrsg.), Amtliches Material zum Massenmord von Katyn, Dok. 17, S. 114–118, hier S. 118. 477 Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 394 ff. 478 Vgl. hierzu Fn. 297.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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1941 begraben worden waren.479 Zur Fundierung seiner Feststellungen führte­ Prozorovskij unter anderem aus, dass die gerichtsmedizinischen Sachverständigen in den Kleidungsstücken der Leichname diverse Dokumente sichergestellt hät­ rozorovskij selbst ten, unter anderem auf den April 1941 datierende Quittungen. P wollte sogar einen Brief mit dem Datum vom 20. Juni 1941 zu Gesicht bekommen haben.480 In seiner Stellungnahme zum Abschluss der den Anklagekomplex Katyn betreffenden Beweisaufnahme am 5. Juli 1946 legte Verteidiger Stahmer zusammen­ fassend dar, warum die Anklage mit den von ihr vorgelegten Beweismitteln den Nachweis deutscher Urheberschaft für das Massaker von Katyn nicht zu führen vermocht habe.481 Die sowjetische Anklage hingegen ließ sich von der schwierigen Beweislage in Bezug auf die Liquidationen in Katyn indes nicht beirren und griff den hierauf lautenden Vorwurf in Rudenkos Abschlussrede am 29. Juli 1946 erneut auf482: „Wie der Gerichtshof aus den Zeugenaussagen des ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters von Smolensk, Professor Bazilevskys, ersehen konnte, ist es kein Zufall, daß jene deutsch-faschistischen Mörder, die 11000 polnische kriegsgefangene Offiziere im Walde von Katyn hingemordet haben, sich auf das von Frank in Polen errichtete Regime als Beispiel für ihre Handlungen berufen haben.“483

Das Urteil484 selbst schließlich würdigte den in der Anklage mitgeteilten Katyn-Komplex indes mit keinem Wort. Ersehen lässt sich hieraus zumindest, dass das Tribunal die Schuld der deutschen Wehrmacht jedenfalls nicht mit einer für die Verurteilung notwendigen Wahrscheinlichkeit als erwiesen ansah. Gleichzeitig sah es von einer ausdrücklichen Beweiswürdigung und insbesondere einer Auseinandersetzung mit den weitgehend unergiebigen Beweismitteln der sowjetischen Anklage oder den im Untersuchungsbericht der sowjetischen Kommission entwickelten Befund der deutschen Verantwortlichkeit ab.485 Vor dem mit derlei Ausführungen einhergehenden Risiko einer impliziten Schuldzuweisung an die Sowjetunion war das Tribunal augenscheinlich zurückgeschreckt. Besonders bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang zudem, dass auch die den Urteilsgründen beigefügte abweichende Meinung des sowjetischen Richters Nikitčenko den von der sowjetischen Anklage zunächst noch als „eine der wichtigsten verbrecherischen Handlungen, für die die Hauptkriegsverbrecher verantwortlich sind“486 qualifizierten Katyn-Vorwurf keiner Silbe mehr für würdig be 479

Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 401. Protokoll der Verhandlung v. 2. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 399. 481 Protokoll der Verhandlung v. 5. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 586 ff. 482 Protokoll der Verhandlung v. 29. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 640 ff. 483 Protokoll der Verhandlung v. 29. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 681. 484 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189–386. 485 Mit Lebedeva liegt die Annahme nahe, dass die Beweisaufnahme weder die eine noch die andere Version voll bestätigt hat, siehe Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Vvedenie, S. 5 (57). 486 Protokoll der Verhandlung v. 14. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 469. 480

456

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

fand.487 Aus sowjetischer Perspektive jedenfalls nahm der Prozess in Bezug auf den Katyn betreffenden Anklagevorwurf einen desaströsen Verlauf – auch wenn eine implizite Schuldzuschreibung an die sowjetische Adresse letztlich abgewendet werden konnte.488 Bereits die öffentliche Erörterung der Möglichkeit einer sowjetischen Verantwortung für das Massaker von Katyn versetzte die sowjetische Prozessstrategie in eine gefährliche Schieflage. Diese wohl von sämtlichen sowjetischen Prozessteilnehmern geteilte Wahrnehmung der Prozessentwicklung wird reflektiert in der Bewertung, die dem Tag der Vernehmung der Verteidigungszeugen ausweislich des im Jahr 2003 von der Simultanübersetzerin Stupnikova vorgelegten Prozessberichts alsbald zuteil wurde. Demnach empfanden die an jenem Tag im Gerichtssaal anwesenden sowjetischen Bürger diesen übereinstimmend als „schwarzen Tag des Nürnberger Prozesses“489.

b) Der Zeugenbeweis als Beweismittel der sowjetischen Anklage aa) Der ambivalente Zugang der UdSSR zum Zeugenbeweis als Mittel der Beweisführung von Anklage und Verteidigung Wie die Sitzungsprotokolle der Vyšinskij-Kommission in Nürnberg belegen, lag der Sowjetführung in Bezug auf die Frage nach der Zulassung von Zeugen eine ausgesprochen ambivalente Haltung zugrunde. Der Einvernahme von den Vortrag der Anklage stützenden Zeugen standen die Sowjets grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stand hingegen die Einführung eines Zeugenbeweises zugunsten der Verteidigung in Rede, so wurde mit Hinweis auf das Risiko von Prozessverzögerungen dafür plädiert, deren Anzahl jedenfalls so gering wie irgend möglich zu halten. Der Einsatz von Zeugen der Anklage wurde von sowjetischer Seite jedoch keineswegs von Anfang an gezielt forciert. Anlässlich ihrer ersten Sitzung am 26. November 1945 fasste die Nürnberger Kommission vielmehr den Beschluss, dass man (1) „im Anklägerkomitee und vor Gericht nicht auf die Ladung von Zeugen bestehen sollte“, dass (2) „Rudenko und Nikitčenko beauftragt werden, mit anderen Delegationen das Verfahren und den Zeitpunkt der Ladung von Zeugen abzuklären, wenn es notwendig wird“ und dass (3) „in Moskau fünfzehn bis ­zwanzig Zeugen

487 Abweichende Meinung des sowjet. Mitglieds des Internationalen Militärgerichtshofs, IMT, Bd. I, S. 387–411. 488 Nach verschiedentlich anzutreffender Lesart ist hingegen bereits dem Umstand, dass Katyn in den Urteilsgründen überhaupt keine Erwähnung mehr findet, eine stillschweigende Schuldzuweisung gegenüber der Sowjetunion zu entnehmen, i. d. S.  etwa Wieviorka, Le­ procès de Nuremberg, S. 92: „Katyn disparaît simplement du jugement, ce qui constitue en quelque sorte l’aveu tacite de la culpabilité soviétique.“ 489 Stupnikova, Ničego krome pravdy, S. 112.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

457

für den Fall ihrer Erforderlichkeit vorzubereiten sind“490. Bereits am nächsten Tag stellte in Moskau Lev Emel’janovič Vlodzemirskij, Leiter der Ermittlungsabteilung für besonders wichtige Angelegenheiten des Volkskommissariats für Staatssicherheit, eine insgesamt achtundzwanzig Personen aus verschiedenen Regionen der UdSSR umfassende Zeugenliste für den Nürnberger Prozess zusammen.491 Mit dieser Liste befasste sich am 28. November 1945 sodann die Moskauer Regierungskommission.492 Die Regierungskommission kam dahin überein, dass bis zum 5. Dezember 1945 fünfundzwanzig Personen aus der Zeugenliste nach Moskau abzurufen und dort entsprechend ‚vorzubereiten‘ seien.493 Auch in den Folgesitzungen der Nürnberger Kommission stand das Thema des Personalbeweises wiederholt zur Erörterung. In der zweiten Sitzung am 1. Dezember 1945 wurde der Möglichkeit der Ladung und Einvernahme von Zeugen der Anklage seitens der Kommission bereits eine deutlich positivere Bewertung zuteil. In dieser Sitzung beschloss man unter anderem, „die Befragung von Zeugen der Anklage vor Gericht grundsätzlich als wünschenswert zu betrachten und den Prozess nicht nur auf schriftliche Beweise zu stützen“494. Die Möglichkeit des Zeugenbeweises wollte die sowjetische Anklage nunmehr in jedem Fall für sich nutzbar machen. Dies wird besonders anschaulich anhand eines weiteren in diesem Zusammenhang von der Kommission gefassten Beschlusses, wonach das Mittel „der Zeugenbefragung von sowjetischen Anklägern eingesetzt werden soll, u­ nabhängig 490

Ü. d. Verf., Ziff. 2 des Sitzungsprotokolls v. 26. Nov. 1945 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). Bereits vor Prozessbeginn, am 10. Nov. 1945, hatten R ­ udenko und Nikitčenko ihre in Nürnberg weilenden Stellvertreter Pokrovskij und Volčkov damit beauftragt, in Erfahrung zu bringen, ob die Amerikaner, Briten und Franzosen Anträge auf Einvernahme von Zeugen zu stellen beabsichtigten und ob ggf. Experten (Sachverständige) hinzugezogen werden sollten, siehe Telegramm v. 10. Nov. 1945, GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 25. 491 Spisok svidetelej, namečennych dlja vyzova na Njurnbergskij process voennych prestupnikov (Liste der Zeugen, die für den Nürnberger Prozess vorgesehen sind)  v. 27.  Nov. 1945, GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 93–101; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 144, S. 318–321. Auf der Liste war keine einzige Person mit deutschem Namen verzeichnet. Von den sieben sowjetischen Staatsbürgern, die in der Hauptverhandlung während des Beweisvortrags der sowjetischen Anklage im Feb. 1946 [siehe Kap. G. III. 3. b)] tatsächlich aussagen sollten, fanden sich vier auf dieser Liste wieder, nämlich Evgenij Aleksandrovič­ Kivel’ša, Iosif Abgarovič Orbeli, Nikolaj Ivanovič Lomakin und Jakov Grigor’evič Grigor’ev; daneben waren in das Verzeichnis auch die folgenden, als potentielle Zeugen nach Nürnberg entsandten Personen aufgenommen worden: Stanislav Stanislavovič Tarkovskij, David Iosifo­ vič Budnik, Ljubov’ Radionovna Sopil’nik, Evgenija Ivanovna Panasjuk, Jurij Nikolaevič Dmitriev. 492 Sitzungsprotokoll der Regierungskommission v. 28. Nov. 1945, GARF, f. R-8131, op. 38, d. 238, Bl. 158–159 = GARF, f. R-9492, op. 1a, d. 468, Bl. 91–92, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 146, S. 322. 493 Ziff. 1 des Sitzungsprotokolls v. 28. Nov. 1945 (Fn. 492), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 146, S. 322.  494 Ü. d. Verf., Ziff. 1.1 b) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324).

458

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

davon, welche Delegation den Zeugen aufgerufen hat“495. Gegenüber den anderen Anklageteams und dem Gericht gedachte man jedoch, bis zum Abschluss der Auswahl und ‚Vorbereitung‘496 der sowjetischen Zeugen zunächst weiterhin ablehnend aufzutreten. Entsprechend beschloss die Kommission, dass der Ladung von Zeugen so lange widersprochen werden soll, bis die Zeugen der sowjetischen Delegation umfassend ‚vorbereitet‘, d. h. überprüft und instruiert worden sein würden.497 Zu diesem Zweck wurde die Moskauer Regierungskommission per Beschluss darum ersucht, aus der allgemeinen Liste zehn bis zwölf Zeugen auszuwählen. Außerdem sollte die Frage der Anzahl der Zeugen für die Anklage und der Reihenfolge ihrer Befragung im Anklägerkomitee einer Erörterung in Moskau zugeführt werden.498 Auch nach Vyšinskijs Abreise aus Nürnberg und der Übernahme des Sitzungsvorsitzes durch seinen Stellvertreter Goršenin war es weiterhin Vyšinskij, der in Gestalt von Richtlinien die von den sowjetischen Repräsentanten vor Ort zur Frage der Zeugen zu ergreifenden Maßnahmen steuernd beeinflusste.499 Anfang Dezember teilte der Kommissionsvorsitzende Goršenin aus Moskau mit, dass mit den anderen Anklägern und dem Tribunal eine grobe Abstimmung u. a. betreffend den Zeitpunkt der Antragsstellung für die Ladung von Zeugen und für die Zeugenvernehmung (sowohl der Anklage als auch der Verteidigung) erzielt werden solle. Die zeitliche Abfolge bei der Anhörung geladener Zeugen sei von zentraler Bedeutung, „damit die Zeugen der Verteidigung, die das Tribunal offenbar laden will, nicht

495

Ü. d. Verf., Ziff. 1.1 v) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324). Diese Anordnung wurde in weitem Umfang in die Tat umgesetzt. Vgl. etwa für die von Rudenko persönlich durchgeführten Zeugenvernehmungen im Anschluss an das Verhör durch andere Ankläger die Vernehmung von Maurice Lampe am 25. Jan. 1945, IMT, Bd. VI, S. 216–217, von François Boix am 29. Jan. 1946, IMT, Bd. VI, S. 300–301, und von Erwin Lahousen am 30. Nov. 1945, IMT, Bd. II, S. 518–523; für entsprechende Zeugenvernehmungen durch Hilfsankläger siehe die Vernehmung von Otto Ohlendorf am 3. Jan. 1946, IMT, Bd. IV, S. 365–370, im Anschluss an die Vernehmung durch den amerikanischen Ankläger John Harlan Amen oder die Vernehmung Dr. Franz Blahas am 11. Jan. 1946 nach dem Verhör durch den amerikanischen Ankläger Thomas J. Dodd, IMT, Bd. V, S. 204–209. 496 Im Rahmen der von sowjetischer Seite für gewöhnlich praktizierten ‚Vorbereitung‘ der Zeugen wurden diese auf die Einhaltung der vorbereiteten sowjetischen Linie verpflichtet und durch simulierte Verhöre intensiv mit der Situation einer Befragung unter Prozessbedingungen vertraut gemacht, hierzu am Beispiel der Vorbereitung von Feldmarschall Paulus und General Buschenhagen durch Aleksandrow etwa Diedrich, Paulus, S. 351. 497 Ziff. 1.1 g) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324). Der Punkt enthielt ferner die Bestimmung, dass im Falle, wenn die Amerikaner fordern sollten, Befragungen von Zeugen noch vor Abschluss der Vorlage von schriftlichen Beweisen durchzuführen, die sowjetische Seite nur in Ausnahmefällen zustimmen sollte. 498 Ziff. 1.1 a) des Sitzungsprotokolls No 2 v. 1. Dez. 1945 (Fn. 38), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 149, S. 323 (324). 499 Vyšinskij an Goršenin, Dez. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 88–89.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

459

vorgezogen werden, und dadurch die Aussagekraft der von uns vorgelegten Dokumente abschwächen“500. Bereits in der nächsten Kommissionssitzung am 3. Dezember 1946 erhielt Nikitčenko in Umsetzung dieser Vorgabe den Auftrag, eine Verzögerung der Prüfung von zusätzlichen Zeugenanträgen der Verteidigung herbeizuführen, bis die Frage der Zeugen der Anklage geklärt sei. Darüber hinaus wurde er angewiesen, sich im Kollegium für die Verringerung der Zahl der Zeugen auszusprechen, deren Ladung das Tribunal vorgesehen habe.501 Die Kommission zeigte sich insgesamt bestrebt, den Einsatz von Zeugen der Verteidigung in möglichst engen Bahnen zu halten. Nachdem sowohl Pokrovskij als auch Nikitčenko in den jeweiligen Kollegien ihre vorläufige Zustimmung zur Ladung von 49 der von der Verteidigung beantragten Zeugen erteilt hatten, wurden beide im Rahmen der Kommissionssitzung am 3. Dezember 1946 scharf zurechtgewiesen. Sowohl Rudenko und Nikitčenko wurden bei dieser Gelegenheit für die Zukunft erneut verpflichtet, „die Zustimmung zur Ladung der von der Verteidigung benannten Zeugen nur in Ausnahmefällen zu erteilen“502. Rudenko sollte von nun an über alle Entscheidungen zu Anträgen der Verteidigeranwälte und Angeklagten persönlich in Kenntnis gesetzt werden. Fragen zur Anzahl der Zeugen und zum Zeitpunkt ihrer Befragung wurden auch weiterhin in nahezu jeder Sitzung thematisiert. Mit Blick auf die anderen Delegationen bemühte man sich um die Schaffung einer zwischen den sowjetischen Repräsentanten in Anklage und Tribunal abgestimmten Linie zur Begrenzung der Zeugen der Verteidigung. Zu diesem Zweck wurde Rudenko angehalten, am 4. Dezember 1946 den alliierten Kollegen im Anklägerkomitee ein Memorandum vorzulegen, das die „maximal mögliche Herabsetzung der Anzahl der Zeugen der Verteidigung“ zum Ziel haben sollte.503 Innerhalb des Tribunals sollte Nikitčenko mit identischer Zielrichtung mögliche Restriktionen in Bezug auf die Anzahl der Zeugen der Verteidigung thematisieren. Rudenko teilte den Anklagevertretern

500

Vyšinskij an Goršenin, Dez. 1945 (Fn. 499), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 88 (89). Ziff. 1.4 des Sitzungsprotokolls No 3 v. 3. Dez. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 06, Bl. 9–13, hier Bl. 9 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 32–36, hier Bl. 32; die erste Seite d. Protokolls ist abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 153, S. 330–331, hier S. 331. 502 Ü. d. Verf. In Bezug auf die erteilte Zustimmung verständigte sich die Kommission auf eine Sprachregelung, wonach es als Fehler zu bewerten sei, dass sowjetischer Richter und Ankläger ohne Kenntnis der Kommission und ohne Absprache mit Moskau ihre Zustimmung erteilt haben, insbesondere für Zeugen wie Bernd von Brauchitsch (im Zeugenstand am 12. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 155 ff.; Brauchitsch sagte u. a. zum Fall ­Barbarossa und zum Luftkrieg aus), Gert von Rundstedt (im Zeugenstand am 12. Aug. 1946, IMT, Bd. XXI, S. 28 ff.; von Rundstedt sagte zu Kriegvorbereitungen und zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener aus) und Eikhert. S. Ziff. 1.1 des Sitzungsprotokolls No 3 v. 3. Dez. 1945 (Fn. 501), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 153, S. 330 (331). 503 Ü. d. Verf., Ziff.  1.4 des Sitzungsprotokolls No  3 v. 3.  Dez. 1945 (Fn.  501), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok.  No  153, S.  330 (331). Mit der Abfassung des Memorandums wurden­ Rudenko und Trajnin beauftragt, ebd. 501

460

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

mit, dass „die Situation in Bezug auf die Ladung von Zeugen die Ergreifung von Maßnahmen seitens der Anklage dringend“ erfordere und schlug eine Erörterung dieses Themas in der Sitzung der Ankläger am 5. Dezember 1946 vor.504 In der Nürnberger Kommissionssitzung vom 5. Dezember 1945 wusste Rudenko in dieser Hinsicht bereits über einige in der Sitzung des Anklägerkomitees am gleichen Tage erzielte und dem sowjetischen Anliegen günstige Entwicklungen zu berichten.505 Das Anklägerkomitee hatte sich demnach gegen die bis dato geübte Praxis ausgesprochen, nach der jedes Anklageteam seine Einwände gegenüber dem Tribunal isoliert vorzutragen hatte und stattdessen beschlossen, entsprechende Vorbehalte zukünftig im Namen des Anklägerkomitees anzumelden.506 Rudenko brachte ferner in Erfahrung, dass die amerikanische und französische Anklage jeweils maximal vier Zeugen zu laden beabsichtigte, während die britische Anklagedelegation von einem Antrag auf Zeugenladung ganz absehen wollte. Ferner war das Anklägerkomitee ausweislich des Berichts Rudenkos übereingekommen, bei dem Tribunal auf eine erneute Überprüfung seiner Entscheidung zur Ladung der 49 Zeugen der Verteidigung mit dem Ziel einer substantiellen Verringerung hinzuwirken.507 Um eine rasche praktische Umsetzung dieses Beschlusses sicherzustellen, wies die Kommission Rudenko und Nikitčenko zur Abfassung eines Entwurfs des im Namen des Anklägerkomitees zu formulierenden Memorandums in Richtung auf eine Minimierung der Zeugenanzahl an.508 Hinsichtlich des als Zeugen der sowjetischen Anklage in Betracht kommenden Personenkreises beschloss die Kommission, aus der allgemeinen Liste 20 bis 25 Zeugen konkret auszuwählen, aus denen bei Bedarf 10 bis 12 Zeugen benannt werden könnten.509 Im Rahmen der Sitzung der Kommission am 7. Dezember 1946 setzte Nikit­čenko die anwesenden Mitglieder darüber in Kenntnis, dass nach einem Beschluss des 504 Ü. d. Verf., Rudenko an Jackson, Shawcross und de Menthon, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 229. Rudenko argumentierte, dass die Angeklagten bereits eine erhebliche Zahl von Anträgen auf Zulassung von Zeugen bei dem Tribunal eingereicht hätten, das sich mit diesen bereits befasst habe. 49 Zeugen der Verteidigung seien bereits zugelassen. Die Frage der Zeugen der Anklage sei demgegenüber weiterhin ungeklärt. 505 Ziff. 1 der Berichte aus dem Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (336). 506 In der Folgezeit wurden die Einwände gegen die Beweisanträge der Verteidiger in der­ Regel tatsächlich gemeinsam vorgetragen siehe Protokoll der Verhandlung v. 11. Mai 1946, IMT, Bd.  XIII, S.  471 ff. oder Protokoll der Verhandlung v. 3.  Juni 1946, IMT, Bd.  XV, S. 317 f. Eine Ausnahme bildeten die einzeln vorgetragenen Einsprüche der sowjetischen Anklage zu den Beweisanträgen von Dr. Otto Stahmer im Fall von Katyn, zu diesem Themenkomplex bereits oben Kap. G. III. 3 a) bb) (3). 507 Ziff. 1 der Berichte aus dem Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (336). 508 Ziff. 1 der Beschlüsse aus dem Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (337). 509 Ziff. 1 der Beschlüsse aus dem Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (337).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

461

Tribunals bis zum Abschluss der Eröffnungsvorträge der Ankläger keine Zeugen der Verteidigung gehört werden sollten.510 Rudenko und Nikitčenko wurden erneut an ihre Pflicht erinnert, der Vernehmung von Zeugen bis zum Abschluss der Beweisvorträge der Anklage kategorisch entgegen zu treten. Nikitčenko sollte im Richterkollegium gar auf eine Verschiebung der Entscheidung über die grundsätzliche Zulassung der von der Verteidigung eingereichten Zeugenanträge überhaupt auf einen Zeitpunkt nach Abschluss des sowjetischen Anklagevortrags drängen.511 Am 9. Dezember 1946 berichteten Rudenko und Nikitčenko über den Gang der Gespräche betreffend die erneute Überprüfung der Zeugenanträge der Verteidigung. Rudenko stellte in Aussicht, dass das beauftragte Memorandum nicht später als am 11. Dezember 1945 vorliegen würde.512 Per Beschluss vom 11. Dezember befand es die Kommission für zweckmäßig, nach Möglichkeit darauf hinzuwirken, die Zeugen der Anklage erst nach sämtlichen Eröffnungsvorträgen der Anklage und der Vorlage ihrer urkundlichen Beweise zu hören. Die von der Verteidigung geladenen Zeugen sollten erst im Anschluss hieran, insbesondere erst nach den Zeugen der Anklage, zu vernehmen sein. Rudenko und Nikitčenko sollten das dafür Notwendige in die Wege leiten.513 Die Bestrebungen der sowjetischen Seite, die Entscheidung über die Zulässigkeit von Zeugenanträgen auf einen Zeitpunkt nach Beendigung des Anklagevortrags zu verschieben, führten indes nicht zum gewünschten Erfolg. Am 17. Dezember 1946 gab das Tribunal den wenige Tage zuvor in geschlossener Sitzung514 gefassten Beschluss bekannt, mit dem eine Entscheidung über „eine Anzahl von Anträgen auf Ladung von Zeugen“ getroffen worden war.515 Der Vorsitzende­ Lawrence führte aus, dass der Gerichtshof die Verteidiger nach Abschluss der Beweisführung durch die Anklagevertretung dazu anzuhören gedenke, in Bezug auf welche zugelassenen oder bereitgehaltenen Zeugen sie im Interesse der Beweisführung eine zeugenschaftliche Einvernahme für geboten erachteten.516 Über die Zulässigkeit der eingereichten Anträge auf Einvernahme von Zeugen wurde jeweils gesondert entschieden, manche Zeugen wurden gar vor Abschluss der Er­

510

Ziff. 2 a)  der Beschlüsse aus dem Sitzungsprotokoll No  7 v. 7.  Dez. 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 391, Bl. 22 (23), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 163, S. 344 (345). 511 Ziff. 2 g) der Beschlüsse aus dem Sitzungsprotokoll No  7 v. 7.  Dez. 1945 (Fn.  510), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 163, S. 344 (345). 512 Ziff. 9 des Sitzungsprotokolls No 8 v. 9. Dez. 1945 (Fn. 184), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 167, S. 350 (351 f.). Der Inhalt des Berichts ist nicht protokolliert. 513 Ziff. 6 des Sitzungsprotokolls No 9 v. 11. Dez. 1945 (Fn. 101), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 170, S. 354 (355). 514 Auszug aus dem Protokoll der geschlossenen Sitzung v. 15. Dez. 1945, Ziff. 2 (Zeugen­ anträge), GARF,  f.  R7445, op. 1, d.  2614, Bl.  61–63; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 176, S. 361–363. 515 Protokoll der Verhandlung v. 17. Dez. 1945, IMT, Bd. IV, S. 7–9, hier S. 9. 516 Protokoll der Verhandlung v. 17. Dez. 1945, IMT, Bd. IV, S. 9.

462

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

öffnungsplädoyers gehört.517 Der sowjetische Versuch, die Vernehmung aller Zeugen auf einen späteren Zeitpunkt des Prozesses zu verschieben, um den Vortrag der Anklagebehörde nicht zu unterbrechen und durch ggf. unerwartete Zeugenaussagen zu stören, war damit im Ergebnis nicht erfolgreich. bb) Zeugen der sowjetischen Anklage vor dem Tribunal Von den insgesamt 33 von der Anklage benannten Zeugen gegen die einzelnen Angeklagten518 wurden auf Antrag der sowjetischen Anklage im Laufe ihres Beweisvortrags im Februar 1946 neun Personen in den Zeugenstand gerufen. Am 9. Februar 1946 stellte Hauptankläger Rudenko dem Tribunal den Auftritt von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus519 und Erich Buschenhagen520 in Aussicht.521 517 Siehe die Vernehmung des Arztes und Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau Dr. Franz Blaha am 11. Jan. 1946 durch den amerikanischen Ankläger Thomas J. Dodd, IMT, Bd. V, S. 191 ff. 518 Urteil des IMT v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (190). Andere Zahlen finden sich z. B. bei Kastner/D’Addario, Nürnberger Prozess, S. 35 (72 Zeugen). 519 Generalfeldmarschall Paulus (1890–1957), ehedem Befehlshaber der in Stalingrad untergegangenen Sechsten Armee, nach deren Kapitulation in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und dort dem Nationalkomittee Freies Deutschland (NKFD) beigetreten, hatte sich der sowjetischen Anklage aus eigener Initiative zur Verfügung gestellt. Zu seinen Motiven führte Paulus später neben der „schwere[n] Verantwortung und Schuld, die wir Deutschen auf uns geladen haben durch unseren heimtückischen Überfall und den Eroberungskrieg“ auch die Einsicht in die aus sowjetischer Perspektive bestehende Notwendigkeit an, dass „ein deutscher Zeuge sich äussert über das Unrecht der Anstiftung eines Eroberungskrieges, seine unmenschlichen Begleiterscheinungen […] und seine fürchterlichen Folgen.“, wiedergegeben nach Diedrich, Paulus, S. 349. Wie er in einer an die Sowjetregierung gerichteten Note vom 8. Januar 1946 ausführte, sah er sich „verpflichtet, alles, was mir aufgrund meiner Tätigkeit bekannt ist und als Beweismaterial für die Schuld der Kriegsverbrecher im Nürnberger Prozess dienen kann, der Sowjetregierung zu unterbreiten“ (ebd., S. 349; die vorstehend zitierte Passage wurde im Rahmen des Kreuzverhörs des Zeugen Paulus vor dem IMT auch von Verteidiger Dr. Sauter verlesen, siehe Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 314–315); als „Überlebender von Stalingrad“ fühle er – Paulus – die „Verpflichtung, dem Sowjetvolk Genugtuung zu bieten“ (ebd., S. 350). S. zu den in der Folge durchgeführten Befragungen Paulus’ durch Rudenko, der schriftlichen Niederlegung der Erkenntnisse des Feldmarschalls, der Erstellung eines prozessvorbereitenden Frage-Antwort-Katalogs, der Vorbereitung von Paulus und Buschenhagen auf den Nürnberger Auftritt durch Mitarbeiter des MVD (vormals NKVD) und durch Aleksandrov in Nürnberg sowie zur Rolle des Generalfeldmarschalls als Zeuge der sowjetischen Anklage m. zahlr. w. Nachw. Diedrich, ebd., S.  345–364. Vgl. zur Mitwirkung Paulus in NKFD und dem angeschlossenen Bund Deutscher Offiziere (BDO) ebd., S. 319–345; eingehend zum Ganzen auch Reschin: Feldmarschall im Kreuzverhör (1996). Ausf. zu Entstehung, Aufbau und Wirkung dieser Organisationen­ Scheurig, Verräter oder Patrioten (1993). Für weiterführende biograph. Nachw. zu Paulus vgl. Steinkamp, in: Ueberschär (Hrsg.), Hitlers militärische Elite, Bd. 2, S. 161–168; Hürter,­ Hitlers Heerführer, S. 650–651. 520 Weiterführend oben Fn. 193. 521 Schreiben Rudenkos an das Tribunal am 9.  Feb. 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d.  6, Bl. 269, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 204, S. 394.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Die Abreise von zehn weiteren sowjetischen Staatsbürgern, deren zeugenschaftliche Einvernahme die sowjetische Anklage als zweckmäßig in Erwägung gezogen hatte, nach Nürnberg wurde nach Erteilung entsprechender Ausreisegenehmigungen unmittelbar durch Molotov522 am 18. Februar 1946 veranlasst.523 (1) Generalfeldmarschall Friedrich Paulus als ‚Kronzeuge‘ der sowjetischen Anklage Am 11. und 12. Februar 1946 wurde als erster Zeuge der sowjetischen Anklage Generalfeldmarschall Paulus aufgerufen.524 Der in den von Hilfsankläger Zorja geführten Beweisvortrag zum Anklagevorwurf „Angriff gegen die UdSSR“ eingebetteten Vernehmung des Zeugen nahm sich Hauptankläger Rudenko persönlich an. Rudenkos Fragenkatalog betraf den Zeitpunkt und die Einzelheiten der Vorbereitung des Angriffs auf die UdSSR, die „Beteiligung der Satelliten“525, die Umstände der Durchführung des Überfalls, die von Deutschland mit dem Angriff verfolgten Ziele sowie die Frage der Verantwortlichkeit für den Angriffskrieg. Die Vernehmung des Generalfeldmarschalls durch Rudenko fiel verhältnismäßig kurz aus und erweckt den Eindruck, dass der sowjetischen Anklage weniger an einer detailorientierten Aufhellung der tatsächlichen Umstände der Vorbereitung und Durchführung des Angriffs auf die UdSSR gelegen war. Vielmehr schien sie bei ihrer Befragung eine zeugenschaftliche Bestätigung der in sowjetischen Verlautbarungen bereits seit 1941 anzutreffenden Bewertungen zum verbrecherischen Charakters des Angriffs auf die Sowjetunion und der Verantwortlichkeit der 522 Schreiben des Leiters der 3. Europäischen Abteilung Smirnov an Molotov v. 16. Feb. 1946, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 2, Bl. 73, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 206, S. 395. In dem Schreiben bat Smirnov um Ausreiseerlaubnis für die in der Konsularabteilung des NKID beglaubigten Zeugenliste aufgeführten Personen. 523 Smirnov an Semenov am 16. Feb. 1945, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 2, Bl. 68. Die Gruppe der sowjetischen Zeugen umfasste Stanislav Stanislavovič Tarkovskij, Jakov Grigor’­ evič Grigor’ev, David Iosifovič Budnik, Ljubov’ Radionovna Sopil’nik, Evgenij Aleksandrovič Kivel’ša, Evgenija Ivanovna Panasjuk, Abram Gerševič Suckever, Jurij Nikolaevič Dmitriev, Iosif Abgarovič Orbeli und Nikolaj Ivanovič Lomakin. Die Gruppe wurde am 18.  Februar 1946 in Begleitung des Mitarbeiters beim NKID Kirill Pavlovič Šumskij nach Nürnberg entsandt. Die für denselben Tag vorgesehene Ankunft verzögerte sich jedoch wegen einer wetterbedingten Zwischenlandung in Minsk, siehe Telefonogramm von Šumskij an Smirnov v. 18. Feb. 1946, AVP RF, f. 082, op. 32, p. 178, d. 2, Bl. 89, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, No 207, S. 396. 524 Die sowjetische Anklage befragte Paulus in der Nachmittagssitzung v. 11.  Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 283–292; für die russ. Fassung des Sitzungsprotokolls insoweit siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 462–471. Die Verteidiger unterzogen den Zeugen am 12. Feb. 1946 dem Kreuzverhör, IMT, Bd. VII, S.  310–337; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 471–484. Zum Auftritt des Generalfeldmarschalls vor Gericht siehe auch Diedrich, Paulus, S. 352–355. 525 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 286.

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‚deutschen faschistischen Regierung‘ vor Augen zu haben.526 Die ­Bekundungen Paulus’ ließen nach dem Eindruck vieler deutscher Prozessteilnehmer darauf schließen, dass dieser um die für die sowjetische Anklage günstigen Antworten wusste und sein Aussageverhalten diesen Erwartungen entsprechend ausgerichtet hatte.527 Seine Erklärungen konnte Paulus frei von Unterbrechungen und ungestört von konkretisierenden Nachfragen Rudenkos entfalten. Zum Schluss seiner Ausführungen zu den jeweiligen Fragenkomplexen formulierte er ohne diesbezügliche Aufforderung ein knappes Resümee. Dass die prägnanten und belastungsreichen Zusammenfassungen dem Erwartungshorizont der sowjetischen Anklage jeweils vollauf entsprochen haben dürften, wird anhand des Umstandes ersichtlich, dass die sowjetische Anklage von anschließenden Rückfragen jeweils absah. So beschloss Paulus etwa seine Ausführungen zum Komplex der „Vorbereitungen der Hitler-Regierung und des deutschen Oberkommandos für einen bewaffneten Überfall auf die Sowjetunion“528, in deren Verlauf er auch nicht zu erwähnen vergaß, „daß irgendwelche Vorbereitungen für einen Angriff von Seiten Sowjet­ rußlands nicht bekannt geworden waren“529, mit der folgenden Feststellung: „Abschließend stelle ich fest, daß die Vorbereitung zu diesem Überfall auf die Sowjetunion, der am 22.6.41 realisiert wurde, bereits im Herbst 1940 lief.“530

Während sich der Vorsitzende des Tribunals Lawrence hierauf noch zu einer Nachfrage in Bezug auf den exakten Zeitpunkt des Beginns der Vorbereitungen zum deutschen Überfall veranlasst sah, leitete Rudenko mit der nächsten Frage sogleich auf die Rolle der Satelliten über.531 Seine Antwort auf die Frage, unter welchen Umständen sich der bewaffnete Überfall auf die UdSSR vollzogen habe, leitete Paulus mit der folgenden – ganz auf der Linie der sowjetischen Diktion liegenden – Formel ein: „Der Angriff auf die Sowjetunion erfolgte, wie ich ausgeführt habe, nach einem von langer Hand vorbereiteten und sorgsam getarnten Plan.“532 526 Siehe z. B. die Note des Volkskommissariats für Äußere Angelegenheiten der UdSSR v. 25. Nov. 1941 über deutsche Gräueltaten (Kap. C, Fn. 14) oder Erklärung v. 19. Dez. 1942 (Kap. C, Fn. 238) 527 Eine differenzierte Einschätzung liefert Pätzold, Im Rückspiegel, S. 55: „Paulus indessen ließ sich im Zeugenstand nicht zum ‚Werkzeug Moskaus‘ stempeln“; zu einem ähnlichen Urteil in Bezug auf die Motive und den Auftritt des Generalfeldmarschalls gelangt Diedrich, Paulus, S. 354: „Paulus war vor allem aus eigener Überzeugung vor dem Internationalen Gerichtshof aufgetreten“; ders., ebd. auch mit dem Hinweis, dass die von Paulus bei seinem mit den sowjetischen Vorstellungen übereinstimmenden Vortrag an den Tag gelegte Sicherheit nicht denkbar gewesen wäre, „wenn Paulus nicht von der Richtigkeit dieser, auch seiner Argumente, wirklich überzeugt gewesen wäre.“ 528 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 284. 529 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 285. 530 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 286; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 465. 531 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 286. 532 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 289.

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Mit einem für die sowjetische Anklage wohl nicht minder willkommenen Fazit rundete er seine Ausführungen zum Themenkomplex wie folgt ab: „Alle diese Maßnahmen zeigen, daß es sich hier um einen verbrecherischen Überfall handelte.“533

Auf diese Weise gab Paulus der sowjetischen Anklage zumindest zwei der von ihr angestrebten Feststellungen an die Hand, nämlich den Befund der Planmäßigkeit und den Beleg des verbrecherischen Charakters des Angriffs auf die UdSSR. Auf die Frage nach den Zielen des Überfalls gab Paulus zu Protokoll, dass diese seiner Wahrnehmung nach in der „Eroberung zwecks Kolonisierung der russischen Gebiete, unter deren Ausnutzung und Ausbeutung und mit deren Hilfsmitteln der Krieg im Westen zu Ende geführt werden sollte, mit dem Ziele der endgültigen Aufrichtung der Herrschaft über Europa“ bestanden hätten.534 Zum Abschluss des Verhörs bat Rudenko Paulus um dessen Einschätzung zu der Frage, wen er persönlich für die „verbrecherische Entfesselung des Krieges gegen die Sowjetunion“ für schuldig erachte.535 Das Tribunal unterband jedoch die Beantwortung dieser Frage mit Hinweis darauf, dass es sich hierbei um eine der vom Gericht zu entscheidenden Hauptfragen des Verfahrens handele, bezüglich derer zeugenschaftliche Wertungen nicht vorgesehen seien.536 Rudenko sah sich vor diesem Hintergrund zur Umformulierung seiner Frage veranlasst, die nunmehr dahin lautete, welcher der Angeklagten in die Entwicklung des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion aktiv involviert war537. Paulus bezeichnete daraufhin Keitel, Jodl und Göring als „erste militärische Berater Hitlers“538. Am folgenden Tag, dem 12. Februar 1946, wurde Paulus dem Kreuzverhör der Verteidigung539 unterzogen und dabei erwartungsgemäß mit allerlei Vorhalten konfrontiert, deren Hauptstoßrichtung auf die Erschütterung der von ihm am Vortag im Wesentlichen schlüssig und widerspruchsfrei vorgetragenen Aussage abzielte.540 533 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 290K; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 470. 534 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 290. 535 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 291. 536 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 291.  537 Der Vernehmungsverlauf ist in der russ. Fassung des Protokolls zu dieser Stelle insoweit verkürzend wiedergegeben, als dass Rudenko die Frage nach den aktiven Teilnehmern an der Entwicklung des Angriffskriegs unmittelbar – ohne vorherige Erhebung der Schuldfrage und Zurechtweisung durch den Vorsitzenden Lawrence – formuliert, siehe Rekunkov/Lebedeva/ Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 470–471. 538 Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 291. 539 Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 311–334. 540 So etwa in Bezug auf die Behandlung von militärischen Plänen und ihrer stufenweisen Ausarbeitung, siehe Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 311–313, zum Nichtvorliegen von Erkenntnissen des Abwehrdienstes zu Angriffsabsichten der UdSSR, ebd. S.  313; siehe auch die Vorhalte zur Stärke der in Polen einmarschierten sowjetischen Truppenkontingente ebd., S. 325–326.

