Intermedialität in der Frühen Neuzeit: Formen, Funktionen, Konzepte 9783110483550, 9783110521788, 9783110520897

In recent years, intermediality has become a paradigm in literary studies, the visual arts, and musicology. This interdi

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German Pages 402 [404] Year 2017

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Inhalt
Einleitung
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven
I. Theatrale Intermedialität
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung: »The soul’s imaginary sight« im 27. Sonett
»Grief’s true picture« – Enargeia als intermediales Konzept und Leitmodell für actio und acting
II. Musikalische Intermedialität
Maske und Performanz – Zum intermedialen Charakter der italienischen Madrigaldichtung zwischen Trecento und Cinquecento
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire): Zur Intermedialität der tragédie en musique
»Ich singe, wie der Vogel singt« – Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee und Catharina Regina von Greiffenberg
III. Bildende Kunst, Buchdruck, Medien
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit
»Cazzon da mulo« – Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus (Straßburg 1502)
Paragonale Relationen? Das Verhältnis von Musik, Bild und Text in Titelkupfern barocker Liedersammlungen
IV. Literarische Bildpoetik
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik anhand von emblematischen Figurationen in der Frühen Neuzeit
Laokoons Schlange
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation
Bildgestalt aus den Lettern – Die Intermedialität der visuellen Poesie im 17. Jahrhundert
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Intermedialität in der Frühen Neuzeit: Formen, Funktionen, Konzepte
 9783110483550, 9783110521788, 9783110520897

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Intermedialität in der Frühen Neuzeit

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 209

Intermedialität in der Frühen Neuzeit

Formen, Funktionen, Konzepte Herausgegeben von Jörg Robert

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

ISBN 978-3-11-048355-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052178-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052089-7 ISSN 0934–5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt  Inhalt Einleitung Jörg Robert Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

 3

I Theatrale Intermedialität Irmgard Scheitler Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 

 21

Matthias Bauer, Angelika Zirker Shakespeare und die Bilder der Vorstellung: »The soul’s imaginary sight« im 27. Sonett   39 Rüdiger Singer »Grief’s true picture« – Enargeia als intermediales Konzept und Leitmodell für actio und acting   55

II Musikalische Intermedialität Florian Mehltretter Maske und Performanz – Zum intermedialen Charakter der italienischen Madrigaldichtung zwischen Trecento und Cinquecento   79 Nicola Gess »L’opéra est un spectacle« (Voltaire): Zur Intermedialität der tragédie en musique   95 Dirk Werle »Ich singe, wie der Vogel singt« – Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz   116

VI 

 Inhalt  

Lothar van Laak Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee und Catharina Regina von Greiffenberg   137

III Bildende Kunst, Buchdruck, Medien Jürgen E. Müller Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 

 153

Jürgen Müller »Cazzon da mulo« – Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen   180 Monika Schmitz-Emans Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 

 215

Joachim Hamm Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus (Straßburg 1502)   236 Astrid Dröse Paragonale Relationen? Das Verhältnis von Musik, Bild und Text in Titelkupfern barocker Liedersammlungen   260

IV Literarische Bildpoetik Stefanie Arend Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik anhand von emblematischen Figurationen in der Frühen Neuzeit   287 Jörg Wesche Laokoons Schlange 

 306

Jörg Robert »geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 

 322

Inhalt 

Stefanie Stockhorst Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation   347 Seraina Plotke Bildgestalt aus den Lettern – Die Intermedialität der visuellen Poesie im 17. Jahrhundert   366 Register 

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Einleitung

Jörg Robert

Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 1 Intermedialität, convergence culture, Multimodalität Formen der Medienkombination und -transformation, der ­Medienkonkurrenz oder -reflexion sind in der Frühneuzeitforschung gut bekannt: Emblem, vi­suelle Poesie, Lied und Oper, Paragone und Bilddebatten, Illustration und Flugblatt, Ekphrasis und ut pictura poesis-Debatten repräsentieren nur die geläufigsten Formen performativer bzw. theoretisch-konzeptioneller Kopplung (mindestens) zweier »konventionell als distinkt angesehene[r] Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien«1 in Literatur und Künsten der Vormoderne. Beide hier genannten Varianten implizieren auch unterschiedliche Modi der Kontaktaufnahme: Während intra­mediale, werkimmanente Intermedialität wesentlich auf Kombination (Synthese, Hybridisierung usw.) distinkter Einzelmedien zielt, geht es im anderen Fall um Phänomene der Transposition und medialen Transformation, die sich in Analogie zu Prozessen der Übersetzung verstehen lassen. Eine dritte Dimension intermedialer Kontaktnahme wird von Uwe Wirth als »kon­zep­tio­nelle Aufpfropfung« eines Zeichenverbundsystems auf ein anderes bezeichnet. Kategorien, Prinzipien und Ziele eines Mediums (einer Kunst) orientieren sich dabei systematisch an Vorgaben einer anderen Kunst (z.  B. der gesamte Komplex des ut pictura poesis; enargeia/evidentia; Ekphrasis; aber auch die theoretische Reflexion der bildenden Kunst und der Musik nach Prinzipien und Begriffen der Poetik und Rhetorik, musikalische Klangfiguren in der Lyrik usw.).2 Die in diesem Band versammelten Beiträge belegen nachdrücklich, dass die Frühe Neuzeit in besonderer Weise ein Zeitalter der Intermedialität war – im Hinblick auf jede der eben differenzierten Formen. Den unteren Rand des Unter-

1 Werner Wolf: Intermedialität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, Weimar 22001, S. 296–297, hier S. 296; die folgenden Ausführungen nehmen Überlegungen auf, die ich im systematischen Teil meiner Einführung in die Intermedialität zuerst vorgestellt habe: Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, hier S. 7–29. 2 Uwe Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und Transmedialität. In: Urs Meyer, Robert Simanowski, Christoph Zeller (Hgg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen 2006, S. 19–38, hier S. 32–33. DOI 10.1515/9783110521788-001

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suchungszeitraums markiert dabei die Erfindung des Buchdrucks,3 der neben neuen medialen auch intermediale Praktiken ausbildet und eine intensive theo­ retische Reflexion über Mediensynthesen und -differenzierungen anstößt. Die genuin frühneuzeitlichen Debatten um Paragone und ut pictura poesis, aber auch die Entstehung der Emblematik lassen sich als Folgephänomene der typographischen Revolution deuten.4 Die obere Grenze repräsentiert Lessings Laokoon (1766), der – zumindest für den deutschsprachigen Raum – eine entscheidende Wegmarke der Medien- und Intermedialitätsdebatte darstellt.5 Welche Perspektiven und Potentiale eröffnet die Einführung des Inter­media­ litätskonzepts in die Frühneuzeitforschung? Zunächst einmal ist eine gewisse Reserve gegenüber dem Begriff zu beobachten. So verbreitet intermediale Phänomene in den Künsten ›diesseits des Laokoon‹ sind, so zurückhaltend wurde das Paradigma Intermedialität von den Philologien aufgenommen. Die Irri­ta­tio­ nen liegen einerseits in der Heterogenität der Phänomene, andererseits in den unterschiedlichen disziplinären Forschungstraditionen und methodischen Interessen.6 Seitdem der intermedial turn in den 1990er Jahren proklamiert wurde,7 hat sich die Forschungslandschaft stark ausdifferenziert. Intermedialität ist  – hierin vergleichbar der Bildwissenschaft8 – ein transdisziplinäres Feld, auf dem sich Literatur-, Bild- und Medienwissenschaften begegnen. Die vergangenen zwei Dekaden haben jedoch gezeigt, dass diese Transdisziplinarität forschungspragmatisch schwer umsetzbar ist. Die Hoffnung, ein homogenes theoretisches und taxonomisches Gerüst zu entwickeln, das alle Formen intermedialer Bezugnahme

3 Elizabeth Eisenstein: The Printing Revolution in Early Modern Europe. Cambridge 22005; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.  M. 1998. Für eine historische Geschichte der Medialität und Intermedialität in anthropologischer Perspektive verweise ich exemplarisch auf Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter. ­Zürich 2016. 4 Giesecke (Anm. 3). 5 Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.): Unordentliche Collectanea. Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013. 6 Robert (Anm. 1), S. 78–108. 7 Zu den ersten, wegweisenden Skizzen zählten Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virgina Woolfs The String Quartet. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21, (1996), S. 85–116 und Jörg Helbig: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin 1998. 8 Vgl. Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Darmstadt 2010.



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historisch wie systematisch einschließt, hat sich zerschlagen. Éric Méchoulan hat schon 2003 von den »illusions perdues« des intermedialen Projekts gesprochen.9 Will man mögliche Chancen und Reichweiten des Intermedialitätstheorems – auch und gerade im Hinblick auf historische Phänomene – abschätzen, lohnt ein Blick auf Genese und Genealogie des Ansatzes: Obwohl von Anfang an Literaturwissenschaftler wie Werner Wolf (Amerikanist), später Irina Rajewsky (Romanistin) beteiligt waren, ist Intermedialität10 ursprünglich ein medienwissenschaftliches Projekt und damit eine »Provokation«11 für die Philologie(n). Seine Wurzeln liegen in Marshall McLuhans visionärer Idee einer Hybridisierung oder ›Bastardisierung‹ von Medien, die ungeahnte Explosivkräfte freisetze – McLuhan scheut nicht den Vergleich mit der Wasserstoffbombe oder der »Kern-Fusion«12: »Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht.«13 Gegen die Laokoontische Differenzierung der Medien und Künste werden alte Ideen des Gesamtkunstwerks in kulturkritischer Emphase revitalisiert. Wenn sich in der Unterscheidung der Medien das Trauma der modernen Ausdifferenzierung spiegelt, bedarf es einer neuen Verschmelzung und Hybridisierung, um den modernen »geteilte[n] Menschen«14 wieder ›ganz‹ zu machen, zu heilen. Es ist diese kultur- und modernekritische Emphase, diese Verheißung der symmedialen Ganzheitlichkeit, die alle intermedialen Phantasien und Phantasmen seit dem 18. Jahrhundert hervortreibt. Neben die anthropologische Verheißung vom ganzen (Medien-)Menschen tritt im Zeitalter des Web 2.0 (3.0., 4.0. usw.) das Versprechen universeller Teilhabe (Partizipation) und entgrenzter globaler Kommunikation. Solche Entgrenzungsund Emanzipationshoffnungen durchziehen etwa Henry Jenkins’ Plädoyer für eine »convergence culture«.15 Analyse und Manifest, Dokumentation und Vision überlagern sich dabei bis zur Ununterscheidbarkeit: Wenn Jenkins Medienkon-

9 Éric Méchoulan: Intermédialité. Le temps des illusions perdues. In: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques 1 (2003), S. 9–27. 10 Intermedialität wird hier neuerdings flankiert von dem (eher kommunikationswissenschaftlichen) Begriff ›Multimodalität‹ einerseits und von dem der »Medienkonvergenz« andererseits. S.  u. 11 Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996, S. 92. 12 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (zuerst engl. Understanding Media. The extensions of man; 1964). Düsseldorf, Wien, New York u.  a. 1992, S.  65–73; Robert (Anm. 1), S. 66–71. 13 McLuhan (Anm. 12), S. 73. 14 Ebd., S. 67. 15 Henry Jenkins: Convergence culture. Where old and new media collide. New York 2008.

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vergenz bestimmt als »the flow of content across multiple media platforms, the cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of media audiences […]«,16 schwingt schon in den Metaphern und Begriffen (»flow«, »migratory behavior«) eine Emphase schrankenloser Partizipation mit, die zwischen adventistischer Naherwartung und offener Drohung schwankt: »Convergence is coming and you had better be ready.«17 Neben dem Konvergenz-Paradigma hat sich, aus den Kommunikationswissenschaften kommend, ein weiterer Konkurrenzbegriff etabliert, der der Multimodalität. Multimodalität bezeichnet Kommunikationsprozesse, die in der Regel oder optional mehrere Sinneskanäle oder modes involvieren.18 Für Reichweite und Ausrichtung gilt ähnliches wie für Jenkins’ convergence culture: Der zentrale, emphatisch betonte Gegenstand der Multimodalitätsforschung sind die neuen Medien, das Internet. Mit der Bildwissenschaft weiß man sich darin einig, dass die Gutenberg-Ära mit ihrer monomedialen Hegemonie des Textes (des Buches) zugunsten immer komplexerer medialer Hybride, in denen tendenziell das Ikonische dominiert, abgelöst worden sei.19 Multimodalität entsteht  – so Gunther Kress – durch den »shift from the book and the page to the screen« bzw. »the shift from the older technologies of print to digital, electronic means«.20 Dass nun auch auf dem Bildschirm weiterhin – vor allem – Texte erscheinen, bleibt hier außer Betracht. Gegenüber dem vermeintlich präzedenzlos Neuen der Medienmoderne treten Evolutionen des Textuellen, genuin intermediale Synthesen von ikonischen und symbolischen Zeichensystemen, vor allem aber jegliche historische Phänomene zurück. Die Frage nach historischen (Vor-)Formen wird ausgeklammert, wo das schlechthin Andere der neuen Medien die legitimatorische Grundlage der eigenen Forschung bedeutet. An eine Abstimmung mit Philologien oder den klassischen inter art-studies ist nicht gedacht. Sie stellen ja gerade das Überwundene und Alte, die Prähistorie dar (older technologies). Medienkonvergenz

16 Ebd., S. 2. 17 Ebd., S. 10. 18 Gunther Kress: Multimodality: Exploring Contemporary Methods of Communication. London 2009; Gunther Kress, Theo van Leuwen: Reading Images. Grammar of visual design. London 2006; einen Querschnitt vermittelt der Einführungsband von Sigrid Norris, Carmen Daniela Maier (Hgg.): Interactions, Images and Texts. A Reader in Multimodality. Berlin 2014 (Trends in Applied Linguistics; 11). 19 John A. Bateman: Multimodality and Genre. A Foundation for the Systematic Analysis of Multimodal Documents. Houndmills, Basingstoke, Hampshire u.  a. 2008, S. 1. »But things have changed: nowadays that text is just one strand in a complex presentational form that seamlessly incorporates visual aspects ›around‹, and sometimes even instead of, the text itself«. 20 Kress 2009 (Anm. 18), S. 6.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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und Multimodalität treten mit der Verheißung auf, die elitären Text-Kulturen der Gutenberg-Ära durch neue Formen multi-sensueller Kommunikation und Partizipation, wie sie v.  a. die populäre Kultur oder die Alltagskommunikation kennt, weniger zu flankieren als zu ersetzen. Die Diagnose mag zugespitzt klingen. Doch die Tendenz folgt einer Logik der Ausdifferenzierung, nicht der Re-Integration. Die disziplinären Autonomien und Logiken setzen dem Ideal des Transdisziplinären jene Grenzen, die, sofern sie das eigene System ›autopoetisch‹ stabilisieren, kaum überwindbar scheinen: Multimodalität und media convergence sind forschungsstrategische Begriffe; sie haben die Funktion, die Medienwissenschaften einerseits gegenüber den Literaturwissenschaften, andererseits gegenüber den Kunstwissenschaften (inter art-studies) abzugrenzen und zu legitimieren. Die Analogie zur Bildwissenschaft liegt in der gemeinsamen Abwendung vom Text und in der Emphase der Sinnlichkeit (visuelle Kultur) begründet.21 Dieser Abwendung von Buch- und Textkulturen ist die geringe Resonanz des Multimodalitätsparadigmas in den Literaturwissenschaften geschuldet.22 Während es sich in den Medien- und Kommunikationswissenschaften, in Lernpsychologie oder Pädagogik breit entfaltet, scheint es für historische Phänomene ›literaturzentrierter‹ Intermedialität23 kaum operabel.

2 Literaturgeschichte am Leitfaden der Intermedialität Damit ist eine methodologische Herausforderung der Intermedialitätsforschung benannt, die es zu reflektieren gilt. Neben der Vermittlung der beteiligten Disziplinen besteht Uneinigkeit in Reichweite und Zuschnitt des Intermedialitäts-

21 Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Darmstadt 2010, S. 11. Die Bildwissenschaften konstituieren ein Feld jenseits des Textes, »auf dem mit interdisziplinären Verfahrensweisen die Objekte einer visuellen Kultur erst konstruiert, dann analysiert und interpretiert werden [sollen]«. 22 Unter den drei Einträgen für Multimodalität findet sich der Beitrag eines historisch arbeitenden Linguisten über den multimodalen Ansatz von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspielen. Markus Hundt: Diskursivierung von Wissen durch Sprache – der multimodale Ansatz von Georg Philipp Harsdörffer in den Frauenzimmer Gesprächspielen. In: Thorsten Burkhard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort (Hgg.): Politik– Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011, S. 177–200; ferner Magdalena Makowska: Im multimodalen Dialog. Zum Zusammenspiel von Text und Bild auf den Einbänden von Kinder­ büchern. In: Convivium 2013, S. 115–142. 23 Wolf (Anm. 1).

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konzepts. Vor allem erwies sich die Umsetzung der Verheißungen von Transgression und Emanzipation vom Text als schwierig. Schnell wurde die »inflationäre Verwendung des Begriffs«24 und »plurale[…] Beliebigkeit«25 der Theoriemodelle beklagt.26 Für die praktische Arbeit wiegt die Diskrepanz zwischen einem weiten und einem eher engen Verständnis von Intermedialität schwer. Es ist dieselbe Herausforderung, der sich das  – theoriegenetisch zentrale  – Nachbarfeld der Intertextualitätsforschung zu stellen hatte.27 Die philologische Implementierung des Intertextualitätsbegriffs führte bekanntlich von dem weiten, kultursemiotischen Verständnis Julia Kristevas zu dem enger philologischen (im Übrigen nur auf Inter-Texte bezogenen!) Gérard Genettes. Ähnlich auf dem Gebiet der Inter­ media­lität: Der Herausforderung, »eine historisch begründete Systematik der Figura­tionen der Intermedialität«28 zu entwickeln, stellt sich die Einführung von Irina O. Rajewsky.29 An Narratologie und Intertextualitätstheorie geschult, will sie dem »Fehlen eines einheitlichen Begriffsinstrumentariums« durch eine differenzierte Taxonomie begegnen; ein Versuch, der sich – wie auch die Beiträge dieses Bandes zeigen  – breit durchgesetzt hat.30 Das fein justierte, analytische Instrumentarium wird auf die Analyse von Text-Film-Beziehungen (filmisches Schrei­ben, Adaptation/Verfilmung) beschränkt, während die Erprobung seiner »Allgemeingültigkeit« ausdrücklich »zukünftiger Forschung« überlassen bleibt.31 Diese Entscheidung – letztlich im Sinne eines modernen, restringierten Medienbegriffs – sichert die Homogenität der Theoriebildung, weil sie die Heterogenität der medialen Kontaktaufnahmen auf einen (Sonder-)Fall beschränkt, der gleichsam zur Regel wird. Damit werden jedoch sowohl historische als auch transdisziplinäre Ansätze a limine ausgeschlossen. Genuin frühneuzeitliche Formen der Medienkombination und -reflexion werden aus dem Theoriehorizont der

24 Jens Schröter: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaft­ lichen Begriffs. In: montage AV 2 (1998). H. 7, S. 129–154, hier S. 149. 25 Hans-Dieter Kübler: [Rezension zu]: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. In: Medienwissenschaft 3 (1999), S. 305–308, hier S. 305. 26 Zur Entwicklung und zum state of the arts der Intermedialitätsforschung siehe ­Robert (Anm. 1). S. 8–29. 27 Frauke Berndt, Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 7–61. 28 Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin 1998, S. 14–29, hier S. 27. 29 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002. 30 Ebd., S. 3. 31 Ebd., S. 27.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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Intermedialität entfernt. Das  – vermeintlich  – ganz Andere der neuen Medien verschließt den Blick auf Kontinuitäten, Traditionen, Genealogien: Dass das Bildgedicht (carmen figuratum) beispielsweise zum »universellen Repertoire der Weltliteratur«32 zählt, gerät aus dem Blick. Darstellungsformen wie Ekphrasis33 oder visuelle Poesie zählen zu Universalien einer Literaturgeschichte der Intermedialität.34 Hinzu kommt, dass die Übertragung des Intertextualitätstheorems à la Genette auf intermediale Phänomene an Grenzen stößt. Die zentrale Herausforderung liegt in der kategorial anderen Ausgangssituation, d.  h. vor allem in der Mehrdimensionalität der medialen Substrate selbst. Intertextualität setzt Intramedialität bzw. Monomedialität zwingend voraus; ihre Elemente – eben Texte – liegen in einer medialen Ebene, so dass die Ebene des Medialen gleichsam herausgekürzt werden kann. Intermedialität bezieht dagegen ihre Relevanz aus dem Überschreiten der Mediengrenze (von der Oralität zur Skripturalität, vom Text zum Bild, vom Bild zur Musik usw.). Während im Falle der Intertextualität semantische Strukturdifferenzen (unabhängig) von ihrem Trägermedium untersucht werden, sind im Falle der Intermedialität die Differenzen der Trägermedien selbst Gegenstand der Untersuchung. Dieser Vergleich konfligiert nun mit der unvergleichbaren Eigenlogik der Medien selbst, die wiederum auf das Repräsentierte zurückwirkt. Diese Mehrdimensionalität verleiht intermedialen Phänomenen (v.  a. solchen der Transposition, vom Text zum Film, vom Bild zum Wort und umgekehrt) einen schwer fassbaren, diffusen und gröberen Charakter, als er intertextuellen Konstellationen eignet. Intermedialität ist Intertextualität auf zweiter Stufe, eine Gleichung mit zwei Variablen. Eine der basalen Implikationen des Intertextualitätsbegriffs, vor allem Kristeva’scher Prägung, ist die Einklammerung des Autors gegenüber dem subjektlosen Interagieren der Texte: »tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte«.35 Diese Vorstellung eines absichtslosen, freien Flottierens der Zeichen ist für intermediale Operationen offenkundig unpassend: Intermedialität kommt nicht ohne Inten­ tio­nalität aus.36 Alle Definitionen heben den inszenatorischen Charakter interme-

32 Robert (Anm. 1), S. 109. 33 Murray Krieger: Ekphrasis. The illusion of the natural sign. Emblems by Joan Krieger. Baltimore u.  a. 1992. 34 Zur visuellen Poesie als genus perenne vgl. Robert (Anm. 1), S. 109–114. 35 Julia Kristeva: Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse. Paris 1969, S. 146. 36 Robert (Anm. 1), S. 26.

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dialer Phänomene hervor.37 Weder die Plurimedialität des Jesuitentheaters38 noch die Kombination von Text und Bild im Emblem noch der konzeptionelle Vergleich verschiedener Medien, wie er z.  B. im ut pictura poesis-Konzept bzw. in der Metapher der ›Schwesterkünste‹ begegnet, lassen sich zur Gänze als unwillkür­liche Sinn-Dynamik beschreiben. Es gehört zur Komplexität intermedialer Phänomene, dass sich in ihnen intentionale und nicht-intentionale, medieninterne und medientransgressive Aspekte ergänzen und überlagern. Dem Willen zur Intermedialität steht die Bedeutungsdiffusion dabei immer wieder gegenüber. Während im Fall des Medienwechsels Inhalte weiter korrelieren, stellen sich bei Formen der Medienkombination – z.  B. im Emblem – jene semantischen Überschüsse und Energien der Hybridisierung ein, die schon McLuhan beschwor.39 Der vorliegende Band setzt ein »bewegliches«40 Verständnis von Intermedialität voraus, das nicht nur die typologische Breite der Phänomene, sondern auch ihre historische Tiefe und ›lange Dauer‹ berücksichtigt. Gegen die erwähnten disziplinären Eigenlogiken wird dabei ein transdisziplinärer Ansatz verfolgt, der die divergierenden Fachkulturen – Medienwissenschaften, historische Philologien bzw. Literaturwissenschaften, Kunst- und Bildwissenschaften, Musikwissenschaften – in einem gemeinsamen historischen und konzeptionellen Horizont integriert. Die taxonomische Feindifferenzierung des Analysewerkzeugs muss mit der historischen Vielfalt der Formen und Phänomene vermittelt werden, will man Intermedialität nicht für die Medienmoderne (bzw. die modernen Medien) seit dem 20. Jahrhundert reservieren. Der vorliegende Band ist ein Plädoyer für eine historische Ausweitung der systematisch-theoretischen Grundlegungen, die längst – wie z.  B. das Handbuch der Intermedialität dokumentiert – im Spektrum der interdisziplinären Forschung fest verankert sind.41 ›Literaturzentrierte‹ Intermedialität ist ein ubiquitäres Phänomen, nicht Prärogativ einer Epoche. In meiner Einführung in die Intermedialität habe ich

37 Wolf (Anm. 7), S. 88 definiert Intermedialität als »das innerhalb eines Kontaktnehmers faßliche Resultat der Inszenierung eines fremdmedialen Kontaktgebers (in Form von Imitation, Integration oder Kombination), wobei Kontaktgeber und -nehmer verschiedenen Medien in einem weiteren Sinn zugehören […]«. 38 Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin, New York 1994, S. 197–238. 39 Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk. In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies, Bd. 2. Frankfurt a.  M. 2002, S. 9–24. 40 Robert (Anm. 1), S. 24. 41 Gabriele Rippl (Hg.): Handbook of Intermediality: Literature – Image – Sound – Music. Berlin, Boston 2015.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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den Versuch unternommen, komplementär zu Rajewskys begrifflicher Synthese die historische Breite und Diversität literarischer Intermedialität zu skizzieren und das transdisziplinäre Gespräch neu zu beleben.42 Ältere Idiosynkrasien zwischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften müssen und können überwunden werden, sofern sich alle Beteiligten der Grenzen und Möglichkeiten ihrer disziplinären Verankerung klar werden.43 Der fruchtbare Paragone der Disziplinen sollte nicht zu Abgrenzung und systemischer Schließung führen. Innerhalb der Literaturwissenschaft ist die Ubiquität des Phänomens unmittelbar einsichtig: Seit Homers Beschreibung des Schildes des Achill im 18. Gesang der Ilias stellt die Literatur das zentrale Feld der Aushandlung und Konzep­ tionalisierung intermedialer Beziehungen dar. Dies gilt für die literarische Performanz ebenso wie für die theoretische Reflexion, denn nur in der Literatur (bzw. historisch der Rhetorik und Poetik) bildet sich seit der Antike eine differenzierte Debatte über ästhetisch-poetologische Grundfragen aus, »die im Laufe der Neuzeit auch auf andere Bereiche und Künste (Musik, bildende Kunst usw.) ausstrahlte«.44 Im vorliegenden Band werden nicht alle Kombinationen und Transgres­ sio­nen von bzw. zwischen Medien und Künsten verhandelt. So bleibt – um nur ein Beispiel zu nennen – der Paragone zwischen Malerei und Bildhauerkunst45 ebenso ausgespart wie mimetische Phänomene der Musik (Stichwort: Augenmusik). Die Beiträge konzentrieren sich vielmehr auf das, was Werner Wolf treffend als »literaturzentrierte«46 Intermedialität beschrieben hat, d.  h. auf Phänomene, die sich innerhalb von Texten oder doch unter Rekurs auf Texte vollziehen. Ziel ist es, »Schritt für Schritt zu einer Archäologie und einer Geographie inter­me­dia­ ler Verfahren«47 und vielleicht am Ende zu einer »Literaturgeschichte am Leit­ faden der Intermedialität« zu gelangen.48 Die historische Tiefe und phänomenale Vielfalt des Gegenstandes zu erfassen, ist Aufgabe einer kultur- und medienhisto-

42 Robert (Anm. 1), S. 26–29. 43 Ebd., S. 19–26. 44 Ebd., S. 28. 45 Ekkehard Mai, Kurt Wettengl (Hgg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Haus der Kunst, München, 1. Februar bis 5. Mai 2002). Wolfratshausen 2002. 46 Wolf (Anm. 7), S. 85. 47 Müller (Anm.  11), S.  32, 35. Ähnlich sehen es u.  a. Hans Ulrich Gumbrecht: Why Inter­ mediality – if at all? In: Intermédialités 2 (2003), S. 173–178, hier S. 176–177 und Walter Moser: L’interartialité. Pour une archéologie de l’intermedialité. In: Marion Froger, Jürgen E. Müller (Hgg.): Intermédialité et socialité. Münster 2007, S. 69–92, hier S. 69. 48 Robert (Anm. 1), S. 28. Vgl. Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. München 2005.

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risch sensiblen Literaturwissenschaft, die sich – im Sinne Walter Benjamins, aber auch in der Tradition McLuhans – der Historizität medienkultureller Dispositive stellt: »Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.«49 Form- und Funktionsgeschichte intermedialer Tra­di­tio­ nen, Genres und Darstellungsweisen  – z.  B. die Musikalisierung von Sprache50 oder Verfahren der Bild-Text-Kombination wie Emblem oder visuelle Poesie51 – prägen sich in unterschiedlichen medienkulturellen Kontexten unterschiedlich aus. Historizität und »Sozialität der Intermedialität«52 sind entscheidende Faktoren. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei jenen intermedialen Phänomenen, in denen das Gegeneinander der Medien, ihre Reibung und Konkurrenz, gezielt inszeniert und reflektiert werden. »Denn nur das Differente und Heterogene kann, aufeinander bezogen, jenen ästhetischen Mehrwert generieren, der aus der intermedialen Reibung entspringt.«53 Erst dort, wo im konzeptionellen Gegen­ einander der Medien »ästhetische Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen«,54 findet die Intermedialitätsforschung ein fruchtbares Feld.

3 Diesseits des Laokoon Der vorliegende Band geht in seinem Kern auf eine Tagung zurück, die Wolf Gerhard ­Schmidt und ich vom 28. bis 31. März 2012 an der KU Eichstätt-Ingolstadt unter dem Titel Diesseits des »Laokoon« – Funktionen literarischer Intermedialität in der Frühen Neuzeit (1450–1750) veranstalteten. Die Tagung schloss damit

49 Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. Auswahl und Nachwort von Detlev Schöttker. Frankfurt a.  M. 2002, S. 356. 50 Werner Wolf: Musicalized fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies. In: Walter Bernhard, Steven Paul Scher, Werner Wolf (Hgg.): Word and Music Studies. Defining the Field. Amsterdam 1999, S. 37–58. 51 Vgl. den Beitrag von Seraina Plotke in diesem Band. 52 Jürgen E. Müller: Intermedialität und Medienhistoriographie. In: Joachim Paech, Jens Schröter (Hgg.): Intermedialität analog/digital. Theorien  – Methoden  – Analysen. München 2008, S.  31–46, hier S.  32. Vgl. auch Marion Froger, Jürgen E. Müller: Introduction: Intermédialité et socialité. In: M.  F., J.  E.M.: Intermédialité et socialité. Münster 2007, S. 7–13. 53 Robert (Anm. 1), S. 16. 54 Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines intermedialen Forschungsgebietes. Berlin 1998, S. 31–40, hier S. 32.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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schon im Titel an eine von mir und Friedrich Vollhardt konzipierte Konferenz zu Lessings Laokoon55 an, die sich unter dem Titel ›Unordentliche Collectanea – Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung‹ auf methodische und historische Voraussetzungen von Lessings Schrift konzentrierte.56 Beiden Zeiträumen  – diesseits wie jenseits des Laokoon  – ist gemeinsam, dass sie in der historischen Intermedialitätsforschung noch nicht systematisch dargestellt und untersucht worden sind.57 In der Geschichte der Intermedialität stellt Lessings Laokoon (1766) eine Zäsur dar. Seine Polemik gegen »Allegoristerei« und »Schilderungssucht« distanziert sich erstmals deutlich und prinzipiell von der Idee der ›Schwesterkünste‹58 und des ut pictura poesis-Prinzips.59 Vor allem die germanistische Forschung ist Lessings (Selbst-) Darstellung gefolgt. Erst Lessing habe  – so die Communis opinio  – mit seiner Unterscheidung zwischen Kopräsenz (Malerei) und Konsekutivität (Dichtung, Musik) ein differenziertes medienästhetisches Modell entwickelt, das eine Zäsur zwischen Früher Neuzeit (Vormoderne) und Moderne schaffe. Erst bei ihm werde die Theorie des Mediums zur Grundlage der Poetik. Die hier unterstellte teleologische Entwicklung verkennt einerseits die Kontinuität älterer Konzepte wie dem des Gesamtkunstwerkes über die Schwelle Lessing hinweg und unterschätzt andererseits Lessings Verpflichtung auf Ansätze der antiken Poetik, namentlich des Aristoteles,60 sowie die Fülle intermedialer Phänomene und Reflexionen zwischen Renaissance und Frühaufklärung. Der vorliegende Band setzt bei der Frage nach den vormodernen Kontinuitäten an. Er erfasst Text-Bild- bzw. Text-Musik-Beziehungen der Frühen Neuzeit 55 Veranstaltet vom 11.–13. 11. 2010 im Kloster Bronnbach bei Wertheim. Die Tagungsakten sind erschienen unter dem Titel: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.): Unordentliche Collectanea: Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013; vgl. auch die in diesem Kontext entstandene Neuedition des Laokoon. G.  E. Lessing: Laokoon. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012 (mit grundlegender Einführung des Herausgebers, S. 437–467). 56 Für das 19. Jahrhundert vgl. den Tagungsband Wolf Gerhard ­Schmidt, Thorsten Valk (Hgg.): Literatur intermedial – Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Wiesbaden 2009 (Comparative Studies; 19); Stefan Keppler-Tasaki, Wolf Gerhard ­Schmidt (Hgg.): Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848. Berlin, München, Boston 2015. 57 Vgl. meinen kurzen Abriss: Robert (Anm. 1), S. 34–39. 58 Jean H. Hagstrum: The Sister Arts: The Tradition of Literary Pictorialism and English Poetry from Dryden to Gray. Chicago 1987. 59 Gottfried Willems: [Ut] pictura poesis. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin 2003, S. 82–84; ders.: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. 60 Robert (Anm. 1), S. 30–34.

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in ihrer historischen Fülle und disziplinären Breite in vier Sektionen: Theatrale (1) und musikalische Intermedialität (2), Bildende Kunst, Buchdruck, Medien (3) sowie literarische Bildpoetik (4). Zu den Spezifika frühneuzeitlicher Inter­media­ lität zählt die Diversität der Kontexte, in denen intermediale Beziehungen verhandelt werden. Einerseits steht mit der Paragone-Kontroverse (seit Leon Battista Alberti)61 ein theoretisches Forum für Positionierungen im ›Vorzugsstreit‹ zur Verfügung, das an zentralen Stellen in die Poetiken eingeht. Andererseits wird die Debatte über Bedeutung und Funktion von Intermedialität auch in Bereichen außerhalb des Kunstdiskurses geführt. Die Diskussion um das religiöse Bild, die zunächst im Protestantismus (Luther, Calvin, Karlstadt), später auch im altgläubigen Bereich bis ins 17. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt (Tridentinum, Bilder-Traktate, z.  B. Paleotti), ist zwar theologisch fundiert, beinhaltet aber eine differenzierte Bildästhetik, die semiotische und rhetorische Aspekte verbindet.62 Darüber hinaus erweist sich die Kunstliteratur63 als intermediale Konvergenzzone, die u.  a. zur Nobilitierung der ›praktischen‹ Medien Musik und Malerei beiträgt (Integrationsaspekt). Die Trattatistik soll durch theoretische Grundlagenbildung einen Kunstanspruch im frühneuzeitlichen Sinn allererst etablieren. Auch die Biographik (Vasari, Sandrart u.  a.) möchte diesem Legitimationsdefizit entgegenwirken. Gleichzeitig werden durch den Versuch, die handwerkliche Kunstausübung in das rhetorisch-poetische Theoriesystem einzubeziehen, die Grenzen des Kategorientransfers sichtbar und mit ihnen die spezifische Eigendynamik der Künste (Autonomieaspekt). Vor allem im 16. und 17.  Jahrhundert entsteht eine Vielzahl intermedialer Misch- und Hybridformen, die für die Kunstpraxis der Zeit von großer Bedeutung sind – in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Das Verhältnis der Einzelkünste zueinander ist durchaus vielfältig: komplementär in der Emblematik, die aus-

61 Claire J. Farago: Leonardo da Vinci’s Paragone. A Critical interpretation with a new edition of the text in the Codex Urbinas. Leiden, New York, Kopenhagen u.  a. 1992; Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des ›Paragone delle arti‹ für die Entwicklung der Künste. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, New York 2011, S. 179–209. 62 Vgl. mit Blick auf Caravaggio den Beitrag von Jürgen Müller; zur Bilderfrage im protestantischen Raum Sergiusz Michalski: The Reformation and the visual arts. The Protestant image question in Western and Eastern Europe. London, New York 1993; zur katholischen Bildtheorie eingehend Jörg Robert: Texttabernakel. Jacob Baldes sakrale Ekphrasen und die Krise des reli­giö­sen Bildes. In: Thorsten Burkard, Günter Hess, Wilhelm Kühlmann, Julius Oswald (Hgg.): Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. Regensburg 2006 (Jesuitica; 9), S. 287–312. 63 Ulrich Pfisterer: Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen. Stuttgart 2002.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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gehend von Andrea Alciatis modellbildendem Buch (1531) bis ins frühe 18. Jahrhundert floriert,64 synergetisch in der Form der Oper, die unter Bezugnahme auf die griechische Tragödie eine neue Synthese von Wort, Ton und Bild herstellen möchte (Florentiner Camerata, erste deutsche Oper(ntheorie) in Harsdörffers Seelewig, Händels Maschinentheater etc.).65 Gleiches gilt für die Vokalmusik allgemein (Oratorium, Passion, Kantate, Madrigal, Kirchenlied), deren Theorie sich systematisch das Kategorienarsenal der Wirkungsrhetorik zu eigen macht.66 Eingehend zu diskutieren ist in diesem Kontext, ob die multimediale Praxis des Barock bereits Gesamtkunstwerkcharakter besitzt und damit entsprechende Entwicklungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts präformiert oder ob sie eher quer zu solchen Tendenzen (Glucks Opernreform, Wielands Librettoaufwertung etc.) steht.67 Besonderes Augenmerk verdient zudem das bisher wenig beachtete Phänomen der ›Vertönung‹ auf dem Theater, d.  h. das Exponieren von tableaux (vivants), scenae mutae, Projektionen, und/oder Posituren.68 Auch die Etablierung musikalischer Strukturmodelle in der Barockprosa69 und die vielfältigen Versuche lyrischer Sprachmusikalisierung sind bisher nicht zureichend untersucht.70 Ein zentraler Gegenstand des Bandes sind die ut pictura poesis-Konzepte vor Lessing.71 Wie sich zeigt, ist der Vergleich (paragone, comparatio) der Künste von feinen Positionierungen und Aushandlungsprozessen bestimmt. Dies betrifft vor allem paragonale Strukturen in Bildgedicht und Kunstbeschreibung (Ekphrasis), die nach klassischem Vorbild – gestützt auf die Rhetorik der descriptio und verankert in den praeexercitamenta der Lateinschule – die gesamte Frühe Neuzeit bestimmen. Hier sind Konzepte ästhetischer Bilderzeugung (enargeia, phantasia, imaginatio) von großer Relevanz.72 Die Pragmatik der Medienkombination und -konkurrenz bestimmt auch das Feld der Buchillustration. Seit dem Frühdruck

64 Vgl. die Beiträge von Stefanie Arend und Astrid Dröse in diesem Band. 65 Vgl. den Beitrag von Nicola Gess in diesem Band sowie Wolf Gerhard ­Schmidt: Harmonikalität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken Systemdenkens. Zur Integralästhetik von Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen [1641–1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4, S. 483–531. 66 Vgl. den Beitrag von Florian Mehltretter in diesem Band. 67 Vgl. Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin, New York 1994, S. 197–238. 68 Vgl. den Beitrag von Irmgard Scheitler in diesem Band. 69 Vgl. den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band. 70 Vgl. den Beitrag von Dirk Werle in diesem Band. 71 Dazu im Überblick Willems (Anm. 59). 72 Vgl. aus unterschiedlicher Perspektive die Beiträge von Michael Bauer/Angelika Zirker, Rüdiger Singer und Lothar van Laak in diesem Band.

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(exemplarisch in Brants Narrenschiff) sind Bilder als paratextuelle Komponenten allgegenwärtig.73 Hinzu treten bildpoetische Schreibverfahren und Text-BildEnsembles jenseits der Emblematik74 oder intermediale Strategien der Textpräsentation wie die visuelle Poesie.75 Schließlich existiert bereits vor Lessing ein elaborierter Diskurs zum ut pictura poesis-Komplex, in dem sehr nuanciert auf mediale Eigenlogiken und ambivalente Potentiale von Text und Bild reflektiert wird.76 Mit diesem breiten Querschnitt durch die ›lange‹ Frühe Neuzeit will der vorliegende Band die historischen Voraussetzungen erarbeiten, um das trans- und interdisziplinäre Gespräch über Intermedialität auf ein neues empirisches Fundament zu stellen. Hierbei werden u.  a. auch Epochengrenzen (Humanismus/ Barock) bzw. -parallelitäten (musikalisches Barock/literarische Frühaufklärung) neu perspektiviert. Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass der Blick auf die Periode ›diesseits des Laokoon‹ nicht nur den Laokoon in einem neuen Licht erscheinen lässt. Vielmehr wird deutlich, wie intensiv  – und kontrovers  – das Verhältnis zwischen den Medien bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts reflektiert wird. In dieser Perspektive sind die Diskussionen um die ›malende‹ Dichtung und ihre Kritik im Laokoon nur Etappen eines ausgreifenden Prozesses, der die gesamte Frühe Neuzeit durchzieht und literatur- wie medienhistoriographisch weiter aufzuarbeiten ist.77 Es gilt Traditionen, Kontinuitäten und Genealogien zwischen Vormoderne und Moderne neu in den Blick zu nehmen, ohne dabei historische wie mediale Alteritäten und Begrenzungen außer Acht zu lassen.78 Christian Kiening hat unlängst die Herausforderung dieser Art von Mediengeschichte charakterisiert: »[W]ie mit Kategorien, die einen spezifisch modernen Index haben, Phänomene beschreiben, denen diese Kategorien fremd sind? Wohl nur so, dass man den ten­den­ziel­len Anachronismus zu einem produktiven heuristischen Instrument macht.«79 Das Projekt einer Literaturgeschichte am Leitfaden der Intermedialität hat gerade erst begonnen.

73 Vgl. den Beitrag von Joachim Hamm in diesem Band. 74 Vgl. die Beiträge von Monika Schmitz-Emans und Jörg Wesche in diesem Band. 75 Vgl. den Beitrag von Seraina Plotke in diesem Band. 76 Vgl. den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band. 77 Vgl. die Vorüberlegungen im Beitrag von Jürgen E. Müller in diesem Band. 78 Für einen genealogischen Ansatz wäre auf die Prä-Kinema-Forschung hinzuweisen oder ­exemplarisch auf Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 22006. 79 Kiening (Anm. 3), S. 14.



Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 

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Dank Der Herausgeber ist vor allem der Fritz Thyssen Stiftung zu Dank verpflichtet, die zunächst die Eichstätter Tagung, schließlich auch die Publikation dieses Buches durch großzügige finanzielle Unterstützung ermöglicht hat. Für die Organisation, Durchführung und administrative Begleitung der Konferenz danke ich Wolf Gerhard ­Schmidt sowie den Eichstätter, Würzburger und Tübinger Hilfskräften. Insbesondere danke ich Marisa Irawan, M.  A., Dr.  Astrid Dröse (Tübingen) und meinen Hilfskräften für ihre redaktionelle Begleitung des Bandes in seiner Endphase. Für dessen Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit danke ich den Reihen­ herausgebern. Für die kompetente Betreuung der Publikation im Verlag Walter de Gruyter danke ich Dr. Manuela Gerlof, Dr. Jacob Klingner, Stella Diedrich, Lena Ebert sowie Julia Hachula. Den Satz hat Dörlemann Satz, Lemförde besorgt.

I Theatrale Intermedialität

Irmgard Scheitler

Die Verthönung – Illustration auf dem Theater Im Jahr 1659 konnten die Bürger von Nürnberg in ihrem Theatersaal im Marstall das Schauspiel Der Lehr- und Weisheit-begierige Jüngling des jungen Theologiestudenten Christoph Paul Spieß sehen.1 Der Nebentext sagt über den Beginn der Aufführung: »Der Anfang wird mit der Orgel und etlichen Violen gemacht / dann nach eröffneten Fürhängen des ersten Actus vornehmste Abhandlungen in vier Verthönungen fürgestellet.«2 Das Stück wurde also, wie üblich, musikalisch eröffnet, wohl mit einer Intrada für Streicherconsort mit Orgelcontinuo. Die nachfolgend erwähnten »Verthönungen« haben in der Forschung Anlass zu Verwirrung gegeben.3 Der Terminus, der im 17.  Jahrhundert ganz geläufig war, ist offenbar vollständig in Vergessenheit geraten. Er hat nichts mit Vertonung oder mit Tönen zu tun, auch wenn das genannte Beispiel dies suggerieren könnte. Vielmehr entstammt er dem Niederdeutschen bzw. Niederländischen: Vertooning meint Erscheinung, Darstellung.4

1 Der Lehr- und Weisheitbegierige Jüngling; Aus der alten sinnreichen Tafel des vortrefflichen Philosophi, Cebetis, mit nutzlichen Lehren unterrichtet. In welcher der Jugend Thorheit  / Irr­ thum und Laster gezeiget; Sie dagegen zu guten Künsten  / Wissenschafften  / herrlichen Tugenden und Weisheit angeführet wird. In einer Comoedy von jungen Knaben praesentiret und aufgesetzet von M. Christophoro Paulo Spieß / N.  S.  S. Th. Studioso. Nürnberg 1659. Vgl. zum Folgenden grundsätzlich Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. I: Materialteil. Mit MP3. (Würzburger Beiträge zur Musikforschung; 2.1) Tutzing 2013; Bd. II: Darstellungsteil. (ortusstudien; 19) Beeskow 2015. 2 Spieß ebd. Bl. (6v.). 3 Klaus Haberkamm und Lieselotte E. Kurth: Christoph Paul Spieß: Der Lehr- und Weisheitbegierige Jüngling (1659). Ein Nürnberger Schul-Drama nach dem Modell der Tabula Cebetis. In: Sim­ pli­ciana 11 (1989), S. 129–148, hier S. 140: »Die Bezeichnung Vertonung meint wohl, daß diese an die picturae von Emblemen erinnernden Darstellungen musikalisch untermalt wurden«. 4 Deutsches Wörterbuch. Hg. von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearb. hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Leipzig, Stuttgart 1854–1971, Bd. XII,1 Sp.  1918: »Vertonen, verb. [oder verthönen] […] zeigen, vor augen stellen, lehren, andeuten, offenbaren.« – »Dazu das subst. Vertonung, f., schaustellung, darstellung, erscheinung«. DOI 10.1515/9783110521788-002

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 Irmgard Scheitler

In Nürnberg wurden also Tableaux gezeigt, auch Lebende Bilder, Scenae mutae,5 Stellungen,6 Vor- oder Verstellungen,7 Posituren,8 Exhibitiones9 genannt. Am häufigsten verwendet wurden die Termini Verthönung oder Verthonung, allenfalls in der selteneren Abwandlung Verthanung, die Georg Philipp Harsdörffer gebraucht.10 Nicht nur das Wort, sondern auch der Usus wurde von den nördlichen Nachbarn übernommen. Die Rederijker waren berühmt für ihre Vertooningen. Ähnlich den Lebenden Bildern bei katholischen Prozessionen wurden diese als Prunkstücke auch außerhalb eines dramatischen Zusammenhangs präsentiert: Sie hatten schon im 15. Jahrhundert11 und immer noch im 17. eine wichtige Funktion in der Bewillkommnung von Fürsten.12 Die Bühne der Rederijker konnte durch einen Vorhang geteilt werden. Im hinteren Bühnenabschnitt zeigte man während der Aufführung oder auch an deren Ende biblische, antike oder historische Motive, eben die Vertooningen, zur Erläuterung der Handlung.13 Eigenartigerweise finden sich jedoch im deutschsprachigen Theater des 16. Jahrhunderts keine Zeugnisse dafür, dass der Usus der Lebenden Bilder übernommen worden wären. Hingegen kannte das englische Theater die »dumb show«  – das berühmteste Beispiel ist Hamlet.14 An Pracht sind diese Vorstellungen den niederländischen wohl nicht zu vergleichen. Erste deutsche Belege stammen etwa aus der Mitte des 17. Jahr-

5 Johann Caspar Weissenbach: Auffnemmende Helvetia. Zug 1705, Bl. J5v: »Franciscus König in Franckreich nimbt gesambten Eydgnoßsischen Stand zu Gevatteren. Welches durch ein stillschweigende Scenam entworffen worden.« 6 Christian Funcke: Neu-ersonnene Mayen-Lust. Görlitz 1667, Bl. 310v: »Hierauff gehet nach vollendeten Posituren / oder Stellungen der Personen / an die erste Handlung«. 7 Poetische Schäffer-Lust. Zeitz 1668, »Kurtzer Entwurff«: »Darbey denn bey allmehlicher Entdeckung der verborgenen Liechter  / die Verstellungen MelJxJanDers und Selandons  / zweyer Schäffer  / mit abwechßlenden Geberden  / wie auch RUBadors  / eines andern Hirtens  / von dreyen musicierenden Schäfferinnen begleitet«. 8 Simon Rettenpacher: Francia Gallice delusa. Kremsmünster 1689, Prolog: »Indessen wird der gantze Inhalt nachfolgender Histori in Posituren angedeutet«. 9 Paul Aler: Ursula Coloniensis Tragoedia. Köln 1710, Bl. A2r: »Exhibitiones passim adnotare, consulto negleximus.« 10 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Nachdruck der Ausg. Nürnberg 1644–1649. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1968  f., Bd. III, S. 205 (225). 11 Vgl. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. II. Bd.: Das Theater der Renaissance. 2. verm. u. verb. Aufl. Salzburg 1959, S. 217–219. 12 Jan Vos: Beschrijving der Vertooningen op de Staatcywagens, die voor Mevrouw Hare Koning­ lyke Hoogheit De Princes Van Oranje, […] door order van de […] Heeren Burgermeesteren der Stadt Amsterdam, op de Markt vertoont zijn. Amsterdam 1660. 13 Kindermann (Anm. 11), S. 221, 241  f. 14 Dort heißt es zu Beginn des Spiels im Spiel III,2: »Hautboys play. The dumb-show enters.«



Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 

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hunderts; sie verdanken sich vielleicht erst der näheren Bekanntschaft mit dem niederländischen Theater durch Wanderbühnen oder dem Aufenthalt deutscher Schriftsteller im Nachbarland. Dort waren Lebende Bilder zur Illustration sehr beliebt. Autoren des 17. Jahrhunderts, z.  B. Jan Vos (1615–1657), setzten sie nicht nur in ihre Stücke, sondern ergänzten sie sogar in vorliegenden Dramen.15 Sieht man von Extremfällen wie Harsdörffers »Gesprächspiel von der Welt Eitelkeit«16 ab, einem Schauspiel, bei dem emblematische Gemälde, Verthönungen, Pantomimen mit Vokal- und Instrumentalmusik von Sigmund Theophil Staden den gesamten Spieltext ausmachen, so finden sich im Drama Verthönungen als ein optisches Medium, das zu gesprochenem und gesungenem Wort und zu Instrumentalmusik hinzutreten kann, als eine Spielart und Komponente der visuellen Präsentation. In seiner schon von den Zeitgenossen zitierten Erläuterung schreibt Harsdörffer zum Zusammenwirken der Künste im Drama im VI. Band der Gesprächspiele: Also muß auch der Poet den Schauplatz / wo er sein Gedicht vorstellig machen / und dardurch / ob der Hörer / und Zuschauer Neigungen / Sinne und Gedanken siegen wil / nach allen Fügnissen bequemen / und vorbereiten. Zu diesem Ende sol der Poet verstehen / die Baukunst / die Perspectiv / oder Sehkunst / die Mahlerey / die Music / den Dantz / und im Ende aller Personen Geberden ziemlich nachzuahmen.17

Die folgenden Ausführungen fragen nach der Funktion Lebender Bilder im Schauspiel, nach dem Ort ihres Einsatzes und nach Möglichkeiten, sie durch andere optische Medien zu ersetzen. Das Tableau ist gleichsam eine lebende Skulptur und wird als ein Element der bildenden Kunst in das Theater herübergenommen. Medienwechsel und auch Medienkombination kennzeichnen seinen Einsatz auf der Bühne. Mit vielem Recht betont Harsdörffer, gutes Theaters sei multimediales Theater: »Mahl- Reim- und Musickunst / solche drey Stüke nun […] können einen prächtigen Aufzug bringen.«18

15 Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. III. Bd.: Das Theater der Barockzeit. 2. verb. u. erg. Aufl. Salzburg 1959, S. 252; 264. Als Beispiel sei genannt Jan Vos: Medea. Treurspel. Amsterdam 1657, S. 65: »Hier ziet men, na’t oopenen van een gordijn, in een rouwkamer, daar zich het lijkedt van Kreüza, onder boggen vol toortsen, deur zwart floers, vertoont.« 16 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. III, 170–242 (190–262). Abbildung einer Verthönung im Bühnenhintergrund z.  B. S. (212) neben S. 193. 17 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. VI, S. 42 (162). Zitiert bei Johann Rist: Die AllerEdelste Belustigung Kunst- und Tugendliebender Gemühter / […] und zwahr Eine Aprilens-Unterredung. Hamburg: Naumann 1666. In: Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack, Bd. V, Berlin, New York 1974, S. 309. 18 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. III, S. (191) 171.

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 Irmgard Scheitler

1 Die Verthönung zu Beginn des Stückes – ein Ersatz für das Argumentum Den Inhalt eines Dramas zu Beginn von einem Argumentumsprecher erzählen zu lassen, schien im 17.  Jahrhundert veraltet. Keines der Stücke von Opitz hat mehr diesen umständlichen Handlungsbericht, der zunächst für das Drama als Ganzes und schließlich noch für die einzelnen Akte vorgetragen wurde. Gleichwohl schien es unerlässlich, den Zuschauern die Personen und den Inhalt vorzustellen. Nun war es üblich, dass die Schauspieler nach Gruppen geordnet zu Beginn in einer Parade auf die Bühne zogen oder sich jedenfalls dort zeigten. Es bot sich also an, diese Präsenz zu nützen und nicht nur die Figuren des Spiels, sondern auch dessen Szenen zu präsentieren. Eine anschauliche Beschreibung liefert Sigmund von Birken im Rahmen seines Friedensspieles von 1650: ließen sich alsobald […] Vertönungsweis sehen etliche Personen / die stunden mit unverwandten Augen und Leibern / als wären es Bilder; und diese Vorbildungen wurden durch Auff- und Zuziehung des Vorhangs mit unterschiedenen Posituren oder Stellungen vor jedem Aufzug ein mal oder vier abgewechselt.19

Die Verthönungen haben ihren Platz nach dem Prolog, der seit alters gesprochen wurde, während die Schauspieler auf der Bühne versammelt waren. In Birkens Margenis ist der Götterbote Merkur der Prologsprecher. Er übernimmt zugleich die Vorstellung: Allhier öffnet sich hinter ihm [Merkur] der ganze Schauplatz / auf welchem alle Haubt-Personen des Schauspiels / ohne Verwendung der Leiber und Gesichter Zu beiden Seiten neben einander  / die Grössern fornen  / die Kleinern hinter  / als in einem Perspectiv oder Seekunst-Stück / sich sehen lassen. Mercurius tritt darzwischen hinein / und wann er von einer Person redet / so weist er mit dem Stab auf dieselbe. […] Nachdem er ausgeredet / bleibt er mitten zwischen den andern auch unverwendet stehen / gleich als wäre er zu einem Bild worden / und wird darauf der ganze Schauplatz wieder verzogen.20

Der Druck von 1679 bildet als Titelkupfer die Formation der Schauspieler mit Merkur ab; Autor und Verleger hielten diese Eröffnungsszene offenbar für werbe­ wirksam. 19 Sigmund von Birken: Teutschlands Krieges-Beschluß und FriedensKuß / beklungen und besungen In den Pegnitzgefilden von dem Schäfer Floridan. Nürnberg 1650, S. 22 20 Sigmund von Birken: Margenis oder Das vergnügte, bekriegte und wieder befriedigte Teutschland. Nürnberg 1679, S. 15, 17. Die Abhängigkeit von Harsdörffer (Anm. 10) Bd. V, S. (208  f.) 93  f. und der nachfolgenden Abbildung liegt auf der Hand.



Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 

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Im Grunde sollten die Verthönungen den verbalen Bericht über den Inhalt und die gesprochene Vorstellung der Schauspieler ersetzen. Doch sehen wir aus Birken, dass sich beides auch verbinden ließ. Besonders beliebt war es hingegen, erklärende Worte nicht sprechen, sondern im Lied singen zu lassen. So hat Michael Albinus 1650 in seinem Danziger Stück Die Königin im Liebenthal »Augen-Belustigungen«, d.i. die stummen Bilder, durch Gesang erläutern lassen. »Die Erste Handlung (Welche anzeiget daß Mittel seyn müssen / im fall man den Dürfftigen recht helffen wolle;) wird mit mancherley Augen-Belustigungen angefangen / und unter andern eine Musik auf nachgesetztes Liedlein gehöret.«21 Doch konnten Tableaux auch für sich selbst wirken. Sie konnten vor jedem Akt eingeschaltet werden oder wie ein General-Argumentum zu Beginn das gesamte Stück vorstellen. Im letzteren Fall kam es zu eindrucksvollen Reihungen. Eine Neuruppiner Weihnachtsvorstellung von 1646 mit dem Titel Theophania begann mit 28 Verthönungen. Dazu spielten die Musen auf »allerhand Instrumenten« in offenbar raffiniert wechselnder Besetzung Philipp Nicolais bekanntes Lied »Wie schön leuchtet der Morgenstern«. Künstliche Beleuchtung erhöhte den Effekt: Das Ganze vollzog sich »Bey brennenden Liechtern«, wobei vor den Personengruppen »allewege eine Decke auff- und nidergezogen worden«.22 Dieses weihnachtliche Schulspiel wird aber an Anzahl der Verthönungen noch weit übertroffen von einer Stralsunder Festaufführung. Stadt und Schule feierten jährlich den Jahrestag der Befreiung von Wallensteins Truppen. 1692 führten sie ein zweitägiges Schauspiel auf. In ihm machten die Schauspieler zum allerersten Mahl unter einer Musicalischen Entrée denen geneigten Zuschauern ein nicht unangenehmes divertissement, mit 70. vorhergehenden Praesentationen, oder sogenanten Verthönungen: worinnen das gantze Werck und die vorkommende ZwischenScenen in einer stummen Abbildung und unbeweglichen Postur mit sonderbahrer grace vorgestellet werden.23

Wieder also begleitet Instrumentalmusik die Präsentationen, die einer weiteren Erläuterung nicht bedurften.

21 [Michael Albinus] Kurtzverfaster Nachricht Des Dantziger Schauspiels / von der Königin im Liebenthal / etc. So auff Vergünstigung E. Hochw. Rahts vorstellen wird Andreas Gärtner. o.  O. [ca. 1650]. 22 Christian Rose: S.  Theophania Rhetoricè disponiret, Schrifftmässig außgeführet Und In einem new- sehr anmutig- Fünff-fachen Actu mit gutem Nutze öffentlich vorgestellet Zu Newen Ruppin / Im Jahr / nach Christi Geburt 1646. Berlin 1647, Bl. B1r. 23 Jakob Wolf: Feuer- und Schwerdt-Bühne / Der Durchleuchtigsten Pomeris Ältesten Tochter Aktinoporthmus / Sonst Strahlsundische Mnemosyne genant. Stralsund 1692, S. 35.