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Flankiert wurden die namentlich auf die Infragestellung der persönlichen Integrität Paulus’ gerichteten Angriffe der Verteidigung durch Appelle an dessen Selbsterhaltungsinteressen. So suchte der Verteidiger Keitels, Dr. Nelte, die Auskunftbereitschaft des Zeugen Paulus unter Hinweis auf die selbstbelastenden Folgewirkungen seines Aussageverhaltens in gegen diesen möglicherweise selbst gerichteten Verfahren zu unterminieren: „Dr. Nelte: Herr Feldmarschall, Sie wissen offenbar nicht, daß Sie auch zu dem Kreise der Angeklagten gehören, denn Sie gehören zu der als verbrecherisch angeklagten Organisation der Oberbefehlshaber.“541

Ein weiteres Anliegen der Verteidigung bestand augenscheinlich auch darin, die erhebliche Mitverantwortung des Zeugen an den den Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen freizulegen. Anschaulich wird dieses Unterfangen etwa anhand des folgenden Verhörverlaufs: „Dr. Nelte: Es steht also fest, daß Sie und der Generalstabschef von Halder diese Tatsachen kannten, die den Krieg gegen Rußland als einen verbrecherischen Überfall dartun und daß Sie trotzdem nichts unternommen haben. Sie haben in Ihrer Erklärung gesagt, Sie sind dann später Oberbefehlshaber der 6. Armee geworden? Paulus: Jawohl. Dr. Nelte: Sie haben also in Kenntnis auch der eben festgestellten Tatsachen die Führung der Armee übernommen, die auf Stalingrad vorgestoßen ist. Hatten Sie keine Bedenken, sich zum Werkzeug des von Ihnen als verbrecherisch angesehenen Angriffs zu machen? Paulus: So, wie die Lage damals sich für den Soldaten darstellte, in Verbindung auch mit der außerordentlichen Propaganda, die betrieben wurde, habe ich damals wie so viele geglaubt, meinem Vaterlande gegenüber meine Pflicht tun zu müssen. Dr. Nelte: Aber Sie kannten doch die Tatsachen, die dem entgegenstanden? Paulus: Die Tatsachen, wie sie nachher klar geworden sind, gerade durch meine Erlebnisse als Oberbefehlshaber der 6. Armee, die ihren Höhepunkt bei Stalingrad erreichten, kannte ich nicht. Auch diese Erkenntnis dieses verbrecherischen Überfalls ist mir erst später bei der Überlegung der ganzen Zusammenhänge gekommen, denn vorher hatte ich nur einen Einblick in Ausschnitte.“542

Da Paulus seine persönliche Verantwortung nicht in Abrede stellte und auch im Übrigen übermäßig selbstentlastende Tendenzen nicht an den Tag legte, konzentrierte sich die Verteidigung im weiteren Verlauf des Kreuzverhörs auf diffamierende Angriffe gegen den auf Seiten der Angeklagten als Verräter wahrgenommenen543

541

Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 314. Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 314–315. 543 Überliefert ist etwa die in den Verhandlungsprotokollen des IMT selbst nicht dokumentierte lautstarke Aufforderung des Angeklagten Göring an seinen Verteidiger, „das dreckige Schwein [den just in den Zeugenstand getretenen Zeugen Paulus, d. Verf.] [zu fragen, d. Verf.], ob er wüßte, daß er ein Verräter sei“. Ergänzt wurde die Anordnung Görings mit der folgenden 542

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Zeugen, der sich für die Verteidigung indes als „harter Brocken“544 erwies. Sowohl die Beförderung des Zeugen zum Generalfeldmarschall in einem bereits fortgeschrittenen Kriegsstadium545, die Außerachtlassung der unter seinem Kommando zu Tode gekommenen deutschen Soldaten in den dem Gericht vorliegenden schriftlichen Einlassungen546, eine behauptete Lehrtätigkeit an der sowjetischen Kriegsakademie547 wie auch seine Mitgliedschaft im deutschen Freiheitskomitee548 wurden von der Verteidigung angeführt, um die persönliche Integrität und die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel zu ziehen.549 Einer von Verteidiger Dr. Laternser an Paulus gerichteten Frage nach der Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion indes versagte das Tribunal seine Zustimmung mit der Begründung, dass sich der Gerichtshof mit derartigen Fragestellungen nicht zu befassen habe.550 Die trotz sichtlicher Nervosität551 insgesamt souverän vorgetragene Aussage des Zeugen Paulus stellte sich in der sowjetischen Wahrnehmung als propagandis­ tische Sensation und prozessualer Erfolg gleichermaßen dar.552 Die von Seiten der Verteidigung gegen die Person des Zeugen geführten Angriffe vermochten zum eigentlichen Ziel  – der Entlastung der Angeklagten  – kaum beizutragen. Regieanweisung: „Fragen Sie ihn, ob er seine russische Staatsbürgerschaft erhalten hätte?“, jew. zitiert nach Gilbert, Nürnberger Tagebuch, S. 147; für eine geringfügig abweichende Wiedergabe der ersten Frage Görings siehe Diedrich, Paulus, S. 352 („ob er wisse, was ein Ver­ räter sei“). 544 Pätzold, Im Rückspiegel, S.  54; für eine gleichlautende Einschätzung auch Diedrich, Paulus, S. 353. 545 Ausführungen des Verteidigers Dr. Sauter, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 319. 546 Ausführungen des Verteidigers Dr. Sauter, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 319: „Mir fällt auf, Herr Zeuge, und ich bitte, mir darüber eine Erklärung abzugeben, warum haben Sie denn in diesem ausführlichen Schreiben die Hunderttausende von deutschen Soldaten ganz vergessen, die unter Ihrem Oberbefehl standen und unter Ihrem Oberbefehl Freiheit, Gesundheit und Leben verloren haben? Kein Wort davon.“ 547 Vgl. den Vorhalt des Verteidigers Prof. Dr. Exner, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 323: „Sie sollen Lehrer an der Kriegsakademie in Moskau sein oder gewesen sein? Ist das richtig?“ Belege für ein derartiges Engagement Paulus’ existieren freilich nicht, siehe Diedrich, Paulus, S. 353. 548 Ausführungen des Verteidigers Prof. Dr. Exner, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 323–324, und des Verteidigers Dr. Horn, ebd., S. 333–334. Adressiert werden sollte hiermit offensichtlich die Mitgliedschaft Paulus im NKFD (Fn. 519). 549 Vgl. zu dieser Motivation etwa die Erklärung des Verteidigers Dr. Horn, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 334: „Ich wollte feststellen, Schlüsse ziehen über die Glaubwürdigkeit des Zeugen.“ 550 Vgl. hierzu die Begründung des Vorsitzenden, Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 329. 551 Diedrich, Paulus, S. 353, berichtet von „seinem Hüsteln und gelegentlich zu schnellem Sprechen“ als Symptomen der auf dem Zeugen lastenden Anspannung. 552 Für einen Überblick über das Spektrum der Reaktionen auf den Auftritt des Zeugen Paulus vor dem IMT siehe den Bericht des Innenministeriums an Stalin und Molotov v. 3. April 1946, GARF, f. R-9401, op. 2, d. 200, Bl. 198–201.

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Denn seine eigene Verstrickung suchte der Zeuge weder in Abrede zu stellen noch zeigte er sich um die Exkulpation seiner Person bemüht. Der Strategie manch eines Verteidigers, den gegen die Sowjetunion geführten Angriffskrieg als militärisch gebotene Präventivmaßnahme im Angesicht einer unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Aggression erscheinen zu lassen, war mit den Aussagen des Zeugen Paulus, der eine solche Bedrohungslage dezidiert in Abrede stellte, die Grundlage weitgehend entzogen. Gegen die auf sein nunmehriges Rollenverständnis und seine gegenwärtige Beziehung zum Sowjetstaat abzielenden Vorhalte der Verteidigung setzte er sich zwar nur halbherzig zur Wehr. Der Glaubhaftigkeit seiner Aussagen in Bezug auf den gegen die Angeklagten gerichteten Kernvorwurf tat der offenbare Mangel an Selbstverteidigungsbereitschaft indes keinen Abbruch, er war dieser womöglich sogar zuträglich. Ob sein Einsatz für den Prozessverlauf tatsächlich von ausschlaggebender Bedeutung war, darf allerdings bezweifelt werden. Die auf Befragung Rudenkos geäußerten zeugenschaftlichen Bekundungen brachten in der Sache keine substantiell neuen Erkenntnisse zu Tage.553 Für die Widerlegung der von Seiten der Verteidigung betriebenen Umdeutung des Angriffs auf die Sowjetunion in einen Präventivschlag hätte es angesichts der recht ergiebigen urkundlichen Beweissituation der Aussage des Zeugen Paulus vermutlich nicht bedurft. Es bleibt denn vor allem der spektakuläre Charakter des entschlossenen Auftritts eines der ranghöchsten militärischen Befehlshaber des untergegangenen Reiches als Belastungszeuge gerade der sowje­ tischen Anklage. Deutlich knapper noch fiel das lediglich drei Fragen umfassende Verhör des Generals der Infanterie Erich Buschenhagen am 12.  Februar 1946 durch Hilfs­ ankläger Zorja554 aus. Auch dieser bezeugte den „Angriffscharakter aller Vorbereitungshandlungen“ auf die Sowjetunion, die von deutschem Boden zwischen Ende 1940 und Anfang 1941 forciert worden waren.555 Für die Verteidigung richtete Dr. Laternser einige wenige Nachfragen an den Zeugen, die sich inhaltlich vor allem auf die Anwendung des berüchtigten ‚Kommissarbefehls‘556 durch die Befehlshaber der Wehrmacht drehten.557

553

Für eine solche Bewertung vgl. auch Diedrich, Paulus, S. 352. Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 343–347. 555 Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 344, 347. 556 Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare v. 6. Juni 1941 – Az. Nr. 44822/41 g.K.Chefs., BArch MA, RW 4/578, Bl. 42–44, abgedr. u. a. bei Römer, Kommissarbefehl, S. 76–79. 557 Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 348–349. 554

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(2) Weitere Zeugen der sowjetischen Anklage Die übrigen Zeugen der Anklage – bis auf zwei Ausnahmen558 sämtlich Staatsbürger der Sowjetunion – sagten gegen Ende des sowjetischen Beweisvortrags559 aus. Der erste vor dem IMT in Zeugeneigenschaft befragte sowjetische Staatsangehörige, Iosif Abgarovič Orbeli (protokollierte Schreibweise Joseph Abgarowitch Orbeli), wurde am 22. Februar 1946 während des Vortrags zur Plünderung und Zerstörung von Kulturwerten und Zerstörung von Städten und Dörfern von­ Raginskij560 in den Zeugenstand gerufen.561 Als Direktor des Museums Eremitage in Leningrad und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR trug er namentlich vor zu den mutmaßlich von deutscher Seite verursachten Zerstörungen bedeutender Museen im Stadtgebiet von Leningrad, darunter der Eremitage mit dem dazugehörigen Winterpalais, den Museen der Anthropologie und

558 Bei den Zeugen Šmaglevskaja (Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, Verhör durch Hilfsankläger Smirnov, IMT, Bd. VIII, S. 349–355) und Rjazman (Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, Verhör durch Hilfsankläger Smirnov, IMT, Bd. VIII, S. 356–362) handelte es sich demgegenüber um polnische Staatsbürger. 559 Die Beweisführung der sowjetischen Anklage endete am 27. Feb. 1946, nach Abschluss des Vortrags des Hilfsanklägers Smirnov zu Verbrechen gegen die Humanität, IMT, Bd. VIII, S. 378. Die sowjetischen Zeugen wurden vor ihrer Aussage wie alle vor Gericht auftretenden Zeugen vereidigt. In der für die sowjetischen Staatsbürger vorgesehenen Eidesformel war ein Gottesbezug allerdings nicht aufgenommen worden. Ihre Eidesformel lautete in etwa: „Ich, (Name des Zeugen), ein Bürger der USSR, als Zeuge vor das Gericht geladen, verspreche und schwöre vor diesem Gericht, über alles, womit ich in dieser Sache vertraut bin, nur wahrheitsgetreu diesem Gericht zu bekunden“, IMT, Bd. VIII, S. 142. Der exakte Wortlaut der protokollierten Eidesformeln für die sowjetischen Zeugen variiert aufgrund der Unterschiede bei der Übersetzung. Die Eidesformel für Grigor’ev lautete: „Ich, Yakow Grigoriew, Bürger der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, als Zeuge vor dieses Gericht geladen, gelobe und schwöre in Gegenwart des Gerichts, dem Gericht die volle Wahrheit über alles zu sagen, was ich in Verbindung mit diesem Fall weiß.“, IMT, Bd. VIII, S. 287. Für die russ. Fassung siehe z. B. die Wiedergabe der Eidesformel im Zusammenhang mit der zeugenschaftlichen Vernehmung des sowjetischen Staatsbürgers Orbeli am 22. Feb. 1946, R ­ ekun­kov/Lebedeva/Alekseev/ Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 467, ausgelassen jedoch für den Zeugen Suckever, ebd., T. 5, S. 666. Für den Wortlaut des von P ­ aulus und ­Buschenhagen mit Gottesbezug geleisteten Eides siehe Protokoll der Verhandlung v. 11. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 283, 343. Auch die polnischen Staatsbüger Šmaglevskaja und R ­ jazman leisteten den Eid mit Gottesbezug, IMT, Bd.  VIII, S.  349, 356. In der russischen Fassung des S ­ tenogramms ist der Wortlaut des von den beiden deutschen und polnischen Zeugen tatsächlich gesprochene Eidesformel – wohl wegen des in ihnen enthaltenen Gottesbezuges – indes ausgelassen, vgl. Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 3, S. 463 (Paulus), S. 484 (Buschenhagen), ebd., T. 5, S. 542 ­(Šmaglevskaja) und S. 628 (Rajzman). 560 Raginskij begann am 21.  u. beendete den Vortrag am 22.  Feb. 1946, IMT, Bd.  VIII, S. 64–148. 561 Für das Verhör durch Hilfsankläger Raginskij siehe Protokoll der Verhandlung v. 12. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 142–146, und für das Kreuzverhör durch die Verteidiger, ebd., S. 146–148; für die russ. Übersetzung des Verhörs durch Raginskij siehe Rekunkov/­ Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 467–471.

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Ethnographie, dem Zoologischen und dem Maritimen Museum sowie zu weiteren Verwüstungen im städtischen Einzugsgebiet, namentlich in Peterhof, Pavlovsk und Zarskoje Selo.562 Die Mehrheit der sowjetischen Zeugen sagte am 26. und 27. Februar 1946 zum Abschnitt Verbrechen gegen die Humanität aus. Jakov Grigor’evič Grigor’ev (protokollierte Schreibweise Yakow Grigoriewitsch Grigoriev), ein Bauer aus dem Dorf Pavlov in der Nähe von Leningrad, berichtete über die Zerstörung seines Dorfes und das Schicksal seiner Familie. Seiner Darstellung zufolge waren seine schwangere Frau, zwei Söhne, die Schwägerin und ihre beiden Kinder durch deutschen Befehl zu Tode gekommen.563 Seine im Duktus einer detailgetreuen Geschichtserzählung vorgetragene und mit emotionalen Elementen stark überlagerte Schilderung der Ereignisse in Pavlov leitete Grigor’ev mit folgenden Worten ein: „Am denkwürdigen 28. Oktober 1943 überfielen die deutschen Soldaten unerwartet unser Dorf und begannen, die friedliche Bevölkerung niederzumetzeln, erschossen sie oder trieben sie in die Häuser. An diesem Tag arbeitete ich mit meinen zwei Söhnen Alexei und ­Nikolai auf der Tenne. Plötzlich kam zu uns ein deutscher Soldat auf die Tenne und befahl uns, ihm zu folgen.“564

Weiter führte er aus: „Als der deutsche Soldat zu uns auf die Tenne kam, fragten wir ihn: ‚Warum bringt ihr uns alle um?‘ Er sagte: ‚Kennt Ihr das Dorf Maximowo?‘ Dieses Dorf liegt in der Nähe unseres ‚Dorfsowjets‘. Ich antwortete: ‚Ja‘. Er erzählte mir, Maximowo sei ‚kaputt‘ – die Einwohner seien ‚kaputt‘, und wir müßten nun auch ‚kaputt‘ gemacht werden.“565

Der Arzt Evgenij Aleksandrovič Kivel’ša (protokollierte Schreibweise E ­ ugen­ Alexandrowitsch Kiwelischa)  legte als ehedem in sechs verschiedenen Lagern internierter Kriegsgefangener Zeugnis ab über die menschenverachtende Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und Vergeltungsmaßnahmen an der Zivilbevölkerung.566 Zeugenschaftliche Schilderungen zur rassisch motivierten Verfolgung von Juden wurden am 27. Februar 1946 von Abram Gerševič ­Suckever (protokollierte Schreibweise Abram Gerzevitsch Suzkewer) und den beiden polnischen Staatsbürgern Severina Šmaglevskaja (protokollierte Schreibweise Severina Schmaglewskaja) und Samuel Rajzman zu Protokoll des Gerichts gebracht.­ Suckever bekundete seine Wahrnehmungen zur Judenverfolgung in der Stadt Wilna.567 Šmaglevskaja, Überlebende des Konzentrationslagers Ausschwitz Birkenau, berichtete schwer erträgliche Details zur grausamen Behandlung, die selbst 562

Protokoll der Verhandlung v. 22. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 142–146. Protokoll der Verhandlung v. 26. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 287–291. 564 Protokoll der Verhandlung v. 26. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 287. 565 Protokoll der Verhandlung v. 26. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 290. 566 Protokoll der Verhandlung v. 26. Feb. 1946, Verhör durch stellvertr. Hauptankläger Pokrov­ skij, IMT, Bd. VIII, S. 300–307, und Kreuzverhör durch die Verteidiger, ebd., S. 308–314. 567 Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, IMT, Bd. VIII, S. 333–340; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 666–671. 563

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Kindern in der Lagerhaft wiederfahren war.568 Rajzman hatte das Vernichtungs­ lager Treblinka (Lagerteil Treblinka II) überlebt und gab seine Erinnerungen hierzu wieder.569 Für keinen der drei vorgenannten Zeugen machte die Verteidigung von ihrem Recht auf Durchführung des Kreuzverhörs Gebrauch. Als letzter sowjetischer Zeuge der Anklage wurde ein orthodoxer Geistlicher, der Erzdekan der Kirchen von Leningrad Nikolaj Ivanovič L ­ omakin (protokollierte Schreibweise ­Nikolaj Iwanowitsch Lomakin) in den Zeugenstand gerufen, der über die den deutschen Invasoren zur Last gelegte Zerstörung sakraler Bauwerke im Stadtgebiet von Leningrad Bericht erstattete.570 4. „Hot button topics“: Art. 18 IMT-Statut und das Geheime Zusatzprotokoll Über das Bedürfnis, den Gang der Hauptverhandlung vor dem IMT thematisch zu kanalisieren, namentlich Diskussionen über die alliierte Kriegsführung oder Besatzungspolitik als Verhandlungsgegenstand nicht zuzulassen, war von Seiten aller Signatarstaaten noch im Vorbereitungsstadium eine weitgehende Übereinkunft erzielt worden. Normativen Niederschlag gefunden hatten entsprechende Bestrebungen in diesem Zusammenhang in Gestalt des Art. 18 IMT-Statut, der den Gerichtshof im Sinne eines Effektivitätsgebots insbesondere dazu anhielt, den Prozess streng auf eine beschleunigte Verhandlung der durch die Anklage vorgebrachten Gesichtspunkte zu beschränken (Art. 18 lit. a IMT-Statut), solchen Handlungen Einhalt zu gebieten, die eine unnötige Verzögerung zu verursachen drohten sowie unerhebliche Fragen und Erklärungen jedweder Art zu unterbinden (Art. 18 lit. b IMT-Statut).571 a) Interalliierte Verständigung auf ein Verzeichnis verfahrensbezogener Themenverbote („hot-button topics“) Eine allgemeine Übereinkunft zwischen den Hauptanklägern dahingehend, dass die Erörterung der politischen Handlungen der Alliierten vor Gericht fehl am Platz sei und deswegen mögliche ‚politische Attacken‘ der Angeklagten oder ­ihrer 568 Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, Verhör durch Hilfsankläger Smirnov, IMT, Bd.  VIII, S.  349–355; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavli­ščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 542–545; vgl. hierzu Pätzold, Im Rückspiegel, S. 67–75. 569 Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, Verhör durch Hilfsankläger Smirnov, IMT, Bd.  VIII, S.  356–362; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 5, S. 628–632. 570 Protokoll der Verhandlung v. 27. Feb. 1946, Verhör durch Hilfsankläger Smirnov, IMT, Bd.  VIII, S.  366–378; für die russ. Fassung siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/ Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 4, S. 472–478 (Auszug). 571 Hierzu ausf. Kap. E. IV. 6. b).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Verteidiger, insbesondere im Zusammenhang mit dem Anklagepunkt des Verbrechens gegen den Frieden grundsätzlich unterbunden werden müssten, wurde im November 1945 herbeigeführt. Gegenstand der Sitzung der Hauptankläger am 9. November 1945 war unter anderem die Frage nach der adäquaten Reaktion gegenüber allfälligen ‚politischen Attacken‘ auf die das Tribunal organisierenden Staaten.572 Die Hauptankläger verständigten sich einerseits darauf, dass entsprechende Attacken der Verteidigung gemeinsam abgewehrt werden müssten, indem man das Vorbringen als irrelevant bewertet. Einig war man sich darüber hinaus auch insoweit, dass die USA insbesondere aufgrund ihres relativ späten Kriegs­ eintritts am besten geeignet erschienen, bei der Abwehr solcher politisch motivierten Gegenanschuldigungen eine führende Rolle einzunehmen.573 Die Hauptankläger verabredeten ferner, dass die Delegationen Memoranda zur Darlegung ihrer jeweiligen landesspezifischen Positionen verfassen sollten.574 Am 1. Dezember 1945 übermittelte der stellvertretende britische Hauptankläger Fyfe ein „Memorandum on Political Attacks“ an die Anklagevertreter der anderen Delegationen, in dem die aus britischer Sicht besonders brisanten politischen Themen niedergelegt worden waren.575 Das Memorandum wurde Vyšinskij umgehend 572 Brief v. Jackson an Rudenko und Champetier de Ribes v. 8. März 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 394; russ. Übersetzung GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 395 = GARF, f. R-7445, op. 2, d.  8, Bl.  47–48 = GARF,  f. R-7445, op. 2, d.  404, Bl.  72–73, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 213, S. 410–411. In dem hier interessierenden Zusammenhang enthält das Schreiben folgende Ausführungen: „At a meeting of the Chief prosecutors on November 9, 1945 we discussed the probability that the defense would make political attacks upon our respective countries, particularly upon the policy of England, Russia and France in connection with the aggressive war charge.“, zit. nach GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 394. Bei der von Lebedeva/Zorya, International Affairs 1989, No 10, S. 117 (121), in Auszügen abgedruckten englischen Fassung handelt es sich um eine Rückübersetzung aus dem Russischen, die mit dem vorstehend wiedergegebenen Originalwortlaut daher nicht übereinstimmt. 573 „It was then agreed that we would all resist such attacks as we would anticipate as irrelevant and it was felt that the United States, being late in the war and remote from the scene, was little exposed to the attack itself and was perhaps in the best position to lead the effort to resist the proof closely to the charges and to try to stop political discussions.“, zit. nach dem Schreiben Jacksons an Rudenko v. 8. März 1946 (Fn. 572), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 394. 574 Schreiben Jacksons an Rudenko v. 8. März 1946 (Fn. 572), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 394. 575 Für das an Rudenko adressierte Schreiben mit dem „Memorandum on political attacks“ siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 330–332 (engl.); für die russ. Übersetzung siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 325–329 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 12–17, abgedr. bei ­Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 150, S. 326–329. Im Memorandum hieß es u. a.: „If the defendants, ­either in evidence or through their counsel, attempt to defend themselves by making a political attack on the conduct of H. M. G., the British Prosecutor will object very strongly and rely on Articles 18 and 20 of the Charter. The British Prosecutor would also expect to deal with any counter-charges made against British policy, whatever the count upon which they arose. Possible counter-charges against H. M. G. seem to fall into three periods: A. The period up to the outbreak of war. B. The German attacks on (1) Denmark and Norway (2) the Low Countries. C. German attacks on Yugoslavia and Greece.“ Es folgt eine ausführliche Darstellung der Punkte A bis C, zit. nach GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 330 (331).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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zugeleitet, der baldige Anweisungen dazu in Aussicht stellte.576 Auf sowjetischer Seite hatte sich die Nürnberger Kommission bereits am 26. November 1945 – ihrer ersten Sitzung – mit denjenigen Themen befasst, deren öffentliche Erörterung im Prozess unakzeptabel schien. In diesem Zusammenhang hatte sie beschlossen, den zuvor von Vyšinskij vorbereiteten und ihr zur Entscheidung vorgelegten Fragenkatalog zu bestätigen.577 Die von Vyšinskij vorbereitete, von Moskau indes noch nicht final genehmigte578 Aufstellung von zu unterbindenden Themen (hot-button topics579) konzentrierte sich auf die zu Beginn dieses Kapitels bereits wiedergegebenen580 neun Themenkomplexe. In der Kommissionssitzung vom 5.  Dezember 1946 erstattete Rudenko dem Gremium sodann dahingehend Bericht, dass Jackson in der Sitzung des Anklägerkomitees am gleichen Tag vorgeschlagen habe, in Bezug auf von der Verhandlung fernzuhaltende Themen eine gemeinsame Position zu entwickeln.581 Zu diesem Zweck sei man übereingekommen, dass jede Delegation ein Memorandum mit landesspezifischen Themenkomplexen erarbeite und den übrigen Anklagedelegationen zwecks Abstimmung zur Kenntnis bringe. Erst nach Sichtung und Zusammenführung der jeweiligen nationalen Forderungen könne das Verzeichnis betreffender Themen dem Tribunal im Rahmen einer inoffiziellen Zusammenkunft unterbreitet werden.582 Diesen Bericht nahm die Kommission zum Anlass, in derselben Sitzung Rudenko, Nikitčenko und Kuz’min mit der Formulierung eines entsprechenden Memorandums mit Frist bis zum folgenden Tag zu beauftragen.583 Der von den Vorgenannten pünktlich erstellte und bei der Kommission vorgelegte Entwurf wurde sodann in der nächsten Sitzung genehmigt.584 Gleichwohl erfolgte eine Übergabe des sowjetischen Memorandums an die übrigen Delegationen augenscheinlich nicht. Jackson sah sich nämlich veranlasst, Rudenko und seinen französischen Kollegen Champetier de Ribes mit 576

Vyšinskij an Goršenin, oben D. (Anfang Dez. 1946), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 88–89. 577 Ziff. 3. I-2 des Sitzungsprotokoll v. 26. Nov.1946 (Fn. 85), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 142, S. 314 (315). 578 Bericht von Raginskij über die Situation der sowjetischen Delegation in Nürnberg, 4. Dez. 1945, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 76–78, hier 77. Ragiskij stellte fest, dass in der Frage der „Vermeidung einiger ‚Themen‘“ alles durcheinander geraten würde, obwohl im Beschluss v. 26. Nov. 1945 (gemeint ist die Protokollsitzung v. 26. Nov. 1945, oben Fn. 85) klar fest­gelegt worden war, was erreicht werden müsste. Dies sei auch vor der Abreise ­Vyšinskijs erneut besprochen worden. Dieser habe vor seiner Abreise „Moskau [wegen der Genehmigung der Liste, d. Verf.] angefragt, jedoch keine Antwort erhalten“, ebd., S. 77. 579 Hirsch, AHR 113 (2008), 701 (718). 580 Siehe oben Fn. 99. 581 Ziff. 5 der Berichte, Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (337). 582 Ziff. 5 der Berichte, Sitzungsprotokoll No 5 v. 5. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (337). 583 Ziff. 5 der Beschlüsse, Sitzungsprotokoll No  5 v. 5.  Dez. 1945 (Fn.  100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 158, S. 336 (338). 584 Ziff. 2 des Sitzungsprotokolls No 6 v. 6. Dez. 1945 (Fn. 100), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 159, S. 338 (339). Der Wortlaut des Textes ist nicht protokolliert.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

einem Schreiben vom 8. März 1946585 erneut an die Übereinkunft vom 9. November 1945 zu erinnern und die Einreichung ihrer Memoranda nochmals mit Nachdruck einzufordern. Um seinem Aufforderungsschreiben Nachdruck zu verleihen, ließ er dabei Hinweise auf ihm konkret vorliegende Erkenntnisse zu sowohl Frankreich als auch die UdSSR betreffenden Argumentationsstrategien der Verteidigung einfließen: „I now have reasons to believe that the defense plans to attack Soviet policy as constituting aggression in connection with the Finnish, Polish, Balkan and Baltic States situations, and the French policy in the West and in the treatment of prisoners of war, as well as to attack English policy on all of the grounds anticipated in Sir David’s memorandum. I call your attention to this because it is not possible for me to commit the United States to the support of undisclosed positions, some of which might require communication with our Department of State or with military authorities. Also, there is danger, that witnesses will volunteer statements on cross examination which will raise these issues and that could perhaps be better handled if we knew the positions of the respective delegations. It will be the position of the United States at all times that attacks on the prosecuting powers are irrelevant and inadmissible in this case. If, however, such political attacks reach the point of public discussion, it may be embarrassing to all if the United States is uninformed of the positions of its associates and finds it impossible to take a support in position on them.“586

Rudenko antwortete am 11. März 1946 und übersandte Jackson eine Liste mit von sowjetischer Seite unerwünschten Themen.587 In der äußerlich auf nurmehr drei Punkte zusammengeschrumpften Aufstellung befanden sich fast alle Punkte aus dem Vyšinskij-Verzeichnis vom 26. November 1946588 wieder, nämlich: „Fragen im Zusammenhang mit dem sozio-politischen System der UdSSR Sowjetische Außenpolitik: (a) der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt aus dem Jahr 1939 und alle hiermit in Verbindung stehenden Fragen (das Handelsabkommen, die Bestimmung von Grenzen, Verhandlungen etc.); (b) Ribbentrops Besuch in Moskau und die im November 1940 in Berlin geführten Gespräche; (c) die Balkanfrage; (d) sowjetisch-polnische Beziehungen Sowjetische Baltische Republiken.“589 585

Der Zeitpunkt des Schreibens koinzidiert wohl nicht von ungefähr mit den am selben Tage beginnenden Vorträgen der Verteidigung. Eröffnet wurde dieser Verfahrensabschnitt mit dem Vortrag des Göring-Verteidigers Dr. Otto Stahmer, Protokoll der Verhandlung v. 8. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 9 ff. 586 Brief v. Jackson an Rudenko und Champetier de Ribes v. 8. März 1946 (Fn. 572), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 394. 587 Schreiben v. Rudenko an Jackson v. 11. März 1945, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 251 = ebd., Bl. 267–268 = ebd., Bl. 467–468 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 36–37 = ebd., Bl. 170, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 214, S. 411–412, engl. Übersetzung bei Lebedeva/ Zorya, International Affairs 1989, No 10, S. 117 (122). Fyfe und de Ribes erhielten am gleichen Tag Kopien des Schreibens, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 265 und ebd., Bl. 366. 588 Siehe oben Fn. 99. 589 Ü. d. Verf., Schreiben v. Rudenko an Jackson v. 11. März 1945 (Fn. 587), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 251.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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b) Praktisches Scheitern sowjetischer Bemühungen zur Unterbindung der Erörterung unerwünschter Themen Die angestrebte konsequente Vermeidung der oben genannten Themen erwies sich in vielen Fällen als nicht durchführbar. Allein in dem vom Verteidiger Dr. Martin Horn durchgeführten Verhör des Angeklagten von Ribbentrop590 wurden die meisten der in der Liste angeführten Fragen thematisch zumindest gestreift.591 Detaillierte Ausführungen zur sowjetischen Außenpolitik präsentierte Ribbentrop am 29. und 30. März 1946.592 Ribbentrop gab Auskunft zu seinem ersten Besuch in Moskau zwischen dem 22. und 24. August 1939, insbesondere zum Abschluss des Nichtangriffspakts am 23. August 1939,593 und führte aus, dass die Festlegung der Interessensphären der UdSSR und Deutschlands in einem Geheimen Zusatzprotokoll594 festgeschrieben worden und eine Demarkations­linie vereinbart worden waren.595 Zur Sprache kam auch der zweite Besuch Ribben­trops in Moskau im September 1939, zu einem Zeitpunkt also, nachdem die sowjetischen 590

Der Vortrag des Verteidigers Martin Horn zum Angeklagten von Ribbentrop begann am 26. März 1946, IMT, Bd. X, S. 107 ff.; der Angeklagte wurde in diesem Rahmen ab dem 28. März 1946 gem. Art. 24 lit. g IMT-Statut als „Angeklagter, der Zeugnis ablegt“ befragt, siehe Protokoll der Verhandlung v. 28. März 1946, IMT, Bd. X, S. 253 ff. 591 Zur sowjetischen Außenpolitik machte von Ribbentrop insbesondere am 30. März 1946 detaillierte Ausführungen, IMT, Bd. X, S. 327 ff. Beispielhaft sei an dieser Stelle schon die Antwort auf die Frage Horns nach dem zweiten Besuch in Moskau im September 1939 angeführt, die schon für sich genommen die meisten Themen anschneidet: „Mein zweiter Besuch in Moskau war notwendig geworden durch die Beendigung des polnischen Feldzugs. Ich flog gegen Ende September nach Moskau und habe dort diesmal einen besonders freundlichen Empfang erfahren. Die Lage war damals so, daß im polnischen Raum klare Verhältnisse geschaffen werden mußten. Sowjettruppen hatten die östlichen Teile Polens besetzt, und bis zur damals vereinbarten Demarkationslinie hatten wir die westlichen Teile besetzt. Es mußte daher hier eine klare Abgrenzung getroffen werden. Ferner lag uns daran, die Beziehungen zu Sowjetrußland noch zu vertiefen und freundschaftlich zu gestalten. Es wurde dann auch in Moskau eine Vereinbarung getroffen, die eine endgültige Linie im polnischen Raum festlegte, und ferner wurde ein Wirtschaftsvertrag in Aussicht genommen, der die wirtschaftlichen Beziehungen auf eine völlig neue Basis stellen sollte. Es wurde ein umfassender Vertrag über den Austausch von Rohstoffen und Rohmaterialien in Aussicht genommen und später dann auch abgeschlossen. Gleichzeitig wurde der Pakt politisch zu einem Freundschaftspakt ausgestaltet, der ja bekannt ist. Es war dann noch eine Frage, die sich um das Gebiet von Litauen handelte. Um das Vertrauensverhältnis zwischen Moskau und Berlin besonders eng zu gestalten, verzichtete der Führer auf den Einfluß auf Litauen und räumte der Sowjetunion in diesem zweiten Vertrage den Einfluß auf Litauen ein, so daß nunmehr auch territorial zwischen Deutschland und der Sowjetunion ganz klare Verhältnisse geschaffen waren.“, IMT, Bd. X, S. 327. 592 Protokoll der Verhandlung v. 29. März 1946, IMT, Bd. X, S. 303 ff., und v. 30. März 1946, ebd., S. 327 ff. 593 Protokoll der Verhandlung v. 29. März 1946, IMT, Bd. X, S. 303 ff. Zum Nichtangriffsvertrag v. 23. August 1939 siehe Fn. 98. 594 Das Geheime Zusatzprotokoll (Fn. 129), abgedr. bei Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 638–639, russ. Fassung ‚Sekretnyj dopolnitel’nyj protokol‘, ebd., S. 640–641.  595 Protokoll der Verhandlung v. 29. März 1946, IMT, Bd. X, S. 303.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Truppen die östlichen Teile Polens und die deutschen Truppen die westlichen Teile besetzt hatten und nunmehr daher „eine Vereinbarung getroffen werden [sollte], die eine endgültige Linie im polnischen Raum festlegte“.596 Dieser Besuch führte zum Abschluss des Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsvertrags und einem weiteren, geheimen Zusatzprotokoll am 28. September 1939, in welchem die im Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 getroffenen Vereinbarungen abgeändert und ergänzt worden waren.597 Zu Molotovs Besuch in Berlin im November 1940, bei dem Verhandlungen unter anderem über die sowjetischen und deutschen Interessen an Finnland und dem Balkan geführt worden waren, sagten die Angeklagten Göring und Ribbentrop ausführlich aus.598 In den von der Zeitung Pravda abgedruckten Bericht der TASS über die Sitzung am 30. März 1946 fanden die die Außenpolitik der UdSSR betreffenden Aussagen Ribbentrops jedoch keinen ­Eingang.599 Das für die sowjetische Seite wohl heikelste Thema, welches von den Angeklagten und der Verteidigung öffentlich zur Erörterung gebracht werden sollte, war der Abschluss und der Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutschsowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939.600 Alfred Seidl, Verteidiger des Angeklagten Heß, brachte ihn in seinem Beweisvortrag601 nicht nur erstmals zur Sprache602, sondern entwickelte die Frage nach den rechtlichen Auswirkungen dieses Geheimabkommens zu einem der Schwerpunkte seiner Verteidigung.603 596

Protokoll der Verhandlung v. 30. März 1946, IMT, Bd. X, S. 327. Deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, unterzeichnet v. Molotov und Ribbentrop am 28. September 1939 in Moskau, RGBl. 1940 II, S. 4–8, abgedr. in: ZaöRV 9 (1939), S. 912–916 = Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 642–643, sowie das Geheime Zusatzprotokoll, ebd., S. 646–647; russ. Fassung des Vertrags ‚Germansko-Sovetskij dogovor o družbe i granice meždu SSSR i Germaniej, ebd., S. 644–645 und Sekretnyj dopolnitel’nyj protokol‘, ebd., S. 648. 598 Protokoll der Verhandlung v. 15.  März 1946, IMT, Bd.  IX, S.  383 f., und v. 30.  März 1946, IMT, Bd. X, S. 329 f. 599 Pravda v. 31. März 1946 (No 77), S. 4. 600 Siehe oben Fn. 594. 601 Seidl begann mit seinem Beweisvortrag am 22. März 1946 (IMT, Bd. IX, S. 763 ff) und beendete diesen am 26. März 1946, IMT, Bd. X, S. 106. Für Seidls persönliche Erinnerungen an diesen Verfahrensabschnitt, siehe Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 100 ff. 602 Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT, Bd. X, S. 14, „[…] Am gleichen Tage, also nur eine Woche vor Ausbruch des Krieges und drei Tage vor dem geplanten Aufmarsch gegen Polen, wurde zwischen diesen beiden Staaten noch ein geheimes Abkommen getroffen. Dieser Geheimvertrag enthält im wesentlichen eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in dem zwischen Deutschland und der Sowjetunion liegenden europäischen Gebiet. […] Deutschland erklärte sich in diesem Geheimdokument an Litauen, Lettland, Estland und Finnland desinteressiert.“ 603 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S.  7. Die Verteidigungsstrategie bestand zum einen in der Erörterung der Rechtsfrage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit der gerichtlichen Verfolgung von führenden Staatsmännern für einen Angriffskrieg. Darüber hinaus stellte nach Angaben Seidls das geheime Zusatzprotokoll „ein[en] zweite[n] Schwerpunkt“ seiner Verteidigung dar. Vgl. hierzu auch Safferling/Graebke, ZStW 123 (2011), S. 47 (56–58). 597

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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aa) Eidesstattliche Versicherung von besonderer Brisanz: Das Affidavit des Botschafters Friedrich Gaus vom 15. März 1945 Die erste Information über die Existenz einer geheimen Zusatzvereinbarung wollte Seidl eigenen Bekundungen zufolge vom Rechtsanwalt Dr. Fröschmann, einem Assistenten des Verteidigers von Ribbentrops604 noch vor Beginn seines Verteidigungsmandats für Rudolf Heß im November 1945 erhalten haben.605 Dieser soll ihm auch den Hinweis auf den langjährigen Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt und im März 1943 zum „Botschafter zur besonderen Verwendung“ ernannten Friedrich Gaus606 gegeben haben, dessen zeugenschaftliche Einvernahme als Begleiter von Ribbentrops im Rahmen der Verhandlungen des Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 in Moskau und Mitverantwortlicher für die Abfassung des Textes der Vertragsurkunde607 Aufschluss über den Inhalt der Vereinbarungen zu bieten versprach. Nachdem die britische Anklage am 7. Februar 1946 das Beweismaterial bezüglich Anklagepunkt 1 und 2 gegen den Angeklagten Heß vorgelegt hatte608, will sich Seidl an dieses Gespräch erinnert und die Idee entwickelt haben, Friedrich Gaus als Zeugen zu nominieren.609 Auf Antrag Seidls wurde Gaus zunächst in einem Internierungslager ausfindig gemacht und Anfang März nach Nürnberg überstellt, wo die erste Vernehmung durch den Verteidiger Seidl stattfand.610 Im Verlauf dieses Gesprächs erklärte Gaus sich bereit, eine eidesstattliche Versicherung über den Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls abzugeben, welche er dem Verteidiger schließlich am 15. März 1946 überreichen konnte.611 In der neunseitigen Erklärung schilderte Gaus ausführlich die aus seiner Sicht relevanten Ereignisse und Umstände, u. a. den politischen Hintergrund der

604

Bis 5. Jan. 1946 war Dr. Fritz Sauter, danach Dr. Martin Horn mit der Verteidigung von Ribbentrop mandatiert, IMT, Bd. I, S. 5. 605 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 88 f. 606 Zur Person Gaus siehe Stuby, Vom „Kronjuristen“ zum „Kronzeugen“ (2008). Zu Gaus’ Funktion im Nürnberger Prozess, ebd., S. 417 ff. 607 Seidl hierzu in der Sitzung v. 25. März 1946: „Er war im Jahre 1937 Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt. Er hat als Begleiter des damaligen deutschen Bevoll­ mächtigten in Moskau mit die Verhandlungen geführt, und er hat sowohl den bereits als Beweisstück vorgelegten Nichtangriffspakt entworfen als auch das Geheimabkommen, dessen Inhalt ich nunmehr dem Gerichtshof als beweiserhebliche Tatsache unterbreiten will.“, Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT Bd. X, S. 15. S. auch Ausführungen von Ribbentrops am 1.  April 1946, Protokoll der Verhandlung v. 1.  April 1946, IMT Bd.  X, S. 353. 608 Protokoll der Verhandlung v. 7. Feb. 1946, IMT, Bd. VII, S. 138–165. 609 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 89. 610 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 89 f. Da der Aufenthaltsort von Gaus zunächst unbekannt war, stellte Seidl unter Angabe eines „völlig unverfängliche[n] Beweisthema[s]“ beim Generalsekretariat des Tribunals einen Antrag, um den Aufenthaltsort des potentiellen Zeugen ausfindig zu machen, ebd., S. 89. 611 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 90. Der Wortlaut der eidesstattlichen Versicherung v. 15. März 1945 ist abgedr. ebd., S. 90–96.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Entstehung des Vertragswerkes612, den Entwurf des Dokuments613 und die in Moskau geführten Verhandlungen im August 1939.614

bb) Überraschungs-Coup der Verteidigung: Andeutungsweise Thematisierung des Geheimen Zusatzprotokolls in der Sitzung am 25. März 1946 Am 22. März 1946 begann Seidl mit seinem Beweisvortrag.615 Die Vorlage der eidesstattlichen Versicherung Gaus’ vom 15. März 1946 als Beweisstück und die Verlesung ihres Inhalts gelang zunächst nicht. In der Verhandlung am 25. März 1946 präsentierte Seidl eine nicht in andere Sprachen übersetzte deutsche Abschrift des Dokuments, die in dem von Seidl zuvor eingereichten Dokumentenkonvolut nicht enthalten war.616 Auf Nachfrage des Gerichts über Einwendungen seitens der Anklagevertreter ergriff Rudenko das Wort und protestierte gegen die Verlesung des Dokuments.617 Seine Beanstandung stützte Rudenko darauf, dass das Beweisstück der Anklage nicht zuvor zur Einsicht überreicht worden und das Dokument demnach gänzlich unbekannt sei: „Der Verteidiger des Angeklagten Heß legt jetzt ein völlig unbekanntes Dokument vor, und im Einklang mit der Verfügung möchte die Anklagebehörde vorher Einsicht in dieses Dokument nehmen. Ich weiß nicht, von welchen Geheimnissen – von welchen geheimen Abkommen – der Verteidiger von Heß spricht, und worauf er seine Behauptung stützt. Ich würde sie zum mindesten als unbegründet kennzeichnen, daher bitte ich das Verlesen dieses Dokuments nicht zuzulassen.“618