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Roses Neuruppiner Schulspiel aus dem Jahr 1646 ist ein recht früher Beleg für die Verwendung von Verthönungen. Fast häufiger als die Tableau-Reihe, die das ganze Schauspiel zeigt, ist die stumme Präsentation der Szenen vor jedem einzelnen Akt. Hier scheint mir das früheste Beispiel ebenfalls aus dem Jahr 1646 zu stammen. Am 11. September 1646 haben die Freyberger Springer [in Dresden] auf dem obern Schloßsaal den Bären tanzen lassen, hernach auf dem theatro getanzt, worauf eine Comödie mit Personen, vom verlorenen Sohn, agiret worden, wo vor jedem actus der inhalt mit stummen Personen repräsentiret […] worden.24

Der Einsatz von Scenae mutae schien dem Chronisten immerhin wert, eigens vermerkt zu werden. In der Folge gibt es zahlreiche Beispiele für die Erwähnung von Verthönungen zur Information über die Inhalte der einzelnen Akte. Hier ein paar ausgewählte Fälle: Die protestantischen Bürger von St.  Gallen entwickelten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Ehrgeiz, den aufwendigen Dramenaufführungen des Benediktinerklosters ihrer Stadt etwas entgegenzusetzen. So kam es zu einer Serie von Gryphius-Aufführungen, z.  B. wurde 1680 Papinianus gespielt. »In dem die Vorhäng unter dem Trommlen und Trompeten Schall fielen  / stunde einer von den Kayserlichen Hofleuten da und machte / nach gebührender Ehrerbietung und Titlen / also den Eingang«. »Hierauff sind die Vertönungen oder Stellungen der ersten Abhandlungen  / gleich wie allezeit von den folgenden  / bey einer Music von Violen und anderen Instrumenten gezeiget worden.«25 Trompeten und Trommeln kündigen wie üblich den Beginn des Dramas an. Hingegen waren die Verthönungen, die das Argumentum ersetzen, von einem sanften Gambenconsort und anderen, den jeweils vorherrschenden Affekt ausdrückenden Instrumenten begleitet. Deutlicher wurde der Inhalt natürlich durch erläuternde Lieder. So sieht eine Wormser Schulaufführung von 1667 unter der Überschrift »Absingungen der Verthönungs-Scenen« Strophen zur Erklärung vor, die alle in der ersten Zeile mit einem ostentativen »Hier« beginnen.26

24 Moritz Fürstenau: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen. 2 Tle. Dresden 1861  f., Hildesheim 1971, Bd. I, S. 107. 25 Vgl. Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle 1921, S. 252. 26 Johann Hartmann Misler: Actus Theatralis Latino-Teutonici […] in Theatro Gymnasii Wormatensis […] solemniter instituendi […] perofficiose invitans. Darmstadt 1675, Anhang: »Absingungen der Verthönungs-Scenen«.



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Schon die Englischen Komödianten und die niederländischen Rederijker machten ihre Aufführungen durch künstliche Beleuchtung, insbesondere Fackelschein, interessanter. Johann Georg Albinus lässt in seiner Altenburgschen Printzen Entführung 1686 nach dem Prolog die Kerzen verlöschen. Beleuchtet werden nur mehr die Verthönungen. »Darauff fällt der Schau-Platz zu  / und werden darauff die Posituren des ersten Actus gestellet.« Dazu wird ein vierstrophiges Lied gesungen. Wie auch in anderen Spielen präsentierte man die »Posituren« vor dem Vorhang, wobei hier eindeutig der mittlere Vorhang gemeint ist.27 Einen wichtigen Beitrag zu unserer Kenntnis über das frühneuzeitliche Schauspiel liefert Johann Rists Die AllerEdelste Belustigung Kunst-und Tugendliebender Gemühter. In diesem Monatsgespräch diskutiert der Autor mit seinen Freunden auch die Tableaux zu Beginn der Handlung. Sie seien zwahr fein anzusehen  / aber doch gleichwol von vielen Liebhabern dieser Kunst mehrmahlen wird getadelt / denn / wann diese Fürstellung / (die man gemeiniglich Vertoninge nennet) sind geendiget  / so weiß schon ein jedweder Zuschauer  / wie viele  / und was für Spieler  / auch wie sie gekleidet sind  / in gegenwärtigen Komoedien oder Tragoedien erscheinen werden / welches die Lust / die man sonst aus Anschauung solcher Spiele zu schöpffen vermeinet / sehr vermindert / denn / je öffter neue Personen aufftreten / die man hiebevor noch nicht gesehen / je vielfältiger wird die Ergetzlichkeit bey den Zuschauern / und je hefftiger mehret sich das Verlangen bald andere Spiele und Auffzüge für sich zu sehen und anzuhöhren.28

Damit benennt Rist ein Problem, das vor ihm, soweit ich sehe, keiner als solches erkannt hatte und das auch nachher noch lange kein Diskussionsgegenstand war. Spannung spielte im Drama der Frühen Neuzeit so gut wie keine Rolle. Allerdings sind Rists Gegenvorschläge nicht stringent: Er meint nämlich, man könne »den Jnhalt oder die Meinung solcher SchauSpiele auff eine weit bessere Ahrt präsentieren«, nämlich durch die »erstlich von den Italiänern« erfundenen Kulissen. Nun können freilich Kulissen weder viel über den Inhalt einer Szene aussagen, noch waren sie im Veröffentlichungsjahr der Unterredung 1666 gar so neu.29 Johann Georg Sulzer schreibt in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste unter dem Stichwort »Haltung des Körpers« emphatisch:

27 Chur-Fürstl. Sächsische Altenburgsche Printzen Entführung [1686]. In: Chursächsische Venus, Welche / Aller Glorwürdigsten Sächsischen Helden und Heldinnen Myrthen-Feste und Beylager Jetziger Linie Nicht alleine dem Weltbekandten Sachsen-Lande  / Sondern auch dem Neubegierigen Deutsch-Lande / Kürtzlich / iedoch ausführlich und lustig / Vorstellet. Naumburg 1686, S. 200–329, hier S. 212. 28 Rist (Anm. 17), S. 307. 29 Rist ebd. S. 307  f.

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Aber dieser Theil der Kunst liegt ganz außer der Kunst; nicht der Künstler, sondern der Mensch von empfindsamer Seele, der jede Aeusserung des unsichtbaren Wesens, das den Körper belebt, vermag zu bemerken und an sich selbst zu empfinden, sieht den Charakter und den besonderen, aus der Empfindung entstehenden, inneren Zustand des Menschen in der Haltung des Leibes.30

Für das 17.  Jahrhundert verhält es sich jedoch ganz anders. Nicht durch Empathie, sondern aufgrund der hohen Formalisierung und der damit verbundenen Semantisierung des Bildnerischen konnten die Zuschauer Verthönungen als Inhaltsangaben »lesen«. Die Schauspieler trugen Symbolkostüme, an denen ihre Rolle sofort zu erkennen war. Viele entsprechende Äußerungen in Dramentexten bestätigen dies; noch deutlicher machen es Figurinen, wie sie etwa von der Amsterdamer Schouwburg überliefert sind.31 Körpersprache und Gebärde waren durch Konvention in ihrer Bedeutung festgelegt. Ebenso wie gemalte Bildnisse oder Skulpturen durch Handgesten, Kleidung, Blick »sprechen« konnten, so auch Lebende Bilder.32 Erklärende Worte waren nicht nötig; vielmehr stellt der Ersatz des Argumentums durch Verthönungen einen Medienwechsel dar. Tritt, was häufig der Fall ist, Musik hinzu, so überbrückt sie die Zeit und unterstreicht den Affekt mit dem Ziel einer Vertiefung des Eindrucks durch Medienkombination.

2 Die Verthönung als Zwischenakt Das lateinische oder deutsche Ordensspiel kennt die Verthönung als Ersatz für das Argumentum nur ausnahmsweise. Eine größere Bedeutung kommt den Ver­ thö­nungen hier als Ersatz für Chöre zu, sie erscheinen also in den Zwischenakten. Diese Verwendung bezeugt die Poetik des Jacobus Masen, Palaestra Eloquentiae Ligatae Dramatica. Der Kölner Jesuit hält kommentierende Chöre, wie sie in der Antike üblich waren, für veraltet33 und zieht ihnen die bei den Niederländern üblichen Tableaux vor, die freilich von Musik begleitet und von Gesang unterstützt

30 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Leipzig 1771–1774, Bd. 1, S. 506. 31 Het Eeuwgetyde von den Amsteldamschen Schouwburg. Zinnespel. Amsterdam 1738, Bd. I: Kostümbilder vornehmlich allegorischer und mythologischer Figuren. 32 Die Kunst der Gestik ist in den letzten Jahren in den Blick der Forschung geraten, desgleichen die v.  a. bei Franz Lang: Dissertatio de actione scenica. München 1717 dargestellte theatrale Körpersprache. Die Literatur zum Thema ist inzwischen umfangreich. Zuletzt z.  B. Lars Olof Larsson: »… Nur die Stimme fehlt!« Portrait und Rhetorik in der Frühen Neuzeit. Kiel 2012. 33 Jacob Masen: Palaestra Eloquentiae Ligatae Dramatica. Pars III. & ultima, quae complectitur Poesin Comicam, Tragicam, Comico-Tragicam. Praeceptis & historiis rarioribus cum Exemplis



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werden können. In seiner eigenen Theaterpraxis verwendet er Scenae mutae mit Musik im Androphilus und durchgehend im Telesbius.34 Die Tableaux dienen nicht zur direkten Erläuterung des Bühnengeschehens, sie heben dieses vielmehr auf eine andere Ebene. Es handelt sich nämlich um Allegoresen, meist um biblische, bisweilen auch historische Präfigurationen. Sind Tableaux zum Ersatz des Argumentum rein illustrativ und stellen Nachahmungen der Dramenhandlung auf dem Gebiet der bildenden Kunst dar, geben also, in exegetischer Terminologie, den ›Naturalsinn‹ der Handlung wieder, so ließen sich diese Scenae mutae mit dem ›allegorischen‹ oder ›mystischen Schriftsinn‹ vergleichen. Der in Wetzlar tätige Jesuit Franz Callenbach verwendet Präfigurationsszenen in seinen deutschen Stücken. In der Satire Quasi vero, die die Verlogenheit in der Welt anprangert, wird vor Akt III folgende alttestamentarische Präfiguration eingeblendet: »Zwei Genii machen den Anfang sitzend  / da inzwischen per scenam mutam der schlaffende Samson im Schooß Dalilä / unter der Haarschur repraesentirt wird.«35 Während die einzelnen Akte dem aktuellen Leben entnommene Fälle von Falschheit und Blenderei aufspießen, werfen die Scenae mutae Schlaglichter auf biblische Exempel. Es versteht sich, dass Gesang solche Einblendungen erklären muss, denn hier handelt es sich ja um Inhalte, die eine weitere Handlungsebene gegenüber derjenigen des Stückes aufziehen und deshalb erläuterungsbedürftig sind. So singen in unserem Fall die beiden Genii über den geschorenen Simson ein Lied mit dem Beginn: »Schäme dich Rhinoceros, | Da liegst in dem Weiber Schooß«. Nicht nur bei den Jesuiten, sondern auch bei den Spielen anderer Orden war die Präfiguration ein beliebtes Mittel. Zusätzlich zu den allegorischen Zwischenakten zeigt Gotthard Haslingers benediktinisches Festspiel Die biss in den Tod verfolgte, doch glorwürdig obsigendte Trey in Hirlanda36 mit Musik verbundene Exhibitiones. Zur Erläuterung der Tableaux, deren Bildquelle vornehmlich die Bibel ist, dienen die Strophen eines dazu vorgetragenen Liedes. Der Aufführungsort, Kloster Lambach, ging mit dieser Darbietung zu Ehren seines Abtes an

singulorum Poematum illustrata. Nova editio. Priori longe correctior. Köln 1683, p. III, S. 21. lib. I, caput 4 § 1 Nr. 4. Dagegen gibt es im Josaphatus und im Mauritius Chorlieder. 34 Ebd. Tragico-Comoedia Parabolica Androphilus, S.  383–437; Tragico-Comoedia Parabolica Telesbius, S. 438 (verdruckt 348)-596. Zur niederländischen Praxis vgl. Jan Tonnis: Josephs droef en bly-eynd’-spel. Groeningen 1639. 35 Franz Callenbach: Quasi vero, Der Hinckende Bott Hat sich Wohl. o.  O. 1714, S. 84. 36 Irmgard Scheitler: Einige bedeutende deutschsprachige Musiktheater-Dokumente im Stift Lambach. In: Klaus Landa, Christoph Stöttinger, Jakob Wührer (Hgg.): Stift Lambach in der Frühen Neuzeit. Frömmigkeit, Wissenschaft, Kunst und Verwaltung am Fluss. Tagungsband zum Symposion im November 2009. Linz 2012, S. 511–532, hier S. 511–520.

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die Grenzen seiner personellen Möglichkeiten. Als Ausbildungsstätte für Sängerknaben und Wirkungsort des überregional bekannten Komponisten und Stiftsorganisten Joseph Balthasar Hochreither konnte es mit guten, aber nicht besonders zahlreichen Kräften aufwarten. Umso deutlicher macht die Ausstattung des Dramas, wie wichtig die Einschaltung der Scenae mutae gewesen sein muss. Darstellungen biblischer Antitypik und Präfigurationen sind für die Metaphorik des barocken Denkens typisch. Die Katholiken des 17.  Jahrhunderts besaßen durch ihre religiöse Sozialisation die Fähigkeit zur Entschlüsselung dieser Szenen, die sie in den Kirchen antrafen und auf den Prozessionswagen der Karfreitags- oder Fronleichnamsumzüge bewunderten. So verwundert es nicht, dass der Einsatz von Verthönungen dieser Art in den Zwischenakten  – anders als in den Niederlanden  – im deutschsprachigen Raum ein katholisches Phänomen ist. Ausnahmen bestätigen die Regel. Christian Funckes Görlitzer Weihnachtsspiel von 1668 schaltet nicht weniger als 39 meist musikbegleitete Verthönungen aus dem Alten und Neuen Testament und der Kirchengeschichte ein, nun freilich nicht nur zwischen den vier Akten, sondern auch als eigene Szenen.37 Nicht unerwähnt bleiben darf das bekannteste aller Barockdramen: das Oberammergauer Passionsspiel. Der Text des Ettaler Benediktiners Ferdinand Rosner von 1750 bringt zwischen den zehn Akten der Aufführung inhaltlich zusammenhängende Serien von alttestamentarischen Präfigurationen, »Vorbilder« genannt. Sie werden vom »Schuzgeist«, einem Engel, und dem singenden Chor erläutert. Oberammergau ist der einzige Ort, an dem man barocke Tableaux noch erleben kann, mögen sie auch in modernen Inszenierungen personenarm und wenig blumig sein.38

37 Vorstellung der Heylwertigen Geburt Jesu Christi Welche durch Vier unterschiedliche Handlungen auff Offentlichen Schau=Platz nach Anleitung des Alten und Neuen Testaments  / wie auch der KirchenHistorien geschehen ist in Görlitz Bey Vollendung des Weynacht-Festes Anno 1668. BU Wrocław: Cod. Mil. II/129 Bl. 49–64 und Bl. 64–65 Verzeichnis der 39 Verthönungen. 38 Ferdinand Rosner: Passio Nova. Das Oberammergauer Passionsspiel von 1750. Historischkritische Ausgabe. Hg. und mit einem Nachw. vers. von Stephan Schaller. (Geistliche Texte des 17. und 18. Jahrhunderts; 1) Bern 1974.



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3 Die Verthönung als Verbildlichung des Verborgenen Das präfigurative, allegorische oder emblematische Tableau bringt Assoziationen ins Bild, materialisiert Parallelwissen; bei einer kontinuierlichen Verthönungsreihe in den Intermedien ergibt sich sogar eine Parallelhandlung. Überraschender als in der geschlossenen Einheit des Zwischenakts wirken kurze Einblendungen Lebender Bilder während der Hauptspiels: Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick in den hintersten Bühnenabschnitt frei. Dort zeigt die Scena muta, was der dramatischen Wahrscheinlichkeit zufolge auf der Szene selbst gerade nicht sichtbar sein kann: räumlich oder ontologisch Entrücktes, Gedachtes, Gewusstes, Erinnertes. Musik unterstreicht den realitätsfernen Charakter dieser Präsentation. Das so eingesetzte Tableau kann an die Stelle der Mauerschau-Replik treten, also das gesprochene Wort durch das Bild ersetzen, wie etwa in Johann Sebastian Mitternachts Schuldrama Politica dramatica 1667. Dort leistet gegen Ende das Kabinett den Treueid auf den König. Auf der Bühne spielt sich Anderes ab, der Nebentext aber gibt an: »Hier können hinter dem Vorhange unter der Music die 4. Rähte und Cantzler kniend mit aufgerekkten Fingern vor dem Könige reprae­ sentiret werden.«39 Noch unwirklicher ist die Darstellung von Visionen. Das frühneuzeitliche Drama kompensiert die Ungerechtigkeit auf Erden durch visionären Vorgriff auf die Vergeltung im Jenseits. Quälende Reue, Angst, Todesphantasien peinigen den Bösen und zerrütten sein scheinbar kraftstrotzendes und unangefochtenes Leben. Andreas Gryphius’ späte Ergänzung zu Carolus Stuardus setzt in Akt V Poleh solchen inneren Bildern aus. »Weh mir! was schau ich dort? weh mir! die Rach erscheinet!« Der Zuschauer sieht den Grund für Polehs Seelenqual mit Augen, denn der Nebentext lautet: »Unter disen Worten öffnet sich der innere Schau-Platz  / und stellet die Virtheilung des Hugo Peters und Hewleds vor.« Dieses Bild bleibt stehen, während Polehs Rede genau das thematisiert, was die Verthönung zeigt; dann schließt sich der Vorhang wieder.40 Das Verfahren wiederholt sich noch mehrfach. Johann Christian Hallmann hat die Einblendung von Tableaux bei gesprochenen Texten, aber auch in den Reyen, extensiv angewandt.

39 Johann Sebastian Mitternacht: Politica dramatica. Gera 1667, V,3. Johann Sebastian Mitternacht: Dramen 1662/1667. Hg. von Marianne Kaiser. (Deutsche Neudrucke Reihe Barock; 22) Tübingen 1972, S. 312. 40 Andreas Gryphius: Ermordete Majestät Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien. Trauer-Spil. In: Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette. Breslau, Leipzig 1663. ­Andreas Gryphius: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a.  M. 1991, S. 536.

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In Die Sterbende Unschuld / Oder Die Durchlauchtigste Catharina Königin in Engelland sind in den Monolog des Geistes der Catharina in V.6 nicht weniger als zwölf Verthönungen eingeschaltet.41 Der musikalische Schluß-Reyen nach Akt II zu Adonis und Rosibella wird im Druck von 1673 durch 16 Verthönungen im inneren Schauplatz begleitet.42

4 Optische Variationen Verthönungen visualisieren eine Tiefenschicht der Handlung; hierzu gehören auch Träume, etwa der Traum des biblischen Königs Nebukadnezar aus dem Buch Daniel. Er steht am Beginn von Elias Heidenreichs Der siegende Hof–Mann Daniel: Der König liegt / nach eröffnetem Theatro, unter noch anhaltender Sonata, anfänglich auf seinem Bette und hat den Traum von dem Bilde / so die 4. Monarchien bedeutet / welches im Prospect durch eine Praesentation für Augen gestellet wird.43

Unter »Prospekt« ist der Bühnenhintergrund zu verstehen. Während die Argumentumsverthönungen vor dem Bühnenvorhang bei geschlossener Bühne oder,

41 Johann Christian Hallmann: Die Sterbende Unschuld / Oder Die Durchlauchtigste Catharina Königin in Engelland / Musicalisches Trauer-Spiel / In Hoch-Teutscher gebundener Rede erfunden und abgefasset. Breslau 1684. Johann Christian Hallmann: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Spellerberg. Berlin 1975–1987, Bd. II, S. 232  f. 42 Johann Christian Hallmann: Die Sinnreiche Liebe Oder Der Glückseelige Adonis und Die Vergnügte Rosibella, Zu Aller-unterthänigster Bedienung des Aller-Durchläuchtigsten Kaiserlichen Beylagers von Johann Christian Hallmann JCto. erfundenes und In Hoch-Teutscher Poesie gesetztes Pastorell. Breslau, Steinau a.d.O. 1673. Sämtliche Werke (Anm. 41), Bd. III/1, S. 360–365. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 31993, der von der irrigen Voraussetzung ausgeht, erst Hallmann habe Scenae mutae in Deutschland eingeführt (S.  187), vertritt die Meinung, dass es sich um gemalte Bilder gehandelt habe; etwas anderes könne man sich bei solch schnellem Wechsel nicht vorstellen (S. 188). Was den schnellen Wechsel von Verthönungen angeht, so mussten die Schauspieler in Wolfs Aktinoporthmus noch mehr leisten (siehe oben Anm. 23). Für eine andere Spezies hält Schöne, meines Erachtens grundlos, die zwölf Verthönungen zu Adonis und Rosibella I,7, bei denen die Darstellung »mit lebendigen Personen« ausdrücklich vermerkt ist (Sämtliche Werke S. 133). Hier handle es sich um »Exempel« oder »Historien«, die »in den dramatischen Texten häufig angelegt [seien], ohne daß sie verwirklicht wurden oder verwirklicht werden mußten.« (S. 189). Allerdings sind die Zwischenaktver­ thönungen bei Masen und den Ordensspielen genau solche Exempel, präfigurative »Historien«. 43 Elias Heidenreich: Der siegende Hof-Mann Daniel. In einem Trauer-Freuden-Spiel vorgestellet / Als […] Herr Johann Adolff / Herzog zu Sachsen […] Dero […] Gemahlin […] Fr. Johanna Magdalena […] Den Ersten des Wintermonats darauf in die Residentz-Stadt Halla […] heimgeführet. Halle a.d.S. 1671, I,1.



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im Fall von mehreren Verthönungen, im vordersten Bühnenabschnitt gezeigt wurden, ist der Ort der flankierenden Verthönungen der hinterste Bezirk der Bühne. Die messbare Entfernung steht für die besonders weite Entrückung von der Szenenrealität. Die barocken Verhältnisse werden aus Harsdörffers Abbildungen im VI. Band der Gesprächspiele ersichtlich. Eine Skizze zeigt den Bühnenraum mit seinem Abschluss; er ist »die Vertiefung« benannt und beschriftet: »Ein gemalter Teppicht oder Augengrund«.44 Der immer wieder gebrauchte Terminus »Verthönungskammer« oder »Versammlungskammer« legt nahe, dass die bei Harsdörffer »Vertiefung« genannte Stelle bei größeren Bühnen geöffnet werden konnte.45 Eine weitere Abbildung, ein dekoriertes Bühnenbild, demonstriert die teilbare Bühne und an deren Ende und perspektivischer Mitte die »Vertiefung«, die hier den Raum illusionistisch verlängert.46 An dieser Stelle kann durch Wegnehmen des Vorhangs aber auch ein Gemälde sichtbar werden, das das Tableau ersetzt. Harsdörffer kennt beide medialen Formen, nennt aber nur die von Personen ausgeführte »Verthanung«.47 Bei der Beschreibung der »Tugendsterne«, des Zwischenspiels zu »Der Sophist oder Die Vernunftkunst«, ist ausdrücklich davon die Rede, dass Gemälde an die Stelle von Lebenden Bildern treten können.48 Dieser naheliegende Medienwechsel war schon bei den Rederijkern üblich.49 Möglicherweise ist bei Elias Heidenreichs oben erwähnter Traumszene mit dem Ausdruck »Präsentation« ein Tableau gemeint. Gegenüber einem gemalten Bild hätte dies den Vorteil, schnell aufgelöst werden zu können, muss doch das visionäre Bild am Ende zerstört werden. Bei Dramatisierung des gleichen Stoffes durch Caspar Brülow auf dem berühmten Straßburger Akademietheater malte man tatsächlich ein Bild und ließ es anschließend – der Bibel gemäß – von einem Stein zertrümmern: ein etwas aufwendiges Verfahren.50

44 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. VI, S. (169), neben S. 46. 45 Die Amsterdamer Schouwburg hatte drei Bühnenabschnitte. Hinter dem letzten war immer noch Raum. 46 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. VI, S. (182), neben S. 52. 47 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. III, S. (225) 205. 48 Harsdörffer (Anm.  10), Bd.  V, S. (403) 285. Gemälde waren einfacher, wenn man Personal sparen wollte. 49 Kindermann (Anm. 11), S. 226: »Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden sodann an Stelle menschlicher Darsteller dieser lebenden Bilder mitunter auch gemalte Figuren für diese ›Vertooninge‹ verwendet.« 50 Caspar Brülow: Nebucadnezar. Ein schöne Geistliche Comoedia, genommen aus dem Propheten Daniele, und fürnemlich wider alle Abgötterey und Hoffart geschrieben. Erst newlich inn Lateinischer Sprach componirt, und zu Straßburg im Theatro Academico. anno 1615 im Monat

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Dass die Verthönungskammer Einblick in sonst Verborgenes gibt, zeigt ein Darmstädter Hofspiel von 1686. Dem Zuschauer werden der Untergang der Übel und Laster ad oculos demonstriert. »Die VerthönungsCammer wird geöffnet / und stehen da Epicurus, Mars, Venus, Eris und Avaritia, mit erschrockenen Gebärden / und über dem Haupt zusammen gewundenen Händen«. Die Figuren singen ein Lied mit dem Refrain: »In der Angst und Marter-See | Ich versincke / weh! O weh!«, bevor sie nacheinander zur Hölle versinken und von »Drinnen« das Echo »O weh« erklingt.51 Das Lebende Bild ist hier aus seiner absoluten Starrheit gelöst und in ein Tableau mouvant verwandelt. Noch deutlicher wird dies bei Kaspar Stielers Willmut (1680): »Eine Vertöhnung wird aufgezogen  / da der Prinz auf einer Folter gestreckt lieget / und von Wißmuth jämmerlich zerpeitschet wird / indessen man dieses Lied vom bösen Gewissen absinget.«52 Visualisiert wird der seelische Vorgang von Reue, Peinigung und Belehrung durch das Gewissen. Der Stockmeister Wißmuth ist nämlich die Verkörperung des schlechten Gewissens in diesem allegorischen Drama. Mehrfach findet man am Ende von Märtyrerspielen eine Pantomime, deren Sinn es ist, das Schauspiel nicht mit dem Tod des Helden enden zu lassen, sondern Einblick in dessen himmlische Verherrlichung zu geben. In einem anonymen, wohl nach 1700 entstandenen Spiel aus Wien mit dem Titel Die Glorreiche Marter Joannes von Nepomuck gruppiert sich am Schluss in der »Clausur«, d.  i. der Verthönungskammer, folgende Szene um den Katafalk des Heiligen. Ess eröffnet die Clausur und zeiget sich der leichnamb des St.  Joannis auf einem erhöhten Castro Doloris. Östreich, die Kirche, Böhmen und die Stadt Praag in trauer auffzug machen verschiedene traurige Figuren und bitten mit stillen lazzo den Heyland umb beystand. der ihnen von einen in der wolcken Machine erscheinenden himlischen Genio zu gröstem trost versprochen wird unter stiller Music.53

Die Figuren sprechen nicht. Ihre stummen Gebärden nennt der Verfasser »lazzo«, improvisiertes Spiel, weil jeder Schauspieler ohne Anleitung in der Lage war, durch Körpersprache Affekte und Intentionen auszudrücken. Johann Rist, dessen Vorbehalte gegen die Argumentumsverthönung oben angeführt wurden, war kein Gegner von Bildern aus der Verthönungkammer und

Julio agirt, Jetzundt aber […] verteutschet durch Johannem Christophorum Stipitium. Straßburg 1615, Akt II. 51 Die Siegende Weißheit. Darmstadt 1686, S. 28. 52 Kaspar Stieler: Willmut / Lustspiel / Des Spaten. o.  O. 1680, S. 97. 53 Fritz Homeyer: Stranitzkys Drama vom »Heiligen Nepomuck«. Mit einem Neudruck des Textes. Berlin 1907, New York 1970 (Palaestra; 62), Finis, S. 199. (Die Autorschaft Stranitzkys ist sehr unsicher.)



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setzt sie in seinen Theaterstücken wiederholt ein, z.  B. in dem bekannten Friede­ wünschenden Teutschland. Es wirkt wie ein effektvollvolles Zauberkunststück, wenn Gott Mars seinen Diener, die Lustige Figur Sausewind, mehrfach Blicke in das Soldatenleben tun lässt, will er ihn doch für die Karriere als militärischer Kavalier gewinnen. Der Schauplatz eröffnet sich zuem anderen mahl  / da sitzen eben diese vier Kavallier und sauffen einander rechtschaffen auff die Haut / ein paar sitzet auff den Knien trinket Gesundheit / der dritte stehet auff dem Tische und säufft in floribus, der vierte singet immittelst daß Runda dinella und andere Saufflieder / haben einen Kerl mit der Leier oder sonst einen Bierfiedeler bey sich / sind sehr lustig und machen allerhand Possen / der Schauplatz schliesset sich.54

Das Publikum wird von solchen raschen Einblendungen ebenso verblüfft und begeistert gewesen sein wie Sausewind. Sieht man von den Argumentum-Verthönungen ab, so kann grundsätzlich ein Gemälde das Tableau ersetzen. Was jeweils einfacher und sinnvoller war, hängt von den Umständen ab. Bei Einsatz von gemalten Bildern lässt sich insbesondere ein emblematischer Charakter besser ausdrücken. 1713 führte man im katholischen Zug, einer Stadt mit langer Spieltradition, das religiöse Stück Kleines in die Stadt Zug gefallenes Liebs-Füncklein auf.55 Der Autor stattete die Darbietung auf öffentlichem Platz mit viel Musik und mit allegorischen Scenae mutae aus. Die Scena muta nach Akt II »Stellet vor ein Schlag-Uhr / dessen Gewicht / das Gött­ liche und Menschliche Hertz / anzuzeigen / wann dise zwey Hertz correspondiren / alles beym Menschen wohl eingerichtet seye.«56 Eine Darbietung als Tableau würde bei dieser Vorgabe große Schwierigkeiten machen. Das Emblem erscheint hier – wörtlich genommen – als pictura, ergänzt von einem lateinischen Motto und einem deutschen Vers zur Erklärung. Gleichwohl steht außer Frage, dass die in Zug verwendeten Embleme die gleiche Funktion haben wie etwa die präfigurativen Tableaux im Ordenstheater. Ein völlig neuartiges Medium war der Schattenriss. Man projizierte, was man zeigen wollte. Das erste mir bekannte Beispiel entstammt einem Augsburger Jesuitenspiel von 1650, Excitatio Lazari. […] Von Aufferweckung Lazari. Dort

54 Johann Rist: Das Friedewünschende Teütschland  / In einem Schauspiele öffentlich vorgestellet und beschrieben Durch einen Mitgenossen der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft. Nun zum letsten mahl auffgeleget und mit etlichen neüen schönen Liederen / benebenst anmühtigen auff dieselben / auch neügesetzten Melodeien vermehret und gebessert. Hamburg 1649. Rist: Werke (Anm. 17), Bd. II (1972), S. 137. 55 Carl Joseph Moos: Kleines in die Stadt Zug gefallenes Liebs-Füncklein. Zug 1713. 56 Ebd. S. 85.

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 Irmgard Scheitler

werden, begleitet von dem Gesang des Chores, »durch Umbras« das Begräbnis des Lazarus und das Totenmahl »repräsentiert«, was nichts anderes meinen kann als den Einsatz eines Projektionsapparates.57 Es fällt auf, dass man die Darstellung gerade dieser beiden Szenen durch Schattenspiele ersetzte, während – fast paradox  – allegorische Szenen und Auftritte des Todes mit seinen Parzen leibhaft und häufig im Tanz präsentiert wurden. Durch den Schattenriss rückt das reale Geschehen, der historische Bericht von Lazarus und das Totenmahl, in die Abstraktion, die Auslegung aber, der allegorische Auftritt des Todes und der Parzen, wird durch den Tanz leibhaftig. 1646 widmete Athanasius Kircher optischen Phänomenen mit seinem Werk Ars magna lucis et umbrae eine umfassende, reich illustrierte wissenschaftliche Darstellung, die in vermehrter Auflage  1671 erschien.58 Künstliche Projektionen bilden darin freilich nur einen kleinen Teil der Abbildungen und Beschreibungen,59 waren aber wohl von großer Wirkung. Der Projektionsapparat, die Laterna magica, wurde erst in den 50er Jahren des 17.  Jahrhunderts in größerem Umfang genützt. Die ersten Projektionsapparate besaßen der niederländische Physiker Christiaan Huygens, der möglicherweise als Erfinder gelten darf, und der dänische Schausteller und Mathematiker Thomas Rasmussen Walgenstein.60 Besonders letzterer zeigte seinen Apparat auf Jahrmärkten und bei Messen in verschiedenen Ländern.61 Wahrscheinlich

57 Excitatio Lazari. Augsburg 1650, II,2: »Lazarus wirdt begraben / wirdt alles durch Umbras repraesentiert. Cum Choro«. II,3: »Todtenmahl wirdt auch auff vorige weiß für die Augen gestellet. Cum Choro«. 58 Athanasius Kircher: Ars Magna Lucis Et Umbrae. In decem Libros digesta; Quibus Admirandae Lucis Et Umbrae in mundo, atque adeò universa natura, vires effectusque uti nova, ita varia novorum reconditiorumque speciminum exhibitione, ad varios mortalium usus, panduntur. Rom 1646. Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae. Amsterdam 1671. 59 Vgl. Liber II, Pars I, Propositio V–VI; Liber X, Magia lucis pars III, Caput III, sowie Liber X, Crypologia nova pars I: De projectione figurarum in quamlibet distantiam per solem Caput I– VIII. Die Abbildung der Laterna magica selbst, die technisch fehlerhaft ist, findet sich nicht in der 1., sondern erst in der 2. Auflage von 1671. Vgl. www.didaktik.mathematik.uni-wuerzburg.de/ history/ausstell/kircher/laterna/erfinder.html (Stand: 07. 12. 2016). Die technischen Ungereimtheiten gehen wohl auf Konto des Zeichners, da Kirchers Abbildungen in der 1. Auflage alle den optischen Gesetzen entsprechen. 60 Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999, S. 122. 61 Walgenstein machte die Laterna magica auf seinen Reisen durch Europa bekannt. Hick (Anm.  60), S.  120. 1677 präsentierte Abraham Weber aus Dresden zur Leipziger Ostermesse »durch eine Magische Latern den Italienischen Schatten«. Bärbel Rudin in Verbindung mit Horst Flechsig und Lars Rebehn (Hgg.): Lebenselixier. Theater, Budenzauber, Freilichtspektakel im Alten Reich. 1. Bd. Das Rechnungswesen über öffentliche Vergnügungen in Hamburg und Leipzig (mit einem Anhang zu Braunschweig). Quellen und Kommentare. Reichenbach i.  V. 2004, S. 199.



Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 

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setzte der Leipziger Christoph Kormart bei seinem wohl von einer Leipziger Studententruppe gespielten Polyeuctus oder Christlicher Märtyrer 1669 die Laterna magica ein.62 Es heißt im Nebentext: Der Paulinen Traum durch den Schatten des Polyeucti, welcher die Posituren in Zerstörung des Heiligthums nach iedem Verse vorbildet. Das Theatrum ist ein dunckles Zimmer der Paulinen mit auffziehung der Gardiene in welchem sie auff einem Stuel sitzend schläffet und mit des Polyeucti Schatten träumend spielet  / worbey unter trauriger Music folgendes abgesungen / und bey iedes Verses letzten Worten diese zur Seiten stehende Worte im Schatten gezeiget werden.63

Die Vorstellung fand auf der Hinterbühne statt, der Mittelvorhang, die »Gardiene«, wurde aufgezogen. Pauline sieht im Traum die Stationen der Zerstörung des Jupitertempels durch Polyeuct. Entweder Polyeucts Körper selbst warf den Schatten oder er war, was wahrscheinlicher ist, für die Laterna gezeichnet. Ein besonderer Effekt kommt daneben noch durch das Zusammenspiel von Gesang und Projektion von Schrift zustande: In jeder der sechs vierzeiligen Alexandrinerstrophen wird ein entscheidendes Wort der letzten Zeile durch die Projektion konterkariert. Paulines Text, der von Angst und Sorge geprägt ist, wird so zum Positiven hin korrigiert. Die erste Strophe lautet: Ach / ach mein Freund mein Schatz! wo denckstu hin zu gehen Willstu nun fort für fort uns also wiederstehen? Zerstörstu Jovis Stuhl und willst so leichte streiten / Was Unglück wird er nicht mit dir mir zubereiten?

Zur letzten Zeile erscheint in der Projektion das Wort »Glück«.64 62 Christoph Kormart: Polyeuctus oder Christlicher Märtyrer Meist aus dem Französischen des H. Corneille ins Deutsche gebracht. Leipzig, Halle a.d.S. 1669. Vgl. Irmgard Scheitler: Die Leipziger Studentenbühne im 17. Jahrhundert und ihre Schauspielmusik. In: Katrin Stöck, Gilbert Stöck (Hgg.): Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Bericht des XIV. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig 2008, Teilband IV: Freie Beiträge. Leipzig 2012, S. 205–227, hier S. 214  f. Hellmuth Christian Wolff: Laterna Magica-Projektionen auf dem Barocktheater. In: Maske und Kothurn 15 (1969), S. 97–104, hier S. 101  f. bespricht ein polnisches Stück mit Schattenbildern und begleitender Musik von 1663 und erwähnt S. 103 die Verwendung von Ombre-Szenen in der französischen Comédie Italienne des ausgehenden 17. und in der Hamburger Oper des angehenden 18. Jahrhunderts. Vielleicht ist auch eine Laterna magica gemeint, wenn 1683 eine »hochdeutsche Compagnie« in Danzig um Spielerlaubnis bittet und verspricht, »italienischen Schatten benebens solchen schönen Figuren« zu präsentieren. Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895 (Theatergeschichtliche Forschungen; 12), S. 129. 63 Kormart (Anm. 62), S. 101  f. 64 Ebd. S. 102. Hervorhebung im Original.

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Mit Hilfe von zwei Lichtquellen konnte die Laterna magica auch zwei Schattenwürfe zeigen und komplexe Bilder projizieren  – dies war ein Vorteil gegenüber der Verthönung. Der Effekt besteht – wie auch beim Lebenden Bild – in der verwirrenden, »magischen« Irrealität des so realistisch Gezeigten. Das durch das Medium hindurchgehende Bild befindet sich auf einer anderen Realitätsstufe.65 Es ist gleichzeitig fern und nah, wahr und unecht. Genau darin, in der Entrückung, dem Vermeiden von Verismus, bestand, der ästhetischen Auffassung des 17.  Jahrhunderts zufolge, die Kunst. Auch Oper und Maschinentheater, die auf die äußerste Verblüffung des Zuschauers zählten, verzichteten nicht auf Verthönungen oder Laterna-Magica-Projektionen.66 »Wenn man«, so schreibt der Hamburger Musiktheoretiker Johann Mattheson, »wirkliche Häuser oder dergleichen Dinge auf einem Schauplatze bauen […] wollte, das wäre keine Nachahmung, sondern ein elendes Original«. Interessant ist die Darstellung dann, wenn sie dem Verstand die Technik zu bewundern, den Augen aber auch etwas »zu er­rathen oder zu entdecken« gibt.67 Das genau leistete die optische Demonstration der Verthönung – ebenso wie ihre Begleiter oder Nachfolger, das emblematische Gemälde oder die Projektion. Sie können die Sprache, das eindeutige und naheliegende Medium ergänzen oder sogar ersetzen. Sie präsentieren sich selbst als künstlich und unterstreichen diese Abstraktion noch durch ihre häufig anzutreffende Verbindung mit Musik. Das optisch präsente, aber zugleich unrealistische Bild ist infolge seiner Künstlichkeit geeignet, andere ontologische Zustände einzufangen: Überweltliches, Träume, Visionen, Embleme; es kann das Entfernte einblenden oder auch im Vorgriff die Schauspielhandlung präsentieren. Somit ist die Verthönung, wie schon ihr Name sagt, ein Inbegriff theatraler Zurschaustellung.

65 Vgl. Christian Zeidlers Passionsspiel: Die Verlohrne doch Neu-gebohrne Unschuld […] In einer Geistlichen Comödie vorgestellet und Auf Begehren zum Druck befördert durch M. Johann Caspar Zopfen / des Hochgräfl. Gymnasii zu Gera Conrectorem. Gera 1676, II,6 S. 26 »I. Die Krönung des Herrn Christi. II. Die Creutzigung aber wie auch Christus am Oelberge betend / in gleichen seine Geisselung wird im Schatten praesentiret.« 66 Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678–1738). 2 Bde. Wolfenbüttel 1957, Bd. I, S. 37 und Abb. 27 und 28 sowie ders.: Laterna Magica (Anm. 62), Abb. 3 und 4. 67 [Johann Mattheson]: Die neueste Untersuchung der Singspiele, nebst beygefügter musikalischen Geschmacksprobe, liefert hiemit Aristoxenus, der jüngere. Hamburg 1744. Reprint Leipzig 1975, S. 74  f.

Matthias Bauer, Angelika Zirker

Shakespeare und die Bilder der Vorstellung: »The soul’s imaginary sight« im 27. Sonett In der Frühen Neuzeit wäre das Phänomen, um das es in diesem Beitrag geht, nicht »Intermedialität« genannt worden. Es handelt sich auch noch nicht einmal direkt um das, was unter dem Begriff der Geschwisterkünste, Sister Arts, der Renaissance geläufig war.1 Dennoch kann es, ohne den Medienbegriff bis zur Bedeutungslosigkeit auszuweiten, als eine Interaktion und Konvergenz verschiedener Medien gefasst werden. Es geht um Bilder der Vorstellung im doppelten Sinn: gedankliche Bilder, die unter Bezugnahme auf die Bühne von Texten erzeugt bzw. in diesen reflektiert werden.2 Ein Gedicht, in dem dies geschieht, ist Shakespeares Sonnet 27: 1 Dabei steht, unter Rückgriff auf die Formel des Horaz, ut pictura poesis, die Analogie zwischen den Künsten (und insbesondere zwischen Malerei und Dichtung) im Vordergrund. Siehe Jean Hagstrum: The Sister Arts. Chicago 1958, repr. 1987; Phillip John Usher: Epic Arts in Renaissance France. Oxford 2013, S. 22; sowie Gabriele Rippl: English Literature and Its Other: Toward a ­Poetics of Intermediality. In: Christian J. Emden, Gabriele Rippl (Hgg.): ImageScapes: Studies in Intermediality. Oxford, Bern, Berlin u.  a. 2010, S. 39–65, hier S. 50. 2 Medialität spielt also eine Rolle, weil verschiedene Orte der Vermittlung (die Bühne und die Seele) involviert sind, wo das Wahrgenommene mit äußeren und inneren Sinnen erfasst wird. Das OED definiert »medium« unter Bedeutung 4.a. folgendermaßen: »An intermediate agency, instrument, or channel, a means; esp. a means or channel of communication or expression«. Die ersten Belege für diese Bedeutung sind 1585 R. Bostocke Difference Aunc. & Latter Phisicke sig. Bvii, »It is agreeable with our Anima (the Medium aforesayd). 1605 Bacon Of Aduancem. Learning ii. sig. Pp3, But yet is not of necessitie, that Cogitations bee expressed by the Medium of Wordes.« Es wird also einerseits die Seele, andererseits die Sprache als Medium aufgefasst. In Bostockes Traktat, das die Verteidigung der Paracelsischen Medizin gegenüber der Galenischen zum Thema hat, geht es um die Vermittlung zwischen Körperlichem und Geistigem. So heißt es an einer etwas früheren Stelle (Biiiv): »Unquietnesse beginneth in things, where Meum & tuum is become to knowen in them: whereof cometh griefe, which is a sense of feeling that can not abide deuision or corruption. Whereby it appeareth how desirous Anima (which is medium inter corpus & spiritum) is of unitie in his body, which bendeth it selfe and striueth against that passion or griefe of his body, by the which it greeueth him, that his unitie and integritie should be weakened.« Von hier aus ist es nur ein Schritt, das Gedankenbild als Vermittlung zwischen KörperlichStofflichem und Geistigem zu fassen. In Shakespeares 27. Sonett ist die anima (»mind«) ebenfalls voller »Unquietnesse« (vgl. Z. 13–14) in der Vermittlung zwischen »Meum & tuum« begriffen. Die vermittelnde Stellung der Imagination (etwa bei Boethius und Ficino) wird in der Geschichte der Anmerkung: Die Arbeit an diesem Beitrag wurde mit einer Reisebeihilfe der Fritz Thyssen ­Stiftung für Angelika Zirker unterstützt. DOI 10.1515/9783110521788-003

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 Matthias Bauer, Angelika Zirker

Weary with toil, I haste me to my bed, The dear repose for limbs with travel tired, But then begins a journey in my head To work my mind, when body’s work’s expired; For then my thoughts (from far where I abide) Intend a zealous pilgrimage to thee, And keep my drooping eyelids open wide, Looking on darkness which the blind do see; Save that my soul’s imaginary sight Presents thy shadow to my sightless view, Which like a jewel hung in ghastly night, Makes black night beauteous, and her old face new. Lo thus by day my limbs, by night my mind, For thee, and for myself, no quiet find.3

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Der Sprecher sucht nach den Mühen des Tages4 die Ruhe der Nacht und die Erholung des Schlafes, doch diese werden ihm nicht gewährt: Die Gedanken finden keine Ruhe und machen sich auf die Reise zum Adressaten, dem mehrfach angesprochenen Du. Die Augen bleiben offen und schauen in die Dunkelheit. Dort sehen sie aber nichts anderes als das, was die Blinden auch sehen: die »imaginary sight« der Seele. Dieser Ausdruck ist in beiden Teilen mehrdeutig: »imaginary« kann ›bloß eingebildet‹ bedeuten (»having no real existence« OED 1.a.), oder aber ›durch die Einbildungskraft hervorgebracht‹ bzw. ›durch Einbildungskraft gekennzeichnet‹ (»imaginative«, OED 2., hier wird das 27. Sonett zitiert); »sight« ist das, was gesehen wird, der Anblick, oder aber die die Sehkraft bzw. der Sehsinn selbst. In der Kombination ergeben sich also vier Bedeutungsmöglichkeiten. Die Bedeutung ›Sehkraft‹ wird dadurch nahegelegt, dass »sight« personifiziert erscheint. »Sight« macht etwas; es präsentiert Schatten, genauer: den Schatten des Adressaten. Und kurioser Weise findet dabei eine paradoxe Verdoppelung statt: der Anblick präsentiert den Schatten dem blinden (OED 1.a.) oder unsichtbaren (OED 2.) Blick oder Anblick (»to my sightless view«), wobei »view« eine ähnlich mehrfache Bedeutung wie »sight« hat; es kann ebenso das Bild, das Gesehene (z.  B. einen Landschaftsprospekt, OED 8.b., oder OED 7.: »Visual

Imaginationskonzepte immer wieder betont; siehe Georg Braungart: Topik und Phantasie. In: Thomas Schirren, Gert Ueding (Hgg.): Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen 2000, S. 307–319. 3 Zitiert wird nach der Ausgabe der Sonette von G. Blakemore Evans. William Shakespeare: The Sonnets. Hg. von G. Blakemore Evans; Einl. Anthony Hecht. Cambridge 1996. 4 Die Formulierung »Weary with toil« greift Sir Philip Sidneys 38. Sonett in Astrophil and Stella auf: »Tired with the dusty toils of busy day« (Z. 7). Sidneys Sonettzyklus wird zitiert nach der Ausgabe von William A. Ringler: The Poems of Sir Philip Sidney. Oxford 1962.



Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 

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appearance or aspect«) wie die Sicht (OED 6.) oder den Blick (OED 5.) und die Sehfähigkeit (OED 4.) bezeichnen (vgl. point of view als Blickwinkel oder Perspektive). Verfolgen wir die Rolle von »sight« als Personifikation, so ergibt sich eine Kohärenz: die imaginative Sehkraft der Seele kann dem ins Dunkle gerichteten Blick des Betrachters den Schatten des Menschen präsentieren, dem der Sprecher von dieser Erfahrung erzählt. Mit anderen Worten: die Einbildungskraft wird als Präsentator gezeigt, dem es gelingt, auf dunkler Bühne den Schatten des geliebten Menschen so vorzustellen, dass er wie ein Juwel in der Nacht scheint. Personifikationen konnten auf Shakespeares Bühne als presenter auftreten, z.  B. die Gestalt des Rumor in 2 Henry IV, die den Prolog spricht. In Anspielung auf solche Praxis werden also die Bilder der Vorstellung in unserem Sonett als Bilder einer Vorstellung gefasst.5 Dies gilt auch, wenn wir »my soul’s imaginary sight / Presents« nicht als Präsentator sehen, sondern als Darsteller, so wie es etwa in A Midsummer Night’s Dream heißt »This man, […]  / Presenteth Moonshine« (5.1.134–135).6 In diesem Fall spielt das Gedankenbild von Sonnet 27 die Rolle des Adressaten bzw. seines Schattens. In jedem Fall erscheint der geliebte Mensch im Medium des Gedankenbildes,7 und dieses Medium bestimmt sich mittels eines anderen Mediums, des Theaters.

5 In seiner Studie zum Sommernachtstraum beschreibt Lengeler den umgekehrten Vorgang, der das intermediale Verhältnis von Bühne und Seele gleichermaßen deutlich macht: »Die Bühne ist sichtbar gewordene Phantasie, ja im Hinblick auf das ganze Werk müssen wir sogar sagen, sichtbar gewordene Seele«; Rainer Lengeler: Das Theater der leidenschaftlichen Phantasie. Shakespeares Sommernachtstraum als Spiegel seiner Dichtungstheorie. Neumünster 1975, hier S. 22. 6 Zitate aus den Dramen Shakespeares folgen der Gesamtausgabe The Norton Shakespeare. Hg. von Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus. New York 2008. 7 Während die Verbindung zwischen Gedankenbild und Bühne für das 27. Sonett charakteristisch ist, findet sich das Motiv des Sehens im Dunkeln bzw. Sehens ohne Augen mehrfach in den Sonetten. So schreibt Baldwin: »Here [in SON 27] Shakspere develops the figure of ›sightless view‹. And this figure explains what he means by that of ›sightless eyes‹ in Sonnet XLIII. So Sonnet XLIII is a continuation of the idea in Sonnet XXVII«; Thomas Whitfield Baldwin: On the Literary Genetics of Shakspere’s Poems and Sonnets. Urbana 1950, hier S. 246. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied: Obwohl im 43. Sonett die geschlossenen Augen besser sehen als die geöffneten, geht es darum, dass das unvollkommene Traumbild, »thy fair imperfect shade«, vom Original, dem Anblick bei Tage, übertroffen wird. Im 27. Sonett wird letzteres ausdrücklich nicht erwähnt, sondern der Nacht-Blick viel stärker überhöht: »a jewel hung in ghastly night«. Demgegenüber werden im 28. Sonett, das eine Fortsetzung des 27. bildet, Tag und Nacht als gleichermaßen qualvoll bezeichnet. Den weiteren Hintergrund bildet das Motiv der sich verselbständigenden Gedanken des einsamen Sprechers bei Nacht, wie es sich in Shakespeares Umkreis u.  a. in Sidneys Astrophil and Stella findet. Zu nennen ist dort z.  B. wieder das 38. Sonett: »This night while sleepe begins with heavy wings / To hatch mine eyes, […] The first that straight my

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 Matthias Bauer, Angelika Zirker

Dieser Intermedialität, die ebenso grundlegend für die Konzeption des Thea­ ters als Ort der Anschauung oder theoria ist8 wie für die Konzeption der geistigen, inneren Vorstellung, soll weiter nachgegangen werden. Die zu reflektierende Frage besteht darin, wie sich das Verhältnis näher bestimmen lässt, d.  h. auch, welche Implikationen es sowohl im Hinblick auf eine Poetik des Theaters besitzt als auch im Hinblick auf das, was im Sonett Seele (»soul«) genannt wird, also auf den Ort, wo der Wahrnehmungsprozess stattfindet.9 Die Verbindung deutet darauf hin, dass das flüchtige Gedankenbild nur als Theater konkret und greifbar wird, während umgekehrt das Theater nur als Gedankenbild seine ideelle Substanz und Wirkung entfalten kann. Wir konzentrieren uns auf einige Texte oder Textpassagen Shakespeares, weil sich dort Formulierungen finden, die für dieses Verhältnis ausgesprochen aufschlussreich sind, und weil die Verbindung von Vorstellungsbild und Theater ihrerseits ein Wesensmerkmal seiner (immanenten) Poetik und Anthropologie (im Sinne eines Konzepts der Natur des Menschen und seiner physischen und seelischen Eigenschaften) bildet. Letztere erkennt in der Funktionsweise der Imagination eine Affinität zum Theater, das gerade deshalb die Imagination ansprechen und herausfordern kann, weil sie nach Art der Bühne beschaffen ist.10 Dies

fancie’s error brings / Unto my mind, is Stella’s image […]« (Z. 1–2, 4–5); auch wenn es bei Sidney heißt »seing better sights in sight’s decay« (Z. 12), so ist das Phantasiebild hier doch (anders als im 27. Sonett Shakespeares) von der Art, dass es die Qual des unerfüllt Liebenden erhöht. Religiös gewendet findet sich das Motiv in George Herberts »Love Unknown«. G. Blakemore Evans (Anm. 4) verweist ferner auf das 98. Sonett aus Astrophil and Stella: »While the blacke horrors of the silent night, / Paint woe’s blacke face so lively in my sight / That tedious leisure marks each wrinckled line«. Auch hier findet sich eine paradoxe Umkehr des Sehens bei Tage und bei Nacht: Wenn die Sonne aufgeht, schließen sich die Augen »Mine eyes then only winke«; hier wird aber nicht (wie in Shakespeares Sonetten) das wahre Sehen dem unvollkommenen gegenübergestellt, sondern der Jammer des Sehens in der Nacht wird abgelöst vom Jammer am Tag: Jeder Wurm hat eine Sonne, doch der Sprecher nicht. The Poems of Sir Philip Sidney. Hg. von Wiliam A. Ringler. Oxford 1962, S. 488 verweist in seinen Anmerkungen zu Sidneys 98. Sonett auf den petrarkistischen Hintergrund der »Addresses to the bed«. 8 Zur Etymologie siehe Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von W.  M. Lindsay. Oxford 1990, Bd. 1, 15.2.34 und 18.42.1. 9 Obwohl Schoenfeldt sich in seiner Studie zu Bodies and Selves mit dem Thema der Innerlichkeit in Shakespeares Sonetten beschäftigt, lässt er Sonett 27 unerwähnt; vermutlich liegt dies an seinem Fokus auf dem Zusammenhang zwischen Innerlichkeit und der »Theory of Humours« in der frühen Neuzeit. Vgl. Michael C. Schoenfeldt: Bodies and Selves in Early Modern England: Physiology and Inwardness in Spenser, Shakespeare, Herbert, and Milton. Cambridge 1999. 10 Dies ergibt sich nicht zuletzt auch durch die Verbindung zum Gedächtnis (siehe dazu unten Anm. 35), das bekanntlich von Giulio Camillo, aber auch z.  B. von Robert Fludd, John Willis u.  a. als Theater gedacht bzw. veranschaulicht wurde. S. dazu Frances Yates: The Art of Memory. Lon-



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kann im 27. Sonett erkannt werden. Mehrere Kommentatoren des Sonetts bemerken eine intertextuelle Referenz in Zeile elf bis zwölf, welche die Verbindung zum Theater verstärkt11: »Which like a jewel hung in ghastly night, / Makes black Night beauteous, and her old face new«.12 So sagt Romeo über Juliet: »It seems she hangs upon the cheek of night / As a rich jewel in an Ethiope’s ear« (1.5.42– 43). Diese Worte geben Romeos allerersten Eindruck wieder, als er Juliet beim Maskenball der Capulets erblickt. Sein Vergleich speist sich aus dem Kontrast von Licht und Dunkel;13 er ist der Zuschauer im Dunkel des abendlichen Festes, das gewissermaßen ein Schauspiel im Schauspiel bildet. Wenn Romeo im gleichen Atemzug sagt »I ne’er saw true beauty till this night«, so erscheint die Nacht

don 1966; ferner z.  B. Lina Bolzoni: Gallery of Memory: Literary and Iconographic Models in the Age of the Printing Press. Toronto 2001; Claudia Olk, Anne-Julia Zwierlein: Innenwelt, Gedächtnistheater, Seelenlandschaft: Zur Einführung. In: Diess. (Hg.): Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne: Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte. Trier 2002, S. 9–20, hier S. 12. Lina Perkins Wilder: Shakespeare’s Memory Theatre: Recollection, Properties, and Character. Cambridge 2010 hebt hervor (S. 56  f.): »For the purposes of the memory arts, theatre is defined by its ability to make the internal external. Describing Camillo’s theatre to Erasmus, Vigilius Zuichemus writes that Camillo ›called it a theatre because it can be seen with the body‹ – that is, Camillo’s memory theatre is a ›theatre‹ not so much because it resembles the structures in which plays were performed as because it literalizes the Greek root of the word ›theatre‹, which means ›seeing.‹ Through the use of physical objects, real or imagined, this memory theatre places the mind on display. […] theatres […] do what loci do: they make the mind visible.« 11 G.  Blakemore Evans (Anm.  4) verweist in der Cambridge Ausgabe der Sonette auf die folgende Stelle in Romeo and Juliet (S. 132); s. auch Blakemore Evans 140n11; William Shakespeare: The Complete Sonnets and Poems. Hg. Colin Burrow. Oxford 2002, S. 434n; Shakespeare’s Sonnets: The Problems Solved. A Modern Edition with Prose Versions. Hg. von A.  L. Rowse. London 1973, S. 57; The Sonnets. Hg. mit Einl. von C.  C. Stopes. London 1904, S. 172n11; Gerald Massey: Shakspeare’s [sic] Sonnets Never Before Interpreted: His Private Friends Identified: Together with a Recovered Likeness of Himself. London 1866, S. 180n1; Maria Wickert: Das Schattenmotiv bei Shakespeare. In: Anglia 71 (1953), S. 274–309, hier S. 283n1. Booth verweist in seiner Ausgabe zudem auf Titus Andronicus: »Martius. Upon his bloody finger he doth wear / A precious ring that lightens all this hole, / Which like a taper in some monument / Doth shine upon the dead man’s earthy cheeks« (2.3.226–30); William Shakespeare: Shakespeare’s Sonnets. Hg. von Stephen Booth. New Haven, London 2000, S. 179n11–12; s. auch Shakespeare’s Sonnets. Hg. von Katherine Duncan Jones. London 2003, S. 164n11. Unserer Auffassung nach ist jedoch die Stelle aus Romeo and Juliet die treffendere, weil es auch hier (wie im Sonett) um den Anblick der Schönheit geht. 12 S. die Variante in der Quarto-Ausgabe der Sonette (Q): »Which like a jewel (hung in ghastly night)«; vgl. G. Blakemore Evans’ Kommentar zu Zeile 11: »Q makes a more direct association of ›jewel‹ (compare 131.4) with ›shadow‹ (line 10)«. (Anm. 4, hier S. 132). 13 Zur Lichtmetaphorik sowie dem Gegensatz von Licht und Dunkel in Romeo and Juliet siehe Inge Leimberg: Shakespeares Romeo und Julia. München 1968, insb. S. 152  f.