Die Versuche Seidls in der Verhandlung vom 25.  März 1946, den Inhalt des Dokuments zusammenfassend darzustellen, scheiterten und endeten mit der Aufforderung des Vorsitzenden, der Anklagebehörde eine Abschrift zukommen zu lassen und die eidesstattliche Versicherung in alle Verhandlungssprachen zu übersetzen.619 Seidl dürfte hierbei durchaus bewusst gewesen sein, dass dieser erste Versuch, das brisante Beweisstück in den Prozess einzuführen, auf entschiedenen sowjetischen Widerstand stoßen und daher im ersten Anlauf zum Scheitern verurteilt sein könnte. Immerhin maß er ihm selbst das Potential bei, „unter Umstän 612 Vgl. Abschnitt II, Ziff. 1 der eidesstattlichen Versicherung v. 15. März 1946, S. 2–3, abgedr. bei Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 91 f. 613 Vgl. Abschnitt II, Ziff. 2 der eidesstattlichen Versicherung v. 15. März 1946, S. 3–5, abgedr. bei Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 91–93. 614 Vgl. Abschnitt II, Ziff. 3 der eidesstattlichen Versicherung v. 15. März 1946, S. 5–7, abgedr. bei Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 93–95. 615 Protokoll der Verhandlung v. 22. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 763 ff. 616 Vgl. hierzu die Nachfragen des Vorsitzenden Lawrence und die Ausführungen Seidls in der Hauptverhandlung, Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT, Bd. IX, S. 14 f. 617 Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT Bd. X, S. 15 f. 618 Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT Bd. X, S. 16. 619 Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT Bd. X, S. 16.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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den den ganzen Gerichtshof aus den Angeln heben“ zu können.620. In seiner 1984 veröffentlichten Dokumentation zum Fall Rudolf Heß schilderte Seidl viele Jahre nach dem Prozess, dass es ihm „auch darauf an[kam], einen Überraschungseffekt zu erzielen, um dieses Dokument nicht von Anfang an in den Mühlen der Anklagevertretung und deren Übersetzungsabteilung versanden zu lassen“.621 Nach seinem seinerzeitigen Kenntnisstand habe das Geheime Zusatzprotokoll mindestens auch Fyfe vorgelegen, so dass er annehmen musste, dass auch der Vorsitzende Lawrence mit dessen Inhalt vertraut war.622 Dagegen habe die Art und Weise von Rudenkos beanstandendem Vortrag623 den Eindruck erweckt, dass ihm das äußerst brisante Dokument wohl tatsächlich unbekannt war: „Man hatte den Eindruck, daß er [Rudenko, d. Verf.] durch die eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus völlig überrascht wurde. Offenbar hat ihn seine Regierung nach Nürnberg geschickt, ohne ihn davon zu unterrichten, daß ein solches geheimes Protokoll tatsächlich existiert und welchen Inhalt es hat. Das gleiche gilt wahrscheinlich auch für den sowjetischen Richter, General Nikichenko. Offenbar hat man auch ihn nach London zu den Verhandlungen entsandt, deren Ergebnis das Abkommen vom 8. August war, ohne ihn von dem Inhalt dieser geheimen Abmachungen in Kenntnis zu setzen. Möglicherweise hätte er dann doch die Einwendungen dagegen erhoben, den Tatbestand des ‚Verbrechens gegen den Frieden‘ in das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 und damit in das Statut für das IMT aufzunehmen.“624

Dass die gesamte sowjetische Delegation, darunter auch Rudenko und Niki­ tčenko, zunächst nichts von der Existenz des geheimen Protokolls gewusst haben könnten, erscheint jedenfalls nicht fernliegend. Rudenko protestierte zwar sowohl in der erwähnten Sitzung am 25. März 1946 als auch bei der nächsten Erwähnung des Geheimen Zusatzprotokolls, nämlich während des Beweisvortrags des Verteidigers Martin Horn zur Anklage gegen von Ribbentrop am 28. März 1946.625 Allerdings wurde der Einwand am 25. März 1946 nicht unmittelbar, sondern erst nach Aufforderung durch das Gericht erhoben.626 Wäre Rudenko der Inhalt des geheimen Zusatzprotokolls und die politische Brisanz der Frage bewusst gewesen, wäre u. U. eine sehr viel zeitnahere und vermutlich auch dezidierte Reaktion zu erwarten gewesen, als sich lediglich auf die schlichte Nichtkenntnis eines geheimen Abkommens der behaupteten Art zu berufen. Die Annahme Seidls, dass Rudenko über das Vorliegen eines Geheimen Zusatzprotokolls tatsächlich nicht in Kenntnis 620

Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 96. Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 110. 622 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 110. 623 Siehe oben Fn. 618. 624 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 110 f. 625 Siehe die Vernehmung der Privatsekretärin des Angeklagten Margarete Blank als Zeugin, Protokoll der Verhandlung v. 28. März 1946, IMT, Bd. X, S. 210–220. In der Vernehmung bestätigte sie auf Nachfrage das Bestehen eines geheimen Zusatzabkommens, ebd., S. 215. In dieser Sitzung widersprach Rudenko der Befragung der Zeugin zu diesem Themenkomplex sowie einer Zulassung der eidesstattlichen Versicherung Gaus’ als Beweisstück, ebd., S. 215, 216. 626 Protokoll der Verhandlung v. 25. März 1946, IMT Bd. X, S. 15. 621

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

gesetzt worden war, sich ihm die Brisanz des Dokuments daher nicht u­ nmittelbar erschloss und er mangels russischer Übersetzung des von Seidl präsentierten Dokuments erst spät reagieren konnte, erscheint in der Gesamtschau daher durchaus plausibel. Hierfür spricht auch der Umstand, dass Ziff. 2 des ausschließlich für interne Zwecke bestimmten Vyšinskij-Verzeichnisses vom 26. November 1946627 lediglich auf den Nichtangriffspakt und die veröffentlichten Zusatzabkommen, nicht jedoch auf das Geheime Zusatzprotokoll Bezug nahm. Die verhältnismäßig späte Reaktion Rudenkos entging auch dem Leiter der sowjetischen Journalistengruppe Charlamov nicht, der für den Zeitraum zwischen dem 1. Februar und 29. März 1946 einen Bericht an den Sekretär des ZK VKP(b) Malenkov verfasste628: „Um unsere Anklage von den anderen abzuspalten, konzentriert die Verteidigung ihre größten Anstrengungen auf die Ereignisse des Jahres 1939 und das polnische Problem. Ihre erste große Diversion endete mit dem bekannten Erfolg. Vor ein paar Tagen ist es einem der Verteidiger gelungen, den wichtigsten Inhalt dieser offensichtlich provokativen Aussagen darzulegen. Unser Hauptankläger begab sich mit seinem Protest erst dann zum Mikro­ phon, als der Vorsitzende des Tribunals Lawrence die Ergüsse des Verteidigers unterbrach und die Anklage um eine Stellungnahme über die getätigten Aussagen bat. Danach lehnte das Gericht unter einem formalen Vorwand vorübergehend die Erörterung der Aussagen von Gaus ab.“629

Ob Nikitčenko von der Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls wusste, bleibt letztlich unklar. Die Annahme Seidls, dass er im Falle eigener Kenntnis als Leiter der sowjetischen Delegation bei den Londoner Verhandlungen der statutarischen Verankerung des Verbrechens gegen den Frieden entgegen getreten wäre, geht jedenfalls in dieser Pauschalität fehl. Die sowjetische Delegation hatte sich zwar den Forderungen nach Aufnahme von Art. 6 lit. a in das Statut im Grundsatz angeschlossen, sich dabei aber (zunächst) entschieden gegen die Aufnahme einer allgemein formulierten Definition des Angriffskriegs ausgesprochen.630 Diese ablehnende Position ist in der Literatur zum Teil mit der Furcht der Sowjetführung vor der Anwendung dieser oder vergleichbar gefasster Normen auf ihre eigene Politik begründet worden.631 Ein solcher Erklärungsansatz ist jedenfalls keineswegs zwingend. Denn die sowjetische Verweigerungshaltung gegenüber der namentlich von amerikanischer betriebenen Aufnahme einer subsumtionsfähigen und justi­ziablen Definition des Angriffskriegs ist auch vor dem Hintergrund der sowjetischen Prozesskonzeption im Sinne eines a priori auf bestimmte Tätertypen (national­sozialistische Hauptkriegsverbrecher) und bestimmte Taten (Vielzahl der

627

Siehe oben Fn. 99. Charlamov an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112–116. 629 Ü. d. Verf., Charlamov an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (113). 630 Hierzu ausf. Kap. E. IV. 3. a) aa). 631 Bassiouni, Introduction, S. 409; Dawson, N. Y. Sch. J. Int’l & Comp. L. 19 (2000), S. 413 (423); Tusa/Tusa, Nuremberg Trial, S. 81. 628

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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national­sozialistischen Gräueltaten) konkretisierten ad hoc-Verfahrens und entsprechender ad hoc-Normen plausibel begründbar. Dass sich die UdSSR ungeachtet eigener Angriffskriege vor und nach 1945 auf dem internationalen Parkett mit dem Ziel einer völkerrechtlichen Formulierung einer allgemeingültigen Definition der Aggression engagiert hat, wurde bereits in Kapitel E aufgezeigt.632 ­Einiges spricht daher für die Annahme, dass neben Rudenko auch Nikitčenko über die Existenz eines Geheimen Zusatzprotokolls nicht im Bilde war. cc) Krisenhafte Zuspitzung der Prozessentwicklung aus sowjetischer Perspektive: Teilweise Verlesung des Affidavits und innersowjetische Reaktionen Die nächste Gelegenheit Seidls, das Geheime Zusatzprotokoll in der Hauptverhandlung anzusprechen, bot sich während des Kreuzverhörs des Angeklagten von Ribbentrop am 1. April 1946.633 Seidl erklärte, dass er einen Teil der eidesstattlichen Versicherung von Gaus vorhalten wolle, um im Anschluss hieran ergänzende Fragen an die Aussageperson zu richten.634 Anders als noch in der Verhandlung am 25. März 1946 reagierte der sowjetische Hauptankläger sofort.635 Er erklärte, dass die Fragen des Verteidigers in keinem Zusammenhang mit den von Seidl verteidigten Angeklagten stünden, dass er dem Inhalt „gar keine Bedeutung zumesse“ und wies darauf hin, dass das Gericht nicht Fragen über die „Politik der verbündeten Staaten“ erörtern, sondern „die konkreten Anschuldigungen gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher“ zu behandeln habe.636 In der Sache bezog er sich auf Art. 18 lit. b IMT-Statut, als er das Gericht aufforderte, Fragen der in Rede stehenden Art als nicht sachdienlich zurückzuweisen.637 Nach einer kurzen Beratung des Gerichtshofs erteilte der Vorsitzende Lawrence Seidl die Erlaubnis, die angekündigten Fragen zu formulieren. Seidl verlas sodann Ziffer III des ­Affidavits, der die Entstehungsumstände und den Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls offenlegte.638 Die ergänzenden Fragen Seidls zum Themenkomplex Nichtangriffspakt und Zusatzprotokoll beantwortete Ribbentrop ohne weitere Unterbre-

632

Hierzu ausf. Kap. E. IV. 3. a) aa) (4). Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 353–360. 634 Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 353. 635 Diesen Moment beschreibt die sowjetische Übersetzerin Stupnikova wie folgt: „Während der Gerichtsverhandlung verlas Seidl die Präambel des Geheimprotokolls zum Nichtangriffspakt und bat Ribbentrop, die Richtigkeit des Dokuments zu bestätigen. Ribbentrop hatte noch keine Antwort gegeben, da erhob sich Roman Rudenko vom Tisch der sowjetischen Anklage und lief schnellen Schrittes Richtung Rednerpult, von wo aus die Vertretung der Verteidigung und Anklage sprachen“, zit. nach Andres/Behr (Hrsg.), Stupnikova, Die Wahrheit, S.  122; russ. Orginalfassung Stupnikova, Ničego krome pravdy, S. 96. 636 Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 353–354. 637 Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 354. 638 Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 354–355. 633

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

chung durch die sowjetische Anklage. Seidls Befragung endete schließlich mit der offiziellen Einreichung der eidesstattlichen Erklärung von Gaus als ­„Beweisstück Nummer 16 für Rudolf Heß“.639 Angesichts der politischen Sprengkraft dieser Erklärungen vermag kaum zu verwundern, dass die Zeitung Pravda, die im Übrigen lückenlos über alle Sitzungen berichtete, den Bericht über die Vormittagssitzung am 1. April 1946 in ihrer Prozessberichterstattung ohne Angabe von Gründen insgesamt aussparte.640 Aus Sicht eines sowjetischen Beobachters – des bereits erwähnten Leiters der Gruppe sowjetischer Journalisten Charlamov – spitzte sich die Situation in dieser Phase des Verfahrens für die sowjetische Anklage in bedrohlichem Maße zu. Die sowjetische Anklage sei blind für den Ernst der Lage und habe wiederholt verkannt, dass sie auf den Rückhalt durch die anderen Anklageteams nicht (mehr) zählen könne und immer mehr in die Isolation abgedrängt zu werden drohe. In dem oben erwähnten Bericht Charlamovs an den Sekretär des ZK VKP(b) M ­ alenkov, der die ausdrückliche Zustimmung Molotovs fand641, führte dieser aus: „Die Ereignisse der letzten Wochen haben die Atmosphäre beim Nürnberger Prozess etwas verändert und die Situation des sowjetischen Teils der Anklage und des Tribunals verkompliziert. Auf der ersten Etappe des Prozesses, als es um die Vorlage des Anklagematerials ging, sind alle vier Teile der Anklage im Allgemeinen geschlossen aufgetreten. Dieser Umstand bildet die Ursache für die bereits bekannte Unterschätzung der Schwierigkeiten im aktuellen Stadium des Prozesses. Hauptankläger Gen. Rudenko hat mehrfach erklärt, dass er und Fyfe zueinander ein ‚ehrliches Verhältnis‘ hätten, da er seinerzeit die Anklageschrift unterschrieben hatte, ohne die englische Fassung gelesen zu haben642 , weswegen er auch im Falle von Angriffen der Verteidigung berechtigt sei, mit einer Unterstützung durch Fyfe zu rechnen. Andere Mitglieder der Anklage, namentlich Pokrovskij, Zorja, Šejnin und Berater Trajnin, nahmen an, dass das Wichtigste damit bereits erledigt ist und trugen sich bereits mit Planungen, Nürnberg wieder zu verlassen. Wie zu erwarten war, fing die Situation an, sich mit dem Beginn der neuen Etappe  – Vorlage des Materials durch die Verteidigung – allmählich zu ändern. An die Stelle der ursprünglichen ‚Einigkeit‘ ist ­zunehmend 639

Protokoll der Verhandlung vom 1. April 1946, IMT, Bd. X, S. 360. Der letzte Verhandlungsbericht der TASS betraf die Nachmittagssitzung des 30. März 1946, Pravda v. 30.  März 1946 (No  77), S.  4. In der Pravda v. 1.  April 1946 (No  78), findet sich überhaupt kein Verhandlungsbericht des IMT. Abgedruckt waren jedoch in dieser Ausgabe das Stenogramm einer öffentl. Vorlesung vom 29. März 1946 von A. Leont’ev, „Proischoždenie i charakter vtoroj morovoj vojny“ (Urspung und Charakter des Zweiten Weltkriegs), Pravda v. 1. April 1946 (No 78), S. 3, und ein Artikel von Prof. A. Trajnin, „Zaščita, ee ­svideteli i dokumenty“ (Die Verteidigung, ihre Zeugen und Dokumente), Pravda v. 1. April 1946 (No 78), S. 4. Die nächste Ausgabe (No 79) erschien am 3. April 1946 und berichtete über die Nachmittagssitzung v. 1. April sowie die Vormittagssitzung v. 2. April 1946, Pravda v. 3. April 1942 (No 79), S. 4. 641 Vgl. den handschriftlichen Vermerk Molotovs v. 5. April 1946 auf dem Schreiben Aleksan­ drovs (Fn. 48) Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (350, Fn. b). Für die Wiedergabe des genauen Wortlauts seines Vermerks siehe unten Fn. 652. 642 Vgl. Kap. F. III. 1. 640

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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eine Isolation der sowjetischen Anklagedelegation getreten. Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, nämlich den Ausschluss von Fragen über München aus dem Prozess, unterstützen die Amerikaner und die Briten mittlerweile nurmehr dem Anschein nach unsere Anklage in Bezug auf die Ereignisse des Jahres 1939, die immer öfter zum Erörterungsobjekt im Gerichtssaal werden. Es ist eine Situation entstanden, in der die Anklage, ohne die Spaltung in den Reihen der Verteidigung erreicht zu haben, nunmehr selbst die Schläge der letzteren einstecken muss und sich mit der Tatsache einer fehlenden einheitlichen Linie konfrontiert sieht.“643

Aus Charlamovs Sicht setzte die Verteidigung ihrerseits nunmehr alles daran, die Anklage zu spalten. Ihre prozessuale Taktik stellte sich seiner Auffassung nach wie folgt dar: „Dabei verfolgt die Verteidigung die folgende Verhaltenslinie: sie ignoriert die Beweise der französischen Anklage gänzlich, schmeichelt unverdeckt den Amerikanern und den Briten, in Bezug auf welche sie sich nur bei unbedeutenden Verbrechen verteidigt und führt scharfe Angriffe gegen die Dokumente der sowjetischen Anklage, mit dem Ziel, die wichtigsten Aussagen und Dokumente zu schmähen.“644

Den Leistungen der sowjetischen Anklage begegnete Charlamov mit vehementer Kritik. Insbesondere nahm er Anstoß an dem wenig entschlossenen Vorgehen gegen die seitens der Verteidigung vorgetragenen Gegenangriffe: „Bei dieser zugespitzten Situation im Gericht hätten unsere Anklage und unser Teil des Tribunals eine außerordentliche Beweglichkeit unter Beweis stellen, gekonnt und energisch die Angriffe der Verteidigung parieren und die wachsende Gefahr der Isolation und Absonderung verhindern müssen. Aber die Dinge entwickeln sich etwas anders. Schon während des Beweisvortrags unserer Anklage, welche im Allgemeinen solide und überzeugend verlaufen ist, haben sich manche Unebenheiten abgezeichnet. Erst in dieser Prozessetappe jedoch treten diese Versäumnisse offen zu Tage und schwächen die Kraft der von sowjetischer Seite vorgelegten Beweise. Der Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen die Verteidigung und ihre Angriffe hängt nunmehr häufig davon ab, wie schnell unsere Anklage auf die Angriffe der Verteidigung reagiert und wie überzeugend und gewichtig sie ihre Erklärungen argumentativ untermauert.“645

Charlamov stellte ferner fest, dass sich die Situation der sowjetischen Delegation seit der Abreise des stellvertretenden Vorsitzenden der Nürnberger Kommission Goršenin, stark zu ihren Ungunsten entwickelt habe. Die sowjetische Anklage reagiere seit diesem Zeitpunkt nicht mehr adäquat auf die gegen sie geführten Angriffe und argumentiere nicht in ausreichender Form. Diesen Vorwurf belegt Charlamov anhand folgender Beobachtungen:

643 Ü. d. Verf., Bericht Charlamovs an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (112). 644 Ü. d. Verf., Bericht Charlamovs an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (113). 645 Ü. d. Verf., Bericht Charlamovs an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (114).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

„Hier sind einige Fakten, die sich anhand des gesamten Prozessstenogramms überprüfen lassen. I. Unsere Anklage hatte zu spät auf den Angriff des Verteidigers Sauckel646 reagiert und zugelassen, dass dieser den Inhalt der bezeichneten provokativen Aussagen von Gaus wiedergeben konnte und somit der reaktionären ausländischen Presse Nahrung gegeben. Unsere Anklage hat es nicht vermocht, sich in dieser Frage (Ereignisse im Jahr 1939) der notwendigen Unterstützung seitens der anderen Ankläger zu versichern, obwohl in diesen Fragen ein vorheriges gegenseitiges gentlement’s agreement geschlossen worden war […] 6. Unsere Anklage reagiert nicht auf die von allen Verteidigern vorgetragene Version, wonach erst die militärische Aufrüstung unseres Landes Deutschland gezwungen haben soll, militärisch aufzurüsten, dass der Abschluss des franko-sowjetischen Pakts Deutschland zum Bruch des Locarno-Pakts gezwungen habe und dass unsere ‚Anstiftung‘ die Deutschen gezwungen haben soll, im Frühling 1941 in Jugoslawien einzumarschieren.“647

Charlamov verlieh abschließend noch einmal seiner Einschätzung Ausdruck, dass die Abreise Goršenins die sowjetische Anklage spürbar geschwächt habe und seine fernere Anwesenheit während des Prozesses dringend geboten erscheine. Darüber hinaus sei die Anwesenheit eines oder zweier rechtlicher Berater vor Ort von Nöten, die auch mit dem ausländischen Recht vertraut seien. In diesem Zusammenhang brachte er auch seine Verwunderung über die Abwesenheit von Aron Trajnin zum Ausdruck: „Es ist völlig unverständlich, aus welchem Grund man die Abreise des einzigen dort verfügbaren Beraters in diesen Fragen – Prof. Trajnin – aus Nürnberg autorisiert hat.“648

Aleksandrov, der den Bericht Charlamovs an Malenkov am 3. April 1946 übermittelte, schloss sich dessen Ausführungen und Vorschlägen sämtlich an. In seiner dem Bericht beigefügten Erklärung heißt es u. a.: „Das Fehlen hinreichend kompetenten Personals innerhalb der sowjetischen Anklage, das imstande wäre, je nach Prozesslage umgehend zu entscheiden, führt zu für die UdSSR nachteiligen Ergebnissen und erlaubt es der Verteidigung, die sowjetische Anklage und deren Dokumente zum Objekt ihrer Angriffe zu machen.“649

Er riet daher dazu, (1)  „Gen. Goršenin anzuweisen, zwecks Übernahme der­ unmittelbaren Leitung der sowjetischen Anklage beim Prozess nach Nürnberg zurückzukehren“, (2) „Prof. Trajnin umgehend nach Nürnberg zu entsenden, um die sowjetische Anklage in Rechtsfragen zu beraten“ und (3) „Einen qualifizier 646

Im gesamten Bericht Charlamovs ist vom Verteidiger Sauckel die Rede, obschon der­ Sache nach – wie insbesondere die betreffenden prozessualen Situationen belegen – einzig der Verteidiger Seidl gemeint sein kann. 647 Ü. d. Verf., Bericht Charlamovs an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (114–115, 116). 648 Ü. d. Verf., Bericht Charlamovs an Malenkov (Fn. 48), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 112 (116). 649 Schreiben Aleksandrovs an Malenkov v. 3. April 1946 (Fn. 48), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (350–351).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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ten Mitarbeiter des Außenministeriums als politischen Berater zum Prozeß abzukommandieren“.650 Am 4. April 1946 leitete Malenkov beide Berichte mit der Bitte um Kenntnisnahme an Molotov weiter.651 Molotov legte die Sache nunmehr Vyšinskij mit dem Vermerk vor, dass er Charlamov im Wesentlichen zustimme und dass er die unverzügliche Umsetzung von Aleksandrovs Vorschlägen für notwendig halte.652 Auf Weisung Vyšinskijs fand sich der sich in Berlin befindliche Semenov am 9. April 1946 in Nürnberg ein und verblieb dort bis zum 17. April 1946.653 Auch begab sich infolge der alarmierenden Berichte Charlamovs und Aleksandrovs der stellvertretender Leiter der Nürnberger Kommission Goršenin zurück nach Nürnberg.654 Nach seiner Rückkehr nach Berlin berichtete Semenov am 20. April 1946 nach Moskau, dass er und Goršenin „Maßnahmen vorbereitet [hätten], um die Arbeit unserer am Prozeß beteiligten Mitarbeiter zu verbessern und die Prozeßdauer möglichst zu verkürzen“.655 Seitens der Verteidigung seien weitere Angriffsversuche gegen die UdSSR nicht ausgeschlossen, da das Tribunal sich bei der Bestimmung der Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens der Verteidigung gegenüber „verhältnismäßig wohlwollend“ geriere.656 Allerdings hielten laut Semenovs Bericht sowohl er selbst als auch Goršenin die „dauernde Anwesenheit eines Vertreters des MID in Nürnberg“ für überflüssig.657 Ein hin und wieder stattfindender Besuch jeweils nach Bedarf erscheine vollkommen ausreichend. Semenov vereinbarte mit Goršenin die Übersendung des stenografischen Sitzungsprotokolls zwecks „Orientierung und für eine kurze Information des MID über außen­ politische Fragen“.658

650

Schreiben Aleksandrovs an Malenkov v. 3. April 1946 (Fn. 48), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (351). 651 Vgl. den handschriftlichen Vermerk Malenkovs v. 4. April 1946 auf dem Schreiben von Aleksandrov (Fn. 48), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (351). 652 Vgl. den handschriftlichen Vermerk Molotovs v. 5. April 1946 auf dem Schreiben Aleksandrovs (Fn. 48): „Gen. Vyšinskij. Gen. Charlamov hat im Wesentlichen Recht. Die Vorschläge des Gen. Aleksandrov sollten meiner Ansicht nach sofort umgesetzt werden. V.­ Molotov 5. IV.“, zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 102, S. 350 (350, Fn. b). 653 Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109. 654 Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109. 655 Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, S. 717, Anm. 321. 656 Ü. d. Verf., Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109. 657 Ü. d. Verf., Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109. 658 Ü. d. Verf., Bericht Semenovs an Vyšinskij v. 20. April 1965 (Fn. 50), AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 8, Bl. 109.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

dd) Alliierte Indiskretionen und ein unkonventioneller Verständigungsversuch zwischen Verteidigung und sowjetischer Anklage Beim Abfassen ihrer alarmierenden Berichte Anfang April dürften Charlamov und Aleksandrov noch in Unkenntnis darüber gewesen sein, dass der britischen Anklage längst eine Abschrift der geheimen Zusatzprotokolle zum Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 vorlag659 und dass diese Dokumente während der Verhandlungspause am 1. April 1946 auch in die Hände des Verteidigers Seidl gelangt waren.660 Seidl beschrieb diese unerwartete Begebenheit im Jahr 1984 mit folgenden Worten: „Ich saß während einer Beratungspause des Gerichtshofes allein auf einer Bank im Vorraum des Gerichtssaales. Plötzlich näherte sich mir ein etwa 35 Jahre alter Mann und setzte sich neben mich auf die Bank. Er begann ein Gespräch mit folgenden Worten: ‚Herr Dr. Seidl, wir verfolgen mit großem Interesse Ihre Versuche, das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 als Beweismittel in den Prozess einzuführen.‘ Gleichzeitig übergab er mir einen nicht verschlossenen Umschlag, in dem zwei Schriftstücke enthalten waren. Ich entnahm die beiden Schriftstücke und begann zu lesen. Als damit fertig war, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, da sich mein Gesprächspartner inzwischen wieder entfernt hatte.“661

Es handelte sich hierbei zwar nicht um Fotokopien der Originaldokumente, aber um mit Schreibmaschine verfasste Abschriften, die – wie sich nachträglich herausgestellt hatte – den Wortlaut der oben genannten geheimen Zusatzprotokolle zutreffend wiedergaben.662 Darüber, wer dem Verteidiger die Dokumente auf diese unerwartete Weise zugespielt hatte, war Seidl nach eigenen Bekundungen auch viele Jahre später noch im Unklaren. Aus seiner Sicht sprach jedoch vieles dafür, dass sie „von amerikanischer Seite zugespielt wurden, und zwar entweder von der Anklagevertretung der Vereinigten Staaten oder aber von deren Geheimdienst“.663 In Anbetracht der Vermutung, dass ihn die amerikanische Anklage mit dem brisanten Dokument versorgt haben könnte, erscheint die von Charlamov oben zitierte Einschätzung über die zunehmende Isolation der sowjetischen Anklage und der Oberflächlichkeit der verbleibenden gegenseitigen Unterstützung664 jedenfalls nicht abwegig. Seidl brachte am nächsten Tag auch in Erfahrung, dass die Briten über das Dokument längst verfügten. Als er nämlich an diesem Tag die Schriftstücke während einer Sitzungspause im Gerichtssaal Fyfe vorhielt, antwortete die 659

Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 174; zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag v. 28. September 1939 und dem Geheimen Zusatzprotokoll oben Fn. 597. 660 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 170 ff. 661 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 170. 662 Für die an Seidl überreichte Fassung der Dokumente, siehe Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 170–173; vgl. auch die bei Lipinsky abgedruckten Kopien der Dokumente, oben Fn. 98 129. 663 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 173. 664 Hierzu bereits oben S. 482.

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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ser, dass die britische Delegation sich im Besitz gleichlautender Texte befände.665 Fyfe war es auch, der ihm geraten haben soll, sich an Rudenko zu wenden, um einen Weg zu finden, die geheimen Zusatzprotokolle „ohne weitere Auseinandersetzung“ als Beweismittel in den Prozess einzuführen.666 Dass der Verteidiger Seidl in der Folgezeit tatsächlich den ihm angeratenen unkonventionellen Versuch unternahm, mit den Vertretern der sowjetischen Anklage über die Einführung dieser Dokumente ins Gespräch zu gelangen, wird nicht nur durch dessen im Jahr 1984 veröffentliche Erinnerungen zum Prozessgeschehen nahegelegt, entsprechende Bemühungen Seidls werden vielmehr auch durch sowjetische Archivquellen bezeugt. Nach Seidls Schilderungen begab sich dieser zum Zwecke entsprechender Abstimmungen in die Diensträume der sowjetischen Anklage, wo er Hauptankläger Rudenko jedoch nicht antraf.667 Er sprach stattdessen bei Hilfsankläger Zorja vor, der während des Beweisvortrags der Anklage im Februar 1946 für den Abschnitt zum Angriff gegen die Sowjetunion verantwortlich gewesen war.668 Zorja hat sich nach Darstellung Seidls des Anliegens auf weitere Gespräche indes nicht einlassen wollen, nachdem Seidl ihm sein Ansinnen eröffnet hatte.669 In den sowjetischen Dokumenten zum Nürnberger Prozess finden entsprechende – erfolglose – „Versuche Seidls, mit unserem Ankläger zu sprechen“, in einem Schreiben an Vyšinskij vom 7. Mai 1946 ausdrückliche Erwähnung, dem – diesem Schreiben zufolge – darüber am 13. und 17. April berichtet worden ist.670 Aufgrund der kategorischen Verweigerungshaltung der sowjetischen Delegation kam eine Verständigung über die Art und Weise einer beiderseits interessenwahrenden Einführung der Indiskretionen in den Prozess zwischen Seidl und der sowjetischen Anklage in der Folgezeit nicht zustande. ee) Das zweite Affidavit des Friedrich Gaus: Erinnerungsbasierte Rekonstruktion des Urkundeninhalts als Beweissurrogat? Um die ihm zugespielten Texte als Beweisstück in die Verhandlung einbringen zu können, bemühte sich Seidl vielmehr um eine Bestätigung, dass der ihm verfügbare Text mit dem Original übereinstimme. Zu diesem Zweck legte er den 665

Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 174. Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 174. Siehe hier auch Seidls Erklärungs­versuche für diesen aus seiner Sicht ungewöhnlichen Vorschlag von Fyfe. 667 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 175. 668 Der Abschnitt wurde zwischen dem 11. und dem 13. Feb. 1946 behandelt, IMT, Bd. VII, S. 274–282, 292–309, 337–381. 669 Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 175. 670 Ü. d. Verf., Schreiben Kapitanovs an Vyšinskij am 7. Mai 1946, AVP RF, f. 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121–124 (hier Bl. 122). Das Dokument gibt im Wesentlichen einen Bericht von Goršenin wieder, den dieser mangels einer direkten abhörsicheren Leitung zwischen Nürnberg und Moskau nicht unmittelbar an Vyšinskij übermitteln konnte und daher stets das­ Sowjetpersonal in Berlin einbinden musste. 666

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

Text Friedrich Gaus erneut vor, der die inhaltliche Übereinstimmung mit dem Original durch eine zweite eidesstattliche Versicherung am 11. April 1946 bestätigte.671 Am 13. April 1946 stellte Seidl sodann einen schriftlichen Beweisantrag, gerichtet auf die Zulassung eines Dokumentennachtrags als Beweisstück Rudolf Heß Nummer 17.672 Der Dokumentennachtrag bestand aus Kopien (1) des dem Tribunal bereits vorliegenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939673, den die Anklagevertretung bereits als Beweisstück GB-145 vorgelegt hatte, (2) des Geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939674, (3) des deutsch-sowjetischen Freundschafts- und Grenzvertrages vom 28. September 1939675, (4) des Geheimen Zusatzprotokolls zum letzterwähnten Vertrag676 und (5)  die eidesstattliche Versicherung von Gaus vom 11.  April 1946.677 Die Abschriften der Geheimen Zusatzprotokolle waren jeweils mit einem von Gaus handschriftlich unterschriebenen Sichtvermerk versehen, wonach diesem der Inhalt der Dokumente zugänglich gemacht und vollständig verlesen worden sei. Am Ende des jeweiligen Dokuments befand sich noch ein von Seidl handschriftlich unterzeichneter Bestätigungsvermerk, mit dem die Übereinstimmung der Kopien mit den Gaus vorgelegten und von diesem unterschriebenen Dokumenten versichert wurde. Die solcherart beglaubigten Dokumente wurden dem Übersetzungsbüro in sechsfacher Ausfertigung vorgelegt.678 Für den Fall, dass das Gericht die eidesstattliche Versicherung für nicht ausreichend erachten würde, stellte Seidl am 15. April 1946 hilfsweise den Antrag auf Ladung von Friedlich Gaus als Zeugen und Beibringung des Originals.679 Rudenko legte dem Tribunal seinerseits eine Stellungnahme, gerichtet auf die Ab­ usatzanträgen befasste sich das lehnung der Gesuche Seidls, vor.680 Mit Seidls Z Gericht in der Verhandlung vom 17. April 1946 und beschloss, die Angelegenheit einer Prüfung zu unterziehen.681

671

Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 176–178. Siehe Seidls Ausführungen in der Verhandlung vom 17.  April 1946, IMT, Bd.  XI, S. 659. 673 Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken v. 23. Aug. 1939 (Fn. 98), RGBl. 1939 II, S. 968–969. 674 Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt v. 23. Aug. 1939 (Fn. 129), abgedr. bei Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 638–639 (dt.) u. S. 640–641(russ.). 675 Deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag v. 28.  Sept. 1939 (Fn.  597), RGBl. 1940 II, S. 4–8. 676 Geheimes Zusatzprotokoll zum Deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag v. 28. Sept. 1939 (Fn. 597), Lipinsky, Zusatzprotokoll, S. 646–647. 677 Für die deutsche Fassung der eidesstattlichen Versicherung von Gaus v. 11. April 1946 siehe Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 176–178. 678 Protokoll der Verhandlung v. 17. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 659; Seidl, Der Fall Rudolf Hess 1941–1987, S. 178. 679 Protokoll der Verhandlung v. 17. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 660. 680 Vgl. Bezugnahme Pokrowskijs, Protokoll der Verhandlung v. 17. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 658. 681 Protokoll der Verhandlung v. 17. April 1946, IMT, Bd. XI, S. 657–660. 672

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Erst am 7. Mai 1946 erstatte Goršenin darüber Bericht, dass die sowjetische Anklage und Nikitčenko sowie die übrigen Richter und Ankläger diese Dokumente erhalten hätten.682 Die Lektüre des Berichts dokumentiert das nunmehr verstärkt einsetzende Bemühen der sowjetischen Vertretung, Argumente zu entwickeln, mittels derer die Ablehnung der Beweisanträge Seidls erreicht werden könnte. Goršenin brachte unter anderem den Vorschlag ins Spiel, man könne sich vor dem Tribunal darauf berufen, dass die Texte „keinerlei juristische Kraft“ besäßen, da sie am 11. April 1946 „von irgendeiner Person verfasst und Gaus vorgelesen worden waren“, welcher dann die Richtigkeit des Textes „nach seiner Erinnerung“ bestätigte.683 Zum Erinnerungsvermögen von Gaus sei zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass dem Tribunal bereits ein Antrag des Verteidiger des Angeklagten von Ribbentrop zur Entscheidung vorliege, in dem dieses darum ersucht worden sei, Gaus als Zeugen abzulösen, da dieser unter einem schwachen Gedächtnis leide und die Ereignisse nicht mehr zutreffend beleuchten könne.684 Das Wichtigste sei jedoch, dass die vom Tribunal gewählte Vorgehensweise nicht anerkannt werden könne.685 Hinsichtlich der Qualität der in den Händen Seidls befindlichen Dokumente nahm die sowjetische Seite an, dass Seidl entweder über keine beglaubigte Kopie verfüge und mit den von Gaus abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen lediglich den Versuch unternehme, seinen Aussagen den Charakter eines Dokuments zu verleihen oder dass Seidl befürchtete, dass er nach der Herkunft des Dokuments gefragt werden würde und Angst davor habe, „diejenigen, die durch Seidl handeln, zu verraten“ und deswegen zu dieser Methode gegriffen hatte.686 Das Vertrauen in die Möglichkeit, die Zulassung der Beweisanträge Seidls noch zu verhindern, hatte zu diesem Zeitpunkt indes bereits unverkennbare Risse erlitten. In dem Bericht vom 7. Mai 1946 kündigte Goršenin zwar an, gegen die Zulassung der Dokumente entschieden protestieren und alles dafür unternehmen zu wollen, dass der Antrag abgelehnt werde. Gleichzeitig verwies er jedoch auf die „Position der Richter“ und bat um dringende Erteilung von Direktiven für den Fall, dass die Dokumente Seidls ungeachtet des sowjetischen Protests als Beweis zugelassen werden würden.687 682

Goršenin berichtete zunächst an das sowjetische Personal Berlin, da eine direkte Leitung zwischen Nürnberg und Moskau noch nicht eingrichtet war. Kapitanov leitete die aus Nürnberg kommenden Informationen an Vyšinskij weiter, Schreiben Kapitanovs an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (121). 683 Kapitanov an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (121). 684 Kapitanov an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (121–122). 685 Kapitanov an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (122). 686 Kapitanov an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (122). 687 Schreiben Kapitanovs an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (122).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

ff) Die Entscheidung des Tribunals über den Beweisantrag Seidls: Etappensieg der sowjetischen Anklage Am 11.  Mai 1946 beriet das Tribunal in geschlossener Sitzung über die Beweisanträge Seidls.688 Nikitčenko und Volčkov bemühten sich, die übrigen Richter davon zu überzeugen, dass die von Seidl vorgelegten Beweise nicht zugelassen werden dürften. Ihr Argument, der behauptete Inhalt der Protokolle sei für das Verfahren ohne Belang, mochten die anderen Richter indes nicht gelten lassen. De Vabres und Lawrence verwiesen auf das Ergebnis der zurückliegenden Sitzung des Tribunals, in der bereits entschieden worden war, dass die Dokumente nicht als für den Fall irrelevant zu qualifizieren seien.689 Nikitčenko und Volčkov brachten sämtliche Argumente vor, die Goršenin schon im Schreiben an Vyšinskij vom 7. Mai 1946 entwickelt hatte.690 Sie beriefen sich namentlich darauf, dass das Dokument keine juristische Wirksamkeit beanspruchen könne und dass das Gericht ein Beweisstück, dessen einzige Grundlage die nicht fixierte Erinnerung eines Menschen darstelle, nicht als Urkunde annehmen dürfe. Auch wies Nikitčenko auf das angeblich eingetrübte Gedächtnis von Gaus hin.691 Lordrichter Lawrence räumte ein, dass es sich lediglich um eine Abschrift handele, deren Richtigkeit Gaus eidesstattlich versichert habe, und dass eine Überprüfung auf Übereinstimmung der Abschrift mit dem nicht vorgelegten Original nicht möglich sei. Allerdings sah Lawrence „überhaupt keinen Grund“, die Dokumente wegen der nach seiner Erinnerung rekonstruierenden Angaben von Gaus als Beweis abzulehnen. De Vabres und Lawrence erinnerten an den bereits geführten Meinungsaustausch über die Erheblichkeit der Dokumente i. S. d. Art. 18 lit. b IMT-Statut und die Entscheidung der Richter, den Vortrag Seidls nicht als irrelevant abzulehnen. Das Gericht habe die Entscheidung über die Zulässigkeit der Dokumente als Beweismittel lediglich bis zur Vorlage der Dokumente vertagt und könne sich jetzt nicht im Widerspruch zur früheren Entscheidung setzen, indem es die Dokumente als unerheblich qualifiziere.692 De Vabres führte zusätzlich an, dass ein Teil des in den Dokumenten verbrieften Inhalts ohnehin im Reichsgesetzblatt verkündet worden sei. Die Richter seien daher erst recht verpflichtet, sie als Beweismittel zuzulassen.693 Der Argumentation des amerikanischen Richters Parker zufolge würde eine 688 Arbeitsaufzeichnung der geschlossenen Sitzung des Internationalen Militärgerichtshofs v. 11. Mai 1946, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2625, Bl. 177–180, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442–445. 689 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (443, 444). 690 Schreiben Kapitanovs an Vyšinskij am 7. Mai 1946 (Fn. 670), AVP RF, 07, op. 13, p. 41, d. 9, Bl. 121 (121). 691 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (443, 444). 692 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (443,444). 693 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (443).