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gerade­zu als Bedingung der Schau der Schönheit.14 Wie im Sonett bildet das Nicht-Sehen den Rahmen für das Sehen. Das Dunkel ermöglicht die Wahrnehmung des Entscheidenden und Wahren.15 Gleichzeitig wird aber auch klar, dass es nicht (nur) darum geht, eine schöne Frau zu erblicken. In dem Anblick von Juliet sieht Romeo die Schönheit selbst, das Urbild, das im Abbild aufscheint. Als Hintergrund taucht also die Platonische Vorstellung des Sehens mit den Augen des Geistes auf, das etwa in Diotimas Rede im Symposium auf »das göttlich Schöne selbst in seiner immer sich gleich bleibenden Form« bezogen wird.16 Auch hier schafft der Kontext latent mehrfache Deutungsmöglichkeiten: Der Begegnung mit Juliet gehen, nur unterbrochen durch eine kurze Dienerszene, Mercutios weitschweifige Ausführungen über die Träume und die Phantasie voran. Nach Romeos Ansicht redet er über gar nichts (»Thou talk’st of nothing« 1.4.96), und Mercutio pflichtet ihm bei: »True, I talk of dreams, / Which are the children of an idle brain, / Begot of nothing but vain fantasy« (1.4.96–98). Ist also die Vorstellung von Juliet, die erste Begegnung, der Anblick der Idee der Schön-

14 In seinem Traktat The Arte of Limning beschreibt Nicholas Hilliard ein ähnliches Phänomen, wenn er die Sichtbarkeit des Diamanten in der Dunkelheit betont: »being clear, more clearer than air, yet being set on his black tent, or on any black pitch molten fast underneath him, he changeth not his bright clear whiteness«; Treatise Concerning the Arte of Limning. Hg. von R.  K. R. Thornton und T.  G. S. Cain. Manchester 1992, S. 93. Für den Hinweis auf Hilliard zur Frage, ob Edelsteine in der Dunkelheit ihre Farbe verlieren, danken wir Karin Leonhard. 15 Auch hier finden sich Verbindungen zur religiösen Tradition, in diesem Fall zur Mystik des Sehens im Dunkeln, wie es bei Dionysius Areopagita (Über die mystische Theologie, Kap. 1–2) im Kontext der via negativa formuliert ist und wie es in der englischen Metaphysical Poetry, etwa bei Richard Crashaw und Henry Vaughan, eine große Rolle spielt. Siehe dazu Inge Leimberg: Heilig öffentlich Geheimnis: Die geistliche Dichtung der englischen Frühaufklärung. Münster 1996; bes.  S. 71  f., 324–327, 405–415; Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die mystische Theologie und Briefe. Übers. und hg. von Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994, S. 74–77. Auch die Verbindung des Sehens im Nichtsehen mit dem Motiv der Suche und menschlichen Pilgerschaft, wie sie sich bei Vaughan charakteristisch findet, ist in Shakespeares 27. Sonett vorgeprägt, wo sich der Sprecher als Pilger charakterisiert (»zealous pilgrimage«, Z. 6). Die erhellende Funktion des Dunkels findet sich auch in Edmund Spensers 66. Amoretti-Sonett: »for now your light doth more it selfe dilate, / and in my darknesse greater doth appeare« (Edmund Spenser: Amoretti and Epithalamion: A Critical Edition. Hg. von Kenneth J. Larson. Tempe, AZ 1997, Z. 11–12; vgl. Margaret Healy: Shakespeare, Alchemy and the Creative Imagination: The Sonnets and a Lover’s Complaint. Cambridge 2001, S. 99). 16 211e–212a; zitiert nach der Übersetzung von Otto Apelt: Platon: Sämtliche Dialoge, Bd.  3. Hamburg 1988. Während Diotima (und mir ihr Sokrates) hervorhebt, dass es darauf ankommt, »im Anschauen des Schönen mit seinem geistigen Auge nicht bloß Schattenbilder der Tugend zu erzeugen«, ist bei Shakespeare wichtig, dass die sinnliche Wahrnehmung die Quelle für das innere Bild bleibt. Zu dieser Fragestellung bei Plato siehe Dorothea Frede: Plato on What the Body’s Eye Tells the Mind’s Eye. In: Proceedings of the Aristotelian Society 99 (1999), S. 191–209.



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heit, ebenfalls eine eitle Phantasie? Wie kann Romeo Juliet überhaupt richtig erkennen in der Dunkelheit? Nimmt man das 27. Sonett und Romeo and Juliet zusammen, so wird zwar durch Ausdrücke wie »imaginary« im Sonett und »vain fantasy« in der Tragödie jeweils ein solcher Kontext evoziert, doch sollten wir festhalten, dass es im Sonett das Bild des existierenden geliebten Menschen ist, das dem Sprecher, der wach liegt, vor Augen tritt. Und in Romeo and Juliet ist entscheidend, dass Romeo nur ehe er Juliet gesehen hat von dem Nichts (»nothing«) der puren Vorstellung spricht. Es bedarf der konkreten Anschauung, der Begegnung mit dem lebenden Menschen, um jene Gedankenoperation auszulösen, die ihn sagen lässt: »I ne’er saw true beauty till this night.« Die Zeile, die dieser Feststellung vorangeht, lautet: »Did my heart love till now? Forswear it, sight.« Wie im Sonett wird »sight« personifiziert: Sight – hier wohl primär der Sehsinn – soll der Tatsache abschwören, dass Romeo jemals vor diesem Augenblick, vor diesem Anblick, geliebt hat. (Mitten im Drama wird demnach ein weiteres, allegorisches und innerseelisches Drama evoziert.) Wo stehen wir hinsichtlich unserer Fragestellung? In beiden Texten geht es um visuelle Wahrnehmung; das Medium des Gedankenbildes, von dem im Sonett die Rede ist, wird wirksam durch seine Rückbindung an das real Erblickte (also die Erinnerung);17 seine Funktion wird gefasst als Schau-Bild des Ideellen, das von ›Sight‹ präsentiert wird. Im Drama findet ein Wahrnehmungsprozess statt; vor dem Hintergrund einer Erörterung eitler Phantasiebilder kommt es zu einer Wahrnehmung, bei der Ideelles im konkreten Anblick erlebt wird, wobei ebenfalls eine innere Bühne im Spiel ist, auf der sich dieser Prozess vollzieht. Was wir feststellen: Gedanken- oder Seelen-Bild und Theater sind aufeinander bezogen, aber insbesondere die genaue Funktion der Bühne in diesem intermedialen Bezug ist noch näher zu erhellen.18

17 Cocking weist darauf hin, dass der Wahrnehmungsbegriff bei Plato sowohl das innerlich wie das äußerlich Geschaute umfasst: »Plato’s aesthesis, which is the word often translated as ›perception‹, can include awareness of dreams as well as of waking reality. The verb phainestai can refer to what appears to the mind in what modern usage calls perception or in imagination. Phantasia, the noun corresponding to the verb, is used where Plato is discussing the nature of perception in terms of ›judgments‹ made by the mind about sensation«; J.  M. Cocking: Imagination: A Study in the History of Ideas. London 1991, S. 13. 18 Lea vergleicht die Theaterbühne mit der inneren Bühne und nennt letztere »less actual yet more real, it comprises scenes, events, and figures that we are encouraged to see not with the bodily, but with the mind’s eye; its traffic is with the significant shadows that gather round Shakespeare’s characters inviting manipulations upon which subtle effects may depend. It is upon the inward eye, the eye of the imagination, that they register.« Leider wird hier das genaue Verhältnis von Gedankenbild und Bühne nicht klar; insbesondere wird nicht deutlich, wo oder was die »significant shadows« sind und worin die »manipulations« bestehen; Kathleen M.

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Zu diesem Zweck soll zunächst ein intellektueller Kontext angerissen werden, der die Natur des Vorstellungsbildes erhellt. Er betrifft eine grundlegende Unterscheidung der Art innerer Bilder, die schon in der Romeo and Juliet-Passage evoziert wurde. George Puttenham formuliert sie in The Art of English Poesy (1589) folgendermaßen: […] the prince of philosophers sticks not to say animam non intellegere absque phantasmate; […]. And this fantasy may be resembled to a glass, as hath been said, whereof there be many tempers and manner of makings, […]. Euen so is the fantastical part of man (if it be not disordered) a representer of the best, most comely, and beautiful images or appearances of things to the soul and according to their very truth. If otherwise, then doth it breed chimeras and monsters in man’s imaginations, and not only in his imaginations, but also in all his ordinary actions and life which ensues.19

Die Notwendigkeit innerer Bilder, auf die schon Aristoteles (in De anima 3.7.431a15) als Bedingung des intellektuellen Verstehens hinweist, führt zu einer Unterscheidung zwischen wahren Bildern und bloßen Chimären.20 Sir Philip Sidney trifft, unter Rückgriff auf Platons Sophistes, eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem, was »eikastike« ist und dem, was nur als »phantastike« bezeichnet werden kann, wobei erstere Bilder keineswegs bloß imitativ sind, d.  h. sklavisch an die Wirklichkeit gebunden, sondern sich (charakteristisch für Sidney) durch ihre moralische Qualität von den Chimären unterscheiden: sie sind Bilder der Wirklichkeit als moralisch vorbildliche Wahrheit.21 Im Puttenham-Zitat scheint dabei Lea: Shakespeare’s Inner Stage. In: John Carey (Hg.): English Renaissance Studies: Presented to Dame Helen Gardner in Honour of Her Seventieth Birthday. Oxford 1980, S. 132–140, hier S. 132. 19 George Puttenham: The Art of English Poesy. A Critical Edition. Hg. von Frank Whigham und Wayne A. Rebhorn. Ithaca, London 2007, hier Buch I, Kap. 8 (S. 109  f.). 20 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Murrays zur Imagination in der Renaissance; Penelope Murray: Editor’s Introduction. In: J.  M. Cocking (Anm. 17), S. vii–xvi, hier S. viii–ix. S. auch Cockings Kapitel 3 (S. 49–68). Die Fähigkeit der Imagination, physisch nicht Präsentes oder Existentes darzustellen, führt zur Gefahr bloßer Chimären. Auch die Tatsache, dass die Imagination nicht abgestellt werden kann, führt zu ihrer traditionell häufig negativen Bewertung. Vgl. Babb: »[The imagination] has the power of conceiving circumstances and situations other than those existing at the moment and of forming synthetic images from disparate elements as it pleases (hence, centaurs, griffons, and chimeras)«; Lawrence Babb: The Elizabethan Malady: A Study of Melancholia in English Literature from 1580–1642. East Lansing 1951, hier S. 3; »[i]t is a faculty which never rests; even when the other sensory and intellectual powers are in repose, a stream of images flows aimlessly through the imagination, and when one is asleep, this stream continues in his dreams. It is called the eye of the mind.« Ebd. 21 Sir Philip Sidney: An Apology for Poetry. Hg. Geoffrey Shepherd und R.  W. Maslen. Man­ chester 2002, hier S.  104: »I will not deny that man’s wit may make Poesy, which should be eikastike, which some learned have defined, ›figuring forth good things‹, to be phantastike,



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wieder eine Verbindung von Vorstellung und Vorstellung auf: Die PresenterRolle spielt hier die Phantasie selbst (»the fantastical part of man«); die Seele (in welcher der Vorgang stattfindet) ist zugleich der Zuschauer, dem die Bilder vorgestellt werden.22 Die ganze innere Aufführung dient der Erkenntnis der Wahrheit (»according to their very truth«). Das Problem, dem wir hier begegnen, ist also das Verhältnis von Vorstellungsbild und Wahrheit (d.  h. auch von Vorstellungsbild und dem Guten und, in unseren Shakespeare-Beispielen, dem ideal Schönen). Die Theorie, wie wir sie in Puttenham und Sidney, und hinter ihnen in Aristoteles und Platon sehen, bleibt begrifflich affirmativ: es gibt solche richtigen und falschen Vorstellungsbilder, und es ist wichtig, dass man die richtigen pflegt (generiert, usw.). Leitlinien für die Praxis einer solchen Unterscheidung finden sich in explizit christlichen Kontexten: Wo die Vorstellungskraft nicht gänzlich dem nur Sinn­ lichen zugeordnet und damit insgesamt negativ bewertet wird,23 geht es darum, sie von ihm zu reinigen, d.  h. es kommt darauf an, dass letztlich rein Geistiges vorgestellt wird.24 So unterscheidet Origenes, vor neuplatonischem Hintergrund

which doth contrariwise infect the fancy with unworthy objects«. In seiner Einleitung zur Apology schreibt Shepherd, dass Sidney der Auffassung folgte: »[the] making [of the poem] is the active recognition of newly discovered patters, but existing or at least existable patters, not a making out of nothing. It is eikastike, making likenesses, not phantastike, fantastic imaginings […], not the delivery from the brain of much matter which never was begotten by knowledge. […] Sidney rejects the notion of a poem as a bright and patterned self-supporting construction where the brightness and pattern are painted on with words, and turns towards the Augustinian ideal which would regard a poem as the setting out of a direct communication of a certain vision of truth« (S.  60). Zu Theorien der Imagination in der englischen Renaissance s.  auch William Rossky: Imagination in the English Renaissance: Psychology and Poetic. In: Studies in the Renaissance 5 (1958), S. 49–73 sowie E. Ruth Harvey: The Inward Wits: Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance. London 1975. 22 Eine ähnliche Vorstellung findet sich in Ciceros Tusculanae disputationes, wenn vorgestellt wird, wie die Seele nach ihrer Trennung vom Körper durch den Tod »verschiedene, wie großartige Schauspiele […] im Himmel genießen wird«; Tusculanae disputationes / Gespräche in Tusculum. Übers. und hrsg. Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart 2008, hier 1.21.47; »quam multa, quam varia, quanta spectuacula animus in locis caelestibus esset habiturus«. Baldwin betont, dass die Gespräche in Tusculum fester Bestandteil des Curriculums der grammar schools waren; s. Baldwin (Anm. 7), hier S. 249. 23 Vgl. Günter Butzer: Soliloquium: Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der euro­päi­ schen Literatur. München 2008, hier S. 94. 24 In Buch 7, Kap. 8 der Confessiones spricht Augustinus davon, dass sein innerer Blick verwirrt und verdunkelt sei (»aciesque conturbata et contenebrata mentis meae«); allerdings hofft auch er auf eine Reinigung dieser inneren Schau durch die göttliche Salbe (»acri collyrio salubrium dolorum de die in diem sanabatur«); Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse: Lateinisch und Deutsch. Hg. und übers. von Joseph Bernhart. Darmstadt 1984, 7.8.12, S. 328.

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(Plotin), »zwei verschiedene Sinnlichkeiten […] eine sterbliche, vergängliche und menschliche; und eine unsterbliche, geistliche und göttliche.«25 Hieran knüpft die implizite Vorstellungstheorie bei Shakespeare an; sie stellt zugleich aber eine Alternative dazu dar, deren Eigenart ganz wesentlich in der von uns reflektierten Intermedialität liegt. Diese beruht auf einer Interdependenz: Die Bühne kann dann Abbild des Wahren sein, wenn sie ein Vorstellungsbild ist.26 Um dies deutlich zu machen, gehen wir noch einmal zum 27. Sonett zurück. Was der Sprecher von Sight präsentiert bekommt, ist der Schatten (»shadow«) des Adressaten. Der Schatten ist, wie Maria Wickert schon vor vielen Jahrzehnten feststellte, eines der vielfältigsten und am virtuosesten verwendeten Motive bei Shakespeare; seine Variationen kreisen um »die Vorstellung von Schein und Sein als substance und shadow«.27 In dem konkreten Kontext einer Vorstellung

25 Butzer (Anm. 23), hier S. 95, verweist auf Origenes: De principiis I.1.9, übers. nach Karl Rahner: Die ›geistlichen Sinne‹ nach Origenes. In: K.  R: Schriften zur Theologie. Bd. 12. Zürich, Einsiedeln, Köln 1975, S. 111–136, hier S. 113. 26 Die ideale Schau findet sich bei Spee, wo allerdings das Theater selbst Teil der Imagination ist: »Nun aber sprich ich, dass auß dieser selbigen lehr von den innerlichen bildnußen, geistliche leut gelegenheit nehmen können, dass sie zunzeiten […] so wol ihnen selbsten als Gott dem Herren, etwan allerhand schöne lüstige Spectacul oder auffzüg in ihrem innerlichen Sinn und Seelen mögen anstellen. Dan weil unsere Fantasey eine solche krafft hat, dass sie auß denen bildnußen, die sie allbereit ihr gantzes leben durch eingenommen hat, widerumb durch deren vilfältige vermischung und zusammenfügung, auch zertrennung, veränderung, vermehrung etc newe andere seltzame, manigfältige, uberauß wunderliche und herrliche vorbildungen machen kann: und weil dan diese newe vorbildungen sich auch also bald abbilden etc. so ist leicht zu ermessen, wie wunderbarliche schöne sachen man Gott zu ehren erdencken, und in die Seel abreissen könne«; Friedrich Spee: Güldenes Tugend-Buch. Hg. von Theo G.  M. van Oorschot. München 1968, S.  462. Vgl. Wodiankas Hinweis, dass Spee dabei »ausdrücklich die Einbildungskraft in ihrer schöpferischen, d.  h. nicht nur reproduzierenden Dimension« betont; Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes: Formen und Funktionen der »mediatio mortis« in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004, hier S. 37. Das Bild bzw. Konzept findet sich schon bei Tertullian in De Spectaculis, wenn er abschließend auf das Jüngste Gericht als bestes Drama zu sprechen kommt (»Quale autem spectaculum in proximo est adventus domini indubitati, iam superbi, iam triumphantis! […] At enim supersunt alia spectacula, ille ultimus et perpetuus iudicii dies, […]« (30.296). Auch dieses Drama findet in der Imagination statt: »Ut alia spectes, ut talibus exultes, quis tibi preator aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit? Et tamen haec iam quodammodo habemus per fidem spiritu imaginante repraesentata« (30.298). Tertullian [Tertullianus, Quintus Septimius Florens]. De Spectaculis. Apology and De Spectaculis. Übers. von T.  R. Glover. Cambridge, MA 1931, S. 230  f. 27 Wickert (Anm.  11), hier S.  274. In den Sonetten spielt das Verhältnis von »substance« und »shadow« vor allem im 37. und 53. Sonett eine Rolle. S. dazu auch John Hollander: The Substance of Shadow: A Darkening Trope in Poetic History. Chicago 2016.



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auf der Bühne der Seele in der Nacht kommen als erstes die (ungefähr zeitgleich mit Romeo und Juliet und vermutlich auch den meisten Sonetten) entstandenen Epilog-Worte des Midsummer Night’s Dream in den Sinn: Puck. If we shadows have offended, Think but this, and all is mended, That you have but slumb’red here While these visions did appear. And this weak and idle theme, No more yielding but a dream, Gentles, do not reprehend.28

Trotz der konventionellen Demutsgeste und Apologetik des Epilogs fällt auf, dass dem Publikum eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung des Bühnengeschehens beigemessen wird. Ob die Zuschauer nun im Halbdunkel des Thea­ters nur geträumt haben oder nicht: was sie sahen, waren »visions«, Erscheinungen, und die Schauspieler waren Schatten. In vergleichbarer Weise kann im 27. Sonett, wie bemerkt, das Sehvermögen (sight) selbst als der Schauspieler aufgefasst werden, der »thy shadow« (re-)präsentiert, also selbst die Rolle des Geliebten spielt. In beiden Fällen wird somit das Bühnengeschehen als das vom Betrachter Vorgestellte definiert. Im 27. Sonett ist der Schatten auf der Bühne der Seele zugleich das Juwel in der Nacht, die als »ghastly« bezeichnet wird und damit die Düsternis des Todes evoziert.29 So kann der Schauspieler als Abbild – oder das vor dem geistigen Auge gesehene schattenhafte Bild  – zur Vision des Urbilds

28 A Midsummer Night’s Dream (Anm. 6) Ep. 1–7. 29 Fast alle Kommentatoren deuten »ghastly« in diesem Sinne; s. z.  B. Blakemore Evans: »frightful, horrifying (night was the time when spirits walked; compare Ham. 3.2.388–90)« (Anm.  3, hier S. 140n11); »terrifying, deathly« (Duncan Jones 164n11, Anm. 11); »terrifying, horrible (but with a suggestion of ›ghost-like‹, ›apparition-like‹« (Booth 179n11, Anm. 11). Im OED 2.a. wird zu »ghastly« weiter ausgeführt: »Influenced by ghost n. […]. Like a spectre, or a dead body; deathlike, pale, wan. Of light: Lurid. 1574/1603 etc.« Ferry verweist auf die Verbindung zu Sidney und sieht »an echo of the play on ghastly from Astrophil and Stella 96 in Shakespeare’s Sonnet 27. (The word occurs elsewhere in the sequences of the five major English sonneteers only once in Drayton’s, where it does not describe night’s horrors.) The meaning for ghastly of ghostlike, spiritlike – as well as terrifying – belongs to the characteristic vocabulary given more stress by both Sidney (250) and Shakespeare than by other sonnet writers: variants of sprite, shape, shadow, show, shade«; Anne Ferry: The »Inward« Language: Sonnets of Wyatt, Sidney, Shakespeare, Donne. Chicago 1983, hier S. 250–251. In Sidneys Sonett geht es um die Gedanken, die der Nacht affin sind; es fehlt aber die Wendung wie bei Shakespeare: Trotz der Parallelen am Schluss der Sonette, haben/wollen bei Sidney die Gedanken im Gegensatz zur Nacht keine Ruhe, während sie bei Shakespeare »no quiet« finden.

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werden oder überhaupt des Lebens unter dem Vorzeichen des Todes.30 Die Pilgerreise des Sprechers im 27. Sonett ist auch eine Katabasis zum Schatten des Geliebten. Dabei wird der Tod nicht zuletzt durch den Ausdruck »quiet« evoziert – man denke nur an Hamlets »When he himself might his quietus make«31 oder an den »quietus« der Natur im 126. Sonett, der darin besteht, den »lovely boy« der Macht der Zeit auszuliefern.32 Die Negation der Todesruhe im 27. Sonett (»For thee, and for myself, no quiet find«) zeigt jedoch, dass diese Gedanken- und Lebensreise eine paradoxe Umkehrung bedeutet: Die Vorstellung der Imagination ist eine Reise in eine Schattenwelt, aber gerade diese führt zum »no quiet«, zur Erneuerung des Lebens (»Makes […] her old face new«). Diese Implikation des Sommernachtstraum-Epilogs und des 27. Sonetts – Imagination verbindet sich mit der Vorstellung des Lebens im Tod – wird deut­licher in der Diskussion über die Imagination, die im Stück selbst von Theseus und Hippolyta geführt wird. Theseus vertritt die skeptische Position gegenüber der Imagination, wonach sie vor allem Täuschungen und Chimären produziert; also das Nichts, als das sie auch Romeo zuerst erscheint. In quasi metatheatralischer Reflexion bezeichnet er das, was im Wald geschehen ist, als reine Ausgeburt der Phantasie, wie sie den Liebenden, den Wahnsinnigen und den Dichtern eignet. Der Dichter gibt zwar »to airy nothing / A local habitation and a name« (5.1.16– 17), doch lässt Theseus keinen Zweifel daran, dass er das als bloße »tricks« (Z. 18) der Einbildungskraft versteht. Hippolyta pflichtet ihm nicht bei, sondern macht deutlich, dass Theseus keineswegs einen von Shakespeare autorisierten Konsens 30 S. dazu Matthias Bauer, Angelika Zirker: Sites of Death as Sites of Interaction in Donne and Shakespeare. In: Judith H. Anderson, Jennifer Vaught (Hgg.): Shakespeare and Donne: Generic Hybrids and the Cultural Imaginary. New York 2013, S. 17–37. 31 Hamlet (Anm. 6) 3.1.77. 32 Die letzte Zeile lautet: »And her [i.e. Nature’s] quietus is to render thee«. Hier handelt es sich um die acquittance der Natur, die ihre Schuld bei der Zeit begleicht. Booth merkt an, dass der Anfang des 27. Sonetts eine Übersetzung von Ovids »cum lassa quiete« in den Metamorphosen 15.188 ist (Anm. 11, S. 178n1; vgl. Duncan-Jones, Anm. 11, hier S. 164n1): »You see how the spent nights speed on to dawn, and how the sun’s bright rays succeed the darkness of the night. Nor have the heavens the same appearance when all things, wearied with toil, lie at rest at midnight and when bright Lucifer comes out on his snowy steed«; Ovid: Metamorphosen. Hg. und übers. von Frank Justus Miller. Cambridge, MA und London 1916, hier 15.186–190. Miller scheint hier in seiner Wortwahl von Shakespeare inspiriert. Arthur Golding, der für die Shakespearezeit maßgebliche Übersetzer, wählt »when all things weery lye« (Booth, Anm. 11, hier Appendix 2, 552.208). Die Verbindung zum 27. Sonett ist nicht ganz präzise, da bei Shakespeare nur lassus (müde, erschöpft) eine Rolle spielt. Ovids Adverb »quiete« bezieht sich, in »cum lassa quiete / cuncta iacent media« auf »iacent«; das Ich des Gedichts liegt aber gerade nicht ruhig im Schlaf. Der weitere Kontext der Ovid-Passage ist für das 27. Sonett im Hinblick auf die Thematik der Unsterblichkeit der Seele von Interesse (15.158–175).



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über die Bilder der Vorstellung formuliert. Hippolyta, die das letzte Wort in dieser Diskussion hat, vertritt die Gegenposition: Was Theseus sagt, mag für »fancy’s images« gelten, doch die Wirklichkeit selbst, wie sie in der Geschichte der Nacht aufscheint, gibt Zeugnis von einer größeren Verwandlungskraft, »and grows to something of great constancy«.33 »The story of the night« ist also nicht flüchtig wie die bloße Einbildung, sondern konstant wie die Schau eines Urbildes. Was hier als »story« bezeichnet wird, ist das, was wir in den Worten des Epilogs als »vision« vor Augen hatten. Wir haben wirklich gesehen, was für Theseus nur Hirngespinste sind. Oder nicht?34 Wieder ist festzuhalten, wo wir im Hinblick auf unsere Fragestellung stehen. Was hoffentlich deutlicher wird: Es geht um eine Alternative ebenso zu den Bildern der Vorstellung als bloßer Chimäre und Irreführung wie zu ihrer Salvierung um den Preis des materiell Wirklichen, wo die geistigen Bilder dann reine Gedanken sind.35 Shakespeare reflektiert die Frage, wie animam non intellegere

33 Vgl. Lengeler: »Auf die Elfenhandlung als Illustration der dichterischen Phantasie angewandt, hieße das [Theseus’ Sicht auf die Phantasie als Vermögen der Illusion], daß sie rein schimärischen Charakter hätte, und, mit Theseus zu sprechen, daß sie nichts als unglaubwürdiges Feenmärchen wäre. Dagegen erhebt Hippolyta Einspruch« (Lengeler, Anm. 5, hier S. 112). Er fährt fort: »Der Irrtum des Theseus besteht gerade darin, daß er den sinnbildlichen Charakter der dichterischen Gestalten nicht erkennt und sie den Schimären des Wahnsinnigen und des Liebhabers gleichsetzt« (Ebd., S. 113). Theseus’ Irrtum beruht folglich darauf, dass er für Illusionen und Täuschungen der Wahrnehmung hält, was eigentlich die Vision des Urbildes ist. 34 »Die Auseinandersetzung zwischen Theseus und Hippolyta über die Phantasie impliziert, daß die ›Nachtgeschichte‹ der jungen Athener ein Altweibermärchen bleibt, wenn die allegorische Verweisung, von der Hippolyta spricht, vom Leser oder Zuschauer nicht nachvollzogen wird. Weiter baut Pucks Epilog zwar denen, die mit dem Spiel unzufrieden sind, eine Eselsbrücke, indem er ihnen anbietet, in dem Stück nur einen Traum zu sehen. Wer allerdings diese Brücke beschreitet, findet sich unversehens wie Bottom in einen Esel verwandelt, weil er – in Pucks Worten – geschlafen hat« (Lengeler, Anm. 5, hier S. 206  f.). Unseres Erachtens muss es sich allerdings nicht um eine allegorische Bedeutung handeln, die durch die Vorstellungsbilder etabliert wird. 35 S. hierzu Butzer: »Plotin unterscheidet zwei Vorstellungsvermögen, die der ›inkorporierten‹ bzw. der ›reinen‹ Seele entsprechen, wobei sich erstere an Wahrnehmungen, letztere an Gedanken erinnere« (Anm. 23, S. 94). Er verweist hier auf Plotins Enneaden: »Es wird übrigens nichts der Annahme im Wege stehen, daß der Akt der Wahrnehmung für das Gedächtnis ein Akt der Vorstellung sei, und daß dem davon verschiedenen Vorstellungsvermögen die Erinnerung und das Festhalten derselben zukomme; denn darin endet die sinnliche Wahrnehmung, und wenn sie auch nicht mehr ist, so bleibt doch das vorgestellte Bild«; IV.3.29; Plotin: Enneaden. Übers. von Otto Kiefer. Jena, Leipzig 1905, Bd. 2, hier S. 75. Plotin unterscheidet hier zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung, die jeweils auf einem mentalen Bild beruhen, dabei aber verschieden sind: sobald die Wahrnehmung endet (sie ist zeitlich begrenzt), geht sie in die Erinnerung über, und das mentale Bild dort ist bleibend (die Dauer der Erinnerung ist individuell verschieden). Der Unterschied zum 27. Sonett besteht dann darin, dass auch hier die Wahrneh-

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absque phantasmate so verwirklicht werden kann, dass Wahrheitserkenntnis ermöglicht wird. Um ein Gedankenbild des geliebten Menschen geht es im 27. Sonett, aber nicht von ungefähr wird es als Bild einer Vorstellung präsentiert. Damit ist es weder Chimäre noch rein ideenhaft, sondern rückgebunden an den Menschen aus Fleisch und Blut, der das Wesen des Theaters ausmacht. Umgekehrt ist dieser Mensch aber als Schauspieler immer nur ein Zeichen, d.  h. verständlich nur aufgrund einer Gedankenoperation; er ist in ein Vorstellungsbild zu verwandeln. Diese Seite des Prozesses, d.  h. der Konvergenz von Vorstellung und Vorstellung, Gedankenbild und Theater, hat Shakespeare am deutlichsten im berühmten ersten Chorus (bzw. Prolog) zu Henry V beschrieben. Auch hier ist wieder, gattungsbedingt, die apologetische Funktion deutlich; sie überlagert aber die poetologische Kernaussage nicht. Der Anlass besteht darin, dem Publikum zu erklären, dass der historische Stoff des Geschehens, Heinrichs Kriege in Frankreich und sein Sieg bei Agincourt, mit den Mitteln des Theaters nicht adäquat umzusetzen ist: »Can this cockpit hold  / The vasty fields of France? Or may we cram / Within this wooden O the very casques / That did affright the air at Agincourt?«36 Die Frage ist rhetorisch, denn das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dementsprechend ist auch die bekannte Bühnenanweisung in All’s Well That Ends Well, »Enter Count Rossilion, Parolles, and the whole Army« (3.5), entweder als rhetorische Figur zu verstehen oder aber als Hinweis auf das Bild, das dem Zuschauer vor dem geistigen Auge erscheinen soll, ausgelöst durch die Anschauung auf der Bühne. Im Henry V-Prolog wird zur Erklärung dieses Vorgangs eine Analogie aus der Mathematik verwendet: »O, pardon! since a crooked figure may / Attest in little place a million, / And let us, ciphers to this great accompt, / On your imaginary forces work.« Die »crooked figure« ist die Null, mit der sich der Akteur im hölzernen O demütig identifiziert, eine gekrümmte Figur, die eigentlich gar nichts darstellt.37 Zu einer großen Zahl werden diese Nullen erst durch die Eins, die vor ihnen steht.38 In einem unausgesprochenen graphisch-phonetischen

mung der Ursprung des inneren Bildes ist, dass dieses Bild dann aber urbildhafte Qualität gewinnt. S. hierzu auch das Plotin-Kapitel von Murray Wright Bundy: The Theory of Imagination in Classical and Medieval Thought. Urbana 1928, S. 117–130. 36 S. Matthias Bauer: Playing on Translation in Shakespeare’s Henry V (Act 5, Scene 2). In: Sebastian Knospe, Alexander Onysko, Maik Goth (Hgg.): Crossing Languages to Play with Words: Multidisciplinary Perspectives. Berlin 2016, S. 261–281. 37 Zur Deutung des »O« im Prolog zu Henry V s. etwa Travis D. Williams: The Story of O: Reading Letters in the Prologue to Henry V. In: Russ McDonald, Nicholas D. Nace, Travis D. Williams (Hgg.): Shakespeare Up Close: Reading Early Modern Texts. London 2012, S. 9–16. 38 Ebenso wird die Eins nur zu einer großen Zahl, wenn ihr Nullen folgen; s. dazu Inge Leim-



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Wortspiel, das aber zum Verständnis des Vorgangs hier vorausgesetzt werden darf, ist die Eins, der gerade senkrechte Strich vor den crooked figures der Nullen, auch als das Ich des Zuschauers zu denken, I, und dieses Ich ist in dieser Hinsicht gleichzusetzen mit dem Auge, eye, des Betrachters.39 In diesem Ich, vor seinem inneren Auge, entsteht die Armee. Sie ist ein Vorstellungsbild, zugleich aber nicht nur ein leeres Produkt der Imagination, sondern das Ergebnis eines Vorgangs, der von den lebendigen, realen Menschen auf der Bühne ausgelöst wird. Wir erkennen eine Wechselbeziehung: Während in Romeo and Juliet die Phantasie ein Nichts ist, ehe Romeo die Idee der Schönheit in der sich ihm wie eine Bühne präsentierenden Wirklichkeit erblickt, sind die Gestalten auf der Bühne ebenso nichts, solange sie nicht in innere Bilder verwandelt werden. Dies gilt übrigens nicht nur für die Schauspieler, die in die Figuren zu verwandeln sind, die sie repräsentieren, sondern für die historischen Figuren selbst; so wünscht sich der Prolog in Henry V, dass der König in der Rolle des Gottes Mars erscheine (»Then should the warlike Harry, like himself / Assume the port of Mars«); die Re-Präsentation auf der Bühne ist immer zugleich eine Projektion. Das Theater stellt uns Wirklichkeit vor Augen, aber es braucht dazu das Gedankenbild. Umgekehrt zielt das imaginierte Bild auf die Wahrheit ab, aber es braucht, um dies tun zu können und um keine reine Chimäre zu sein, eine Rückbindung an die Wirklichkeit, die sie als theatralische Anschauung gewinnt. Das Theater ist die Realisierung eines Gedankenbildes und kann in seiner repräsentativen Funktion nur als Gedankenbild existieren, d.  h. richtig rezipiert werden; umgekehrt ist das Gedankenbild nur fassbar als Theater, d.  h. im Modus konkreter Anschauung. Wir kehren noch einmal zum 27. Sonett zurück. Die Ambiguität, die wir dort eingangs festgestellt haben, hat sich in verschiedener Form durch die anderen Textbeispiele hindurch gezogen. Ist »my soul’s imaginary sight« eine reine Selbsttäuschung der Psyche oder ist es eine innere, geradezu mystische Schau der Seele? Ist der Schatten ein Abglanz der ideenhaften Substanz, der allein schon ausreicht, die Nacht in Schönheit zu verwandeln, oder ist er nur der jämmerliche Rest, mit dem sich der einsame, liebende Sprecher abfinden muss? Die Interdependenz der Medien – das Bild als innere Vorstellung und die auf der Bühne präsentierte Szene setzen einander wechselseitig voraus – liefert zwar keine Garantie für die Wahrheit des Geschauten, diese Wechselseitigkeit, das Miteinander berg: »M.  O.A.  I.« Trying to Share the Joke in Twelfth Night 2.5 (A Critical Hypothesis). In: Connotations 1 (1991) H. 1, S. 78–95, hier S. 87. 39 Shakespeare spielt mit der Homophonie von I und eye etwa auch in Romeo and Juliet, und zwar in der berühmten Balkonszene; William Shakespeare: Romeo and Juliet. Hg. von Brian Gibbons. London 1980 (The Arden Shakespeare), hier 2.2.62–106. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die Häufung des Lautes in Sonnet 27, z.  B. »by night my mind«.

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 Matthias Bauer, Angelika Zirker

von außen und innen, öffentlich und privat, geschaut und gedacht, wird aber als Mittel zur Verhinderung des bloß Illusionären präsentiert. Wir stellen im 27. Sonett fest, dass letztlich die Ambiguität des Imaginierten in der Vorstellung als Bühnenszene aufgehoben ist. Denn wenn wir in dem Sonett in bestimmter Hinsicht den Eindruck einer Autosuggestion gewinnen, so fügt sich dies in die rhetorische Gesamtkonzeption des Gedichts als adressatenbezogenes Selbstgespräch ein. Nach der bekannten Regel des Horaz, wonach nur derjenige sein Publikum zu Tränen rühren wird, der sich selbst in die entsprechende Gemütslage hineinversetzt hat (»si vis me flere, dolendum est  / primum ipsi tibi«)40 findet hier eine Selbstaffektion des Sprechers statt.41 Wie ein Schauspieler, der durch die Vergegenwärtigung von Phantasiebildern so in seine Rolle hineinkommt, dass er die Zuschauer zu überzeugen vermag, wird der Sprecher durch die nächtliche Szene des geliebten Menschen, welche die »imaginary sight« der Seele vor seinem inneren Angesicht aufführt, so affiziert, so bewegt (ganz wörtlich »no quiet find«), dass er selbst hoffen kann, eine entsprechende Wirkung auf den Adressaten auszuüben. Die Besonderheit besteht darin, dass der Sprecher denjenigen zu überzeugen sucht, den er sich in seinem Phantasiebild vergegenwärtigt; der geliebte Mensch ist Gegenstand und Publikum zugleich, so wie der Sprecher auch zugleich Gegenstand seiner Rede ist. Klar wird dies im final couplet mit der überraschenden Wendung zum Imperativ: »Lo, thus …« (»Schau, so …«). In dieser Hinsicht spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Sprecher wirklich etwas geschaut hat, das die Nacht in jugendfrischen Tagesglanz verwandelt hat, oder ob das nur eingebildet war. Entscheidend ist, dass Gedankenbild und Bühnenszene aufgehen in der sprachlichen Äußerung, im rhetorischen Akt. »Gently to hear, kindly to judge, our play« ist die abschließende Bitte des Prologs in Henry V. Im gespielten Wort ist das Schauen immer ein Hören – und umgekehrt – und die Vorstellung des Schauspielers immer ein Geschehen auf der Bühne der Seele.

40 Horaz: De Arte Poetica. In: Horaz: Sämtliche Werke: Lateinisch-deutsch. Hg. von Hans Färber. Darmstadt 1967, S. 230–259, hier S. 236 (2.3.102–03): »Willst du mich zu Tränen nötigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden«. S. dazu Butzer (Anm. 23), S. 82 sowie sein Kap. 1.9, S. 85–92. 41 Vgl. Butzer (Anm. 23), S. 87; s. auch Cicero, De oratore: »Neque fieri potest, ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi mones illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur«. Cicero: De Oratore / Über den Redner. Hg. von Harald Merklin. Stuttgart 1997, hier II.45.189 (»Es ist auch gar nicht möglich, daß der Zuhörer Schmerz oder Haß, Neid oder Furcht empfindet, daß er sich zu Tränen und Mitleid bewegen läßt, wenn alle die Gefühle, zu denen der Redner den Richter bringen will, dem Redner selbst nicht eingebrannt und eingeprägt er­ schienen«).

Rüdiger Singer

»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept und Leitmodell für actio und acting 1 Ausgangspunkt: Intermedialität und Wieder­ belebung in einer Schauspieler-Elegie von 1619 Im Jahr 1619 stimmt ein anonymer englischer Funeraldichter einen intermedialen Musenanruf an: Some skilfull limner help me; if not so, Some sad tragedian help’t express my woe. But O he’s gone, that could both best; both limn And act my grief; and ’tis for only him That I invoke this strange assistance to it, And on the point invoke himself to do it; (1–6)

Es handelt sich um den Beginn einer Anonymous funeral elegy for Richard Bur­ bage.1 Der 1567 geborene Burbage war der erste berühmte Shakespeare-Darsteller;2 das Gedicht stellt den ersten mir bekannten Text der abendländischen Literatur

1 So der Kurztitel in: Glynne Wickham, Herbert Berry, William Ingram (Hgg.): Theatre in Europe: A Documentary History. English Professional Theatre 1580–1660. Cambridge, New York, Port Chester u.  a. 2000, S. 181–183, hier 181  f., nach dessen orthographisch modernisierter Version hier wie im Folgenden zitiert wird. Im zugrundeliegenden Manuskript, das sich in der Huntington Library (San Marino, USA) befindet (Signatur 198.99–101), lautet der Titel allerdings A Funerall Ellegy on ye Death of the famous Actor Richard Burbedg who dyed on Saturday in Lent the 13 of March 1618  – nach heutiger Zeitrechnung ist dies das Jahr 1619. Ich hatte keine Gelegenheit, das Manuskript einzusehen und verweise auf die Transkription in Clement Mansfield Ingleby: Shakespeare. The Man and the Book. Being a Collection of Occasional Papers On the Bard and His Writings. Bd. 2. London 1881, S. 180–182; dort auch die Wiedergabe einer weiteren Fassung (S. 177–179) und eine Diskussion der verwickelten Überlieferungslage (S. 169–177), gekennzeichnet durch spätere, stark ausgeschmückte Fassungen, die heute noch im Internet kursieren. 2 Zu Burbage siehe Edwin Nungezer: A Dictionary of Actors […] before 1642. London, New Haven 1929, S. 67–79; Andrew Gurr: The Shakespearean Stage 1574–1642. Cambridge 31992, S. 91; zum lange unsicheren Geburtsjahr William Ingram: The Business of Playing. The Beginnings of the Adult Professional Theatre in Elizabethan London. Cornell 1992, S. 102. DOI 10.1515/9783110521788-004

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 Rüdiger Singer

dar, in dem die Arbeit eines historischen Schauspielers als ›Kunst‹ gewürdigt wird – rund anderthalb Jahrhunderte, bevor sich in England das Konzept ›Schauspielkunst‹ durchzusetzen beginnt und in Deutschland, noch etwas später, der Begriff.3 In der Elegy wird ›Schauspielkunst‹ kunstvoll auf die ›Schwesterkünste‹ bezogen. Für die Wortkunst steht die Sprechinstanz bzw. der Funeraldichter selbst. Er thematisiert die lamentatio, eine der drei klassischen Aufgaben des Grabredners und -dichters neben laudatio und consolatio,4 und repräsentiert sie durch die Nennung des damit verbundenen Affektes, den er zunächst »woe« nennt. Obwohl dieses Substantiv sich von einer Interjektion herleitet und damit eigentlich eine akustische Dimension anklingen lässt,5 ruft der Dichter zunächst einen »limner«  – d.  h. einen Maler, insbesondere Porträtmaler  – als Beistand an.6 Der Affekt lässt sich also besser noch visuell als verbal darstellen, insbesondere mimisch. Deshalb wird als Alternative ein ›trauriger Tragöde‹ ins Spiel gebracht; die nun folgende metaleptische Pointe macht deutlich, dass es um den Tragödienschauspieler Burbage geht, der wiederum Gegenstand des Gedichtes ist. Von ihm wird behauptet, er könne den Affekt der Trauer  – alternativ auch »grief« genannt – nicht nur spielen, sondern auch ›porträtieren‹ (»limn«). Dass es jedoch auch enge Bezüge zwischen Wort- und Schauspielkunst gibt, mag implizit

3 Für England siehe Arnold Hare, David Thomas (Hgg.): Theatre in Europe: A Documentary History. Restoration and Georgian England 1660–1788. Cambridge, New York, Port Chester u.  a. 2009, bes.  S.  127–204; 341–424, sowie Jean Benedetti: David Garrick and the Birth of Modern ­Theatre. London 2001, bes.  S. 48–70; für Deutschland Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, sowie Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt am Main 2002, bes.  S. 296–390. 4 Zu den (bereits für die antike Funeralrhetorik verbindlichen) rhetorischen Grundlagen des Epicediums siehe Krummacher: Das barocke Epicedium. In: Schiller-Jahrbuch 18 (1974), S. 89– 147. Der abschließende Trostteil (consolatio) fällt in der vorliegenden Elegy recht knapp aus, ähnlich wie im lateinisch-neuhumanistischen Epicedium (siehe dazu Elisabeth Springer: Studien zur humanistischen Epicediendichtung. Wien 1955). 5 Vgl. Terry F. Hoad (Hg.): The Concise Oxford Dictionary of English Etymology. New Edition. Oxford, New York 1993, S. 544. 6 Die Begriffsverwendung lässt sich durch den Blick in einen neueren Roman illustrieren, der ebenfalls vom Thema der Schwesterkünste bzw. des Paragone inspiriert ist: In Will Davenport: The Painter. A Novel of Rembrandt’s Most Secret Seduction. London 2003 findet die Heldin den Begriff limner 2001 in Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1662, muss ihn nachschlagen und übersetzt ihn schließlich zutreffend als »portrait painter« (S. 86). Bei Shakespeare findet sich das Verb to limn out im Sinn von »paint, draw, portray« und das Partizip limned im Sinn von »portrayed, reproduced, painted« (vgl. Ben Crystal, David Crystal: Shakespeare’s Words. A Glossary and Language Companion. London u.  a. 2002, S. 264). Siehe auch das Chapman-Zitat in Anm. 13.



»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 

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der Begriff tragedian andeuten, der in anderem Zusammenhang einen Tragödiendichter bezeichnen kann;7 explizit kommt dies in folgenden Versen zur Sprache, die als Bindeglied zwischen Wort- und Schauspielkunst die Rhetorik beschwören, verkörpert durch Marcus Tullius Cicero:8 »For none but Tully, Tully’s praise can tell / And as he could, no man could act so well« (8  f.). Wieder ist der Begriff to act entscheidend. In Bezug auf den tragedian (4) lässt er sich mit ›spielen‹ übersetzen – hier jedoch aktualisiert er den etymologischen Zusammenhang mit actio, also dem Vortrag einer Rede als letzter der fünf klassischen ›Aufgaben des Redners‹.9 Freilich ist Cicero nicht nur Deklamator, sondern, wie die doppeldeutige Formulierung »to tell his praise« andeutet, auch Verfasser seiner Rede und insofern auch eine geeignete Muse für den um Inspiration bittenden Dichter. Nun jedoch wendet sich das Gedicht erneut dem Schauspieler als Gegenstand von Lob und Klage zu. Seine Fähigkeit, Leid darzustellen, wird gleich in dreifacher Variation durch Metaphern aus dem Bereich der bildenden Kunst beschworen: This part of sorrow for him no man draw, So truly to the life, this map of woe, That grief’s true picture which his loss hath bred. (10–12)

Tertium comparationis zwischen Schauspielkunst und Malerei ist das Ziel, einen Affekt bildhaft, aber auch ›lebensecht‹ oder ›nach dem Leben‹ zu zeichnen. Der Aspekt des Lebens wird in den folgenden Versen weitergeführt im Sinne von Lebendigkeit und Verlebendigung: He’s gone and with him what a world are dead, Which he reviv’d, to be revived so No more; young Hamlet, old Hieronimo, Kind Lear, the grieved Moor, and more beside, That liv’d in him, have now forever died. (13–16)

7 Vgl. J.  A. Simpson, E.  S.  C. Weiner (Hgg.): The Oxford English Dictionary. Second Edition. Bd. 18: Thro-Unelucidated. Oxford 1989, S. 359  f. 8 Zur englischen Cicero-Rezeption siehe Jones Howard: Master Tully. Cicero in Tudor England. Nieuwkoop 1998. 9 Siehe Bernd Steinbrink: Art. ›Actio‹. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 9 Bde. Tübingen 1992–2009. Bd. 1, Sp.  43–74; Dietmar Till: Rhetorik und Schauspieltheorie. In: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Ausstellungskatalog Wolfenbüttel 2008, S. 61–84; 270–283.

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Acting, bis zu diesen Versen vor allem als ›Verbildlichung‹ schmerzlicher Emotionen verstanden, bedeutet hier die ›Verlebendigung‹ einer Vielzahl von Rollen. Vier tragische Partien werden in einem kurzen Katalog präsentiert, die zwar teilweise miteinander korrespondieren,10 vor allem aber in ihren Gegensätzen die Spannweite von Burbages Kunst ahnen lassen.11 Der Begriff ›Verlebendigung‹ oder auch ›Wiederbelebung‹ wird lautlich durch Variation hervorgehoben: reviv(e)d ist erst zweisilbig, dann dreisilbig realisiert. Ich möchte nun behaupten, dass sich dieses Wirkungsziel auf einen altehrwürdigen Leitbegriff zurückführen lässt, der aus der spätantiken Rhetorik stammt: Enargeia oder auch, mit einem folgenreichen Übersetzungsvorschlag Ciceros, evidentia.12 Der Terminus lässt sich sowohl als ›Anschaulichkeit‹ übersetzen wie auch als ›Lebendigkeit‹; die in der englischen Renaissance übliche Standardübersetzung liveliness und die heute übliche als vividness umfassen beide Aspekte.13 Enargeia ist zunächst eine Qualität von Texten, dann aber auch von Bildern. Obwohl es zu diesem Thema wichtige Studien gibt – für die Literatur etwa von Jean Hagstrum, Heinrich F. Plett, Graham Zanker, Murray Krieger, Perrine Galand-Hallyn und Ruth Webb, für die Malerei von Valeska von Rosen –,14 10 »[O]ld Hieronimo« ist die Hauptfigur in Thomas Kyds Spanish Tragedy (1592), die in vieler Hinsicht zum Vorbild für Shakespeares Hamlet wurde (siehe Rudolf Stamm: Kyd’s Spanish Tragedy und Shakespeare’s Hamlet [1967]. In: Willi Erzgräber (Hg.): Hamlet-Interpretationen. Darmstadt 1977, S. 462–487); Lear und Othello lassen sich beide von ihrer Leidenschaft dazu hinreißen, die Liebe ihrer Tochter bzw. Frau zu verkennen. 11 Zu Burbages Repertoire siehe John H. Astington: Actors and Acting in Shakespeare’s Time. The Art of Stage Playing. Cambridge u.  a. 2010, S. 128–130. 12 Im Folgenden wird allerdings nur von ›Enargeia‹ die Rede sein, um die juristischen und philosophischen Implikationen von ›Evidenz‹ zu vermeiden. 13 »The word ›liveliness‹ is usually a synonym for enargeia. Many contexts make clear the association with painting.« (Jean H. Hagstrum: The Sister Arts. The Tradition of Literary Pictiorialism and English Poetry from Dryden to Gray. Chicago 1958, S. 64) Die Aussage bezieht sich auf die englische Renaissance. Konkret erläutert Hagstrum hier eine Passage aus George Chapmans 1595 verfasstem Gedicht Ovid’s Banquet of the Sense, die bezeichnenderweise auf den ersten Vers der Burbage-Elegie vorausweist: »That, Enargeia, or cleerness of representation, required in absolute Poems is […] high, and harty inuention exprest in most significant, and vnaffected phrase; it serues not a skilfull Painters turne, to draw the figure of a face onely to make knowne who it ­represents, but hee must lymn, guiue luster, shaddow, and heightening […].« (The Poems of George Chapman. Hg. von Phyllis Brooks Bartlett. New York 21962, S. 49; die letzten beiden Hervorhebungen von mir; siehe dazu von Rosen [Anm. 14], S. 185). – Siehe außerdem Mary E. Hazard: The Anatomy of »Liveliness« as a Concept in Renaissance Aesthetics. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 33 (1975), S. 407–418. 14 Hagstrum (Anm. 13); Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975; Graham Zanker: Enargeia in the Ancient Criticism of Poetry. In: Rheinisches Museum für Philologie 124 (1981), S. 297–311; Murray Krieger: Ekphrasis.



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verdient diese Kategorie gerade im Bereich der Intermedialitätsforschung durchaus noch stärkere Beachtung, zumal wenn es um Traditionen »[d]iesseits des Laokoon« geht.15 Im Folgenden soll belegt werden, dass dies auch für den Zusammenhang mit actio und acting gilt. Dies geschieht in drei Schritten: Erstens wird anhand zentraler Passagen bei Plutarch, Philostrat und vor allem Quintilian gezeigt, dass sich Enargeia bereits als Wirkungsideal von Texten und Bildern am Leitmodell des Theaters orientiert.16 Zweitens wird, ausgehend von Äußerungen Quintilians über Enargeia und actio, die Brücke zu Shakespeare geschlagen, dessen Werk Werner Wolf zufolge den Übergang von der »Spielillusion« des mittelalterlichen Theaters zur »mimetische[n] Illusion« markierte. Dies meint ein »im Kontext der renaissancetypischen Aufwertung der Empirie stehendes Bemühen um eine Illusionsbildung, die sich gegenüber dem Mittelalter verstärkt an der Erfahrung von Wirklichkeit und den Wahrnehmungsstrukturen orientiert«.17 Drittens soll, vor dem Hintergrund der bis dahin skizzierten Zusammenhänge, nochmals die Burbage-Elegie thematisiert werden: Mit welchen Mitteln versucht sie konkret, das Spiel des toten Mimen zu ›verlebendigen‹?

The Illusion of the Natural Sign. Baltimore, London 1992; Perrine Galand-Hallyn: Le reflet des fleurs. Description et métalangage poétique d’Homère à la Renaissance. Genf 1994; Dies.: Les yeux de l’eloquence. Poétiques humanistes de l’evidence. Orleans 1995; Ruth Webb: Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice. Burlington 2009; Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. 15 Zahlreich sind allerdings seit Mitte der 1990er Jahre die Studien zur Ekphrasis aus der Perspektive der Interart Studies und der Intermedialitätsforschung. Die ursprüngliche Bindung dieser rhetorischen Schreibweise an das Wirkungsziel der Enargeia (dazu mehr im folgenden Abschnitt) wird jedoch zumeist gar nicht oder allenfalls oberflächlich berücksichtig. Siehe exemplarisch den Forschungsabriss von Christina Schäfer und Stefanie Rentsch: Ekphrasis. Anmerkungen zur Begriffsbestimmung in der neueren Forschung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 114/2 (2004), S. 132–157: Die Autorinnen sehen zwar die Wichtigkeit der Enargeia für das ursprüngliche Ekphrasis-Konzept (S. 137  f.), berücksichtigen diese Qualität aber nicht für ihren eigenen Definitionsvorschlag (S. 158). 16 Meine Darstellung des Ekphrasis-Konzepts stützt sich vor allem auf Webb (Anm.  14), akzentuiert aber den von ihr nur en passant angesprochenen Aspekt der szenisch-theatralischen Struktur enargischer Texte (siehe unten). 17 Werner Wolf: Shakespeare und die Entstehung ästhetischer Illusion im englischen Drama. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.  F. 43 (1993), S.  279–301, hier S.  284, siehe auch Robert Weimann: Author’s Pen and Actor’s Voice. Playing and Acting in Shakespeare’s Theatre. Cambridge 2000 sowie Matthias Bauers Beitrag in diesem Band.

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2 Der dargestellte Affektkörper: Zur Enargeia der Sister Arts in der antiken Rhetorik Ausgangspunkt ist eine Passage aus Plutarchs Schrift Vom Ruhm der Athener. Sie ist für das Thema dieses Sammelbandes insofern zentral, als sie den – neben dem Horazischen ut pictura poesis – wichtigsten Gemeinplatz für den Zusammenhang der Schwesterkünste, das sogenannte Dictum des Simonides, zitiert und erläutert.18 Es geht darum, inwiefern die Dichtung der Malerei nachstreben sollte, obwohl beide sich in ihren Mitteln unterscheiden. Plutarchs Fallbeispiel sind Kriegsdarstellungen in Malerei und Geschichtsschreibung. Simonides nennt nun die Malerei ›schweigende Dichtung‹, die Dichtung hingegen ›sprechende Malerei‹. Denn die Taten, die die Maler als werdende zeigen, die beschreiben und legen die Worte als gewordene dar. Wenn aber die einen mit Farben und Formen, die anderen hingegen mit Begriffen / Namen und Wörtern dasselbe deutlich machen, sie sich im Material und in der Art der Nachahmung unterscheiden, haben doch beide ein einziges Ziel, und von den Historikern ist derjenige der beste [i.  S.  v. stärkste], der seine Erzählung wie ein Gemälde durch Affekte [pathos] und Figuren [prosopon] bildlich geformt hat [eidolopoiein = Bild-machen]. Thukydides kämpft natürlich stets mit dem Wort für die Anschaulichkeit [enargeia], weil er schließlich den Leser [eigentl.: Hörer] zum Zuschauer machen will und weil er die beim Sehen entstehenden Emotionen des Staunens und der Bestürzung den Lesern deutlich machen will.19

Ein Dichter/Historiker, der wie ein Historienmaler mit ›Affekten und Personen‹ arbeitet, erzielt also, wie dieser, Enargeia; Enargeia besteht ursprünglich – d.  h. im Rahmen der spätantiken Rhetorik  – darin, Zuhörer (gewissermaßen ›virtuell‹) in Zuschauer zu verwandeln. Gemeint ist eine Wirkung, um die sich der Redner in besonders intensiven Passagen seiner Rede bemühen soll, welche die

18 Siehe Hagstrum (Anm. 13), bes.  S. 9–11; Gabriele K. Sprigath: Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei. In: Poetica 36 (2004) 3/4, S. 243–280. 19 »Πλὴν ὁ Σιμωνίδης τὴν μὲν ζωγραφίαν ποίησιν σιωπῶσαν προσαγορεύει, τὴν δὲ ποίησιν ζωγραφίαν λαλοῦσαν. ἃς γὰρ οἱ ζωγράφοι πράξεις ὡς γινομένας δεικνύουσι, ταύτας οἱ λόγοι γεγενημένας διηγοῦνται καὶ συγγράφουσιν. εἰ δ’ οἱ μὲν χρώμασι καὶ σχήμασιν οἱ δ’ ὀνόμασι καὶ λέξεσι ταὐτὰ δηλοῦσιν, ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσι, τέλος δ’ ἀμφοτέροις ἓν ὑπόκειται, καὶ τῶν ἱστορικῶν κράτιστος ὁ τὴν διήγησιν ὥσπερ γραφὴν πάθεσι καὶ προσώποις εἰδωλοποιήσας. ὁ γοῦν Θουκυδίδης ἀεὶ τῷ λόγῳ πρὸς ταύτην ἁμιλλᾶται τὴν ἐνάργειαν, οἷον θεατὴν ποιῆσαι τὸν ἀκροατὴν καὶ τὰ γινόμενα περὶ τοὺς ὁρῶντας ἐκπληκτικὰ καὶ ταρακτικὰ πάθη τοῖς ἀναγινώσκουσιν ἐνεργάσασθαι λιχνευόμενος.« (Plutarch: De gloria Atheniensium § 3, mor.346 F-347A, zit nach: Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes. Hg. und übersetzt von Frank Cole Babbitt. London 1960–1962, Bd. 4, S. 501). Für die Übersetzung danke ich PD Dr. Meike Rühl, Wuppertal. Vgl. die Übersetzung in Sprigath (Anm. 18), S. 1; 6  f. sowie in Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin 1999, S. 62  f.



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antike Rhetorik als Ekphrasen bezeichnete.20 Im Gegensatz zum modernen Wort­ gebrauch meint Ekphrasis ursprünglich also nicht ›Kunstbeschreibung‹, sondern ›Beschreibungskunst‹ bzw., wie die Standarddefinition in griechischen Rhetorikeinführungen der Spätantike lautet, »ein[en] beschreibender Text, der das Mitgeteilte anschaulich [enargōs] vor Augen führt.«21 Wenn nun dieses Wirkungsziel als ›Vor-Augen-Führen‹ bestimmt wird und der Rezipient nicht etwa zum virtuellen Bild-Betrachter gemacht werden soll, sondern zum virtuellen Zuschauer (theates), so verweist dies nach Ansicht von Ruth Webb auf das Grundmodell einer Theatervorstellung.22 Diese These überzeugt auch deshalb, weil Plutarch als Strategie für die Erzeugung von Enargeia empfiehlt, sie »durch Affekte und Personen« zu erreichen, um beim Rezipienten wiederum entsprechende Affekte zu erzeugen. Personen aber und ihre in der Handlung sich offenbarenden Affekte sind nach aristotelischer Lehre zentrale Elemente des Dramas.23 So zielt Enargeia letztlich, wenn das Wortspiel erlaubt ist, auf die mentale Vorstellung einer mimischen Vorstellung. Ein besonders wirkungsmächtiger ekphrastischer Topos stammt ebenfalls aus dem Bereich des Krieges: urbs capta, die Einnahme einer Stadt. Ihre anschauliche Schilderung soll Mitleid für die Besiegten erregen und Hass auf den Feind.24 Quintilian skizziert eine solche Beschreibung: Vor dem Hintergrund der brennenden Gebäude sollen dem Publikum das ungewisse Fliehen der einen, die letzte Umarmung, in der andere an den Ihren hängen, das Weinen der Kinder und Frauen und die unseligerweise bis zu diesem Tag vom Schicksal bewahrten Greise; dann die Plünderung der geweihten und ungeweihten Stätten, die Beute, die die Eroberer wegschleppen, deren Umhereilen, um sie einzutreiben, die Gefangenen, die jeder Sieger in Ketten vor sich hertreibt, die Mutter, die versucht, wenigstens ihr eigenes Kind festzuhalten, und, wo es sich um größeren Beuteanteil handelt, der Wettstreit unter den Siegern

20 Dieser Zusammenhang zwischen Enargeia und Ekphrasis ist besonders deutlich formuliert in den Progymnasmata des Nikolaos (vgl. Webb [Anm. 14], S. 202  f., zur Erläuterung siehe ebd., S. 87–106). 21 Ἔκφρασίς ἐστὶ λόγος περιηγηματικὸς ἐναργῶς ὑπ’ὄψιν ἄγων τὸ δηλούμενον. (Theon: Progymnasmata 118.6, zit. nach Webb [Anm.  14], S.  199 Übersetzung nach Fritz Graf: Ekphrasis. Die Entstehung der Gattung in der Antike. In: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer [Hgg.]: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 143–156, hier S. 144). 22 Webb (Anm. 14), S. 54; von Rosen (Anm. 14), S. 178 interpretiert bereits eine Stelle in Aristoteles’ Poetik in diesem Sinn. 23 Siehe zu diesem Zusammenhang Sprigath (Anm. 18). 24 Siehe George Paul.: Urbs capta. Sketch of an Ancient Literary Motif. In: Phoenix 36 (1982), S. 144–155.

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›vor Augen gestellt‹ werden.25 Kontrastiert werden hier die von Gier und Grausamkeit gekennzeichneten Aktionen der Sieger mit dem Jammer der Besiegten, der sich in expressiver Mimik und Gestik äußert. Solche Konzentrate aus ›Affekten und Personen‹ finden sich auch in Tragödien wie etwa den Troerinnen und frühneuzeitlichen Historiengemälden;26 mit Aby Warburg könnte man sie als ›Pathosformeln‹ im Sinne von »Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins« bezeichnen.27 Da Enargeia aber ein Merkmal von Wortkunst wie von bildender Kunst ist, kann sie auch eine intermediale Wirkungskette begründen. So leitet Philostrat der Ältere seine Gemäldebeschreibung Pantheia mit folgendem programmatischen Satz ein:

25 »[…] aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacro­ rumque direptio, efferentium praedas repetentiumque discursus et acti ante suum quisque praedonem catenati et conata retinere infantem suum mater et, sicubi maius lucrum est, pugna inter victores.« (Quint. inst. VIII.3. 68  f.; Übersetzung und Original zit. nach Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 31995, Bd. 2, S. 178  f.). Siehe dazu Webb (Anm. 14), S. 72  f. 26 Besonders im Fall der antiken Tragödie spielen oft die auf der Bühne gezeigten affektintensiven Handlungen zusammen mit jenen, die durch Botenbericht vermittelt werden. Auch dieser wiederum lässt sich als Ekphrasis im Sinne enargischer Rede verstehen, die genau das für die Imagination des Zuschauers ergänzt, was auf der realen Bühne nicht gezeigt werden kann oder darf (siehe die Analyse von dessen dramatischer Funktion bei Irene J.  F. de Jong: Narrative in Drama. The Art of the Euripedian Messenger Speech. Leiden 1991 [Mnemosyne Supp.; 116], S. 172–177). Dort spielen die erst Jahrhunderte nach Euripides geprägten Begriffe Ekphrasis und Enargeia zwar keine Rolle, doch ist das Modell präsent über ein Horaz-Zitat [Ars poetica 179–182], das den Ausgangspunkt von Jongs Schlussbetrachtung bildet). – Da die Meisterwerke antiker Malerei verloren sind, muss man sich in der Neuzeit an späthellenistische Skulpturen wie die Laokoon-Gruppe halten oder auf Beschreibungen zurückgreifen (z.  B. Plutarch: De gloria Atheniensium § 2, mor.346F – unmittelbar vor der zitierten Passage – oder auch Quint. int. II.13. 13–14). Den Einfluss des Enargeia-Konzepts auf die frühneuzeitliche Historienmalerei haben von Rosen und Wolfgang Brossat am Beispiel von Raffaels Brand des Borgo diskutiert, bei dem ein Einfluss von Quintilians urbs capta-Passage wahrscheinlich ist (von Rosen [(Anm. 14], S. 192–197; Wolfgang Brossat: Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun. Berlin 2002, S. 45–48). 27 Aby Warburg: Einleitung zum Mnemosyne-Atlas. In: Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Hg. von Horst Bredekamp u.  a. Bd. 2.1. Berlin 2000, S. 3; siehe dazu grundlegend Ulrich Port: ›Katharsis des Leidens‹. Aby Warburgs ›Pathosformeln‹ und ihre konzeptionellen Hintergründe in Rhetorik, Poetik und Tragödientheorie. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderheft: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert (1999), S. 5–42.



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Die schöne Pantheia ist von Xenophon zwar nach ihrem Wesen geschildert, daß sie Araspes verschmähte, dem Kyros nicht erlag und mit Abradates von gleicher Erde bedeckt sein wollte; wie schön aber ihr Haar war, wie kräftig ihre Braue, wie ihr Blick war und der Ausdruck ihres Mundes, dies hat Xenophon noch nicht beschrieben, so geschickt er war, dies zu schildern; ein Mann aber, der Geschichte freilich zu schreiben nicht fähig war, dafür aber wunderschön malen konnte, ein Mann, der Pantheia selbst zwar nicht sah, aber seinen Xenophon kennt, der malt Pantheia, wie er sie sich in seiner Seele vorstellte.28

Wie bei Plutarch geht es hier um das Verhältnis von Historiographie und Historienmalerei. Der Geschichtsschreiber charakterisiert eine historische Gestalt durch die Erzählung ihrer Taten: Die schöne Witwe weist alle Bewerber ab, um ihrem gefallenen Mann ins Grab zu folgen.29 Obwohl Xenophon, wie es heißt, auch ihr Äußeres hätte schildern können, scheint dies doch eher die Domäne des Malers zu sein, der sich Pantheias Schönheit aufgrund der Enargeia von Xenophons Text ›ausmalen‹ kann.30 Die Enargeia seines Gemäldes wiederum wirkt auf dessen Betrachter und inspiriert ihn zu einer enargischen Beschreibung des Bildes (für deren Vorstellung hier nicht der Ort ist).31 Die Eikones des Philostrat sind sowohl ein Beispiel für lebendige rhetorische ›Beschreibungskunst‹ als auch das wichtigste Modell für Ekphrasis im modernen Sinn poetischer ›Kunstbeschreibung‹. Wichtig für den hier interessierenden Zusammenhang ist, dass Philostrat die von ihm beschriebenen Bilder ›dramatisiert‹ und die ›Lebendigkeit‹ von ›Affekten und Personen‹ beschwört, die auf den Beschreibenden wirkt.32 Um dies wiederum dem Leser vor Augen zu führen, bedient sich Philostrat wiederholt eines Kunstgriffs, den ich als intermediale Metalepse bezeichnen möchte: In den Eikones spricht der Rhetoriklehrer Phi-

28 Philostr. imag. I. 9.1; Übers. zit. nach Philostratos: Die Bilder. Griechisch-deutsch. Nach Vorarbeiten von Ernst Kalinka herausgegeben, übersetzt und erläutert von Otto Schönberger. München 1968, S. 199; siehe dazu Webb (Anm. 14), S. 20  f. 29 Vgl. Xenophons Erziehung des Kyros (Xen. cyr. VI.4.2). 30 Den Begriff verwendet Philostrat zwar nicht, doch erlaubt die Parallele zum Bild des ›VorAugen-Stellens‹ und zu Plutarchs Beispiel eine klare Zuordnung zum Modell der Enargeia (siehe Webb [Anm. 14], S. 20  f.). 31 Immerhin sei darauf hingewiesen, dass Pantheias Schönheit im Moment ihrer Selbstopferung dargestellt ist; somit hat auch die Enargeia des Gemäldes einen deutlich, ›dramatischen‹ Charakter. 32 Schon Hagstrum stellt lapidar fest: »Philostratus reads paintings as though they were dramas.« (Hagstrum [Anm. 13], S. 31) Intertextuelle Bezüge einiger ›Bilder‹ zu spezifischen Dramen werden aufgezeigt in Jaś Elsner: Philostratus Visualizes the Tragic. Some Ecphrastic and Pictorial Receptions of Greek Tragedy in the Roman Era. In: J.  E., Helene P. Foley, Simon Goldhill u.  a. (Hgg.): Visualizing the Tragic. Drama, Myth and Ritual in Greek Art and Literature. Oxford 2007, S. 309–337.

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lostrat zu einer Gruppe junger Hörer über Gemälde;33 sein Vortrag verhält sich also zu dem von den Bildern dargestellten Handlungen wie extradiegetischer Erzählakt und intradiegetische Erzählung – mitunter jedoch erscheinen ihm die darauf dargestellten ›Affekte und Personen‹ so ›lebendig‹, dass er die gemalten Figuren wie echte, lebendige Menschen anspricht. Ein schönes Beispiel ist die Eröffnung der Kunstbeschreibung Jäger: »Stürmt nicht an uns vorbei, ihr Jäger, und treibt eure Pferde nicht so an, bis wir euch auf der Spur sind, was ihr wollt und was ihr jagt!«.34 Die Apostrophe wird noch einige Sätze lang fortgeführt, bevor sich der Sprechende zur Ordnung ruft: »Wie ist mir geschehen? Ich wurde von dem Bild ganz hingerissen und meinte, sie seien nicht gemalt, sondern wirklich, bewegten sich und seien verliebt; wenigstens necke ich sie, als ob sie mich hörten, und glaube, eine Antwort zu vernehmen«.35

3 Der darstellende Affektkörper: Enargeia in actio und acting Bisher kam Enargeia als Größe in den Blick, die in Ekphrasen wie auf Gemälden »durch Affekte und Personen« wirkt. Quintilian jedoch zieht das Beispiel der Malerei heran, um zu begründen, dass die actio des Redners, der das neunte Buch seiner Ausbildung des Redners gewidmet ist, keineswegs eine bloße Zutat zum Redetext darstellt, sondern eine eigene, sehr ursprüngliche und direkte Überzeugungskraft besitzt – durch seine Person und die über seinen Körper ausgedrückten Affekt. Begründet wird dies unter Hinweis auf die universale Beredsamkeit des Körpers, über die selbst stumme Lebewesen verfügen, und verglichen wird es wiederum mit der Enargeia der Malerei: Denn es machen nicht nur die Hände, sondern auch schon Winke unseren Willen klar und dienen bei Stummen als Sprache; auch das Tanzen versteht man häufig ohne Worte und läßt sich davon beeindrucken; ferner läßt sich aus Miene und Gang die Geistesverfassung entnehmen, und auch bei Lebewesen, die keine Sprache besitzen, lässt sich Zorn, Freude, Schmeichelei sowohl an den Augen wie auch an körperlichen Merkmalen ablesen. Kein Wunder, daß diese Gebärden, die ja doch auf einer Art von Bewegung beruhen, so stark auf den Geist wirken, da ja ein Gemälde, ein Werk, das schweigt und immer die gleiche Haltung

33 Diese kommunikative Grundsituation wird im Prooimium narrativ etabliert und in den ›Bilder‹-Reden selbst vor allem durch Apostrophen an den wissbegierigen Sohn von Philostrats Gastgeber präsent gehalten, der die Erläuterungen angeregt hat. 34 Philostr. imag. II.28.1, Philostrat/Schönberger (Anm. 28), S. 159. 35 Philostr. imag. II.28.1, ebd.



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zeigt, so tief in unsere innersten Gefühle eindringen kann, daß es ist, als überträfe es selbst die Macht des gesprochenen Wortes. Wenn umgekehrt Gebärde und Miene mit der Rede in Widerspruch steht, wir also Trauriges mit heiterer Miene sagen oder etwas mit Kopfschütteln bekräftigen, so dürfte gewiß den Worten nicht nur aller Nachdruck, sondern sogar die (schlichte) Glaubwürdigkeit fehlen.36

Die actio eines Redners trägt also entscheidend zur Steigerung des Pathos bei – freilich nur, sofern sie auch ein Ethos vermittelt (Quint. inst. VI.2.18). Verbunden sind Ethos und Pathos durch den Grundsatz, wir sollten »in unseren Leidenschaften denen gleichen, die wirkliche Leidenschaften durchmachen, und unsere Rede sollte aus einer Gemütsstimmung hervorgehen, wie wir sie auch bei dem Richter zu erzeugen wünschen.«37 Selbstemotionalisierung ist deshalb die Voraussetzung, um auch andere enargisch zu emotionalisieren. Das Problem ist freilich, dass sich ein Verteidiger oder Ankläger nicht unbedingt von vorneherein mit der Position identifiziert, die er vertritt. Damit stellt sich die Frage: Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? Die Gemütsbewegungen stehen doch nicht in unserer Gewalt! […] Jeder, der das, was die Griechen φαντασίαι nennen  – wir könnten ›visiones‹ (Phantasiebilder) dazu sagen –, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinungen gut erfaßt hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein. […] [D]as kann uns, wenn wir wollen, leicht gelingen. Umgeben uns doch schon in Zeiten der Muße, wenn wir unerfüllten Hoffnungen nachhängen und gleichsam am hellen Tage träumen, solche Phantasiebilder so lebhaft, als ob wir auf Reisen wären, zu Schiffe führen, in der Schlacht ständen […]. Sollen wir aus dieser Schwäche nicht einen geistigen Gewinn machen? Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist, vor Augen haben? Wird nicht plötzlich der Mörder hervorbrechen? Nicht das Opfer vor Angst aufschrecken? Wird es schreien oder fliehen? Werde ich nicht den Schlag fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein Stöhnen und schließlich sein letzter Todesseufzer meinem Herzen tief einprägen? Daraus

36 »[Q]uippe non manus solum, sed nutus etiam declarant nostram voluntatem et in mutis pro sermone sunt, et saltatio frequenter sine voce intellegitur atque adficit, et ex vultu ingressuque perspicitur habitus animorum, et animalium quoque sermone carentium ira, laetitia, adulatio et oculis et quibusdam aliis corporis signis deprenditur. nec mirum si ista, quae tamen in aliquo posita sunt motu, tantum in animis valent, cum pictura, tacens opus et habitus semper eiusdem, sic in intimos penetret adfectus, ut ipsam vim dicendi nonnumquam superare videatur. contra si gestus ac vultus ab oratione dissentiat, tristia dicamus hilares, adfirmemus aliqua renuentes, non auctoritas modo verbis sed etiam fides desit.« (Quint. inst. XI. 3, 66–67, Quintilian/Rahn [Anm. 25], Bd. 2, S. 634  f. 37 »[Q]uare in his, quae esse veri similia volemus, simus ipsi similes eorum, qui vere patiuntur, adfectibus, et a tali animo proficiscatur oratio, qualem facere iudici volet.« (Quint. inst. VI. 2, 27, Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1, S. 708  f.)

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ergibt sich die ένάργεια (Verdeutlichung), die Cicero ›illustratio‹ (Ins-Licht-Rücken) und ›evidentia‹ (Anschaulichkeit) nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.38

Die Passage wurde in extenso zitiert, weil sie von kaum zu überschätzender Bedeutung ist für die hier interessierende Verbindung zwischen der Enargeia von Texten und der von actio und acting. Quintilian diskutiert den Begriff Enargeia mit expliziter Nennung insgesamt dreimal, davon zweimal im Sinn der Qualität eines Textes: zum einen (Quint. inst. IV.2, 63–65) als Qualität rednerischer narratio, die über die Grundanforderungen Klarheit, Deutlichkeit, Kürze und Glaubwürdigkeit hinausgeht, zum anderen (Quint. inst. VIII.3.61–71) als Element des ornatus, das durch die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung über die perspicuitas (Durchsichtigkeit) hinausgeht – in diesem Zusammenhang steht die zitierte urbs capta-Skizze. Drittens aber wird Enargeia im Zusammenhang mit den durch eine Rede hervorzubringenden Gefühlswirkungen (affecti) diskutiert (Quint. inst. VI.2), die nicht nur durch den Text erzeugt werden, sondern womöglich noch intensiver durch die glaubwürdige Körpersprache des Redners, die Selbstaffizierung voraussetzt – diesem Kontext entstammt das letzte Zitat.39 Gleichwohl enthält Quintilians Fallbeispiel des Plädoyers gegen einen Mörder die Skizze einer Ekphrasis,40 die der

38 »[A]t quo modo fiet, ut adficiamur? neque enim sunt motus in nostra potestate. […] quas φαντασίαι Graeci vocant (nos sane visiones appellemus),per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene conceperit, is erit in adfectibus potentissimus.[….] nisi vero inter otia animorum et spes inanes et velut somnia quaedam vigilantium ita nos hae, de quibus loquor, imagines prosequuntur, ut peregrinari, navigare proeliari […]. hoc animi vitium ad utilitatem non transferemus? hominem occisum queror: non omnia, quae in re praesenti accidisse credibile est, in oculis habebo? non percussor ille subitus erumpet? non expavescet circumventus? exclamabit vel rogabit vel fugiet? non ferientem, non concidenten videbo? non animo sanguis et pallor et gemitus, extremus denique exspirantis hiatus insident? insequentur ένάργεια, quae a Cicerone inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus sequentur.« (Quint. inst. VI. 2, 29–32; zit. nach Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1, S. 708–711; die Erläuterungen in einfachen Klammern stehen so in Rahns Übersetzung. 39 Selbst in der grundlegenden Studie von Bernhard F. Scholz: Ekphrasis and Enargeia in Quintilian’s Institutionis oratoriae libri xii. In: Peter L. Oesterreich, Thomas O. Solane (Hgg.): Rhetorica movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett. Leiden, Boston, Köln 1999, S. 3–24, wird diese Passage nur sehr knapp zitiert (S. 20) und nicht thematisiert, dass Enargeia hier nicht als Wirkung eines Textes aufgefasst ist, sondern als Voraussetzung für mitreißende actio (wobei freilich in der gelungenen Rede beides zusammenwirkt). 40 Wie im Fall der urbs-capta-Passage werden dabei effektvoll die Aktionen von Täter(n) und Opfer(n) kontrastiert.



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Redner nicht nur körpersprachlich, sondern auch als Text auszuführen hätte; inventio und actio scheinen also in gleicher Weise dem Gesetz der Selbstaffizierung zu unterliegen. Allerdings ist daran zu erinnern, dass jenes Eingangszitat dieses Teilkapitels, das die Gebärdensprache des Redners mit der von gemalten Figuren vergleicht (ohne explizit den Begriff Enargeia zu verwenden), dem eigentlichen actio-Kapitel XI.3 entstammt und dass dieses Kapitel nicht nur glaubwürdigen Affektausdruck durch Selbstaffizierung empfiehlt (Quint. inst. XI.3.62), sondern komplementär dazu ein hohes Maß an Selbstkontrolle. Ohne sie nämlich würde dem Vortrag »die kunstvolle Gestaltung« (ars) fehlen,41 um die es denn auch in diesem Kapitel mit seinen detaillierten Anweisungen zu Körpersprache und Deklamation vor allem geht. Nun war Quintilians Ausbildung des Redners der wichtigste Bezugspunkt für die Schauspielkunst der frühen Neuzeit.42 Sie orientierte sich einerseits an seinen Hinweisen zur Gestaltung von Körpersprache und Deklamation, woran etwa Hamlets Ermahnung einer Schauspieltruppe die Schauspieler erinnert (Hamlet III.2). Andererseits orientiert sie sich an der Methode der Selbstaffizierung, was schließlich zum Modell vom ›Empfindungsschauspieler‹ oder ›heißen Schauspieler‹ führt, das im 18. Jahrhundert mit dem Modell des ›kalten Schauspielers‹ konkurriert.43 Für die Shakespeare-Zeit wird dieser Aspekt greifbar, wenn man eine weitere Passage aus der Institutio oratoria mit einer Passage aus dem Hamlet vergleicht. Quintilian erzählt, er habe oft erlebt, daß Schauspieler und Komödianten, nachdem sie nach einem ernsteren Auftritt die Maske abgelegt hatten, noch weinten, wenn sie hinaustraten. Wenn aber bei Stücken, die andere geschrieben haben, allein schon das Vortragen nur durch erdichtete Gefühle eine solche Bewegung mit sich bringt, was werden wir erst tun, die wir darauf sinnen müssen, wie wir uns in den Stand setzen, so gerührt zu werden, als wären wir die vom Prozeß Bedrohten selbst?44

41 Quint. inst. XI.3, 62; Quintilian/Rahn (Anm. 25), S. 632  f. 42 Siehe Joseph R. Roach: The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting. Newark, London, Toronto 1985, bes.  S. 23–57; Till (Anm. 9) sowie die systematisch aufbereitete Materialsammlung von Dene Barnett: The Art of Gesture. The Practices and Principles of 18th Century Acting. Heidelberg 1987 (Siegen: Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft; 67), die, anders als der Titel vermuten lässt, actio-Traktate vom 16. bis zum 19. Jahrhundert auswertet. 43 Siehe Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig, Hamburg 1913 (Theatergeschichtliche Forschungen; 25), Repr. 1978, S.  26; Benedetti (Anm. 3), S. 182–200; Roach (Anm. 42), S. 116–159; Jens Roselt: Schauspieltheorie. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hgg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie. Stuttgart u.  a. 2005, S. 286–296, hier 288  f. 44 »[V]idi ego saepe histriones atque comoedos, cum ex aliquo graviore actu personam depo-

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Hier parallelisiert Quintilian also ausdrücklich die actio von Schauspielern und Rednern, schreibt aber den Rednern eine größere Gefährdung zu, weil sie nicht geschützt sind durch den fiktionalen Status eines Rollentextes. Wie ein Echo darauf erscheint Hamlets Reaktion auf die Deklamation des First Player einer Schauspieltruppe:45 Is it not monstrous that this player here, But in a fiction, in a dream of passion, Could force his soul so to his own conceit That from her working all his visage wann’d, Tears in his eyes, distraction in his aspect, A broken voice, and his whole function suiting With forms to his conceit? And all for nothing! For Hecuba! What’s Hecuba to him, or he to her, That he should weep for her? What would he do Had he the motive and the cue for passion That I have? He would drown the stage with tears, And cleave the general ear with horrid speech; Make mad the guilty and appal the free […].46

Was Hamlet hier kommentiert, ist ein Hybrid aus actio und acting: Der First Player deklamiert nämlich eine elaborierte Ekphrasis vom Typ urbs capta. Es geht um deren Urmodell, die Zerstörung Trojas, deren Horror sich konzentriert in der Abschlachtung des greisen König Priamos durch Pyrrhus, den Sohn des Achill.47 Unmittelbar bevor Priamos ermordet wird, stellt die Ekphrasis einen Moment vor Augen, der aus intermedialer Perspektive besonders bemerkenswert ist: Abgelenkt vom Zusammenkrachen der trojanischen Burg, erstarrt Priamos’ Mörder, das Schwert bereits zum tödlichen Streich erhoben, mitten in der Bewegung und

suissent, flentes adhuc egredi. quod si in alienis scriptis sola pronuntiatio ita falsis accendit adfectibus, quid nos faciemus, qui illa cogitare debemus, ut moveri periclitantium vice possimus?« (Quint. inst. VI. 2, 35; Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1, S. 712  f:, vgl. bereits Cicero: De oratore III.215.) 45 Roach (Anm. 42), S. 44  f. bringt diese Passage ausdrücklich mit dem Wirken von Enargeia in Verbindung, erläutert sie aber auch vor dem Hintergrund der Pneuma-Lehre (ebd., 45  f.). 46 Ham. II.2. 545–559; zit. nach William Shakespeare: Hamlet. Hg. von Harold Jenkins. Arden Edition. London [1982] 22001, S. 269  f. 47 Ich orientiere mich vor allem an Harry Levin: An Explanation of the Player’s Speech [1959]. In: Harold Bloom (Hg.): William Shakespeare’s Hamlet. Modern Critical Interpretations. New York, New Haven, Philadelphia 1986, S. 29–44; siehe auch Samuel Leslie Bethell: Die Rede des Schauspielers und Hamlet als Theaterkritiker [1944]. In: Erzgräber (Anm. 10), S. 191–200; Arthur Johnston: The Player’s Speech in Hamlet. In: Shakespeare Quarterly 13 (1962), S. 21–30.



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bietet den Anblick eines »painted tyrant«.48 Damit ist die für Malerei bezeichnende Starre, von der schon Quintilan spricht, eingedrungen in die Abfolge der ›szenischen‹ Aktion und verbindet Enargeia und thrill.49 Umso ›enargischer‹ wirkt dann die Erzählung der Ermordung selbst, zumal sie gestaltet wird aus der Perspektive der von Hamlet erwähnten Gemahlin des Priamos, Hekuba, die barfuß und in ein Laken gehüllt ansehen muss, wie ihr Mann zerstückelt wird.50 Hekuba ist das anschauliche Konzentrat des Jammers, und so heißt es denn auch, dass ihr Anblick sogar die Götter hätte rühren können, wenn diese geruht hätten, auf sie den Blick zu wenden.51 Auch wenn die Götter auf der Ebene der vorgetragenen Erzählung ungerührt bleiben – auf der Ebene des Dramas spiegelt sich Hekubas Jammer in der Mimik des First Player und überträgt sich auf die Mimik Hamlets, so dass Polonius befiehlt, den Vortrag abzu­ brechen.52 The Player’s Speech ist also eine Ekphrasis nicht im Sinne von Kunst­ beschreibung, sondern im ursprünglichen Sinne von Beschreibungskunst, in die jedoch, mit Irina O. Rajewsky gesprochen, ein expliziter ›intermedialer Bezug‹ mit ›expliziter Systemerwähnung‹ eingelassen ist.53 Gewissermaßen spiegelbildlich dazu verhält sich eine Passage aus Shakespeares Erzählgedicht Lucrece von 1594.54 Lucretia, so die Rahmenhandlung, wartet verzweifelt auf ihren Ehemann

48 Ham. II.2.470–478, hier 476, Shakespeare (Anm. 46), S. 265. 49 Vgl. Philostrats Beschreibung eines Gemäldes, das Kassandra im Moment ihrer Ermordung zeigt, »ein Beil anstarrend, das auf sie herabsausen wird« (Philostr. imag. II.10.1, Philostrat/ Schönberger [Anm.  28], S.  203.) Der Bildbeschreiber kommentiert: »Und wenn wir dies, mein Sohn, als Schauspiel fassen, so ist eine große Tragödie mit wenigem aufgeführt, wenn aber als Gemälde, so wirst du darin noch mehr sehen« (ebd). Dieses ›Mehr‹ besteht in der Möglichkeit, die optischen Details der fixierten Darstellung schauend und beschreibend auszukosten (siehe Elsner [Anm. 32], S. 329–333. 50 Ham. II.2.498–514, Shakespeare (Anm. 46), S. 267  f. 51 »[…] if the gods themselves did see her then, / When she saw Pyrrhus make malicious sport« (II.2, 508  f., ebd. S. 267, Kursivierung im Original). 52 Ham. II.2.515, Shakespeare (Anm. 46), S. 268. 53 Siehe Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen, Basel 2002 mit einem Übersichtsschema zur ›Trans‹- ›Intra‹- und ›Intermedialität‹, S. 157. 54 Von den zahlreichen Untersuchungen zu diesem Erzählgedicht können hier nur einige genannt werden, die sich auf das Thema Ekphrasis konzentrieren: Hagstrum (Anm.  13), S.  79; Elisabeth Truax: Lucrece! What Have your Conceited Painter Wrought? In: Bucknell Review 25 (1980), S.  13–31; James A. Heffernan: The Painted Rape of Troy in Shakespeare’s Lucrece. In: J.  A.H.: Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago, London 1993, S.  74–90; Sasha Roberts: Historizing Ekphrasis. Gender, Textils and Shakespeare’s The Rape of Lucrece. In: Valerie Robillard, Els Jongeneel (Hgg.): Pictures into Words. Theoretical and Descriptive Approaches to Ekphrasis, S. 103–123; Marion A. Wells: »To Find a Face where all Dis-

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Collatin, nachdem sie von dessen vermeintlichem Freund Tarquin vergewaltigt worden ist. Da fällt ihr Blick auf ein Simultanbild, das den Kampf um Troja bis hin zur Erschlagung des Priamos darstellt. Auf diesem Bild ist nicht zuletzt rednerische actio repräsentiert: There pleading might you see grave Nestor stand, As ’twere encouraging the Greeks to fight; Making such sober action with his hand That it beguil’d attention, charm’d the sight; In speech, it seem’d, his beard, all silver white Wagg’d up and down, and from his lips did fly Thin winding breath, which purl’d up to the sky.55

Ähnlich wie in Philostrats Beschreibung eines Bildes von Themistokles als Redner wird betont, dass die Rede zwar nicht vernehmbar, ihr Sinn aber körpersprachlich erschließbar ist.56 Lucretia aber lässt sich nicht von der stummen Kriegsrhetorik des alten Mannes ergreifen, sondern von der stummen Kriegsanklage Hecubas, die in diesem Fall auf die Wunden des bereits erschlagenen Priamos starrt: In ihr, heißt es, habe der Maler »anatomiz’d / Time’s ruin, beauty’s wrack, and grim care’s reign«.57 Die Betrachterin ist zwar eine junge Frau, erkennt aber die eigene Gewalterfahrung im Bild wieder; die Einfühlung in die gemalte Figur bewegt sie enargisch zur Klage, die das ergänzt, was der ›schweigenden Dichtung‹ des Bildes fehlt: »So Lucrece set a work, sad tales doth tell / To pencillʼd pensiveness and colourʼd sorrow;  / She lends them words, and she their looks doth borrow.«58 Noch mehr jedoch versetzt sie eine Figur außer sich, die man im weiteren Sinn als Schauspieler bezeichnen kann: Der gefangene Grieche Sinon täuscht die Trojaner durch seine Mimik und überredet sie, das trojanische Pferd in die Stadt

tress is Stell’d«: Enargeia, Ekphrasis, and Mourning in The Rape of Lucrece and the Aeneid. In: Comparative Literature 54 (2002), S. 97–126; Catherine Belsey: Invocation of the Visual Image. Ekphrasis in Lucrece and Beyond. In: Shakespeare Quarterly 63 (2012), S. 176–198. 55 Luc. 1401–1407, hier wie im Folgenden zit. nach: William Shakespeare: The Poems, hg. von E.  T. Prince. Arden Edition, London 1960, hier S. 132. 56 Vgl. Philostr. imag. I.31.4bd: Der Bilddeuter schließt aus der Miene des Dargestellten und den Reaktionen seiner Hörer sogar, dass Themistokles Persisch spricht. Nestors Worte lassen sich ergänzen aus Hom. Ilias II., 337–398. 57 Luc. 14450  f., Shakespeare (Anm. 55), S. 132. 58 Luc. 1496–1498, ebd.



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aufzunehmen.59 Das führt zu einer intermedialen Metalepse, mit der Shakespeare sein Vorbild Philostrat auf im vollen Wortsinn spektakuläre Weise überbietet:60 She tears the senseless Sinon with her nails, Comparing him to that unhappy guest Whose deed hath made herself herself detest; At last she smilingly with this gives o’er; »Fool, fool!« quoth she, »his wounds will not be sore.«61

Hier kann nur kurz darauf verwiesen werden, dass im Hamlet Ähnliches geschieht, wenn der Held sich über die Täuschungskunst des Claudius empört (Ham. I.  V.106–109) und ihn schließlich in seine ›Mausefalle‹ lockt (Ham. III.2.234; vgl. II.2.588–590;), die darin besteht, dass er die Höflinge zu ›Zuschauern‹ eines Spiels macht, dessen Plot er als ›Hörer‹ der väterlichen Mord-Ekphrasis aufgenommen hat.

4 Der dargestellte darstellende Affektkörper: Noch einmal die Elegie auf Richard Burbage Im Lucrece-Gedicht wird die Enargeia des von Lucretia betrachteten Bildes in den Versen komprimiert: »A thousand lamentable objects there, / In scorn of nature, art gave lifeless life«;62 die Burbage-Elegie – es sei noch einmal zitiert – klagt: »He’s gone and with him what a world are dead, / Which he reviv’d, to be revived so / No more« (13  f.). Hier liegt eine zusätzliche Pointe darin, dass der Verlebendiger nun tot ist; somit hat das Gedicht die Aufgabe, ihn wiederum zu verleben-

59 Vgl. Verg. Aen. II. 57–230. 60 Ein weiteres Vorbild ist eine Szene aus Vergils Aeneis: Aeneas wird im Tempel der Dido durch eine Wandmalerei, die das Ende Trojas darstellt, zu Tränen gerührt, (Verg. Aen. I.441–497), siehe dazu Heffernan [Anm.  54], S.  25–28; Michael C.  J. Putnam: Virgil’s Epic Designs. New Haven, London 1998, S.  23–54; Monica R. Gale: Poetry and the Backward Glance in Virgil’s Georgics and Aeneid. In: Transactions of the American Philological Association 133 [2003], S.  323–352, bes S.  343). Die Rührung geht aber nicht so weit, dass Aeneas den Darstellungscharakter des Bildes vergessen würde; hinsichtlich dieser Zuspitzung des Motivs orientiert sich Shakespeare m.  E. an den intermedialen Metalepsen Philostrats (siehe dagegen Wells Interpretation, die unterschiedlichen Reaktionen von Aeneas und Lucretia seien geschlechtsspezifisch kodiert – Wells [Anm. 54], S. 110–112 –, was ich auch angesichts von Hamlets Mitleid mit Hecuba relativieren würde). 61 Luc. 1564–1567, Shakespeare (Anm. 55), S. 137  f. 62 Luc. 373  f., Shakespeare (Anm. 55), S. 128.

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digen. Dies geschieht nun auch, und zwar in einer Weise, die deutlich an die Technik der intermedialen Metalepse erinnert: Oft have I seen him leap into the grave, Suiting the person, which he seem’d to have, Of a sad lover, with so true an eye That there I would have sworn he meant to die. Oft have I seen him play his part in jest So lively that spectators, and the rest Of his sad crew, whilst he did seem to bleed, Amazed, thought even then he died in deed. O let not me be check’d, and I shall swear E’en yet it is a false report I hear, And think that he, that did so truly feign Is still but dead in jest, to live again. (17–27)

Wie im Fall Philostrats und Hamlets suggeriert hier die intermediale Metalepse ein Umkippen ästhetischer Illusion – zu der ja immer ein Bewusstsein für das ›Alsob‹ der Darstellung gehört – in tatsächliche Illusion, tatsächliche Täuschung.63 Zudem wird das Wortfeld des ›Wiederbelebens‹ durch das Adjektiv »lively« fortgeführt. Die Schraube der Paradoxie wird insofern noch eine Umdrehung weitergetrieben, als das, was Burbage offensichtlich besonders überzeugend ›verlebendigen‹ konnte, das Sterben war. In einer letzten Umkehrung wird dieses Paradox nochmals auf den Anlass dieses Gedichtes zurückbezogen: O let not me be check’d, and I shall swear E’en yet it is a false report I hear, And think that he, that did so truly feign Is still but dead in jest, to live again. (24–27)

Hier wird Enargeia besonders deutlich in den Dienst der hyperbolischen laudatio gestellt, der die verbale Evokation von Burbages Kunst letztlich untergeordnet ist. In den folgenden Versen wird diese Priorität durch eine Umakzentuierung des Wortes ›to act‹ unterstrichen, und zwar in Abgrenzung zu ›play‹: Burgbage ›spielt‹ Roscius, den größten Schauspieler Roms, nicht, sondern ›agiert‹/wirkt als Wiederverkörperung dieses Vor-Bilds:

63 Siehe Wolf (Anm. 17), S. 281.



»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 

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But now this part he acts, not plays: ’tis known Other he play’d, but acted hath his own, England’s grand Roscius, for what Roscius Was unto Rome, that Burbage was to us. (28–31)

Immerhin ist auch von Roscius nur bekannt, dass er der größte Schauspieler Roms gewesen sein soll, nicht jedoch, inwiefern.64 So könnte mit der Apotheose Burbages als neuer Roscius das Gedicht durchaus sinnvoll enden. Doch folgen nun einige Verse, die sich einem besonderen Aspekt von Schauspielkunst widmen, nämlich der Rezitation in ihrem Verhältnis zur Körpersprache: How did his speech become him, and his pace Suit with his speech, and every action grace Them both alike, whilst not a word did fall Without just weight to ballast it withal. (AFB 32–35)

Burbage artikuliert jedes Wort also mit genau dem ›Gewicht‹, das ihm innerhalb der Rede zukommt; mit dem Ausdruck der Rede wiederum korrespondieren Gang und Gestik. Wie Hamlets Ratschläge für die Schauspieler bewegt sich dieses Lob im Rahmen von Quintilians actio-Lehre, orientiert an aptum und decorum.65 Die folgenden Verse schreiben der Deklamation aber noch die zusätzliche Qualität des ›Bezaubernden‹ zu und beziehen sie wiederum auf ein Publikum, genauer gesagt, einen Zuhörer, der allegorischen Status besitzt: den Tod. Hadst thou but spoke to death and us’d thy power Of thy enchanting tongue, at that first hour Of his assault, he had let fall his dart And been quite charm’d by thy all-charming art. This he well knew, and to prevent this wrong He therefore first made seizure on his tongue; Then on the rest, ’twas easy by degrees; The slender ivy tops the smallest trees. (36–43)

64 Zu Gallus Quintus Roscius siehe Horst-Dieter Blumes Artikel in Hubert Cancick u.  a. (Hgg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 10: Pol–Sal. Stuttgart 2001, Sp.  1136  f. 65 »Suit the action to the word, the word to the action, with this special observance, that you o’erstep not the modesty of nature.« (Ham. III.2, 17  ff.; [Anm. 46], S. 297); vgl. Quint. inst. XI.3.14.

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Der Text entwirft eine ›Szene‹, in der deklamierender Schauspieler und allegorisierter Tod als Antagonisten aufeinandertreffen, spielt also mit einer strukturellen Analogie, die noch für Mimen-Ekphrasen und grafische Darstellungen von Schauspielkunst im 18. Jahrhundert bedeutsam ist:66 Personalallegorien ›verkörpern‹ Abstrakta, Schauspieler ›verkörpern‹ Rollen, und diese Rollen wiederum können, wie im Fall des englischen morality play vom Everyman aus dem späten 15. Jahrhundert, auch Personalallegorien sein. Nun sind Personalallegorien auf der Bühne allerdings typisch für die »Spielillusion« der mittelalterlichen Bühne und wurden im Zeichen voranschreitender »mimetischer Illusion« zurückgedrängt.67 Doch bleiben Spuren davon auch bei Shakespeare erhalten; man denke an den Sommernachtstraum oder den Sturm.68 Wahrscheinlich ist außerdem, dass hier auf die Gattung des Totentanzes angespielt wird, in dem ja der Tod die Vertreter verschiedener Stände aus dem Leben reißt. Totentänze sind üblicherweise ein Gemeinschaftswerk beider ›Schwesterkünste‹;69 zudem klingt die Verbindung zu einer medienkombinatorischen Gattung an, die deutliche Spuren im elisabethanischen Drama hinterlassen hat, nämlich dem Emblem.70 Hier wird es zum einen aufgerufen durch das Bild der Zunge: Sie steht in Emblemen typischerweise für die Wirkung des gesprochenen Wortes und erscheint dabei in der Regel vom Körper getrennt;71

66 Man denke nur, um lediglich die berühmtesten Beispiele zu nennen, an Joshua Reynoldsʼ Gemälde David Garrick between Tragedy and Comedy (1760) und Mrs Siddons as the Tragic Muse (1784), siehe dazu Shearer West: The Image of the Actor. Verbal and Visual Representation in the Age of Garrick and Kemble. New York 1997, S. 42; 113–115; Ian McIntyre: Joshua Reynolds. The Life and Times of the First President of the Royal Academy. London 2003, S. 127  f., 416  f. 67 Siehe Wolf (Anm. 17). 68 Siehe Ingrid Landau: Das allegorische Modell in Shakespeares Sommernachtstraum und anderen Dramen bis 1600. Bebra 1992. 69 Die anhaltende Popularität dieser Bildgattung in England weit über das Mittelalter hinaus bezeugt beispielsweise Thomas Rowlandsons Zyklus The English Dance of Death von 1814–1816 (Norbert Jung ([Hg.]: Vom Ende der Zeit. Totentanz im Wandel der Geschichte. Diözesanmuseum Bamberg. Begleitband zur Sonderausstellung. Münsterschwarzach 2011, S. 73–79), der Karikatur und Totentanz-Tradition verbindet. Hier findet sich insofern ein Bezug zur Bühne, als der ­Zyklus durch die Abholung von Commedia-dell’Arte-Darstellern eröffnet wird: »Behold the signal of Old Time:  / That bids you close your Pantomime« (ebd., 73). Der Zyklus ist durch Hans Holbeins Totentanz-Zyklus angeregt, der ab 1538 in Buchform erschien. 70 In der Elegy fehlt zwar eine Bebilderung, doch waren die Übergänge fließend, insofern es auch sogenannte Emblemata nuda gab, d.  h. bildlose Embleme (siehe Gilbert Heß: Text und Bild in der frühen Neuzeit: Die Emblematik. In: Torsten Hoffmann, Gabriele Rippl (Hgg.): Bilder – ein neues Leitmedium? Göttingen 2006, S. 168–190, hier 172.) 71 Siehe die Beispiele in Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, Sp.  1007.



»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 

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auf das Drama übertragen, liefert dieses Motiv wirkungsvolle Gruseleffekte,72 etwa in Titus Andronicus oder der Spanish Tragedy, die ja im Rollenkatalog der Elegy angesprochen ist. In der allegorischen Szene des Gedichts steht die Zunge als pars pro toto für die Kunst des Deklamators Burbage, die wiederum synekdochisch seine gesamte actio vertritt und deshalb vom Tod als erstes angegriffen werden muss. Zum anderen hat auch das Bild, das die Szene beschließt, eine reiche emblematische Tradition: der schwache Efeu tötet den starken Baum.73 Das Zusammenwirken der Schwesterkünste im Bezug auf die Bühne wird also in den Versen 36–43 durch den impliziten Bezug auf medienkombinatorische Gattungen noch einmal eindringlich ›vor Augen gestellt‹. Die Poesie tritt dabei insofern ordnend in Erscheinung, als die Sprechinstanz es vermag, die Imagination zweier Szenen zu ordnen: Zunächst phantasiert sie im Irrealis, wie die Deklamationskunst des Mimen den Tod hätte entwaffnen können, dann imaginiert sie den Verlauf von Burbages Tod im Modus des Allegorischen. Im Rest des Gedichtes tritt das Darstellungsziel der Enargeia in den Hintergrund und die Sprechinstanz in der ›Rolle‹ eines dichtenden Trauerredners in den Vordergrund: Er, der soeben den Verstorbenen angesprochen hatte (»Hadst thou but spoke to death«), gliedert durch drei Apostrophen an die Mitwelt den Rest des Gedichtes, spricht zunächst die »poets« an (44), sodann die »sad companions« (62) des Schauspielers und schließlich die »dear Earth« (76). Ihnen allen gibt er Anweisungen, wie sie auf den Tod des größten Schauspielers zu reagieren hätten. Die formale Gestaltungsweise dieser Anweisungen braucht im Zusammenhang dieser Studie nicht mehr zu interessieren; entscheidend ist, dass ihre Kunstfertigkeit nicht mehr durch intermediale Verweise überdeckt wird.74 Das dichterische Selbstbewusstsein, dass den Unfähigkeitsbeteuerungen des Anfangs diametral entgegengesetzt ist, erreicht seinen Höhepunkt, wenn der Sprecher, das Gedicht beschließend, ein Grabepitaph entwirft: »Tis England’s Roscius, Burbage, that I keep.« (85) Und dieses Epitaph bewirkt genau das, was sonst der Präsenz des Schauspielers vorbehalten ist, nämlich die Augen der Rezipienten mit Tränen zu füllen: »That every eye may read, and reading weep«. (84)

72 Siehe Carla Mazzio: Sins of the Tongue. In: David Hillman, C.  M. (Hgg.): The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe. New York, London 1997, S. 52–79. 73 Vgl. Henkel, Schöne (Anm. 71), Sp.  276  f. 74 Hingewiesen sei nur auf die Parallelität des Gesamtaufbaus bezüglich der menschlichen Adres­saten (zunächst wird jeweils dekretiert, sie sollten ihre Tätigkeit gänzlich beenden, dann wird dieses Verdikt gemildert) und auf die Formulierung, durch den Tod Burbages in der Fastenzeit werde »Lent / […] more lenten« (V. 62  f.).

II Musikalische Intermedialität

Florian Mehltretter

Maske und Performanz – Zum intermedialen Charakter der italienischen Madrigaldichtung zwischen Trecento und Cinquecento Zweifellos ist das Madrigal in der Frühen Neuzeit ein historisch spezifischer Fall von Intermedialität; er ist insofern geeignet, Intermedialitätskonzepte zu historisieren. Ich möchte nun in diesem Beitrag zeigen, dass die Theorie und Praxis des Madrigals der italienischen Renaissance sogar in sich eine historische Differenz zwischen zwei diachronisch zu unterscheidenden Madrigalpraxen zu bewältigen versucht: Sie ist also auch epochenintern nochmals zu historisieren. Dies wird, so meine ich, unmittelbar greifbar in der wohl wirkmächtigsten volkssprachlichen Poetik des Cinquecento, Pietro Bembos Prose della volgar lingua von 1525: Freie Gattungen sind die, die keinerlei Beschränkungen in Verszahl oder Reimschema unterliegen, sondern von jedem nach Gutdünken geformt werden können; und diese nennt man allgemein Madrigale, entweder weil man in dieser selbst losen und materialhaften Versgattung anfangs über materielle und grobe Dinge sang; oder weil jene Leute in dieser Weise mehr als in anderer über Hirtenliebe und andere Waldesereignisse redeten, so wie die Lateiner und Griechen in ihren Eklogen, wobei sie den Namen für diese Liedform von den Herden [mandre] abgeleitet haben könnten; obwohl es allerdings auch eine andere Art von Madrigalen gibt, die nicht ganz so regellos geformt ist wie ich es eben dargelegt habe.1

Das Madrigal ist also nach Bembos Auskunft das Musterbeispiel für eine strukturell – und das heißt hier vor allem: metrisch – freie Gattung. Dies wird als Kunstlosigkeit interpretiert und durch einen bukolischen Ursprung erklärt. Sodann muss Bembo zugeben, dass es auch in sich regelmäßig geformte Madrigale gibt, die wohl geeignet wären, seine Theorie des freien Madrigals zu widerlegen. Dieser Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Dichter des frühen 16.  Jahrhunderts, insbesondere Bembo selbst, eine Madrigalform etabliert haben, die ohne jede Stollensymmetrie eine fast beliebige Zahl frei gereimter Sieben- und Elfsilbler kombiniert. Die Madrigale desjenigen aber, den Bembo in ebendieser Schrift als den Musterautor volkssprachlicher Poesie etablieren will, sind in strenger Stollensymmetrie aus regelmäßigen piedi und einer volta zusammengesetzt. Dieser

1 Übersetzung: F.  M. nach: Pietro Bembo: Prose e Rime. Hg. von Carlo Dionisotti, Turin 1960, S. 152. DOI 10.1515/9783110521788-005

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Musterautor ist natürlich niemand anders als der lyrische Klassiker des 14. Jahrhunderts, Francesco Petrarca. Bembo versucht die Differenz zwischen der ihm zeitgenössischen Praxis und der historisch älteren Norm, die Petrarca repräsentiert, nicht diachronisch zu erklären, sondern als synchronische Varianz auszuweisen. Ich will nun im Gegensatz zu Bembo diese Differenz herauspräparieren, bevor ich zum Umgang des 16. Jahrhunderts mit diesem Problem zurückkehre. Ausgehen möchte ich von der Ursprungserzählung, die in Bembos Zeilen steckt: Der Begriff Madrigal verweist demnach entweder auf die erwähnte Regellosigkeit oder Ungeformtheit der Gattung, der sozusagen nach dem Aptumsprinzip dann auch eine rohe, unbehauene Thematik entsprechen würde. Oder er geht auf den bukolischen Charakter des Genres zurück und ist aus dem italienischen Wort für ›Herde‹, mandra, entstanden. In dem Falle wäre das Madrigal ein Schäfergedicht. Jedenfalls neigt es zum niederen, schlichten Stil. Diese Einschätzung entspricht, wie übrigens schon Massini 1588 bemerkt, nicht unbedingt der tatsächlichen Praxis des 16. Jahrhunderts. Sie ist vielmehr Bestandteil einer poetologischen Tradition.2 1509, also 16 Jahre vor Bembos Prose, wurde in Venedig ein Traktat aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gedruckt, der bis zu diesem Erstdruck in zahlreichen Handschriften zirkulierte: Antonio Da Tempos Summa Artis Rithimici Vulgaris Dictaminis. Dort wird das Madrigal charakterisiert durch eine aus heutiger Sicht eigenartige Kombination von musikalischer Komplexität und textlicher Ländlichkeit: Das Madrigal leitet seinen Namen von der Schafherde mit ihren Hirten ab, denn anfangs rührt diese Weise des Reimens und Singens von den Schafhirten her. Denn die Hirten haben, wie es Bauerntölpeln und groben Menschen ansteht, zunächst über die körperliche Liebe grobe Worte zusammengestellt und sie in grober Weise gesungen und mit ihren Flöten begleitet, und zwar natürlich, wenngleich die Madrigale heute subtiler und schöner von den Dichtern abgefasst werden. […] Aber der Klang des Madrigals muss nach heutiger Singweise schön sein, wobei er im Gesang einige ländliche oder madrigalhafte Teile aufweisen soll, damit der Gesang mit den Worten übereinstimmt. Und damit er diesen schönen Klang hat, muss er mindestens von zwei Leuten in verschiedenen zusammen passenden Stimmen gesungen werden.3

2 Vgl. allgemein die Argumentation zum Madrigal bei Filippo Massini: Il Madrigale. In: Let­tioni dell’Estatico Insensato, Recitate da lui publicamente in diversi tempi nell’Accademia de gli Insensati di Perugia. Nuovamente poste in luce. Perugia 1588. Außerdem: Madrigal und Ballata. In: Bernhard Huss, Florian Mehltretter, Gerhard Regn: Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance. Berlin 2012 (Pluralisierung & Autorität; 30). S. 207–232. 3 Übersetzung F.  M. nach: Antonio Da Tempo: Summa artis rithimici vulgaris dictaminis. Hg. von Richard Andrews. Bologna: Commissione per i testi di lingua 1977 (Collezione di Opere ­Inedite o Rare; 136), S. 70  f.



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Diese letzte Angabe scheint für die Gattung entscheidend: Das Madrigal ist polyphon, zwei- oder mehrstimmig. Es erhält damit eine ganz bestimmte Systemstelle im Gefüge der metrischen Gattungen des Trecento. Dieses System könnte man als Viererkonstellation nach medialen Gesichtspunkten beschreiben, die nach Da Tempo für das vierzehnte Jahrhundert folgende Formen differenziert: 1. Die Canzone als – zumindest in der Theorie – einstimmig gesungene Gattung. 2. Das Sonett, definiert als gesprochene Gattung. 3. Das Madrigal als mehrstimmig gesungene Gattung. 4. Die Ballata als einstimmig gesungene und getanzte Form. Einerseits soll nach Da Tempo also der Text des Madrigals von der angeblichen rustikalen Urszene der Gattung noch niedere, grobe Formulierungen bewahren; andererseits dichten auch die zeitgenössischen Dichter bereits subtiler. Die Musik wird dabei unmissverständlich auf die avancierteste Faktur der zeitgenössischen Musik festgelegt: eben die Polyphonie. Es handelt sich also um ein zumindest auf den ersten Blick widersprüchliches Konzept von so etwas wie rustikaler Höhenkammkunst. In dem dadurch aufgespannten oxymoralen Rahmen bewegt sich die gesamte poetologische Diskussion der Hoch- und Spätrenaissance, von Bembo über Minturnos Poetica4 bis hin zu Filippo Massinis Traktat über das Madri­gal von 1588. Wie kommt es dazu? Ein möglicher Erklärungsansatz wäre folgender: Der pastorale Ursprung ist nur ein Topos, der mehr mit Mythen über den Ursprung von Lyrik und Gesang zu tun hat als mit historischer Wirklichkeit. Es könnte sich (diesem Ansatz zu Folge) beim Madrigal von Anfang an um ein Kunstprodukt handeln, dem nur aufgrund dieser pastoralen Topik eine Option auf den stilus humilis beigegeben ist. Diese Erklärung ist mir sehr sympathisch, aber sie scheint mir zu schwach, um etwa Da Tempos komplexes Hin- und Herargumentieren angemessen zu erklären. Wir müssen diese Hypothese etwas modifizieren, und zu diesem Zweck möchte ich nochmals einige Jahrzehnte zurückgehen. Die erste heute bekannte Erwähnung einer Variante unseres Madrigalbegriffs findet sich in einem Text von ca. 1310, den sogenannten Documenti d’amore von Francesco da Barberino. Es handelt sich um einen Selbstkommentar zu eigenen Dichtungen, und in diesem taucht an einer Stelle eine kleine Poetik volkssprachlicher Gattungen auf. Francesco definiert in diesem Zusammenhang eine Form namens voluntarium, und das Madrigal ist anscheinend eine Spielart davon: »[…] voluntarium est rudium inordinatum con-

4 Antonio Sebastiano Minturno: Dell’arte poetica. Venetia: Per Gio. Andrea Valvassori, 1564. Nachdruck München 1971 (Poetiken des Cinquecento; 6). Zu den anderen Quellen vgl. Anm. 1 und 2.

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cinium. ut matricale et similia.«5 Wichtig scheint mir, dass hier die pastorale Stilisierung noch gar nicht vorhanden ist. Wohl aber scheint in dem Begriff concinium bereits eine Option auf polyphones Zusammen-Singen zu stecken, und zwar  – wie es der Begriff voluntarium suggeriert – in Form einer Art von Improvisation; deswegen wohl auch inordinatum. Wir wissen nicht, wie sich das angehört hat. Ich will nur einige Vermutungen aufstellen: Es ist denkbar (und wurde vielfach vermutet), dass die Entwicklung der Mehrstimmigkeit in Europa im Zusammenhang steht mit Improvisationspraxen, etwa über einen bekannten und daher vorhersehbaren Tenor. Eine solche Praxis muss, da sie zunächst ohne Schriftlichkeit auskommt, nicht notwendig gelehrt sein; sie kann in bestimmten lokalen Konstellationen sogar volkstümlich sein, in anderen vielleicht nicht.6 Aber in dem Augenblick, in dem eine solche Improvisation niedergeschrieben wird, vor allem wenn dies unter Berücksichtigung ihrer rhythmischen Struktur geschieht  – also in Mensuralnotation  – in diesem Moment wird eine solche potentiell volkstümliche Praxis bereits aus medialen Gründen zu einer gelehrten Buchpraxis. Niedergeschriebene Polyphonie erfordert sofort ein hohes Maß an musikalischer Alphabetisierung. Im Moment der Verschriftlichung wird aus solchen Improvisationsformen ein raffiniertes Kunstprodukt. Aber die Erinnerung an die improvisierenden, vielleicht sogar populären Anfänge wird in dieses neue Medium übertragen. Die Gattung mythisiert oder transponiert sozusagen ihre medialen Ursprünge, seien diese nun historisch real oder nur imaginär. Was nun aber vorher die inhärente Regularität einer Improvisationspraxis gewesen sein könnte, wird im Moment der Verschriftlichung zu einer expliziten poetologischen Norm wie sie Antonio Da Tempo zu formulieren versucht: Der Dichter soll grobe Worte verwenden, wenngleich die Komposition in subtiler Harmonie erklingt. Das Bukolische könnte dann im Sinne der Rota Virgilii als thematisches Korrelat des niederen Stils quasi nachträglich hinzugekommen sein. Die poetologische Normierung erzeugt mithin eine genretypische Semantik, die sozusagen das mediale Gedächtnis der neuen Gattung ist. Diese bukolische Semantik ist allerdings nicht ganz leicht mit dem edlen, erlesenen Klagegestus Petrarcas zu vereinbaren; und Petrarcas Canzoniere ist ja der fundierende Text der frühneuzeitlichen Liebeslyrik nicht nur in Italien. Um zu sehen, wie diese Kluft bei Petrarca überbrückt wird, sehen wir uns das erste der vier kanonischen Madrigale aus dem Canzoniere an. Die Musik stammt

5 Francesco Da Barberino: Documenti d’amore. Hg. von Francesco Egidi. 4 Bde. Rom 1924. Bd. 2, S. 263. 6 Zu dieser Problematik vgl. allgemein Elena Abramov-van Rijk: Parlar cantando. The practice of reciting verses in Italy from 1300 to 1600. Bern, Frankfurt a.  M., New York 2009.



Maske und Performanz 

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von Jacopo da Bologna und ist uns im so genannten Squarcialupi-Kodex überliefert. Die darin enthaltene Textfassung gilt als früher als die uns in Petrarcas eigener Lyriksammlung überlieferte Version. Es handelt sich um ein raffiniertes Kunstprodukt, nicht mehr um eine wie auch immer rustikale Improvisation. So etwas könnte man schon deshalb nicht mehr erfolgreich improvisieren, weil die rhythmisch intrikate Melismatik sich hier nicht auf die Oberstimme beschränkt, sondern auch die Unterstimme erfasst hat. Solches Musizieren erfordert Vorausplanung bzw. Schriftlichkeit. Der Text dieser Version lässt sich wie folgt transkribieren: Non al suo amante piu Diana piacque, / quando per tal ventura tutta ignuda / la vide in mezzo de le gelide acque, // Come la pasturella alpestra et cruda: / Fissa albagnare unlegiadretto uelo: / Chal sole allaura eluago capel chiuda, // tal che mi fece, or quand’egli arde ’l cielo, / tutto tremar d’un amoroso gielo.7

Betrachten wir die Metrik in Relation zur Musik: Wir haben ein Gebilde aus zwei Terzinen und einem Distichon. Die beiden Terzinen werden auf die gleiche Musik gesungen, das Distichon hingegen auf eine andere. Es herrscht also Stollensymmetrie. Die Textmenge ist relativ gering und die Syntax für Petrarcas Verhältnisse übersichtlich. Dies steht eventuell im Zusammenhang mit der melismatischen und zugleich polyphonen Vortragsweise: Weil die einzelnen Silben viele Noten und also eine gewisse Dehnung erhalten, ist erstens in einer für damalige Praxis üblichen Musikdauer nur eine begrenzte Textmenge unterzubringen und zweitens der Abstand syntaktischer Einheiten nicht unbegrenzt vermehrbar, ohne dass das Verständnis litte – zumal die Zweistimmigkeit zusätzlich eine gewisse Unübersichtlichkeit generiert. Nicht nur die stilistisch eher abgesenkte Tradition des Madrigals, sondern auch dessen spezifische Performanz-Situation des melismatischen polyphonen Vortrags erfordert also eine schlichte Textstruktur. Ich möchte mich jetzt mit der Semantik dieses Textes befassen, und zwar ausgehend von einem philologischen Detail. Diejenigen Leser, die Petrarcas Madrigal aus gedruckten Ausgaben des Canzoniere kennen, werden in der Squarcialupi-Fassung, die wohl ein früheres Stadium des Textes widerspiegelt, ein abweichendes Detail bemerkt haben. Die Squarcialupi-Fassung lässt sich wie folgt übersetzen: Mehr gefiel dem, der sie liebte, Diana nicht, / als er sie durch solches Los ganz nackt / sah inmitten der eisigen Wasser, // als mir die berg-raue Hirtin, / die gerade einen anmutigen Schleier wusch, / der vor Sonne und Wind ihr schönes Haar verschlösse, // so sehr, dass sie mich, obgleich der Himmel brennt, / ganz in Liebesfrösteln erzittern ließ.

7 Jacopo da Bologna / Francesco Petrarca: Non al suo amante. Squarcialupi-Kodex. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana. MS. Mediceo Palatino 87. Bl. 10v–11r.