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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Ablehnung der Anträge den Argwohn der öffentlichen Meinung erregen. Aus diesem Grund sei es ratsam, die Beweismittel zuzulassen und zu veröffentlichen.694 Biddle forderte sogar, die sowjetische Anklage solle die Originale der geheimen Protokolle, „die der Verteidigung nicht vorliegen, über die aber die sowjetische­ Regierung verfüg[e]“, beibringen.695 Bei der Abstimmung stimmten alle sechs westlichen Richter für die Zulassung der Dokumente, Nikitčenko und Volčkov stimmten dagegen.696 Nach der Abstimmung wurde die Besprechung noch fortgesetzt, und Nikitčenko gelang es, den Vorsitzenden Richter Lawrence davon zu überzeugen, dass das Tribunal den Verteidiger Seidl verpflichten solle, das ihm vorliegende Originaldokument vorzulegen. Der Beschluss wurde am 13.  Mai 1946 erneut geprüft und die Zulassung der von Seidl vorgelegten Dokumente abgelehnt697, soweit anhand dieser auf Grundlage der bloßen Erinnerungen des Botschafters Gaus Beweis über den Inhalt zweier nicht im Original vorliegender Geheimer Zusatzprotokolle erbracht werden sollte. Für zulässig erachtet wurde der Beweisantritt demgegenüber in Bezug auf die beiden im Reichsgesetzblatt verkündeten und damit ohnehin allgemeinkundigen (vgl. Art. 21 IMT-Statut) völkerrechtlichen Verträge.698 Auch die Einführung der verschriftlichten Bekundungen von Gaus im Wege eines weiteren Affidavits wurde gestattet. Dass das Tribunal mit der Ablehnung der Beweisangebote hinsichtlich der beiden Geheimen Zusatzprotokolle seine erst kurz zuvor gefasste Entscheidung im Kern in ihr Gegenteil verkehrte, dürfte dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass die Unmöglichkeit der Vorlegung eines Originals oder zumindest einer Ablichtung – und keiner bloßen Abschrift – durch den Verteidiger Seidl für die Mitglieder des Tribunals immer offener zu Tage gelegen haben dürfte und der Beweisantritt in seiner konkreten Gestalt daher ersichtlich zum Scheitern verurteilt schien. Am 14. Mai 1946 gab das Tribunal die Entscheidung in öffentlicher Verhandlungssitzung bekannt: „Das nächste war ein Gesuch für den Angeklagten Heß um fünf Dokumente. Der Gerichtshof entscheidet hierüber: Zwei dieser Dokumente, die in Dr. Seidls Gesuch unter B und D angeführt sind, sind bereits im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden. Eines dieser Dokumente liegt bereits als Beweisstück vor. Sie werden daher zugelassen. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die in Dr. Seidls Gesuch unter C und E angeführten Dokumente nicht genügend sind und keinen Beweiswert haben. Da es aus Dr. Seidls Antrag und den darin enthaltenen Ausführungen nicht hervorgeht, daß die angeblichen Abschriften 694

Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (444). 695 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (443, 444). 696 Arbeitsaufzeichnung v. 11. Mai 1946 (Fn. 688), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 235, S. 442 (444). 697 Handschriftlicher Vermerk auf dem Memorandum von Mitchell an das Tribunal über die Zusatzanträge, GARF, f. R-7445, op. 1, d. 2619, Bl. 19–25, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 236, S. 445–449. 698 Vgl. die Nachw. in Fn. 673 und 675.

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

wirklich Abschriften von Originaldokumenten sind, wird dieser Teil des Gesuches abgewiesen. Dr. Seidl erhält jedoch Erlaubnis, ein weiteres Affidavit von Gaus zu unterbreiten, worin dieser das wiedergibt, was seiner Erinnerung nach in den angeblichen Abkommen stand.“699

Das ansonsten das Prozessgeschehen jedes einzelnen Verhandlungstages minutiös abbildende zentrale Nachrichtenorgan Pravda stellte in seiner Ausgabe vom 15. Mai 1946 ohne weitere Spezifizierung des Beweisthemas und der angebotenen Beweismittel lediglich fest, dass der Vorsitzende Lawrence nach einer kurzen Unterbrechung „die Entscheidung zu den Anträgen der Verteidigung zur Ladung von Zeugen und zur Vorlage von Dokumenten“ bekanntgegeben habe.700 gg) Vergebliche Bemühungen um eine gemeinsame Strategie zur Abwehr der „subversiven Taktik“ der Verteidigung Auf Grundlage der oben genannten Entscheidung legte Seidl erneut ein Affidavit von Gaus vor701 und stellte zwei neue Beweisanträge – am 23. Mai 1946 auf Überprüfung der Entscheidung und am 24. Mai 1946 auf Ladung des Botschafters Gaus als Zeugen.702 Der Inhalt der Zusatzprotokolle wurde in der Folgezeit wiederholt aufgegriffen, ohne dass die sowjetische Anklage mit ihrem Protest durchgedrungen wäre. Der Inhalt der Vereinbarungen wurde etwa während der Vernehmung von Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker am 21. Mai 1946 thematisiert703, der den Inhalt und die Tragweite des „sehr einschneidende[n] und sehr weitgreifende[n] geheime[n] Zusatzabkommen[s]“704 beschrieb705, und in der Vernehmung des Angeklagten Jodl durch seinen Verteidiger Dr. Exner am 5. Juni 1946.706 Rudenko 699

Protokoll der Verhandlung v. 14. Mai 1946, IMT, Bd. XIII, S. 565 f. Ü. d. Verf., Pravda v. 15. Mai 1946 (No 114), S. 4. 701 Eidesstattliche Versicherung v. 17. Mai 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 81–84, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  238, S.  450–455. Die Erklärung gab unter Ziff. II neben der Feststellung, dass Alfred Seidl dem Unterzeichneten am 8. April 1946 ein Schriftstück, das als Abschrift des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag v. 23. August 1939 und ein Schriftstück, das als Abschrift des geheimen deutsch-sowjetischen Zusatzprotokolls v. 28.  September 1939 bezeichnet war, zur Einsicht vorgelegt hatte, den vollständigen Wortlaut der beiden Geheimen Zusatzprotokolle wieder. 702 Siehe die Gerichtsentscheidung am 8. Juni 1946, Protokoll der Verhandlung, IMT, Bd. XV, S. 625 f. 703 Protokoll der Verhandlung v. 21. Mai 1946, IMT, Bd. XIV, S. 308 ff.; für das Kreuzverhör durch Seidl siehe ebd., S. 315–318. 704 Protokoll der Verhandlung v. 21. Mai 1946, IMT, Bd. XIV, S. 317. 705 Über die Aussagen von Weizsäckers berichtete die TASS in Ausgabe der Pravda am 23. Mai 1946 wie folgt: „In den Gerichtssaal wird ein neuer Zeuge in der Sache Raeder eingeführt – Ernst Weizsäcker, der am Anfang des Krieges Staatssekretär im Außenministerium war. Er wird von Rechtsanwalt Siemers und Seidl befragt. Die von Seidl gestellten Fragen­ lösen Proteste der sowjetischen und amerikanischen Anklage aus. Das Tribunal lässt die Fragen jedoch zu“, Ü. d. Verf., Pravda v. 23. Mai 1946 (No 121), S. 4. 706 Protokoll der Verhandlung v. 21. Mai 1946, IMT, Bd. XV, S. 410–411. 700

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

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unternahm in der Sitzung des Anklägerkomitees vom 30. Mai 1946 noch einen Versuch, die Ankläger zu einem gemeinsamen Auftreten gegen die „subversive Taktik“ der Verteidigung zu bewegen, die sich zum Beispiel in den Anträgen Seidls oder aber im Antrag auf Zulassung einer eidesstattlichen Versicherung von Arnolf Rechberg707 manifestiert habe.708 Nachdem sich Rudenko der grundsätzlichen Zustimmung aller Ankläger in dieser Angelegenheit versichert hatte, kam man dahin überein, dass Rudenko ein entsprechendes Memorandum an das Tribunal vorbereiten sollte.709 Der entsprechend ausgearbeitete endgültige Entwurf, den der sowjetische Hauptankläger am 5. Juni 1946 Jackson, Fyfe und Dubost zukommen ließ, war im typisch sowjetischen Duktus formuliert und gab die in Bezug auf die Anträge bereits eingeführten Argumente wieder710: „The Prosecution considers it its duty to call to the attention of the Court to the fact that in the course of the trial the defense counsel is deviating more and more from the line of individual defense, endeavoring to substitute instead statements in defense of German-fascism and its criminals structures. This tendency is most clearly seen where analyzing documents and applications submitted by the defense counsel. Another fact which bears witness to this is the preliminary inter­ rogation of witnesses for criminal organization by Tribunal commissioners. In many instances the statements made by the defense have no probative value whatsoever and are usually of a very tendentious nature, compiled from doubtful sources. This ‚evidence‘ is used by Counsel only for provocative attacks on the union of the freedom-loving peoples which completely defeated Hitlerite Germany.

707 Der Verteidiger der Organisation SA, Georg Böhm, unternahm anhand der Aussagen von Arnolf Rechberg, die er schließlich am 22. August 1946 in Form eines Affidavits bei Gericht vorlegte, u. a. den Versuch, Unstimmigkeiten in der SA aufzuzeigen, um so den Vorwurf, die Organisation sei ein einheitliches Ganzes gewesen, zu widerlegen. Risikopotential barg der Inhalt von Rechbergs Affidavit aus sowjetischer Perspektive u. a. deswegen, weil darin auch davon die Rede war, dass „sehr wohl in der SA eine Uneinheitlichkeit bestanden hat, indem nämlich die nationalsozialistischen Kampforganisationen der SA und der SS bewußt von Moskau aus, von moskautreuen Elementen durchsetzt worden seien und daß diese Durchsetzung bereits vor dem Juli 1930 begonnen hat, daß bis Juli 1932 bereits 24000 Kommunisten, davon ein Teil auf Weisung Moskaus, in die SA übergewechselt seien. Es wird weiter davon gesprochen, daß diese Durchsetzung auch nach der Machtübernahme noch angehalten habe.“ Siehe Protokoll der Sitzung v. 22. Aug. 1946, IMT, XXI, 475–476. 708 Protokoll der Sitzung des Anklägerkomitees v. 30. Mai 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 18–20 (hier 19), abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465–466 (hier 466). 709 Protokoll d. Sitzung des Anklägerkomitees v. 30. Mai 1946 (Fn. 708), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 246, S. 465 (466). 710 Schreiben Rudenkos an Jackson, Fyfe und Dubost v. 5. Juni 1946, inkl. Entwurf des Memorandums an das Tribunal, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 14–17. Für den ersten Entwurf v. 1. Juni 1946, siehe GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 9–10 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 404, Bl. 78–79 = GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 123–124, für die engl. Fassung siehe ebd., Bl. 11–12. „It is impossible to overestimate how even a partial success of those attempts of the defense would contradict the Statute of the Tribunal and how such  a distortion of court procedure would impair the objective investigation of the court.“, ebd., Bl. 11 (11).

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G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

In example following concrete facts may be cited: […] 4. To this category of actions should be referred Dr. Seidls submitting of various ‚copies of secret agreements‘. These ‚copies‘ were rejected by the Tribunal for well understood reasons. In this definite case attentions should be called to the submitting of documents known to be false (,copies without originals‘ where the ‚copy‘ is certified by a participant in the crimes committed by the defendant) and to the line of action pursued by the Defense. Application that judicial notice be taken of ‚evidence‘ and the ‚evidence‘ itself are entirely irrelevant to the cases both Hess and Frank whom Dr. Seidl represents. This is merely a provocative method of defense having as its aim above all distracting the attention of the Court from determining the personal guilt of the defendants and attempting to substitute as its object of investigation the action of the States by whose this Tribunal was created for the trial of the major war criminals. It is needless to mention here how it would contradict the Statute of the Tribunal and harm the objective trend of court proceeding if such distortions of legal procedure were permitted through allowing even partial success of the attempts of the Defense. On the other hand the action of the Defense Cousel is based on the hope of meeting with resonance on pro-Hitler circles. This is supported by the fact that Dr. Seidl has been distributing rejected documents to representatives of the press.“711

In dieser Sache blieb Rudenko indes die erhoffte Unterstützung von Seiten der übrigen Ankläger versagt. Jackson teilte den Hauptanklägern am 7. Juni 1946 mit, dass er mit allem, was der sowjetische Hauptankläger angeführt hatte, vollständig einverstanden sei, dass er aber an der Notwendigkeit zweifle, ein Memorandum entsprechenden Inhalts an das Tribunal zu übermitteln.712 Jackson argumentierte unter anderem damit, dass die Auftritte derjenigen Angeklagten, die den Hitlerismus am hartnäckigsten verteidigen würden, bereits abgeschlossen seien.713 Der weitere Gang des Verfahrens sei von Seiten des Gerichts bereits weitgehend determiniert worden, und eine praktikable Handhabe, um zu einer weiteren Prozessbeschleunigung zu gelangen, stünde nicht zu Gebote.714 Bezüglich der politischen Angriffe gegen die alliierten Länder nahm Jackson den Standpunkt ein, dass zwar 711

Schreiben Rudenkos v. 5. Juni 1946 (Fn. 710), GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 14 (15–16). Jackson an Rudenko, Fyfe und Dubost am 7. Juni 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 8, Bl. 121–122, hier Bl. 121, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 248, S. 468–469, hier S. 468. 713 Ziff. 1 des Schreibens Jacksons an Rudenko, Fyfe und Dubost v. 7. Juni 1946 (Fn. 712), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 248, S. 468 (468). Bei den verbliebenen Angeklagten Speer, Fritzsche, von Papen, von Neurath oder Seyss-Inquart sei dies nicht zu erwarten, ebd. 714 Ziff. 2 des Schreibens Jacksons an Rudenko, Fyfe und Dubost v. 7. Juni 1946 (Fn. 712), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 248, S. 468 (468). Jackson betrachtete die Entscheidungen des Tribunals im Fall Görings für beispielhaft, sowohl für die Verteidigung als auch für die Anklage. Er führte aus: „Zu Beginn des Prozesses haben wir oftmals gegen die Länge der Zeit, die man der Verteidigung eingeräumt hatte, protestiert. Offensichtlich hat aber kein einziger Richter unsere Proteste unterstützt. Die Entscheidung des Tribunals, dass der Angeklagte während des Kreuzverhörs in seiner Antwort alle Angaben machen darf, die er für notwendig hält, hat sich als schädlich erwiesen, sowohl für die Kontrolle des Tribunals über den 712

III. Die sowjetische Anklage vor dem IMT

495

ein großer Teil des Prozesses in der Tat eher der Politik der Angeklagten gewidmet sei als ihren Verbrechen. Allerdings obliege es dem Gericht, entsprechenden Fehlentwicklungen entgegen zu wirken. Jeder Versuch der Anklage hingegen, auf das Tribunal in diesem Sinne einzuwirken, sei geeignet, in der öffentlichen Wahrnehmung einen nachteiligen Eindruck zu hinterlassen.715 Daher sei es die bessere Taktik, all dies bis zum Prozessende zu ignorieren, dies insbesondere auch mit Blick auf den Umstand, dass die Anklage nicht einmal „eine von tausend Chancen auf ihrer Seite habe, die Unterstützung des Gerichts zu gewinnen“.716 Fyfe antwortete wenige Tage später, am 10. Juni 1946, indem er sich für Jacksons und damit gegen Rudenkos Vorschlag aussprach, eine gemeinsame Erklärung an das Tribunal zu richten.717 Er schlug stattdessen vor, dass sich jeder Hauptankläger bei Bedarf einzeln an das Tribunal wenden und hierbei das von Rudenko verfasste Memorandum als Grundlage heranziehen möge.718 Zu einer gemeinsamen Erklärung kam es nach diesem Meinungsaustausch nicht mehr. Die Anträge Seidls – die eidesstattliche Versicherung vom 17. Mai 1946, der Antrag auf Neuprüfung der Entscheidung vom 23. Mai 1946 auf und auf Ladung Gaus’ als Zeugen vom 24. Mai 1946719 hatte das Tribunal in der Sitzung vom 8. Juni 1946 abgelehnt.720 Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurden die Geheimen Zusatzprotokolle Jacksons Prognose entsprechend fortan nicht mehr eingehend erörtert. Allerdings ließ es sich der Verteidiger Seidl nicht nehmen, in seinem Schlussvortrag für den Angeklagten Heß am 25. Juli 1946 noch einmal explizit auf diesen Gesichtspunkt zu rekurrieren.721 Die Übereinkunft zwischen den Hauptanklägern dahingehend, die Erörterung zuvor bezeichneter Themen als ‚politische Attacken‘ der Angeklagten oder ihrer Verteidiger gemeinsam abzuwehren, erwies sich für die UdSSR im Ergebnis als wirkungslos. Bei genauer Betrachtung sind alle Themen, die die sowjetische Regierung auf die Liste der ‚Themenverbote‘ für den 26.  November 1946 gesetzt Gang des Verfahrens als auch für die Zeit, die im Ergebnis oftmals sinnlos eingesetzt wird. Uns hat sich keine Möglichkeit geboten, diese Praxis zu ändern, und für gewöhnlich ­konnten wir erst dann Einwände gegen irrelevante Dokumente erheben, wenn sie schon ins Stenogramm gelangt waren“, ebd., Bl. 121–122. 715 Ziff. 5 des Schreibens Jacksons v. 7. Juni 1946 (Fn. 712), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 248, S. 468 (469). 716 Ü. d. Verf., Schreiben Jacksons v. 7. Juni 1946 (Fn. 712), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 248, S. 468 (469). 717 Schreiben v. Fyfe an Jackson, Rudenko und Dubost v. 10. Juni 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 5; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 250, S. 469. 718 Schreiben v. Fyfe v. 10. Juni 1946 (Fn. 717). Seinem Schreiben fügte er den Entwurf eines britischen Memorandums bei, welches entsprechend seinem Vorschlag dem Tribunal unterbreitet werden könnte, GARF, f. R7445, op. 2, d. 6, Bl. 6–8; abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 250, S. 470–472. 719 Hierzu oben S. 492. 720 Protokoll der Verhandlung v. 8. Juni 1946, IMT, Bd. XV, S. 625 f. 721 Protokoll der Verhandlung v. 25. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 405–406.

496

G. Das Hauptverfahren vor dem Tribunal unter sowjetischer Mitwirkung 

hatte, wortreich erörtert worden. Die beharrlichen Anstrengungen des V ­ erteidigers Seidl, die Zulassung einer Abschrift des für das politische Ansehen der UdSSR in höchstem Maße gefährlichen Geheimen Zusatzprotokolls als Beweismittel zu erreichen, waren zwar nicht von Erfolg gekrönt. Das gewünschte Ergebnis vermochte Seidl dennoch zu erreichen, da der Inhalt des Schriftstücks ohnehin mehrfach in ausführlicher Form zur Sprache gebracht worden war, ohne dass die sowjetische Anklage oder die sowjetischen Richter etwas effektiv dagegen hätten setzen können.

IV. Fazit Bei der Gesamtbetrachtung des bisher Gesagten kann für die sowjetische Mitwirkung an der Hauptverhandlung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eine enorme Fehleinschätzung des ‚Gefahrenpotentials‘ bzw. der Kontrollierbarkeit des Prozesses festgestellt werden. Der Beweisvortrag der sowjetischen Anklage im Februar 1946 ging zunächst planmäßig und unkompliziert vonstatten. Zu erwähnen sind an erster Stelle die von der sowjetischen Anklage vorgelegten unzähligen Beweismittel sowie das Filmmaterial über die grausamen Verbrechen auf dem sowjetischen Territorium. Mit der Vernehmung eines der ranghöchsten militärischen deutschen Befehlshaber, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, gelang der sowjetischen Anklage überdies eine prozessuale Sensation. Der sowjetische Vortrag zum Massenmord an Juden verdient besondere Erwähnung, da nur das sowjetische Anklageteam Beweise vorlegte, die „dezidiert und ausschließlich dem Themenkomplex Judenmord“ gewidmet waren.722 Im Kontrast zu anderen Delegationen schreckten die sowjetischen Vertreter auch nicht davor zurück, die Vernehmung von jüdischen Zeugen zu beantragen, die sodann als Überlebende von deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern über die grausame Behandlung von Juden persönlich Zeugnis ablegen konnten. Diese in der Anfangsphase noch unkomplizierte Situation der sowjetischen Anklage änderte sich in drastischer Weise mit dem Abschluss ihres Beweisvortrags im März 1946. Angesichts der Abreise der sowjetischen juristischen und politischen Berater nach Abschluss des sowjetischen Anklagevortrags ist anzunehmen, dass die sowjetische Regierung das Eintreten von risikoreichen bzw. politisch gefährlichen Situationen wohl für weitgehend ausgeschlossen hielt. Ein starkes Indiz dafür bietet auch der Umstand, dass die sowjetische Delegation seit Dezember 1945 ohne unmittelbare Kontrolle durch den Vorsitzenden der Nürnberger Kommission Vyšinskij bzw. seinen Stellvertreter Goršenin auskommen musste und weitgehend auf sich allein gestellt war. Offenbar ging die sowjetische Regierung in Moskau davon aus, dass mit der getroffenen Ausgestaltung des Statuts, insbesondere Art. 18 und 21, und der Verfahrensordnung hinreichende Vorkehrun 722

Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 50.

IV. Fazit

497

gen getroffen worden waren, um den Prozessverlauf in gewünschter Weise unter Kontrolle zu halten. Innerhalb der sowjetischen Struktur waren die Handlungen der sowjetischen Protagonisten in Anklagekomitee und Tribunal stets am gleichen Ziel ausgerichtet und in diesem Sinne synchronisiert. Die damit einhergehende Planbarkeit und Vorhersehbarkeit der prozessrelevanten Handlungen übertrug die sowjetische Seite irrigerweise auf das Verhalten der übrigen Ankläger und Richter, da man sich im Ziel einig glaubte. Die sowjetischen Vertreter gingen zudem offenbar fest davon aus, dass sich alle Delegationen im Falle von sog. politischen ­Attacken gegenseitig beistehen würden. Die Bedeutung der Verteidigerrechte wurde gleichzeitig enorm unterschätzt. Im Verlauf des Prozesses zeichnete sich jedoch schnell ab, dass die Anklageteams nicht immer bedingungslos zusammenhalten würden. Im Fall von Katyn agierte die sowjetische Anklage vollständig isoliert. Etwas anders gestaltete sich die Situation um das Bekanntwerden des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Die Versuche des Verteidigers Seidl, den genauen Wortlaut des Protokolls in der Verhandlung zu verlesen, scheiterten im Ergebnis an der ablehnenden Entscheidung des Tribunals. Die Anklage demonstrierte in diesem Fall zumindest äußerlich Geschlossenheit, als sich Fyfe im Namen aller Ankläger gegen die Vorladung des Botschafters Gaus und gegen die Vorlage seines Affidavits aussprach. Gleichzeitig lehnten die übrigen Hauptankläger den Versuch Rudenkos ab, ein gemeinsames Memorandum gegen das ‚aggressive Vorgehen‘ der Verteidigung an das Tribunal zu richten. Auch wenn die Unterstützung der übrigen alliierten Anklageteams in der Gesamtschau nicht vollständig ausblieb, war es der sowjetischen Seite nicht gelungen, die gewünschte Geschlossenheit auf Seiten der Anklage wie auch der Richter zu erreichen und politisch höchst gefährliche Situationen abzuwenden.

H. „Die Stunde der Abrechnung“: Zur sowjetischen Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

I. Der erste Entwurf von Norman Birkett

Nachdem das Beweisverfahren vor dem Internationalen Militärtribunal zu Ende gegangen war, die Vertreter der Anklage die Abschlussplädoyers gehalten hatten und das Gericht jedem Angeklagten gemäß Artikel 24 lit. j IMT-Statut die Gelegenheit gegeben hatte, eine abschließende Erklärung abzugeben, zog sich das Gericht in der Nachmittagssitzung des 31. August 1946 offiziell zur Urteilsberatung zurück.1 Detaillierte Unterhaltungen über die äußere Struktur und die inhaltliche Ausgestaltung des Verdikts hatte es indes bereits Monate zuvor parallel zu den Sitzungen der Hauptverhandlung gegeben. Der gedankliche Anstoß zu frühzeitigen Konsultationen war vom Vorsitzenden des Tribunals Lordrichter Lawrence bereits am 27. April 1946 durch seine in einer geschlossenen Sitzung des Tribunals abgegebene Erklärung ausgegangen.2 Seine vorläufigen Überlegungen hatten sich zunächst auf zwei Grundanliegen gerichtet: Das Tribunal sollte zu einem möglichst einheitlichen, die Überzeugung aller vier Nationen widerspiegelnden Urteilsspruch gelangen und diesen nach Abschluss der Beweisaufnahme ohne unnötige Verzögerung innerhalb von höchstens sieben Tagen verkünden.3 Weitere offene Fragen wie die nach dem Umfang des Urteils, der Art und Weise der Bezugnahme auf die Statut-Normen, einer Möglichkeit der Arbeitsteilung bei der Formulierung von einzelnen Textteilen u. Ä. wurden ebenfalls thematisiert und eine gemeinsame Erörterung angeregt. Schließlich hatte Lordrichter Lawrence den Vorschlag unterbreitet, in Bezug auf bestimmte, in sieben Punkten zusammengefasste Themen das bereits vorhandene Material zu sammeln und ggf. ergänzende Informationen beizufügen.4

1

Protokoll der Verhandlung v. 31. Aug. 1946, IMT, Bd. XXII, S. 465. Erklärung v. 27.  April 1946, GARF, f. R-7445, op. 1, d.  2618, Bl.  67–70, abgedr. bei­ Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 230, S. 435–437. 3 Erklärung v. 27. April 1946 (Fn. 2), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 230, S. 435 (435 f.). 4 Die Liste umfasste die folgenden Gebiete: „1.  Historischer Überblick über die Machtetablierung der nationalsozialistischen Partei; 2. Historische Ereignisse zwischen 1933 und dem 1. September 1939; 3. Gesetze und Fakten mit Bezug auf den gemeinsamen Plan und die Verschwörung gemäß Anklagepunkt I, mit besonderem Augenmerk auf Angriffskriege; 4. Verbrechen gegen den Frieden gemäß Anklagepunkt II mit Bezug auf Angriffskriege aufgrund von Vertragsverletzungen; 5.  Fragen der Kriegsverbrechen, (a)  Der Umgang mit der­ Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, (b) Die Frage über die Ausfuhr von Zwangs­a rbei­ 2

I. Der erste Entwurf von Norman Birkett

499

Der Beginn der Arbeit an den Entscheidungsgründen Ende April 1946 fiel damit auf einen Zeitpunkt, zu dem wichtige Prozessabschnitte noch nicht zum Abschluss gekommen waren. Als Lawrence den oben erwähnten Vorschlag vom 27. April 19465 unterbreitete, waren zwischen den Anklägern noch keine endgültigen Absprachen über die konkreten Modalitäten des Kreuzverhörs für mehr als die Hälfte der in Nürnberg anwesenden Angeklagten getroffen worden.6 Eine Vielzahl der Zeugen war noch nicht gehört7, ebensowenig die Schlussplädoyers von Verteidigung8 und Anklage9 gehalten worden.10

tern, (c) Die Tötung von Geiseln, (d) Die Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums, (e) Die Zerstörung von Städten und Dörfern ohne bestehende Notwendigkeit; 6. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, (a) Der Umgang mit Juden im Ganzen, (b) Konzentrationslager; 7. Individuelle Verantwortlichkeit der Angeklagten.“, Ü. d. Verf., Erklärung v. 27. April 1946 (Fn. 2), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 230, S. 435 (437). 5 Erklärung v. 27. April 1946 (Fn. 2), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 230, S. 435–437. 6 Den Entwurf einer für das Tribunal bestimmten Übereinkunft für das Kreuzverhör von Funk, Schacht, Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel, Jodl, von Papen, Seyss-Inquart, Speer, von Neurath und Fritzsche erhielten Jackson, Dubost und Rudenko vom britischen Hilfsankläger Phillimore am 30. April 1946, GARF, f. R-7445, op. 2, d. 6, Bl. 63–65 = ebd., Bl. 139–141, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 231, S. 437–439. Das beigefügte Anschreiben nahm Bezug auf die am Tag zuvor getroffene Übereinkunft auf der letzten Sitzung. Die sowjetische Anklage war für das Kreuzverhör des Angeklagten Frizsche und seiner Zeugen verantwortlich. Bis auf die Angeklagten von Papen und Seyss-Inquart übernahm die sowjetische Seite in allen Fällen die Fortsetzung des zuvor von amerikanischer, britischer oder französischer Anklage begonnenen Kreuzverhörs. Zum von der amer. Anklage durchzuführenden Kreuzverhör Seyss-Inquarts ließ Raginskij dem amerikanischen Hauptankläger Jackson am 27. Mai 1946 Fragen „betreffend seine verbrecherische Tätigkeit in Polen als stellvertretender Generalgouverneur“ zukommen, die die Amerikaner in ihr Kreuzverhör einbauen sollten, GARF, f. R7445, op. 2, d. 6, Bl. 245–249, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 245, S. 462–465. 7 Dazu zählen u. a. auch sechs Zeugen zum Anklagevorwurf der Tötung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn, die am 1. und 2. Juli 1946 vernommen wurden, IMT, Bd. XVII, S. 302–407; ausf. hierzu Kap. G. III. 3 a) bb) (3). 8 Den Verfahrensabschnitt nach Art. 18 lit. h IMT-Statut leitete der Verteidiger des Angeklagten Jodl, Prof. Dr. Jahrreiss, am 4. Juli 1946 ein, vgl. Protokoll der Verhandlung v. 4. Juli 1946, IMT, Bd. XVII, S. 499; für eine sowjetische Stellungnahme zu den Verteidigerreden vgl. Trajnin, in: Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 248–252. 9 Die Abschlussplädoyers hielt Robert Jackson für die USA in der Verhandlung v. 26. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 438–481; Hartley Shawcross für Großbritannien in der Sitzung am 26. und 27. Juli 1946, ebd., S. 482–594; Auguste Champetier de Ribes und Charles Dubost für Frankreich am 27. Juli 1946, ebd., S. 595–638, und Roman Rudenko für die UdSSR am 29. Juli 1946, ebd., S. 639–695 und 30. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 7–22; für die russ. Übersetzung der Plädoyers siehe Rekunkov/Lebedeva/Alekseev/Raginskij/Pavliščev (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 294–333 (Jackson), S. 333–429 (Shawcross); S. 430–468 (de Ribes und Dubost) sowie S. 469–524 (Rudenko). 10 Dass sich Birkett und die übrigen Richter der Problematik eines derart frühen Bearbeitungs-/Beratungsbeginns bewusst waren, zeigt sich an der von Birkett ‚angeordneten‘ Verpflichtung zur „größte[n] Verschwiegenheit“ bei der Prüfung und Beratung des ersten Entwurfs, dazu Smith, Jahrhundertprozeß, S. 137 f.

500

H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

Die schriftliche Abfassung des zwischen Ende April und Ende Juni 194611 entstandenen ersten ausführlichen Urteilsentwurfs stammte aus der Feder des Stellvertreters von Lawrence, Norman Birkett12, der im Übrigen die wohl meisten Entscheidungen und schriftlichen Äußerungen des Gerichts formulierte.13 Im Lauf der Bearbeitung dieses Entwurfs holte sich Birkett die Meinungen des Vorsitzenden Lawrence und der amerikanischen Richter Biddle und Parker ein.14 Nach Einarbeitung ihrer Änderungsvorschläge entstand ein acht Seiten umfassendes Grundgerüst, das in allgemeinen Zügen die Form des künftigen Urteils darstellte15, sowie ein detaillierter, 64-seitiger Textentwurf.16 Beide Dokumente Birketts wurden den übrigen Richtern schließlich am 27. Juni 1946 in Verbindung mit einem Begleitvermerk17 überreicht und die Urteilsberatungen damit offiziell aufgenommen.18 Der Vermerk hob u. a. die Notwendigkeit einer absoluten Geheimhaltung im Umgang mit den beigefügten Urteilsentwürfen hervor.19 Das Bekanntwerden irgendwie gearteter Urteilsberatungen würde zu „ernsthaften Missverständnissen“ führen.20 Die einzige Zielsetzung dieser Dokumente bestehe darin, eine „Grundlage für die Beratungen“21 zu schaffen. Alle künftig aufgenommenen Fragen sollten einige knapp formulierte, aber äußerst notwendige Ausführungen enthalten. Die Aufbereitung der Entwürfe in der vorgeschlagenen Form hatte zum Ziel, die Richter in die Lage zu versetzen, sich mit allen für die vorläufigen und späteren Bera­ achen.22 tungen notwendigen Themenkomplexen und Fragen vertraut zu m 11

Pemsel, Hitler, S. 97 ff.; Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 137. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.  137; vgl. auch Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (84). 13 Zum Hintergrund und Ablauf dieser Vorgehensweise vgl. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 135: „Weil alle drei westlichen Richter es ungern sahen, dass die Sowjets im Namen des Gerichts sprachen und daher den Vorschlag ablehnten, die vier ordentlichen Mitglieder des Tribunals sollten abwechselnd als dessen Sprecher fungieren, musste notgedrungen Sir Geoffrey [Lawrence, d. Verf.] als Gerichtsvorsitzender alle schriftlichen Äußerungen des Gerichts vorbereiten. […] Die Richter berieten, man gelangte zu einer Entscheidung, Sir Geoffrey wurde aufgefordert, die Meinung des Gerichts zu formulieren, und die Ausarbeitung der Formulierung wurde dann Birkett aufgegeben.“ 14 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.  137; vgl. auch Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (84). 15 Für eine russ. Übersetzung vgl. Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121–127. 16 Für eine russ. Übersetzung vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128–191. 17 Begleitvermerk zum ersten und zweiten Dokument, für eine russ. Übersetzung vgl. GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 18 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 138 ff. 19 Ziff. 3 (a) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 20 Ü.  d.  Verf., Ziff.  3 (a)  des Begleitvermerks (Fn.  17), GARF, f. 9492, op. 1a, d.  468, Bl. 120. 21 Ü.  d.  Verf., Ziff.  3 (b)  des Begleitvermerks (Fn.  17), GARF, f. 9492, op. 1a, d.  468, Bl. 120. 22 Ü.  d.  Verf., Ziff.  3 (c)  des Begleitvermerks (Fn.  17), GARF, f. 9492, op. 1a, d.  468, Bl. 120. 12

I. Der erste Entwurf von Norman Birkett

501

Eine besondere Bedeutung für die Abfassung der Urteilsgründe kam laut Vermerk vier Fragen zu. Erstens seien die für das Tribunal maßgeblichen Rechts­ normen zu klären, nämlich die Frage, ob man sich auf eine Erklärung, das Tribunal sei an die Normen des Statuts gebunden, beschränken könne oder eine Bezugnahme auf das in das Statut aufgenommene Völkerrecht notwendig sei.23 Zweitens sei darüber zu entscheiden, ob die Angabe eines genauen Datums für die Formulierung eines gemeinsamen Plans zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden zweckmäßig wäre oder ob eine Aussage dahingehend, dass ein solcher Plan am 5. November 193724 oder zu einem anderen Zeitpunkt unabhängig von seiner Entstehung eindeutig bestand, ausreichen würde.25 Drittens müsse darüber befunden werden, ob das Urteil auf den Themenkomplex der Kriegsverbrechen in besonderer Weise eingehen sollte, da er im Bewusstsein der Völker aller Länder einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe.26 Schließlich sei die Frage zu beantworten, welche „Anklageformel“ hinsichtlich der individuellen Schuld oder Unschuld ins Urteil aufgenommen werden solle und ob die Erläuterung von Rechtsvorschriften zu speziellen Fragestellungen (z. B. Repressalien etc.) zweckmäßig sei.27 In der Sitzung vom 27. Juni 1946 erklärte der sowjetische Richter Nikitčenko – ähnlich wie seine Kollegen Lawrence und Biddle – seine grundsätzliche Zustimmung zu den von Birkett verfassten Entwürfen.28 Eine eingehende Prüfung der britischen Dokumente durch die sowjetische Seite fand in der Folgezeit unter Anleitung des vor Ort befindlichen stellvertretenden Vorsitzenden der Nürnberger Kommission, Generalstaatsanwalt der UdSSR Goršenin, in Nürnberg statt.29 Darüber hinaus übersandte Goršenin sie mit dem Vermerk „streng geheim“ und mit der Bitte, die Entwürfe in Moskau durch eine „Gruppe von Genossen“ zu prüfen und zu kommentieren, noch am gleichen Tag an Vyšinskij.30 In Moskau stellte 23

Ziff. 3 (d) (1) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. Am 5.  November 1937 fand in der Reichskanzlei in Berlin eine Besprechung Hitlers mit dem Reichskriegsminister, Reichsminister des Auswärtigen Amtes und den Oberbefehls­ habern des Heeres, der Marine und Luftwaffe statt. In dieser Konferenz, deren Inhalt in der sog. Hoßbach-Niederschrift überliefert ist, formulierte Hitler seine (außen-)politischen Pläne, zu deren Erreichung es „nur den Weg der Gewalt geben“ würde, Wendt, Großdeutschland, S.  191–202.  Das Dokument spielte im Prozess als Beweisstück PS-386 (=  US25) eine herausragende Rolle. Zur Entstehung des Dokuments Bußmann, VfZ (16) 1968, S. 373–384; zu seiner prozessualen Bedeutung und seiner Bewertung durch die IMT-Richter Smith, VfZ (38) 1990, S. 329–336. 25 Ziff. 3 (d) (2) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 26 Ziff. 3 (d) (3) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 27 Ziff. 3 (d) (4) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 28 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 138; Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (84). 29 Schreiben Goršenins an Vyšinskij v. 27. Juni 1946, GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 212, abgedr. bei Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 259, S. 482. 30 Schreiben Goršenins an Vyšinskij v. 27.  Juni 1946 (Fn.  29), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 259, S. 482. 24

502

H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

der Volkskommissar der Justiz, Ryčkov, in Folge eines von Vyšinskij erteilten Eil­ auftrags31 ein Team von sechs Personen zusammen, die mit der Aufgabe betraut worden waren.32

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf Eine ausführliche Stellungnahme zu den von britischer Seite im Begleitvermerk aufgeworfenen Fragen sowie zu den überreichten Entwurfsdokumenten wurde Ryčkov schließlich am 18. Juli 1946 vorgelegt.33 Die Verfasser wiesen jedoch gleich zu Beginn ihrer Ausführungen auf den misslichen Umstand hin, dass ihnen in Bezug auf den Prozessverlauf außer den in sowjetischen Zeitungen erschienenen Publikationen keine anderen Informationsquellen zur Verfügung gestanden hätten und sich dies „zweifellos auf den Charakter der Anmerkungen ausgewirkt“ haben müsste.34 Zunächst gingen sie auf die oben dargestellten, von Birkett als besonders bedeutungsvoll qualifizierten vier Fragen nach den maßgeblichen Rechtsnormen, dem Datum für die Formulierung eines gemeinsamen Plans, den Kriegsverbrechen sowie zur sog. Anklageformel im Zusammenhang mit der individuellen Verantwortlichkeit der Angeklagten ein (Abschnitt I bis IV). Im Anschluss daran entwickelten sie in acht Punkten eigene Fragestellungen bzw. Anmerkungen allgemeiner Art (Abschnitt V bis XII) und präsentierten schließlich eine Aufzählung von redaktionellen Änderungsinitiativen (Abschnitt XIII). 1. Zur „Deklaration über Rechtsfragen“ Hinsichtlich der Frage über die für das Tribunal maßgeblichen Rechtsnormen bzw. die Notwendigkeit einer Bezugnahme auf das allgemeine Völkerrecht stellten sich die sowjetischen Kommentatoren auf den Standpunkt, dass jedenfalls die Abfassung eines eigenen Abschnitts unter dem Titel „Deklaration zu Rechtsfragen“ unzweckmäßig sei, da die Rechte und Kompetenzen des Internationalen Militärtribunals im Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 sowie dem ihm beigefügten Statut geregelt seien.35 Gleichzeitig hielten sie es für ratsam, in der Präambel – ohne gesonderte Überschrift – auf den rechtlichen Kompetenztitel 31 Handschriftliche Resolution Vyšinskijs v. 30. Juni 1946 auf dem Schreiben v. 27. Juni 1946 (Fn. 29), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 259, S. 482. 32 Handschriftliche Resolution Ryčkovs (o. D.) auf dem Schreiben v. 27. Juni 1946 (Fn. 29), Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No  259, S.  482.  Zur den für den Review bestimmten Personen zählten (1)  Durmanov, (2)  Poljanskij, (3)  Gercenzon, (4)  Utevskij, (5)  Bernstejn und (6) Strogovič, ebd. 33 Durmanov, Strogovič, Poljanskij, Levin, Bernstejn und Gercenzon an Ryčkov, 18. Juli 1946, GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109–119. 34 Sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (109). 35 Abschn. I der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (109 f.).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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des Tribunals sowie solche Rechtsprinzipien hinzuweisen, die das Tribunal selbst zur Grundlage des Urteils gemacht hatte. Als Begründung der Zweckmäßigkeit einer solchen Referenz nannten die Autoren des Dokuments den Umstand, dass das Urteil „einen gewissen Einfluss auf das Rechtsbewusstsein der Völker auf der ganzen Welt“ haben werde und ein „Rechtsdokument von prinzipieller Bedeutung [sei], das in Zukunft selbst als Rechtsquelle dienen würde“.36 Der hier ins Auge gefasste, einleitende Textabschnitt sollte u. a. darauf hinweisen, dass die Alliierten im Interesse einer erdrückenden Mehrheit der Völker der Welt und aller Vereinten Nationen handeln werde. Die bei der Urteilsfindung für das Tribunal leitenden, allgemein anerkannten Prinzipien des Völkerrechts sollten hier angeführt werden. Zu diesen zählten z. B. das „Prinzip der Aufrechterhaltung des Friedens und die Verurteilung von Angriffskriegen als Völkerrechtsverbrechen“, die mit der Erklärung über Angriffskriege des Völkerbundrates von 1927 sowie im KelloggBriand-Pakt von 1928 „formelle Anerkennung“ erfahren hätten.37 Als weitere, beispielhaft angeführte Grundsätze führte das Dokument das Prinzip der Einhaltung von internationalen Verträgen und die Verurteilung der Kündigung solcher Verträge auf sowie, mit Referenz auf die Vierte Haager Konvention von 1907 sowie die Genfer Konventionen von 1906 und 1929, das Prinzip des „humanen Umgangs mit Kriegsgefangenen, Kranken, Verletzten und der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten“.38 Schließlich nannten die Kommentatoren die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze zum Schutz von grundlegenden Menschenrechten, die gemäß Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen sowie bereits zuvor im Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs beim Völkerbund als eine Rechtsquelle anerkannt waren.39 Die hier eingebrachten Vorschläge vermochten sich in den späteren Verhandlungen zwar nicht in der gewünschten Form durchzusetzen, wurden jedoch der Sache nach vollständig umgesetzt. Im Einklang mit der sowjetischen Initiative stand der Umstand, dass das Urteil des IMT vom 1. Oktober 1946 keinen eigenständigen und die für das Tribunal maßgeblichen Rechtsnormen umfassend behandelnden Abschnitt enthielt. Auch wies der einleitende Teil zunächst auf das interalliierte Abkommen vom 8. August 1945, den Beitritt anderer Länder nach Art. 5 des IMT-Statuts sowie die Kompetenz des Tribunals hin, auf Grundlage des die Zusammensetzung, die Zuständigkeit und das Verfahren des Gerichtshofs regelnden Statuts alle Personen abzuurteilen, die die im Statut normierten Verbrechenstatbestände erfüllt hatten.40 Die von sowjetischer Seite vorgeschlagenen Referenzen 36

Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (109). 37 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (110). 38 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (110). 39 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (110). 40 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (189).