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 Florian Mehltretter

Die Situation, in der der Liebende eine Hirtin beim Waschen ihres Schleiers sieht (das heißt also: mit entblößtem Haar) ist hyperbolisch vergleichbar mit jener mythischen Situation, in der Actaeon Diana nackt im Bade sah und die, wie wir aus dem Actaeon-Mythos wissen, eine tödliche ist: Actaeon wird von seinen eigenen Hunden zu Tode gehetzt. In der Frühen Neuzeit las man dies oft allegorisch in dem Sinne, dass denjenigen, der sich der Augenlust hingibt (oder überhaupt erotischem Begehren), seine Begierden in den seelischen Untergang treiben. Im Distichon wird ausgesagt, dass dieser Anblick der Hirtin, die ihren Schleier wäscht, so stark und vielleicht auch so gefährlich für das Seelenheil des Liebenden sei, dass er trotz des heißen Wetters erschaudere. Es handelt sich also um ein Madrigal über eine Hirtin in anscheinend ländlicher Umgebung. Dies entspricht unseren Erwartungen an die gattungsspezifische Semantik. Aber wieso verbergen Hirtinnen eigentlich ihr Haar sittsam unter einem Schleier? Tun das nicht eher Edelfräulein? Da wir bei Petrarca damit rechnen müssen, dass auch das kleinste Detail mit Absicht gestaltet ist, liegt die Vermutung nahe, dass ein Element dieser Konstellation uneigentlich gebraucht wird: Vielleicht ist der Begriff pastorella hier metaphorisch. Wenden wir uns zum Vergleich Petrarcas Textfassung letzter Hand im Codex Vaticanus Latinus 3195 zu, die in den gängigen Ausgaben abgedruckt ist: Non al suo amante piú Dïana piacque, / quando per tal ventura tutta ignuda / la vide in mezzo de le gelide acque,  // ch’a me la pastorella alpestra et cruda  / posta a bagnar un leggia­dretto velo, / ch’a l’aura il vago et biondo capel chiuda, // tal che mi fece, or quand’egli arde ’l cielo, / tutto tremar d’un amoroso gielo.8

Petrarca ändert nur wenig, und zwar in der zweiten Terzine. Statt »al sole e a l’aura il vago capel chiuda« schreibt er nun: »all’aura il vago e biondo capel chiuda.« Petrarca verstärkt hier lediglich eine Lesart, die schon in der musikalischen Fassung möglich, aber nicht wahrscheinlich ist: allaura kann sowohl ›vor dem Wind‹ als auch ›für Laura‹, also dativisch für die Minnedame des Canzoniere, heißen. In dieser letzten Fassung, in der das Madrigal in den Gedicht­zyklus für Madonna Laura aufgenommen wird, wird die Lesart: ›Der Schleier würde Lauras Haar verbergen‹ verstärkt, während die Lesart: ›Er würde das Haar der Dame gegen die Witterung beschirmen‹ geschwächt wird. Dies geschieht, indem einerseits die Sonne verschwindet, so dass die meteorologische Lesart nicht mehr durch die Paarung von Sonne und Wind relevant gemacht wird, andererseits wird in der Bestimmung des Haares als blond die dem Leser als blond bekannte Dame Laura kognitiv fokussiert.

8 Zitiert nach: Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. Mailand 1996, Nr. 52.



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Aber Laura ist, wie der Leser weiß, keine Hirtin. Das heißt: Die Bezeichnung Lauras als Hirtin wird, wie wir schon vermuteten, metaphorisch. Ihre bergraue Wesensart ist Metapher für ihr scheues und vielleicht auch grausames, jedenfalls abweisendes Verhalten gegenüber dem Liebenden. Zugleich wird im Zuge dieser allegorischen Einpassung der Episode in den Laura-Zyklus die moralische Brisanz des Actaeon-Mythos auf die Höhe der Seelenheilsproblematik geholt, die auch sonst im Canzoniere verhandelt wird. Dies wird unmittelbar greifbar in den Veränderungen, die Petrarca zwischen der frühen und der späten Fassung vorgenommen hat. Die ländliche Semantik des Madrigals wird also durch Allegorisierung dem Niveau der Höhenkammliteratur angepasst, und dadurch wird zugleich die Kluft zwischen den möglichen niederen Ursprüngen des ungeordneten Zusammensingens und der hoch entwickelten Polyphonie, die wir tatsächlich hören, geschlossen. Die Ursprünge der Polyphonie wirken nach in einer pastoralen Semantik, die in der neuen gehobenen Stil- und Gegenstandsumgebung nur noch uneigentlich präsent sein kann. Das Trecento-Madrigal setzt insofern seinen Gegenständen eine pastorale Maske auf, die mit der polyphonen Performanz der Gattung zusammenhängt. Nun verändert sich aber die Praxis des Madrigals vor allem im Laufe des 15. Jahrhunderts; vor allem seine Systemstelle in der Medialität der lyrischen Gattungen ist spätestens in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine andere (vgl. Abb. 1). Medialität

1320 1550 Canzone Sonett Madrigal Ballata Canzone Sonett Madrigal Ballata

einstimmig ­ esungen g

x

x

mehrstimmig gesungen

x

getanzt gesprochen

x

x

x x

x

x

Abb. 1: Die Medialität des Madrigals im System der lyrischen Leitformen des 14. und 16. Jahrhunderts

Die Canzone nähert sich insofern dem Sonett, als sie nicht mehr gesungen wird. Die Ballata nähert sich insofern dem Madrigal, als auch sie mehrstimmig wird – und sogar das ursprünglich definierende Element des Tanzes einbüßt. Das Madri­ gal ist damit nicht mehr eindeutig in einer von vier Positionen, sondern es teilt eine von zwei Positionen in einer einfachen Opposition zwischen Gesungen und Gesprochen mit der Ballata. Es wird medial unspezifisch, und damit ist es auch

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weniger wichtig, seine vielleicht ursprüngliche oder mythische Medialität als mehrstimmige Hirtenimprovisation in pastoraler Semantik abzubilden. Diese wird zwar nicht aufgegeben, aber sie verblasst; das Madrigal entwickelt um 1400 andere inhaltliche Möglichkeiten, etwa die eines autobiographischen Gestus. Mit anderen Worten: Die Praxis des Madrigals wird zunächst unscharf und verändert sich dann. Genau dies will ich ja auch zeigen: dass diese intermediale Praxis innerhalb des hier untersuchten Zeitabschnitts einer historischen Veränderung unterworfen ist. Dabei muss ich allerdings annehmen, dass das Thema meiner Geschichtserzählung eines ist, dass also das Madrigal des vierzehnten und das des sechzehnten Jahrhunderts nicht zwei homophone, aber semantisch und referentiell grundverschiedene Begriffe sind (wie in der Forschungsliteratur immer wieder erwogen wird9). In der Tat fragt es sich, wie es dazu kommt, dass ein knappes Jahrhundert nach den letzten Madrigalen von Paolo da Firenze und anderen Quattrocentisten dieser Begriff ab etwa 1510 wieder auftaucht, dabei wieder eine Konstellation weltlicher Polyphonie und Lyrik bezeichnet – und von den Theoretikern des Cinquecento ganz selbstverständlich mit dem alten Gattungsbegriff gleichgesetzt wird; sogar über Bukolik wird diskutiert wie in dem oben vorgestellten Textausschnitt von Bembo. Es spricht also durchaus etwas dafür, dass der Madrigalbegriff nicht zwei gänzlich unterschiedliche dichterische und musikalische Praxen beschreibt, sondern eine sich historisch verändernde, wenngleich dünne Kontinuität. Dies möchte ich kurz auf der Ebene der Metrik erhärten. Betrachten wir zunächst ein Gedicht aus Matteo Maria Boiardos Amorum libri tres, das mit dem Entstehungsdatum um 1470 ziemlich genau die Mitte jener Zeit markiert, in der das Madrigal kaum gepflegt wird. Mandrialis Cantati meco, inamorati augelli, / poiché vosco a cantar Amor me invita; / e voi, bei rivi e snelli, / per la piagia fiorita / teneti a le mie rime el tuon suave. // La beltà de che io canto è sì infinita / che il cor ardir non have / pigliar lo incargo solo, / ché egli è debole e stanco, e il peso è grave. // Vagi augelleti, voi ne giti a volo / perché forsi credeti / che il mio cor senta dolo, / e la zoglia che io sento non sapeti. // Vaghi augeleti, odeti: / che quanto gira

9 Vgl. Kurt von Fischer, Gianluca D’Agostino, James Haar: Art. ›Madrigal‹. In: Stanley Sadie (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians. London 2001, Bd. 15, S. 545: »There is no connection between the 14th- and the 16th-century madrigal other than that of name.« Vgl. auch Dorothea Baumann, James Haar: Art. ›Madrigal‹. In: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Kassel 1998, Bd.  5, S.  1542–1569; Alfred Einstein: The Italian Madrigal, Princeton/ New Jersey 1949. Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969 (Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst; 7).



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in tondo / il mare e quanto spira zascun vento, / non è piacer nel mondo / che aguagliar se potesse a quel che io sento.10

Wir können uns hier nicht mit dem Inhalt des Textes befassen; es soll vielmehr (wie gesagt) um die Metrik gehen. Hier ist Folgendes festzuhalten: Die vier Teile der Binnengliederung dieses Madrigals sind völlig unterschiedlich gebaut, sowohl was die Verteilung der Lang- und Kurzverse als auch was die Verszahlen und die Reimordnung betrifft. Im Gegensatz zum stollensymmetrischen Trecentomadrigal würde ein solches Gedicht keine Wiederholung eines musikalischen Abschnittes erlauben. Man kann das damit erklären, dass der genaue Bau eines Madrigals einfach nicht mehr allgemein bekannt war. Oder man könnte vermuten, der Abbau der Stollensymmetrie des Madrigals stehe in Zusammenhang mit der seit Petrarca zu konstatierenden Tendenz zur Reduktion von Symmetrien im Abgesang der Canzonenstrophe (die in einer genetisch begründeten Äquivalenzrelation zum Madrigal steht). In jedem Fall wird die Form weniger symmetrisch, steht aber noch in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den klassischen Prätexten. Dies gilt es im Auge zu behalten. Gehen wir 35 Jahre weiter, zur Erstausgabe der Asolani von Pietro Bembo im Jahre 1505. Noch bevor es zu den das Buch hauptsächlich einnehmenden drei Dialogen über die Natur der Liebe im Garten der Königin von Zypern zu Asolo kommt, erleben die Leser dieses Buches eine gattungspoetologisch interessante Musikszene nach dem königlichen Bankett. Zunächst treten zwei Hofdamen auf, die mit Lautenbegleitung jede ein Lied singen. Dann tritt die Lieblingsdame der Königin vor und trägt mit Begleitung einer Streichviella ein weiteres Vokalstück vor. Und nun heißt es im Text, dieses neue Lied habe so sehr gefallen, dass die anderen beiden im Vergleich dazu wie erloschene und erkaltete Kohlen wirkten. Ich gebe die drei Texte in der innerfiktionalen Reihenfolge ihres Erklingens wieder: 1. Io vissi pargoletta in festa e ’n gioco, / De’ miei pensier, di mia sorte contenta: / Or sì m’afflige Amor e mi tormenta, / Ch’omai da tormentar gli avanza poco. // Credetti, lassa, aver gioiosa vita / Da prima entrando, Amor, a la tua corte; / E già n’aspetto dolorosa morte: / O mia credenza, come m’hai fallita. // Mentre ad Amor non si commise ancora, / Vide Colco Medea lieta e secura; / Poi ch’arse per Iason, acerba e dura / Fu la sua vita infin a l’ultim’ora. 2. Io vissi pargoletta in doglia e ’n pianto, / De le mie scorte e di me stessa in ira: / Or sì dolci pensieri Amor mi spira, / Ch’altro meco non è che riso e canto. // Arei giurato, Amor, ch’a te gir dietro  / Fosse proprio un andar con nave a scoglio;  / Così là ’nd’io temea danno e cordoglio, / Utile scampo a le mie pene impetro. // Infin quel dì, che pria la punse Amore, /

10 Matteo Maria Boiardo: Amorum libri tres. Hg. von Tiziano Zanato. Turin 1998. I, 8.

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Andromeda ebbe sempre affanno e noia; / Poi ch’a Perseo si diè, diletto e gioia / Seguilla viva, e morta eterno onore. 3. Amor, la tua virtute / Non è dal mondo e da la gente intesa, / Che, da viltate offesa, / Segue suo danno e fugge sua salute. / Ma se fosser tra noi ben conosciute / L’opre tue, come là dove risplende / Più del tuo raggio puro, / Camin dritto e securo / Prenderia nostra vita, che no ’l prende, / E tornerian con la prima beltade / Gli anni de l’oro e la felice etade.11

Was macht das dritte Stück so viel attraktiver als die anderen beiden? Obwohl es dafür im Rahmen der Bedeutungsökonomie der Asolani auch einen gewichtigen inhaltlichen Grund gibt,12 scheint mir hier ein Blick auf die Metrik interessant, denn erstens wird auf der Handlungsebene der umgebenden Prosa eher ästhetisch als inhaltlich argumentiert und zweitens haben die beiden abgeschlagenen Darbietungen etwas gemeinsam, das sie genau von dem siegreichen Lied unterscheidet: Die ersten beiden Texte sind strophisch und insofern auf Wiederholungssymmetrien hin angelegt. Das siegreiche Stück sieht hingegen recht asymmetrisch aus. Es handelt sich um eine vereinzelte Canzonenstrophe. Ihr Aufgesang lässt sich noch in Stollen einteilen, wenngleich das Reimschema zur Symmetrie der Verslängen quer läuft. Der Abgesang ist nicht mehr symmetrisch teilbar. Am Ende steht ein Paarreim wie er in der Theorie der Canzone als Combinatio bekannt ist. Aus dieser Form entwickelt sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts die neue Gattung des Cinquecento-Madrigals. Dabei wird auch noch die potentielle Symmetrie der ersten Hälfte aufgegeben. Heraus kommt ein metrisch völlig freies Gebilde aus Elf- und Siebensilblern mit freiem Reimschema, das sogar Waisen enthalten darf; am Ende steht meist weiterhin ein Paarreim. Dies ist aber im Lichte des oben Ausgeführten wiederum nicht völlig unerwartet, denn einen Abbau der Symmetrie finden wir bereits in dem Gedicht von Boiardo. Und in diesem Zusammenhang möchte ich nochmals kurz auf das anfangs analysierte Zitat aus Bembos Prose della volgar lingua zurückkommen. Wenn Bembo dort die Freiheit des Madrigals betont, dann denkt er an diese neue Form, die er selbst nicht nur durch die Asolani befördert hat, sondern vermutlich auch durch seinen bislang noch nicht ganz erforschten Anteil an der Entwicklung des Madrigals in seinen römischen Jahren am Hof Leos X. Aber er möchte an der zumindest durch den Namen (aber, wie wir nun wissen, auch durch eine gewisse Durch11 Pietro Bembo: Prose e Rime. Hg. von Carlo Dionisotti. Turin 1960. S. 318–319. 12 Die drei Lieder fassen im Sinne einer mise en abyme die Positionen der drei dann folgenden Dialoge über die Liebe zusammen, die ersten beiden die letztlich abgewerteten Positionen der Schmerzliebe und der sinnlichen Liebe, das dritte im Gegensatz dazu die durch die Inszenierung des Dialoges (Bericht über Gespräch mit einem ehrwürdigen Eremiten, Anwesenheit der Königin) autorisierte Konzeption der neuplatonischen Liebe.



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gängigkeit der Entwicklung) suggerierten Kontinuität zwischen der alten und der neuen Gestalt festhalten. Springen wir von hier zur voll entwickelten Madrigalform der Spätrenaissance. Als Beispiel soll ein Madrigal aus der Feder von Torquato Tasso dienen. Auch hiervon existiert eine berühmte Vertonung – von Claudio Monteverdi. Ecco mormorar l’onde, / e tremolar le fronde / a l’aura mattutina, e gli arboscelli, / e sovra i verdi rami i vaghi augelli / cantar soavemente, / e rider l’Oriente; / ecco già l’alba appare, / e si specchia nel mare, / e rasserena il cielo, / e le campagne imperla il dolce gelo, / e gli alti monti indora: / O bella e vaga Aurora, / l’aura è tua messaggera, e tu de l’aura / ch’ogni arso cor ristaura. [Siehe wie die Welle murmelt / und die Blätter zittern zum morgendlichen Lufthauch, und die Bäumchen, / und wie auf den grünen Zweigen die anmutigen Vögel süß singen, / und wie der Osten lacht; / siehe, schon erscheint die Morgendämmerung und spiegelt sich im Meer / und erheitert wieder die Himmel, und die Gefilde beperlt der süße Tau, / und vergoldet die hohen Berge: / O schöne und anmutige Morgenröte, / der Lufthauch (Laura) ist deine Botin und du des Lufthauchs (Lauras), / der (die) jedes brennende Herz erfrischt.]13

Auch Tasso besingt eine Laura und kann sich aufgrund dieser günstigen Namenskonstellation ähnliche Wortspiele erlauben wie Petrarca  – und damit zugleich seine Position gegenüber diesem Musterautor der Dichtung bestimmen. Das Raffinement dieses Cinquecento-Madrigals besteht neben den Klang- und Wortspielen in einem Spiel mit Analogie und Kontiguität. Die Morgendämmerung spiegelt sich im Meer – hier herrscht Analogie zwischen Urbild und Spiegelbild. Der Lufthauch ist Bote der Morgenröte: Hier herrscht eine metonymische Beziehung. Aber diese Botenbeziehung ist auch umkehrbar, die Morgenröte ist auch Botin des Lufthauchs. Dadurch entsteht wieder eine Analogie zwischen den je füreinander einstehenden Wesen: Die Morgenröte ist wie der Lufthauch und der Lufthauch ist wie die Morgenröte, weil ja jeder das Boten-Amt des anderen übernehmen kann. Aber wir wissen auch, dass der Lufthauch auf der Ebene des Signifikanten, l’aura, zugleich identisch ist mit der Dame, die in dem Gedichtzyklus besungen wird: Laura (übrigens eine Sängerin im Konzert der Hofdamen zu Ferrara; Lorenz Welker hat darauf hingewiesen, dass Monteverdis Komposition vielleicht auf diesen Umstand Bezug nimmt14). Und insofern, als der Lufthauch auch die Dame Laura ist, ist diese Dame selbst die Botin der Morgenröte, der AurORa (diese ist Aura + oro, also Luft und Gold – letzteres Element wird durch den Ausdruck

13 Torquato Tasso: Aminta e Rime. Hg. von Francesco Flora. Turin 1976. Bd. I. S. 130. Übersetzung: F.M. 14 Lorenz Welker: Monteverdi, Tasso und der Hof von Mantua: Ecco mormorar lʼonde (1590). In: Archiv für Musikwissenschaft 53, 3 (1996), S. 194–206.

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indora relevant gemacht); aber auch die Morgenröte ist die Botin der Dame, und die Dame ist der Göttin Aurora aufgrund dieser Reziprozität ebenso analog wie es der Lufthauch war. Der letzte Paarreim gewinnt daraus die Pointe, dass nicht nur der Lufthauch jedes brennende Herz erfrischt  – aufgrund seiner Temperatur – sondern dass auch die Dame die brennenden Herzen erfrischt – vermutlich durch ihren Anblick, von dem man freilich systemimmanent annehmen muss, dass er das Brennen der Herzen ebenso sehr auch befördert. Andreas Kablitz hat gezeigt, dass in diesem Madrigal im Vergleich zu seinem primären Referenztext, Petrarcas Sonett 119, Aurora ihre mythische Identität verliert. Stattdessen wird sie Bestandteil einer Landschaftsevokation, die mit dem mehrmaligen Ecco auf Präsenzeffekte zu zielen scheint. Zugleich wird über den Verlauf der Vokalfarben von dunklen Os zu hellen Es und Is der Sonnenaufgang auch klanglich evoziert.15 Gerhard Regn hat darauf hingewiesen, dass diesem Gedicht in Tassos eigener poetologischen Reflexion der Status einer mustergültigen Realisation lyriktypischer Semantik zukommt, denn für Tasso ist die Lyrik unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass in ihr bestimmte Konzepte oder Motive vorkommen – dass der Gegenstand also durch eine bestimmte Auswahl des Wirklichkeitsausschnitts oder durch Tropen auf diese lyriktypische Semantik hin perspektiviert wird.16 Diese lyriktypische Semantik ist nun nach Tasso eine solche der frohen Wälder, der Hirtenliebe, der Blumen und ähnlicher Dinge: also eine Menge, die die für das Trecento-Madrigal so typische bukolische Semantik als Teilmenge in sich begreift. Wichtig sind hier zwei Dinge: Erstens ist dies nicht mehr die spezielle (etwa bukolische) Semantik des Madrigals, sondern dies gilt nach Tasso für Lyrik überhaupt. Auch außerhalb von Tassos Schaffen ist das Madrigal nicht mehr durch spezielle Inhalte von anderen lyrischen Gattungen unterschieden. Die Semantik hat nicht mehr die Funktion, die medialen Ursprünge der Gattung im Gegensatz zu anderen aufzubewahren, zumal dieser Gegensatz  – wie wir wissen  – nicht mehr medial definiert ist. Zweitens: Das Bukolische wird nicht mehr wie bei ­Petrarca den Gegenständen als eine allegorische Maske aufgesetzt; wir müssen nicht suchen, wer gemeint ist und was der tiefere, etwa moralische Sinn der Erwähnung des Aurora-Mythos sein könnte, sondern wir erfassen unmittelbar die uns vor Augen gestellte morgendliche Landschaft und die Stellung der Dame darin. Die Semantik des Madrigals ist nun also im Unterschied zu Petrarcas Usus 15 Andreas Kablitz: Petrarkismus. Einige Anmerkungen zu einer Debatte über seinen Status (diskutiert an einem Beispiel aus Tassos Lyrik). In: Romanistisches Jahrbuch 55 (2004), S. 104– 120. 16 Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Parte prima der Rime (1591/1592). Tübingen 1987 (Romanica Monacensia; 25), S. 241.



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allgemein lyriktypisch und dabei nicht mehr speziell auf Allegorese ausgerichtet. Wenn man sich die Musik anhören würde, so würde man feststellen, dass die Vertonung ebenfalls eine Technik der Veranschaulichung anwendet. So gibt es in ihr klangliche Darstellungen – etwa wird das Wort mormorar durch eine tief liegende, stark rhythmische Figur auf einem Ton nachgebildet (ein musikalisches Murmeln). Es gibt darüber hinaus so etwas wie ein Präsentwerden des Singens, indem auf dem Wort cantar ein Melisma, eine Koloratur, eingeführt wird: die Stimme tut in diesem Falle, wovon sie spricht, und zeigt darauf. Die vielen Möglichkeiten solcher Umsetzung von Semantik hat die Musikwissenschaft gerade bei diesem Stück umfassend aufgezeigt; sie können hier außer Acht bleiben. Auch kann hier nicht die spannende Frage diskutiert werden, ob diese Techniken im Sinne eines rhetorischen Vor-Augen-Stellens oder im Sinne einer mimetischen Poetik – oder gar im Sinne eines barocken Analogismus zu interpretieren sind. Ich möchte vielmehr ein anderes, vielleicht banaleres Strukturelement erwähnen: Jeder musikalische Gedanke wird in einer solchen Komposition über eine gewisse Strecke hinweg ausgeführt, oft durch mehrere Stimmen hindurch, ein Gedanke nach dem anderen. Was es hier nicht gibt (und was in der Madrigalmusik des sechzehnten Jahrhunderts überhaupt eine vernachlässigbare Rolle spielt), ist die Möglichkeit, einen ganzen Abschnitt zu wiederholen oder gar mehrere Stollen oder Strophen auf exakt die gleiche Musik zu singen. Die Musikwissenschaft lehrt uns, dass Wiederholungen ganzer Abschnitte eher zu den niederen, einfachen Formen gehören und dass die raffinierte Musik, die seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts von Vertretern der frankoflämischen Schule nach Italien gebracht wird, im Gegensatz dazu einer Varietas-Ästhetik gehorcht. Wie diese Ästhetik der Abwechslung mit ihrer Tendenz zur Verselbständigung musikalischer Gedanken sich zu einer Poetik der Einheit verhält, hat Hartmut Schick erforscht.17 Es drängt sich literarhistorisch betrachtet sofort der Eindruck auf, dass das nicht mehr stollensymmetrisch gegliederte, in sich ganz unregelmäßige Cinquecento-Madrigal die ideale Versgattung für einen solchen Stil ist: Die neue Metrik steht so gesehen in engem Zusammenhang mit der neuen musikalischen Praxis. Aber die Musikdrucke des sechzehnten Jahrhunderts, auf denen Madrigali steht, enthalten beileibe nicht nur solche asymmetrischen Cinquecento-Madrigale, sondern auch Sonette, Oktaven, Canzonen und Sestinen. Sie alle werden aber musikalisch so behandelt, als wären sie CinquecentoMadrigale: Mehrstrophigkeit wird getilgt, Stollensymmetrien werden nivelliert. Die in sich asymmetrische Versgattung des Cinquecento-Madrigals übernimmt

17 Vgl. Hartmut Schick: Musikalische Einheit im Madrigal von Rore bis Monteverdi. Phänomene, Formen und Entwicklungslinien. Tutzing 1998 (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft; 18).

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die terminologische und formale Führungsrolle in einem gleichförmigen Feld von Text-Musik-Kombinationen, in denen auch die Techniken der Semantisierung von Musik durchgehend Verwendung finden. Der Madrigalstil nivelliert die Gattungen. Dem entsprechend entfällt sowohl die Motivation, die mediale Spezifik des Madrigals in bukolischer Semantik abzubilden als auch die Notwendigkeit, etwaige Widersprüche zwischen niedriger Bukolik und ästhetischem Raffinement durch Allegorisierung des Pastoralen zu überbrücken. Bembos Versuch, das Trecento-Madrigal als Sonderfall des Cinquecento-Madrigals zu erklären, verhüllt also eine tiefgreifende historische Veränderung. Diese Veränderung führt auch zu hermeneutischen Problemen. Dies möchte ich abschließend an einem Detail der Rezeptionsgeschichte des ersten der hier betrachteten Madrigale, Petrarcas Non al suo amante, zeigen. In einem gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts für einen oberitalienischen Fürstenhof illustrierten und glossierten Exemplar der Editio Princeps von Petrarcas Canzoniere sieht die Szene der Schleierwaschung am Bach aus wie in Abb. 2 zu sehen. Rechts unten sehen wir eine waschende Frau, an der drei Details wichtig sind: Erstens trägt sie selbst einen Schleier und wäscht einen zweiten: der gewaschene ist also nicht ihr Schleier. Zweitens trägt sie eine Schürze und ist drittens barfuß; die beiden letzten Details sind als Indizien sozialer Geringerstellung einzustufen. Aus den beigegebenen Glossen erfahren wir denn auch, dass nicht etwa Madonna Laura selbst den Schleier wüsche, sondern eine Dienerin derselben. Dies ist die Auflösung des Ausdrucks »pastorella alpestra e cruda«: Die Dame hält sich eine Hirtin als Dienerin. Bereits im späten Quattrocento konnte man sich also nicht mehr vorstellen, dass Laura selbst hier unter der allegorischen Maske einer Hirtin auftritt, um überhaupt Zugang zu diesem speziellen lyrischen Genre zu erhalten. Die Hirtin wird daher als zusätzliche Figur auf der histoire-Ebene eingeführt. Dieses Deutungsproblem bleibt dem Gedicht übriges erhalten, von Filelfos Quattrocento-Kommentar bis hin zum großen Kommentar Vellutellos aus dem Publikationsjahr von Bembos Prose, 1525, und in gewisser Weise bis hinein in die heute führende kommentierte Edition von Marco Santagata.18 Laura wird

18 Vgl. die Kommentare in den Ausgaben: Francesco Petrarca: Petrarcha con doi commenti sopra li Sonetti et Canzone el primo del ingeniosissimo Francesco Philelpho, laltro de sapientissimo Misser Antonio da Tempo. Venetia 1522. Francesco Petrarca: Le volgari opere del Petrarcha con la esposizione di Alessandro Vellutello da Lucca. Stampati in Vinegia per Giovanniantonio et fratelli Da Sabbio, 1525. Für den modernen Kommentar Santagatas vgl. Petrarca (Anm. 7). Bei Vellutello wird dieses Madrigal ganz aus dem Laura-Zyklus herausgenommen und in einen – von Petrarcas Manuskripten, wie wir sie kennen, nicht legitimierten – Anhang verlegt. Vellutello spekuliert, Petrarca zeige hier eine Szene aus seiner Reise aus der Provence nach Italien, als er die Liebe zur schönen Laura aus der Vaucluse bereits hinter sich gelassen habe. Dabei habe er beim Übergang



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Abb. 2: Francesco Petrarca: [Rime] [Venezia]: Vindelinus [de Spira] 1470. Illuminiertes Expl: Inc. Quer. G.  V. 15, Illustration Antonio Grifo zugeschrieben, Bl. 21v., 22r.

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in den Kommentaren, die nicht mehr in der performativen Praxis des Trecento wurzeln, unter ihrer Hirtinnenmaske nicht mehr erkannt. Die Veränderung der intermedial bestimmten Gattungsidentität hat Folgen für den Deutungshorizont, in dem das Gedicht gelesen wird: Die diffizile Verbindung von bukolischer Maske und polyphoner Performanz gerät in Vergessenheit, und dadurch entfällt die Disposition zur Allegorese, die ursprünglich die Rezeption eines solchen intermedialen Kunstwerks bestimmte. Intermedialität ist mithin bereits innerhalb der Frühen Neuzeit zu historisieren.

über die Alpen (alpestra) in der Tat ganz wörtlich eine Hirtin (pastorella) beim Waschen ihres Schleiers beobachtet (ob Hirtinnen Schleier tragen, wird nicht diskutiert). Und angesichts dieses Anblicks habe sich das Ich gewünscht, es möge noch einmal den Schleier auf Lauras goldenem Haar betrachten können. Auch Santagata bezweifelt, dass der Ausdruck pastorella auf Laura referiert, obwohl der Zykluskontext einen unmarkierten Referenzwechsel dieser Art m.  E. kaum zulässt.

Nicola Gess

»L’opéra est un spectacle« (Voltaire): Zur Intermedialität der tragédie en musique Ist das Theater ein Medium? Je nachdem, welchen Medien- und welchen Theaterbegriff man in Anschlag bringt, lässt sich diese Preisfrage der Gesellschaft für Theaterwissenschaft aus dem Jahr 2006 unterschiedlich beantworten.1 Greift man zum Beispiel auf Friedrich Kittlers technikgeschichtlich geprägten Medienbegriff zurück, ist das Theater selbst nicht als Medium zu verstehen, wohl aber der Einsatz diverser Medien (z.  B. Video- und Audiotechnik) auf der Bühne zu diskutieren, wie dies in der jüngeren Theaterwissenschaft unter dem Stichwort der Intermedialität auch häufig geschehen ist. Greift man aber auf Werner Wolfs Intermedialitätstheorie zurück, die unter dem Begriff des Mediums ein »konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv« versteht,2 so muss man auch das Theater, das populärwissenschaftlich als »szenische Darstellung eines inneren und äußeren Geschehens als künstlerische Kommunikation zwischen Akteuren (Darstellern) und dem Publikum« bestimmt wurde,3 als ein Medium behandeln. Aus der oben genannten Preisfrage ist ein voluminöser Band hervorgegangen, der eine kaum überschaubare Vielzahl widersprüchlicher Antworten versammelt, die die Notwendigkeit einer begrifflichen wie historischen Spezifizie-

1 Vgl. Andreas Kotte: Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat. Über Fortschritte der Medien und Wandlungen von Theater. In: Henri Schoenmakers, Stefan Bläske u.  a. (Hgg.): Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008, S. 31–41, hier S. 40. 2 Werner Wolf: Intermedialität und mediale Dominanz. Typologisch, funktionsgeschichtlich und akademisch-institutionell betrachtet. In: Uta Degner, Norbert Christian Wolf (Hgg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010, S. 241–259, hier S. 241. 3 Online: http://de.wikipedia.org/wiki/Theater (Stand: 07. 12. 2016). Anmerkung: Der vorliegende Aufsatz hat sehr profitiert vom Austausch mit den Mitgliedern des NCCR eikones-Bildkritik der Universität Basel, insbesondere mit Dominika Hens, Annette Kappeler und Irina Kaldrack, denen ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Er wurde im Sommer 2012 verfasst; da seitdem einige Zeit vergangen ist, sind einige Gedanken bereits in anderen meiner Texte in weiter entwickelter Form publiziert worden, so insbesondere in: Nicola Gess, Tina Hartmann: Barocktheater als Spektakel. Eine Einführung. In: N.  G., T.  H., Dominika Hens (Hgg.): Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Regime. München 2015, S. 9–40. DOI 10.1515/9783110521788-006

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rung der Problematik demonstrieren. Mir geht es in diesem Aufsatz darum, ein Verständnis der französischen tragédie en musique als ›intermedial‹ zu konturieren und den Charakter dieser Intermedialität in der Auseinandersetzung mit historischen Positionen einerseits und der gegenwärtigen theaterwissenschaftlichen Debatte andererseits zu bestimmen, für die exemplarisch ein Aufsatz von Kati Röttger aus dem genannten Sammelband herangezogen wird,4 in dem sie sich mit medientheoretischen Positionen von Sybille Krämer und Erika FischerLichte auseinandersetzt.5 Die beiden oben genannten Medienbegriffe lassen sich heute sowohl für das Sprechtheater als auch für das Musiktheater in Anschlag bringen. In der Frühzeit der Oper sieht das jedoch anders aus. Im 17. Jahrhundert gibt es noch keine Konvention, die die Oper als distinktes, d.  h. von anderen Theaterformen unterschiedenes ›Kommunikationsdispositiv‹ begreifen würde. In Frankreich etwa wird die tragédie en musique von manchen Kritikern viel eher als skandalöse Verirrung der klassischen Tragödie verstanden. So nennt Rémond de Saint-Mard in den Réfle­ xions sur l’opéra die Oper ein »monströses Schauspiel«, monströs insofern es sich dabei um eine »von Anfang bis Ende in Musik gesetzt[e] [Tragödie]« handle.6 Auch andere Abweichungen von der Tragödiennorm beklagen die Kritiker, so vor allem eine auf visuelle Opulenz und Vielfalt ausgerichtete und darum häufig unmotivierte, ungeordnete und unwahrscheinliche Handlung.7 Die Oper wird also, das

4 Kati Röttger: Intermedialität als Bedingung von Theater: methodische Überlegungen. In: Schoenmakers, Bläske u.  a. (Anm. 1), S. 117–124. 5 Dabei handelt es sich insbesondere um folgende Texte: Erika Fischer-Lichte: Was verkörpert der Körper des Schauspielers? In: Sibylle Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004, S. 141–162; Sibylle Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität und Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.  M. 2002, S. 323–346; Sibylle Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.  M. 2003, S. 78–90. 6 »Mais quel monstre qu’une Tragédie mise en Musique d’un bout à l’autre?«. Toussaint Rémond de Saint-Mard: Réflexions sur l’opéra (Den Haag 1741, facsimile). Genf 1972, S. 11–12. Vgl. zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik: Nicola Gess: Oper des Monströsen – Monströse Oper. Zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik des 18.  Jahrhunderts. In: Achim Geisenhanslücke, Georg Mein (Hgg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S.  655–667, hier S.  656. Andere waren allerdings auch der Meinung, dass die Oper die Vorgaben der Tragödie vorbildlich erfülle (vgl. Herbert Schneider: Die Rezeption der Opern Lullys im Frankreich des Ancien Régime. Tutzing 1982, S. 260). Vorherrschend wird die Haltung, die Sprechtragödie als Ideal zu sehen, von der die Oper eine Abweichung darstellt, vor allem im Lauf des 18. Jahrhunderts. 7 Vgl. dazu ebenfalls im Detail Gess (Anm. 6), S. 655.



»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 

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zeigen diese Einschätzungen, noch nicht als eigenes Medium behandelt, sondern in den Blick rückt ihre illegitime Kombination unterschiedlicher Kommunikations- und vor allem auch Wahrnehmungsdispositive: des Mediums der tragédie classique (deren Idealtypus, folgt man Bettine und Christoph Menke, weniger das Schauspiel denn das Lesedrama war8), der Musik, des Tanzes und des höfischen Festes. Nicht in Kittlers sondern in Wolfs Sinne kann man die französische tragédie en musique also als intermediale Kunstform verstehen: intermedial, weil sie in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen unterschiedliche Kommunikations- und Wahrnehmungsdispositive vereint.

1 Intermedialität als Spektakel Diese Intermedialität der tragédie en musique wird von vielen Zeitgenossen mit dem Begriff des Spektakels verbunden, ob im Sinne einer negativen Bewertung oder später im Sinne des Versuchs, das Charakteristische der neuen Kunstform zu definieren und zu validieren. Louis de Jaucourt schreibt im Artikel »Opéra« in der Encyclopédie: Diese offensichtliche Regellosigkeit [der Sujets der Balletteinlagen] läßt vermuten, dass die Bezeichnung ›dramatisches Gedicht‹ nicht für die Oper passt, und man würde sich viel exakter ausdrücken, wenn man sie ›spectacle‹ nennen würde; denn es scheint so, als ob es einem wichtiger wäre die Augen und die Ohren zu entzücken als den Geist zu befriedigen.9

Im Vordergrund steht hier nicht ein intellektueller Lustgewinn, sondern die Oper als Spektakel richtet sich  – dem ursprünglichen Wortsinn von Spektakel als Schau-Spiel und Augenweide getreu – zunächst einmal an die Schaulust des Betrachters und sucht diese durch eine Überfülle visueller Reize und ein neuartiges Bühnengeschehen zu befriedigen. Innig verbunden ist sie deshalb dem merveilleux, das in Jaucourts Definition gleichfalls auftaucht. Hält es sich an die Grenzen der vraisemblance, präsentiert es dem staunenden Zuschauer groß­

8 Bettine u. Christoph Menke: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen. In: B. u. C.  M. (Hgg.): Tragödie, Trauerspiel, Spektakel. Berlin 2007, S. 6–15. 9 »Cette irrégularité si palpable fait penser que le nom de poëme dramatique ne convient pas à l’opéra, & qu’on s’exprimeroit beaucoup plus exactement en l’appellant un spectacle: car il semble qu’on s’y attache plus à enchanter les yeux & les oreilles, qu’à contenter l’esprit.« Jaucourt: »Opéra«. In: Denis Diderot, Jean d’Alembert (Hgg.): Encyclopédie des sciences, des arts et des métiers. Paris 1751–1780. Bd. 11, S. 494. Zit. nach Béatrice Didier: La musique des Lumières. Paris 1985, S. 248.

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artige Architektur, exotische Landschaften, Vulkanausbrüche und Überschwemmungen, überschreitet es – wie meistens – deren Grenzen, sieht er Götter vom Himmel schweben, böse Zauberer in Feuerwagen vorbei brausen, Dämonen aus der Hölle steigen und magische Verwandlungen vor sich gehen (siehe als ein Beispiel: Abb. 1).10 Dass mit dem spektakulären merveilleux auf eine Lust der Augen gezielt wird, zeigen auch schon Pierre Corneilles Überlegungen zu seiner Proto-Oper Andromède. Sie gehört zur Gattung der sogenannten pièce à machines, die in Frankreich der Etablierung der tragédie en musique unmittelbar vorausgehen und vor maschinellem Spektakel des Wunderbaren nur so strotzen. Corneille betont, dass es in Andromède primär darauf ankomme, dem Auge etwas zu bieten, »nicht aber, den Geist zu bewegen durch die Kraft der Gedanken oder das Herz zu rühren durch die Delikatesse der Passionen.«11 Und er notiert entsprechend zu den Dekorationen des ersten Aktes, dass hier, bevor die Handlung einsetze, zunächst einmal »dem Auge Muße gelassen« werden müsse, »sich im Betrachten ihrer Schönheiten [der »wundervollen Paläste«, aber auch der Perspektive, die hier »bewundernswert« eingesetzt werde] Genüge zu tun«.12 Die Augen-Lust wird in der französischen tragédie en musique komplementiert durch eine Verzückung der Ohren. Zum intermedialen Spektakel gehört eine Musik, die den Zuhörern sinnliche Lust bescheren (etwa durch eingängige Melodien), sie überwältigen (z.  B. durch schiere Lautstärke) und durch ihre Kunstfertig-

10 Auch dieses merveilleux wird jedoch zunächst noch häufig als mit einer vraisemblance der Oper vereinbar gesehen. Im Universum der tragédie en musique des 17.  Jahrhunderts geht es nicht um eine vraisemblance im Sinne naturwissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, sondern im Sinne geordneter Sphären und geregelter Abläufe. So widerspricht es den vraisemblance-Regeln nicht, dass ein Gott auf einer Wolke herabsinkt, es widerspräche denselben aber, wenn derselbe Gott sich den Regeln der menschlichen Fortbewegung anpassen und die Bühne zu Fuß betreten würde (vgl. dazu etwa Catherine Kintzler: L’opéra, révélation et trahison du théâtre. In: Ronald Tobin (Hg.): Racine et/ou le classicisme. Tübingen 2001, S. 73–92). Das ändert sich im 18. Jahrhundert (vgl. dazu etwa Rousseaus Opernkritik, auf die unten noch einzugehen sein wird). 11 »[P]arce que mon principal but ici était de satisfaire la vue par l’éclat et la diversité du spectacle, et non pas de toucher l’esprit par la force du raisonnement, ou le coeur par la délicatesse des passions«. Pierre Corneille: Andromède Argument. In: P.  C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen 1984–1986. Bd. 2, S. 501–503, hier S. 502. Deutsch zit. aus Margret Dietrich: Der Barocke Corneille. Ein Beitrag zum Maschinen-Theater des 17. Jahrhunderts. In: Maske und Kothurn 4 (1958), S. 199– 219 u. S. 316–345, hier S. 212. 12 »Les deux côtés et le fond du théâtre sont des palais magnifiques, tous différents de structure, mais qui gardent admirablement l’égalité et les justesses de la perspective. Après que les yeux ont eu le loisir de se satisfaire à considérer leur beauté […].« Pierre Corneille: Andromède. In: P.  C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen 1984–1986. Bd. 2, S. 510–560, hier S. 513. Deutsch zit. aus Dietrich (Anm. 11), S. 214.



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Abb. 1: Jean Dolivar nach Jean Bérain: Zerstörung des Tempels. Bühnenbild zu Jean-Baptiste Lullys Armide (Paris 1686). In: Philippe Quinault: Armide, Tragédie en musique […]. Paris 1686, [Frontispiz, o.S]. Bibliothèque nationale de France, Signatur: P16–EGC-686.

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keit (etwa durch virtuosen Gesang und kompositorisches Können) in Erstaunen versetzen soll. Als akustisches Pendant zum visuellen Spektakel auf der Bühne werden zum Beispiel gern und ausgiebig musikalische Unwetter komponiert, die zuverlässig die beiden zuletzt genannten Wirkungen hervorrufen. So beeindruckte Marin Marais’ Oper Alcyone, die 1706 in Paris uraufgeführt wurde, die Zeitgenossen besonders durch das Unwetter im vierten Akt: Marais stellte sich vor, die Basspartien seines Unwetters nicht nur wie gewöhnlich auf den Fagotten und den Bassgeigen spielen zu lassen, sondern auch auf wenig gespannten Trommeln, welche, kontinuierlich rollend, einen dumpfen und düsteren Klang erzeugen, der begleitet von hohen, durchdringenden Tönen der Chanterelle der Geigen und der Oboen, das aufgewühlte Meer und den wütenden Wind, der braust und pfeift, sprich ein echtes und tatsächliches Unwetter fühlen lässt.13

Auch Jean-Baptiste Lullys Alceste ou Le Triomphe d’Alcide (1674) wurde für den Meeressturm am Ende des ersten Akts berühmt sowie ebenfalls Philippe Rameaus Platée (1745), die gleich zwei Stürme im ersten Akt enthielt, und in England lobte Joseph Addison Georg Friedrich Händels Rinaldo (1711/1731): »Die Oper Rinaldo schwelgt in Donner und Blitz, Illumination und Feuerwerk«.14 Unterstützt wird das musikalische Unwetter häufig durch einen der berühmtesten und langlebigsten Effekte des Maschinentheaters, den künstlichen Donner, der die Zuhörer zusammenschrecken lässt und dessen Erzeugung in den Barocktraktaten zum Maschinentheater ausführlich erörtert wird.15

13 »Marais imagina de faire exécuter la partie de la basse de sa tempête, […] non seulement par les bassons et les basses de violons à l’ordinaire, mais encore sur des tambours peu tendus, qui, roulant continuellement, forment un bruit sourd et lugubre, lequel, joint à des tons aigres et perçants sur le haut de la chanterelle des violons et sur les hautbois, fait sentir ensemble toute la fureur d’une mer agitée et d’un vent furieux qui gronde et qui siffle, enfin d’une tempête réelle et effective.« Évrard Titon du Tillet: Le Parnasse françois. Paris 1736, S. 626. Zit. aus Carl Mennicke: Hasse und die Brüder Graun als Symphoniker. Hildesheim 1977, S. 263. 14 »[T]he opera of Rinaldo is filled with thunder and lightning, illuminations and fire-works.« Joseph Addison: The Spectator. London 1711. Bd. 1, S. 106. Zit. bei Hans G. Nicklaus: Opern des Barock als technisches Spektakel. In: Frühneuzeit-Info 14 (2003), H. 1, S. 40–46, hier S. 40. 15 Zum Beispiel: Nicolo Sabbatini: Pratica di fabricar scene e machine né teatri. Ravenna 1638. Dt: Nicolo Sabbatini: Anleitung, Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen. Übers. von Willi Flemming. Weimar 1926. Joseph Furttenbach: Mannhafter Kunst-Spiegel, oder Continuatio, und fortsetzung allerhand Mathematisch- und Mechanisch-hochnutzlich sowohl auch sehr erfrölichen delectationen, und respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten. Augsburg 1663. Zur Geschichte und Ästhetik des Theaterdonners und des Donners seit der Antike vgl. Florian Nelle: Theaterdonner – Geräusch und Illusion um 1800. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Tübingen 2002, S. 493–506.



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Solche akustischen Spektakel ergänzen das visuelle Spektakel aber nicht nur wie der Donner den Blitz, sondern sie gehorchen auch selbst einem visuellen Paradigma, insofern sie darauf basieren, die Musik bestimmte Phänomene »malen« zu lassen. Spektakulär ist für die Zeitgenossen daher nicht nur der Gegenstand der Malerei, hier das Unwetter, sondern die musikalische Malerei als solche, insofern sie ein über das Hören vermitteltes Abbild, sozusagen einen akustischen Augenschmaus liefert. Das war der Grundgedanke des Prinzips der musikalischen Malerei, die dem visuellen Medium als ihrem Modell verpflichtet blieb: Musik sollte äußere Gegenstände abbilden, wie es die Malerei auch tat; und gelang dies dem Komponisten besonders gut oder in Bezug auf besonders ungewöhnliche Gegenstände, so wurde das Ergebnis bestaunt und der Komponist für seine Kunstfertigkeit bewundert.16 Eine dritte Komponente des akustischen Spektakels betrifft das Merkmal des Novums Oper und einen Stein des Anstoßes für viele an der Forderung nach vraisemblance festhaltende Kritiker: singende Charaktere.17 Für eine Welt, die ganz dem spektakulären merveilleux verschrieben ist, wird das Singen als die einzig angemessene Ausdrucksform erachtet, oder, wie Marmontel es rechtfertigt, »der Gesang ist das merveilleux des gesprochenen Wortes«.18 Dass die Charaktere auf der Bühne also singen statt zu sprechen, macht die akustische Dimension des spektakulären merveilleux aus, und deshalb wird die Differenz zum Sprechen in den hochvirtuosen Arien (vor allem der italienischen Barockoper) auch besonders gesucht und betont. Nebenbei bemerkt dient die Virtuosität dieser Arien natürlich ebenfalls, wie schon das Können des Komponisten oder auch des Bühnen-Maschinisten, der Erzeugung von Staunen und Bewunderung. Musik und Bühnengeschehen arbeiten also Hand in Hand, wenn es darum geht, dem Publikum sinnliche Lust (statt intellektuelles Vergnügen) zu bescheren. Das soll abschließend noch einmal Corneille bestätigen, wenn er in der (für die spätere Oper in vielem stichwortgebende) Andromède die Chöre immer dort zum Einsatz 16 Vgl. grundsätzlich zur Tonmalerei z.  B.: Joachim Kremer: Johann Matthesons Vergleich der Malerei mit Musik im ›Neu-Eröffneten Orchestre‹. In: Carsten Lange, Brit Reipsch (Hgg.): Telemann, der musikalische Maler. Telemann-Kompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin. Hildesheim 2010, S. 104–113; Michael Philipp: Läppische Schildereyen? Untersuchungen zur Konzeption von Programmmusik im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.  M. 1998; Peter Schleuning: Die Sprache der Natur: Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998. 17 Vgl. hierzu: Gess (Anm. 6), S. 662–663 sowie Nicola Gess: »Musique déguisée«. In: N.  G., Tina Hartmann, Robert Sollich (Hgg.): Barocktheater heute. Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne. Bielefeld 2008, S. 145–151. 18 Jean-François Marmontel: Opéra (Belles-Lettres, Musique). In: Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie, Supplément. Paris 1779. Bd. 23, S. 740–750. Zit. aus Alfred R. Oliver: The Encyclopedists as Critics of Music. New York 1947, S. 53.

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bringt, wo sich die Zuschauer ganz auf das Spektakel konzentrieren können sollen: Er will die Ohren der Zuschauer erfreuen, während die Augen damit beschäftigt sind, die Flugmaschinen herabsteigen zu sehen, oder sonst durch etwas gefesselt sind, das den Zuschauer hindert, seine Aufmerksamkeit den Worten der Schauspieler zu widmen.19

Diese Perspektive auf das intermediale Spektakel ist jedoch aus zweierlei Hinsicht zu ergänzen. Erstens erscheint es in meinen bisherigen Ausführungen als eine Art Proto-Gesamtkunstwerk, das durch die Kumulation der unterschiedlichen Medien eine maximale sinnliche Wirkung auf den Zuschauer haben will. Kritiker der französischen tragédie en musique weisen jedoch auf ein anderes Moment dieses Spektakels hin, nämlich die Dissonanz der Medien; anachronistisch gesprochen: Nicht die Verschmelzung, sondern die Neigung der Intermedialität zur Ausstellung medialer Differenzen und damit von Medialität als solcher steht hier im Fokus der Beobachtung. Zweitens ist das intermediale Spektakel auch im Kontext seiner politischen Funktion, d.  h. der Repräsentation und Konstitution von Herrschaft zu sehen, für die die Frage nach der Medialität an die der Verkörperung gebunden ist.

2 Mediendifferenz und bewusste Medialität Krämer hat vorgeschlagen, Intermedialität als epistemische Bedingung von Medienerkenntnis zu verstehen, insofern sie medienspezifische Unterschiede hervorkehre bzw. allererst erfahrbar mache. Röttger greift das auf, wenn sie Me­dia­lität sich erst im »Prozess der Übertragung in ein anderes Medium« vollziehen sieht, »mit dem die aisthetische Neutralität (die Transparenz) eines Mediums gebrochen werden kann«.20 Folgt man den Kritikern der französischen tragédie en musique, trifft das auf diese Kunstgattung in besonderer Weise zu. Sie nehmen eine Disharmonie zwischen den im intermedialen Spektakel beteiligten Medien wahr, die letztlich zur Ausstellung von Medialität als solcher führt. Diese Kritik wird besonders virulent, wo sie sich nicht allein an den Gattungsgesetzen der tragédie classique orientiert, sondern – wie im 18. Jahrhundert zunehmend – an der

19 »[…] avec un concert de musique que je n’ai employé qu’à satisfaire les oreilles des spectateurs, tandis que leurs yeux sont arrêtés à voir descendre ou remonter une machine ou s’attachent à quelque chose qui emeche de prêter attention à ce que pourraient dire les acteurs, « Pierre Corneille: Andromède Examen. In: P.  C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen 1984–1986. Bd. 2, S. 505–509, hier S. 507. Deutsch zit. nach Dietrich (Anm. 11), S. 211. 20 Röttger (Anm. 4), S. 120.



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Forderung nach einer Natürlichkeit der dramatischen Handlung und also einem Illusionstheater. So meint Jean-Jacques Rousseau, das Publikum der französischen tragédie en musique würde durch eine zur Nachahmung unfähige Musik und durch einen ebensolchen Gesang irritiert, den es als »lächerlich« (weil unwahrscheinlich) erleben müsse.21 Ähnlich klagt auch schon François-Marie Voltaire, die Oper sei »ein Schauspiel, in dem man während der Zerstörung einer Stadt Arien trällern muss«.22 Durch die Differenz zwischen musikalischem Zeichen und Bezeichnetem wird das Publikum auf die Medialität der Musik und in der Konsequenz auf die Künstlichkeit des ganzen Unterfangens nachdrücklich aufmerksam gemacht. Das heißt: Es hört den Gesang als Gesang und eben nicht als angesichts der Zerstörung einer Stadt emotional bewegtes Sprechen. Da hilft es auch nichts, dass das merveilleux von Opernverfechtern als eine der Unwahrscheinlichkeit des Gesangs angemessene Unwahrscheinlichkeit der Handlung angeführt wird, in dessen Kontext das Singen dann wieder als wahrscheinliche Äußerungsform beurteilt werden müsse.23 Im Gegenteil: Für Rousseau verstärkt das merveilleux

21 »Quinault […] a fait précisément des Opera. Il a senti qu’il n’y avoit qu’un seul moien pour déguiser aux spectateurs le ridicule qu’il y a de faire la conversation en musique; qu’il faloit les enlever à eux même, les transporter dans un monde enchanté, dans le séjour des fées; les étourdir à force de surprenant et de merveilleux: afin qu’au milieu de tant de choses extraordinaires ils fussent moins surpris de n’y voir parler qu’en chantant et marcher en dansant.« Jean-Jacques Rousseau: Lettre sur l’opéra italien et français. In: J.-J.  R.: Oeuvres complètes. 5 Bde. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymon. Paris 1959–1995. Bd. 5, S. 249–257, hier S. 252. »Quinault […] hat wirklich Opern geschrieben. Offenbar hat er gespürt, dass es nur ein einziges Mittel gäbe, den Zuschauern das Lächerliche einer Unterhaltung in Musik zu verschleiern, dass man sie nämlich über sich selbst hinausheben, sie in eine Zauberwelt entführen müsse, etwa in ein Feenreich, dass man sie mithilfe von Überraschungswirkungen und Wunderdingen täuschen müsse, weil sie inmitten aussergewöhnlicher Erscheinungen weniger überrascht sein werden, wenn gesungen wird, wo man eigentlich spricht, und getanzt, wo man zu gehen pflegt.« Jean-Jacques Rousseau: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften. Übers. von Dorothea und Peter Gülke. Wilhelmshaven 1984, S. 11. 22 »L’opéra est un spectacle […], où il faut chanter des ariettes dans la destruction d’une ville«. François-Marie Voltaire: Oedipe, Préface de l’édition de 1730. In: F.-M.  V.: Oeuvres complètes de Voltaire. 52 Bde. Hg. von Louis Moland. Paris 1877–1885. Bd. 2, S. 52. Deutsch: François-Marie Voltaire: Vorrede zur Ausgabe des Ödipus vom Jahre 1729. Anonyme zeitgenössische Übersetzung. In: Renate Petermann, Peter-Volker Springborn (Hgg.): Theater und Aufklärung. Dokumentation zur Ästhetik des französischen Theaters im 18. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 146–158, hier S. 150. 23 So argumentiert zunächst auch Rousseau: »car quel meilleur usage pouvoit-on faire au Théâtre d’une Musique qui ne savoit rien peindre, que de l’employer à la représentation des choses qui ne pouvoient exister, et sur lesquelles personne n’étoit en état de comparer l’image à l’objet? Il est impossible de savoir si l’on est affecté par la peinture du merveilleux comme on le seroit par sa présence.« Jean-Jacques Rousseau: Opéra. In: J.-J.  R.: Dictionnaire de Musique. In: J.-J.  R.: Oeuvres complètes (Anm. 21), Bd. 5, S. 948–962, hier S. 953. (»Wie hätte man schon im Theater eine Musik, die nichts darzustellen vermochte, besser einsetzen können als bei der

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die Problematik nur, wirkt sozusagen als dramatische und visuelle Verkörperung der genannten Differenz. In ähnlicher Weise kritisieren andere Zeitgenossen wie Louis de Cahusac die divertissements mit ihren reichhaltigen Tanzeinlagen dafür, dass sie den Handlungsgang unterbrechen und den Tanz als solchen in den Vordergrund rücken würden, das heißt als ein entweder gar nicht an der Vermittlung der dramatischen Handlung interessiertes oder nur in unvollkommener Weise zu dieser Vermittlung fähiges Medium.24 Auch hier ist das Problem, dass der Tanz nicht hinter der dramatischen Handlung verschwindet, sondern als Tanz in seiner Medialität sichtbar wird und so die Illusion unterbricht. Die Ausstellung medialer Differenzen gehört nicht unbedingt zum Programm der französischen tragédie en musique, sondern ist zunächst als bloße Begleit­ erscheinung einer Praxis der Medien-Kumulation zu verstehen, die nicht so sehr auf dramatische Einheit als auf Maximierung des Effekts ausgerichtet war und für die die offenbare Medialität auch nicht unbedingt abträglich war (man denke nur an das so ermöglichte Staunen über artistische Meisterleistungen). Sie wird erst dort zum Problem, wo alles dem Drama und der Täuschung durch das Bühnen­ geschehen untergeordnet werden soll. Aber sie wird umgekehrt dort zur Chance, wo man sich für die Medienreflexion des Theaters gerade interessiert. Heute nutzen Regisseure die tragédie en musique gern für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen visuellen Medien, für die sich die französische Oper aufgrund ihrer ausgeprägten Wertschätzung des vi­suel­len Spektakels und ihrer Integration des Tanzes besonders anbietet. Ein gutes Beispiel dafür ist die Inszenierung von Rameaus Les Paladins am Pariser Châtelet-Theater (2004) durch José Montalvo und Dominique Hervieu, in der mithilfe von virtuos eingesetzter Videotechnik nicht nur eine zeitgenössische Va­riante des visuellen Spektakels des merveilleux gefunden wird (das in dieser Oper durch die Illusionsspielchen einer Fee inhaltlich motiviert wird), sondern dieses zugleich auch zu interpretatorischen Zwecken genutzt wird. Das geschieht etwa in der surrealen Vervielfältigung der Charaktere, durch die eine tänzerische Sichtbarmachung des gesanglich ungesagt Bleibenden erfolgt – Tanz und Gesang und oft auch Tanz und Musik gehen hier darum häufig gerade nicht synchron – und zudem eine Reflexion auf unterschiedliche visuelle Medien und Abbildungsverhältnisse möglich wird. Auf dem abgebildeten Ausschnitt ist die Protagonistin Darbietung von nicht existierenden Dingen, bei denen niemand das Abbild mit dem wirklichen Gegenstand vergleichen konnte? Es ist ganz unmöglich, sicher zu sagen, ob man durch die Gegenwart des Wunderbaren so angerührt würde wie durch seine Darstellung.« Rousseau: Musik und Sprache [Anm. 21], S. 290.) 24 Vgl. hierzu Louis de Cahusac: Artikel »Divertissement«. In: Diderot, d‘Alembert (Anm. 11), Bd. 4, S. 1069.



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Argie in dreifacher Ausführung zu sehen: einmal dargestellt durch die Sängerin in der linken Bühnenmitte, einmal durch ihr Tänzerinnen-Alter Ego auf dem Laufband und dann durch die übergroße und gespiegelte (vorab gefilmte und nun auf die Leinwand geworfene) Projektion der Tänzerin. In singulärer Konstellation treten hier dreidimensionaler Raum und zweidimensionales Bild, Urbild, Abbild und Spiegelbild, Projektion und Zeichnung – die Stadtkulisse in der Projektion –, realer und virtueller Körper zu einem irritierenden Ganzen zusammen, das den Zuschauer zur Reflexion über die beteiligten visuellen Medien einlädt.

Abb. 2: Still aus Jean-Philippe Rameaus Les Paladins. Comédie lyrique en trois actes. ­Filmmaterial (DVD). Heathfield 2005. Live aus dem Théâtre du Châtelet, Paris 2004. Bühnen­ direktion: José Montalvo. Théâtre du Châtelet, © M.-N. Robert.

Ähnlich komplex verfährt die Inszenierung auch mit dem grundlegenden Verhältnis von Räumlichkeit und Bildlichkeit sowie von Bildlichkeit und Bewegung, die sie als Wahrnehmungsdispositive ausstellt, indem sie auf die barocke Tiefenbühne eine Leinwand stellt, vor der leicht nach hinten versetzte Terrassen übereinander angeordnet sind, so dass insgesamt eher der Eindruck einer Bildfläche denn der eines Raumes entsteht. Diese friert immer wieder zu einer Art tableau vivant ein, um dann durch von rechts nach links oder von unten nach oben laufende Bewegungen der Tänzer wieder dynamisiert zu werden.25

25 Diese These hat Dominika Hens im Mai 2013 in einem bei eikones gehaltenen Vortrag vertreten.

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Abb. 3: Still aus Jean-Philippe Rameaus Les Paladins. Comédie lyrique en trois actes. ­Filmmaterial (DVD). Heathfield 2005. Live aus dem Théâtre du Châtelet, Paris 2004. Bühnen­ direktion: José Montalvo. Théâtre du Châtelet, © M.-N. Robert.

Visuelles Spektakel ist diese Inszenierung ohne Zweifel noch immer. Doch sie zeigt, dass man mit der französischen tragédie en musique den Begriff des Spektakels im doppelten Sinn verstehen kann. In der Filmsoziologie ist der Vorschlag gemacht worden, filmische special effects zu definieren als diejenigen filmischen Verfahren, die »das Moment der Visualität selbst zu steigern« versuchen, »indem sie das Nichtdarstellbare darstellen und die Bedingungen der Darstellbarkeit sichtbar machen«.26 Sofern man die special effects des Films als heutiges Pendant zu dem verstehen kann, was im 17. und 18. Jahrhundert die visuelle Opulenz und das Maschinentheater der französischen Opernbühne war, lässt sich diese Definition auch für die tragédie en musique fruchtbar machen: Sie erlaubt es, das intermediale Spektakel ebenso als ein auf den maximalen Effekt berechnetes und sinnlich überwältigendes wie zugleich als ein seine medialen Bedingungen jederzeit reflektierendes Meta-Theater zu verstehen.27

26 Urs Stäheli: Spezialeffekte als Ästhetik des Globalen. In: Gregor Schwering, Carsten Zelle (Hgg.): Ästhetische Positionen nach Adorno. München 2002, S. 191–213. 27 Vgl. zu einem solchen Spektakelbegriff (allerdings dort mit Bezug auf das Trauerspiel) auch: Menke, Menke (Anm. 8), S. 15.



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3 Herrschaftsstabilisierung und -destabilisierung Die Frage, ob das Theater ein Medium sei, ist in der Theaterwissenschaft noch aus einem weiteren Grund verneint worden. Fischer-Lichte hat das Konzept der performativen Verkörperung grundsätzlich von dem des Mediums unterschieden, insofern man den Körper des Schauspielers nicht als bloße Vermittlungsinstanz begreifen könne. Dazu schreibt Röttger: Während Fischer-Lichte mit dem Konzept der Verkörperung ein unabgeschlossenes Potential im Sinne von aktiver Hervorbringung von Körperlichkeit verbindet, beschränkt sich ihre Verwendung des Medienbegriffs auf eine rein instrumentelle oder semiotische Verwendung (des Körpers).28

Demgegenüber betont Röttger im Anschluss an Sybille Krämer, dass man den Medienbegriff nicht essentialistisch auffassen dürfe, sondern im Kontext des Performativen den medialen Vollzug beachten müsse. So »gehen wir davon aus, dass was uns erscheint, in Medien erscheint und Medien ›im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mit bedingen und prägen‹«.29 Insofern ist die performative Verkörperung nicht unabhängig von Medien zu denken, sondern findet vielmehr immer schon in bestimmten Medien statt. Mit Blick auf die französische tragédie en musique ist nun interessant, dass ihr intermediales Spektakel immer schon auf die Verkörperung des Monarchen ausgerichtet ist. Dies nicht nur in dem Sinn, dass der König auf der Bühne in spektakulärer Weise repräsentiert würde, sondern auch, indem die Präsenz des Monarchen über das Bühnenspektakel intensiviert, wenn nicht sogar allererst geschaffen wird. Das betont auch Louis Marin: Wahrhaft König, will sagen Monarch, ist der König nur in Bildern. Sie sind seine reale Präsenz: ein Glaube an die Wirksamkeit und Operativität seiner ikonischen Zeichen ist obligatorisch […]; aber weil umgekehrt seine Zeichen die königliche Wirklichkeit, das Sein und die Substanz des Fürsten sind, wird dieser Glaube notwendig von den Zeichen selbst eingefordert.30

Marin spricht hier zwar zunächst nur über das Portrait des Königs, doch versteht er auch das Fest des Fürsten, dessen Dramaturgie das Spektakel der tragédie

28 Röttger (Anm. 4), S. 118. 29 Ebd., S. 120. Zitat im Zitat von Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? (Anm. 5), S. 85. 30 Louis Marin: Das Portrait des Königs. Übers. von Heinz Jatho. Berlin 2005, S. 15.

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en musique folgt und das selbst auch theatrale Darbietungen umfasst, als eine »gründende Wiederholung der Repräsentation des Königs«.31 Eine wesentliche Rolle spielt für Marins These, dass es im Bild des Königs, beim höfischen Fest und auf der Hof-Bühne nicht nur um die Repräsentation von Macht, sondern auch um die Macht der Repräsentation geht, über die der König verfügt und sich auf diese Weise als Souverän demonstriert. In der spektakulären Intermedialität der tragédie en musique präsentiert sich der König gleichsam als »Zauberer«, der dem Hofstaat wunderbare Dinge und darin zugleich die eigene Allmacht zu sehen gibt. Darum ist es für die französische Hofoper auch so wichtig, beim Zuschauer ein Bewusstsein dafür wach zu halten, dass es sich beim Bühnengeschehen nur um eine äußerst kunstvolle Illusion handelt: Nicht allein in der Repräsentation des Königs, sondern in der Offenbarung der Repräsentation als Repräsentation wird die Macht des Monarchen zur Schaffung spektakulärer Repräsentationen sichtbar: Es ist gerade […] die Geste, die ›aller Welt‹ zeigt, daß es sich nur um eine Illusion handelt, […] d[ie] versuch[t], aus der sich inszenierenden Repräsentation eine unendliche Präsenz und aus der Gewalt, die sich in der Ökonomie ihrer Zeichen reserviert, eine absolute Macht zu machen.32

Marins Beispiel dafür ist die spektakuläre Vernichtung einer (Theater-)maschine nach der Aufführung: Die Verbrennung der Maschine […] ist die Epiphanie des verklärten Leibs des Königs im kurzen und plötzlichen Augenblick seiner Realpräsenz, deren Repräsentationen und Si­mulakren hatten vervielfacht werden müssen, damit ihre Verbrennung sie offenbaren konnte.33

Es ist unter anderem diese Logik, die politische Denker der Aufklärung wie Denis Diderot und Rousseau später für die vierte Wand der Natürlichkeit plädieren lässt  – Diderot mit dem Konzept des theatralen Tableau, Rousseau mit dem Konzept einer unmittelbaren musikalischen Gefühlssprache, Jean Georges Noverre mit dem Konzept einer pantomimischen Tanzsprache –, die die Theatralität des Theaters unsichtbar(er) machen soll. Denn eine sich als Repräsentation offenlegende Repräsentation ist für sie immer schon mit der Theatokratie des Souveräns verbunden. Insofern ist die oben angesprochene Ausstellung media-

31 Ebd., S. 320. 32 Ebd., S. 329. 33 Ebd., S. 330.



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ler Differenzen und der Medialität als solcher durchaus mit diesem Theater des Souveräns vereinbar, wenn nicht gar ihm förderlich. Marin spricht jedoch auch von einem Risiko, das von der spektakulären Illusion und ihrer noch spektakuläreren Offenlegung ausgeht: Der König riskiere rituell und grundlos die Ordnung seines Orts, das Monument seines Ruhms, seinen symbolischen Körper in den Räumen der königlichen Zerstreuung, als ob er durch das spektakuläre Dispositiv […] der Macht seiner Repräsentation eine Übergewalt, seiner Repräsentation selbst eine Überpräsenz geben wollte.34

Dieses Risiko lässt sich in der französischen tragédie en musique insofern verifizieren und konkretisieren, als ihr Spektakel im mehrfachen Sinne destabilisierend auf die Repräsentation der Macht und die königliche Macht der Repräsentation wirkt. Dafür einige Beispiele: Im Unterschied zum Ballet de Cour, in dem der König choreographisches Zentrum war, gibt es auf und vor der barocken Opernbühne eigentlich keinen Ort mehr für den natürlichen wie symbolischen Körper des Königs bzw. seiner Stellvertreter. Erstens basiert die Bühne der tragédie en musique, so zeigen Ulrike Haß’ Ausführungen, auf einer Dynamisierung und vor allem Verräumlichung des zentralperspektivischen Bildes.35 Sie vermag so erstaunliche Tiefenwirkungen zu erzeugen – aber für den Körper, der im Barock weniger raumgreifend und bewegt denn flächig und statisch präsentiert wird und (außer an der Rampe) die perspektivische Illusion nur stört, ist dieser Tiefenraum eigentlich nicht mehr geeignet (siehe Abb. 4).36 Auch die Winkelperspektive schafft zwar neue, für die Zuschauer interessante, weil uneinsichtige Raumfluchten, beraubt die Bühne aber vollends ihres

34 Ebd., S. 320. 35 Ulrike Haß zufolge wird diese »Verräumlichung« unter anderem durch die Abschaffung der Rahmung des Bühnenraums, die Sabbatini noch vorschreibt, und der damit einhergehenden Trennung von Bühne- und Zuschauerraum sowie Techniken der Tiefe konstituierenden Bühnenmalerei, wie sie bereits Giulio Troili in Paradossi per pratticare la prospettiva senza saperla (Bologna 1683) beschreibt, gewährleistet; vgl. hierzu ausführlich Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. Paderborn 2005, S. 366–374 sowie Ulrike Haß: Vom Wahnsinn des Sehens in geschlossenen Räumen. Raumdebatten und Szenografie im 17. Jahrhundert. In: Nicola Gess, Tina Hartmann, Dominika Hens (Hgg.): Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Regime. München 2015, S. 139–161. 36 Der französische Tanzmeister Pierre Rameau beschreibt die geforderte Körperhaltung folgendermaßen: »Il faut avoir la tête droite sans être gêné, les épaules en arriere (ce qui fait paroître la poitrine large & donne plus de grace au corps,) les bras pendants à côté de soi, les mains ni ouvertes ni fermées, la ceinture fermée, les jambes étenduës, & les pieds en dehors […].«; Pierre Rameau: Maître à Danser. Paris 1725, S. 2  f.

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Abb 4: Andrea Pozzo: Perspectiva Pictorum Et Architectorum Andreae Putei E Societate Jesu Pars Prima. In qua docetur modus expeditissimus delineandi opticè omnia quae pertinent ad Architecturam. 2 Bde. Rom 1693–1700. Bd. 1, Fig. 73. Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, Abteilung Handschriften und alte Drucke, Signatur: UBH AC II 81:1 Folio.



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Abb. 5: Piero Bonifazio Algieri: Bühnenbildmodell für die Wiederaufführung am 25. April 1761 von Rameaus Zaïs (1748). Centre des monuments nationaux, Signatur: PLC97–0151. © Pascal Lemaître / CMN.

optischen Zentrums und damit des Ortes, der einst für die Figur des Königs vorgesehen war (siehe Abb. 5).37

37 Ulrike Haß bemerkt zur Entwicklung der Winkelperspektive auf dem Theater: »Die Theaterhistorie bezeichnet üblicherweise Fernando Galli-Bibiena (1657–1743) als den Erfinder der Autonomie des Bühnenbildraumes […]. Galli-Bibiena entwickelt für das Bühnenbild ein vom Zuschauerraum völlig unabhängiges Achsensystem. Anstatt entlang der Mittelachse auf einen in derselben Achse orientierten Raum zu schauen, blickt der Zuschauer auf die Kreuzung zweier Diagonalräume, die sich in der Mitte des Bühnenbildes mit ihren Winkeln berühren und sich über den Bildrand rechts und links auszudehnen scheinen. Galli-Bibiena hat diese Idee der Konstruktion eines in der Winkelperspektive diagonal angelegten Bühnenbildes ‒ vedere le scene per angelo ‒ 1711 veröffentlicht und ausdrücklich als seine Erfindung bezeichnet. Zweifellos unterbricht diese Gestaltung des Bühnenbildes die illusionäre Kontinuität zwischen dem Zu­ schauer­raum und der Bühne und vermittelt nicht länger das Ideal eines gemeinsamen, geschlossenen Raumes. Doch Galli-Bibiena erfindet nicht den Schnitt zwischen Bühne und Zuschauer-

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Zweitens gibt es auch im Zuschauerraum keinen für den König vorgesehenen Blickpunkt mehr, von dem aus das Schauspiel entworfen würde. Denn der Blickpunkt ist mit dem Theaterarchitekten Andrea Pozzo an die Rückwand des Theaters gewandert, so dass der König, wie alle anderen, theoretisch überall und nirgends sitzen kann und die Zentralperspektive immer schon verzerrt wahrnimmt.38 Drittens führt die visuelle Vielfalt auf der Bühne dazu, dass der Blick des Zuschauers ständig vom König bzw. seinen Stellvertretern abgelenkt wird. So wird zum Beispiel in der Oper Phaéton nicht nur das die Position des Sonnenkönigs ebenfalls destabilisierende Auseinanderbrechen der einstigen Einheit von Herrscher, Sonnenlicht und Tagesbeginn präsentiert,39 indem Phaéton von Jupiter den Sonnenwagen ausleiht und so den Tageslauf unterbricht. Sondern die Oper endet auch mit einem die Zeitgenossen begeisternden Sturz der Sonnenmaschine bzw. Phaétons, durch den der eigentliche Souverän, der blitzeschleudernde Jupiter, an den Bühnenrand verdrängt wird bzw. aus dem Blickfeld rutscht.40 In den zeitgenössischen Berichten ist entsprechend häufig von diesem Sturz, nie aber von Jupiter die Rede, und im abgebildeten Stich ist er dann bezeichnenderweise auch gar nicht mehr identifizierbar (siehe Abb. 6). In Opern der Spätzeit des ancien régime sind die spektakulären Auftritte von Herrscherfiguren dann sogar oftmals Zeichen ihrer Überlebtheit. Wie Annette Kappeler gezeigt hat, präsentieren sie ein nicht mehr zeitgemäßes absolutistisches Herrschaftskonzept, dem andere Formen einer vom Volk legitimierten Herrschaft entgegen gestellt werden.41 Diese alternativen Herrscher treten dann raum, der optischer (und nicht darstellender) Natur ist und die optische Schnittmenge zwischen Entwurf und Wahrnehmung bezeichnet. Die Winkelperspektive Galli-Bibienas nutzt nur, was in Pozzos Architektur des Sehens vorliegt und bringt zu Bewußtsein, was die Autonomie des quadro auszeichnet und erlaubt.« (Haß: Das Drama des Sehens [Anm. 35], S. 377–378). 38 Diese Architektur beschreibt Pozzo, wenn er von »la scena come quadro« spricht. Meilensteine auf dem Weg zu diesem neuen Blickpunkt, in dem sich erstmals »Darstellen und Wahrnehmen« treffen, sind Haß zufolge Mottas Entdeckung der »Möglichkeit der abstrakten, einheitlichen Maßeinheit, über die sich ein Raum rein rechnerisch ›finden‹ läßt« sowie Torellis Entdeckung des »dynamische[n] Element[s] dieses abstrakten Raumes und […] seine[r] Bedingungen: Relativierung ‒ Frontalität ‒ Spiegel.«; vgl. zur Raumkonzeption Mottas und Torellis ebd., S. 348–354 und S. 360–365. 39 Vgl. Juliane Vogel: Solare Orientierung. Heliotropismus in Tragödie und Tragédie en musique. In: Gess, Hartmann, Hens (Anm. 35), S. 71–88. 40 Annette Kappeler: »Un opéra sans machines. Parbleu, c’est une femme sans fontanges.« Auftrittsformen der Tragédie en musique. Dissertation (masch.). Universität Konstanz 2014, S. 75–79; inzwischen gedruckt als: Annette Kappeler: L’Oeil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime. Paderborn 2016, S. 85–86. 41 Vgl. Annette Kappeler: Les lois de la pesanteur. Auftrittsformen in Glucks Pariser Opern. In: Juliane Vogel, Christopher Wild (Hgg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 93–112.



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Abb. 6: François Chareau nach Jean Bérain: Sturz des Phaeton. In: Quinault, Philippe: Phaéton, tragédie en musique […]. Paris 1683, [Frontispiz, o.  S.]. Bibliothèque nationale de France, Signatur: 8–RA3–154.

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bezeichnenderweise nicht mehr visuell, sondern nur noch akustisch in Erscheinung (so z.  B. in Rameaus Oper Zoroastre).42 Visuelle und akustische Medien werden hier nicht mehr einfach kumuliert zur möglichst spektakulären Repräsentation des Herrschers, sondern die Intermedialität der Oper ist die Voraussetzung zu einer Differenzierung der Medien, die dramatischen Erwägungen folgt, insofern sie an die Differenzierung unterschiedlicher Konzepte von Herrschaft geknüpft ist. Man könnte nun meinen, dass die oben erwähnten destabilisierenden Momente doch immerhin den spektakulären Charakter der französischen tragédie en musique und damit das Staunen über den »Zauber« des Königs nicht beeinträchtigen, im Gegenteil sogar noch verstärken würden. Doch ist das Problem, dass der Zuschauer in diesen Situationen häufig nicht mehr den König als Ausgangspunkt des theatralen Spektakels wahrnimmt, sondern mehr und mehr die beteiligten Künstler sowie vor allem sich selbst. Er steht  – wie ja auch die DePersonalisierung des Blickpunkts zeigt – nicht mehr im Bann des schöpferischen Blicks des Souveräns, sondern erfährt sich selbst als (Mit-)Macher des Spektakels. Die Ausstellung der ›Gemachtheit‹ des Bühnengeschehens unterstützt diese Tendenz noch, wenn nicht nur klar wird, dass es bloße Illusion ist, sondern auch, wie diese Illusion produziert wird – ein Wissen, wie es die bühnentechnischen Manuale von Nicolo Sabbatini und Joseph Furttenbach schon früh bereithalten.43 Nicht die unerreichbare Allmacht des Königs wird dann gefeiert, denn diese Feier setzt ein demütiges Bewusstsein der eigenen Ohnmacht voraus, sondern die theoretisch von jedem erlernbare Kunst des Maschinisten bewundert, die in die 42 Zu diesem Thema arbeitet bei eikones im Rahmen ihres Postdoc-Projektes: Annette Kappeler (Körperlose Stimmen. Herrschaftsdiskurse in Rameaus ›Zoroastre‹. In: Gess, Hartmann, Hens [Anm. 35], S. 163–180). In Rameaus und Cahusacs zweiter Fassung von Zoroastre (1756) überlagern sich visuelle Auftritte mit akusmatischen Vorankündigungen. So gehen den (Maschinen-) Auftritten von Zoroastres Gegenspieler Abramane Donnergeräusche voraus. Zoroastre selbst tritt hingegen nach visueller Vorankündigung in Form von Lichtwechseln zum Hellen auf, meist in Verbindung mit der verbalen Ankündigung der veränderten Lichtsituation. Schließlich ist es jedoch eine körperlose Stimme, die aus der Bühnenversenkung tönend prophezeit, dass sich das Blatt für das Volk und Zoroastre zum Guten, »Hellen« wenden wird. Zu den kompositorischen und dramaturgischen Besonderheiten der beiden Werkfassungen vgl. Arnold Jakobshagen: Art. »Zoroastre«. In: Carl Dahlhaus und das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter der Leitung von Sieghart Döhring. Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. 7 Bde. München, Zürich 1986–1997. Bd. 5, S. 178–180. 43 Die »Gemachtheit« des Bühnengeschehens tritt auch in der Rezeption zutage, wenn etwa die Illusion durch maschinelle Dysfunktionen gestört wird: »II est vray que ces artifices plaisent quelquefois a la veuë; mais il faut aussi reconnoître qu’ils ont le desavantage d’exciter souvent des risées parmi un Peuple indiscret, & mesme parmi les plus ages, quand ils manquent de joüer selon l’intention de la Scène«. Jules de La Mesnadière: La Poëtique. Paris 1640, S. 418.



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Macht der theatralen Repräsentation einweiht. Und wird in einer Theatokratie erst einmal das Theater als bloßer Hokuspokus offenbar, so dauert es auch nicht mehr lange, bis der auf das Theater als seine Repräsentation und Konstitution gestützten Herrschaft ein Gleiches widerfährt.

Dirk Werle

»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz I. Im Jahr 1800 erschien im Verlag von Johann Friedrich Unger in Berlin ein Buch mit dem Titel Göthes Neueste Gedichte als siebter Band der Neuen Schriften des Autors. Die Publikation enthielt auch eine Gruppe »Balladen«, die die Früchte der Tätigkeit der 1790er Jahre versammelte. Die Gedichte waren großenteils bereits in Schillers Musenalmanachen auf die Jahre 1797 und 1798 erschienen. Das traf aber nicht auf das den Beginn der Gruppe bildende Gedicht zu, dem durch die Anfangsposition auch inhaltlich-programmatisch eine herausgehobene Stellung zukommt. Das Gedicht trägt den Titel »Der Sänger«; es berichtet von einer Geschichte, die in einem imaginären Mittelalter situiert ist: Ein König befindet sich mit seinem Hofstaat im Saal seiner Burg, hört von draußen das Lied eines Sängers erklingen und schickt seinen Pagen, um den Sänger hereinzuholen. Der Sänger tritt ein, begrüßt die Gesellschaft und bewundert den prächtigen Saal. Gegenüber dessen sichtbarer Pracht hebt er die hörbare Schönheit seines Liedes hervor, dem man mit geschlossenen Augen lauschen möge. Es folgt im Gedicht die Darstellung des Gesangs des Sängers: »Der Sänger drückt’ die Augen ein, | Und schlug in vollen Tönen; | Die Ritter schauten muthig drein, | Und in den Schooß die Schönen. | Der König, dem es wohlgefiel, | Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,  |  Eine goldne Kette holen.«1 Der Sänger verschmäht das Dankgeschenk; die Kette, die »goldne Last«, möge der König, so der Sänger, seinen Rittern geben oder von seinem Kanzler »[z]u andern Lasten tragen«‹ lassen. Die Begründung lautet wie folgt: Ich singe, wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet; Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet. Doch darf ich bitten, bitt’ ich eins: Laß mir den besten Becher Weins, In purem Golde reichen.

1 Johann Wolfgang Goethe: Der Sänger. In: Göthe’s neueste Gedichte. Berlin 1800, S. 39–41, hier S. 40. DOI 10.1515/9783110521788-007



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Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus: O, Trank voll süßer Labe! O, wohl dem hochbeglückten Haus, Wo das ist kleine Gabe! Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich, Und danket Gott so warm, als ich Für diesen Trunk euch danke.2

II. Im Folgenden möchte ich mich auf die Erläuterung vor allem eines, und zwar des berühmtesten Verses dieses Gedichts konzentrieren: »Ich singe, wie der Vogel singt«. Dazu wird es nötig sein, in die Geschichte der Lyrik vor Goethe auszugreifen, nämlich bis zu Martin Opitz’ Dichtungsreform und den daran sich anschließenden vielgestaltigen Versuchen, eine deutschsprachige lyrische Dichtung zu etablieren. Doch zunächst zu dem hervorgehobenen Vers: Er enthält die zentrale Aussage innerhalb des poetologischen Gedichts. Der Dichter, so der Gedanke, bringt Flüchtiges, Geistiges hervor, ist daher unabhängig von materiellen Gütern; darum ist er kein Fürstenknecht, sondern eine freie Persönlichkeit, ja mehr noch, er ist der weltlichen Macht des Fürsten entzogen und über sie hinausgehoben in eine andere Sphäre. Der Last der goldenen, aber auch bindenden Kette zieht er die Freiheit vor, auch die künstlerische Freiheit, die durch den Wein beflügelt wird. Obwohl es sich um ein Goethe-Gedicht handelt und obwohl der Vers »Ich singe, wie der Vogel singt« wie so viele Goethe’sche Verse und Sätze den Rang eines geflügelten Worts erlangt hat, liegen gar nicht so viele Interpretationen des schon auf den ersten Blick ziemlich intrikaten Texts vor. Eine neuere Interpretation stammt von Ulla Hahn; sie ist 1992 in einem von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Band mit Interpretationen von GoetheGedichten erschienen  – vorher bereits in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Rahmen der Frankfurter Anthologie. In ihrer Interpretation hebt Hahn zwei Aspekte hervor: Erstens habe Goethes Gedicht »die Vorstellungen, wie ein Dichter zu sein habe, bis auf den heutigen Tag geprägt«.3 Zweitens trete in dem Gedicht aber ein »Widerspruch zwischen Dichtung und Wirklichkeit« zutage: Der Dichter 2 Ebd., S. 40  f. 3 Ulla Hahn: Schmeicheleien reinsten Wassers. In: Johann Wolfgang von Goethe: Verweile doch. 111 Gedichte mit Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a.  M., Leipzig 21992, S.  147–149, hier S.  147. Vgl. zur Interpretation des Gedichts auch Wilhelm Grenzmann: Johann Wolfgang Goethe. Der Sänger. In: Rupert Hirschenauer, Albrecht Weber (Hgg.): Wege zum Ge-

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Goethe, der als Weimarer Geheimer Rat durchaus ein Fürstendiener gewesen sei, habe sich mit dem Phantasieprodukt der Ballade seine »Sehnsucht nach dem reinen, freien Dichterleben vom Leibe« gedichtet.4 Das mag so sein; es sei aber auf einen weiteren zentralen Aspekt aufmerksam gemacht, nämlich darauf, dass Dichtung hier als Gesang vorgestellt wird. Das ist wohl zunächst der historischen Lokalisierung des Dargestellten geschuldet: Die in der Ballade präsentierte Geschichte spielt im Mittelalter, und das Mittelalter ist nicht nur die Zeit der Ritter, sondern auch die der fahrenden Sänger. Hier wird also ein für Goethes Zeit anachronistisches Dichterbild entwickelt, ein Ideal einer fernen Zeit. Dieser Bezug auf eine ferne Zeit ist Programm; präsentiert wird mit der mittelalterlichen Figur des Dichters als mündlich vortragenden Rhapsoden eine Konzeption der Dichtung, die ursprünglich und zeitenthoben gedacht ist.5 Dazu gehört die bis auf die griechische Antike rückführbare Vorstellung, dass lyrische Dichtung eigentlich Gesang sein soll. Dass der Dichter in der Ballade für sich in Anspruch nimmt zu singen, wie der Vogel singt, treibt dieses Prinzip noch weiter: Imaginiert wird damit ein Dichter aus alter Zeit, der völlig traditionslos dichtet, der stattdessen von Natur aus den Gesang aus sich selbst hervorbringt. Das aber entspricht den in Goethes Zeit verbreiteten Vorstellungen des Dichtergenies und gleichzeitig und damit verknüpft einer Vorstellung, die man seit Goethes Zeit mit der Lyrik allgemein verbindet, nämlich dass sie Ausdruck unmittelbarer Empfindungen sei. Dass die assoziative Verknüpfung von Dichtergenie, lyrischer Dichtung und Vogelgesang bis ins 20.  Jahrhundert hinein manchem poetologisch evident schien und dass Goethe als Pate dieser Verknüpfung gesehen werden konnte, zeigt folgende Passage aus einem erzähltheoretischen Beitrag der 1930er Jahre: Hätte Goethe auf dem Kickelhahn seinen Zustand geschildert, wäre er nicht zu seinem unsterblichen Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh« gekommen. […] Er wollte aber etwas viel Einfältigeres, nämlich seinem Gefühl, wie man sagt, Luft machen; und er war darin nicht von der Amsel verschieden, die in den Abend singt. Auch er wollte in den Abend singen; und weil er keine Töne wie die Amsel hatte, wurde ein Lied in Worten, ein Gedicht daraus.6

dicht II: Interpretation von Balladen. Mit einer Einführung von Walter Müller-Seidel. Neuauflage München, Zürich 1968, S. 169–175. 4 Hahn (Anm. 3), S. 149. Die Parallele zur Konstellation um Torquato Tasso ist augenfällig. Vgl. dazu Klaus-Detlef Müller: Das Elend der Dichterexistenz. Goethes Torquato Tasso. In: GoetheJahrbuch 124 (2007), S. 198–214. 5 Vgl. zur Figur des Sängers Rüdiger Singer: Sänger [Art.]. In: Dieter Burdorf u.  a. (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar 2007, S. 677  f. 6 Wilhelm Schäfer: Epik oder Zustandsschilderung. In: Die Neue Literatur 38 (1937), S. 175–181, hier S. 175.



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Bemerkenswert ist nun an Goethes Ballade, dass der Dichter als traditionsloses Naturgeschöpf hier zwar postuliert wird, aber wie eine Dichtung konkret aussieht, die wie der Gesang der Vögel ist, das wird nicht unvermittelt vorgeführt, darüber wird nur berichtet, nämlich mit den Versen: »Der Sänger drückt’ die Augen ein, | Und schlug in vollen Tönen; | Die Ritter schauten muthig drein, | Und in den Schooß die Schönen.« Dargestellt wird, was der Sänger von außen betrachtet tut und wie die Wirkung dieser Handlung auf das Publikum aussieht; mehr erfährt der Leser/Hörer nicht.7 Das Konzept der Dichtung als Vogelgesang wird also hier nur vermittelt dargestellt, und dabei wird beim Rezipienten statt des Gehörs das Sehen als zentraler Sinn angesprochen.8 Dem entspricht auch die Wahl der Textsorte: Goethe wird bekanntlich einige Jahre später, in dem Abschnitt über »Naturformen der Dichtung« innerhalb der Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans, die Ballade als die Dichtart beschreiben, die die drei Naturformen Epos, Lyrik und Drama vereinigt. Es handelt sich nach dieser Sichtweise beim vorliegenden Gedicht nicht um reine Lyrik, sondern um eine Mischform. Die Vermitteltheit der Darstellung der Dichtung geht aber noch weiter. Ich habe bisher unterschlagen, dass das vorliegende Gedicht zwar im Jahr 1800 zum ersten Mal unter dem Titel »Der Sänger« separat veröffentlicht wurde, dass die Erstveröffentlichung des Gedichttexts aber fünf Jahre früher stattgefunden hat: Das Gedicht ist eines der Lieder, die der Harfner, einer der Protagonisten des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre, zu Gehör bringt. Der Roman wurde 1795 veröffentlicht; verfasst hat Goethe das einschlägige Kapitel aber bereits 1783. Innerhalb der Romanhandlung ist das vorliegende Gedicht das erste Stück des Harfners, das im Wortlaut vorgestellt wird, und überhaupt das erste lyrische Stück, das in den Roman eingeschaltet ist. Es besitzt auch programmatische Bedeutung für

7 Grenzmann weiß mehr: »Was er [Goethes Sänger, D.  W.] singt, wissen wir nicht; aber indem der Blick sich von ihm auf die Zuhörer wendet, ist kein Zweifel über den Sinn des Liedes mehr möglich: es gilt dem Ruhm männlichen Heldentums, dem Lob weiblicher Liebe und Schönheit.« Grenzmann (Anm. 3), S. 170. Diese etwas kurzschlüssige Deutung berücksichtigt nicht den ironischen Ton, in dem geschildert wird, wie die Ritter mutig dreinschauen, um nicht preisgeben zu müssen, dass sie vom Lied des Sängers genauso stark berührt sind wie ihre Damen, die in den Schoß blicken, um ihre Rührung zu verbergen. 8 Vgl. Amanda Glauert: ›Ich singe, wie der Vogel singt‹: Reflections on Nature and Genre in Wolf’s Setting of Goethe’s Der Sänger. In: Journal of the Royal Musical Association 125 (2000), S. 271–286, hier S. 278: »Yet, despite the singer’s assertion of artistic freedom, we are given no hint by Goethe of what he actually sings about; at the heart of the poem is a vacuum which we are left to make sense of as we might.«

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das vom Harfner personifizierte Dichtungskonzept.9 Nun ist aber das vorliegende Gedicht nicht überhaupt das erste Stück lyrischer Dichtung, das der Harfner im Rahmen der Romanhandlung zum Vortrag bringt. Als erstes trägt er ein Gedicht vor, das »ein Lob auf den Gesang« enthält, »das Glück der Sänger« preist und die Menschen ermahnt, »sie zu ehren«.10 Dieses Gedicht wird aber vom Erzähler des Romans nur erwähnt und nicht in seinem Wortlaut präsentiert, und die vorliegende Ballade erscheint demgegenüber bloß als sekundäre poetische Erläuterung, warum der Harfner die als Reaktion auf das als erstes rezitierte Gedicht von Wilhelm angebotene materielle Unterstützung ablehnt. Die Aussage »Ich singe, wie der Vogel singt« ist also im Romankontext ein Kommentar im Kommentar zur eigentlichen Dichtung, die vielleicht ist wie Vogelgesang, die der Rezipient aber nicht direkt präsentiert bekommt. Mit Blick auf Goethes gesamtes Œuvre ist das Sänger-Gedicht als Teil der Hafner- und Mignon-Gedichte im Wilhelm Meister und damit als Teil eines poetologischen Versuchs zu sehen, die Möglichkeiten unmittelbaren Dichtens ›sentimentalisch‹ zu reflektieren und zu problematisieren. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang signifikant, dass im Jahr 1783, dem Jahr der Abfassung des Sänger-Gedichts, in Goethes Schaffen ein zeitweiliger Abbruch lyrischen Dichtens zu beobachten ist. Dieser Abbruch markiert ein Ende des Projekts, Unmittelbarkeit als zentrales Charakteristikum lyrischer Dichtung ins Werk zu setzen, eines Projekts, das mit den Liedern und Hymnen der 1770er Jahre seinen Höhepunkt erreicht hatte. In den 1790er Jahren beginnt Goethe neu mit der Produktion lyrischer Dichtung, aber vor dem Hintergrund einer neuen poetologischen Agenda. Es versucht sich jetzt in Formen traditionsbezogener Dichtung, die sich markant in den großen Elegie- und Epigrammzyklen manifestiert.

III. Warum thematisiert Goethe einerseits das Konzept der Dichtung als Vogel­gesang in einem poetologischen Gedicht, dies aber andererseits in einer ostentativ vermittelten Weise, als Kommentar im Kommentar zu einer Dichtung, die nur

9 Vgl. zu diesem Dichtungskonzept im Kontext von Goethes Œuvre Hellmut Ammerlahn: Produktive und destruktive Einbildungskraft: Goethes Tasso, Harfner und Wilhelm Meister. In: Orbis Litterarum 53 (1998), S. 83–104. 10 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre [1795/1796]. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bden. Hg. von Erich Trunz. Bd.  7: Romane und Novellen 2. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von E.  T. München 131994, S. 128.



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erwähnt, aber nicht im Wortlaut präsentiert wird? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich darüber nachzudenken, woher Goethe das Konzept der Dichtung als Vogelgesang übernommen haben könnte. Kennen konnte er es aus der zeitgenössischen Lyrik- und Sprachtheorie. 1799 wird an der Universität Greifswald von einem jungen schwedischen Gelehrten namens Benjamin Lundelius eine Übungsdissertation verteidigt unter dem Titel De poesi lyrica, über die lyrische Poesie. Darin entwickelt Lundelius ein Ursprungsszenario, in dem zunächst eine Opposition zwischen der Redekunst als ars eloquendi und der Musik als ars canendi aufgebaut wird. Erstere sei im Laufe der Kulturgeschichte erst spät aufgetreten, letztere dagegen sei vom Anfang der Menschheitsentwicklung an da gewesen: Es habe sich um eine Form von imitatio der Vögel gehandelt. Entsprechend sei auch heute noch die menschliche Rede durch musikalische Reste geprägt, insofern etwa jeder gefühlsgesteuerte Ausruf etwas von einem Gesang an sich habe.11 Eine ähnliche Darstellung findet sich in Johann Gottfried Herders einige Jahre zuvor, 1795, erschienener Abhandlung Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst: »Allem, was lebt,« schreibt Herder, »gab die Natur mehr oder minder Stimme.« Herder wehrt die Vorstellung ab, »daß die Menschen nur von den Vögeln ihren Gesang gelernt haben, und ohne sie dazu nicht gelangt wären«. Aber er bringt wie später der Greifswalder Autor den Gesang mit einer anderen Fähigkeit des Menschen in Verbindung: »Denn Ihm gab der Schöpfer nicht nur Stimme, sondern auch Sprache. Da jede Sprache nun, schon ihrer Natur nach, Musik ist: so war, auch ohne Lyra und Cither, dem Menschen mit ihr das Werkzeug einer lyrischen Poesie gegeben.«12 Zu der Frage, ob die lyrische Poesie ihren Ursprung im Gesang der Vögel habe oder als Melodie mit Text darüber hinausgehe, wird auch im Wilhelm Meister eine von der Position des Sängers in der Ballade des Harfners abweichende Position

11 De poësi lyrica, venia ampliss. facult. philos. Gryph. Disserunt Mag. Benjam. Lundelius Smolandus, et Laurentius Hellstadius, stipendiarius Victorinianus, in auditorio minori die 9 martii 1799. Horis ante meridiem solitis. Greifswald 1799, S. 5. Vgl. Dirk Werle: Lyriktheorie ›um 1800‹ an der Universität Greifswald: Benjamin Lundeliusʼ Dissertation De poesi lyrica. In: Reimund B. Sdzuj u.  a. (Hgg.): Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Festschrift für Hans­peter Marti zum 65. Geburtstag. Wien u.  a. 2012, S. 702–715. – Ein erster Vorläufer dieses Vorstellungskomplexes könnte – wenig überraschend – Aristoteles sein, der zu Beginn der Poetik von der Kunst derer berichtet, die mit ihrer Stimme die Natur nachahmen. Vgl. Aristoteles: Poetik [~355 v.  Chr.]. Griechisch/deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S.  4 [1447a]. 12 Johann Gottfried Herder: Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst [1795]. In: ders.: Werke in zehn Bden. Hg. von Günter Arnold u.  a. Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.  M. 1998, S. 117–135, hier S. 120  f.

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vertreten, nämlich von Wilhelm, der den Harfner zur Präsentation seiner eigenen Dichtung auffordert und in diesem Zusammenhang über das Wesen des Gesangs äußert: »[…] Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn scheinen mir Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein, die in der Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen möchten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt.«13 Goethe konnte, obwohl Herders zitierte Abhandlung zur Zeit der Abfassung des entsprechenden Kapitels des Wilhelm Meister noch nicht erschienen war, die Diskussion über das Verhältnis von Vogelgesang, Sprache und lyrischer Dichtung gleichwohl vermittelt über Herder kennen gelernt haben. In anderer Per­ spektivierung referiert Herder den Gedanken bereits in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die 1772 erschien, die Goethe aber bereits seit 1770 kannte: »Die Tradition des Altertums sagt; die erste Sprache des menschlichen Geschlechts sei Gesang gewesen, und viele gute musikalische Leute haben geglaubt, die Menschen könnten diesen Gesang wohl den Vögeln abgelernt haben […].«14 Den Gedanken wehrt Herder freilich ab, weil seine Sprachtheorie gerade auf dem Unterschied des Menschen vom Tier beruht.15 Was Herder genau mit der »Tradition des Altertums« meint, auf die er sich als Quelle des Gedankens bezieht, darüber gibt Ulrich Gaiers Kommentar keine Auskunft. Stattdessen verweist er global auf Bernard de Bovier de Fontenelles Abhandlung Sur la Poésie en général, wo der »Ursprung des Gesangs auf Imitation der Vögel« zurückgeführt werde.16 Dass daher bereits der Fontenelle-Briefpartner und -Herausgeber Johann Christoph Gottsched den Gedanken kennen konnte, liegt als Vermutung nahe, trifft aber vermutlich nicht zu: Fontenelles Abhandlung ist ein Spätwerk, das erst 1751 im Druck erschien. Zu Beginn der Abhandlung schreibt Fontenelle, die Poesie habe zwei Quellen: erstens die in der Erinnerung abspeicherbaren Versgesetze, zweitens den Gesang »à l’imitation des oiseaux«.17 13 Goethe: Wilhelm Meister (Anm. 10), S. 128. 14 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache […] [1772]. In: ders.: Werke in zehn Bden. Hg. von Martin Bollacher u.  a. Bd.  1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a.  M. 1985, S. 695–810, hier S. 740  f. 15 Vgl. ebd. unmittelbar im Anschluss an das oben stehende Zitat  – nach Abtrennung durch einen Gedankenstrich: »das ist freilich viel geglaubt! […] So wenig […] die Nachtigall singt, um den Menschen, wie man sich einbildet, vorzusingen: so wenig wird der Mensch sich dadurch je Sprache erfinden wollen, daß er der Nachtigall nachtrillert – Und was ists doch für ein Ungeheuer, eine menschliche Nachtigall in einer Höhle, oder im Walde der Jagd?« 16 Ebd., S. 1312, weiterverweisend auf S. 1036. 17 Bernard de Bovier de Fontenelle: Sur la poésie, en général. In: ders.: Rêveries diverses. Opuscules littéraires et philosophiques. Hg. von Alain Niderst. Paris 1994, S. 51–75, hier S. 54. Bei der



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Gottsched beschreibt am Anfang des ersten, allgemeinen Teils des Versuchs einer Critischen Dichtkunst, der in der ersten Auflage 1730 erschienen ist, die Musik als ältere Schwester der Poesie und kommt in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die Theorie zu sprechen, nach der die Menschen das Singen von den Vögeln gelernt hätten. Gottsched nimmt zu dieser Theorie differenziert Stellung. Es sei einerseits nicht unwahrscheinlich, dass die Theorie zutreffe, andererseits sei zu vermuten, dass der Mensch würde gesungen haben, »wenn er gleich keine Vögel in der Welt gefunden hätte«, da das Singen und damit das daraus hervorgegangene Dichten in den Gemütsäußerungen des Menschen seinen Ursprung habe.18 Zur Entstehung der Poesie imaginiert Gottsched: »Wenn ein muntrer Kopf, von gutem Naturelle, sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Gebluet erhitzet und die Lebensgeister rege gemacht hatte: so hub er etwa an vor Freuden zu singen, und sein Vergnuegen auch durch gewisse dabey ausgesprochene Worte zu bezeigen.«19 Aus seiner ›anthropologischen‹ Erklärung der Entstehung von Dichtung entwickelt Gottsched ansatzweise eine Gattungstypologie: »Lehrt uns nicht die Natur, alle unsere Gemuethsbewegungen, durch einen gewissen Ton der Sprache, ausdruecken? Was ist das Weinen der Kinder anders, als ein Klagelied […]? Was ist das Lachen und Frohlocken anders, als eine Art freudiger Gesaenge, die einen vergnuegten Zustand des Gemuethes ausdruecken?«20 Der zweite, spezielle Teil von Gottscheds Critischer Dichtkunst enthält daran anschließend eine Gattungslehre, die die Textsorten nach ihrem vermuteten Alter sortiert.21 Da die Dichtung nach Gottsched aus der Musik entstanden ist, stehen hier von Gaier genannten Abhandlung handelt es sich um einen anderen Text als jenen, der in Luise Gottscheds Übersetzung in vier Folgen im Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste erschienen ist: L.[uise] A.[delgunde] V.[ictorie] G.[ottschedin]: Des Herrn von Fontenelle Betrachtungen über die Dichtkunst. Aus dem VI. Theil seiner Œuvres div. übersetzt. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1 (1745), S. 496–514 [6. Stück, Nr. 2] und 2 (1746), S. 33–52 [1. Stück, Nr. 3], S. 162–175 [2. Stück, Nr. 7] sowie S. 225–238 [3. Stück, Nr. 3]. In diesem Text geht es nicht um Lyrik und Vogelgesang, sondern um Theatertheorie. 18 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen […]. Zweyte und verbesserte Auflage […]. Leipzig 1737, S. 68 [Teil 1, Kap. 1, § 3]. 19 Ders.: Versuch einer Critischen Dichtkunst [31742]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Bd. 6, T. 1. Berlin, New York 1973, S. 131. 20 Ebd., S. 116. 21 Skizzenartig bereits im ersten, allgemeinen Teil: »Und so sehen wir denn nicht nur, daß die alleraelteste Gattung der Poesie in Gesaengen, Liedern und Oden bestanden; sondern auch in wie vielerley Gattungen sich dieselben allmaehlich eingetheilet. Ein Lied zum Lobe der Goetter, hieß nachmals im griechischen Hymnus, oder Paean; ein Lied auf einen Helden, Encomium oder Scolion; ein satyrisch Lied, Dithyrambus; ein verliebtes Lied, Melos oder Threnus; und ein Trinklied, hieß eine Ode […]. So gar als allmaehlich die Heldengedichte, Tragoedien, Comoedien und Schaefergedichte aufkamen, war noch der Gesang ein unentbehrliches Stueck bey allen.

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an erster Stelle Lieder, oder Oden. Unter Oden versteht Gottsched mithin nicht Gedichte in antiken Odenversmaßen, sondern liedhafte Gedichte. ›Ode‹ heißt im Griechischen ›Lied‹, und ein anderer aus dem Griechischen vermittelt über das Lateinische tradierter Name für solche Gedichte ist lyrica. Gottsched steht am Beginn einer Begriffsverschiebung, die am Ende des 18.  Jahrhunderts, zur Zeit der Abfassung der Ballade »Der Sänger«, zu einem Abschluss gelangt, nämlich von einem Konzept der Lyrik als liedhafter, der Idee nach zu einer Melodie gesungener Dichtung hin zu einem Konzept der Lyrik als Makrogattung, die vom Epos einerseits, vom Drama andererseits abgegrenzt wird.22 Die Idee der Dichtung als Vogelgesang wird bei Gottsched in Verbindung mit der Lyrik, im älteren Sinne verstanden als liedhafte, sangbare Dichtung, gedacht.

IV. Diese traditionelle Vorstellung von Lyrik geht für den Bereich der Poetik der Dichtung in deutscher Sprache zurück auf Martin Opitz. In Opitz’ 1624 erschienenem Buch von der deutschen Poeterey findet sich im die dispositio der Dichtung betreffenden fünften Kapitel ebenfalls eine Gattungslehre, die aber, anders als bei Gottsched, im Sinne der rhetorischen Stillehre sortiert ist. Dementsprechend steht die Lyrik hier an letzter Stelle, sie entspricht am reinsten dem stilus humilis. Opitz erläutert zu dieser Textsorte: »Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kann / erfodern zueförderst ein freyes lustiges gemüte /

Das Heldengedichte naemlich, entstund aus den Lobliedern auf Goetter oder Helden […]. Die Tragoedien und Comoedien entstunden aus den satirischen Spottliedern […]. Die Schaefergedichte entstunden aus den verliebten Liedern, welche sonderlich in Arkadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und gesegneten Landschaften, moegen im Schwange gewesen seyn […].« Ebd., S. 132  f. 22 Vgl. dazu allgemein Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; 92), S. 180–195. Behrens macht im Rahmen ihrer Studie auf Vorläufer dieser Sichtweise bereits in der italienischen Renaissance aufmerksam. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968 hat für den deutschen Bereich gezeigt, dass die Dreiteilung der Poesie in die Makrogattungen Epik, Lyrik und Drama schon in Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus von 1735 auftaucht und sich im Rahmen der Batteux-Rezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach durchsetzt (ebd., S. 261  f.). Vgl. auch Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (Beihefte zum Euphorion; 40).



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vnd wollen mit schönen sprüchen vnnd lehren häuffig geziehret sein […].«23 Auch Opitz schreibt den lyrica im Rahmen seiner Gattungslehre eine herausgehobene Bedeutung zu. Das wird allerdings nicht durch die Konstruktion einer Ursprungsgeschichte begründet, sondern durch rhetorische Kategorien. Die herausgehobene Bedeutung der lyrica wird unterstrichen durch den Umstand, dass diese Textsorte im Rahmen der Gattungslehre die einzige ist, die durch ein Textbeispiel veranschaulicht wird, nämlich durch Opitz’ eigene Ode »Ich empfinde fast ein grawen«, eine freie Übersetzung von Pierre Ronsards zuerst 1554 erschienener Ode Nr. 18, »J’ai l’ésprit tout ennuyé«.24 Bekanntlich hat Opitz seine Vorstellungen von Dichtung an anderer Stelle im großen Stil durch Beispiele veranschaulicht, nämlich durch das Parallelunternehmen zum Buch von der deutschen Poeterey, die Teutschen Poemata. Hier findet sich eine ganze Gruppe von lyrica oder auch Oden, und die Ode Nr. 5 gestaltet den Vergleich von Lyrik und Vogelgesang. Kompt last uns außspatzieren/ Zu hören durch den Wald. Die Vögel musiciren/ Das Berg und Thal erschallt. Wol dem der frey kan singen/ Wie jhr / jhr Volck der Lufft; Mag seine Stimme schwingen Zu der auff die er hofft. Ich werde nicht erhöret/ Schrey ich gleich ohne Rhu; Die so mich singen lehret Stopfft selbst die Ohren zu. Mehr wol dem der frey lebet/ Wie du / dn [sic] leichte Schar/ In Trost und Angst nicht schwebet/ Ist ausser der Gefahr.25

23 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 33 [Kap. 5]. 24 Vgl. zum Verhältnis zwischen Ronsards Vorlage und Opitz’ imitatio Detlef Haberland: Opitz’ Ode Ich empfinde fast ein grawen zwischen Pierre Ronsard und Siegmund von Birken. In: Mirosława Czarnecka u.  a. (Hgg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Wrocław 2003, S. 309–325, hier S. 311–315. 25 Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 3), S. 333  f.

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Wie später in Goethes »Sänger«-Gedicht werden hier die Vögel mit einem freien Leben assoziiert. Die Freiheit ist aber nicht wie bei Goethe Freiheit von materiellen und gesellschaftlichen Bindungen, sondern eine Freiheit von Emotionen und Bedürfnissen. Opitz’ Ode ist ein Liebesgedicht, in dem sich das Ich wünscht, wie die Vögel singen zu können, nämlich frei von emotionalen Beschwernissen, die durch das Nicht-erhört-Werden durch die Geliebte bewirkt werden. Wichtig für den hier verfolgten poetikgeschichtlichen Zusammenhang ist aber ein weiterer Aspekt: Das Ich setzt seinen Gesang nicht wie später Goethes Sänger selbstbewusst mit dem der Vögel gleich, sondern es beschreibt den Vogelgesang als Ideal, das nicht erreicht wird. Der Vogelgesang ist etwas, dem der lyrische Dichter nacheifern kann, ohne dass er wirklich glaubt, es jemals erreichen zu können. Die Lyrik-Konzeption von Goethes Sänger ist geradezu gegen eine Vorstellung künstlicher und regelgeleiteter Rhetorik als Referenzrahmen für Dichtung formuliert; bei Opitz stehen die beiden Referenzen Vogelgesang und Rhetorik sich dagegen nicht unvermittelbar gegenüber: Der Gesang der Vögel kann als exemplum des Dichters gelten, den er nachahmen kann; dabei ist jedoch immer klar, dass die rhetorischen Mittel des Dichters die Natürlichkeit des Vogelgesangs nicht wirklich erreichen können; zudem sind die Gründe, warum die Frau ihn nicht erhört, andere als der, dass er nicht naturähnlich genug dichtet. Woher übernimmt Opitz seine Konzeption der Lyrik als liedhafter, sangbarer Dichtung? Das ist, soweit ich sehe, bislang ebenso unvollständig geklärt wie die allgemeinere Frage, woher er seine Gattungslehre bezieht. Verschiedene Kandidaten kommen in Frage, an erster Stelle die Poetik des Julius Caesar Scaliger,26 aber auch dichterische Vorbilder wie Daniel Heinsius oder auch Francesco Petrarca.27 Die Bestimmung der Lyrik durch Opitz hatte vermutlich auch für viele Zeitgenossen keine eindeutig erkennbaren Bezugspunkte. Zudem definiert er sie im Buch von der deutschen Poeterey alles andere als präzise; an die oben zitierte knappe Bestimmung schließt Opitz eine an eine Stelle bei Horaz anknüpfende Liste mög26 Vgl. zur Erklärung auf den ersten Blick inkonsistenter Darlegungen Opitz’ zur Gattungs­ poetik im Anschluss an Scaliger Stefan Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff bei Opitz. Ein übersehener Zusammenhang zwischen Aristoteles, Scaliger und der deutschen Barockpoetik. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1939). Nach­ ahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63), S. 88–98. 27 Vgl. auch die Hinweise bei Jörg Robert: Vetus Poesis – nova ratio carminum. Martin Opitz und der Beginn der Deutschen Poeterey. In: Jan-Dirk Müller, J.  R. (Hgg.): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Berlin 2007 (Pluralisierung & Autorität; 11), S. 397–440, hier S. 420–426. Zur Bedeutung von Heinsius im gegebenen Zusammenhang vgl. Achim Aurnhammer: Daniel Heinsius und die Anfänge der deutschen Barockdichtung. In: Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer (Hgg.): Daniel Heinsius. Klassischer Philologe und Poet. Tübingen 2008 (NeoLatina; 13), S. 329–345.



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licher Inhalte der lyrica an: Horaz wolle, so Opitz, »zue verstehen geben / das sie alles was in ein kurz getichte kann gebracht werden beschreiben können; buhlerey / täntze / banckete / schöne Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit des todes / etc.«28 Diese Liste ist erstaunlich unspezifisch. Anscheinend kann alles Mögliche Gegenstand von lyrica sein. Weiter führt hier die Beobachtung dessen, was nicht Teil der Liste ist, etwa Theoretisches und Religion. Als mögliche Gegenstände lyrischer Dichtung bleiben jedoch, auch wenn man diese Bereiche ausgrenzt, noch sehr viele mögliche Inhalte übrig. Formal hingegen bestimmt Opitz die lyrica nicht. Da er sie aber andererseits als Textsorte kodifiziert und darüber hinaus als besondere Textsorte hervorhebt, ist es nicht verwunderlich, dass die Autoren, die in der Nachfolge von Opitz versuchten, eine genuin deutschsprachige Kunstdichtung ins Werk zu setzen, besonders auch an der Frage herumexperimentierten, was eigentlich ein gelungenes lyrisches Lied, eine gelungene Ode sei. Daraus resultiert in den Zentren der Opitz-Nachfolge in den 1630er und 1640er Jahren, in Königsberg, in Hamburg, vor allem aber in Leipzig und Umgebung, eine rege und vielgestaltige Produktion von lyrischen Liedern.29 Als einem der ersten regionalen Zentren, in denen die Opitz’sche Dichtungsreform im größeren Stil umzusetzen versucht wird, kommt Leipzig und dem dort ansässigen Dichterkreis eine literaturhistorisch eminente Bedeutung zu. Diese Bedeutung hat bislang nicht zu entsprechenden Forschungsaktivitäten geführt, so dass die Namen der Protagonisten des Leipziger Dichterkreises bisher vor allem Spezialisten geläufig sind.30 Eine Ausnahme bildet Paul Fleming, der Leipzig aber früh wieder verlassen hat und somit innerhalb des Kreises eine Sonderrolle einnimmt.31 Bekannt 28 Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (Anm. 23), S. 33 [Kap. 5]. 29 Vgl. dazu Anthony J. Harper: Zur Verbreitung und Rezeption des weltlichen Liedes um 1640 in Mittel- und Norddeutschland. In: Gudrun Busch, A.  J. H. (Hgg.): Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18.  Jahrhunderts. Amsterdam, Atlanta 1992 (Chloe. Beihefte zum Daphnis; 12), S. 35–52. 30 Allen voran Anthony J. Harper; vgl. die vorangegangene und die folgende Fußnote. Der Leipziger Dichterkreis müsste, wie Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, eigentlich zumindest in Anführungszeichen gesetzt werden. Es handelte sich weniger um eine eng verbundene soziale Gruppierung, sondern eher um einen lockeren Zusammenhang von dichtenden Gelehrten im mitteldeutschen Raum mit mehr oder weniger enger Affinität zur Leipziger Universität. Dieser Zusammenhang erstreckt sich über mindestens zwei Generationen, und gerade in der zweiten Generation erweitert bzw. verlagert sich der regionale Schwerpunkt der Gruppierung, einerseits an die Universität Wittenberg, die durch die Strahlkraft des dort lehrenden August Buchner für jeden an Poesie Interessierten Attraktivität besaß, andererseits nach Dresden, wo man als Gelehrter bei Hofe in Lohn und Brot gelangen konnte. 31 Vgl. überblickshaft zu dem Zusammenhang Anthony J. Harper: Die Leipziger Lyrik nach Paul Fleming – ein neuer Überblick. In: ders.: Schriften zur Lyrik Leipzigs. Stuttgart 1985, S. 21–46; Volker Meid: Barocklyrik. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2008

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war der Leipziger Dichterkreis des 17. Jahrhunderts allerdings noch im wichtigsten Leipziger Gelehrtenkreis des 18. Jahrhunderts, im Kreis um Gottsched. Im 1746 erschienenen zweiten Band des Neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste findet sich die Edition einer Abschiedsode aus der Feder des Gottlieb Siegmund Corvinus, und sie wird eingeleitet durch eine »Vorerinnerung. Von den berühmtesten Meißnischen Dichtern«32  – beschrieben wird im Großen und Ganzen dieselbe Gruppierung, die in der Forschung lange Zeit als Leipziger Dichterkreis firmierte. Gottsched muss, wie sich zeigen wird, die Vorstellung von lyrischer Dichtung als Vogelgesang nicht aus französischen Poetiken kennen gelernt haben; er kann sie auch aus der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts kennen, vielleicht vermittelt über die regionale Leipziger Tradition. Dafür kann der genannte Fund freilich nur ein erstes Indiz bieten. Die Leipziger Lyriker des 17.  Jahrhunderts arbeiten also an der Umsetzung von Opitz’ Andeutungen zur Dichtung von lyrischen Liedern; im protestantischen Kernland ist in diesem Kontext jedoch noch ein weiterer Gattungsprätext prägend: das protestantische Kirchenlied, das hier durch das 16.  Jahrhundert hindurch gepflegt, tradiert und weiterentwickelt worden war. Liederdichtung nach Opitz ist damit für das Verständnis der Zeitgenossen immer auch ein ›Säkularisat‹ geistlicher Vorbilder (umgekehrt können dann im Lauf des 17. Jahrhunderts die weltlichen Lieder wieder zu Vorbildern neuer geistlicher werden). Vor diesem Hintergrund ist es nicht ohne Bedeutung, wenn Christian Brehme, einer der Protagonisten des Leipziger Dichterkreises, seine 1637 erschienene Ode »Auff der Schaeferin Magdalis Namens-tag« formal im Wesentlichen identisch wie Martin Luthers De profundis-Variation »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« gestaltet. Dieses Modell übernimmt noch strenger als Brehme später auch Goethe für seine Sänger-Ballade,33 was einmal mehr ein Hinweis für die gattungspoetische Reflektiertheit des Autors ist. Wichtiger für den hier traktierten Zusammenhang ist aber: Auch Brehmes Ode gestaltet den Vergleich zwischen lyrischer Dichtung und Vogelgesang.

(Sammlung Metzler; 227), S. 83–99; ders.: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Lite­ ratur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald), S. 144–166. 32 Weil. Gottlieb Siegmund Corvini, sonst Amaranthes, letztere Poesie und Abschieds-Ode. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 2 (1746), S. 238–256 [3. Stück, Nr. 4], vor allem S. 238–244: Vorerinnerung. Von den berühmtesten Meißnischen Dichtern. 33 Vgl. den Hinweis bei Hahn (Anm. 3), S. 147.



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Hoer Magdalis / warumb doch jetzt Ein jedes Thierlein springet: Warumb ein jedes Vöglein sitzt Auff seinen Ast und singet: Warumb die gantze Compagny In höchsten Frewden lebet hie/ Ist das dein Tag hertringet. Warumb der Coridon dein Hirt Stimmt und putzt seine Leyer: Damit sie etwas heller klirrt Und seh auch etwas newer/ Geschihet alles nur darumb Weil nunmehr ist die Zeit herumb Und auch dein Tag kömpt hewer. Hör / Magdalis / was sol ich dir Du erste aller Schönen/ Du unsrer Wälder liebste Zier Zu deinen [sic] Lobe thönen/ Mit meiner schlechten Leyer-klang Was sol ich dir vor ein Gesang Vor ein Gedicht entlehnen. Die Wälder die gehorchen dir: Die Vogel müssen singen: Die Fische zischen für und für: Die Lämmer müssen springen: Ja auch der Vogel der nicht kan Nimbt jetzt ein andre Weise an Wil sich zum singen zwingen. Die Nymph- und Schäfferinnen all/ Die Hirten auch darneben/ Sich auff den schön geblümbten Saal Der breiten Aw begeben: Und singen all vor einen Mann Daß mans fast nicht verstehen kan: Die Magdalis sol leben.34

34 Christian Brehme: Auff der Schäferin Magdalis Namens-tag. In: ders.: Allerhandt Lustige / Trawrige / vnd nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte [1637]. Mit einem Nachwort, Bibliographie und einem Neudruck der »Weltlichen Gedichte« (1640) hg. von Anthony J. Harper. Tübingen 1994, Bl. Q2v f.