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

auf ­konkrete internationale Verträge oder allgemeine Rechtsgrundsätze als für das Tribunal verbindliche Rechtsquellen fanden in diesem Urteilsabschnitt jedoch keine Erwähnung. Der den Hauptabschnitten vorgelagerte einführende Urteilstext stellte vielmehr in Anlehnung an den britischen Entwurf41 in knapper Form die wichtigsten prozessualen Schritte und Entwicklungen zwischen der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 bis zum Ende der Hauptverhandlung dar.42 Der Pakt von Paris vom 27. August 1928 (Kellogg-Briand-Pakt) fand allerdings an anderen Stellen Eingang in den Urteilstext des IMT. Im Zusammenhang mit dem Abschnitt über den gemeinsamen Plan zur Verschwörung und zum Angriffskrieg43 wurden die Präambel und die ersten zwei Artikel des Paktes wörtlich in den Urteilstext inkorporiert und die rechtliche Bedeutung sowie die Auswirkungen des internationalen Abkommens für das Urteil aus der Sicht der Nürnberger Richter analysiert.44 Auch die von sowjetischer Seite angesprochene Erklärung des Völkerbundrats über Angriffskriege vom 24. September 1927 fand sich einschließlich einer wörtlichen Wiedergabe der Präambel in der endgültig formulierten Urteilsfassung wieder.45 Ähnliches gilt für die Haager Konvention und die Genfer Konventionen von 1906 und 1929.46 2. Zur Festlegung eines Datums für den gemeinsamen Plan oder die Verschwörung gegen den Frieden Die ausführlichste Kommentierung in der sowjetischen Stellungnahme betrifft die Frage nach der Notwendigkeit der Festlegung eines konkreten Zeitpunktes für die Entstehung einer Verschwörung im Sinne der Anklageschrift (Anklagepunkt eins).47 Dem britischen Entwurf zu Folge war die Festlegung auf ein bestimmtes Datum, das den „Beginn der Verschwörung“ als ihren Entstehungszeitpunkt markiert habe, grundsätzlich nicht erforderlich.48 Vielmehr sollte der Nachweis für 41

Vgl. den mit der Überschrift „Geschichte der Anklage bis zum Beginn der Prozesses im November 1945“ versehenen Abschnitt im britischen Kurzentwurf, Ü. d. Verf., Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf, Fn. 15), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121 (121–125). Hiernach sollte u. a. kurz auf die angeklagten Einzelpersonen und Organisationen, darunter auch die nicht anwesenden Angeklagten Ley, Krupp von Bohlen und Halbach und Bormann eingegangen werden. Auch hätten das ärztliche Attest zum psychischen Gesundheitszustand des Angeklagten Heß, die Rolle der Verteidiger, Zeugen und Urkunden Erwähnung zu finden. Der Abschnitt sollte mit der Einreichung der Einklageschrift und der Eröffnung des Prozesses am 20. November 1945 enden. 42 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (189–191). 43 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (206–253). 44 Vgl. insb. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (245–248). 45 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (248). 46 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (276, 284). 47 Ziff. II der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (110–113). 48 Ü. d. Verf., Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf, Fn. 15), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121 (125); vgl. auch Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (152–153).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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das Vorliegen einer solchen Verschwörung innerhalb eines bestimmten Zeitraums ausreichen. Ein Datum, das aus britischer Sicht für eine diesen Zeitraum markierende Zäsur als geeignet erschien, war gemäß dem am 27. Juni 1945 überreichten Begleitvermerk49 der 5. November 1937.50 Zwar wies der britische Entwurf darauf hin, dass eine Festlegung auf den 5. November 1937 die Straflosigkeit vieler vor diesem Zeitpunkt auf deutschem Territorium begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach sich ziehen würde.51 Dieser Umstand könne jedoch in Anbetracht des Umstands vernachlässigt werden, dass die meisten und schwerwiegendsten derartigen Verbrechen nach dem 5.  November 1937 begangen worden waren, daher nicht wesentlich ins Gewicht fallen würden und die Schuld der Angeklagten nicht schmälern könnten. Nach „einhelliger Meinung“ der sowjetischen Kommentatoren würde der britische Vorschlag den „reaktionären Kräfte auf der ganzen Welt“ Vorteile verschaffen und viele nicht abschätzbare negative Auswirkungen nach sich ziehen.52 Zu solchen nachteiligen Folgen zählten sie z. B. als Kehrseite der Zäsur am 5. November 1937 die „Bewertung der hitlerischen Aggressionspolitik von 1933 bis 1937, die von ihren ersten Tagen zweifellos eine Gefahr für den Frieden darstellte“, als nichtaggressiv.53 Denknotwendig würde dies zur „Möglichkeit der Existenz eines nichtaggressiven Faschismus“ führen.54 Auch würde der deutsche Generalstab für die „fieberhaften Vorbereitungen und Organisation von Angriffskriegen“ in der Zeit vor November 1937 exkulpiert werden. Für die „reaktionären Kräfte“ wäre die Möglichkeit eröffnet, zu propagieren, der Generalstab habe sich lediglich auf einen Verteidigungskrieg vorbereitet.55 Die wichtigsten Industrie- und Finanzgrößen würden sich im Zusammenhang mit der Aggression und den damit verbundenen Verbrechen als unbeteiligt erweisen.56 Schließlich würde zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Pogromen oder der vor dem 5. November 1937 stattgefundenen Errichtung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau lediglich die Bedeutung von „historischen Fakten“ zugeschrieben statt sie als strafbare Verbrechen zu brandmarken.57 In ihrer Gesamtbewertung sprachen 49

Begleitvermerk (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. Vgl. hierzu Fn. 24. 51 Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (152–153). 52 Sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (111). 53 Ziff. II 2 a) der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (111). 54 An dieser Stelle verwiesen die Autoren auf die politische Situation in Spanien und die sowjetische Position im UN-Sicherheitsrat, vgl. Ziff. II 2 b) der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (111). 55 Ziff. II 2 v) der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (111). 56 Ziff. II 2 g) der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (111). 57 Ziff. II 2 d) der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (112). 50

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

die Unterzeichner der sowjetischen Stellungnahme der in der Anklageschrift niedergelegten Konzeption der V ­ erschwörung, die ihren Kern in der NSDAP verortete, ihre Zustimmung aus.58 Sollte sich eine im Sinne der Anklageschrift verstandene Konzeption der Verschwörung als nicht ausreichend dokumentiert erweisen, könne nicht in Abrede gestellt werden, dass ein gemeinsamer Plan bzw. eine Verschwörung seit der Machtergreifung im Jahr 1933 und nicht erst seit 1937 bestanden habe.59 Für diese Annahme konnten aus sowjetischer Sicht genügend überzeugende Beweise angeführt werden. Zum einen verwiesen sie auf Art. 19 IMT-Statut, dem zufolge das Tribunal an Beweisregeln nicht gebunden war und jedes Beweismaterial, das Beweiswert zu haben schien, anwenden sollte.60 Diese Vorschrift mache die Beweisführung durch Vorlage eines Dokuments, das einen konkreten Verschwörungsplan im Jahr 1933 dokumentieren würde, entbehrlich. Als wichtigster Beleg für das Bestehen eines Plans zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden seien die „grandiosen Maßnahmen zur Kriegsvorbereitung im Jahr 1933 und in den folgenden Jahren“ sowie der Umstand anzusehen, dass diese Vorbereitungen „in der Folgezeit der Führung von Angriffskriegen tatsächlich gedient haben“.61 In An­betracht der Militarisierung und der ökonomischen Umstrukturierung Deutschlands sei die Annahme „absurd“, Deutschland habe sich bis 5. November 1937 „fieberhaft auf einen Verteidigungskrieg vorbereitet, obwohl es eindeutig niemand bedrohte“, und habe sich ab dem 5. November 1937 „auf den Weg der Aggression“ begeben.62 Das Parteiprogramm der NSDAP sowie Hitlers „Mein Kampf“ seien als leitende Dokumente der NS-Partei vor und nach 1933 in demselben Maße wie verschiedene Auszüge aus zahlreichen Reden und Dokumenten 58 Anklagepkt. Eins, Abschn. A d. Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (32): „Die Nazi-Partei, zusammen mit einer Anzahl ihrer Unterorganisationen, wurde zum Mittel des Zusammenhaltes unter den Angeklagten und ihrer Mitverschworenen und zum Mittel der Ausführung der Ziele und Zwecke ihrer Verschwörung. Jeder der Angeklagten wurde Mitglied der Nazi-Partei und der Verschwörung, in Kenntnis ihrer Ziele und Zwecke, oder wurde, im Besitz dieser Kenntnis, ein Werkzeug ihrer Ziele und Zwecke in dem einen oder anderen Stadium der Entwicklung der Verschwörung.“ Bereits vor 1933 hätten die „Nazi-Verschwörer“ Versuche unternommen, politische Kontrolle zu erlangen und seien nach dem Scheitern des Münchener Putsches 1923 dazu übergegangen, „durch die NSDAP auf ‚legalem‘ Wege mit Hilfe von Terror die Deutsche Regierung zu untergraben und zu stürzen“, IMT, Bd. I, S. 34. Nach der Machtergreifung am 30.  Januar 1933 gingen die „Nazi-Verschwörer“ dazu über, „ihre Machtstellung in Deutschland zu festigen“ (IMT, Bd. I, S. 34) und waren Mitte 1933 in der Lage, „weitere und mehr ins Einzelne gehende Pläne besonders in außenpolitischer Beziehung zu machen“ (vgl. hierzu Anklagepkt. Eins, Abschn. F, Unterabschn. 1 d. Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29 (38): „Stand der Verschwörung Mitte 1933 und weitere Pläne“). 59 Ziff. II  3 der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (112). 60 Vgl. Art. 19 IMT-Statut, IMT, Bd. I, S. 10 (16). 61 Ü. d. Verf., Ziff. II 3 der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (112). 62 Ziff. II  3 der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (112).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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als Beleg geeignet. Durchzusetzen vermochten sich diese Vorschläge indes nicht. Für den gemeinsamen Plan oder eine Verschwörung im Sinne des Anklagepunktes eins wurde eine Zeitspanne zwischen November 1937 und Mai 1945 festgelegt.63 Hitlers „Mein Kampf“ wurde entgegen dem hier dargestellten Änderungswunsch als Dokument qualifiziert, das keine Richtlinien für eine „starre Politik oder einen unabänderlichen Plan“ enthielt.64 Für die Angriffsplanungen hielt das Tribunal vier Konferenzen für ausschlaggebend, von welchen die erste am 5. November 1937 stattgefunden hatte.65 3. Zur Frage der Bedeutung von Kriegsverbrechen und zum Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Für die Erörterung von Kriegsverbrechen gem. Art. 6 lit. b IMT-Statut sahen die britischen Urteilsentwürfe einen „kleinen Abschnitt“66 vor, der die Punkte Mord und Misshandlung von Kriegsgefangenen (a), Verwaltung der besetzten Gebiete (b), Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung (c), Plünderung des öffentlichen und privaten Eigentums (d), Politik der Zwangsarbeit (e) sowie die Judenverfolgung (f) umfassen sollte. Auf die in Art. 6 lit. c IMT-Statut normierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollte sodann in einem weiteren eigenen Abschnitt ein „sehr kurzer Verweis“ erfolgen.67 Leitend war dabei die Überlegung, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach Kriegsbeginn begangen worden waren, bereits vom Begriff der klassischen Kriegsverbrechen umfasst seien. Für den Zeitraum vor dem 1. September 1939 komme lediglich die Verschwörung als ein der Strafkompetenz des Tribunals unterliegendes Ereignis in Betracht. Damit müssten solche Vorgänge wie die Errichtung von Konzentrationslagern in­ Buchenwald im Jahr 1933 sowie in Dachau im Jahr 1934 als „historische Fakten“ angesehen werden.68 Auf die im Begleitvermerk vom 27. Juni 1946 aufgeworfene Frage, ob das Urteil auf den Themenkomplex der Kriegsverbrechen in besonderer Weise eingehen solle, da er im Bewusstsein der Völker aller Länder einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe69, gab die sowjetische Seite in ihrer Stellungnahme eine entschie­ erspektive im den positive Antwort.70 Kriegsverbrechen sollten aus sowjetischer P 63

Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (206–253); vgl. hierzu Smith, VfZ 38 (1990), S. 329 (329–330). 64 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (209). 65 Zum Themenkomplex Angriffsplanung vgl. Urteil v. 1.  Okt. 1946, IMT, Bd.  I, S.  189 (209–213). 66 Ü. d. Verf., Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf, Fn. 15), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121 (126). 67 Ü. d. Verf., Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf, Fn. 15), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121 (126). 68 Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (191). 69 Ziff. 3 (d) (3) des Begleitvermerks (Fn. 17), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 120. 70 Ziff. III der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (113–114).

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

Urteil einen „überaus bedeutenden Platz einnehmen“.71 Die in den britischen Entwurfsdokumenten enthaltenen Ausführungen zu konkret aufgezählten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit trafen auf starke sowjetische Bedenken. Die Unterzeichner der sowjetischen Stellungnahme waren der Überzeugung, ein Urteil habe nicht nur eine „juristische, sondern in erster Linie eine agitatorisch-politische Bedeutung“ und müsse „auf die moralische Vorstellungen der breiten Massen unmittelbar einwirken“.72 Die Beschreibung von konkreten Gräueltaten sei im Vergleich zur detailreichen Schilderung im historischen Urteilsabschnitt unverhältnismäßig und nehme zu wenig Platz ein. In der endgültigen Fassung legte das Urteil den Schwerpunkt der Entscheidungsgründe zwar auf Anklagepunkt eins und zwei.73 Dass die sowjetische Seite mit diesem Änderungsanliegen dennoch erfolgreich war, lässt sich anhand der richterlichen Ausführungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ­erkennen, die mit 34 Seiten Urteilstext jedenfalls keine untergeordnete Rolle einnehmen.74 Nicht durchsetzen konnte sich dagegen der sowjetische Vorschlag, die richterlichen Ausführungen zu den in osteuropäischen Gebieten und auf sowjetischem Territorium begangenen Verbrechen durch ausdrückliche Bezugnahmen auf offizielle sowjetische Beweisquellen zu ergänzen.75 Aus sowjetischer Sicht sollte für zahlreiche „Fakten der Massenvernichtung von sowjetischen Kriegs­gefangenen und der Zivilbevölkerung“ nicht nur der „Brief Rosenbergs“76 Zeugnis ablegen, sondern auch sowjetische Beweismaterialen, insbesondere die Berichte der ČGK oder Urteile von Militärtribunalen, herangezogen werden. Der Umstand, dass das Tribunal jedoch konkrete Verweise auf Berichte der sowjetischen Beweissammlungskommission oder Entscheidungen von Militärtribunalen an dieser Stelle unterließ, dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass die nichtsowjetischen Richter des IMT vor dem Hintergrund der fragwürdigen Aufarbeitung des Verbrechens von Katyn77 eine Beweiswürdigung und inhaltliche Auseinandersetzung mit den von der sowjetischen Anklage vorgelegten Beweismitteln vermeiden wollten. Durch einen Gesamtverzicht auf die Erwähnung bzw. Erörterung der Ergiebigkeit der unter Art. 21 IMT-Statut fallenden sowjetischen Quellen im Rahmen der Verbrechen nach Art. 6 lit. b und c IMT-Statut konnte das Tribunal dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit aus dem Weg gehen und seine Urteilsgründe auf eine Vielzahl anderer Beweismittel stützen. 71 Ü. d. Verf., Ziff. III der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (113). 72 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (116). 73 Urteilsabschnitt „Der gemeinsame Plan zur Verschwörung und der Angriffskrieg“, Urt. v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (206–253). 74 Urteilsabschnitt „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Urt. v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (253–286). 75 Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (116). 76 Vgl. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (264). 77 Vgl. hierzu Kap. G. III. 3. a) bb) (3).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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Einen weiteren Kritikpunkt stellte nach Ansicht der sowjetischen Kommentatoren eine unzutreffende Abgrenzung zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6 lit. c IMT-Statut) und klassischen Kriegsverbrechen (Art. 6 lit. b IMT-Statut) in den britischen Entwurfsdokumenten dar. Sie hatte zur Folge, dass während des Krieges begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit fast vollständig im Tatbestand der Kriegsverbrechen aufgingen. Mit Verweis auf den Wortlaut von Art.  6  lit.  b und  c IMT-Statut, der u. a. den Mord, die Misshandlung oder Deportation zur Sklavenarbeit von Angehörigen der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zu klassischen Kriegsverbrechen zählte, den Mord, die Aus­rottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen der Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges dagegen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifizierte, bezeichnete das sowjetische Dokument den britischen Urteilsentwurf als „vollkommen falsch“.78 Dass viele Handlungen nicht nur den Tatbestand des Art. 6 lit. b IMT-Statut, sondern auch den des Art.  6 lit.  c IMT-Statut erfüllten, sollte sich aus sowjetischer Sicht wesentlich deutlicher im Urteil widerspiegeln.79 Das sowjetische Änderungsverlangen zur schärferen Konturierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sowie zur Strafbarkeit von vor 1939 begangenen Gräueltaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten sich im Ergebnis zum Teil durchsetzen. In einem besonderen Abschnitt – „Das auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezügliche Recht“80 – nahmen die Nürnberger Richter eine Auslegung von Art. 6 lit. b und c IMT-Statut vor. Zur Frage der vor Kriegsbeginn begangenen Taten beschränkte sich das Gericht entgegen dem sowjetischen Ansinnen auf eine allgemeine Verurteilung der grausamen „Politik des Verfolgung, der Unterdrückung und der Ermordung von Zivilpersonen“81 und lehnte in Folge seiner restriktiven Auslegung die Anwendung von Art.  6 lit.  c IMT-Statut ab: „Um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen, müssen die vor Ausbruch des Krieges begangenen und hier herangezogenen Handlungen in Ausführung eines Angriffskrieges oder in Verbindung mit einem der Zuständigkeit dieses Gerichtshofes unterstellten Verbrechen verübt worden sein. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß, so empörend und entsetzlich viele dieser Verbrechen waren, doch nicht hinreichend nachgewiesen wurde, daß sie in Ausführung eines Angriffskrieges oder in Verbindung mit einem derartigen Verbrechen verübt worden sind. Der Gerichtshof kann deshalb keine allgemeine Erklärung dahingehend abgeben, daß die vor 1939 ausgeführten Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts waren.“82

78 Ü. d. Verf., Ziff. III der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (113). 79 Ziff. III der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (114). 80 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (283–286). 81 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (285). 82 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (285–286).

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

Allerdings stellte das Gericht entsprechend der sowjetischen Forderung ausdrücklich klar, dass seit Kriegsbeginn in großem Umfang Verbrechen begangen worden seien, die gleichzeitig als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden müssten oder aber eigenständige Verbrechen nach Art. 6 lit. b bzw. c IMT-Statut darstellten.83 Die Behandlung der Verbrechen nach Art. 6 lit. b und c IMT-Statut in lediglich einem statt zwei eigenständigen Abschnitten im endgültigen Urteilstext ist u. U. auch auf sowjetischen Einfluss zurückzuführen.84 Während die britischen Entwürfe noch für beide Anklagepunkte eigenständige Abschnitte vorsahen, schlug N. Bernštejn in der sowjetischen Stellungnahme vor, beide Verbrechenskategorien in einem Punkt mit dem Titel „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ zusammenzufassen.85 Er begründete dies mit dem Hinweis darauf, dass die überwiegende Anzahl der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Krieges begangen und vom Begriff der klassischen Kriegsverbrechen umfasst seien, sodass ein eigenständiger Urteilsabschnitt zu Verbrechen nach Art. 6 lit. c IMT-Statut zwangsläufig als „blass“ erscheinen würde.86 Da gerade dieser Abschnitt jedoch die „größte agitatorisch-politische Bedeutung für die breiten Massen“ hätte, sei die Zusammen­legung mit der Kategorie der klassischen Kriegsverbrechen ratsam.87 Anlass zu klarstellender Änderung bot nach Ansicht der Autoren der sowjetischen Stellungnahme auch die unzutreffende Beurteilung des Besatzungsregimes in den östlichen Gebieten sowie die falsche Benennung seiner Hauptziele, namentlich „Massenvernichtung der Bevölkerung sowie Versklavung und Zwangsarbeit“.88 Wie die richterlichen Ausführungen im Abschnitt „Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung“89 der endgültigen Urteilsfassung zeigen, konnte die sowjetische Seite ihre Forderung nach ausdrücklicher Benennung dieser Ziele erfolgreich umsetzen: „Die erwähnten an der Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen sind entsetzlich genug, und doch zeigt das Beweismaterial, daß jedenfalls im Osten die Massenmorde und Greueltaten nicht nur zu dem Zwecke begangen wurden, um Opposition oder Widerstand gegen 83

Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (286): „Aber seit Beginn des Krieges im Jahr 1939 sind Kriegsverbrechen in großem Umfang begangen worden, die auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren; und soweit die in der Anklage zur Last gelegten unmenschlichen Handlungen, die nach Kriegsbeginn begangen wurden, keine Kriegsverbrechen darstellen, wurden sie doch alle in Ausführung eines Angriffskrieges oder im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg begangen und stellen deshalb Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.“ 84 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (253–286). 85 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (119). 86 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (119). 87 Ü. d. Verf., sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (119). 88 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117). 89 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (260–267).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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über den deutschen Besatzungstruppen zu brechen. In Polen und in der Sowjetunion waren diese Verbrechen Teil eines Planes, der darauf zielte, die ganze einheimische Bevölkerung durch Austreibung und Vernichtung zu beseitigen, um ihr Gebiet von den Deutschen für Siedlungszwecke verwenden zu können.“90

Deutlicher Kritik waren ferner die britischen Ausführungen zur Funktion der Konzentrationslager im nationalsozialistischen System ausgesetzt. Zwar sei in durchaus zutreffender Weise auf eine der zahlreichen Funktionen der Konzentrationslager, nämlich die „Liquidation von oppositionellen Gruppen“91, hingewiesen worden. Der Hauptzweck dieser Lager bestehe jedoch in der massenhaften Vernichtung der Bevölkerung. Die Qualifizierung der Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka als Zwangsarbeitslager sei daher „völlig falsch“.92 Dass dieser Kritikpunkt eine wesentliche Anpassung des endgültigen Urteilstextes zur Folge hatte, demonstrieren die der sowjetischen Beurteilung angepassten Feststellungen zu Ausschwitz und Treblinka: „Alle Arbeitsfähigen wurden als Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern verwendet; alle arbeitsunfähigen Personen wurden in Gaskammern vernichtet und ihre Leichen verbrannt. Bestimmte Konzentrationslager, wie Treblinka und Auschwitz, wurden für diesen Hauptzweck bestimmt.“93

Nicht von Erfolg gekrönt war dagegen das sowjetische Änderungsanliegen zu den als zu milde empfundenen Beschreibungen der Arbeitsbedingungen für die in Deutschland eingesetzten Zwangsarbeiter.94 Die in der sowjetischen Stellungnahme kritisierten Passagen finden sich im endgültigen Urteilstext weitgehend unverändert wieder.95 Wirkung hatte die sowjetische Kritik allerdings im Zusammenhang mit dem Themenkomplex „Plünderung des öffentlichen und privaten Eigentums“.96 Das „System der Raubes in den östlichen Ländern“ sei in den briti 90 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (265). Zum Themenkomplex Zwangsarbeit vgl. ebd., S. 266 sowie S. 272–277. 91 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117); vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (177). Das Urteil v. 1. Okt. 1946 enthält hierzu die folgende Formulierung: „Die Verwaltung der besetzten Gebiete benutzte die Konzentrationslager zur Vernichtung aller ­Oppositionsgruppen“, IMT, Bd. I, S. 189 (262). 92 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117). 93 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (282). 94 Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117); vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (183). 95 Hierzu zählen folgende, als zu harmlos empfundenen Sätze: „Theoretisch wenigstens wurden die Arbeiter bezahlt, untergebracht und verpflegt und sogar ermächtigt, ihre Ersparnisse zu transferieren, und Post und Pakete nach Hause zu schicken.“ sowie „[D]ie Ernährung war sehr oft weniger als das notwendige Minimum dessen, was den Arbeitern die Kraft zur Erfüllung ihrer Aufgaben gewährte“, Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (275, 276). 96 Für die endgültige Fassung vgl. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (267–272).

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

schen Entwürfen auf die Ausfuhr von Landwirtschaftserzeugnissen beschränkt.97 An dieser Stelle müsse eine „prinzipielle Charakteristik des Raubes und Plünderung der besetzten sowjetischen Territorien“ und das dabei verfolgte Ziel der „Vernichtung der gesamten Wirtschaft und Kultur“ klar herausgearbeitet werden.98 Die Endfassung des Urteils bringt die systematische Ausplünderung von Museen, Bibliotheken, die Beschlagnahme von Kunstschätzen und anderen „kulturell und historisch wertvolle[n] Gegenstände[n], die Eigentum der Bevölkerung der Sowjetunion waren“, zahlreich zum Ausdruck.99 4. Weitere Anmerkungen und Kritikpunkte Außer auf die dargestellten, an den im Begleitvermerk zu den britischen Entwurfsdokumenten aufgeworfenen Fragen orientierten Ausführungen gingen die Unterzeichner der sowjetischen Stellungnahme auf einige allgemein klärungs­ bedürftige Punkte ein und gaben den dem Justizminister Ryčkov zahlreiche Änderungsvorschläge an die Hand. So wurde z. B. die Frage aufgeworfen, ob man die deutsche Annexion von Österreich und der Tschechoslowakei als Angriffskriege und damit als Verbrechen nach Art. 6 lit. a IMT-Statut bewerten solle, obwohl die Anklageschrift beide Vorgänge als Belege für eine Verschwörung behandelte.100 Den britischen Entwürfen zu Folge sollten Österreich und die Tschechoslowakei, obwohl beide laut Anklageschrift nicht zu Ländern zählten, gegen welche Angriffskriege geführt wurden, ausführlich im Urteilsabschnitt zum gemeinsamen Plan und Verschwörung behandelt werden.101 Nach der im sowjetischen Dokument überlieferten Auffassung war allerdings die Qualifikation dieser „Aggres­ sionshandlungen“ als Angriffskriege i. S. v. Art.  6 lit.  a IMT-Statut möglich, da dies die „Anklageformel im Vergleich zur Anklageschrift inhaltlich nicht wesentlich verändern würde“.102 Dieses Anliegen ließ sich im Ergebnis nicht umsetzen. Die Endfassung des Urteils qualifiziert den Einfall in Österreich und die Besetzung von Böhmen und Mähren durch die deutschen Truppen als „Besitzergreifung“103, nicht dagegen als Angriffskrieg.104 97 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117); vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (180). 98 Ü. d. Verf., Ziff. IX der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117). 99 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (267–272, hier 271). 100 Ziff. V der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (114). Vgl. Anklagepkt. Eins, Abschn. F, Unterabschn. 3 der Anklageschrift v. 6. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 29 (38–41). 101 Vgl. Dok. Nr. 1 (Kurzentwurf, Fn. 15), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 121 (125). 102 Ü. d. Verf., Ziff. V der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 103 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (213, 216). 104 Vgl. dagegen den Abschnitt zum Überfall auf Polen, Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (220–228).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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Im Abschnitt über den Angriff auf die Sowjetunion bemängelten die sowjetischen Kommentatoren eine „von Grund auf falsche“ Charakterisierung der deutschen Angriffsmotive. Als Hauptmotivation habe der Gedanke gedient, die UdSSR sei „die mächtigste Kraft“ und stelle „das stärkste aller Hindernisse auf dem Weg Hitler-Deutschlands zur Weltherrschaft“ dar.105 Aus sowjetischer Perspektive hatte der britische Entwurf lediglich untergeordnete Ziele wie die politische und militärische Zerstörung der UdSSR zwecks Ausdehnung nach Osten oder die Versorgung der deutschen Armee auf sowjetische Kosten aufgeführt.106 Im Ergebnis blieb dem Versuch, Hitlers vermeintliche Hauptmotivation in den Urteilstext aufzunehmen, der Erfolg versagt. Die kritisierten Textpassagen fanden Eingang in die endgültig veröffentlichte Fassung des Urteilstextes.107 Einen weiteren wesentlichen Kritikpunkt bildeten auch die Ausführungen zu der aus sowjetischer Hinsicht in den britischen Entwürfen weitgehend außer Acht gelassenen Rassentheorie. Auf dieser „Grundlage der nationalsozialistischen Ide­ ologie“ sei die „Vernichtung und die Versklavung der sog. ‚niederen Rassen‘“108 durch die Nationalsozialisten – in erster Linie der Slawen und der Juden – begründet. Kernanliegen der sowjetischen Kritik war es, die Rassentheorie als einen festen Teil der „Gesamtpolitik des deutschen Faschismus“109 zu charakterisieren und die damit verbundenen Verbrechen nicht als einzelne inhumane Taten oder Ereignisse aussehen zu lassen. Anstoß nahmen die sowjetischen Kommentatoren z. B. an der Schilderung, die Verfolgung der Juden habe eingesetzt, weil die National­ sozialisten diese als potentielle Quelle der Opposition betrachtet hätten.110 Eine solche Konzeption betrachteten die Unterzeichner des sowjetischen Dokuments als „unzutreffend, weil sie die Hauptwurzel der antisemitischen Politik der Hitle­ risten verschleier[e]“.111 Eine ähnliche Kommentierung erfuhr der im britischen 105

Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 106 Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 107 „Das Beweismaterial, das dem Gerichtshof vorgelegt wurde, hat ergeben, daß Deutschland den sorgfältig ausgearbeiteten Plan hegte, die USSR als politische und militärische Macht zu zerstören, um sich nach Belieben nach dem Osten ausdehnen zu können.“ bzw. „Aber es gab noch ein näherliegendes Ziel. In einer der Denkschriften des OKW wird dieses Ziel dahin angegeben, die deutschen Armeen hätten sich im dritten Jahre des Krieges aus der Sowjetunion zu verpflegen, selbst wenn, wie Rosenberg sagte: ‚Als Ergebnis viele Millionen Menschen verhungern müssen, wenn wir die für uns notwendigen Dinge aus dem Land fortnehmen.‘“ Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (239). 108 Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 109 Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 110 Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (142–143). Vgl. hierzu Ziff. V der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115). 111 Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (115).

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

Entwurf enthaltene Passus, die antisemitische Politik der Nationalsozialisten habe ihren Ursprung nicht in „irgendwelchen externen Quellen“, sondern speise sich aus dem „blinden und rücksichtslosen Hass gegenüber Juden, der im verwirrten Gehirn Hitlers geboren wurde“.112 Eine derartige Ableitung des Antisemitismus aus den „pathologischen Charaktereigenschaften Hitlers“113 sei nicht nur falsch, sondern darüber hinaus auch schädlich. Schließlich bemängelte die sowjetische Seite die Behauptung, die im November 1938 organisierten Pogrome seien Vergeltungsmaßnahmen für die Tötung eines Beamten der deutschen Botschaft in Paris.114 Die von den Sowjets angeführten und hier geschilderten konkreten Punkte fanden in der abschließend verabschiedeten Urteilsfassung aller Berücksichtigung. Der Urteilstext bringt den grundsätzlichen Charakter des Antisemitismus für die NS-Ideologie und die Planmäßigkeit der Judenverfolgung in wesentlich stärkerer Form zum Ausdruck.115 Die von sowjetischer Seite kritisierten Feststellungen über den Ursprung des Antisemitismus sind jedenfalls in der o. g. Form in der Endfassung des Urteils nicht mehr enthalten. Einem weiteren sowjetischen Vorschlag dahingehend, dass das Urteil durch Ausführungen zur „vollständigen Ablehnung von Moral und Recht“ durch den Nationalsozialismus zu ergänzen sei und dass diese Ablehnung die „Basis von unzähligen Gräueltaten“ dargestellt habe, blieb dagegen der Erfolg versagt.116 Im historischen Urteilsabschnitt kritisierten die sowjetischen Kommentatoren das Fehlen einer „Gesamtcharakteristik“ des Nationalsozialismus als verbindendem Element zwischen einzelnen Fakten und der Verschwörung.117 Durch die übermäßig langen Ausführungen zum Versailler Vertrag erfahre die Militarisierung Deutschlands eine gewisse Rechtfertigung. Ferner müsse man den Urteilstext um Ausführungen zur weit verzweigten Tätigkeit der Nationalsozialisten außerhalb der deutschen Grenzen, zur Organisation von „fünften Kolonnen“ und anderen Diversionshandlungen ergänzen.118 Den Wunsch nach Vervollständigung äußerten die sowjetischen Verfasser ferner in Bezug auf die Bedeutung von Präzedenzfällen als Rechtsquellen. Ergänzend zum im Entwurf erwähnten Fall des von einer amerikanischen Militärkommission wegen der Exekution von fünfzehn amerikanischen Armeeangehörigen zum Tode verurteilten Generals Anton Dostler, sollten 112 Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (116). 113 Ü. d. Verf., Ziff. VI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (116). 114 Ziff. V der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (11). 115 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (200). 116 Ü. d. Verf., Ziff. VIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (116). 117 Ü. d. Verf., Ziff. X der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117). 118 Ü. d. Verf., Ziff. XI der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (117).

II. Die sowjetischen Anmerkungen zum ersten Entwurf

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einige sowjetische Gerichtsentscheidungen aufgenommen werden, so z. B. aus Prozessen in Krasnodar, Char’kov, Kiew, Minsk oder Riga.119 Soweit ersichtlich, unterließen die Nürnberger Richter jedoch die Erwähnung sowjetischer Gerichtsentscheidungen und verzichteten auch auf den Rekurs zum amerikanischen Fall. Einige Änderungsforderungen an konkreten Formulierungen führten zu einer redaktionellen Überarbeitung der betreffenden Passagen. So bezeichnete der britische Entwurf den am 8. und 9. November 1923 in München durchgeführten Putsch (sog. Hitlerputsch) als „Revolution“.120 Diese „vollkommen inakzeptable“121 Wortwahl war im Ergebnis in der Endfassung der Formulierung „mißglückter Putsch“ gewichten.122 Ein weiterer sowjetischer Ergänzungsvorschlag betraf eine Passage über den Einsatz der NSDAP bei der Einwirkung auf die Bevölkerung. Die Formulierung „Die Partei tat alles, um sich die politische Unterstützung des Deutschen Volkes zu sichern“123 sollte mit dem Zusatz „und schreckte dabei auch vor den schlimmsten Mitteln nicht zurück“124 versehen werden. Der Ergänzungsvorschlag vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen.125 Keinen Erfolg hatte ferner der Wunsch, den Terminus ‚Philosophie‘ im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus nicht zu verwenden. Statt dem im britischen Entwurf an zwei Stellen verwendeten Ausdruck „nationalsozialistische Philosophie“126 hielt die sowjetische Seite die Bezeichnung „Ideologie“ für adäquat.127 Wie die Endfassung des Urteils veranschaulicht, fand das sowjetische Anliegen jedoch keine Berücksichtigung: „In ihren Bemühungen, den Einfluß der christlichen Kirchen, deren Lehren in fundamenta­ lem Gegensatz zu der nationalsozialistischen Philosophie und Praxis standen, zu bekämpfen, ging die Naziregierung langsamer vor.“128 119 Ziff. XII der sowjet. Stellungnahme v. 18.  Juli 1946 (Fn.  33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 120 Ü.  d.  Verf., Dok. Nr.  2 (detaillierter Entwurf, Fn.  16), GARF, f. 9492, op. 1a, d.  468, Bl. 128 (138). 121 Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 122 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (195); vgl. auch die engl. Fassung („abortive putsch“), IMT, Vol. I, S. 171 (176), sowie den russ. Urteilstext (neudavšijsja putč), Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 561 (568). 123 Vgl. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (195); im britischen Entwurf befindet sich die Passage Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (139). 124 Ü. d. Verf., Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 125 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (195); auch die russ. Fassung Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 561 (569). 126 Ü.  d.  Verf., Dok. Nr.  2 (detaillierter Entwurf, Fn.  16), GARF, f. 9492, op. 1a, d.  468, Bl. 128 (139 u. 142). 127 Ü. d. Verf., Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 128 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (199). Für die engl. Fassung vgl. IMT, Vol. I, S. 171 (180): „In their effort to combat the influence of the Christian churches, whose doctrines were fundamentally at variance with National Socialist philosophy and practice, the Nazi Government proceeded more slowly.“

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

Um den „unannehmbaren“129 Terminus dennoch aus dem Urteilstext zu verbannen, bediente sich die sowjetische Seite an dieser Stelle einer vergleichbaren Methode wie während der Arbeit an der Anklageschrift.130 Zwar ließ sie den kritisierten Ausdruck in der russischen Textfassung dieses Mal nicht vollständig weg, wählte aber eine geeignetere Übersetzung. Statt von nationalsozialistischer Philosophie zu sprechen, wählte der russische Text den Ausdruck „nationalsozialistische Ansichten“.131 Entsprechend der zuvor mehrfach zum Ausdruck gebrachten Kritik an einer zu milden bzw. human wirkenden Darstellung des Nationalsozialismus und seiner Akteure forderte die sowjetische Seite die Streichung des einleitenden Teils eines wörtlichen Zitats aus einem Schreiben von Rosenberg an Keitel.132 Die Aussage Rosenbergs, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland sei „im Gegenteil eine Tragödie größten Ausmaßes“133, sei geeignet, einen „falschen Eindruck“134 über den Angeklagten Rosenberg zu vermitteln, bei dem es sich tatsächlich um einen „kaltblütigen und gnadenlosen Mörder von Millionen von Menschen“135 handele. Ein weiterer Textabschnitt, der dazu veranlassen könnte, über den „Mörder Rosenberg“ den „falschen und schädlichen Schluss bezüglich seiner ‚Humanität‘ zu ziehen“, zählte zum Themenkomplex der Zwangsarbeit. In dem betreffenden und von sowjetischer Seite kritisierten Zitat sagte Rosenberg zu den Methoden der Behandlung von Zwangsarbeitskräften, es seien Handlungen, die ihren Ursprung „in den schwärzesten Zeiten des Sklavenhandels“ hätten.136 Die sowjetische Seite forderte an dieser Stelle die Entfernung der Aussage, da das von Rosenberg beschriebene „System der Sklaverei“ von ihm selbst eingeführt worden sei. Im Ergebnis wurden die kritisierten Stellen jedoch nicht gestrichen und finden sich in der endgültig verabschiedeten Fassung unverändert wieder.137 Ein partieller Erfolg war der sowjetischen Änderungsinitiative zum Thema­ „Judenverfolgung“ beschieden. Die sowjetischen Kommentatoren forderten die Überarbeitung des Eingangstexts zum entsprechenden Urteilsabschnitt138 dahin 129 Ü. d. Verf., Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 130 Vgl. Kap. F., Fn. 210. 131 Ü. d. Verf., Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 561 (572). 132 Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 133 Zit. aus dem Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (258); für den britischen Entwurf vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (173). 134 Ü. d. Verf., Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 135 Ü. d. Verf., Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 136 Zit. aus dem Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (258); für den britischen Entwurf vgl. Dok. Nr. 2 (detaillierter Entwurf, Fn. 16), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 128 (182). 137 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (258 u. 275); vgl. auch die russ. Fassung bei­ Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 561 (616 u. 629). 138 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (277–283).

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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gehend, dass die Feststellung, der Antisemitismus habe seit der Gründung der NSPartei einen wesentlichen Teil der nationalsozialistischen Gesinnung ausgemacht, getroffen wird.139 Eine entsprechende Aussage ist in der veröffentlichten Fassung des Urteils jedoch nur in abgeschwächter Form und nicht als Eingangsformulierung enthalten.140 Allerdings findet sich der folgende Satz in der von sowjetischer Seite geforderten Form im historischen Abschnitt des Urteilstextes wieder: „Seit den frühesten Tagen der NSDAP hat der Antisemitismus eine hervorragende Rolle in der nationalsozialistischen Gedankenwelt und Propaganda gespielt.“141

In der Gesamtschau lassen sich die Folgen einiger sowjetischer Änderungsinitiativen im abschließend verabschiedeten Urteilstext erkennen. Zu den umgesetzten Vorschlägen gehören einige redaktionelle Änderungen, aber auch Fragen grundsätzlicher Art. So gelang es der sowjetischen Seite, die Planmäßigkeit der im Osten und insbesondere auf sowjetischem Territorium begangenen nationalsozialistischen Verbrechen zu unterstreichen oder die Rassentheorie sowie die Judenverfolgung stärker in den Vordergrund zu rücken. Gleichwohl blieben zahlreiche andere sowjetische Forderungspositionen ohne praktische Wirkung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich unter den Unterzeichnern der für den sowjetischen Justizminister Ryčkov bestimmten Stellungnahme vom 18. Juli 1946 keine einzige Person befand, die in den Prozessverlauf unmittelbar eingebunden war. Wie eingangs erwähnt, wiesen die Verfasser zu Beginn ihrer Ausführungen selbst darauf hin, dass sie sich nur auf sowjetische Zeitungsberichte als einzige Erkenntnisquelle stützen konnten und dieser Umstand Auswirkungen auf ihre Anmerkungen gehabt haben muss.142 Dass mit dieser verantwortungsvollen und äußerst komplexen Aufgabe Personen betraut waren, die über den Verfahrensgang und das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht aus eigener Anschauung berichten konnten, erscheint zunächst verwunderlich. Doch fügt sich diese Herangehensweise in das bereits bei der Vorbereitung der Anklageschrift bekannte Muster ein.