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Wie bei Opitz wird der Vergleich zwischen lyrischem Gedicht und Vogelgesang innerhalb eines Naturszenarios entwickelt. Aber anders als bei Opitz ist das Brehme’sche Szenario das einer idealisierten Schäferwelt. Schäferdichtung ist bekanntlich im 17.  Jahrhundert verbreitet und beliebt und besitzt seit ihrer Erfindung in der Antike als festen Bestandteil eine poetologische Dimension: Die Hirten sind immer auch Dichter.35 Wie bei Opitz spielt auch in Brehmes Gedicht eine Frau als Zielpunkt des Gesangs des lyrischen Ich eine Rolle, aber hier ist es keine unerreichbare Geliebte, sondern eine Jubilarin – ob das Ich der Geliebte der Hirtin namens Coridon ist, der in der zweiten Strophe von sich in der dritten Person redet, bleibt unbestimmt, ist aber zu vermuten: Coridon ist auch ein Dichter. Seit Opitz’ Corydon-Ode, deren Bekanntheit durch die zahlreichen Parodien belegt ist, war der Name mit dieser Bedeutung eng verbunden, konnte als Chiffre für Dichtertum gelten und rief einen intertextuellen Zusammenhang auf. Wie bei Opitz spielt in Brehmes Gedicht die Konkurrenz des Dichters mit den Vögeln eine Rolle, aber in einem anderen Sinne. Die Vögel sind bei Brehme gerade nicht frei, sie stehen unter dem Zwang, die Hirtin Magdalis besingen zu müssen. Das liegt daran, dass sie Teil der Natur sind, über die Magdalis gebietet und die darum im Ganzen ihren Namenstag besingen muss. Demgegenüber kann der Dichter nur »schlechten Leyer-klang« produzieren; sein Gedicht ist gegenüber dem imaginierten Naturgesang defizitär. Dieser Aspekt ist für die hier verfolgte poetikgeschichtliche Fragestellung relevant, denn in der Konkurrenz mit den Vögeln wird das Dichter-Ich, konträr zu dem in Goethes Gedicht entfalteten Szenario, gerade als nicht naturbezogener Sänger beschrieben, dessen Kunst gegenüber dem Naturgesang stets nur defizitär sein kann. Bei all dem ist zudem zu berücksichtigen, dass das Szenario bei Brehme ironisch perspektiviert wird: Der Lobgesang auf die Schäferin Magdalis endet in ohrenbetäubendem Lärm. Die poetologische Relevanz des Gesagten wird durch diese Brechung ein wenig zurückgefahren. An einem weiteren Beispiel der Leipziger Lyrik des 17. Jahrhunderts wird eine Konsequenz des Modells deutlich, nach dem der Dichter in Konkurrenz mit den Vögeln tritt, deren als Ideal angesehener Gesang jedoch niemals erreicht werden kann. Der vielleicht wichtigste Leipziger Lyriker der zweiten Generation ist David Schirmer. Schirmer veröffentlicht 1654 eine Gedichtsammlung unter dem Titel Singende Rosen Oder Liebes- und Tugend-Lieder.36 Diese Sammlung weist gegen35 Vgl. dazu die klassische Studie von Ernst A. ­Schmidt: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972. 36 Vgl. die Würdigung Schirmers in der genannten »Vorerinnerung. Von den berühmtesten Meißnischen Dichtern« aus dem Jahr 1746 (Anm. 32), S. 240: »Es ist kein Lob für seine Nachkommen, daß man ihn so gar ins Vergessen gerathen lassen, da er wohl werth wäre, vor vielen neu-



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über den bisher erwähnten von Opitz und Brehme eine Besonderheit auf. Opitz’ Oden sind idealiter zum Singen gedacht, aber eine Melodie dazu ist nicht festgelegt. Das trifft auch auf Brehme zu, der jedoch, für die Zeit nicht untypisch, vielen seiner lyrischen Gedichte Hinweise beifügt, auf welche bekannten Melodien die von ihm verfassten Texte gesungen werden können; es handelt sich dem Anspruch nach um Kontrafakturen, um Neuvertextungen.37 Schirmer repräsentiert mit seiner Sammlung demgegenüber den konsequenten nächsten Schritt: Seine Gedichte sind mit musikalischen Notationen versehen, die der böhmische Komponist Philipp Stolle zu den Texten verfertigt hat. In dieser Sammlung ist mithin die Vollform liedhafter Dichtung verwirklicht. Passend zu diesem Befund erscheint drei Jahre später, 1657, im Rahmen von Constantin Christian Dedekinds Aelbianischer Musen-Lust, einer Sammlung von Vertonungen deutschsprachiger Lyrik seit Opitz, vornehmlich sächsischer Provenienz, auch eine Vertonung von Opitz’ Ode »Komt lasst uns ausspazieren«, die damit nachträglich ebenfalls zu einem ›echten‹ Lied transformiert wird.38 In einem der in Schirmers Singenden Rosen versammelten Lieder, einem carpe diem-Gedicht, wird, wie bereits der beste Kenner der nord- und mitteldeutschen Liederdichtung des 17. Jahrhunderts, Anthony J. Harper, gezeigt hat, die Konkurrenz zum Vogelgesang experimentell ins Werk gesetzt, indem durch daktylischen Rhythmus sowie die Mittel der Onomatopoiie, der Alliteration, der Assonanz und des Binnenreims Tier- und insbesondere Vogellaute nachgeahmt werden. Dabei spielt nicht bloß Klangmalerei eine Rolle, sondern allgemeiner ein Spiel mit den Möglichkeiten der Sprache:

ern gelesen zu werden; die ihn zwar in Fehlern übertroffen, aber an reinem Feuer und lauterm Witze nicht erreichet haben.« 37 Vgl. zu dieser Relation von Lyrik und Musik Winfried Eckel: Lyrik und Musik. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart, Weimar 2011, S. 180–192, hier S. 189. Eckels Handbuchbeitrag bietet einen guten Überblick über das gesamte intermediale Feld ›Lyrik und Musik‹. Spezifischer zum 17. Jahrhundert Achim Aurnhammer und Dieter Martin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Siegfried Mauser (Hg.): Handbuch der musikalischen Gattungen. Bd. 8,1: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Hermann Danuser. Laaber 2004, S. 334–348. Noch spezifischer zu Brehme Werner Braun: Lieder ohne Noten: Christian Brehme (1637 und 1640). In: Christoph-Hellmut Mahling, Ruth Seiberts (Hgg.): Festschrift Walter Wiora zum 90. Geburtstag (30. Dezember 1996). Tutzing 1997 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft; 35), S. 24–33. 38 Constantin Heinrich Dedekind: Die Aelbianische Musen-Lust. Faksimiledruck der Ausgabe von 1657. Hg. und eingeleitet von Gary C. Thomas. Bern u.  a. 1991 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts; 47), Bl. C1v f. Auf Dedekinds Vertonung von Opitz’ Ode weist bereits Anthony J. Harper: German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century. An examination of the texts in collections of songs published in the German-language area between 1624 and 1660. Aldershot/Hampshire, Burlington/Vermont 2003, S. 194 hin.

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Die Frösche coaxen / und quaxen und murren. Die Tauben / die turteln und lachen und gurren. Die schwirrende Schwalbe besuchet die Tächer. Die Fincken bepincken die grünen Gemächer. Die Lerche tirliret In sicherem Stande/ Und führet bezieret Die Freyheit zu Lande. Die Nachtigal schläget und schlürffet und singet Und hallet und schallet vor Freuden und springet.39

Freilich handelt es sich hier nicht ausschließlich um ein Beispiel musikalischer Dichtung, sondern mindestens ebenso sehr um eine Form von rhetorischer varia­ tio. Darüber hinaus zeigt die Textstelle durch ihre differenzierte Darstellung des Gesangs unterschiedlicher Vogelarten nicht zuletzt ein Defizit des im vorliegenden Beitrag Gesagten an: Wenn man über die Bedeutung des Vergleichs zwischen Dichtung und Vogelgesang etwas sagen möchte, dann ist es streng genommen wichtig darauf zu achten, welche Vogelarten in den relevanten Texten geschildert werden und welche symbolgeschichtliche Bedeutung das jeweils hat. Es ist eben ein Unterschied, ob eine Nachtigall schlägt, eine Lerche tiriliert, ein Fink zwitschert oder eine Schwalbe gurrt.40 Abgesehen davon, ist die Konkurrenz des Dichters mit dem Vogelgesang in Schirmers Text allgemein mit großer Konsequenz gestaltet: Der Vogelgesang wird nicht wie bei Opitz und Brehme als

39 David Schirmer: Ermuntert euch meine Gedancken und Sinnen. In: ders.: Singende Rosen / Oder Liebes- und Tugend-Lieder Jn die Music gesetzt Durch Philipp Stollen […]. Dresden 1654, Nr. 67. Vgl. die Hinweise bei Harper: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 187  f. 40 Vgl. zur symbolgeschichtlichen Bedeutung insbesondere von Nachtigall und Lerche als poe­ tologischen Symbolen der Dichtung die Artikel von Günter Butzer und Joachim Jacob: Lerche sowie von Adam Lengiewicz: Nachtigall. In: G.  B., J.  J. (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar 2008, S. 204  f. und 246  f. Kanonische lyrische Gestaltungen der Thematik im 18. Jahrhundert liegen vor von Christian Fürchtegott Gellert: Die Nachtigall und die Lerche [1746] sowie Die Lerche und die Nachtigall [1756]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Bd.  1: Fabeln und Erzählungen. Hg. von Ulrike Bardt, B.  W. Berlin, New York 2000, S. 58  f. und 218; von Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Elegie auf eine Nachtigall [1771], Die Nachtigall [1773/1783] sowie An eine Nachtigall, die vor meinem Kammerfenster sang [1776]. In: ders.: Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. von Walter Hettche. Göttingen 22008, S.  46–50, 163  f. und 225  f.; schließlich von Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Lerche, und die Nachtigall [1796]. In: ders.: Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Horst Gronemeyer u.  a. Abt. Werke, Bd. I/1: Oden. Text. Hg. von H.  G., Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 2010, S. 531  f. Zu Gellert vgl. Bernd Witte: »Die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen.« Gellert als Fabeldichter. In: ders. (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990, S. 30–50.



»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 

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unerreichbares Ideal thematisiert, sondern die Konkurrenz wird selbstbewusst angenommen, indem der Dichter versucht, tatsächlich zu dichten, wie der Vogel singt. Die Worte fungieren hier nicht bloß als bedeutungstragende, sondern zum Teil auch als klangtragende Einheiten; es geht darum, eine klangliche Wirkung zu erzielen.41 Dass Schirmer sich grundsätzlich mit seiner lyrischen Dichtung im Sinne von aemulatio auf Opitzʼ Vorgaben bezog, kann man etwa an seiner Parodie der Opitz’schen Modell-Ode »Ich empfinde fast ein Grawen« erkennen.42 Das von Schirmer vermutlich ebenfalls als Überbietung einer anderen Facette der Opitz’schen Vorgaben zur lyrischen Dichtung gedachte Modell der konsequenten Nachahmung des Vogelgesangs erwächst einem Umfeld, in dem sich noch konsequenter als bei Opitz die Vorstellung entwickelt hat, dass die Lyrik »untergründig rhythmisch-musikalisch bedingt« ist und dass sie »sozusagen aus einem musikalischen Denken entsteht«.43 Das bei Schirmer aufscheinende Modell ist aber, was die praktische dichterische Tätigkeit angeht, nur begrenzt anschlussfähig. Im weiteren Verlauf der Lyrikgeschichte wird es allenfalls punktuell aufgegriffen;

41 Vgl. die allgemeine Einschätzung von Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 1959, S. 75: »Schirmer gehört mit Zesen an den Anfang der ausgesprochen klangvirtuosen Lieddichtung.« 42 David Schirmer: Marnia und ein Buch. In: ders.: Poetische Rosen-Gepüsche. Dresden 1657, S. 77  f. Vgl. den Hinweis bei Harper: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 171. Eine weitere Parodie von Opitzʼ Ode im Umfeld des Leipziger Dichterkreises findet sich bei Gottfried Finckel­ thaus: Er entsaget der Liebe. In: ders.: Deutsche Gesänge. Hamburg 1640, Bl. F1v. Vgl. zu Finckelthaus’ Opitz-Parodien auch die Hinweise bei Harper: Leipziger Lyrik (Anm. 31), S. 29  f. sowie bei dems.: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 130. Zu den Opitz-Parodien Schirmers und Finckelthaus’ sowie einiger anderer Autoren vgl. auch Haberland (Anm. 24) Auf weitere zeitgenössische Parodien von Opitz’ Gedicht macht Karl F. Otto, Jr.: Parodies of an Opitz Poem. In: Barbara Becker-Cantarino, Jörg-Ulrich Fechner (Hgg.): Opitz und seine Welt: Festschrift für George Schulz-Behrend zum 12. Februar 1988. Amsterdam, Atlanta 1990 (Chloe. Beihefte zum Daphnis; 10), S. 391–398 aufmerksam. Kurioser Weise vertont Dedekind in der Aelbianischen Musen-Lust nicht Opitzʼ Vorlage, sondern Finckelthausʼ Parodie. Vgl. Dedekind (Anm.  38), Bl. H1v f. Von allen Gründen, die man hierfür vermuten kann, gefällt mir der am besten, dass Dedekind Humor hatte. Statt des Opitz-Gedichts, in dem das Ich Grauen vor Platon und seinen gelehrten Kumpanen empfindet, denen es zu lange gefrönt hat, und als Antidot in die Natur geht, wo die Vögel singen, also statt eines dem Inhalt nach ausgesprochen musikaffinen Gedichts, vertont Dedekind das Finckelthaus-Gedicht, in dem das Ich Grauen vor der Liebe empfindet, der es zu lange gefrönt hat, und als Antidot in seine Bibliothek geht, um zu schauen, »Was doch meine Bücher machen/ | Die ich lange nicht gesehn«, also ein dem Inhalt nach überhaupt nicht musikaffines Gedicht. 43 Die Zitate nach Elisabeth Rothmund: Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik. In: Maximilian Bergengruen, Dieter Martin (Hgg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen 2008, S. 35–54, hier S. 53. Rothmund bezieht sich hier vor allem auf Philipp von Zesen, setzt seine Lyrikauffassung dabei jedoch in Beziehung zu der der Leipziger Lyriker.

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das poetologische Ideal der lyrischen Dichtung, die ist wie der Gesang der Vögel, bleibt dagegen mindestens bis Ende des 18. Jahrhunderts poetologisch relevant.

V. Wenn Goethe Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Ballade »Der Sänger« das Ideal einer Dichtung entwirft, die wie der Gesang der Vögel ist, dann steht er in einer langen poetologischen und lyrikhistorischen Tradition, die mindestens bis auf Opitz zurückgeht. Die scheinbar widersprüchliche Strategie, auf dem Umweg über die Tradition, das Alte, das Vermittelte eine höhere Form der Unmittelbarkeit herzustellen, findet sich in Goethes Schaffen nicht selten. Dass Goethe für seine Thematisierung und Problematisierung der alten Vorstellung von lyrischer Dichtung als Vogelgesang die Textsorte Ballade wählt, erscheint vor dem Hintergrund der vorangegangenen Explorationen nochmals in einem anderen Licht: Christian Wagenknecht betont in seinem Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, dass »die Regelpoetik des Barock und der frühen Aufklärung (von Opitz bis Gottsched) im Kanon der Gattungen für die Ballade keinen Platz« hatte.44 Goethe wählt diese Textsorte vermutlich auch, um anzuzeigen, dass er das Konzept der Dichtung als Vogelgesang im Rahmen eines Volks­poesie­ modells konzipiert, in das sich viele der einschlägigen Gedichte seit Opitz aus der Retrospektive einordnen lassen und das unabhängig von den Regelpoetiken gedacht wird  – die aber zur Tradierung des Konzepts von Lyrik als Vogelgesang, wie skizziert, maßgeblich beigetragen hatten. Der Vergleich ausgewählter Beispiele von und nach Opitz mit Goethes Text führt nun zu einer These zur Geschichte der Bestimmung der Lyrik im doppelten Sinne, deren Triftigkeit durch weiterführende Untersuchungen überprüft werden müsste: Im Kontext der Odendichtung nach Opitz dient der poetologische Vergleich mit dem Vogelgesang der Anzeige einer Konkurrenz, bei der der menschliche Dichter stets den Kürzeren zieht  – noch Schirmers selbstbewusster Versuch zeigt ja im Grunde ein Scheitern an, insofern er vorführt, dass der Versuch, den Vogelgesang mit sprach­ lichen Mitteln zu imitieren, nicht zu einem vollständig überzeugenden Ergebnis führt. Prinzipiell wird die Konkurrenz des Dichters mit den Vögeln jedoch nicht als aussichtslos vorgestellt. Mit der im 18. Jahrhundert sich vollziehenden Ausweitung des Konzepts der Lyrik zur Makrogattung, die als Modell für Dichtung überhaupt gilt, wird auch die Vorstellung der Dichtung als Vogelgesang von dem 44 Christian Wagenknecht: Ballade [Art.]. In: Klaus Weimar u.  a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 192–196, hier S. 193.



»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 

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begrenzten Bereich liedhafter, sangbarer Lyrik auf lyrische Dichtung als Modell von Dichtung überhaupt ausgeweitet.45 Gleichzeitig wird der Vergleich lyrischer Dichtung mit Vogelgesang in ein anthropologisches Narrativ eingepasst. Die Vorstellung erhält am Ende dieser Entwicklung bei Goethe mit dem Bezug auf eine Vorstellung geniehafter, ursprungs- und naturbezogener Dichtung die Implikation eines maximalen Anspruchs für den Dichter. Imaginiert wird, im Zuge einer poetologischen Verschiebung von einer Fundierung der Dichtung in der Rhetorik hin zur Fundierung in der ›Natur‹, eine Dichtung, für die kein Beispiel gegeben werden, sondern über die man nur noch vermittelt sprechen kann, weil das mindestens seit Opitz formulierte Ideal, zu singen, wie der Vogel singt, eine solche poetologische Ernsthaftigkeit erlangt, dass es prinzipiell nicht mehr eingelöst werden kann. Immerhin tritt etwa zur selben Zeit ein Vogelfänger auf den Plan, der anstelle der Vögel singt. Eine Lösung der durch Goethe markierten Problematik zeichnet sich später im romantischen Kunstlied ab, indem nämlich dort das Erreichen des Natürlichen auf dem Umweg über die dezidierte Artifizialität auf die Agenda gesetzt wird. So ist es kein Zufall, dass Goethes Sängerballade durch romantische Komponisten von Franz Schubert bis Hugo Wolf vertont wird, dass die Vertonungen erkennbar die intermediale Konkurrenz aufnehmen und versuchen, angemessen auf das durch Goethes Ballade markierte Dilemma zu reagieren.46 Aber auch im Medium des unvertonten lyrischen Gedichts finden sich in der Romantik Versuche, mit dem durch Goethe formulierten Dilemma umzugehen. Ein Beispiel bietet Ludwig Tiecks Herbstlied, in dem der singende, aber nach Menschenart, mit Text singende Vogel das Ich in einen Zustand versetzt, in dem sich Schmerz und Freude vereinen: Freude über die Schönheit des Gesangs, Schmerz über den bevorstehenden Abschied des Vogels, der im Herbst nach Süden zieht. Durch seine emotionale Reaktion gelingt es dem Ich jedoch, den Vogel noch einmal zur Rückkehr zu bewegen und ihm sowie dem Leser zu eröffnen, dass der Herbst eine bloß äußerliche Angelegenheit sei; solange Liebe

45 Bernhard Asmuth hat überzeugend dargelegt, inwieweit auch das moderne, an der Lyrik orien­tierte Modell von Dichtung – im hier beschriebenen Sinne einer Dichtung als Vogel­gesang –, wie es Goethes Sänger vertritt, in veränderter Form rhetorisches Gedankengut weiterführt, das für das ältere, frühneuzeitliche Modell von Dichtung konstitutiv war. Vgl. Bernhard Asmuth: Von der Höhe der Rhetorik zur Mitte der Lyrik. Mit einem Hinweis auf die Bedeutung Pseudo-Longins für das neuere Lyrikverständnis. In: Walter Baumgartner (Hg.): Wahre lyrische Mitte – »Zentrallyrik? Ein Symposium zum Diskurs über Lyrik in Deutschland und Skandinavien. Frankfurt a.  M. u.  a. 1993 (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik; 34), S. 51–85. 46 Vgl. dazu Glauert (Anm. 8).

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vorhanden sei, »[i]st und bleibt Frühlingesschein«. Diese tröstliche Einsicht wird ihrerseits präsentiert in Gestalt eines Liedes, des Herbstlieds.47 Medienhistorisch gesprochen, passt sich das in diesem Beitrag skizzierte Szenario einer Ideengeschichte von lyrischer Poesie als Vogelgesang in Vorstellungen des sich wandelnden Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein: Im 17. Jahrhundert ist für die lyrische Dichtung eine Situation der Schriftlichkeit maßgeblich, in der die Mündlichkeit als reales Komplement immerhin noch den poetologischen Vorstellungshintergrund bildet. Im 18. Jahrhundert dagegen hat sich die Situation insofern verschärft, als die Mündlichkeit der Dichtung vor allem als Phantasma vorstellungsleitend ist, das eine Reaktion auf zeitgenössische medien- und sozialhistorische Problemlagen darstellt, deren Grundlage die – in medientechnischer wie -soziologischer Hinsicht – weitestgehende Durchsetzung der Schriftlichkeit von Dichtung bildet.48 Der Dichter kann in dieser Situation zwar imaginierend behaupten, er singe, wie der Vogel singt, aber ob er das wirklich kann, dafür muss er dem Publikum den Beweis notwendig schuldig bleiben, denn das Modell der Dichtung als Vogelgesang ist in dieser Situation ein Ideal, das grundsätzlich nicht konkret exemplifiziert werden kann, sondern der Imagination des Publikums anheimgestellt wird.

47 Ludwig Tieck: Herbstlied [1796/1799]. In: ders.: Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank u.  a. Bd. 7: Gedichte. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt a.  M. 1995, S. 27  f. Das komplexe Gedicht bedürfte eingehenderer Interpretation. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass Tiecks Text (auch in dieser Hinsicht vergleichbar Goethes »Sänger«, der im Kontext eines größeren Texts entsteht und später auch separat publiziert wird) zwar zunächst als separates Gedicht entstanden ist, später aber in den Kontext eines größeren Texts, des Dramas Prinz Zerbino, integriert wurde und in diesem Kontext eine spezifische Funktion und Bedeutung erhält. Ausgehend nicht von Goethes »Sänger«, sondern von »Ein Gleiches (Wandrers Nachtlied)« entwickelt Theodore Ziolkowski nicht eine poetik-geschichtliche These, wie es im vorliegenden Aufsatz versucht wird, sondern ein Szenario, nach dem sich in der Geschichte der Darstellung des Verhältnisses von Ich und Vögeln über Hölderlin und Eichendorff bis hin zu Rilke der Wandel von Konzeptionen des Subjekts und des Raums ablesen lasse. Vgl. Theodore Ziolkowski: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten. In: The German Quarterly 87 (2014), S. 33–48. 48 Joh. Nikolaus Schneider: »Still auf dem Blatt ruhte das Lied«. Lyrische Gedichte zwischen Lesetext und Hörerlebnis. In: Wolfgang Adam, Markus Fauser (Hg): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18.  Jahrhundert. Göttingen 2005 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt; 4), S. 135–148, hier S. 148 konstatiert mit Blick nicht auf ideengeschichtliche, sondern auf pragmatische und strukturelle Aspekte der Thematik: »[…] pessimistischen Stimmen zum Trotz führt die leise Gedichtlektüre nicht zum Untergang der Gattung. Sie zieht vielmehr ein Hineinwandern akustischer Strukturen in die Verse selbst nach sich. Um 1800 ist Lyrik nicht mehr ein zur Lyra gesungenes Lied, sondern ein geschriebener Text, für den Sprachklang und Sprachrhythmus konstitutive Merkmale sind.«

Lothar van Laak

Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee und Catharina Regina von Greiffenberg 1 Vorüberlegung zu Intermedialität, Medialität und Einbildungskraft Intermedialität ist als ein überaus dynamisches Phänomen zu sehen.1 In dieser Dynamik kann sie eine sehr differenzierte Funktionalität entfalten. Für die frühneuzeitlichen Formen der Intermedialität, von denen die Emblematik und die Oper kulturell besonders bedeutsam sind, ist dabei fest zu stellen, dass sich ihre rhetorische und ästhetische Funktionalität in den diskursiven politischen und religiösen Zusammenhängen erweisen muss. Von ihnen her erhält sie ihre Legitimität und ihre Aufgabe. Wie dies gelingen kann und wo dabei Probleme auftauchen können, soll im Folgenden exemplarisch an der Lyrik Friedrich Spees und Catharina Regina von Greiffenbergs gezeigt werden. Der rote Faden, den ich dabei in den einzelnen Überlegungen knüpfen will, bezieht sich auf die Einbildungskraft. Die Rede von ihr, wie die von der Imagination und der Phantasie, führe ich dabei synonym; auch wenn das selbst historisch durchaus noch weiter zu differenzieren wäre.2 Die Einbildungskraft ist als das entscheidende anthropologische Vermögen zu sehen, das die Medialität von Kommunikation – im ästhetischen Sinn von Kommunikationsformen im Bereich des Imaginären – bestimmt und gestaltet.3

1 Siehe zum Phänomen der Intermedialität die Beiträge in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998. Immer noch anregend der Beitrag von: Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartet. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21.1 (1996), S. 85–116. 2 Siehe zur historischen Differenzierung der Rede von Einbildungskraft, Phantasie und Imagination: Bernadette Malinowski: Theorien des Imaginären – Fragmente einer Geschichte der Einbildungskraft. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hgg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. I. Tübingen 2003, S. 51–88. 3 Ausführlicher ist das dargelegt in: Lothar van Laak: Selbstgefühl und literarische Imagination. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck). DOI 10.1515/9783110521788-008

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 Lothar van Laak

Die Intermedialität von Einbildungskraft zu diskutieren rückt die Imaginationstätigkeit dabei in ein grundsätzliches Spannungsverhältnis. Das aber ist für die Dynamik der Intermedialität geradezu entscheidend. Denn in diesem Spannungsverhältnis kann die Einbildungskraft nicht mehr ihrer einen speziellen Form von Medialität, d.  h. der Realisierung in einem bestimmten Medium, sicher sein. Vielmehr sieht sie sich in Relation zu verschiedenen Medien und verschiedenen Künsten gesetzt. Dies zwingt die Einbildungskraft zu einer Reflexion ihrer selbst, die eine Selbstverständigung über ihren medialen Status eröffnet. Das wiederum ist nicht nur für die Differenzierung möglicher Dynamiken von Intermedialität ganz allgemein besonders ertragreich. Es trägt auch dazu bei, die kulturelle Eigentümlichkeit und historische Besonderheit ästhetischer Prozesse in der Frühen Neuzeit präziser zu bestimmen.

2 Intermediale Aspekte von Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal In Spees Trvtz-Nachtigal sind 51 bzw. 52 Lieder vereint, an denen Friedrich Spee auch nach Abschluss seiner Reinschrift des Zyklus, der Trierer Handschrift von 1634, immer noch weiter feilte.4 Nimmt man diese Sammlung geistlicher Lieder in dem skizzierten Zusammenhang in den Blick, lassen sich an ihnen verschiedene Aspekte von Intermedialität wahrnehmen. Musikalisch bestimmte Intermedialität zeigt sich in Spees Trvtz-Nachtigal darin, dass es sich um Lieder bzw. um eine Form musikalischer Lyrik handelt. Für sie ist ihre Sangbarkeit besonders charakteristisch. Neben diesem grundlegenden musikalischen Aspekt von Intermedialität können aber auch spezifische piktorale bzw. visuelle Aspekte von Intermedialität ausgemacht werden. Sie zeigen sich in doppelter Hinsicht. Denn die Reinschrift Spees eröffnet zwei wichtige Text-Bild-Verhältnisse. Das eine ist eine durch einen Freiraum auf den Blättern der Reinschrift angelegte emblematische Struktur, dergestalt, dass jedem Lied ein Bild hätte vorangestellt sein sollen, was jedoch in der postumen Druckausgabe nicht realisiert worden ist. Das zweite wichtige Text-Bild-Verhältnis bietet Spees Entwurf für ein Titelkupfer. Die Forschung hat

In: Günter Butzer, Hans Vilmar Geppert (Hgg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. V. Tübingen 2011, S. 217–233. Siehe dort auch weitere Literaturhinweise. 4 Vgl. Richard G. Dimler: On the Structure and Composition of Friedrich Spee’s Trutznachtigall. In: Modern Language Notes 89 (1974), S. 787–796.



Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 

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es schon intensiver diskutiert, auch im Blick darauf, dass die Umsetzung in der späteren Druckfassung sich von der Bild-Idee Spees deutlich abgelöst hat.5 Neben der musikalischen Intermedialität und diesen zwei Varianten piktoraler Medialität (die sich zur Präzisierung als piktoral-emblematisch und piktoral-illustrativ unterscheiden lassen) lässt sich noch eine weitere Form von Inter­me­dia­lität thematisieren. Man kann sie als synästhetische Intermedialität bestimmen, d.  h. als eine sehr variable Dynamik intermedialer Wechselprozesse. In ihnen konstellieren sich die konkreten Bilder, die konkrete Musik und die komplexe textliche Synthetisierung musikalischer, bildlicher und literarischer Effekte in einer Weise, wie wir sie in der plurimedialen Kunstform der (barocken) Oper oder eben in der Rezeptionsform der Synästhesie modellhaft Gestalt annehmen sehen bzw. zumindest rekonstruierend beschreiben können.6 Diese Wechselprozesse sind in der Trvtz-Nachtigal in ihrem kontrafaktorischen Verfahren greifbar.7 Sie verweisen aber auch ganz unmittelbar und grundlegend auf die Möglichkeiten und Leistungen der Einbildungskraft. Sie modelliert diese Wechselprozesse, indem sie die einzelnen medialen Dimensionen kombiniert, zwischen ihnen wechselt usw., und sie gleicht auch immer wieder das Wirkliche mit dem Möglichen oder dem Anderen des Wirklichen ab. Iser hat die erste Leistung mit der Kategorie des Imaginären, die zweite mit der des Fiktiven zu bestimmen versucht.8 Seine Kategorienbildung geht jedoch nicht ganz auf,

5 Siehe für einen knappen Überblick das Nachwort Theo van Oorschots in der von ihm hg. Ausgabe der Trvtz-Nachtigal, Stuttgart 1985. Der Entwurf und das Titelkupfer finden sich auf den S. 344  f. 6 Siehe zur kulturgeschichtlichen, anthropologischen und ästhetischen Bedeutung der Synästhesie die Beiträge in: Hans Adler, Ulrike Zeuch (Hgg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Würzburg 2001. Einen Überblick bietet: Waltraud Naumann-Beyer: Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln u.  a. 2003. Zuletzt in systematischer Hinsicht aufschlussreich: Christiane Heibach: Durch Analyse zur Synthese. Paradigmen und kulturelle Voraussetzungen der Synästhesieforschung. In: Carsten Gansel, Dirk Vanderbeke (Hgg.): Telling Stories/Geschichten erzählen: Literature and Evolution/Literatur und Evolution. New York u. Berlin 2012, S. 195–214. 7 Siehe zur Kontrafaktur bei Spee: Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 167  f. Vgl. auch: Eric Jacobson: Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees Trutznachtigall. Studien zum Fortleben der Antike I, Kopenhagen 1954; Alois M. Haas: Geistlicher Zeitvertreib. Friedrich Spees Echogedichte. In: Martin Bircher, ders. (Hgg.): Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller. Bern, München 1973, S.  11–48. Vgl. auch die umfassende Studie mit dem Versuch einer Gesamtdeutung von Spees Trutznachtigall: Cornelia Rémi: Philomela mediatrix. Friedrich Spees Trutznachtigall zwischen poetischer Theologie und geistlicher Poetik. Frankfurt a.  M. u.  a. 2006. 8 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.  M. 1991.

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 Lothar van Laak

weil er zum einen stärker von einer modernen Fiktionalitätsauffassung ausgeht. Zum anderen denkt er in seiner literarischen Anthropologie zu ausschließlich von der Literatur her, und nicht von den Medien oder gar der Intermedialität her.9 Das ›Als-ob‹ des Fiktiven prägt auch sein literarisches Imaginäres stärker; es nähert sich der Auffassung Lessings.10 Damit aber stellt sich die Frage, inwiefern es für den frühneuzeitlichen Diskussionszusammenhang sinnvoll und angemessen ist. Historisch präziser wäre z.  B. einerseits tatsächlich der Streit um die Kategorien des Wahrscheinlichen vor Lessing11 und eine kritische Rückbefragung der folgenschweren Kantischen Aufspaltung in reproduktive und produktive Einbildungskraft andererseits.12 Sich ›Diesseits des Laokoon‹ zu begeben, heißt, diese Aufspaltung von der Logik des Sinnlichen her in Frage zu stellen. So ist z.  B. der Reproduktionsleistung der Einbildungskraft ein rhetorisches und kombinatorisches Format zuzusprechen, das selbst wiederum historisch ja so überaus produktiv gewesen ist. Und nicht zuletzt kommt ganz generell in der Einbildungskraft ein anthropologisches Vermögen zum Tragen, das sich nicht nur in den Blick einer säkularen, kritischen Vernunft-Rationalität rücken lässt, sondern weitere Dimensionen, die des Mythischen, Unbewussten oder Numinosen, mit anklingen lassen kann.

3 Einbildungskraft und Gott-Ebenbildlichkeit »Gebenedeyet sey die angenommene Einbildungs-Kraft des jenigen, […] kraft dessen Ureinbildung  / alle Einbildungs-Kraeften erschaffen worden!«13 So ruft 9 Dazu kritisch auch schon: K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.  M. 1999. 10 Siehe zu unterschiedlichen Bestimmungen der Illusion bei Lessing: Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, der ihn auf sein Modell eines »mimetischen Illusionismus« verpflichtet und Lessing von der Moderne her bestimmt. Demgegenüber betont stärker die Orientierung an älteren (aber dann zur neu konstituierten ästhetischen Erfahrung gewendeten) Ganzheitsvorstellungen bei Lessing: Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23–58. 11 Siehe dazu die Hinweise bei: Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995, S. 88  ff. 12 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund ­Schmidt. Hamburg 1976, § 24, B 152. 13 Catharina Regina von Greiffenberg: Andächtige Betrachtungen. Zit. nach: Dies.: Sämtliche



Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 

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Catharina Regina Greiffenberg in ihren Andächtigen Betrachtungen emphatisch aus. Für die barocke Mystikerin ist – wie für den Trierer Jesuiten Spee auch – die Einbildungskraft (oder auch die Imagination bzw. die Phantasie) das göttliche Medium, das sich in der Schöpfung zeigt und die göttliche Kreativität des Menschen verdeutlicht. Der Mensch steht nach dieser Auffassung mit Gott in einem ganz elementaren Bildverhältnis. Hans-Georg Kemper hat es als Gott-Ebenbildlichkeit bestimmt.14 Er stellt fest: Voraussetzung für eine solche Denkmöglichkeit ist das enge Miteinander von Imagination als Ursache der Affekterregung und der Willensbewegung. Im Prinzip funktioniert dieser Zusammenhang im Menschen, dem Ebenbild Gottes, ebenso wie beim Schöpfer selbst […]: Der sich sehnende und eine Vorstellung oder einen Gedanken fassende Wille »imaginiert«, d.  h. er »›er faßt sich in ein Bild ein‹« […]. Als ausfließendes »Sehnen« schlägt der Wille in und mittels der Imagination in ein sich einfassendes, affektbestimmtes, aber auch ziel­ gerichtetes Begehren um.15

Kemper schließt daraus auch, dass »Phantasie und Realität in der frühen Neuzeit noch keine gegensätzlichen Welten konstituieren, sondern Imaginiertes und sinnlich Wahrgenommenes in einem magischen Bedingungsverhältnis zueinander stehen« und – insofern auch gegen Iser – dass »die Phantasie gerade nicht eine weltabgewandt-fiktionale, sondern eine realitätsbezogene, soteriologische Funktion der Schöpfungserneuerung durch Reduzierung und Überwindung des Bösen erhält.« Für Kemper wird deshalb die Einbildungskraft zum »entscheidende[n] Organ, in dem die ›Gottesgemeinschaft‹ ›real‹ und deshalb im Medium der Poesie wie auch der bildenden Kunst darstell- und nachvollziehbar wird.«16 So hilft also der Blick auf das  – implizite oder explizite  – Verständnis der Einbildungskraft zum einen, die Sinnlichkeit der Darstellung präziser zu bestimmen, und zwar als das Reale, das die Einbildungskraft im Spiel mit ihren Medien konstituiert. Zum anderen stellt sich damit aber eben auch die Frage nach der medialen Organisation selbst, die mit der Einbildungskraft diese Sinnlichkeit erwirkt. Einbildungskraft und Medialitätsbewusstsein stehen, so scheint es, in einem konstitutiven Wechselverhältnis. Was aber heißt das nun, wenn dieses Wechselverhältnis nicht von der Me­dia­ li­tät, sondern vorrangig vom Phänomen der Intermedialität her bestimmt wird?

Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Milwood N.  Y., 1983, Bd. III, S. 280. 14 Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Literatur in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981. 15 Kemper (Anm. 7), S. 85. 16 Ebd.

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Sie verschiebt ja den Blick von der medialen Bedingtheit und Verfasstheit eines Kunstwerks und seiner Hervorbringung durch die Einbildungskraft auf das Dazwischen und das Dazwischenspielen der einzelnen Medien, in denen sich ein konkretes, individuelles Kunstwerk realisiert. Das soll im Folgenden an der Lyrik Spees und Greiffenbergs diskutiert werden.

4 Wissen der Einbildung Gottes als intermedial konstituiertes Gefühl im Spiegel der Liebe Das 11. Gedicht der Trvtz-Nachtigal beschäftigt sich mit der Figur der Maria Magdalena am leeren Grab ihres Herrn, wie es in Joh 20 erzählt wird. Die Figur der Maria Magdalena wird als Allegorie vorgestellt, wie es der vollständige Titel ausweist: Spiegel der Liebe. oder von Maria Magdalena da sie nach dem Iudischen Osterfest am großen Sabbath morgens früh ihren IESVM in dem grab gesucht. Ioannis am 20  Capitel.17 Die ausgeführte Allegorie über 59 Strophen bzw. diese Perikopendichtung, die nach dem Modell der Jesus-Minne und Brautmystik verfährt, endet mit den folgenden fünf Strophen: 55. O JESV nitt verschiebe, Den Dunst beseyten treib: Dich kund nun einmahl gibe Dem höchst betrangten Weib. Nur bald, nur laß erschallen, Laß Jhr zum höchsten lust Ein kleines Wörtlein hallen, Ein Wörtlein dir bewust. 56. Er schon ihm läßt gesagen Vnd, wie zu morgen gut Der Blitz mitt zartem schlagen, Ein Flämmlein zeigen thut: Mitt Nahmen er sie rühret; Er nur MARIA klingt: Gleich Sie das Flämlein spüret, Gleich auff in frewden springt.

17 Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigal, hg. Theo van Oorschot. Stuttgart 1985, S. 55–71.



Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 

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57. Ihrs Marck in beinen wallet, Vnd wider lebend blut Jn süssem sod erprallet, Vnd farbet hertz, vnd muth. O Gott, vnd wer mitt worten Mögt ie nun zeichnen ab, Was jubel mancher sorten Alßdàn sie trieben hab? 58. Mir Stimm, vnd zung erstarren, Mir bresten red, vnd wort, Jchs nimmer auß wurd harren, Wurd finden grund, noch bord. Die Feder schon sich sencket, Die dinten drucknet ein: Wen ie die Lieb gekrencket, Mags nur betrachten fein. 59. Den Boltz wer ie gefühlet Geschmidt in süssem brand, Jm brand so wärmt, vnd kühlet, Mags greiffen mitt verstand. Allein, allein mags wissen, Vnd ihm recht bilden ein, Wem ie die Lieb durchrissen Leib, Seel, und Marck, vnd Bein.18

Diese fünf Schluss-Strophen beeindrucken. Die Strophen 55 und 56 zeigen die bei Spee gerühmte szenische Qualität.19 Maria Magdalena wird als Figur vorgeführt, regelrecht gezeigt. Zugleich rückt das lyrische Ich in eine sprachliche Gebetsgeste, den Herrn Jesus um die Nennung ihres Namens zu bitten. Diese Bitte wird erfüllt und das rührt Maria Magdalena an. Diese Rührung wird in der ersten Hälfte von Strophe 57 dargestellt. Deren zweite Hälfte aber stellt eine Struktur der Unsagbarkeit heraus. Sie ist intermedial ausdifferenziert:

18 Ebd., S. 70  f. 19 So Emmy Rosenfeld: Neue Studien zur Lyrik von Friedrich von Spee, Mailand 1963; und auch: Margarete Gentner: »daß futter misch mit rose.« Literaturwissenschaftliche Notizen zu Spees »kindlicher Naivität«. In: Anton Arens (Hg.): Friedrich Spee im Lichte der Wissenschaften. Beiträge und Untersuchungen. Mainz 1984, S. 37–62.

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 Lothar van Laak

O Gott, vnd wer mitt worten Mögt ie nun zeichnen ab, Was jubel mancher sorten Alßdàn sie trieben hab?

Mit Worten ist ihr Jubel nicht ›abzuzeichnen‹, d.  h. zu repräsentieren. Diese Struktur der Unsagbarkeit wird in der vorletzten, der Strophe 58, noch weiter bestimmt und verstärkt. Das lyrische Ich wendet seine Erfahrung in eine mediale Reflexion. Die Stimme versagt ihm, die Rede findet weder Grund noch Halt. Der schon im Niedersinken begriffenen Feder trocknet die Tinte. Dieses Innehalten, dieses Erstarren, findet in den beiden Schlussversen von Strophe 58 und der Schlussstrophe, 59, selbst ein appellatives Schluss-Bild. Es resultiert aus diesem Blick in den »Spiegel der Liebe«, so ja der Titel, der sich durch das ganze Gedicht eröffnet hat. Nur wer die Liebe in ihrem feurig-kalten Schmerz gefühlt hat, Mags greiffen mitt verstand. Allein, allein mags wissen, Vnd ihm recht bilden ein, Wem ie die Lieb durchrissen Leib, Seel, und Marck, vnd Bein.

Die Einbildungskraft wird hier als verständige und verstehende, Wissen um das Gefühl verleihende Kraft der Vorstellung bestimmt. Sie ist, in der ästhetischen Tat, eben nicht einfach nur reproduktiv oder produktiv, wie es die Kantische Unterscheidung vorsieht. Vielmehr lässt die allegorische und rhetorische Struktur des Gedichts das Wissen als Gefühl im Rezipienten »recht bilden ein«. Die Differenziertheit wie die Intensität, die Stärke, dieses Gefühls werden durch den intermedial modellierten Charakter der Unsagbarkeit in der drittletzten Strophe vorbereitet und durch deren mediale Reflexion in der vorletzten Strophe in ihre Darstellbarkeit umgeprägt. Die zehn letzten Verse der vorletzten und letzten Strophe drücken dies aber nicht direkt aus, sondern relational. Diese Darstellung ist mit den indirekten Fragepronomen dreimal, in einer Klimax, profiliert, auf die Erfahrung der Liebeskränkung, den Liebesschmerz und die Zerreißung durch die Liebe. Dieser Klimax korreliert ist die von Betrachtung, dann dem Zusammenspiel von Gefühl und Verstand und schließlich dem Wissen durch Einbildung. Damit wird die Einbildungskraft zu dem entscheidenden Vermögen, das alleiniges Wissen herbeiführt. Der Prozess, in dem sich die Einbildungskraft dazu bringen lässt, verdankt sich dem zweifachen Schritt vom intermedialen oder synästhetischen Moment der Erfahrung über die mediale Verarbeitung und Reflexion hin zum Wissen des Gefühls.



Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 

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Eine ähnliche Struktur findet sich auch in Gedicht 29 der Trvtz-Nachtigal. Es trägt den Titel Ein gar hohes Lobgesang darinn das Geheymnuß der Hochheyligen Dreyfältigkeit so wol Theologisch als Poetisch, wie vil geschehen können entworffen wird.20 Entfaltet wird mithin ein theo-poetologisches Programm. Die Darstellung des Verhältnisses von Gott-Vater und Gott-Sohn in diesem theologischen Lehrund Lobgedicht über die Trinität entwirft beide als sich in der Liebe einander zugetane Bilder. Sich als Mensch diese Bilder verfügbar zu machen, ist theologische wie poetische Herausforderung. Die Beziehung der beiden göttlichen Gestalten ist ein Verhältnis des Bild-Seins für den jeweils Anderen. Eins werden sie einander darin, dass sie ewig währendes und ewig gültiges »HertzenWort« und »HertzConcept« sind, und sie sind damit auch Durch- und Füreinander Geschaffene. Dieses wechselweise einander »Wort« und »Concept«-Sein realisiert sich als Anschauung in Schönheit, die dem Menschen einen Zugang zum Göttlichen verschaffen kann. 16. Weß Wesens nur der Concipist, So selb sich concipiret; Der schön Concept auch selber ist, Vnendlich gleich formiret. Jn ihm dieselbe Krafft, vnd Macht Sich zeiget vngefehlet, Geschöpff in ihm, als obgesagt, Auch bleibens vnverheelet. 17. Schaw da dan zeiget sich das Bild, Ein Gott, von Gott gestaltet: Ein Sohn, von seinem Vatter milt, Jm Wesen vnzerspaltet: Ein Red, von seinem Mund gezihlt; Ein Hertz, von seinem Hertzen, Ein Bild, von ihm recht abgebildt; Ein Licht von seiner Kertzen.

Die Reihe der Emanationen literarischer Bildlichkeit schließt dann in Strophe 18 mit der Begrenztheit des Darstellungsvermögens für das lyrische Ich: »Die Weißheit, von der Weißheit sein / Kan besser dirs nitt mahlen.«

20 Ebd., S. 152–161.

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Strophe 21 greift die Begrenzung des menschlichen Vermögens und Wissens noch einmal auf und verdeutlicht sie in zwei rhetorischen Fragen als Begrenzung der Darstellungsmöglichkeiten menschlichen Malens und Beschreibens. Wer will nun zierlich reissen dar, Vnd mahlens nach dem leben, Wie dan sie Beyden also gar Jn Lust, vnd Frewden schweben? Wer will beschreiben ohn verstoß, Wie wunder dan getriben Mitt außgespanter Flammen gros Sich beyde gleich verlieben?

Diese menschlichen Begrenztheiten treten umso schärfer in den Blick, als in der Strophe zuvor, Strophe 20, von Gottvater die Rede ist, der sein göttlich-geistiges »HertzenWort« liest: Der Vatter gar in sich verzuckt, Bleibt Ewiglich in wesen, Sein helles Wort, hell abgedruckt Er Ewiglich thut lesen. Er Ewig in beschawlichkeit Ob seinem Pracht erstarret, Drumb folgends auch in Ewigkeit Das HerezenWort verharret.

Auch hier, in diesen beiden Strophen, findet sich das schon im Spiegel der Liebe inszenierte Wechselspiel zwischen Medialität und Intermedialität: Als Inter­me­ dia­lität zeigt sich eine Erfahrung von Negativität, weder visuell noch sprachlich die Liebesfreude, das göttliche Liebesfeuer, angemessen darstellen zu können. Medialität ist das göttlich-trinitarische Selbstverhältnis einer reineren Bildlichkeit und einer tieferen, tiefsinnigeren Sprache des sich selbst (in Gottvater) und mit sich selbst (mit Gott Sohn) kommunizierenden »HertzensWortes«. Beides findet aber auch in diesem Lobgesang wieder gemeinsame Fluchtpunkte. Der göttliche wird im Prinzip des Heiligen Geistes offenbar, der menschliche Fluchtpunkt aber wird in der Einbildung erfahrbar. So heißt es in der dichterischen Selbstanrufung in Strophe 12: Ach führe mich in hohem lauff, Begleite mich in Lufften: Erhebe mir von Erden auff Die schwäre Füß, vnd Hufften. Mich lasst noch ferner machen kund Dem Leser unverdrossen,



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Wie Sohn, vnd Geist, ihr alle stund Seid Ewiglich entsprossen.

Dieser Bestimmung des Dichter-Amtes als Kundgabe an den Leser korrespondiert die Selbst-Einbildung Gottvaters in seinem Sohn. Es bietet das Modell, nach dem der Mensch, mit seinem Verstand und doch auch mit seiner Geschöpflichkeit, an den göttlichen Selbst-Betrachtungs-Prozessen teilhaben kann: 13. Der Vatter sich von Ewigkeit Notwendiglich betrachtet, Sein Wesen, Pracht, vnd Herrlichkeit Er mitt verstand erachtet. Sich selbsten er ihm bildet ein, Unendlich sich begreiffet; Jn ihm Geschöpff so Müglich sein, Jm selben Blick durchstreiffet.

Das göttliche Auge mit seinem unendlichen Begreifen bleibt zwar über allem, aber die Einbildungskraft eröffnet auch dem Menschen einen Bereich visionärer Schau. Damit findet auch der Sprachklang der Loblieder mit ihrer musikalischen Intermedialität die Vollendung oder Aufhebung in einer visuell gedachten Intermedialität. Sie produziert kombinatorisch das Zusammenspiel musikalisch, sprachlich und piktoral angelegter Intermedialitätsprozesse in der Vorstellung einer von Gott wissenden und ihn im Bild begreifenden Einbildungskraft.

5 Greiffenbergs sinnliche Übersteigerung der Einbildungskraft und die Aufhebung von Intermedialität in der compassio An Catharina Regina von Greiffenberg sollen nun die Probleme und Grenzen dieser Dynamik der Einbildungskraft kontrastierend zu Friedrich Spee in den Blick genommen werden. Wenn sich bei Spee die Umakzentuierung von der musikalischen Intermedialität auf eine visuelle, dynamische, emanative Intermedialität der Einbildungskraft herausarbeiten lässt, lässt sich an der Lyrik Greiffenbergs diese Umakzentuierung selbst noch einmal kritisch und differenzierend diskutieren. So heißt es in Greiffenbergs Gedicht An Gott den heiligen Geist:

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Mein geheimer Herzen-Schatz / meine helle Sinnen-Sonne! tröste und bestrahle mich. Ohne deine Gnaden-Wonne / bleibt es dunkler Vnglücks-Schatten. Von dem Mond / der Erden-Lust / hab’ ich schlechte Herz-Erquickung / wann du mir nicht bist bewust. Spiel das sondre Sinnen-Spiel / auf dem Schauplatz der Gedanken; mach die Geist-Rageten gehn / daß sie Sternenhoch auffanken: daß man mög den Allmachts-Donner und den Jubel-Schall verstehn. Laß / von An- zu Angesicht / bald / was jetzt im Geist / mich sehn.21

Das Bittgebet an den Heiligen Geist sieht ihn als Vollender dessen, was das lyrische Ich »jetzt im Geist« sieht. Was dieser ihm »bewust« macht, ist die gute »Herz-Erquickung«, die die sinnliche »Erden-Lust« übersteigt. Was das lyrische Ich durch den Geist sieht, ist »das sondre Sinnen-Spiel / auf dem Schauplatz der Gedanken«. Der Geist realisiert sich im Spiel der Einbildungskraft, ja als Spiel der Einbildungskraft, und damit verweist er darauf, in der Ewigkeit ›von Angesicht zu Angesicht‹ zu schauen, was jetzt »auf dem Schauplatz der Gedanken« durch die Einbildungskraft ein Vorspiel findet. Die Einbildungskraft rückt damit in den Status, Medium des Göttlichen zu sein. Das ist ein noch radikalerer Anspruch, als er sich bei Spee findet, bei dem die Einbildungskraft als Geistes-Abbild und Geist-Ebenbild erschien. Dieser veränderte Blick auf die Einbildungskraft in ihrer göttlichen Medialität rückt damit aber auch die Intermedialität in ein neues Licht. Kurz und etwas zugespitzt gesagt, wird sie ganz von der Sinnlichkeit literarischer Bildlichkeit her gedacht. Diese wiederum stellt sich dar als Verkörperung bzw. Einverleibung göttlicher Präsenz. Sie geht weit hinaus über die ignatianische Technik, sich in die vorgestellte Figur hinein zu versetzen, wie sie sich z.  B. in Spees Maria Magdalena zeigt. Während Spee die Dynamik der Intermedialität theologisch hinterfängt und die Einbildungskraft damit auf die Reproduktion des Göttlichen verpflichtet, entwickelt die Einbildungskraft bei Catharina Regina von Greiffenberg eine Produktivität der Präsenz,22 durch die die mystische Selbst-Erfahrung gött-

21 Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette / Lieder und Gedichte / zu Gottseeligem Zeitvertreib, Nürnberg: In Verlegung Michael Endters, 1662, S. 377. 22 In der Mystik liegen Modelle der »Produktion von Präsenz« vor, von denen grundsätzlich zu überprüfen wäre, ob sie mit den von Karl Heinz Bohrer und Hans Ulrich Gumbrecht entwickelten Präsenz-Modellen tatsächlich adäquat zu erfassen sind oder diese nicht doch zu sehr von der modernen Zeitlichkeit bzw. der modernen und postmodernen Medienkultur der Gegenwart her verstanden sind. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.  M. 1994; eine Zusammenstellung seiner Überlegungen zu diesem Thema findet sich in: Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Berlin 2012.



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lich wirken kann.23 So heißt es in den schon zitierten Andächtigen Betrachtungen Catharina Regina von Greiffenbergs: »Ach! es ist mir ein Kreutz / deine Kreutzigung zu nennen / und ein Schmerz / mir solche einzubilden«24 und auch: »Jch will durch innigliches Mitleiden / aus eigentlichster Einbildung / am Hertzen die schmerzen fühlen / die ihme das unbarmhertzige Kreutzeinstossen in die Erde: an seinen heiligen Hände- und Füsse-wunden verursachet hat.«25 Die Einbildungskraft wird zum Mitleiden und zum Verlangen, zum Gefühl und zur Wirkung. So heißt es z.  B. in der dritten und Schluss-Strophe des Gedichts Göttlicher Gnade Betrachtung / in der Blühe: Ach ich will auch noch erwarten / mit der Gott-beliebten Zeit / Herzergetzungs-frische Früchte / gebend Himmlisch Lobgerüchte Gott in Zeit und Ewigkeit. Daß in Gott versenkt Verlangen / ist bereit in Würckung gangen.26

Die verschiedenen Medien der Einbildungskraft verlieren sich, heben sich auf in ihrer imaginativen Wirkung und intermediale Offenheit wird von der literarisch erwirkten Schau und ihrer spürbar werdenden Erfahrung bei Catharina Regina von Greiffenberg bis zu einem gewissen Grad geschlossen. Es ist eine mystische Medialität, die das intermediale, sich wechselweise steigernde Zusammenspiel, das bei Friedrich Spee die Dynamik der Einbildung hin auf das Bild Gottes führt, in das Erwirken der göttlichen Erfahrung selbst übersteigen soll.

23 Kemper (Anm. 7), S. 252–269, betont, wie in seiner Lyrikgeschichte insgesamt, besonders die häretischen Tendenzen, die aus dieser Dynamik der religiösen Selbstermächtigung durch die Poesie folgen können. In der hier vorgeschlagenen Deutungsperspektive von Intermedialität, Medialität und Einbildungskraft in ihrem spezifischen kombinatorischen Zusammenspiel von Theologie und Religion, Rhetorik und Poesie lässt sich dieser inhaltlichen Bestimmung eine formale, ästhetisch-strukturelle Bestimmung hinzufügen, mit der sich Charakter und Grenze des religiösen Gefühls genauer spezifizieren lassen. Das gilt dann auch für seine besondere Zeitstruktur, die es ebenfalls genauer zu untersuchen gälte. 24 Catharina Regina von Greiffenberg: Andächtige Betrachtungen. Zit. nach: Dies.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Milwood N.  Y., 1983, Bd. X, S. 550. 25 Ebd., S. 566. 26 Greiffenberg (Anm. 21), S. 357.

III Bildende Kunst, Buchdruck, Medien

Jürgen E. Müller

Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 1 Medien-Netzwerke in der Moderne Unsere modernen Kulturen und deren zentrale Säulen der Medien, der Ökonomien, der Technologien, der Geschichts- oder Rechtssysteme sind nur noch mittels Metaphern wie Netzwerk, Rhizom oder anderen Konnektivitäten zu fassen. Spätestens seit den 1980er Jahren taucht der Terminus ›Netzwerk‹ in zahlreichen populären und wissenschaftlichen Diskursen auf, wobei das Bild des ›Netzwerks‹ als Reduktionsmechanismus komplexer Prozesse und Wirklichkeiten fungiert. Manuel Castells umschreibt ›Netzwerke‹ wie folgt: »Networks constitute the new social morphology of our societies and the diffusion of networking logic substantially modifies the operation and outcomes in the processes of production, experience, power and culture.«1 Netzwerke scheinen indes nicht erst seit der so genannten Moderne oder Postmoderne als ›neue‹ soziale Morphologie unserer Gesellschaften eine zentrale Relevanz zu besitzen, sondern bereits in deren Vorläufern wie den Gesellschaften des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit. Wenn wir einen Blick auf die aktuellen linguistisch-semiologischen Erscheinungsformen des Netzwerk-Begriffs in unserem sozialen Alltag werfen, so sind wir schnell mit einer großen, nahezu unüberschaubaren Bandbreite von NetzwerkKonstruktionen konfrontiert, deren denotative und konnotative Höfe nahezu alle relevanten sozialen Felder abdecken. Netze und/oder Netzwerke ermöglichen Kommunikation, den Fluss von »Gütern, Kapital, Menschen, Wissen, Bildern, Verbrechen, Umweltverschmutzung, Drogen, Moden und Überzeugungen über territoriale Grenzen hinweg.«2 Sie sind uns nicht allein in Form des Internets präsent, sondern ebenso als soziale Netzwerke, als Medien-Netzwerke spezifischer Medienlandschaften, wobei soziale Vernetzung keineswegs eine Erfindung von Facebook und anderen social networks darstellt. Netzwerke spielen als »kulturelle Paradigmen«3 in unseren Gesellschaften eine zentrale und nicht immer identische Rolle. Die wissenschaftliche Rele1 Manuel Castells, zitiert in: Jochen Koubek: Vernetzung als kulturelles Paradigma. Eine Kulturtheorie des Internets. Saarbrücken 2008, S. 41. 2 Andreas Hepp: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. Wiesbaden 2004, S. 128. 3 Vgl. Jochen Koubek (Anm. 1). DOI 10.1515/9783110521788-009

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vanz von Netzwerken zeigt sich nicht zuletzt in zahlreichen Netzwerk-Theorien und Forschungsansätzen in der Philosophie, der Sozial- und Kulturtheorie, der Informatik, der Geschichts- und Medienwissenschaft. Stellvertretend für diese Ansätze sei auf die Schriften von Manuel Castells,4 von Deleuze/Guattari5 und deren Konzept des »Rhizoms« verwiesen, sowie auf Latours Vorschläge zu den hybriden Akteurs-Netzwerken,6 auf die Überlegungen von Krotz7 und Hepp8 zu Netzwerken der Mediatisierung oder auf Lachenichts Forschungen zu den sozialen und kommunikativen Netzwerken9 der Frühen Neuzeit. Bevor wir im Folgenden das Netzwerk-Konzept an die Forschungsachse der Intermedialität und der Remediationen anbinden, um Intermedialität in ›Netzwerk-Kategorien‹ zu denken, werfen wir einen kurzen Blick auf die bislang vernachlässigte Vor-Geschichte der Vorstellungen von Netzwerken in der Frühen Neuzeit. Dieser Blick wird uns verdeutlichen, dass die Anfänge der ›NetzwerkReflexionen‹ mindestens bis zum geistes- und sozialgeschichtlichen Horizont des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Diese historische Annäherung soll als fond der Beschäftigung mit den intermedialen Netzwerken populärer Bild- und Tonmedien der Frühen Neuzeit dienen. Die ›Popularität‹ dieser Medien impliziert in diesem Falle keine geringere (ästhetische und theoretische) Wertigkeit unseres Forschungsgegenstandes, sondern vielmehr die Chance, die Laokoon-Debatte von ihrem poetologisch-philosophischen Kopf auf die medialen Beine eines ›frühindustriellen‹ intermedialen Netzwerkes der Bild- und Tonproduktion im 16., 17. und 18. Jahrhundert zu stellen.