III. Die richterlichen Beratungen in camera 1. Der einleitende und der historische Urteilsabschnitt Eine Einigung auf die von Birkett vorgeschlagene Gliederung des Urteilsent­wurfs erfolgte schon bald nach Aufnahme der Beratungen. Bei Fragen zum Schreibstil unterstützte der sowjetische Richter Nikitčenko die von Birkett gewählte Ausdrucksweise, während die französischen und amerikanischen Richter seinen Stil als „zu 139 Ziff. XIII der sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (118). 140 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (278): „Die Nazi-Partei predigte diese Lehren während des ganzen Verlaufs ihrer Geschichte.“ 141 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (200). 142 Sowjet. Stellungnahme v. 18. Juli 1946 (Fn. 33), GARF, f. 9492, op. 1a, d. 468, Bl. 109 (109).

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emotional, gelegentlich gar polemisch“ kritisierten.143 Die Erörterungen über den mit „Das Nazi-Regime in Deutschland, Ursprung und Ziele der Nazi-Partei“ überschriebenen historischen Teil des Urteils144, in dem das Tribunal die Etablierung des Nationalsozialismus und die Aufrüstung Deutschlands beschrieb, verliefen dabei weitgehend unbeeindruckt von politischen Antagonismen.145 2. Anklagepunkte eins und zwei – Gemeinsamer Plan oder Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden Zu den am meisten umstrittenen Fragestellungen während der richterlichen Beratungen gehörte Anlagepunkt eins (gemeinsamer Plan oder Verschwörung). Besonders gravierende Einwände gegen den gegenüber allen 22 Angeklagten erhobenen Anklagevorwurf146 und mithin in seinen praktischen Auswirkungen sehr relevanten Anklagepunkt eins brachte schon in der ersten Beratungssitzung am 27. Juni 1946 der französische Richter Henri Donnedieu de Vabres in mündlicher und in der Folgezeit zweimal in Form von zu diesem Thema verfassten Denkschriften vor.147 Seiner Argumentation zu Folge kannten weder das kontinentale noch das internationale Rechtssystem die Rechtskonstruktion der Verschwörung.148 Auch nenne das Londoner Statut in Art. 6 lediglich drei Verbrechenstatbestände, nämlich Verbrechen gegen den Frieden (lit. a), Kriegsverbrechen (lit. b) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (lit. c). Zudem habe die Anklage das Vorliegen einer Verschwörung im Sinne einer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort stattfindenden Verabredung zur Begehung von Straftaten und die Festlegung der verbrecherischen Methode nicht beweisen können.149 Eine Verurteilung wegen einer „großen Verschwörung“, die „25 Jahre gedauert und die Geschichte eines halben Erdteils bestimmt habe“, könne auch nur ex post facto erfolgen.150 Dem Standpunkt de Vabres hatte sich in der ersten beratenden Sitzung Biddle angeschlossen. Er vermochte sich mit seinem Standpunkt angesichts des Widerstands der übrigen Richterkollegen jedoch nicht durchzusetzen. Sowohl­ 143

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 163 f. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (193–206). 145 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 165. 146 Vgl. Anhang A (Feststellung der Verantwortlichkeit von Einzelpersonen für Verbrechen, aufgezählt in Anklagepunkt eins, zwei, drei und vier) der Anklageschrift v. 6. Okt. 1945, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier S. 74–85. Die Verantwortlichkeit für eine Verschwörung wurde auch dem Angeklagten Robert Ley, der sich dem Prozess durch einen vor Verfahrensbeginn begangenen Selbstmord entzogen hatte, ausweislich der Anklageschrift zur Last gelegt. 147 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 138–143; eine ausführliche Stellungnahme findet sich auch in de Vabres, Recueil des Cours 70 (1947), S. 481–580, hier 528–542 (Chap. III, La question du complot). 148 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 138. 149 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 139. 150 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.  138–139; vgl. hierzu de Vabres, Recueil des Cours 70 (1947), S. 481 (531 f.). 144

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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Nikitčenko als auch Lawrence und alle vier stellvertretenden Richter wollten Anklagepunkt eins ungeachtet der vorgebrachten Argumente aufrechterhalten.151 In den Sitzungen am 14., 15. und 19. August 1946 setzten die Richter ihre Debatten weiter fort.152 Die juristischen Argumentationslinien zu Anklagepunkt eins sind zudem in einer Reihe von speziell zu dieser Frage angefertigten Gutachten aufgearbeitet worden.153 Der Standpunkt der sowjetischen Richter zeichnete sich durch einen sehr praktischen und ergebnisorientierten Blick aus. Schon während der Londoner Verhandlungen über das Statut hatte Nikitčenko als Leiter der sowjetischen Delegation mehrmals deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Aufgabe des IMT in der Umsetzung der bereits auf den Moskauer und Jalta-Konferenzen getroffenen Entscheidungen, nämlich der Bestrafung der als schuldig gekennzeichneten Hauptkriegsverbrecher, bestehen würde.154 In diesem Sinne ist auch die Aussage Nikitčenkos in der beratenden Sitzung vom 15. August 1946 zu verstehen: „Die Gruppe der Führungspersonen muss die Verantwortung nicht nur für die eigenen Handlungen tragen, sondern auch für alle Handlungen des Staates. Andernfalls kommen wir vom Weg ab. (Anmerkung von Francis Biddle: Mir ist nicht klar, was er meint).“155

Die dem kontinentalen Rechtssystem in dieser Form156 nicht bekannte Verschwörung war ein willkommenes Mittel, um die Verantwortlichkeit von solchen Angeklagten, welchen die konkrete Planung oder Vorbereitung von Angriffskriegen, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht unmittelbar nachgewiesen werden konnten, begründen zu können. Entsprechend erklärte Nikitčenko in der Beratungssitzung vom 15. August 1946: „Wir sind Praktiker und kein Debattierklub. Das Führerprinzip – das ist kein Argument für die Verteidigung: es steht nicht im Widerspruch zur Verschwörung. In jeder verbrecherischen Gruppe gibt es einen Anführer. Wortlose Zustimmung – das ist das Gleiche wie die offene Unterstützung. Diese Idee wird in der ganzen Theorie der Anklage deutlich. Es gibt nie eine Gleichrangigkeit in einer Verschwörung. […] Ich wiederhole immer und immer wieder: sie können das nicht abstrakt angehen. Wenn wir die Verschwörung fallenlassen, können wir nicht jeden zur Verantwortung ziehen, der die Verantwortung für die Handlun 151

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 143. Hierzu Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 144 f. 153 Am 17. Juli 1946 legten auch die sowjetischen Richter ein Memorandum vor, in dem sie auf Fragen zur Verschwörung eingingen, vgl. die Ausführungen bei Smith zu „Memorandum des sowjetischen Mitgliedes des IMT“, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 145–146. 154 „We are dealing here with the chief war criminals who have been convicted and whose conviction has been already announced by both the Moscow and the Crimea declarations by the heads of governments, and those declarations both declare to carry out immediately just punishment for the offences which have been committed.“, Protokoll der Verhandlung v. 29. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (104 f.). Zu den Londoner Verhandlungen siehe bereits Kap. E. 155 Ü.  d.  Verf., Nikitčenko in der Beratungssitzung v. 15.  Aug. 1946, zit. nach Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (92, Fn. 68). 156 Zum Prinzip der gemeinschaftlichen Verantwortung und Organisationsverantwortlichkeit im sowjetischen Strafrecht und im Völkerstrafrecht aus sowjetischer Perspektive, siehe Kap. E. IV. 3. c) dd). 152

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gen anderer trägt. Nehmen wir Fritzsche. Radioauftritte sind keine Verbrechen. Aber als Teilnehmer an einer Verschwörung ist er schuldig wegen anderer Verbrechen. Darin liegt der Unterschied zwischen dem Planen und der Verschwörung.“157

Um die verknüpfende Wirkung des Verschwörungsvorwurfs so weit wie möglich zu spannen, setzte sich Nikitčenko für die Bejahung eines Verschwörungskonzepts ein, das auch die Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfasst: „Nach dem Statut ist eine Verschwörung auch für Kriegsverbrechen und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgesehen. Es gibt keinen Widerspruch in diesem Punkt zwischen dem Urteil und der Anklageschrift. Diese Verschwörung stellt ein eigenes Ver­ brechen dar.“158

Seine Auffassung hat sich im Ergebnis nicht durchsetzen können. In der Abstimmung am 4. September 1946 stimmte Nikitčenko als einziger der vier stimmberechtigten ordentlichen Mitglieder des Tribunals gegen die Abweisung der Anklage auf Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.159 Dem juristische Problem der ex post facto-Bestrafung setzten Nikitčenko und Volčkov den Einwand der besonderen Komplexität der Verbrechen entgegen, die es rechtfertige, „Neuland zu betreten“ und die dem Tribunal die Möglichkeit verschaffe, die Angeklagten „wegen völkerrechtswidriger Verschwörung“ zu verurteilen.160 Diese Komplexität gebiete es, eine Verknüpfung zwischen den unterschiedlichsten Akteuren innerhalb des nationalsozialistischen Regimes in Form einer Verschwörungskonstruktion herzustellen, da man – den Bekundungen Volčkovs zufolge – „mit den Übeltätern nur fertig werden könne, wenn man ihnen etwas so Umfassendes wie Verschwörung vorwerfe“.161 Nikitčenko und Volčkov rieten den übrigen Richtern dazu, zuzustimmen und zu akzeptieren, dass in einem solch großen und bedeutenden Verfahren neue, rückwirkende Normen geschaffen werden würden.162 Der Gedanke, der Anklagepunkt ‚Verschwörung‘ sei notwendig, um die Verantwortung mancher Angeklagter überhaupt erst zu begründen, war aber kein spezifisch sowjetischer. So erkannte auch der amerikanische Richter Francis Biddle, dass man gegen den ehemaligen Reichsbankpräsidenten Schacht oder den ehema 157 Ü.  d.  Verf., Nikitčenko in der Beratungssitzung v. 15.  Aug. 1946, zit. nach Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (92, Fn. 68). 158 Ü.  d.  Verf., Nikitčenko in der Beratungssitzung v. 15.  Aug. 1946, zit. nach Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (92, Fn. 68). 159 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 152; hierzu auch Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (85). 160 Vgl. die sinngemäße Wiedergabe der von Nikitčenko vorgebrachten Argumentation im Memorandum v. 17. Aug. 1946, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.145 f., hier 146. 161 Volčkov in der Sitzung v. 14. Aug. 1946, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 145. 162 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 144.

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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ligen Reichskanzler von Papen wenig in der Hand hätte, wenn man Anklagepunkt eins fallen ließe.163 Daher ließ sich Biddle wohl auch von praktischen Argumenten leiten, als er am 19. August 1946 den IMT-Richtern einen Kompromissvorschlag zum Anklagepunkt eins vorlegte und feststellte, „von der Anklage wegen Verschwörung nach Punkt I müsse immerhin genug übrigbleiben, um Angeklagte wie Schacht verurteilen zu können“.164 Auch standen die sowjetischen Richter mit ihrem Argument, man müsse die rückwirkende Kraft der Statutnormen einfach akzeptieren, nicht allein. Vorsitzender Lawrence brachte einen vergleichbaren Standpunkt zum Ausdruck, als er in der Sitzung am 14. August 1946 ausführte, dass „das Tribunal sich in jedem Fall an das Statut zu halten habe; es müsse auch dann angewendet werden, wenn es zu rechtswidrigen oder ex post facto-Urteilen führe“165. Wie die Urteilsgründe zum Abschnitt „Der gemeinsame Plan zur Verschwörung und der Angriffskrieg“166 zeigen, haben die Richter den Anklagepunkt eins im Ergebnis nicht fallenlassen, aber auf die Verschwörung zur Durchführung von Angriffskriegen beschränkt.167 In der endgültig verabschiedeten Fassung der Urteilsgründe wird ausgeführt, dass der Anklagevorwurf, die Angeklagten seien auch an einer Verschwörung beteiligt gewesen, um Kriegsverbrechen und Ver­ brechen gegen die Humanität zu begehen, außer Acht zu lassen sei. Es sei nur der gemeinsame Plan, Angriffskriege vorzubereiten, einzuleiten und durchzuführen, in Betracht zu ziehen, da „[a]bgesehen [..] von der Verschwörung zur Durchführung von Angriffskriegen, [..] das Statut keinerlei Verschwörung als besonderes Verbrechen […nach Art.  6 IMT-Statut bezeichnet, d. Verf.]“.168 Die im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt während des Prozesses entstandene Fragen, insbesondere das Bestehen und die Bedeutung des Geheimen Zusatzprotokolls oder das Argument, es habe sich beim deutschen Angriff auf die UdSSR um einen Präventivschlag gehandelt, ließ das Urteil vollständig unbeantwortet. Die sowjetischen Richter hatten sich jedenfalls zum Teil damit durch­ setzen können, dass sich für eine derartige Interpretation der historischen Ereignisse eignende und damit aus sowjetischer Sicht entstellende Passagen gestrichen werden.169 163

M. w. N. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 145, 152. M. w. N. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 152. 165 Lawrence in der Sitzung v. 14. Aug. 1946, zit. nach Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 144. 166 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (206–253). 167 Ausführlich zur Entstehung dieser Kompromissformel, die auf ein für Biddle angefertigtes Gutachten des amerikanischen Beraters Herbert Wechsler zurückgeht, siehe Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 147 ff. 168 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (253). 169 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 167. Als entstellend klassifizierten die Sowjets einen Teil aus Hitlers Ansprache vor seinen Oberbefehlshabern auf dem Obersalzberg am 22. Aug. 1939, in der es u. a. hieß: „Die heutige Veröffentlichung des Nichtangriffspakts mit Rußland hat eingeschlagen wie eine Granate. Auswirkungen sind nicht zu übersehen. Auch Stalin hat gesagt, daß dieser Kurs beiden Ländern zugute kommen wird. Die Einwirkung auf Polen wird un­geheuer sein.“, zit. nach Jacobsen, Weg zur Teilung der Welt, S. 23–26, hier S. 26. Im Urteilsabschnitt zum Angriff auf Polen findet der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag nur 164

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

3. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Folgt man den Ausführungen von Smith, so waren die Beratungen und die Urteilsfindung zu den Anklagepunkten drei und vier weitaus weniger kontrovers. Details darüber, wie die Richter intern mit dem Anklagevorwurf zu Katyn, den der sowjetische Hauptankläger in seinem Abschlussplädoyer erneut ausdrücklich ansprach170, umgegangen sind, bleiben unklar.171 Das Urteil geht auf dieses zur­ Anklage gebrachte Verbrechen jedenfalls mit keinem Wort ein. 4. Die angeklagten Organisationen Die Beratungen zum Urteilsspruch über verbrecherische Organisationen gestalteten sich dagegen als kompliziert.172 Die Richter erkannten die Gefahr, dass ein pauschales Urteil über den verbrecherischen Charakter der in die Anklageschrift aufgenommenen Organisationen eine Kollektivschuld statuieren würde.173 Um dies zu vermeiden, wurden verschiedene Lösungsmöglichkeiten erwogen. Diskutiert wurde der Vorschlag de Vabres, bestimmte ausdrücklich erwähnte Untergruppen von der Verurteilung auszunehmen. Dieser Vorschlag war jedoch in praktischer Hinsicht kaum zu bewältigen, da für die Richter die Entscheidungsfindung darüber, welche Untergruppe als verbrecherisch eingestuft werden sollte ein einziges Mal Erwähnung: „Der Angeklagte Ribbentrop wurde nach Moskau gesandt, um mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt abzuschließen.“, Urteil v. 1.  Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (224). Zur „kaum weniger peinlich[en] und ebenfalls von Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit diktiert[en]“ Darstellung des deutschen Angriffs auf Norwegen, siehe Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 167–170, sowie den Urteilsabschnitt IMT, Bd. I, S. 189 (228–233). 170 „Wie der Gerichtshof aus den Zeugenaussagen des ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisters von Smolensk, Professor Bazilevskys, ersehen konnte, ist es kein Zufall, daß jene deutsch-faschistischen Mörder, die 11000 polnische kriegsgefangene Offiziere im Walde von Katyn hingemordet haben, sich auf das von Frank in Polen errichtete Regime als Beispiel für ihre Handlungen berufen haben“, Protokoll der Verhandlung v. 29. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S.  681.  Für die gesamte Abschlussrede Rudenkos am 29.  Juli 1946, ebd., S.  639–695, und 30. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 7–22; für die russ. Fassung des Plädoyers siehe Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 469–524. 171 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 122: „Die antisowjetischen Ressentiments der amerikanischen Ankläger wurden von den Richtern niemals vergleichbar geteilt. Im Fall von ­Katyn und dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt gab es Gegensätze, in anderer Hinsicht herrschte jedoch Einmütigkeit, und Meinungsverschiedenheiten waren nicht von Geographie oder Ideologie bestimmt. Das Gericht verlor nie die praktische Notwendigkeit aus dem Auge, war­ immer darauf aus, sachfremde Materie fernzuhalten, und die meisten Richter bewahrten sich ihren Sinn für Humor. Von Anfang bis Ende waren die Beziehungen der westlichen Richter zu ‚Nick‘ herzlich, und weder Katyn noch sonst etwas hat sie ernstlich in dem Entschluß wankend machen können, miteinander auszukommen und ein Urteil zu finden, das sich sehen lassen konnte.“ 172 Zum Urteil über Organisationen ausführlich Rauschenbach, Nürnberger Prozeß, S. 82–92. 173 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 179.

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und welche nicht, kaum umsetzbar war.174 Die amerikanischen Richter unterbreiteten den Vorschlag, eine zeitliche Zäsur zu setzen, ab wann eine Organisation einen verbrecherischen Charakter erlangt haben sollte. Dieser Vorschlag bekam zwar die Zustimmung der Briten und Franzosen, kam jedoch zunächst nicht zur endgültigen Abstimmung.175 Eine weitere Idee enthielt der Vorschlag, dass das Tribunal für die Behandlung der Organisationsmitglieder an Besatzungsgerichte adressierte Empfehlungen ausspricht, welche z. B. für das Strafmaß bindend sein könnten.176 Dieser Vorschlag stieß jedoch auf den Widerstand der sowjetischen Seite, die dafür plädierten, alle Organisationen zu verurteilen und darin eine Einmischung in die „inneren Angelegenheiten ihrer Besatzungszone“ erblickten.177 Eine Lösung ergab sich schließlich auf Grundlage der Vorschläge des stellvertretenden amerikanischen Richters Parker, der die Anwendung der bei einer Verschwörung üblichen Kriterien vorschlug, nämlich die Freiwilligkeit des Beitritts und die Kenntnis der verbrecherischen Absicht der Organisation.178 Der verbrecherische Charakter einer Organisation wäre demnach dann zu bejahen, wenn ihre Mitglieder freiwillig beigetreten waren und den verbrecherischen Zweck kannten. Dieser Vorschlag wurde von den westlichen Richtern begrüßt, da er u. a. die Frage der Organisationen insofern praktikabel machte, als dass man sich nicht mehr mit den komplexen Fragen der Unterorganisationen beschäftigen musste. Die sowjetischen Richter verfolgten bei der Frage der Organisationen wie bereits zuvor und auch in der gesamten Beratungszeit einen eher ergebnisorientierten, praktischen Kurs. Im Gleichklang mit dem sowjetischen Hauptankläger Rudenko179

174

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 179. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 179 f. Eine zeitliche Einschränkung wurde vom Tribunal beim Korps der Politischen Leiter der NSDAP herangezogen: „Aus diesem Grunde kann die als verbrecherisch bezeichnete Gruppe keine Personen einschließen, die vor dem 1. September 1939 aufhörten, eine der aufgeführten Stellungen zu bekleiden.“, IMT, Bd. I, S. 294. 176 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 180. 177 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 181. 178 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 182; vgl. hierzu die Ausführungen in den Urteilsgründen: „Eine verbrecherische Organisation entspricht einer verbrecherischen Verschwörung insofern, als das Wesen beider die Zusammenarbeit zu verbrecherischen Zwecken ist. Es muß sich um eine Gruppe handeln, die zusammengeschlossen und für einen gemeinsamen Zweck organisiert ist.“, Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (288). 179 Vgl. das Abschlussplädoyer Rudenkos zu den angeklagten Organisationen am 30. Aug. 1946: „Um die Greueltaten zu begehen, die sie ersonnen hatten, schufen die Anführer der faschistischen Verschwörung ein System verbrecherischer Organisationen […]. Ihr Urteilsspruch, meine Herren Richter, muß das ganze verbrecherische System des deutschen Faschismus treffen, jenes komplizierte, weitverzweigte Netz von Partei-, Regierungs-, SS- und Militär­organisationen, mittels derer die grauenerregenden Vorhaben der Verschwörer unmittelbar in die Tat umgesetzt wurden. Auf den Kriegsschauplätzen hat die Menschheit schon ihren Urteilsspruch über den verbrecherischen deutschen Faschismus gefällt. Im Feuer der größten Schlacht der Weltgeschichte haben die heldenmütige Rote Armee und die tapferen Heere der Alliierten nicht nur die Hitler-Horden zerschlagen, sondern auch die hohen und edlen Grundsätze internationaler Zusammenarbeit, menschlicher Moral und humaner Regeln des menschlichen Zusammenlebens aufs neue zur Geltung gebracht. Die Anklagevertretung 175

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verlangte Nikitčenko, alle in der Anklageschrift benannten Organisationen für verbrecherisch zu erklären.180 Bradley Smith, der eine Auswertung der Sitzungsniederschriften bereits im Jahr 1976 vornahm, stellt hierzu fest, dass es eine auf politischer Basis gründende Spaltung der Richter grundsätzlich nicht gegeben habe: „Die sowjetischen Richter folgten unbeirrt einem harten Kurs, sie mißtrauten langwierigen theoretischen Argumenten, welche das Statut anzuzweifeln schienen; man kann aber nicht davon sprechen, daß bei der Urteilsberatung ein Zwiespalt im Sinne eines Ost-West-Gegensatzes bestanden hätte. Oftmals unterlagen die Sowjets bei Abstimmungen mit ihrer einen gegen drei Stimmen, doch kann man das nicht als Regel bezeichnen, und N ­ ikitschenko verstand es nicht nur, solche Schlappen hinzunehmen, er gab auch noch wertvolle praktische Hinweise in Fällen, wo er unterlegen war.“181

Die Beratungen und Abstimmungen über die Organisationen brachten jedoch immer deutlicher ans Tageslicht, dass sich die sowjetische Seite mit ihren Forderungen immer seltener durchsetzen konnte. Mit der Verurteilung der Organisationen verfolgte die sowjetische Seite insbesondere zwei Ziele. Das Urteil über die Organisationen hatte für die sowjetische Seite zum einen eine sehr starke symbolische Bedeutung, die sich den Worten Rudenkos in seinem Abschlussplädoyer zu verbrecherischen Organisationen am 30. August 1946 entnehmen lässt: „Der gegenwärtige Prozeß gibt eine erschöpfende und genaue Antwort auf die Frage, was die Hitleristen waren. Mit dem Führer an der Spitze der verbrecherischen Bande der Verschwörer traten diese in verschiedenen Rollen auf und hatten verschiedene Titel – Minister, Gauleiter, Obergruppenführer und dergleichen – und umgaben sich mit einem von ihnen geschaffenen Netz von verbrecherischen Organisationen, die Millionen deutscher Bürger in ihren Krallen hielten. Das war, schematisch dargestellt, die politische Struktur HitlerDeutschlands. Die Brandmarkung der in der Anklageschrift aufgeführten Organisationen als verbrecherisch sowie die Brandmarkung der vorhandenen Verschwörung ist demnach die notwendige Voraussetzung für den Sieg der Gerechtigkeit, den Sieg, nach dem sich alle fried­liebenden Völker sehnen.“182 hat ihre Pflicht vor diesem Gerichtshof erfüllt, vor dem heiligen Andenken der unschuldigen Opfer, vor ihrem eigenen und dem Gewissen der Völker. So möge denn nun das Gericht der Völker über alle faschistischen Henker sein Urteil fällen, ein gerechtes und strenges Urteil.“, Protokoll der Verhandlung v. 30. Aug. 1946, IMT, Bd. 22, S. 415–416; zu den einzelnen Organisationen siehe Rundenkos Ausführungen ebd., S.  357–367 (Korps der Politischen Leiter der NSDAP); S. 367–377(Die Schutzstaffeln – SS); S. 381–385 (Sturmabteilungen – SA); S. 385–395 (Gestapo); S. 395–400 (Sicherheitsdienst – SD); S. 400–408 (Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht); S. 408–416 (Reichsregierung). 180 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 181. 181 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 163. 182 Rudenko, Protokoll der Verhandlung v. 30.  Aug. 1946, IMT, Bd.  22, S.  352–417, hier 356–357; russ. Fassung in Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 7, S.  683–735. Zu verbrecherischen Organisationen vgl. auch einen Beitrag von Aron Trajnin, in: Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 212–214.

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Darüber hinaus hatte die sowjetische Regierung bereits seit dem Tag des Überfalls Deutschlands auf die UdSSR in ihren offiziellen Noten und Erklärungen die gesamte Verantwortung für alle Verbrechen und auf dem sowjetischen Territorium entstandenen Schäden der ‚verbrecherischen hitlerischen Regierung‘ und der Militärführung auferlegt.183 Diesen Umstand betonte auch Rudenko seiner Abschlussrede am 30. August 1946.184 Die der deutschen Regierung und Militärführung zugeschriebene Verantwortung waren in den öffentlichen Äußerungen der sowjetischen Regierung im Verlauf der Kriegsjahre die wohl stärkste Konstante.185 Bei der Abstimmung über die sechs in der Anklageschrift aufgeführten Organisationen stimmten alle vier ordentlichen Tribunalsmitglieder dafür, dass es sich bei der SS, der Gestapo und dem Korps der Politischen Leiter der Nationalsozialis­ tischen Deutschen Arbeiterpartei um verbrecherische Organisationen handelte.186 Die Reichsregierung, die SA sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) wurden dagegen gegen die Stimme von Nikitčenko nicht für verbrecherisch erklärt.187 In Anbetracht des oben Gesagten konnte diese Entscheidung die sowjetischen Richter unter keinen Umständen zufriedenstellen. Völlig inakzeptabel war für die sowjetische Seite der Freispruch der Reichsregierung, der Rudenko in seiner Abschlussrede „eine besondere, hervorragende Stellung im System der faschistischen Diktatur“188 bescheinigte, sowie des Generalstabs und des Oberkommando der Wehrmacht, welche „Hitlers Kriegsmaschine“ repräsentierten, „mit deren Hilfe alle verbrecherischen Angriffspläne der Hitler-Regierung, alle Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeklügelt und durchgeführt wurden“.189 Für Nikitčenko gab es keine Alternative, außer seinen Richterkollegen die Notwendigkeit eines abweichenden Votums mitzuteilen.190 183

Siehe bereits die Radioansprache Molotovs v. 22. Juni 1941 (o. Kap. C. I., Fn. 9); die Erklärung v. 25.  Nov. 1941 (Kap.  C. I., 14), in der es abschließend hieß: „It [die sowjetische Regierung, d. Verf.] lays all the responsibility for these unhuman actions of the German military and civil authorities on the crimina Hitlerite Government“, zit. nach Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 7 (10); vgl. auch den insoweit vielsagenden Titel der Note v. 27. April 1942 (Kap. C. I., Fn. 32) „On the monstrous villainies […], and on the responsibility of the German Government and Command for these crimes“, zit. nach Government of Union of Soviet Socialist Republics (Hrsg.), Government Statements, S. 24 (24). 184 Protokoll der Verhandlung v. 30. Aug. 1946, IMT, Bd. 22, S. 412. 185 Hierzu ausf. Kap. C. 186 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 183. 187 Zur Abstimmung siehe Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 183; zu den Urteilsgründen siehe IMT, Bd. I, S. 189 (289–294 u. 307–314). 188 Abschlussplädoyer Rudenkos zu Organisationen, Protokoll der Verhandlung v. 30. Aug. 1946, IMT, Bd. XXII, S. 408. 189 Abschlussplädoyer Rudenkos zu Organisationen, Protokoll der Verhandlung v. 30. Aug. 1946, IMT, Bd. XXII, S. 408. 190 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S.  187; Vgl. Abweichende Meinung des sowjetischen Mitgliedes des Internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411; russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740.

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In seinen Ausführungen zum Reichskabinett191 ging Nikitčenko auf die in den Urteilgründen für den Freispruch angeführten Argumente ein. Die IMT-Richter begründeten ihr freisprechendes Urteil zum einen mit der Struktur der Regierung, die „keine regierende Körperschaft“ gewesen sei, sondern lediglich eine „Anhäufung von Verwaltungsbeamten“192, und zum anderen mit der kleinen Mitliederzahl des Reichskabinetts.193 Der Umstand, dass keine regelmäßigen Kabinettssitzungen stattgefunden hatten und dass die einzelnen Minister mit weitreichenden und ihnen große Selbstständigkeit vermittelnden Kompetenzen ausgestattet waren, bestätigte dagegen nach Ansicht Nikitčenkos die Schlussfolgerung, dass „die Hitlerregierung keine gewöhnliche Regierung, sondern eine verbrecherische Organisation“ gewesen sei.194 Auf die kleine Mitgliederanzahl ging er dagegen nicht explizit ein. Gegen die Entscheidung des Tribunals zum Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht führte Nikitčenko in seinem Sondervotum u. a. an, die Vertreter des Generalstabs und des OKW hätten aktiv an der Ausarbeitung und Durchführung der Angriffspläne gearbeitet, hätten Weisungen und Befehle zur grausamen Behandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen erlassen.195 Auch in diesem Fall erwies sich der von Nikitčenko eingenommene Standpunkt letztlich als alternativlos. Schon im sowjetischen Kriegsverbrecherprozess von Char’kov (15. bis 18. Dezember 1943)196 wurden sämtliche Verbrechen auf direkte Anweisungen der deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht zurückgeführt.197 Keine abweichende Meinung ergab sich dagegen zum Freispruch der SA oder bezüglich der Beschränkung der Verantwortung198 inner 191 Abschn. V. der abweichenden Meinung (Fn. 190), IMT, Bd. I, S. 387–411 (hier 402–405); Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740, hier 734–736. 192 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (310). 193 „Die Zahl der Mitglieder dieser Gruppe wird auf 48 geschätzt, von denen 8 tot sind und 17 jetzt vor Gericht stehen, so daß im Höchstfall 23 verbleiben, für die die Erklärung von Bedeutung sein könnte. Alle anderen, die schuldig sind, sollten auch vor Gericht gestellt werden; es wäre aber nichts für die Beschleunigung oder Erleichterung ihrer Prozesse gewonnen, wenn die Reichsregierung als verbrecherische Organisation erklärt würde. Dort, wo eine Organisation mit großer Mitgliederzahl zu solchen Zwecken verwendet wurde, beugt eine Erklärung der Notwendigkeit vor, ihren verbrecherischen Charakter im Zuge späterer Prozesse gegen Mitglieder zu untersuchen, wenn diese wegen der Mitgliedschaft der Beteiligung an ihren verbrecherischen Zielen angeklagt werden; nur dann würde man Zeit und Mühe sparen. Ein derartiger Vorteil entfällt bei einer kleinen Gruppe, wie es die Reichsregierung ist.“, Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (311). 194 Abweichende Meinung zur Entscheidung über das Reichskabinett (Fn. 190), IMT, Bd. I, S. 387 (405). 195 Abweichende Meinung zur Entscheidung über den Generalstab und das OKW (Fn. 190), IMT, Bd. I, S. 387 (405–411). 196 Dazu oben Kap. C. II. 12. 197 Anklageschrift v. 11. Dez. 1943, abgedr. in Pravda v. 16. Dez. 1943, No 308, S. 2 (3). 198 In den Entscheidungsgründen wurde die Erklärung des Korps der Politischen Leiter der NSDAP als verbrecherische Organisation in personeller und zeitlicher Hinsicht beschränkt: „Die Entscheidung des Gerichtshofes in Bezug auf diese Stabsorganisationen schließt nur jene Amtsleiter ein, die Leiter von Büros im Stabe der Reichsleitung, Gauleitung und Kreisleitung waren. In Bezug auf die anderen Stabsbeamten und auf die Parteiorganisationen, die

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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halb des Korps der Leiter der NSDAP. Den Hintergrund hierfür bildet aller Wahrscheinlichkeit nach der Wunsch der sowjetischen Regierung, in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck der Geschlossenheit zu suggerieren. In Nikitčenkos Sondervotum wurden daher nur Punkte mit besonderer politischer Tragweite aufgenommen, wie es bei der Reichsregierung und dem OKW der Fall war.199 5. Die Urteile zu den Einzelangeklagten Ab dem 2. September 1946 gingen die Richter in die Beratungen über die Urteilssprüche zu den Einzelangeklagten über.200 Zwischen dem 2. und 10. September 1946 fanden vorbereitende Beratungen statt, in welchen alle acht Richter, nämlich die ordentlich berufenen Mitglieder des Tribunals und ihre Stellvertreter, unverbindlich ihren Standpunkt zum Urteilsspruch über die Angeklagten äußern konnten. Diesen schloss sich eine Abfolge von weiteren Beratungen zwischen dem 10. und dem 13. September 1946 an, die in einer abschließenden Beratung, in welcher die vier ordentlichen Mitglieder des Tribunals die Urteile fällten und das Strafmaß festsetzten, zum Abschluss kam.201 a) Die Beratungen des Tribunals in Nürnberg Bevor die Richter mit den Beratungen über die Einzelpersonen beginnen konnten, mussten sie sich über die anzuwendenden Abstimmungsregeln verständigen. Art. 4 lit. c S. 2, 2. Halbsatz IMT-Statut, bestimmte, dass für eine Verurteilung und Bestrafung eine Stimmenmehrheit von mindestens drei Mitgliedern erforderlich dem Korps der Politischen Leiter angeschlossen waren, abgesehen von den oben angerührten Amtsleitern, folgt der Gerichtshof dem Vorschlag der Anklagebehörde, sie von der Erklärung auszuschließen. […] Grundlage für dieses Urteil ist die Beteiligung der Organisation an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit dem Krieg. Aus diesem Grunde kann die als verbrecherisch bezeichnete Gruppe keine Personen einschließen, die vor dem 1. September 1939 aufhörten, eine der aufgeführten Stellungen zu bekleiden.“, Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189 (294). Vgl. hierzu Rudenkos Abschlussrede zu Organisationen am 30. Aug. 1946, Protokoll der Verhandlung v. 30. Aug. 1946, IMT, Bd. XXII, S. 366 ff.: „Die Blockleiter waren kleine Führer, aber auch sie erfreuten sich einer recht realen Macht über die in ihrem Bezirk lebenden Bürger. Gewiß, die Blockleiter arbeiteten die Pläne zum Angriffskrieg nicht aus, aber sie haben sehr viel dazu beigetragen, daß diese Pläne verwirklicht wurden. Sie bildeten ebenfalls einen sehr wichtigen Teil der NaziPartei, die das Herz der faschistischen Verschwörung war. Deswegen bestehen wir darauf, daß das Korps der Politischen Leiter der Nazi-Partei als eine verbrecherische Organisation erklärt wird: Alle großen und kleinen Führer, Reichsleiter und Gauleiter, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter, Zellenleiter und Blockleiter, kurz, das ganze Korps der Politischen Leiter des ungeheuerlichen Mechanismus der faschistischen Diktatur.“ 199 Vgl. hierzu Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 188. 200 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 190; Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (86). 201 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 190.

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war.202 Nach der von Nikitčenko favorisierten Auslegung hatte diese Vorschrift nicht zur Folge, dass eine Stimmengleichheit unter den Richtern zu einem Freispruch führen müsste203. Allem Anschein nach befürchtete Nikitčenko eine Prädominanz der britischen und amerikanischen Richter, die durch eine Abstimmung mit zwei gegen zwei Stimmen nicht nur jede Verurteilung verhindern, sondern auch einen Freispruch erreichen konnten. Nach sowjetischer Leseart des Art.  4 lit.  c IMT-Statut würde die Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zunächst immer offen bleiben, wenn sich nicht drei Richter für oder gegen einen Schuldspruch entscheiden konnten. Diese Auslegung von Art. 4 lit. c IMT- Statut wurde von keinem anderen Richter unterstützt und Nikitčenko im Ergebnis überstimmt.204 Für die abschließende Beratung am 10. September 1946 stand damit verbindlich fest, dass für eine Verurteilung und für die Festsetzung des Strafmaßes die Stimmen von drei ordentlichen Mitgliedern notwendig waren. Eine Diskussion löste auch die Frage aus, wie die Todesstrafen vollstreckt werden sollten. De Vabres vertrat den Standpunkt, dass es sich beim Erschießen um eine gegenüber dem Erhängen „ehrenhaftere Urteilsvollstreckung“ handelte.205 Einige Richter sprachen sich insbesondere bei den Militärs gegen das Erhängen als Hinrichtungsmethode aus.206 Der Vorschlag von Biddle, dass man das Erschießen für Fälle mit mildernden Umständen annehmen könnte, traf jedoch auf sowje­ tischen Widerstand. Nikitčenko prangerte solche Debatten als „Erörterung ‚lächerlicher Details‘“ ab und widersprach der Einführung einer gemilderten Form der Hinrichtung.207 Letztlich insistierten die Sowjets, unterstützt von Lordrichter­ Lawrence, auf die Vollstreckung aller Todesurteile durch Erhängen.208 In zwölf Fällen, in denen die Anklage gemäß allen vier Anklagepunkten209 erhoben war, nämlich Göring, Ribbentrop, Heß, Rosenberg, Frick, Sauckel, Speer, Funk, Neurath, Seyß-Inquart, Keitel und Jodl, forderte die sowjetische Seite die Verurteilung in allen vier Anklagepunkten und die Verhängung der Todesstrafe.210 Die Richter stimmten in sechs Fällen für eine Verurteilung nach allen vier An 202

Statut für den Internationalen Militärgerichtshof v. IMT, Bd. I, S. 10–18, hier S. 11. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 190. 204 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 190. 205 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 191. 206 So u. a. bei Keitel, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 206; Jodl, ebd., 234. 207 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 191. 208 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 206. 209 Siehe Anhang A zur Anklageschrift v. 6. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 29–99, Göring (ebd., S.  74), Ribbentrop (ebd., S.  74–75), Heß (ebd., S.  75), Rosenberg (ebd., S.  76), Frick (ebd., S. 77–78), Sauckel (ebd., S. 78–79), Speer (ebd., S. 79), Funk (ebd., S. 79–80), Neurath (ebd., S. 81), Seyß-Inquart (ebd., S. 82), Keitel (ebd., S. 83), Jodl (ebd., S. 83). 210 Zu den Positionen der sowjetischen Richter Nikitčenko und Volčkov während der Abstimmungen siehe Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 190–324. Göring (ebd., S. 195–196), ­R ibben­ trop (ebd., S.  203–204), Heß (ebd., S.  201–203), Rosenberg (ebd., S.  213–214), Frick (ebd., S. 219–220), Sauckel (ebd., S. 229–230), Speer (ebd., S. 244–245), Funk (ebd., S. 227), von Neurath (ebd., S. 250–251), Seyß-Inquart (ebd., S. 236–238), Keitel (ebd., S. 206), Jodl (ebd., S. 233–234). 203

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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klagepunkten.211 Sie verhängten in diesen sechs Fällen fünf Mal die Todesstrafe und verurteile Constantin von Neurath zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.212 Gegenüber drei der übrigen sechs ursprünglich nach Anklagepunkt eins bis vier angeklagten Personen, nämlich Frick, Sauckel und Seyss-Inquart, sprachen sich die Richter in der Endabstimmung für die Todesstrafe aus, obwohl der Schuldspruch nicht in allen angeklagten Punkten erfolgt war.213 Schließlich wurden von den genannten Personen Heß wegen Anklagepunkt eins und zwei zu lebenslanger Haftstrafe, Funk wegen Anklagepunkt eins, zwei und drei ebenfalls zu lebenslanger Haftstrafe und Speer wegen Anklagepunkt drei und vier zu zwanzig Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.214 211

Zu den Positionen der übrigen Richter während der Beratungssitzungen (Fn. 210). G ­ öring – In der Abschlussbesprechung am 1. Sept. 1946 befanden alle acht Richter den Angeklagten­ Göring für schuldig nach allen vier Anklagepunkten und sprachen sich für die Todesstrafe aus, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 195–196. Ribbentrop – In der Vorberatung am 2. Sept. 1946 enthielt sich de Vabres der Stimme zu Anklagepunkt eins, alle anderen sieben Richter stimmten für schuldig in allen Anklagepunkten. In der abschließenden Beratung am 10. Sept. 1946 stimmten alle sieben anwesenden Richter (Birkett war wegen Arbeiten am Urteilsentwurf abwesend) für schuldig nach allen Anklagepunkten, ebd., S. 203–204; Keitel – Die Beratungen zum Angeklagten Keitel waren die kürzesten. Schon in der Vorberatung am 2. Sept. 1946 sprachen sich alle Richter für einen Schuldspruch und die Todesstrafe aus, ebd., S. 204–206, hier 206; Rosenberg – Rosenberg wurde einstimmig nach allen Anklagepunkten schuldig befunden. Die Richter sprachen sich bis auf de Vabres, der eine lebenslange Haftstrafe forderte, für die Todesstrafe aus, ebd., S. 210–214, hier 214; Jodl – In der Vorberatung sahen alle Richter außer Lawrence und de Vabres die Schuld des Angeklagten Jodl nach allen vier Anklagepunkten für erwiesen an. In der Abschlussberatung sprachen sich die sowjetischen, französischen Richter sowie Biddle und Lawrence für einen Schuldspruch nach allen vier Punkten aus, Parker sah Anklagepunkt vier als nicht erwiesen an, Birkett fehlte in der Sitzung. Am 12. Sep. 1946 fand eine Schlussberatung statt, in der v. a. die Frage der Vollstreckungsweise des Todesurteils entschieden wurde, ebd., S. 230–234, hier S. 233 f.; von Neurath – In der ersten Beratung stimmten die sowjetischen, britischen Richter und Falco für einen Schuldspruch nach allen Anklagepunkten, de Vabres nach zwei und drei. Die amerikanischen Richter waren unentschlossen. In der Abschlussberatung am 11. Sept. 1946 waren die Richter der UdSSR und Großbritanniens weiterhin der gleichen Ansicht, de Vabres war für eins, zwei und drei, Falco und die amerikanischen Richter für eine Verurteilung nach Punkt drei und vier. Angesichts der Meinungsverschiedenheiten im Schuldspruch und beim Strafmaß einigten sich die Richter in der Folgezeit auf einen Schuldspruch nach allen Anklagepunkten und eine Gefängnisstrafe von 15 Jahren, ebd. S. 250–251. Für das Urteil siehe IMT, Bd. I, S. 189–386, Göring (ebd., S. 314–318),­ Ribbentrop (ebd., S. 321–324), Keitel (ebd., S. 324–328), Rosenberg (ebd., S. 331–334), Jodl (ebd., S. 364–367) und von Neurath (ebd., S. 377–380), siehe auch die Tabelle der Strafaus­ sprüche, IMT, Bd. I, S. 414. 212 Siehe Fn. 210 und 211; für eine Liste der Strafaussprüche siehe IMT, Bd. I, S. 412–413. 213 Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189–386, Frick wurde nach Anklagepunkt zwei, drei und vier (ebd., S. 337–340), Sauckel nach drei und vier (ebd., S. 361–364) und Seyss-­Inquart nach zwei, drei und vier (ebd., S. 370–373) schuldig gesprochen. In allen drei Fällen erfolgte die Verurteilung zum Tod durch den Strang, siehe Liste der Strafaussprüche IMT, Bd.  I, S. 412–413. 214 Urteil v. 1.  Okt. 1946, IMT, Bd.  I, S.  189–386, Heß (ebd., S.  318–321), Funk (ebd., S.  343–346) und Speer (ebd., S.  373–377); vgl. ferner die Liste der Strafaussprüche IMT, Bd. I, S. 412–413.

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

In den übrigen Fällen, in denen die Anklage nicht nach allen vier Punkten erhoben worden war, bestand die sowjetische Seite auf einen Schuldspruch nach allen für den Angeklagten in der Anklageschrift bezeichneten Punkten. In mehreren Fällen unternahmen die sowjetischen Richter  – ähnlich wie die Richter anderer Delegationen – sogar den Versuch, nach weiteren bzw. allen Anklagepunkten schuldig zu sprechen, auch wenn die einzelne Person danach nicht angeklagt war. Beispielhaft sei an dieser Stelle der Fall Ernst Kaltenbrunner angeführt, der nach Anklagepunkt eins, drei und vier angeklagt worden war.215 Bei der ersten Beratung am 2. September 1946216 waren sich alle Richter einig, dass sich Kaltenbrunner nach Anklagepunkt drei und vier schuldig gemacht habe. Beim Anklagepunkt eins gab es allerdings keinen Konsens. Die Konsensbildung wurde noch durch den Vorschlag des amerikanischen Richter Biddle erschwert, dass man Kaltenbrunner auch nach Anklagepunkt zwei schuldig sprechen könne, da der Teil der Anklageschrift zur Rolle des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) im Zusammenhang mit Aggressionskriegen eine solche Auslegung zulasse.217 Mehrere Richter, darunter Lawrence, Birkett, Parker und wohl auch Volčkov218 wollten Anklagepunkt zwei nicht heranziehen. Nikitčenko dagegen, wohl inspiriert durch den Vorschlag Biddles, forderte nunmehr eine Verurteilung nach vier Anklagepunkten.219 In der nächsten Beratungssitzung sprachen sich dann beide sowjetische Richter für eine Verurteilung Kaltenbrunners nach allen Anklagepunkten aus.220 Bei Hans Frank forderten die sowjetischen Richter, unterstützt durch Falco, eine Verurteilung gemäß Anklagepunkt eins bis vier, obwohl die Anklage nur nach Punkt eins, drei und vier erhoben worden war.221 In der nächsten Sitzung ließen sie jedoch davon ab und forderten einen Schuldspruch nach den angeklagten Punkten, mithin die Verhängung der Todesstrafe.222 Ähnliche Versuche gab es, zum Teil unterstützt von anderen Richtern wie de Vabres oder Biddle, bei der Verhandlung des Falls Julius Streicher und Martin Bormann.223 Wie die Ausführungen Smiths und Lebedevas zeigen, stimmte die sowjetische Seite in den Beratungen Anfang bis Mitte September nicht in jedem Fall für die Verhängung der Todesstrafe.224 Im Fall von Dönitz, von Papen und Fritzsche gab der sowjetische Richter am Ende sein Votum für eine Freiheitsstrafe von 10 Jah 215

Anhang A zur Anklageschrift v. 6. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier 76. Hierzu Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 208–209. 217 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 208–209. 218 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 209. 219 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 209. 220 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 209. 221 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 216. Zur Anklage gegen Hans Frank siehe Anhang A zur Anklageschrift v. 6. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 29–99, hier 76–77. 222 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 216. 223 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 222 (Streicher); ebd., S. 254 (Bormann). 224 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287 (Dönitz), S. 309–317 (von Papen), S. 318–324 (Fritzsche), S.  292–309  (Schacht) und S.  224–229; vgl. auch Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (87). 216

III. Die richterlichen Beratungen in camera

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ren ab, im Fall von Schacht für eine lebenslange Freiheitsstrafe. Daraus lässt sich zunächst grundsätzlich der Schluss ziehen, dass sich die sowjetischen Richter kompromissfähig zeigten. Gleichzeitig lässt sich anhand der u. a. auf die unver­ öffentlichten Notizen über die Beratungssitzungen von Biddle (The Francis Biddle Papers) gestützten Untersuchung von Smith nachvollziehen, dass Nikitčenko in den meisten Fällen eher durch die schlichte Aussichtslosigkeit einer härteren Linie und nicht durch eine innere Bereitschaft zur Anwendung milderer Beurteilungsmaßstäbe zu einer entsprechenden Stimmabgabe motiviert worden ist.225 Insofern erweist sich die Feststellung Lebedevas, dass die sowjetischen Richter in den Fällen Dönitz, von Papen und Fritzsche eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, im Fall von Schacht und Funk226 eine lebenslange Freiheitsstrafe „vorgeschlagen“227 hätten, zumindest als missverständlich. Im Fall Dönitz setzten sich die sowje­tischen Richter in der Vorberatung dafür ein, Dönitz nach allen angeklagten Punkten – Anklage­punkt eins bis drei – schuldig zu sprechen. Es bleibt unklar, ob ­Nikitčenko und Volčkov bei der ersten Beratung die Todesstrafe gefordert oder ob sie in Anbetracht der schwierigen Konsensbildung228 schon frühzeitig davon Abstand genommen hatten. Sie argumentierten dahingehend, dass auch „die am wenigsten Schuldigen […] eine harte Strafe treffen [muss]“, zeigten aber auch, dass sie einer geringeren Strafe als der, die im Fall des Angeklagten Raeder verhängt worden war, nämlich lebenslängliche Haftstrafe, offen gegenüber stünden.229 Am Ende der Verhandlungen gab Nikitčenko schließlich bekannt, dass er eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren akzeptieren würde.230 Beim Angeklagten Franz von ­Papen sprachen sich in der Beratungssitzung am 6. September 1946 alle drei anwesenden britischen und amerikanischen Richter231 für einen Freispruch aus.232 Die französischen Richter wollten nach Anklagepunkt eins freisprechen und lediglich wegen Verbrechen gegen den Frieden (Anklagepunkt zwei) verurteilen.233 Ein Freispruch zeichnete sich daher deutlich ab, so dass sich die sowjetischen Richter als „äußerstes Zugeständnis und um überhaupt eine Verurteilung zu erreichen“ g­ ezwungen 225

Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (87). Lebedeva stellt fest, dass die sowjetischen Richter auch bei Funk für eine lebenslange Haftstrafe eintraten. Dagegen führt Smith aus, dass sich die westlichen ordentlichen Mitglieder des Tribunals (de Vabres, Biddle und Lawrence) gegen die Einwände Nikitčenkos durchsetzen mussten, der in den Beratungen bis zum Schluss für die Verhängung der Todesstrafe eintrat, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 227. 227 Ü. d. Verf., Lebedeva, Vestnik MGIMO-Universiteta 2010, No 6, S. 75 (87). 228 Die sowjetischen Richter wollten eine Verurteilung nach allen angeklagten Punkten (Anklagepunkt eins bis drei), die französischen Richter hielten zwei und drei (Falco) bzw. drei (de Vabre) für gegeben, allerdings gepaart mit einer „sehr milden Strafe“, Smith, JahrhundertProzeß, S. 284–285. Parker und Lawrence hielten Anklagepunkte eins und zwei für erwiesen; Biddle machte sich für einen Freispruch stark, ebd., S. 286. 229 Zit. nach Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287. 230 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287. 231 Stellvertretendes Mitglied des IMT für Großbritannien Birkett war wegen Arbeiten am Urteilstext gehindert, an der Sitzung teilzunehmen, Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 313. 232 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 313 f. 233 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 314 f. 226

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sahen, „für diesmal von der Todesstrafe abzusehen“ und sich mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren abzufinden.234 In der Abschlussabstimmung votierten Nikitčenko und de Vabre für eine Verurteilung, Lawrence und Biddle dagegen, so dass von Papen im Ergebnis freigesprochen wurde. Eine ähnliche Situation ergab sich beim Angeklagten Fritzsche, den das IMT ebenso wie von Papen freisprach.235 Die französischen Richter forderten eine Verurteilung, und auch ­Birkett sowie Nikitčenko und Volčkov setzten sich für einen Schuldspruch nach allen drei angeklagten Punkten ein.236 Volčkov trug vor, dass eine niedrige Freiheitsstrafe ausreichend sein dürfte. Nikitčenko fand, dass zwei Jahre zu wenig seien und Fritzsche zu mindestens zehn Jahren verurteilt werden müsse.237 De Vabres änderte schließlich seine Meinung und stimmte letztlich mit Lawrence und Biddle gegen die Stimme von Nikitčenko für einen Freispruch.238 Lediglich im Fall von Hjalmar Schacht lässt sich anhand der Quellen-Auswertung von ­Bradley Smith nachvollziehen, dass der sowjetische Richter zu Beginn der Beratungen nur zögerlich eine Verurteilung erwogen hatte und nach der Auswertung aller Beweise schließlich die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe, ggf. eine leichtere Strafe, vorschlug.239 b) „Es ist auf der Verhängung der Todesstrafe zu bestehen“: Politische Direktiven an Nikitčenko vom 19. September 1946 Nachdem die Richter ihre Beratungen abgeschlossen und über die Einzelangeklagten bereits abgestimmt hatten, ergriff die sowjetische Regierung in Moskau Maßnahmen, um noch vor der endgültigen Fertigstellung des Urteilstextes nachträglich die Schuld- und Strafaussprüche abzuändern. Der Generalstaatsanwalt der UdSSR Goršenin und stellvertretender Außenkommissar Dekanozov legten am 17. September 1946 Stalin einen zuvor mit Vyšinskij und Molotov abgestimmten Weisungsentwurf für Nikitčenko vor.240 Nachdem Stalin seine Zustimmung erteilt hatte241, wurden die für Nikitčenko bestimmten Anweisungen am 19. September 234

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 316. Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189–386, hier S. 380–383. 236 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 320–321. 237 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 321. 238 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 323. 239 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 302–303, 305. 240 Weisungsentwurf v. Goršenin und Dekanozov an Stalin v. 17. Nov. 1946, AVP RF, f. 012, op. 7, p. 106, d. 186, Bl. 11–19, abgedr. bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumenty, T. II, Dok. 164, S. 703–707 = Lebedeva (Hrsg.), SSSR, Dok. No 275, S. 500–505; dt. Übersetzung bei Laufer/ Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625–630. 241 Vgl. handschriftl. Vermerk Dekanozovs auf dem Weisungsentwurf (Fn. 240) „Gen. Stalin ist einverstanden.“ Am 18. Sept. 1946 teilte Dekanozov einem Vertreter des Generalstaatsanwalts der UdSSR Mokičev mit, dass Stalin mit dem am 17. Sept. 1946 von Goršenin und­ Dekanozov vorgelegten Weisungsentwurf einverstanden sei und bat um Übersendung an­ Nikitčenko, AVP RF, f. 012, op. 7, p. 106, d. 186, Bl. 10. 235

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1946 nach Nürnberg übermittelt.242 Das Dokument ging auf jeden Angeklagten ein und legte fest, ob und welche Anklagepunkte weiter forciert werden sollten und welchem Strafausspruch der sowjetische Richter zur Durchsetzung verhelfen musste. In den Direktiven vom 19. September 1945 befand sich u. a. die an Nikitčenko gerichtete Anordnung, für alle Angeklagten die Verhängung der Todesstrafe zu fordern. Der sowjetische Richter sollte die Richterkollegen durch ausführlich begründete und auf eine breite Fakten- und Dokumentenbasis gestellte Argumentation überzeugen.243 Allgemein sollte Nikitčenko darauf bedacht sein, sich bei der Umsetzung der Anweisungen „der unterschiedlichsten Methoden“ zu bedienen und die Richterkollegen „geschickt auf seine Seite […] ziehen“ sowie die „Ansichten derjenigen, die unseren [den sowjetischen, d. Verf.] Standpunkt nicht teilen, überzeugend […] widerlegen“.244 Dem Vorsitzenden Lordrichter Lawrence sollte Nikitčenko systematisch vermitteln, dass er als Vorsitzender die sowjetische Position unterstützen müsse. Andernfalls würden das sowjetische Volk und alle anderen Völker die „Barmherzigkeit der Richter gegenüber den Angeklagten […] nicht verstehen“ oder sogar als einen Versuch werten, „die Verbrecher, über die die öffentliche Meinung der fortschrittlichen Menschheit längst das Todesurteil gesprochen hat, vor einer Bestrafung zu retten“.245 Im Zusammenhang mit den einzelnen Angeklagten legte die Direktive vom 19. September 1946 fest, dass in Bezug auf Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Alfred Rosenberg, Wilhelm Frick, Alfred Jodl und Martin Bormann keine Einwände bestünden, da die Richter bereit seien, „den Angeklagten alle in der Anklageschrift aufgeführten Verbrechen zur Last zu legen“.246 In Fällen, in den sich die Richter auf die Verhängung der Todesstrafe geeinigt hatten, aber nicht nach allen laut Anklageschrift möglichen Anklagepunkten (eins bis vier) bzw. nicht nach allen im Einzelfall angeklagten Punkten bestrafen wollten, bestimmte die Direktive, dass hinsichtlich des Strafmaßes keine Einwände erhoben werden sollten, dass aber der Schuldspruch auf weitere Anklagepunkte ausgeweitet werden müsse. Eine solche Anweisung erging in den Fällen Ernst Kaltenbrunner, Hans Frank, Fritz Sauckel und Arthur Seyss-Inquart.247 Beim Angeklagten Kaltenbrunner, der nach Anklage­ 242 Telegramm Mokičevs an den stellvertr. Generalstaatsanwalt Safonov mit den Anweisungen an Nikitčenko v. 19. Sep. 1946, AVP RF, f. 012, op. 7, p. 106, d. 186, Bl. 20. 243 Anweisungen v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (629). 244 Anweisungen v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (629). 245 Anweisungen v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (629). 246 Anweisungen v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Übersetzung bei Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (625). In Bezug auf den Angeklagten Frick ist dies nicht zutreffend, siehe Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 219–220, zum Urteilsspruch siehe Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189–386, hier 343–346. 247 Siehe Ziff. 2 (Kaltenbrunner), Ziff. 3 (Frank), Ziff. 6 (Sauckel) und Ziff. 7 (Seyss-Inquart) der Anweisungen, oben Fn. 240, Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626–627).

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punkt eins, drei und vier angeklagt war und bei dem die Richter in der Abstimmung zu einem Schuldspruch gemäß Punkt drei und vier gekommen waren, sollte­ Nikitčenko einen Schuldspruch nach Punkt eins und zwei durchsetzen.248 Wenn dies nicht gelänge, durfte Nikitčenko auch dem bereits ausgehandelten Richterspruch zustimmen, da die übrigen Richter die Verhängung der Todesstrafe vorgesehen hatten. Ähnlich sollte Nikitčenko beim Angeklagten Frank verfahren, bei dem man bezüglich des Strafmaßes (Todesstrafe) in Moskau keine Einwände hatte, Nikitčenko jedoch versuchen sollte, eine Verurteilung nach Anklagepunkt eins und zwei zu erwirken.249 Auch Frank war nach Anklagepunkt zwei nicht angeklagt. Begründet wurde der ins Auge gefasste erweiterte Schuldspruch damit, dass Frank als „Rechtstheoretiker“ die „imperialistische Politik des Faschismus begründet“ habe.250 Schließlich sollte der sowjetische Richter nach dem gleichen Prinzip bei Sauckel251 und Seyss-Inquart252 vorgehen. Eine Ausnahme bildete­ Julius Streicher, für den das Richterkollegium die Verhängung der Todesstrafe bereits vorgesehen hatte, Moskau aber keine Ausweitung des Schuldspruchs forderte.253 Nikitčenko sollte seine Stimme für die Verurteilung nach Anklagepunkt vier mit Verhängung der Todesstrafe abgeben, dies aber gleichzeitig als Entgegenkommen ausgeben, für welches die sowjetische Seite von den westlichen Partnern ihrerseits ein „Entgegenkommen hinsichtlich anderer Angeklagter“ erwartete.254 Zur Anklage gegen Heß, Funk, Speer, Schirach und Dönitz enthielt die Direktive die Anweisung, durch die zu fordernde Verhängung der Todesstrafe und die Ausweitung des Schuldspruchs auf weitere Anklagepunkte eine Änderung im Schuldund Strafausspruch durchzusetzen.255 Ein Blick auf die in der Direktive jeweils angeführten Argumente zeigt, dass sie für die Richter keine neuen Informationen oder Sachverhalte enthielten und sich damit als wenig geeignet erwiesen, die Richterkollegen ernsthaft zum Überdenken ihres Standpunkts und zur Durchführung einer Neuabstimmung zu bewegen. Den vergleichsweise größten Begründungsumfang nahmen die Fälle Heß, Schirach und Dönitz ein. Der Urteilsspruch zu Rudolf Heß sollte sich nach An 248

Ziff. 2 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 249 Ziff. 3 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), vgl. Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 250 Ziff. 3 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 251 Ziff. 6 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 252 Ziff. 7 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 253 Ziff. 4 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626–626). 254 Oben Fn. 253. 255 Ziff. 1 (Heß), Ziff. 5 (Funk) und Ziff. 8 (Speer), Ziff. 10 (Schirach) und Ziff. 11 (Dönitz) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626–628).

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sicht Moskaus auf alle Anklagepunkte erstrecken, es sollte die Todesstrafe verhängt werden. Als Begründung führte die Direktive u. a. an, dass Heß zum Zeitpunkt des Angriffs auf die UdSSR sich zwar in England befand, aber an seiner Vorbereitung beteiligt gewesen war.256 Der Flug nach England sei für sich genommen „gewissermaßen Bestandteil der Verschwörung gegen den Frieden und ein Mittel zu dessen Verwirklichung“.257 Als drittes Argument führte die Direktive an, dass der „Prozess […] überzeugend nachgewiesen [habe], daß die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit von den Nazis vor Beginn der Angriffshandlungen gegen die jeweiligen Länder geplant worden waren, wofür Heß direkte Verantwortung“ tragen würde. Heß trage auch unmittelbare Verantwortung, weil er das deutsche Volk auf die Verbrechen moralisch vorbereitet und durch die „Propagierung der ‚Rassentheorie‘“ den Boden für diese Verbrechen bereitet habe.258 Im Fall Baldur von Schirachs sollte als Argument u. a. angeführt werden, dass er die „deutsche Jugend mit den wahnwitzigen ‚Theorien‘ des Faschismus infiziert und sie praktisch auf Raubkriege und Kriegsverbrechen vorbereitet“ habe.259 Beim Angeklagten Dönitz sollte seine persönliche Verantwortung für den Seekrieg sowie der Umstand berücksichtigt werden, dass er „nach Hitler versucht [hatte], den Krieg fortzusetzen“ und dies zu zusätzlichen Opfern geführt hatte.260 Bei Erich Raeder, Hans Fritzsche und Franz von Papen strebte Moskau die Verhängung der Todesstrafe an, verzichtete jedoch auf die Forderung nach Ausweitung des Schuldspruchs.261 Im Fall Raeders verwies die Direktive auf die oben ausgeführte Begründung zur Verantwortung von Dönitz.262 Beim Angeklagten Fritzsche wollte Moskau das Argument der westlichen Richter auf die Presse- und Redefreiheit, das die Direktive als eine „Verhöhnung der heiligen Prinzipien der Demokratie“ bezeichnete, nicht gelten lassen.263 Fritzsche habe als rechte Hand Goebbels „zur Umsetzung der verbrecherischen Politik der Nazis aufgerufen“ und die „imperialistischen Bestrebungen Deutschlands geschürt“.264 Für

256 Ziff. 1 a) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 257 Ziff. 1 b) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 256), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 258 Ziff. 1 b) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626). 259 Ziff. 10 a) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 260 Ziff. 11 a) der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 261 Ziff. 12 (Raeder), Ziff. 13 (Fritzsche) und Ziff. 14 (von Papen) der Anweisung v. 19. Nov. 1946, oben Fn. 240, zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 262 Ziff. 12 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 263 Ziff. 13 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 264 Ziff. 13 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628).

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den Fall, dass der Durchsetzung des sowjetischen Standpunktes kein Erfolg beschieden sein sollte, erhielt Nikitčenko die Erlaubnis, auch einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe zuzustimmen. In einem einzigen Ausnahmefall sah die Direktive „angesichts des hartnäckigen Widerstands der Partner im Hinblick auf das Strafmaß und in Anbetracht ihres Wunsches, nicht alle zum Tode zu verurteilen“ vor, eine zeitliche Gefängnisstrafe von 15 Jahren in Kauf zu nehmen, wenn die Durchsetzung der Todesstrafe nicht gelingen würde, nämlich im Fall von Constrantin von Neurath.265 Ähnlich wie bei der Anklage gegen Julius Streicher, bei der man auf die Ausweitung des Schuldspruchs zu verzichten bereit war, sollte die ‚Nachgiebigkeit‘ im Fall Neurath als „Geste des guten Willens gegenüber den Partnern serviert“ und daher ein Entgegenkommen beim Schuldspruch gegenüber anderen Angeklagten erwartet werden.266 Einen besonderen Stellenwert nahm in der Direktive Hjalmar Schacht ein.267 Nikitčenko wurde angewiesen, dem Freispruch in keinem Fall zuzustimmen, „geradezu ultimativ“ eine Verurteilung nach allen Anklagepunkten und die Verhängung der Todesstrafe einzufordern.268 Zur Begründung führte die Direktive u. a. an, dass Schacht Hitler bei der Machtergreifung erwiesenermaßen geholfen hatte, die finanzielle Unterstützung der Nazis organisiert und „dazu die deutschen Kapitalisten herangezogen“ hatte, die Finanzierung der deutschen Aggression gegen die anderen Staaten organisiert und betrieben und sich während der Naziherrschaft „sowohl durch Worte als auch durch Taten als glühender Anhänger Hitlers zu erkennen“ gegeben habe.269 Obwohl Nikitčenko weisungsgemäß versuchte, auf eine Änderung der Richterentscheidung im Sinne der Direktive hinzuwirken, blieben seine Bemühungen letztlich ohne Erfolg. Für diesen Fall ord­ irektive an: nete die D „Zeitigt eine solche Vorgehensweise nicht die gewünschten Ergebnisse, so müssen Sie ­Ihren abweichenden Standpunkt schriftlich fixieren und fordern, daß das Dokument dem Urteil beigefügt wird. Darüber hinaus müssen Sie darauf hinwirken, daß der Vorsitzende bei der Verkündung des Urteils den Inhalt des Schreibens, in dem Ihr abweichender Standpunkt dargelegt wird, bekanntgibt.“270

265

Ziff. 9 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 266 Vgl. Ziff. 9 der Anweisungen v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627), ausf. Kap. H. 5 b). 267 Zu den Urteilsgründen siehe Urteil v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. I, S. 189–386, hier S. 346–350. Zur Direktive Ziff. 15 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628–629). 268 Ziff. 15 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 269 Ziff. 15 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (629). 270 Anweisungen v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (629).

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Am Tag der Urteilsverkündung am 1.  Oktober 1946 verlas der Vorsitzende Lawrence eine Bekanntmachung271 über die von Nikitčenko erklärte abweichende­ Meinung.272 c) Das abweichende Sondervotum Nikitčenkos: Residuum sowjetischer Kernforderungen Der sowjetische Richter war der einzige, der eine abweichende Meinung veröffentlichte. Allerdings hatte auch Biddle dem Kollegium während der Beratung zum Angeklagten Dönitz in Aussicht gestellt, eine abweichende Meinung zu formulieren, würde man Dönitz wegen der U-Boot-Kriegsführung verurteilen wollen.273 Biddle hatte auf Freispruch gedrängt und dies mit der Erwägung gerechtfertigt, dass man bewaffnete Handelsschiffe als Kriegsfahrzeuge zu qualifizieren habe, weswegen es „albern“ erscheine, Dönitz dafür zur Verantwortung zu ziehen, dass er solche Schiffe ohne Vorwarnung angreifen und auch keine Überlebenden aufnehmen ließ.274 Im Fall von Dönitz konnte ein ernsthafter Konflikt unter den Tribunalsmitgliedern durch eine Vereinbarung abgewendet werden, dass Biddle für den Angeklagten Dönitz die Urteilsgründe eigenständig formulieren durfte und im Gegenzug auf seine abweichende Meinung verzichtete.275 Im sowjetischen Sondervotum legte Nikitčenko seine argumentativ belegten Einwände gegen die drei Freisprüche in den Fällen Schacht, von Papen und Fritzsche sowie zum Strafmaß für den Angeklagten Heß nieder.276 Dabei handelte es 271 „Der Sowjetrichter des Internationalen Militärgerichtshofs wünscht, daß seine Entscheidung, die von der des Gerichtshofs in den Fällen der Angeklagten Schacht, von Papen und Fritzsche abweicht, in das Protokoll aufgenommen wird. Er ist der Meinung, diese hätten für schuldig befunden und nicht freigesprochen werden sollen. Seine Entscheidung weicht auch ab in Bezug auf das Reichskabinett, den Generalstab und das OKW; er ist der Meinung, sie hätten zu verbrecherischen Organisationen erklärt werden sollen. Er weicht auch ab bezüglich des Urteils über den Angeklagten Heß und ist der Meinung, die Todesstrafe und nicht lebenslängliches Gefängnis hätte verhängt werden sollen. Diese abweichende Meinung wird schriftlich festgelegt und dem Urteil beigefügt werden. Es wird sobald als möglich veröffentlicht werden.“, Protokoll der Verhandlung v. 1. Okt. 1946, IMT, Bd. XX, S. 674. 272 Abweichende Meinung des sowjetischen Mitgliedes des Internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411; russ. Fassung in Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740. 273 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287. 274 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287. 275 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 287. 276 Abweichende Meinung des sowjetischen Mitglieds des internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411; zum Angeklagten Schacht, ebd., S. 387–394; zum Angeklagten von Papen, ebd., S. 394–396; zum Angeklagten Fritzsche, ebd., S. 396–399; zum Angeklagten Heß, ebd., S. 399–402. Russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740; zum Angeklagten Schacht, ebd., S. 722–727; zum Angeklagten von Papen, ebd., S. 727–729; zum Angeklagten Fritzsche, ebd., S. 729–732; zum Angeklagten Heß, ebd., S. 732–734.

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sich um nur einige wenige Positionen, in denen die UdSSR in den Beratungen beharrlich eine andere Ansicht vertreten hatte. In Anbetracht des Umstands, dass alle Nürnberger Richter während der Beratungen grundsätzlich bemüht waren, aufrichtige Kompromisse durch für jeden vertretbare Lösungen zu erreichen und die Veröffentlichung von Sondervoten zu vermeiden277, stellt sich diese abweichende Meinung als Residuum solcher Kernpositionen dar, bei denen die sowjetische Seite die kommentarlose Hinnahme einer ihren Forderungen widersprechenden Entscheidung für ausgeschlossen erachtete, die Veröffentlichung einer abweichenden Meinung mithin als unumgänglich ansah. Denn im Sondervotum hätte der ­sowjetische Richter noch zahlreiche der von Moskau abweichend von der Tribunalsmehrheit erhobenen Forderungen vortragen können. Beispielsweise hatte Moskau für den letztlich zu 20 Jahren Haft verurteilten Albert Speer eine Verurteilung in allen Anklagepunkten und die Verhängung der Todesstrafe gefordert.278 Im Fall des ebenfalls zu 20-jähriger Freiheitsstrafe nach Anklagepunkt vier verurteilten Baldur von Schirach war Moskau „entschieden“ für eine Verurteilung nach den Anklagepunkten eins und zwei eingetreten und hatte „unbedingt die Verhängung der Todesstrafe“ gefordert.279 Dennoch sah die sowjetische Seite davon ab, dass dissentierende Sondervotum zum Schauplatz einer umfassenden Abrechnung mit dem Urteil in sämtlichen nicht genehmen Urteilsinhalten zu ent­ wickeln. Diese relative Zurückhaltung dürfte u. a. darin begründet liegen, dass die UdSSR das Urteil des Nürnberger Militärgerichts trotz Missbilligung im Detail insgesamt mit der größtmöglichen Autorität versehen wissen wollte, die durch eine allzu grundsätzliche Kritik von Seiten eines Signatarstaates Schaden zu nehmen drohte. Es musste sich zumindest aus sowjetischer Sicht gleichzeitig an allen während der Kriegsjahre in öffentlichen Erklärungen der Regierung ununter­brochen artikulierten Ankündigungen harter Bestrafung280 für die Hauptverantwortlichen messen lassen. In der Wortwahl des sowjetischen Hauptanklägers Rudenko erfolgte die Anklage im Namen der ganzen Menschheit281, und die Urteilsverkündung markierte die „Stunde der Abrechnung“282: „Die freiheitsliebenden Völker haben gesiegt, die Wahrheit hat triumphiert, und wir sind stolz darauf, daß der Internationale Militärgerichtshof das Gericht der siegreichen, gerechten Sache der friedliebenden Völker ist.“283 277

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 187. Ziff. 8 der Anweisung v. 19.  Nov. 1946 (Fn.  240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 279 Ziff. 10 der Anweisung v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (627). 280 Hierzu oben Kap. C. 281 „Die Menschheit zieht die Verbrecher zur Verantwortung, und in ihrem Namen klagen wir, die Ankläger, in diesem Prozeß an.“, Protokoll der Verhandlung v. 29. Juli 1946, IMT, Bd. XIX, S. 639. 282 Protokoll der Verhandlung v. 30. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 21. 283 Protokoll der Verhandlung v. 30. Juli 1946, IMT, Bd. XX, S. 22. 278

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Noch während des Prozesses hatte auch Trajnin das Tribunal zum „Gericht der siegreichen Wahrheit“284 erhoben. Unmittelbar nach Urteilsverkündung verfasste er sogar einen mit dem Titel „Das Urteil der Geschichte“285 versehenen Beitrag. In der Presse wurde es als „langerwartete Vergeltung“286, das das Ende „der blutigen und verbrecherischen Geschichte des deutschen Faschismus“287 verkündet, das „Schwert des Siegers über den Aggressor“288 und als eine „fürchterliche Warnung“ für alle diejenigen bewertet, die „in der Zukunft den internationalen Frieden und Sicherheit in Gefahr bringen wollen“.289 Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass jeder Freispruch die dem Verfahren von sowjetischer Seite zugedachte Funktion einer finalen Abrechnung zu gefährden drohte. Sein Votum zum „unbegründete[n] Freispruch des Angeklagten Schacht“ untermauerte Nikitčenko mit Ausführungen zu Schachts Unterstützung der NSDAP, aktiver Hilfe bei der Machtergreifung, wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung bei den Kriegsvorbereitungen und Durchführung sowie Judenverfolgungen und Ausplünderungen in den besetzten Gebieten.290 Von Papen war aus sowje­ tischer Sicht zu Unrecht freigesprochen, weil er zur Machtergreifung der Nationalsozialisten aktiv beigetragen hatte, sich an der Verwirklichung der Umsetzung der Aggressionspläne in Österreich beteiligt und „Hitler treu bis zum Schluß [gedient habe, d. Verf.], indem er seine Kräfte und diplomatische Gewandtheit für die­ Verwirklichung der nazistischen Angriffspläne nutzte“.291 Im Sondervotum zum Angeklagten Fritzsche wurden vor allem die Rolle der Propaganda bei den Kriegsvorbereitungen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen in den Mittelpunkt gerückt.292 Es liegt nahe, dass sich hinter dem abweichenden Votum Nikitčenkos zu 284

Ü. d. Verf., Trajnin, Novoe vremja 1946 No 1, S. 15–17, hier 17= Trajnin, in Rudenko (Hrsg.),Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S. 219–222, hier 222. 285 Trajnin, in: Rudenko (Hrsg.),Trajnin, Izbrannye proizvedenija, S.  261–263.  Vgl. auch Trajnin 1945: „In Nürnberg blühte der Faschismus. In Nürnberg wird er sein Grab finden“, Trajnin, Sočialističeskaja zakonnost‘ 1945 No 9, S. 1–14, hier 7. 286 Ü. d. Verf. So der Titel eines sowjetischen Artikels anlässlich des Endes des Nürnberger Prozesses, Dolgoždannnoe vozmezdie. Okončaniju Njurnbergskogo processa, L’vov, Slavjane 1946 No 10, S. 32–35. 287 Sergeeva, Novoe Vremja 1945 No 13, S. 21–25, hier S. 25. 288 Poljanskij, Sovetsoe gosudarstvo i pravo 1945 No 1, S. 44–54, hier 54. 289 Poljanskij, Sovetsoe gosudarstvo i pravo 1945 No 1, S. 44–54, hier 44. 290 Abweichende Meinung des sowjetischen Mitgliedes des Internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411, zum Angeklagten Schacht, ebd., S. 387–394. Russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740, zum Angeklagten Schacht, ebd., S. 722–727. 291 Abweichende Meinung des sowjetischen Mitgliedes des internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411, zum Angeklagten von Papen. Russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740, zum Angeklagten von Papen. 292 „Zur richtigen Klarstellung der Rolle des Angeklagten Fritzsche ist es unbedingt notwendig, davon auszugehen, daß der Propagandadienst im allgemeinen und der Rundfunkpropa­ ganda­dienst im besonderenvon Hitler und seinen nächsten Mitkämpfern (z. B. Göring) als einer der wichtigsten und grundlegendsten Faktoren der aggressiven Kriegsführung angesehen wurden. Im Hitler-Deutschland war die Propaganda ein sehr wichtiges Instrument bei der Vorbe-

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von ­Papen und Fritzsche in erster Linie grundsätzliche Erwägungen, w ­ eitgehend unabhängig von der konkreten Tätigkeit und Stellung der beiden Angeklagten im nationalsozialistischen System, verbargen. Auch Schacht konnte bereits aus den gleichen Gründen nicht freigesprochen werden. Wie sich der Direktive vom 19. September 1946 deutlich entnehmen lässt, hatte man dessen Verurteilung jedoch darüber hinaus als Brandmarkung einer Person, die „die deutschen Kapitalisten herangezogen“293 hatte, für ideologisch besonders wertvoll erachtet. Schließlich enthält das dissentierende Votum Ausführungen zum Strafmaß von Rudolf Heß, für den der sowjetische Richter die Todesstrafe gefordert hatte.294 Der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe hatte man gerade im Fall dieses konkreten Angeklagten, des „am nächsten zu Hitler stehende[n] Vertrauensmann[s]“, wegen seiner „besonderen Stellung […] im System der Führung der Hitler-Partei und des Staates“ eine immense symbolische Bedeutung beigemessen.295 Die besondere Härte, die man gegenüber Heß walten ließ, erklärt sich jedoch erst im Zusammenhang mit seinem Überflug nach England im Jahr 1941 und den Absichten zum Abschluss eines ­Separatfriedens.296 Dieses Ereignis war aus sowjetischer Sicht an sich „gewisser­maßen Bestandteil der Verschwörung gegen den Frieden und ein Mittel zu deren Verwirklichung“297 und verdiente daher die höchste mögliche Bestrafung. Es bleibt festzuhalten, dass für die sowjetische Seite in erster Linie die Außenwirkung, die Symbolik des Urteilspruchs, von Bedeutung war und nicht der Einzelfall des Angeklagten. Es galt, eine moralische Verurteilung des gesamten nationalsozialistischen Systems auszusprechen und zwar ohne Ausnahmefälle oder Anerkennung von im Einzelfall rechtfertigend wirkenden Umständen. Allerdings wäre die Annahme verfehlt, würde man diese Denkweise für eine ausschließlich sowjetische halten. So gab der französische Richter de Vabres während der Beratungen des Falles von Papen zu bedenken, „Zweck des Gerichts sei es, ‚mora­ lische Kategorien anzuwenden‘, und weil Papen ein ‚Geschöpf von üblem Einfluß‘ sei, das ‚Unmoral und Täuschung‘ in den USA und Wien verbreitet habe, müsse reitung und Durchführung der aggressiven Akte und ein sehr wichtiges Instrument für die Erziehung gehorsamer Organe der verbrecherischen Pläne des Nationalsozialismus. […] Das Hauptmittel der propagandistischen Tätigkeit der Hitlerleute war die lügenhafte Verdrehung der Tat­sachen.“, Abweichende Meinung des sowjetischen Mitgliedes des internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411, zum Angeklagten Fritzsche, ebd., S. 396–399, hier 396–397. Russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740, zum Angeklagten Fritzsche, ebd., S. 729–732, hier 729–730. 293 Ziff. 15 der Anweisungen v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (628). 294 Abweichende Meinung des sowjetischen Mitglieds des Internationalen Militärgerichtshofes, IMT, Bd. I, S. 387–411, zum Angeklagten Heß, ebd., S. 399–402. Russ. Fassung bei Rekunkov u. a. (Hrsg.), Njurnbergskij process, T. 8, S. 722–740, zum Angeklagten Heß, ebd., S. 732–734. 295 Siehe oben Fn. 294, IMT, Bd. I, S. 399. 296 Zu Heß’ Landung in Schottland am 10. Mai 1941 bereits oben S. 95. 297 Ziff. 1 der Anweisungen v. 19. Nov. 1946 (Fn. 240), zit. nach Laufer/Kynin (Hrsg.), Dokumente, Bd. 2, Dok. 164, S. 625 (626).

IV. Fazit

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er ohne Rücksicht auf die Beweislage verurteilt werden“.298 De Vabres allgemeine Position beschreibt Bradley Smith wie folgt: „Er wollte überhaupt keinen Angeklagten freisprechen, weil er meinte, die Nazis hätten so fürchterliche Verbrechen begangen, daß das Tribunal keinem einzigen Angeklagten Schuldlosigkeit bescheinigen dürfe, ‚einerlei wie schuldig er persönlich geworden ist.“299

Im umgekehrten Fall – dem Freispruch von Papens – spielten bei der Entscheidung des Vorsitzenden Lawrence auch Zweckmäßigkeitserwägungen eine Rolle: „Es wäre unzweckmäßig, nur Papen freizusprechen.“300

Die Sowjetregierung ließ die abweichende Meinung des sowjetischen Richters noch vor der offiziellen Verkündung der schriftlichen Urteilsgründe durch das Tribunal veröffentlichen. Bereits am 5. und 6. Oktober 1946 druckte die Zeitung Pravda die abweichende Meinung des sowjetischen Richters ab.301

IV. Fazit Wie die Argumentation und die Abstimmungen der sowjetischen Richter und die Direktive der sowjetischen Regierung vom 19. November 1945 zeigen, sah die sowjetische Seite die Schuld bei allen Angeklagten als erwiesen an. Nikitčenko stimmte zwar nicht in allen Fällen für die Verhängung der höchstmöglichen Strafe, der Todesstrafe. Die Direktive vom 19. November 1946, die der sowjetische Richter zwar nach der richterlichen Abstimmung, aber vor der Urteilsverkündung erhielt, legte die Todesstrafe jedoch für alle Angeklagten als schuld- und tatangemessen fest. Ob dieses Ergebnis für die sowjetischen Richter Nikitčenko und Volčkov bereits vor Beginn der Hauptverhandlung außer Zweifel stand, ist die Kernfrage für die Bewertung, ob sich der sowjetische Beitrag in der Hauptverhandlung und insbesondere bei der Urteilsfindung so weit von dem strafprozessualen Idealziel, einem „objektive[n] Ausspruch über Schuld [oder] Strafe“302, entfernt hatte, dass man ihn als Schauprozess qualifizieren müsste. Allein die Forderung der Verurteilung aller Angeklagten ist indes kein ausreichender Beleg dafür, dass die sowjetischen Richter nicht in jedem Fall von der Schuld des Angeklagten überzeugt waren und lediglich eine zuvor getroffene und feststehende Entscheidung umsetzten. Wie alle IMT-Mitglieder hätten die sowjetischen Richter zur Gewinnung ihrer Überzeugung dieselben Mittel heranziehen können, nämlich alles, was zum Gegenstand der Verhandlung geworden war, darunter die Beweisvorträge, 298

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 315. M. w. Nachw. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 303; ähnlich Kastner, Völker, S. 139. 300 Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 323. 301 Osoboe mnenie člena Meždunarodnogo Voennogo Tribunala ot SSSR t. Nikitčenko o povodu rešenija Tribunala, Pravda v. 5. Okt. 1946 (No 237), S. 3, und Pravda v. 6. Okt. 1946 (No 238), S. 3. 302 Meyer-Goßner (Hrsg.), StPO, 25. Aufl. 2015, Einl. Rdnr. 1. 299

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H. Sowjetische Einflussnahme auf Beratung und Urteilsfindung durch das IMT

die Plädoyers von Anklage und Verteidigung oder die eigenen Beobachtungen der Richter. Zudem ergab die Auswertung der Beratungsprotokolle durch Bradley Smith, dass Nikitčenko im Fall von Hjalmar Schacht einen Freispruch zumindest in Betracht gezogen hatte. Nach Darstellung Smith’ neigte der sowjetische Richter während der Beratung zu einem Schuldspruch bzw. forderte nur zögernd eine Verurteilung.303 Er trat schließlich für eine Verurteilung Schachts ein, forderte jedoch keine Todesstrafe und erklärte sich auch mit einer geringeren Strafe einverstanden.304 Für eine Vorverurteilung sprechen u. a. einige Aussagen Nikitčenkos während der Londoner Konferenz, wie z. B. die nachfolgend zitierte Erklärung: „We are dealing here with the chief war criminals who have been convicted and whose conviction has been already announced by both the Moscow and the Crimea declarations by the heads of governments, and those declarations both declare to carry out immediately just punishment for the offences which have been committed.“305

Für die Gesamtbewertung ist schließlich die Anweisung vom 19.  November 1946 von entscheidender Bedeutung, die Nikitčenko noch vor der Urteilsverkündung erhielt. Nikitčenko konnte das Ergebnis der einzelnen Abstimmungen zwar nicht mehr verändern. Der Inhalt der Direktive, nämlich die darin enthaltene Festlegung des richterlichen Urteilsspruchs und der geforderten Argumentation, zeigt allerdings, dass die sowjetische Regierung eine unabhängige Würdigung aller Beweise und eine Entscheidungsfindung aus dem Inbegriff der Verhandlung durch die sowjetischen Richter nicht zulassen wollte. Dies widerspricht nicht nur unserem heutigen Verständnis von einem am Rechtsstaatsprinzip ausgerichteten Strafprozess, sondern auch den damals geltenden Vorschriften der sowjetischen Strafprozessordnung. Art. 319 StPO RSFSR bestimmte, dass das Gericht das Urteil nur auf Tatsachen stützen durfte, die in der Hauptverhandlung erörtert worden waren. Die Direktive vom 19. November 1946 liefert den Nachweis, dass die richterliche Entscheidung auf sowjetischer Seite weit entfernt vom Verhandlungsort ohne Kenntnis der Argumente der Anklage und der Verteidigung von den politischen Akteuren getroffen wurde. Da man vor diesem Hintergrund von einer Abwägung aller für und gegen die Schuld eines Angeklagten sprechenden Umstände nicht mehr sprechen kann, kann der Vorwurf der Vorbestimmtheit des Prozessausgangs nicht mehr von der Hand gewiesen werden.

303

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 302–303. Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 305. 305 Verhandlungsprotokoll v. 29. Juni 1945, Jackson Report, Dok. XVII, S. 97 (104 f.). 304

I. Schlussbetrachtungen Anliegen der Studie ist es, den Beitrag der sowjetischen Seite zur Vorbereitung und Durchführung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses unbeeinflusst vom im westlichen oder im russischen Sprachraum prävalenten Narrativ zu untersuchen. In diesem abschließenden Teil der Arbeit kann ferner die Frage aufgeworfen werden, ob die sowjetische Seite mit der Durchführung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses ihre Ziele als erreicht angesehen hat. 1.  In dem Zeitraum vor der Einigung der Alliierten über die Durchführung eines internationalen Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher ist die sowjetische Position zur Ahndung der Kriegsverbrechen zum einen aus der Perspektive der sowjetischen Rechtswissenschaft (Kap. B.) und zum anderen aus dem offiziellen, regierungsamtlichen Blickwinkel (Kap. C.) untersucht worden. Seit 1935 sind in der sowjetischen Rechtswissenschaft vielfältige Überlegungen in Bezug auf die Stärkung der Idee zur strafrechtlichen Ahndung von ‚internationalen‘ Verbrechen und in den 1940er Jahren über zukünftige Ausgestaltung eines Rechtsregimes zur Ahndung von Kriegsverbrechen angestellt worden, auch wenn die sowjetischen Juristen wie alle Wissenschaftler in der UdSSR nur innerhalb eines politisch genauestens festgelegten Rahmens und in Abhängigkeit von politischen Einzel­ weisungen agieren konnten. Außerhalb der sowjetischen Grenzen sind die meisten sowjetischen Publikationen unbekannt geblieben. Als Erklärung für ihre fehlende Rezeption im westlichen Sprach- und Wissenschaftsraum lässt sich zum einen anführen, dass aufgrund fehlender Übersetzungen aus dem Russischen eine Resonanz westlicher Wissenschaftler schon aufgrund der sprachlichen Barriere ausbleiben musste. Zum anderen hat sich die sowjetische Rechtswissenschaft durch die bis in die 1930er Jahre dominante sog. rechtsnihilistische Denkschule und die mit ihr einhergehende Negation des völkerrechtlichen Universalitätsanspruchs einem fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch selbstständig entzogen. Im Jahr 1944 wurde schließlich die u. a. ins Englische und Französische übersetzte Studie von Aron Trajnin ‚Strafrechtliche Verantwortung der Hitleristen‘ publiziert, mit der der sowjetischen Rechtswissenschaft ein international viel beachteter Beitrag in der Debatte um die Bestrafung der Kriegsverbrecher gelang. Das von Trajnin vorgelegte Werk diente als wiederkehrende Referenz sowohl während der Londoner Konferenz über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher wie auch in der späteren Hauptverhandlung. Eine vollständige Würdigung des Beitrags von Trajnin zur Idee der strafrechtlichen Ahnung der Hauptkriegsverbrecher erfordert jedoch auch den Hinweis auf eine gewisse Widersprüchlichkeit bei der Einnahme einer eindeutigen Position zum Schicksal der nationalsozialistischen Führungspersonen. Während Trajnin die Hauptkriegsverbrecher in früheren Beiträgen

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I. Schlussbetrachtungen

unter ausdrücklicher Einbeziehung bestimmter Personen noch in ein System der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen einschloss, sprach er sich 1944 ohne nähere Konkretisierung für die sog. ‚politische Lösung‘ der Hauptkriegsverbrecherfrage aus. Dieser Widerspruch ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass aus Sicht der Wissenschaftler und anderer Publizisten hinsichtlich des politisch gewollten Ergebnisses nicht immer die notwendige Klarheit bestanden hat. Die regierungsamtliche Haltung der UdSSR zur Frage der Ahndung der Kriegsverbrechen in den Jahren 1941 bis 1945 erweist sich zwar als ausgesprochen konsequent und geradlinig, doch drang die von Stalin im diplomatischen Austausch mit Großbritannien und den USA verfolgte Position zumeist nicht nach außen. Im Vergleich zu den westlichen Alliierten formulierte die UdSSR viel früher einen klaren Standpunkt zum weiteren Vorgehen in Bezug auf das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher. Im unmittelbaren Anschluss an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 standen zwar zunächst nur vage Forderungen nach einer harten, nicht näher konkretisierten Bestrafung der Verantwortlichen im ­Zentrum regierungsamtlicher Erklärungen. Doch schon mit der viel beachteten Erklärung vom 14. Oktober 1942, in der die sowjetische Regierung die unverzügliche Ab­urtei­lung der Hauptkriegsverbrecher in einem gerichtsförmigen Verfahren forderte, erhielt die sowjetische Position deutliche Konturen. Auch wenn diese Forderung u. a. durch das von Misstrauen geprägte Verhältnis der UdSSR zu Großbritannien und die sowjetische Ungewissheit über das weitere Schicksal von Rudolf Heß motiviert worden war, bleibt festzustellen, dass die sowjetische Regierung an der Idee der Durchführung eines internationalen Prozesses auch in der Folgezeit unverändert festhielt und sich für diesen Standpunkt im nicht­ öffentlichen diplomatischen Austausch entschieden einsetzte. Gleichzeitig bestehen keine Zweifel, dass die konkrete Ausgestaltung eines von sowjetischer Seite anvisierten Prozesses den heutigen Maßstäben an ein rechtstaatliches Verfahren nicht genügen würde. Mit der Forderung nach Durchführung eines gerichtsförmigen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher ging es Stalin nicht darum, die Frage nach der individuellen Schuld des Angeklagten zu beantworten, da diese ohnehin nur positiv ausfallen konnte. Der Prozess sollte auf politischer Ebene bereits längst getroffene Entscheidungen außenwirksam umsetzen. Das Ziel bestand in erster Linie darin, dem Vorwurf der Siegerjustiz entgegenwirken und das volkserzieherische Potential des Verfahrens für eine öffentliche Brandmarkung des Nationalsozialismus zu nutzen. Der sowjetische Beitrag in dieser Phase bestand jedoch nicht nur in der erstmaligen öffentlichen Forderung nach einem internationalen Tribunal. Vieles spricht dafür, dass sich die Prozessidee in Anbetracht der im britischen und amerikanischen Lager zunächst favorisierten sog. politischen Lösung in Gestalt summarischer Hinrichtungen im Ergebnis ohne die beharrliche Position Stalins überhaupt nicht hätte durchsetzen können. Stalins unabänderliche Fürsprache für die Durchführung eines gerichtsförmigen Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher diente zumindest in drei Fällen entweder als Hindernis für die Etablierung

I. Schlussbetrachtungen

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der politischen Lösung oder als Stützargument zu Gunsten der Prozessidee. Zunächst verhinderte Stalins Haltung, dass die im Rahmen der ohne sowjetische Regierungsbeteiligung im September 1944 organisierten Konferenz von Quebec erzielte britisch-amerikanische Einigung auf eine politische Lösung weiterverfolgt wurde. Churchill unterließ während seines Besuchs in Moskau im Oktober 1944 die Übergabe des mit Roosevelt gemeinsam verfassten Telegramms, da Stalin dem Vorschlag von Exekutionen ohne vorgängiges Gerichtsverfahren seine Anerkennung kategorisch versagt hatte. Damit verhinderte Stalin eine weitere Konsolidierung der sog. politischen Lösung. Eine wichtige Rolle kam dem sowjetischen Standpunkt auch Ende 1944 bzw. Anfang 1945 im Ringen um die richtige Position im amerikanischen Lager zu. Kriegsminister Stimson machte sich für die Prozessidee stark, während das vom Finanzminister Morgenthau vorgeschlagene Konzept summarische Liquidationen von im Voraus konkret in Listenform erfassten Personen vorsah. In einem am 22. Januar 1945 an Roosevelt gerichteten gemeinsamen Memorandum wiesen die die Durchführung eines gerichtsförmigen Prozesses favorisierenden Kriegs- und Innenminister sowie der amerikanische Generalstaatsanwalt auf die sowjetische und britische Positionen hin. Der Umstand, dass sich die sowjetische Regierung für die Durchführung eines internationalen Prozesses stark machte und daher die im Memorandum vorgeschlagene Vorgehensweise mit großer Wahrscheinlichkeit stützen würde, dürfte ihrer Argumentation stärkeres Gewicht verliehen haben. Nachdem sich die interne amerikanische Position gefestigt hatte, diente die sowjetische Position schließlich auch als Argument gegenüber der britischen Regierung, die ihr sodann erfolgtes Umschwenken auf die ­Linie der ‚juristischen Lösung‘ u. a. mit der geänderten Gesamtsituation erklärte. Die Briten sahen sich nunmehr einer ihrer Position entgegengesetzten gemeinsamen ­Linie der USA und der UdSSR ausgesetzt. Auf der Konferenz von San Francisco erklärte der britische Außenminister Eden, dass die britische Regierung die sog. politische Lösung nach wie vor favorisiere und die Durchführung formeller Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher weiterhin nicht für zweckmäßig erachte. In Anbetracht der eindeutigen und übereinstimmenden Positionen der USA und der Sowjetunion wollte die britische Regierung nicht mehr auf ihrer Position beharren und erklärte sich bereit, sich mit den Vorschlägen der alliierten Partner zu arrangieren. Im Hinblick auf das oben Gesagte ist es nicht anzunehmen, dass die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher ohne Stalins entschiedene Überzeugung und seinen beharrlichen Einsatz die Form eines internationalen justizförmigen Verfahrens angenommen hätte. 2.  Ab dem Zeitpunkt, in dem die Alliierten eine gemeinsame Entscheidung über das weitere Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher auf der Konferenz von San Francisco getroffen hatten, zeichnete sich bei den Vorbereitungsarbeiten zum Nürnberger Prozess und bei seiner Durchführung eine immer dominantere Rolle der USA ab. Der erste ausformulierte Entwurf über die Schaffung eines internationalen Tribunals, der sämtlichen Alliierten zugänglich gemacht wurde, stammte aus der Feder des amerikanischen Richters Samuel Rosenman. Eine­

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I. Schlussbetrachtungen

überarbeitete Fassung dieses Entwurfs wurde zu Beginn der Londoner Verhandlungen vom 26. Juni bis 8. August 1945 als Diskussionsgrundlage anerkannt. Die Arbeit der ­sowjetischen Seite, die auf der Londoner Konferenz durch den späteren IMT-Richter Nikitčenko und Professor Trajnin vertreten wurde, lässt sich entgegen dem in der Literatur des Öfteren erzeugten Eindruck nicht auf die Rolle von sturen Kontrahenten reduzieren. Zwar war die Entscheidungsfindung mit der sowjetischen Delegation sicherlich dadurch erschwert, dass Nikitčenko und Trajnin stets nach Moskau berichten und auf Anweisungen warten mussten. Bei einigen Sachfragen, wie z. B. über den formellen Sitz des Tribunals oder über die Notwendigkeit einer Definition für den Begriff der Aggression, nahmen die sowjetischen Vertreter auch einen unnachgiebigen Standpunkt ein. Doch in der Gesamtschau zeichnete sich ihre Arbeit durch ein aktives, selbstbewusstes und gleichzeitig konsensorientiertes Auftreten aus. Die sowjetische Delegation legte ihre Änderungsvorschläge mehrfach in schriftlicher Form vor. Darüber hinaus unterbreitete sie einen vollständigen und sehr ausführlichen Entwurf für das Statut des IMT, der in vielen Fällen als Grundlage für die Diskussion diente. Der sowjetische Einfluss lässt sich im Ergebnis an fast jeder im Statut verankerten Regelung in mehr oder weniger ausgeprägter Form ablesen. Schon die Gliederung und formale Struktur, nämlich die Trennung des Londoner Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 von dem ihm zu Grunde gelegten und zu seinem wesentlichen Bestandteil erklärten Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, geht auf einen Vorschlag der sowjetischen Delegation zurück. Zu wesentlichen Regelungsbereichen, die einen starken Einfluss der sowjetischen Unterhändler aufweisen, zählen u. a. die in 4 lit. b und c IMT-Statut geregelten notwendigen Abstimmungsmehrheiten unter den IMT-Richtern, der Vorsitzwechsel, die Schaffung eines Anklägerkomitees in Art. 14 IMT-Statut, die Festlegung des ständigen Sitzes in Berlin gemäß Art.  22 IMT-Statut, die Verankerung einer aktiveren Rolle des Gerichts durch das Recht, jederzeit Fragen an Zeugen oder Angeklagte zu richten (Art. 24 lit. f IMT-Statut) oder auch die Normierung von verfahrensrechtlichen Grundprinzipien neben Art.  13 IMT-Statut, der das Recht, Verfahrensregeln aufzustellen, grundsätzlich dem Gerichtshof übertrug. Trotz des immensen Einflusses auf die Einzelnormen war die praktische Bedeutung des sowjetischen Beitrags viel kleiner. Die Regelung über den Vorsitzwechsel (Art. 4 lit. b IMT-Statut) hatte mangels weiterer Prozesse keine praktische Relevanz. Aus dem gleichen Grund konnte Berlin als Ort des ständigen Sitzes des IMT nicht die ihm von sowjetischer Seite zugedachte Funktion als Zentrale des Tribunals, seine Adresse und symbolische, alle vier Regierungen repräsentierende Stätte entfalten. Zwar fand am 18. Oktober 1945 die erste öffentliche Sitzung des Tribunals mit der Überreichung der Anklageschrift in Berlin statt. Die Hauptverhandlungen, die Urteilsverkündung und die Urteilsvollstreckung fanden jedoch in Nürnberg statt, der Stadt, die dem Prozess auch zur allseits bekannten und prägenden Bezeichnung „Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess“ verholfen hat. Ferner waren die dem Anklägerkomitee übertragenen Aufgaben (Art. 14 IMT-Statut) lediglich prozessvorbereitender Art. Die Idee einer festen, gemeinsam auftretenden Anklägerkommission hat sich

I. Schlussbetrachtungen

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angesichts des Regelungsinhalts von Art. 15 IMT-Statut gerade nicht durch­gesetzt. Die wesentlichen zur Prozessvorbereitung und sämtliche zur Prozessdurchführung gehörenden Aufgabenbereiche, nämlich die Prüfung, Sammlung und Vorlage des Beweismaterials, die Vorbereitung der Anklage, die außergerichtliche Vernehmung von Zeugen, das Auftreten vor Gericht und schließlich alle sonstigen Schritte, die für die Vorbereitung und Durchführung des Prozesses notwendig waren, waren dem selbstständig zu erledigenden Bereich zugeordnet. Darüber hinaus waren die verfahrensrechtlichen Normen mit dem darin verankerten Recht auf Durchführung von Kreuzverhören stark an die anglo-amerikanische Rechtstradition angelehnt. Dieser Erfolg der amerikanischen und britischen Delegationen in puncto Verfahrensnormen ist u. a. einer bewussten Verhandlungsstrategie geschuldet, die als „bester Trumpf“1 den Umstand zu nutzen wusste, dass die sowjetische Seite nur über eine kleine Anzahl an hochrangigen Kriegsgefangenen verfügte, die sich als potentielle Angeklagte eigneten. Im Übrigen war Jackson, der der Idee eines gemeinsamen Prozesses mit der sowjetischen Seite äußerst feindlich gegenüberstand, daran interessiert, die Kontrolle über den Prozess auf diese Weise möglichst in amerikanischer Hand zu behalten. 3. Nach der Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 mitsamt dem ihm beigefügten Statut für den Internationalen Militärgerichtshof konzentrierte sich die Arbeit der Vertreter der vier Alliierten auf die unmittel­ baren Vorbereitungen des Prozesses. Zunächst hatte man eine Auswahl von anzuklagenden Personen vorzunehmen, eine gemeinsame Anklageschrift zu formulieren sowie viele organisatorische Vorbereitungsaufgaben zu bewältigen. Von dieser Phase an zeichneten sich erstmals die gravierenden praktischen, strukturellen und personellen Defizite der sowjetischen Verhandlungsorganisation ab. Bei der Auswahl der Angeklagten konnte die UdSSR lediglich die Aufnahme von Erich­ Raeder und Hans Fritzsche in die Liste der Angeklagten veranlassen. Hinsichtlich Sichtung und Prüfung der als Beweismaterial in Frage kommenden Dokumente erwies sich die Mitarbeit der sowjetischen Delegierten als äußerst schwierig. Am Anfang verfügten die sowjetischen Repräsentanten in London vor Ort über keinerlei potentiell beweiserhebliche Dokumente. Erst bei Anreise des sowjetischen Hauptanklägers Rudenko am 14. September 1945 legte die sowjetische Seite auch eigenes Beweismaterial aus nichtveröffentlichten Quellen vor. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Moskauer Vyšinskij-Kommission, die aufgrund ihrer weitreichenden Kompetenzen das Verhalten der sowjetischen Vertreter in London und später in Nürnberg zusammen mit der unmittelbar in Nürnberg eingerichteten „Vyšinskij-Kommission“ maßgeblich steuerte. Bei der Gestaltung der Anklageschrift war der sowjetischen Seite die Formulierung der Anklagepunkte der Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den östlichen Gebieten übertragen. Daneben versuchte die sowjetische Regierung jedoch, durch 1 Anhang zur Arbeitsunterlage der brit. Delegation v. 28.  Juli 1945 auf der Potsdamer Konferenz, abgedr. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DzD, II/1, 2. Drittelbd., S. 1054–1056, hier 1056.

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I. Schlussbetrachtungen

Änderungsvorschläge Einfluss auf die übrigen Abschnitte der Anklageschrift zu nehmen. Nicht selten bestand der wesentliche Beweggrund dieser Änderungsvorschläge in der Korrektur von politisch als unrichtig empfundenen Deutungen im Anklagetext. Besonders deutlich wurde dies u. a. bei den Bemühungen der sowjetischen Regierung, durch eine passende Formulierung die ‚richtige‘ Interpretation des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939 zu erreichen. In praktischer Hinsicht erwiesen sich die unzureichenden personellen Ressourcen der sowjetischen Vertretung in London und Nürnberg sowie die noch größeren organisatorischen Defizite als eine Konstante während der Vorbereitungszeit auf den Prozess. Auch nach der Unterzeichnung und Überreichung der Anklageschrift an das Tribunal am 18. Oktober 1945 war die sowjetische Seite mit den Vorbereitungen auf den Prozess so weit im Rückstand, dass die Verschiebung des Prozesses wegen einer vermeintlichen Malaria-Erkrankung Rudenkos kurz vor der ersten Verhandlung in Nürnberg am 20. November 1945 zum wichtigsten Anliegen in der Korrespondenz zwischen Moskau und Nürnberg geworden war. Erst im letzten Moment erklärte sich die sowjetische Regierung angesichts des Widerstands der anderen Delegationen bereit, den Prozess wie geplant am 20. November 1945 beginnen zu lassen. 4. Mit Beginn der Hauptverhandlung des IMT im November 1945 war die sowjetische Seite vorrangig damit beschäftigt, das Eröffnungsplädoyer des sowjetischen Hauptanklägers und den Beweisvortrag der sowjetischen Anklage vorzubereiten. In Nürnberg wurde eine weitere Kommission unter dem Vorsitz von Vyšinskij geschaffen, die die Leitung der sowjetischen Delegation vor Ort zu Beginn des Prozesses genauestens steuerte. Der Auftritt der sowjetischen Anklage verlief weit­gehend planmäßig und ohne besondere Zwischenfälle. Zu den von sowjetischer Seite benannten Zeugen zählten u. a. der prominente Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, Überlebende der deutschen Konzentrationslager Auschwitz und­ Birkenau sowie zahlreiche Zeugen der deutschen Besatzungsherrschaft auf sowjetischem Territorium. Einen für die sowjetische Anklagevertretung unerwarteten Verlauf nahm der Prozess jedoch erst, als nach den Beweisvorträgen der Anklage die Verteidigung die Möglichkeit erhielt, Gegenbeweise gegen die von der Anklage vorgetragenen Fakten vorzubringen. Im Fall der in der Anklage­schrift aufgenommenen Tötung von 11.000 polnischen Offizieren im Wald von Katyn mussten die sowjetischen Anklagevertreter und Richter hinnehmen, dass die aus ihrer Sicht unangreifbaren Beweise, insbesondere die Berichte ihrer eigenen Beweissammlungskommission ČGK, entsprechend der Auslegung der Verteidigung und der übrigen IMT-Richter durchaus in Zweifel gezogen werden konnten. Das Ringen um die Schuldzuweisung im Zusammenhang mit den Verbrechen in Katyn ging für die sowjetische Seite noch insofern ohne größeren Schaden aus, als nach den Aussagen der zusätzlichen Verteidigungs- und Anklage­zeugen nichts geschah, was die sowjetische Katyn-Version noch mehr in Verruf bringen konnte. In der Konsequenz ging das Urteil auf das Verbrechen von Katyn mit keinem Wort ein. Dagegen gestaltete sich das Bekanntwerden des Geheimen Zusatzprotokolls zum

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deutsch-­sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 als katastrophaler Misserfolg. Die Bemühungen der sowjetischen Regierung um die ‚richtige‘ Deutung der politischen Verhältnisse und Absichten zwischen Hitler und Stalin, auf die bereits bei der Abfassung der Anklageschrift so viel Wert gelegt worden war, erwiesen sich damit als erfolglos. Das Bekanntwerden des Geheimen Zusatzprotokolls fügte der UdSSR einen enormen politischen Schaden zu, da es die Glaubwürdigkeit der sowjetischen Anklage zumindest teilweise unterminierte und die moralische Berechtigung der sowjetischen Teilnahme am Prozess in Zweifel zog. 5. Bei den Urteilsberatungen bemühten sich die sowjetischen Richter Niki­tčenko und Volčkov um die bestmögliche Durchsetzung ihrer Positionen. Zu den umgesetzten Änderungsinitiativen am Urteilstext gehörten sowohl redaktionelle Änderungen als auch Fragen grundsätzlicher Natur. Ein zentrales Anliegen war es, die Angeklagten als planmäßig vorgehende, jeglicher Humanität entbehrende Personen und die ihren Handlungen zu Grunde liegende Motivation als feste Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie zu charakterisieren. In diesem Sinne gelang es der sowjetischen Seite, den systematischen Charakter der im Osten begangenen nationalsozialistischen Verbrechen zu unterstreichen und die Rassentheorie sowie die Judenverfolgung stärker in den Vordergrund zu rücken. Nicht von Erfolg gekrönt war dagegen das etwa das Bestreben, den Begriff der Verschwörung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht auszudehnen. In Bezug auf die Einzelangeklagten bestand der sowjetische Standpunkt in den meisten Fällen darin, einen Schuldspruch in allen von der Anklage erhobenen Punkten zu erreichen und nach Möglichkeit die härteste Strafe zu verhängen. Aus taktischen Gründen stimmten Nikitčenko und Volčkov aber nicht in jedem Fall für die Verhängung der Todesstrafe. Erst nach Ende der abschließenden Abstimmungen unter den Richtern erhielt Nikitčenko mit der Direktive vom 19. September 1946 die Anweisung, für alle Angeklagten die Verhängung der Todesstrafe zu fordern. Im Allgemeinen blieben die während der richterlichen Beratungen aufkommenden Meinungsverschiedenheiten unter den Richtern „frei von politischen Untertönen“ bzw. „nicht von Geographie oder Ideologie bestimmt“2. Die feindselige Haltung in Jacksons Team gegenüber den sowjetischen Kollegen fand sich unter den Richtern in dieser Form nicht wieder. 6. Die Frage, ob die sowjetische Regierung mit der Durchführung des Nürnberger Prozesses ihre Ziele als erreicht ansehen konnte, lässt sich nicht kategorisch beantworten. Im Hinblick auf die drei Freisprüche für Schacht, von Papen und Fritzsche, das Strafmaß für den Angeklagten Heß sowie das Urteil betreffend die Organisationen Reichskabinett, Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht konnte die sowjetische Regierung nicht das gewünschte Ergebnis erzielen und sah sich zur Abfassung einer abweichenden Meinung des sowjetischen Richters ­Nikitčenko verpflichtet. Auch in Bezug auf andere Angeklagte, die nicht nach allen angeklagten Punkten schuldig gesprochen worden waren und gegen 2

Smith, Jahrhundert-Prozeß, S. 122 und 164.

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I. Schlussbetrachtungen

die das Gericht nicht die Höchststrafe verhängt hatte, kann man von einem aus sowjetischer Sicht nicht zufriedenstellenden Ausgang sprechen. Dass die abweichende Meinung Nikitčenkos nicht alle Fälle umfasste, in denen das Urteil hinter den sowjetischen Erwartungen zurückgeblieben war, lässt sich darauf zurückführen, dass der sowjetischen Seite grundsätzlich viel daran lag, grundsätzliche Übereinstimmung unter den IMT-Richtern zu demonstrieren. Die sowjetischen Publizisten waren vor und nach dem Ende des Prozesses um eine ausschließlich positive Darstellung des Prozesses bemüht. Die volkserzieherische Wirkung, die durch die Stigmatisierung der nationalsozialistischen Ideologie erreicht werden sollte, konnte der Prozess jedenfalls nicht unmittelbar entfalten, weil die deutsche Bevölkerung in der unmittelbaren Nachkriegszeit trotz der systematischen Anstrengungen der Amerikaner um eine massive Berichterstattung3 den Nürnberger Prozess als Medium und seine Aussagen entschieden ablehnte4. Als tragende Motive für die Durchführung eines Prozesses könnten ferner die Transformation der Schuld für eigene Verbrechen auf die ‚Hitleristen‘ und die Statuierung einer eigenen Geschichtsdeutung gedient haben. Das „Urteil der Völker“5 strahlte durch das Ansehen und die Autorität des IMT eine besondere Glaubwürdigkeit aus. Die den deutschen Besatzungsmächten angelasteten Verbrechen an ca. 11.000 polnischen Offizieren im Wald von Katyn belegen, dass Stalin jedenfalls nicht davor zurückschreckte, den Prozess für die Fälschung historischer Fakten bewusst nutzbar zu machen. Wirklich zentral war für die sowjetische Seite die mit dem Prozess einhergehende Möglichkeit der Festlegung einer eigenen Interpretation der historischen Ereignisse, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geführt hatten. Dass dies zum Teil erfolgreich umgesetzt werden konnte, zeigen die auf Änderungsvorschläge der UdSSR zurückzuführenden Formulierungen in der An­ klage­schrift. Während der Hauptverhandlung sollte die unter den Hauptanklägern erzielte Übereinkunft, bestimmte Themen als Verhandlungsgegenstand nicht zuzulassen, eine davon abweichende politische Wertung der historischen Ereignisse bzw. die Erörterung darüber verhindern. Diese Absprache blieb für die UdSSR letztlich ohne große Wirkung, da die Anklage detaillierte Ausführungen der Angeklagten und Zeugen zur sowjetischen Außenpolitik nicht unterbinden konnte. Spätestens das Bekanntwerden des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 machte diesen Plan zunichte und schwächte den moralischen Anspruch der UdSSR auf Einforderung einer­ harten Bestrafung wegen Angriffskriegs gegen die UdSSR. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Vorstellung der sowjetischen Machthaber, der Prozess werde 3

Frei, in: Wette/Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen, S. 477 (480). Buscher, in: Frei (Hrsg.), Vergangenheitspolitik, S.  94 (138); Bloxham, in: Heberer/­ Matthäus (Hrsg.), Atrocities, S. 263 (267); vgl. auch Burchard, JICJ 4 (2006), S. 800–829. Zur öffentlichen Meinung und Rezeption vgl. Krösche, in: Heberer/Matthäus (Hrsg.), Atro­ cities, S. 133 (134). 5 Vgl. den gleichnamigen Beitrag von Trajnin, in: Rudenko (Hrsg.), Trajnin, Izbrannye­ proizvedenija, S. 261–263; vgl. auch das Memorandum von San Francisco v. 30. April 1945, Jackson Report, Dok. V, S. 28–38, hier S. 35: „Verdict of History“. 4

I. Schlussbetrachtungen

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politisch keine wesentlichen ‚Gefahren‘ für die alliierten Mächte darstellen und in diesem Sinne kontrollierbar sein, blauäugig war. Der von sowjetischer Seite wegen der ‚gemeinsamen Ziele‘ grundsätzlich erwartete starke Zusammenhalt auf Seiten der Anklage und unter den Richtern erwies sich in weiten Teilen als unrealistisch. Aus der Gesamtschau der Entwicklung zwischen der erstmaligen Forderung nach Einrichtung eines internationalen Tribunals am 14.  Oktober 1942 und der Verkündung des Urteils des IMT am 1. Oktober 1946 wird erkennbar, dass die UdSSR als wichtiger Akteur bei der Entwicklung der Idee eines gerichtsförmigen Verfahrens gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher, der Vorbereitung und schließlich der Durchführung des Prozesses grundsätzlich in allen Bereichen ihren Einfluss ausgeübt hatte. In der grundsätzlichen Frage, ob über das Schicksal der Hauptkriegsverbrecher im Wege eines juristischen Verfahrens oder einer sog. politischen Lösung entschieden werden sollte, fungierte die sowjetische Regierung durch ihre unnachgiebige Befürwortung eines Gerichtsverfahrens als Weichenstellerin. In der Folgezeit sorgte die zum Teil völlig unzureichende Organisation bei der Vorbereitung des Prozesses, aber auch das gezielte Bemühen der Amerikaner um Minimierung des sowjetischen Einflusses und Ausbau der eigenen Dominanzstellung für einen mehr und mehr schwindenden Einfluss der UdSSR auf die wesentlichen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

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Personen- und Sachverzeichnis Abakumov, Viktor Semenovič  312–313, 333, 442 Ahrens, Friedrich  450 Akademie der Wissenschaften  52, 61, 71, 78, 380, 421, 469 Alekseeva, Anna Michajlovna  445 Analogiegebot (Art. 16 StGB RSFSR)  74, 138, 267 Anklage, sowjetische –– Anschlussvorträge 410 –– Eröffnungsrede siehe Eröffnungsrede des sowj. Hauptanklägers –– Urkundliche Beweismittel  456 –– Zeugen 471 Anklageschrift –– Änderungswünsche der Moskauer Regierungskommission 328 –– Ankunft des sowj. Hauptanklägers in London 321 –– Aufstellung der Angeklagtenliste  309 –– Auswertung relevanter Dokumente  318 –– Nachträgliche Änderungsbemühungen  350 –– Sowjetischer Entwurf („Schema“)  321 Arutjunjan, Amazasp Avakimovič  196, 206 Außerordentliche Staatskommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden (ČGK) –– Berichte 434 –– Katyn siehe Katyn –– Zusammensetzung 422 Bazarov, Semen Tarasovič  188, 214–215, 335 Bazilevskij, Boris Vasil’evič  445, 448, 451, 453, 455 Biddle, Francis  439, 441, 491, 500–501, 518, 520, 528, 532, 537 Birkett, Norman  500–502, 517, 530, 532 Bogojavlenskij, Pavel I .  312, 339, 359 Burdenko, Nikolaj Nilovič  421, 431, 454

Char’kov, Kriegsverbrecherprozess von siehe Ukaz 43 Churchill, Winston  29, 67, 94, 97, 102, 108, 110, 115, 129, 131, 149–150, 154, 179, 194, 197, 200, 297, 545 Črezvyčajnaja Gosudarstvennaja Komissija siehe Außerordentliche Staatskommission Dekanozov, Vladimir Gregor’evič  31, 204, 209, 366, 532 Durdenevskij, Vsevolod Nikolaevič  351 Durmanov, N.  502 Eröffnungsrede des sowj. Hauptanklägers  408 Falco, Robert  285, 530 Fyfe, David Maxwell  71, 203, 209, 213, 223, 233, 245, 251, 276, 281, 289–290, 321, 446–447, 472, 479, 482, 486, 493, 495, 497 Gaus, Friedrich  393, 445, 482, 484, 495, 497 Geheimes Zusatzprotokoll  98, 393, 445, 496, 521, 548, 550 Goljakov, Ivan Terent’evič  56, 212, 311, 339, 359 Golunskij, Sergej Aleksandrovič  188, 206 Goršenin, Konstantin Petrovič  311, 339, 360, 378, 385, 397, 400, 407, 409, 411, 444, 458, 483, 485, 490, 496, 501, 532 Grizodubova, Valentina Stepanovna  418 Gründungskonferenz der Vereinten Nationen siehe  San Fransisco Konferenz Hauptankläger, sowjetischer siehe Rudenko, Roman Andreevič Heß, Rudolf  60, 98, 110, 112, 116, 118, 120, 128, 176, 190, 224, 306, 359, 364, 445, 479, 482, 488, 491, 495, 528, 534, 537, 540, 544, 549

Personen- und Sachverzeichnis Ivanov, Nikolaj Vasil’evič  310, 318, 335 Ivanov, Sergej Vasil’evič  445 Jackson, Robert H.  24, 63, 70, 126, 196, 202, 207, 209, 211, 221, 223, 227, 230, 236, 239, 242–243, 246, 251, 256–257, 271, 281, 296, 301, 303, 309, 315, 317, 321, 327, 336, 354, 356, 363, 369, 382, 395, 400, 404, 411, 413, 473, 493, 495, 547, 549 Jalta Konferenz  191 Katyn  31, 139, 291, 339, 341, 377, 397, 421, 425, 456, 497, 508, 522, 549–550 Korovin, Evgenij Aleksandrovič  36, 38, 49 Lawrence, Geoffrey  286, 395, 439, 461, 464, 479, 481, 492, 501, 519, 521, 528, 530, 533, 537, 541 Londoner Konferenz  304 Man’kovskij, Boris Stepanovič  334, 353, 363, 380, 384–385, 392, 396, 400, 404 Markov, Marko  445 Menthon, François de  321, 401 Molotov (Skrjabin), Vjačeslav Michajlovič  40, 82–83, 87, 93, 102, 106, 109–110, 112, 116–117, 120, 123, 133, 154, 160, 171, 181, 188, 194, 196, 204, 206, 210, 216, 229, 244, 249, 307, 315, 337, 343, 347, 349, 370, 378, 387, 396, 408–409, 423, 463, 476, 482, 485, 532 Morgenthau-Plan  181, 185 Moskauer Schauprozesse  167, 260–261 Nikitčenko, Iona Timofeevič  31, 56, 219, 228, 230, 233, 248, 253, 257, 268, ­275–276, 278, 281, 285, 287, 291, 295, 303, 318, 328–329, 338, 342, 352, 363, 366, 372, 375, 384, 386, 395, 403, 440, 455–456, 461, 473, 481, 491, 501, ­541–542, 546, 551 Nikolaj, Metropolit der Russisch-Orthodoxen Kirche von Kiew und Galizien (Jaruševič, Boris Dorofeevič)  417, 429, 444 Orbeli, Iosif Abgarovič  377, 457, 463, 469 Orlov, Nikolaj Andreevič  379

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Parker, John J.  439, 490, 500, 523, 530 Pašukanis, Evgenij Bronislavovič  36, 49 Paulus, Friedrich  468 Pavlov, Vladimir Nikolaevič  99, 104–108, 185, 189–191, 195 Piradov, Sergej Kasparovič  378–379 Pokrovskij, Jurij Vladimirovič  318, 371, 378, 389, 392–393, 408, 410, 415, 432, 435, 437, 445–446, 459 Poljanskij-Dossier 58 Potsdamer Konferenz  224, 299, 305 Pravda-Artikel vom 19. Oktober 1942 zum Schicksal von Rudolf Heß  110–111, 128 Prozorovskij, Viktor Il’ič  445 Rechtstheorie –– nihilistische  35, 39 –– Wandel  41, 49 Rejsner, M.  49 Roosevelt, Franklin D.  67, 99, 108, 110, 115, 125, 129, 131, 149, 153, 192, 197, 200, 545 Rosenman, Samuel Irving  193, 196, 202, 223, 301 Rudenko, Roman Andreevič  25, 30, 207, 286, 311, 373, 384, 395, 408, 442, 448, 456, 465, 468, 474, 481–482, 487–488, 495, 497, 525, 538, 547 San Francisco Konferenz  196 Savvateev, Ivan Vasil’evič  445 Schneider, Ludwig  445 Seidl, Alfred  393, 445, 482, 496–497 Šejnin, Lev Romanovič  377–378, 400, 409–410, 415, 425, 444 Shawcross, Hartley  336, 401, 405 Sonderkommission der ČGK zur Untersuchung der Verbrechen im Wald von Katyn 424, 431, 435, 445, 448, 450 Stahmer, Otto  402, 440, 455 Stalin (Džugašvilli), Iosif Vissarionovič  29, 31, 67, 89, 101, 113–114, 121, 131, 140, 149, 155, 160, 168, 170, 174, 179, 184, 187, 191, 193, 201, 207, 216, 224, 229, 244, 343–345, 350, 374, 378, 418, 426, 532, 551 Stučka, P. I.  49 Stupnikova, Tatjana Sergeevna  383, 456 Suchačev, Pavel Federovič  445

580

Personen- und Sachverzeichnis

Teheran Konferenz  155 Trajnin, Aron Naumovič  47, 54, 71, 76, 142, 198, 219, 229, 237, 243, 246, 250, 257, 268, 271, 274, 276, 278, 280, 295, 299, 312, 334, 337, 381, 384, 392, 396, 402, 407, 444, 482, 484, 539 Trojanovskij, Oleg Aleksandrovič  211, 383 Ukaz 43 –– allgemein  149, 156, 159 –– Char’kov  62, 170, 173, 334, 429, 526 –– Krasnodar 145 –– Krasnodon 146 –– Mariupol’ 148 Urteil –– Erster Entwurf  502 –– Sowjetische Anmerkungen zum ersten Entwurf 517 Vabres, Henri Donnedieu de  438–439, 490, 518, 522, 528, 530, 532, 540

Volčkov, Aleksandr Federovič  342, 366, 375, 382 Vyšinskij, Andrej Januar’evič  30, 45, 47, 51, 56, 77–78, 87, 92, 124, 204, 207, 209, 216, 229, 237, 248, 255, 257, 264, 268, 278, 307, 318, 329, 333, 343, 349, 354, 359, 362, 366, 368, 370, 372, 378, 381, 389, 395–396, 400, 409–410, 423, 433, 444, 456, 458, 472, 474, 480, 485, 487, 490, 496, 501, 532, 547–548 Vyšinskij-Kommission zur Steuerung der Handlungen der sowjetischen Prozessteilnehmer  313, 397, 399, 547 Zeugen, sowjetische siehe Anklage, sowjetische Zorja, Nikolaj Dmitrievič  378, 408–410, 415, 463, 468, 487 Žukov, Georgij Konstantinovič  334, 361–362 Zusatzprotokoll, Geheimes siehe Geheimes Zusatzprotokoll