4 Vgl. Manuel Castells: The Rise of the Network Society. Oxford 2000. 5 Vgl. Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 2002. 6 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin 1995. Law, John (1992): Notes on the Theory of the Actor-Network: Ordering, Strategy and Heterogeneity. In: Systems Practice (5), S. 379–393. 7 Vgl. Friedrich Krotz: Soziale Kommunikation, soziale Netzwerke, Privatheit. Strukturen und Probleme des Zusammenlebens in mediatisierten Gesellschaften. In: Petra Grimm, Rafael ­Capurro (Hgg.): Neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten. Stuttgart 2012 (Medienethik; 11), S. 189–208 sowie F.  K.: Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden 2007, S. 13. 8 Vgl. Andreas Hepp: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. Wiesbaden 2004 (Medien – Kultur – Kommunikation). 9 Susanne Lachenicht: Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.  M./New York 2010.



Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 

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2 Mediennetzwerke, Intermedialitäten, »réseaux« oder »corps métaphoriques« als Vorstellungen und Konzepte der Frühen Neuzeit Beginnen wir diesen knappen historischen Parcours mit einem Zitat des Nonkonformisten, Esoterikers und Rebellen Giordano Bruno, der im Jahre 1591 in Anlehnung an Simonides von Keos das folgende, immer noch aktuell anmutende Prinzip formulierte: Alibi dixi de cognatione quadam mira quae est inter veros poetas qui ad eandem speciem referuntur atque musici, veros pictores et veros philosophos: quandoquiquem vera philosophia musica seu poesis et pictura est, vera pictura et est musica et philosophia. Vera poesis id est musica, est divina sophia quaedam et pictura. Alibi dictum est ut pictor quidam imaginum scilicet infinitarum effirmator est phantasia potentia visis et auditis multipliciter combinando architectans.10

Giordano Bruno, dessen Leben im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen endete, lenkt uns auf ästhetisch-synästhetisch spannende Verbindungen und Netzwerke zwischen den Medien und Künsten. In den vergangenen Jahrzehnten hat sein hermetisches Werk De Imaginum, Signorum, & Idearum Compositione breitere Aufmerksamkeit gefunden – nicht zuletzt durch die Arbeiten des Fluxus-Künstlers und Kunsttheoretikers Dick Higgins.11 In seinem unvollendeten Werk entwirft Bruno einen die damaligen Gattungsmuster und Gattungsgrenzen transzendierenden (ikonoklastisch-mystischen) Essay zum »Licht«, zum »Sehen« sowie zu den »Zeichen«, und stellt auch erste theoretische Fragmente zur Interaktion der Künste und der Medien vor. Dieser hochkomplexe Text kompiliert und re-codiert nicht allein zahlreiche ästhetische, philosophische und religiöse Schriften der Antike und der Renaissance und setzt sich zudem das Ziel der Gründung einer neuen »Thoth«-Religion (die sich übrigens nicht in exklusiver Weise vom Chris-

10 Giordano Bruno: De Imaginum, Signorum, & Idearum Compositione. Frankfurt 1591, S. 102; Giordano Bruno: On the Composition of Images, Signs & Ideas (übersetzt von Charles Doris, heraus­gegeben und annotiert von Dick Higgins). New York 1991, S. 129: »Elsewhere I spoke of a certain marvelous kinship that exists among true poets, who are referred to the same species as musicians, and that exists as well among true painters and true philosophers. For true philosophy, music or poetry is also painting, and true painting is also music and philosophy; and true poetry or music a kind of divine wisdom and painting. Elsewhere I have discussed how any painter is naturally an establisher of infinite images who, by his image-forming power constructs from sights and sounds by combining in a multiplicity of ways.« 11 Dick Higgins: The Poetics and the Theory of the Intermedia. Carbondale, Edwardsville 1984.

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tentum distanzierte), sondern kann durchaus im Sinne unserer Forschungsachse der historischen Entwicklung des Netzwerkkonzepts als eine der grundlegenden Schriften aufgefasst werden. Ohne die eigene Perspektive auf völlig differente historische Kontexte zu übertragen, lassen sich – selbst wenn Bruno den Terminus »Netze« oder »Netzwerke« [lat. »rete« oder »reticulum«] nicht verwendete – zahlreiche Indizien für die zentrale Funktion von »Vernetzungen« in Brunos Gedankenwelt finden. Dies gilt für die im obigen Zitat beschriebene bildformende Kraft, welche aus der Kombination von »sight and sound« (»visis et auditis«)12 entsteht sowie vor allem auch für die Vernetzung unterschiedlicher diskursiver Systeme. Dieses NetzwerkDenken bildet auch die Grundlage seiner archetypischen Metapher des »atrium«, in dessen Zentrum sich die Erde und das Auge befinden.13 AD specierum complementum, earum quae sedis spacia atque loci vicem obtinent, sufficit definitio seu determination qua fini unius regionis vel atrii, alterius regionis vel atrii principium annectatur, utpote annexum intelligatur, vel imaginis adiectivae similitudine: vel indicatorio quodam ordine in morem, quo paginae pagina assuitur: vel intentiones alibi descriptae depictaeque certo indice istis heic depictis atque descriptis adjciuntur. […] Rursum loca locis assuuntur […].14

»Atrien« wären demzufolge Netzwerk-Konstrukte, welche ihrerseits wieder an andere »Atrien« angrenzen und mit diesen »Regionen« oder Feldern vernetzt sind. Sie erschließen sich durch Ähnlichkeiten oder Signifikationsprozesse: »Orte« stehen in Verbindung zu anderen »Orten«, wobei diese durch sich mehrfach überlagernde Bilder-Ketten verbunden sind. Besonders augenfällig werden diese Vernetzungen in Brunos graphischem Entwurf zur »Komposition«, bei dem die Instanzen des »Agenten«, des »Instruments« und der »Operation« in vielfältiger Weise miteinander verbunden sind.

12 Leider ist mir nicht bekannt, ob sich die gleichnamige renommierte Filmzeitschrift an Bruno orientierte und somit einen Bogen zwischen den Medien der Renaissance und der Moderne spannen wollte. 13 Manfredi Piccolomini: Foreword: Omnia Quae Sunt, Sunt Lumina. In: Bruno (Anm. 10), S. 9  f. 14 De Imaginum (1591), S. 98; Übers., (Anm. 10) S. 122: »For the species’ complement, which of them obtain the space of a seat and the use of a place, a definition or determination is sufficient, by which the beginning of an atrium or the area of a second atrium is connected to the end of one atrium’s region or second region or area, since the connection may be perceived either by an added image’s likeness, or by some signifying order, in the same way page is sewn to page, or intentions described and depicted elsewhere by a set indication or sign joined to those intentions or extensions depicted and described here. […] Once again, places are attached to places […].«



Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 

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Abb. 1: Giordano Brunos graphischer Entwurf zur »Komposition«15. 15

Bruno bindet Zeichen und »Archetypen« in ein kombinatorisches Netzwerk ein, dessen Verbindungslinien die Fülle von Bedeutungsmöglichkeiten einer Geschichte generieren.16 »Geschichten«, »Archetypen« und »Bedeutungen« entstehen in derartigen komplexen Prozessen der Vernetzung. Es wäre zweifellos eine viel versprechende Forschungsunternehmung, eine Spurensuche nach weiteren Hinweisen auf die Thematisierung intermedialer Netzwerke in den philosophisch-poetologischen und esoterischen Texten der Frühen Neuzeit durchzuführen.17 Die Erkenntnis der Welt erscheint in dieser Perspektive etwa bei Nikolaus von Kues – dem wir uns kurz in einer a-chronologischen Vorgehensweise zuwenden wollen – als intermediale Transformationsleistung, als eine »Anmessung der Welt« durch den Sinn konstituierenden Geist des Kosmographen.

15 Ebd., S. 101. 16 »[…] addition of words and the linkage of extensions, and the signs of the primary combinations will be conceived according to the elements by region and site.« Ebd., S. 100. 17 Eine derartige weiterführende Spurensuche findet sich bei Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 34–39 (»Körper, Gedächtnis, Schrift. Mittelalter und Frühe Neuzeit«).

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Ein vollständiges Lebewesen, dem Sinn und Vernunft innewohnen, kann man als einen Kosmographen betrachten, dem eine Stadt mit fünf Toren der Sinne eigen ist. Durch diese treten die Boten aus der ganzen Welt ein und geben Kunde von der gesamten Lage der Welt in folgender Ordnung: diejenigen, welche vom Licht und ihrer Farbe etwas Neues berichten, treten durch das Tor des Sehens ein; die von Ton und Geräusch erzählen, durch das Tor des Gehörs; die von den Düften reden, durch das Tor des Geruchs; die vom Wohlgeschmack sprechen, durch das Tor des Geschmacks; und die von Wärme, Kälte und anderem Spürbarem berichten, durch das Tor des Tastgefühls. Und der Kosmograph thront darinnen und schreibt alles nieder, das ihm berichtet worden ist, so dass er in seiner Stadt die Beschreibung der gesamten sinnlichen Welt aufgezeichnet hat. Wenn aber nun irgendein Tor dieser seiner Stadt ständig geschlossen bleibt, z.  B. das des Sehens, dann wird, weil es keinen Einfluss gibt, für den Boten des Sichtbaren, die Beschreibung der Welt mangelhaft sein. Denn die Beschreibung wird keine Erwähnung tun von Sonne, Sternen, Licht, Farben Gestalten der Menschen, der Tiere, der Bäume und des größeren Teils der Schönheit der Welt. Ebenso wird die Beschreibung, wenn das Tor des Gehörs geschlossen bleibt, nichts von Gespräch, Gesang Melodien und ähnlichem erhalten bleiben. Dasselbe gilt von den übrigen Sinnen. […] Auf Grund des Verhältnisses der Karte zu der wirklichen Welt erblickt er in sich selbst als dem Kosmograph den Schöpfer der Welt im Gleichnis […].18

Für Nikolaus von Kues konstituieren trans- und intermediale sowie ekphrastische Leistungen und Aktivitäten des Geistes eine Weltkarte und bilden damit die Voraussetzung für unsere Erkenntnismöglichkeiten. Die hier angedeutete Spurensuche nach Theoriefragmenten intermedialer Vernetzungen wäre noch um zahlreiche Elemente zu erweitern, wie wir sie z.  B. in Baxandalls inzwischen klassischem Werk zur Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts19 finden. Baxandall rekonstruiert dort die Vernetzungen zwischen pikturalen Kunstwerken, Ökonomie, Naturwissenschaften (insbesondere Optik und Mathematik) sowie Reise- und Arbeits-Netzwerken der Meister und ihrer Gehilfen. Malerei erscheint in diesem Sinne als das Resultat vielschichtiger Vernetzungen im Spektrum zwischen Wahrnehmungsmustern, kognitiven Stilen, Geschichten, Körpern, Perspektiven (vor allem der sich in geometrischen Netzwerken etablierenden Zentralperspektive), zwischen Farben, Maßen, Gewichten, Geldwerten und -umrechnungen sowie dem (moralischen) Blick des Betrachters. In Verlängerung von Baxandalls Argumenten ließe sich die Hypothese formulieren, dass die herausragende ästhetische Innovation der Malerei des Quattrocento, die Zentralperspektive, nur möglich war durch die strukturbildende Ein-

18 Nikolaus von Kues (1401–1464, Kardinal Brixen/Rom), zitiert in: Stephan Otto (Hg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Stuttgart 1984. Bd. 3 (Renaissance und Frühe Neuzeit), S. 243  f. 19 Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a.  M. 1987.



Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 

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führung mehrerer Fluchtpunkte und damit von Linien-Netzwerken, welche sich nicht nur in Fluchtpunkten schneiden, sondern sich zudem mit weiteren Fluchtpunkt-Linien sowie mit parallel geführten Linien der Bildlinie kreuzen. Diese Linien schaffen mehr als ›nur‹ einen »geometrisch geordneten Bildraum«;20 sie konstituieren zugleich ein äußerst komplexes Netzwerk, welches sich als ästhetisches Resultat der »Wissenschaft von der Perspektive«21 und von Vernetzungen darstellt.22

Abb. 2: Netzwerkstrukturen zur Konstruktion eines geometrisch geordneten Bildraums: Paolo Uccello, Rötel-Unterzeichnung für ein Fresko der Geburt Christi und fertiges Fresko, Soprintendenza alle Gallerie.23

Springen wir in diesem kleinen historischen Exkurs noch kurz ins 18. Jahrhundert, zu naturwissenschaftlichen Netzwerk-Konzepten und deren Einbettung von Hunden und Menschen in Netzwerke, wie sie im Zuge der Aufklärung entstanden sind:24 Im Jahre 1755 entwirft beispielsweise Georges Buffon eine geordnete NetzKarte zu den Hunderassen oder -variationen. Diese netzwerkartige Taxonomie hat sich zwar noch nicht vollständig von linearen Modellen der Naturdarstellung gelöst, bietet jedoch erstaunliche Ansätze für die Entwicklung neuer Repräsentationsverfahren in den Naturwissenschaften. Vor dem Hintergrund unserer Forschungsachse der Vernetzungen und des Netzwerkphänomens wird deutlich,

20 Ebd., S. 155. 21 Ebd., S. 153. 22 Dieser Sachverhalt wurde von Kittler später in Verbindung mit kolonialen Netzwerken gebracht. Vgl. dazu Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 1999. 23 Online: http://www.imss.fi.it/masaccio/05/appro/1_01.html und http://www.imss.fi.it/ masaccio/05/appro/1_02.html; Stand: 07. 12. 2016. 24 Ich folge hier den sehr hilfreichen Erläuterungen von Sebastian Gießmann: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik. 1740–1840. Bielefeld 2006, S. 40–48.

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dass Buffon entscheidende Schritte hin zur Ablösung von linearen Darstellungsmustern genealogischer Stammbäume leistet: So setzt er ein rhizomatisches Netzwerk an die Stelle des Hirtenhundes als ›Ausgangs-chien‹ bzw. Begründer des Stammbaums aller Hunderassen. Ganz im Sinne der heutigen Netz­werk­theo­ rien sehen wir Fäden oder Verbindungen sowie Knoten (Hirtenhund, Schäferhund und Dogge), um die sich Variationen oder Mischlinge gruppieren. Als weiteren Versuch einer Abkehr von zweidimensionalen und linearen Modellen der Naturdarstellung, wie sie im 18. Jahrhundert z.  B. Linné propagierte und als Versuch einer Rekonstruktion der gestalterischen Kraft der Natur verstand (»la nature a fait tout ce qui étoit possible«),25 sollten wir – mit Gießmann26 – noch einen kurzen Blick auf Johann Hermanns Tabula affinitatum animalium aus dem Jahre 1783 werfen. Der Straßburger Professor versuchte sich mittels einer hyperkomplexen Visualisierung an einer neuen Form und Dimension der Klassifikation der Entwicklung von Tier und Mensch. Der Mensch erscheint bei Hermann dezidiert als historische Krone der Schöpfung und wird in einem hochkomplexen Netzwerk von Querverbindungen und Knotenpunkten zu Säugetieren, Amphibien etc. verortet. Auch Hermann löst sich – wie Buffon – von rein linearen Darstellungsformen und nähert sich rhizomatischen Konzepten an – allerdings mit einem kleinen Abstrich: Die Krux seines Modells besteht darin, dass es immer nur eng umgrenzte Ausschnitte dieser Entwicklung repräsentieren kann  – ein Problem, dessen sich Hermann wohl bewusst war. Im begrenzten Rahmen dieses Artikels lässt sich leider keine weitere Betrachtung derartiger rhizomatischer Rekonstruktionsmodelle von Tieren und Pflanzen, die im 18. Jahrhundert ihren Beginn nahmen, durchführen.27 Beenden wir daher die Justierung unseres Blickes auf eine Archäologie der Kulturtechnik der Netzwerke mit einem knappen Hinweis auf die Relevanz des Netzwerk- oder Körperkonzepts für die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts. Frankreich war in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts durch eine Vielzahl neuer technologischer Entwicklungen, neuer Kommunikationsnetzwerke und sozialer, politischer und ökonomischer Netzwerke in den urbanen Zentren geprägt; zudem war die Nation auch wesentlich von den Sozialutopien der SaintSimonisten beeinflusst, die Walter Benjamin einmal ironisch-treffend als eine »Heilsarmee in der Bourgeoisie«28 bezeichnete. Es ist hier nicht der Ort, um die sozialen und ökonomischen Implikationen dieser frühsozialistischen Heilslehre 25 Ebd., S. 48. 26 Siehe Anm. 24. 27 Weitere interessante Aspekte bei Sebastian Gießmann (Anm. 24). 28 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1991. Bd. 5, S. 734. Vgl. dazu auch Gießmann (Anm. 24, S. 93).



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zu diskutieren – jedoch ist ein Aspekt hier vor dem Hintergrund unserer historischen Rahmung erwähnenswert: In Saint-Simons Entwurf einer politischen Physiologie der Industrialisierung findet der Begriff des »réseau«  – des Netzwerkes  – keine Verwendung, gleichwohl sind seine von Sozialromantik geprägten Ideen nicht allein in Verbindung zur industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, sondern auch zur Metaphorik eines Körper-Netzwerkes zu sehen. Dieses solle die Grundlage aller politischen Bestrebungen bilden: Mes amis, nous sommes des corps organisés; c’est en considérant comme phénomènes physiologiques nos relations sociales que j’ai conçu le projet que je vous présente, et c’est par les considérations puisées dans le système que j’emploie pour lier les faits physiologiques que je vais vous démontrer la bonté du projet que je vous présente.29

Die naturwissenschaftliche Kategorie der »observation« soll in diesem Falle eine zentrale Rolle für eine physiologisch-netzwerkartig fundierte Sozialwissenschaft spielen, welche alle Bereiche des sozialen Lebens umfasst. Kehren wir nun vom saint-simonistischen Netzwerk und »organischen Körper« zurück zur Frage nach einer wissenschaftlichen Eingrenzung und Bestimmung des Netzwerk-Begriffs.

3 Zu einigen wissenschaftlichen Kernpunkten des Netzwerk-Konzepts »Der Netz-Begriff gehört zu den Konzepten, die gewissermaßen erzeugen, was sie erkennen, und dies dann auch dort erkennen, wo nichts erzeugt, sondern evolutionär emergiert ist […].«30 Wie uns allen bekannt, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen oder Ansätze des Netz-

29 Claude Henri de Saint-Simon: Mémoire sur la science de l’homme. In: Œuvres de ClaudeHenri de Saint-Simon. 5  Bände. Paris 1966. Bd.  4, S.  11. Vgl. dazu auch Sebastian Gießmann (Anm.  24), S.  90.  – [Meine Freunde, wir bilden einen organischen Körper; dadurch, dass ich unsere sozialen Beziehungen als physiologische Erscheinungen auffasste, entwickelte ich das Ihnen vorgelegte Projekt und will Ihnen seine Nützlichkeit auf Grund von Betrachtungen beweisen, die ich dem von mir angewendeten System der Verbindung der physiologischen Tatsachen entnehme. Übertragung ins Deutsche von Sebastian Grießmann.] 30 Hartmut Böhme: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion. In: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme, Jeanne Riou (Hgg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln 2004, S. 27.

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werk-Konzepts angenommen. Dieser Sachverhalt verweist sicherlich zum einen darauf, dass sich dieser axe de pertinence als äußerst effektiv erwiesen hat in Relation zur Untersuchung sehr disparater Phänomene in unterschiedlichen historischen und medialen Feldern; zugleich bedingt das jüngste Aufkommen von Netzwerk-Konzepten geradezu zwangsläufig, dass sich Terminus und Konzept des »Netzwerks« durch recht heterogene semiologische Auffältelungen auszeichnen. »Netzwerke« sind zwar (noch) nicht zu einem modischen »catch-all«Begriff degeneriert  – wir täten aber dennoch gut daran, uns des theoretischen Fundaments sowie der Denotationen und Konnotationen dieses Begriffs bewusst zu bleiben. Werfen wir daher zur Abrundung dieser einleitenden Bemerkungen noch kurz einen Blick auf einige grundlegende Aspekte des Netzwerk-Konzepts oder besser einiger Netzwerk-Konzepte. In der academic community scheint große Übereinstimmung zu herrschen, dass Netzwerke als »Verwebungen von Fäden und Knoten Medienräume [erzeugen], in denen immer intensiver kulturelle Selbstverständigung von Menschen erfolgt.«31 Diese medial konstituierten Prozesse der kulturellen Selbstverständigung sind von zahlreichen ökonomischen, technologischen, sozial- und mentalitätshistorischen Faktoren abhängig und gehen zugleich mit diesen einher. Sie lassen sich als grundlegende kulturelle Paradigmen unserer neuzeitlichen Gesellschaften begreifen, wie dies Susanne Lachenicht mit Blick auf die Felder der Handels- und Familienbeziehungen dargelegt hat, die nicht zuletzt auch neue Ökonomien der Räumlichkeiten mit sich bringen, indem sie etwa traditionelle territoriale Gefüge in mehr oder weniger deterritorialisierte Netze überführen.32 Doch welche weiteren Aspekte der Netzwerke und der Vernetzungen könnten sich mit Blick auf unsere Forschungsachse als relevant erweisen? In Bezug auf mediale Netzwerke und historische Forschungen zur Intermedialität sei hier stichpunktartig und zusammenfassend noch auf einige weitere nützliche Grundlagen der Netzwerk-Forschung oder der ›angewandten Rhizomatik‹ hinzuweisen, die uns zu Archäologien oder ›anwendungsorientierten‹ Theorien von »vielwurzelig«33 verflochtenen Systemen führen – also zu Systemen die nicht in Dichotomien aufgehen.

31 Manfred Faßler, zitiert in: Andreas Hepp (Anm. 8), S. 120. 32 Vgl. Lachenicht (Anm. 9), insbesondere S. 47–55. 33 Im Sinne von Deleuze/Guattari, die den Begriff des »Rhizoms« allerdings bisweilen in eher irreführender Weise verwenden. Ihre Metapher des »Rhizoms« scheint dennoch auf relevante Sachverhalte ›unregelmäßiger Geflechte‹ hinzuweisen. Vgl. Deleuze, Guattari (Anm. 5), S. 16.



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Hierzu gehören: – komplexe diskursive Wechselwirkungen zwischen Natur, Technik und Gesellschaft, die uns zu Netzwerken als Paradigmen oder aber auch als »Imaginationen«34 leiten – Basisbegriffe wie »Fäden – Linien – Kanten – Knoten – Verflechtung – Netz« – die Vorstellung von Vernetzungen mit Knotenpunkten, Verbindungslinien und auch »Löchern«35 – soziale Funktionen von Netzwerken in verschiedenen sozialen Feldern (im Sinne von Bourdieu)36 – das räumliche und zeitliche Markieren des »Dazwischens« von Systemen – diachrone und synchrone (um zwei aus der Mode geratene Begriffe zu verwenden) Forschungsachsen, die von Netzwerk-Ansätzen generiert werden37 sowie nicht zuletzt: – die Netzwerken inhärente Dynamik medialer Transformationen38 – also – die Tatsache ständigen Wandels, welcher sich wiederum am präzisesten mittels der axes de pertinence der Remediation und der Intermedialität fassen lässt.39 Soweit einige Punkte, die wir mit Blick auf Medien-Netzwerke der Frühen Neuzeit nicht aus den Augen verlieren sollten.

34 Vgl. Jürgen E. Müller: Populärkultur, mediale Recyclings, soziale Räume und ökonomische Prozesse – oder Anmerkungen zu einer intermedialen Ökonomie der Popikone Michael Jackson. In: Klaus Michael Bogdal, Achim Geisenhanslüke, Heribert Tommek (Hgg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Berlin 2012, S. 169–185. 35 Wenn wir mit Peter Weibel davon ausgehen, dass ›das Netz‹ »ein wirklich offenes und dynamisches System ist, dass die Knoten sich ständig woanders bilden und damit die Verbindungslinien sich stets zwischen verschiedenen Elementen ziehen und somit neue (größere, bizarrere) Lücken entstehen, wo die die gefangenen Raum- und Zeitpunkte hindurch entschlüpfen [und] ein Netz ja nicht nur aus Knoten, sondern auch aus Löchern besteht«, dann stellt sich die Frage, welche medialen (oder auch ästhetischen) Prozesse in den Knotenpunkten oder Verbindungs­ linien ablaufen. Peter Weibel: Polylog. Für eine interaktive Kunst. In: Gerhard Johan Lischka, Peter Weibel (Hgg.): Kunstforum International 103 (1989), S. 65–86, hier: S. 73. 36 Vgl. dazu den Artikel von Pierre Bourdieu: Champ intellectuel et projet créateur. In: Les Temps Modernes 246 (Nov. 1966), S. 865–906. 37 Ich beziehe mich hier wiederum auf den Band von Gießmann (Anm. 24), S. 13. 38 Vgl. Krieger, David J.; Belliger, Andréa (2014): Interpreting Networks. Hermeneutics, ActorNetwork Theory & New Media. 1., Aufl. Bielefeld: transcript (Digitale Gesellschaft, 4). 39 Vgl. Anna Wiehl: »Non-linearity, multiple points of view and intercultural understanding. Interactive documentaries as sets of possibilities to tackle the complexities of 21st century’s socio-cultural reality. A ›Werkstattgespräch‹ with Judith Aston.« In: Ochsner, Beate; Fahle, Oliver; Wiehl, Anna: Die Herstellung von Evidenz oder: Zum Phänomen interaktiver Web Dokumenta­ tionen. Marburg: Schüren, Augenblick – Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 2016.

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4 Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 4.1 Ur-Intermedialität Jens Schröter prägte unlängst den Begriff einer »Ur-Intermedialität«, welche gewissermaßen der modernen oder post-modernen computergenerierten Intermedialität vorausgeht. Da die angeblich vorgängigen Medienmonaden wie ›Fotografie‹, ›Malerei‹ oder ›Film‹ ihren privilegierten Status verlieren und so etwas werden wie konventionelle Verdichtungen und temporäre Stabilisierungen eines im Digitalen modulierbaren intermedialen Feldes, werfen der im Prinzip universelle Computer und seine konventionalisierten konstellativen Verdichtungen die Frage auf, ob nicht alle scheinbar vorgängigen ›Monomedien‹ und ihre ›Spezifiken‹ das Resultat diskursiv-praktischer und institutionell verankerter Stabilisierungen, Einschnitte und Ausschlussmechanismen sind.40

In der Konsequenz bedeutet dies, dass nicht erst das digitale Zeitalter diese Frage nach dem Konstrukt-Charakter der so genannten ›Monomedien‹ aufwirft, die – je nach historischer Perspektivierung der Produzierenden, Künstler und Wissenschaftler – in unterschiedlicher Weise als vernetzt und intermedial erscheinen, vielmehr stellt sich – wie wir im Folgenden sehen werden – diese Frage bereits hinsichtlich der Frühen Neuzeit und der vorangehenden Epochen. In diesem Sinne wären multi- oder intermediale Prozesse und Performanzen nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall von Medienprodukten und -kunstwerken  – gewissenmaßen als ›Ur-Intermedialität‹. Vieles scheint, ganz im Sinne von Wolf Gerhard Schmidts Überlegungen zum »prä-modernen Gesamtkunstwerk« für die Richtigkeit und Relevanz dieser These zu sprechen.41 Die Annahme einer seit Beginn der Mediengeschichte vorhandenen Inter­ medialität hat zahlreiche Implikationen für die Medienhistoriologie und Medien-

40 Jens Schröter: Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu-)Erfindung des Mediums im (digitalen) Modernismus. Ein Versuch. In: Joachim Paech, Jens Schröter (Hgg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 579–601, hier S. 590. 41 Wolf Gerhard ­ Schmidt: Was ist ein ›Gesamtkunstwerk‹? Zur medienhistorischen Neu­ bestimmung des Begriffs. In: Archiv für Musikwissenschaft 68 (2011), S.  157–179.  – neu publ. in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. N.  F. 52 (2011), S. 251–278; Wolf Gerhard S ­ chmidt: Harmonikalität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken Systemdenkens. Zur Integralästhetik von Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen [1641–1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4, S. 483–531.



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theorie  – so etwa die Forderung nach der Entwicklung einer vernetzten und intermedialen Geschichte der audiovisuellen Medien und einer dynamischen ReEkritüre vorgängiger Geschichte(n). Eine derartige Geschichtsschreibung fordert eine Abkehr von gängigen Verfahren der Aus- und Eingrenzung. Intermediale Fusionen, Brüche und Interferenzen müssen von der Peripherie medienwissenschaftlich-historischer Erkenntnisinteressen in deren Zentrum gerückt werden, um dem medialen ›Status‹ und den historischen und sozialen Funktionen media­ ler Erscheinungen gerecht zu werden, und um die medialen Eindimensionalitäten von Theoriebildung und Analyse zu durchbrechen. Bei meiner Annäherung an die intermedialen Vernetzungen einiger Medien der Frühen Neuzeit werden im Folgenden nicht allein die eben genannten Faktoren eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch Phänomene wie Re-Media­ tionen, Recyclings von Gattungen und Gattungsmustern und deren korrespondierende historische Funktionen. Wir werden in Form einiger Aphorismen und Thesen den Versuch unternehmen, erste (und vorläufige) Schritte in Richtung einer intermedialen Netzwerk-Geschichte der Medien der Frühen Neuzeit zu unternehmen. Diese neuzeitliche(n) Netzwerk-Geschichte(n) sollen von einigen Splittern prä- und postneuzeitlicher Historien gerahmt werden. Insgesamt gesehen wird der Akzent  – wie bereits erwähnt  – bewusst nicht auf eine intermediale Geschichte von ›Höhenkamm-Werken‹ gelegt. »Laokoon« erfährt somit eine gewisse ›Einklammerung‹.42 Im Erkenntnis leitenden Kontext dieses Artikels ziehen wir es vor, die Aufmerksamkeit stattdessen auf populäre mediale Netzwerke in der Frühen Neuzeit zu lenken. Doch werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf prä-neuzeitliche und säkulare Netzwerke.

4.2 Prä-neuzeitliche Netzwerke Die Annahme einer »Ur-Intermedialität« relativiert nicht allein modische Aussagen zur Einzigartigkeit medialer Prozesse im Digitalen Zeitalter, sie lenkt uns auch auf intermediale Prozesse und Netzwerke, die – chronologisch gesehen – vor der Neuzeit zu situieren sind. In seinen Forschungen zu mittelalterlichen illustrierten Handschriften, zu ikonographischen Konzepten und Gebrauchssituationen mittelalterlicher

42 Zur ›Laokoon-Frage‹ vgl. meine Bemerkungen in folgendem Artikel: Intermedialität als poe­to­lo­gi­sches und medientheoretisches Konzept  – einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungs­ gebiets. Berlin 1998, S. 31–40.

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Abb. 3: Mise en page: Eneas und die cumäische Sibylle am Eingang zur Unterwelt Illustration aus der Berliner Eneit (um 1215).43

illustriert­er Texte und Medien hat Norbert Ott darauf verwiesen, dass diese illustrierten Texte oder Holzschnitte sich nicht auf eindimensionale und statische Text-Bild-Relationen reduzieren lassen, sondern sich in einem Spannungsfeld zwischen künstlerischen und medialen Anforderungen befinden. Mittelalterliche Schriften zeichnen sich demzufolge durch vielschichtige, wechselhafte, dynamische und intermediale Beziehungen zwischen Text und Bild aus. Diese sozial- und gattungshistorisch variablen Interaktionen oszillieren unter anderem – abhängig von den Intentionen und zuzuordnenden Handlungsmustern von Produzent und Rezipient – zwischen den Polen ›Bilder mit Texten‹ sowie ›Texte mit Bildern‹. In diesem Zusammenhang kommt auch den Traditionen der mise en page von Handschriften eine entscheidende Rolle als Kompositionselement zu.

43 Online: http://hosting.itz.fak13.lmu.de/seminararchiv/wallicz/eneit21v.htm; Stand 07.  12. 2016.



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Schriften, wie z.  B. die Berliner Eneit (um 1215) bedienen sich der mise en page, benutzen aber ausgiebig weitere Kompositions- und zugleich Sinn-Elemente, nämlich erläuternde Schriftzeichen in den Bildrahmen und beschriftete Banderolen mit den Äußerungen der im Bild agierenden Personen.44 Schrift  – volkssprachliche Schrift  – wird als integrativer Bild-Bestandteil sichtbar, und dies bedeutet, dass »die Sprechakte der handelnden und im Bild dargestellten Protagonisten […] sowohl als Schrift wie als formales Bildelement, gewissermaßen als eine ganz spezifische Schicht meta-oraler Kommunikation, vergegenwärtigt«45 sind. Die Schriften sind in intertextuelle und intermediale Netzwerke eingebettet, wobei die Vor-Bilder der Handschriften- und Buchillustrationen bis zur byzantinischen Buchmalerei zurückverfolgt werden können. Den Illustrationen kommt somit eine Funktion zu, die weit über eine ›Verlebendigung‹ des Textes oder über eine rein ästhetische – oder Wert steigernde – Schmuckfunktion hinausgeht. Sie dienen damit auch nicht als Verstehenshilfe für illiterate Laien, »vielmehr erzählen die Bilder später Codices picturati den Text ›anders‹, sprechen eher ›über‹ ihn, und zwar in der ihrem eigenen Medium immanenten Sprache. Illustrationen bereiten den Text, den sie begleiten, neu auf, da sie ihre eigene, unabhängig von der Realität der Texte existierende Realität besitzen.«46 Mittelalterliche Schriften erweisen sich in dieser Perspektive als funktionale Elemente eines Raum und Zeit überspannenden intertextuellen und intermedialen Netzwerks. Als abschließendes Beispiel dieser Funktion mittelalterlicher intermedialer Netzwerke sei an dieser Stelle noch auf die einzigartige Tapisserie de Bayeux verwiesen, die auf knapp 70 Metern Länge nicht nur eine intermediale Geschichte der Norman Conquest Englands durch Wilhelm dem Eroberer im elften Jahrhundert erzählt, sondern im klerikal-narrativen Raum ein quasi kinematographisches Verfahren entwickelt. Nachdem wir an diesen Beispielen die Relevanz historischer Analysen mittelalterlicher Medien-Netzwerke gesehen haben, wollen wir nun unseren Blick auf intermediale Netzwerke der Frühen Neuzeit lenken, wobei wir uns aus argumentationsökonomischen Gründen leider nicht mit den neuzeitlichen Re-Me­ dia­tionen der biblischen Isaak-Erzählung in den bildenden Künsten, in Dramen,

44 Diese Banderolen sind übrigens zeitgenössischen Comics nicht unähnlich. 45 Norbert H. Ott: Mise en page. Zur ikonischen Struktur der Illustrationen von Thomasins ›Welschem Gast‹. In: Horst Wenzel, Christina Lechtermann (Hgg.): Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des Welschen Gastes von Thomasin von Zer­ claere. Köln/Weimar/Wien 2002 (Pictura et Poesis; 15), S. 33–64, hier S. 38. 46 Norbert Ott: Zur Ikonographie des Parzival-Stoffes in Frankreich und Deutschland. Struktur und Gebrauchssituation von Handschriftenillustration und Bildzeugnis. In: Wolfram-Studien 12 (1992), S. 121.

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Abb. 4: Tapisserie de Bayeux (Ausschnitt) Intermediale Geschichte der Norman Conquest Englands durch Wilhelm den Eroberer als ein quasi kinematographisches Verfahren im klerikal-narrativen Raum.47

Oratorien, literarischen Texten,48 den Netzwerken der Meistersänger,49 den Bildergedichten50 oder den Medien-Netzwerken Wilhelmines von Bayreuth51 befassen können. Stattdessen soll sich unsere Frageachse – um die große Bandbreite medialer Netzwerke aufzuzeigen  – auf drei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche und doch miteinander verbundene mediale Felder richten, die unser Bewusstsein und unsere Welt der Bilder und Töne, der theatralen Performanzen und Künste seit mindestens drei Jahrhunderten prägen: 1) Kolporteure und Bildernetzwerke, 2) Laternae Magicae und kollektive Imaginationen sowie 3) urbane und dörfliche Plätze und intermediale Spektakel.

47 Online: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Bayeux_Tapestry?uselang=de#/ media/File:BayeuxTapestryScene22.jpg Stand: 07. 12. 2016. 48 Vgl. dazu den von Johann Anselm Steiger und Ulrich Heinen herausgegebenen Band: Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2006. 49 Vgl. Friedrich Gennrich: Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang. Köln 2010. 50 Vgl. Dick Higgins: Pattern Poetry. Guide to an Unknown Literature. New York 1987. 51 Vgl. Jürgen E. Müller: Une vie à la recherche des effets de vie – ou quelques remarques sur l’oeuvre multi- et intermédiatique de la Margrave Wilhelmine de Bayreuth. In: Francois Guiyoba (Hg.): Entrelacs des arts et effet de vie. Paris 2012, S. 83–113.



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4.3 Neuzeitliche intermediale Netzwerke 4.3.1 Kolporteure und Bilder-Netzwerke Historische Forschungen haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass in der Frühen Neuzeit dem Medium »Brief« und später dem neuen Medium »Zeitschrift« eine entscheidende Funktion für die Vernetzung von Handelsgesellschaften oder Migranten zukommt.52 Kaufmannsdiasporen, Gelehrten-Netzwerke und fami­ liäre Netzwerke gründeten auf dem Austausch schriftlich fixierter und zum Teil über weite Distanzen (auch über Ozeane hinweg) übermittelter Informationen. Frühneuzeitliche Gesellschaften waren auf diese Übermittler angewiesen und setzten eine ständige Nutzung dieser Schriftmedien voraus. Vor dem Hintergrund der ökonomischen, philosophisch-wissenschaftlichen und sozialen Funktionen dieser schriftbasierten Datenträger sollten wir auch die Bildermedien der frühen Neuzeit nicht aus dem Blick verlieren, die sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts zu den damals etablierten Medien der historischen Medienlandschaft gesellten und sich in komplexen Interaktionen mit diesen befanden. Semi-industrielle Produktion, Distribution und Verkauf der Bilder über Kolporteure in einem Radius von mehreren hunderten oder gar tausenden von Kilometern, sowie ein wachsendes Interesse an sakralen und populären Motiven, führten geradezu zu einer Explosion des Verkaufs und der Präsenz dieser ›sprach-unabhängigen‹ Bilder und Illustrationen, die von den ambulanten Händlern zusätzlich in ihr Angebot aufgenommen wurden und somit die Erzählungen, politischen Karikaturen, Romanzen, Medizinratgeber, populärwissenschaftlichen Texte, landwirtschaftlichen Anleitungen, Rezeptsammlungen, Schönheitsempfehlungen, Ratgeber53 etc. komplettierten. Kolporteure zogen knapp vier Jahrhunderte lang durch ganz Europa  – im 18.  Jahrhundert bis nach Indien, Sibirien und Peru  – und fungierten auf diese Weise als ›Medien-Träger‹ im wörtlichen Sinne. Dabei waren sie den örtlichen politischen und klerikalen Autoritäten oftmals ein Dorn im Auge, da sie der einheimischen Bevölkerung Fremd- oder Anders-Bilder zugänglich machten. Mit Gian Piero Brunetta gesprochen lassen sie sich als Boten einer »parola per gli occhi«54 fassen, die den Versuch unternahmen, die neuen Formen wissenschaft-

52 Vgl. Lachenicht (Anm. 9), insbesondere S. 47–55. 53 Vgl. Gian Piero Brunetta: Il viaggio dell’Icononauta. Venedig 2001, S. 137. 54 Ebd., S. 142 [einer »Sprache für die Augen«]. Diese, ebenso wie alle folgenden Übertragungen aus dem Italienischen und Französischen von Jürgen E. Müller.

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licher Erkenntnis mit dem Denken und Wissen der Magie der Natur zu verbinden  – womit sie das Bewusstsein der Europäer in der Neuzeit entscheidend prägten. Aus unserer Perspektive der intermedialen Netzwerke gilt es festzuhalten, dass diese Funktion auf einer intermedialen Nutzung von Remediationen, d.  h. klassischen Vorbildern des abendländischen pikturalen und literarischen Kanons, sowie auf einer Überlagerung ökonomischer, sozialer, medialer und technologischer Netzwerke basierte, welche erst die Verbreitung dieser Bilder und deren Eindringen ins kollektive Imaginäre ganzer Landstriche und Generationen von Bewohnern ermöglichte. Diese intermedialen Netzwerke erweisen sich – in Übereinstimmung mit unseren eingangs beschriebenen grundlegenden Aspekten – als komplexe diskursive Prozesse, die ihre Funktion in spezifischen sozialen »Feldern« entfalten. Sie zeichnen sich durch permanente mediale Transformationen und durch einen fortwährenden Wandel auf verschiedenen Ebenen, von den Zeichencodes, über Migrationsweisen bis zu den Vernetzungsformen aus.

4.3.2  Laternae magicae, Guckkästen, Gaukler, Kolporteure und kollektive Imaginationen Seriöse Schätzungen lassen vermuten, dass bis ins 19.  Jahrhundert einige Millionen Europäer aber auch Bewohner anderer Kontinente an Vorstellungen der Laterna magica und der Guckkästen teilgenommen haben. Diese als multi- und intermediale Spektakel konstruierten Vorstellungen der Savoyarden und Gaukler waren weit mehr als reine Bilder-Vorführungen: Sie konstituierten ein globales Netz der Begegnung mit fremden und unbekannten Welten, die sich von der mikroskopischen Nähe bis zur exotischen Ferne fremder Fauna und Flora und fremder Kulturen erstreckte. Die in Athanasius Kirchers Ars Magna Lucis et Umbrae im Jahre 1645/6 vorgestellte Laterna magica55 sollte sich bald als ein äußerst erfolgreiches Medium und

55 Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae in decem libros. Rom 1645/1646 (2. Aufl. 1671). Wie Laurent Mannoni in seinem Band Le grand art de la lumière et de l’ombre darlegt, kommt Kircher – wohl zu Unrecht – der Ruf des alleinigen ›Erfinders‹ der Laterna Magica zu. Der Niederländer Huygens scheint dieses Dispositiv in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts offensichtlich in sehr viel differenzierterer Weise entwickelt zu haben. Vgl. Laurent Mannoni: Le grand art de la lumière et de l’ombre. Archélogie du cinéma. Paris 1995.



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Abb. 5: Guckkästen auf dem Jahrmarkt; im Hintergrund ein Panoramagebäude (1843). Abb. aus Deutsches Filmmuseum (Hg.): Magische Schatten. Frankfurt/M. 1988, S. 96.

als ein ökonomisches Vehikel für ein weltumspannendes Netzwerk von magischen Licht-Spielen und von naturwissenschaftlichen Belehrungen entpuppen. Klammern wir im phänomenologischen Sinne die apparativen Voraussetzungen der Laterna magica ein und richten stattdessen unsere Aufmerksamkeit auf Prozesse intermedialer Vernetzungen und mögliche soziale Funktionen dieses paradigmatischen Mediums und weiterer Multi-Medien der Frühen Neuzeit, welche in gewisser Weise die oben zitierten sinnesbezogenen und kartographischen Spekulationen eines Nikolaus von Kues fortsetzen. In Christoph Weigels Abbildung Der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände […] aus dem Jahre 1698 finden wir Informationen über die Abfolge teilbewegter Bilder einer Laterna magica: 1) Die Hölle, aus der drei Vizekardinäle zu entkommen suchen 2) Christi Himmelfahrt, 3) eine Windmühle, 4) eine göttliche Hand die von den Wolken herniedergeht, 5) ein apokalyptisches Tier, das vom Meer auf den Strand springt, 6) eine nächtlich beleuchtete Uhr 7) eine Uhr, die sich nicht aus einem Ziffernblatt, sondern aus Bildern der zwölf Apostel zusammensetzt, 8) ein vierbeiniges Tier, ein Bär, der sich auf zwei Beinen erhoben wütend einem Angreifer entgegen-

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stellt, 9) ein einen Taktstock schwingender Dirigent und 10) eine Dame, die eine Verbeugung macht.56 Wie Gian Piero Brunetta feststellt, sollte sich die künstliche Bildersprache der Laterna magica in wenigen Jahrzehnten zu einer Art lingua franca aller europäischen Länder entwickeln, deren Einfluss bis nach China ›ausstrahlte‹. Die Lanternisten konstituierten populäre Bilder-Spektakel-Netzwerke, die mit ihren intermedialen Recyclings von Vor-Bildern und tradierten Geschichten Eingang in das kollektive Imaginäre fanden und die pikturalen Codes breiter Bevölkerungsschichten prägten. Diese intermedialen Netzwerke, welche die Wanderer mit ihren Laternen spannten, wurden durch Hunderte ›pikturaler‹, multi- und multimedialer Repräsentationsformen und Gattungen unterfüttert: Transformationen, Visionen, Inkarnationen, Himmelfahrten, Bewegungen, Explorationen, Wanderungen, Reisen, Stationen, Kosmogonien, Fantasmagorien, Grillen, Träume, Späße, Verrücktheiten, Metamorphosen, Apotheosen, Lithomorphosen, Zoomorphosen, Seelenwanderungen und viele andere.57 Vorführungen der Laterna Magica unterrichteten Ende des 18. Jahrhunderts als »fléau des aristocrates« (Plage der Aristokraten) die illiterate Pariser Bevölkerung über die Revolutionsereignisse. Vor Beginn der Vorführung sang der savoyardische Lanternist: Accourez à ma Lanterne, / Peuple fier et généreux, / J’apporte avec moi de Berne, / Ce bijou si précieux. / Eh haye eh heu, Eh haye eh heu, Eh haye eh heu: / V’là comme on arrive. / Le bon François me goûtera, / Car la liberté lui plaira, / Et par de-là le Mont-Jura (bis), / l’aristocrate il renverra (bis). / Il verra dans mon optique, / Comment il brise ses fers, / De son courage héroïque, / Les tableaux y sont offerts. / Eh haye eh heu.58

Eine besondere Faszination übten diese multimedialen Apparate aus nachvollziehbaren Gründen insbesondere auf Kinder und Jugendliche aus. Im 19.  Jahrhundert beschreibt ein Intellektueller aus Bologna diesen Effekt wie folgt: Die Kinder umtobten mich indes die ganze Zeit derart, dass ich mich kaum von ihnen frei machen konnte – so sehr wollten sie die herrlichen, einzigartigen Bilder sehen, die da auf die Mauer projiziert wurden. Welch Aufschrei der Bewunderung beim Erscheinen des Elefanten! Welch angstvolle Aufmerksamkeit beim Auftritt des Löwen, der Boa, des Tigers. Welch freudige Überraschung beim Aufblitzen des Canale Grande in Venedig, des Peterdoms in Rom, des schiefen Turms von Pisa, des Golfs von Neapel mit seinem rauchenden

56 Vgl. Brunetta (Anm. 53), S. 200. 57 Vgl. ebd., S. 219. [Übertragung aus dem Italienischen und Zusammenfassung von Jürgen E. Müller.] 58 Zitiert ohne Quellenangabe in Mannoni (Anm. 55), S. 101.



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Vulkan! Welch vor Staunen weit aufgerissene Augen bei der Vergrößerung eines Insektes, einer Blume, einer Pflanze! Und über dem Ganzen – welch Wissensdurst, welch köstlicher und tiefer Wunsch zu sehen, vielmehr nochmals zu sehen – und zu verstehen.59

Dieses Zitat gibt einen kleinen Einblick in das Spektrum sozialer und emotionaler Funktionen, die an die ›Bilder-Produktions-und-Recyclings-Maschine‹ Laterna magica‹ gebunden sind. Auf die intermedialen Netzwerke und ikonologischen Codes dieses Apparats sollte im späten 19.  Jahrhundert das zunächst ebenfalls mobile Dispositiv des Kinos treffen. Diese intermedialen Netzwerke stehen, wie eingangs erwähnt, in enger Verknüpfung und Überlagerung mit ökonomischen, sozialen, politischen und technologischen Netzwerken – und dies nicht erst mit dem Aufkommen der modernen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts.

4.3.3 Plätze als Knotenpunkte des intermedialen Austausches Wenn wir zu Beginn unserer Netzwerk-Aphorismen auf »Fäden, Knoten, Verflechtungen«, auf »Löcher im Netz«, »mediale Transformationen im Netz« und »soziale Funktionen« intermedialer Netzwerke hingewiesen haben, so lenken diese Aspekte der Netzwerk-Konzepte unsere Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf relevante »Knotenpunkte« neuzeitlicher Netzwerke, auf urbane und dörfliche Plätze. Kolporteure und lanternistes als ›Medienträger‹ (im doppelten Sinne) und als Übermittler knüpften mit ihren Wanderungen in Zeit und Raum neue, auch deterritorialisierte Netzwerke. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass dieses Spinnen von Netzwerken immer auch die Bildung von und das Wirken an spezifischen Knotenpunkten impliziert. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den städtischen und dörflichen Versammlungsorten der Plätze und Märkte zu, die als Schnittstellen zwischen sozialen, politischen, ökonomischen, medialen, informativen und ludischen Netzwerken fungieren, um hier nur die augenfälligsten Formen zu benennen. Der ›reale‹ Raum der Plätze diente der Versammlung und intermedialen Vernetzung zahlreicher imaginärer

59 »Di piccoli, intanto, non mi potevo liberare. Ad ogni momento mi erano intorno per rivedere le grandi e splendide figurazioni proiettate sul muro. Che gridi di ammirazione all’apparire dell’elefante! Che paurosa attenzione al passagio del leone, del serpente boa, della tigre. Che lieta sorpresa al balenare de Canal Grande di Venezia, della Chiesa di San Pietro a Roma, della torre pendente di Pisa, del Golfo di Napoli col vulcano fumante! Che occhi spalancati par meraviglia quando si presentava l’ingrandimento di un insetto, di un fiore, di un’erba! E su tutto, quale delizioso e profondo desiderio de vedere, anzi de rivedere e di sapere.« In Brunetta (Anm. 53), S. 225  f. [Übertragung aus dem Italienischen von Jürgen E. Müller.]

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Schauspiele und Spektakel, unter denen die inter- und multimedial aufbereiteten Bildergeschichten und Laternae Magicae mehr als drei Jahrhunderte lang zu den Hauptattraktionen zählten. Kolporteure als Verbreiter von Informationen und Imag(o)inationen für die Massen, ambulante Händler populärer Texte und Gattungen  – wie etwa des spanischen Schelmenromans  – oder quasi industriell, xylographisch, d.  h. mit Holzschnitten hergestellter Heiligenbilder, Bilder von seltenen Tieren, Soldaten, Städten usw., waren die entscheidenden ›Medienträger‹ an den urbanen und dörflichen ›Knotenpunkten‹. Dabei sollten wir diese Medien nicht als Monomedien und aufgespaltene Entitäten, sondern als in permanenten, komplexen, multimedialen Interaktionen befindliche Phänomene, begreifen. Die Laterna magica als »grande boîte dans laquelle les Savoyards portent des objets qu’ils offrent de montrer comme curieux«60 war auf den städtischen Plätzen in ein intermediales Medienverbundsystem eingebettet, dessen spektakuläre Aspekte sich von der Musikbegleitung bis zur theatralen Vorstellung erstreckten. Analoges gilt für die englischen »raree shows« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seinen Tableaux de Paris berichtet Mercier davon, wie ein Lanternist seine Vorführung mit einer »nasalen Stimme« begleitete, mit einem »Käfig, in dem sich ein Murmeltier befand«, oder die bewegten Bilder mit einem »nächtlichen Orgelkonzert« untermalte, das sich durch die dunkle Stille verbreitete.61 Aus unserer Perspektive der intermedialen Netzwerke der Frühen Neuzeit erweist sich hierbei der Sachverhalt als entscheidend, dass diese urbanen und dörflichen Räume Knotenpunkte für Spektakel und Darbietungen theatraler, musikalischer und pikturaler Gattungen darstellten, in denen sich real-räumliche mit imaginären und virtuell medialen Netzwerkfäden überlagern, die mehrschichtige und drei­ dimensionale Netzwerkgeflechte konstituieren.

60 Grand Dictionnaire Universel Larousse, Paris 1872, o.  S. 61 Brunetta (Anm. 53), S. 123.



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Abb. 6: Reisender Lanternist mit Zuhörern auf einem Londoner Platz Illustration aus Sergeant Bell and his Raree-Show (1822).62

62 Online: http://www.bdcmuseum.org.uk/uploads/item_images/42993//opt/webapps/ billdouglas/repository/billdouglas/uploads/images/42992–2.jpg; Stand: 07. 12. 2016.

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Abb. 7: Laterna magica-Vorführungen als Spektakel: Kostümiertes Publikum des Biedermeier.63

4.4 Post-neuzeitliche Netzwerke Nachdem wir unseren knappen Parcours durch intermediale Netzwerke der Frühen Neuzeit mit zwei prä-neuzeitlichen Beispielen begonnen haben, möchten wir diesen  – ohne damit irgendwelche historisch gearteten Linearitäten postulieren zu wollen – mit einem post-neuzeitlichen Beispiel zur intermedialen Vernetzung der Television abschließen. Albert Robida entwickelt in seinem utopischen Roman Le Vingtième Siècle im Jahre 1883 eine recht vergnügliche Vision der Pariser Gesellschaft des Jahres 1950.64 Ohne detailliert auf alle Aspekte dieses Entwurfs eingehen zu können, wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf eine heute noch sehr aktuell anmutende Variante der von Robida skizzierten intermedialen Vernetzungen lenken.

63 Online: http://images.nzz.ch/app.php/eos/v2/image/view/643/-/text/6adfea4e/ 1.10785293.1306939145.jpg; Stand: 07. 12. 2016. 64 Vgl. Albert Robida: Le Vingtième siècle. Paris 2006, S. 202.



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Abb. 8: Die Zeitschrift L’Epoque wird im literarischen Text als eine cross-mediale Ton-BildZeitung entworfen, die an einem globalen Netzwerk audiovisueller Medien partizipiert. 65

Wie diese Illustration und die erläuternde Bild-Unterschrift deutlich machen, sind die bei Robida imaginierten neuen Medien in eine weltweit vernetzte Medienlandschaft eingebunden.66 So wird z.  B. die Zeitschrift L’Epoque im literarischen Text als eine cross-mediale Ton-Bild-Zeitung entworfen, die an einem globalen Netzwerk audiovisueller Medien partizipiert. Auf dem linken ›Großbild‹ der überdimensionalen Kristallscheibe (»plaque de cristal«) sehen wir eine Hutreklame, auf dem rechten werden die neuesten Nachrichten präsentiert. Die Zeitschrift L’Epoque erweist sich – ähnlich unserer zeitgenössischen Medienlandschaft – als ein Multimedia-Konzern, dessen Bild-

65 Ebd. 66 Vgl. dazu meinen Artikel: Tele-Vision als Vision: Einige Thesen zur intermedialen Vor- und Frühgeschichte des Fernsehens (Charles François Tiphaigne de la Roche und Albert Robida). In: Ernest W.-B. Hess-Lüttich (Hgg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze zur Medienästhetik und Telesemiotik. Wiesbaden 2001, S. 187–208.

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und Tonmaterialien in unterschiedlichen medialen Repräsentationsformen verbreitet werden. An die Stelle der Bilder der Kolporteure, der Lanternisten und der journaux illustrés, treten in Le Vingtième Siècle Verfahren der Bildproduktion und -reproduktion, die an die heutigen digitalen Optionen erinnern, mithilfe derer Bilder beliebig vernetz- und reproduzierbar geworden sind. Auch in Robidas Zukunftsvision gibt es Medienverbundsysteme, die den unsrigen des ›digitalen Zeitalters‹ sehr ähnlich sind: So stellt der Autor die (fiktive) Zeitschrift L’Epoque illustré konsequenterweise als die »beste als Photo-Zeitschriften« dar, da sie von den Bildern des Fernsehens Gebrauch macht: »[…] ses illustrations sont la reproduction des images du téléphonoscope photographiées aux moments les plus intéressants.«67 Bei diesem modernen Zukunftsentwurf der westlichen Mediengesellschaften des 20. Jahrhunderts sind intermediale Prozesse und Medien-Netzwerke untrennbar miteinander verbunden.

5 Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit – ein Wort zum Schluss Am Ende dieses knappen tour d’horizon – um nicht zu sagen: dieser Gradwanderung – durch die Geschichte intermedialer Netzwerke der Frühen Neuzeit sollten wir eine thesenartige Zusammenfassung versuchen. 1) Die gefundenen vorläufigen Ergebnisse können als weiterer Beleg für die Relevanz und Richtigkeit einer historischen Umsetzung der intermedialen Forschungsachse gelten. Eine derartige historische Annäherung an das weite Feld der Intermedialität führt uns zu weitaus nützlicheren Resultaten als sie rein taxonomisch orientierte Forschungen generieren kann. 2) Intermediale Prozesse setzten nicht erst mit der Moderne oder Postmoderne ein, sondern finden sich bereits in den Mediennetzwerken der Frühen Neuzeit. Diese stellen also auch für die Forschung ein äußerst relevantes Feld dar, dem die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. 3) Das Netzwerk-Konzept erweist sich – wie wir hoffentlich an den Inter­aktions­ feldern und Schnittflächen einiger Medien-Netzwerke der Frühen Neuzeit andeuten konnten – als eine wichtige komplementäre Forschungsachse der Intermedialitätsforschung, die es erlaubt, Elemente und Prozesse medialer Netzwerke mit sozialen, ökonomischen, technologischen, mentalitätshistori-

67 Robida (Anm. 64), S. 202.



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schen und ggf. auch juristischen Elementen in theoretisch reflektierter Weise zu verbinden. Netzwerke und Intermedialität hätten sich in diesem Sinne als relevante Forschungsachsen für Untersuchungen medialer Prozesse diesseits und jenseits des Laokoon erwiesen.

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»Cazzon da mulo« − Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen Am 13. September 1603 wird der Maler Michelangelo Merisi da Caravaggio in Rom verhört.1 In den Tagen zuvor2 war er gemeinsam mit dem Kollegen Orazio Gentileschi verhaftet und angeklagt worden, den Künstlerkollegen Giovanni Baglione durch Spottgedichte diffamiert zu haben.3 Caravaggio wird in den Carcere Tor di Nona und Gentileschi in ein anderes Gefängnis4 verbracht, damit es nicht zu Absprachen kommen kann. Eine dritte Person, der Architekt Onorio Longhi, wird ebenfalls angeklagt, da er aber nicht in Rom weilt, kann man seiner nicht habhaft werden. Im Unterschied zu Gentileschi, der straffrei ausgeht, wird Caravaggio vom Richter zu Hausarrest verurteilt: »[…] non puo uscire da casa senza autorizzazione«.5 Und obwohl beide abstreiten, die Gedichte verfasst oder mitver1 Die Dokumente des Prozesses wurden kürzlich von Michele Di Sivo in einer neuen philologischen Auflage publiziert, sind aber bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt und in Teilen pu­ bliziert. Vgl. Michele di Sivo: Uomini valenti. Il processo di Giovanni Baglione contra Caravaggio. In: M.d.S., Orietta Verda, Eugenio Lo Sardo (Hrsg): Caravaggio a Roma – Una vita dal vero. Rom 2011, S. 90–108, hier S. 90–96. 2 Caravaggio und Filippo Trisegni wurden am 11. September 1603 festgenommen und im Torre di Nona inhaftiert. Trisegni wird noch am selben Tag, Caravaggio erst am 13. September verhört. 3 Giovanni Baglione hat seine Klage gegen Caravaggio, Orazio Gentileschi, Filippo Trisegni und Onorio Longhi am 28. August 1603 vorgebracht. Die Gedichte sind, wie Tommaso Salini in seiner Aussage berichtet, seit Mai 1603 im Umlauf. Longhi weilt nicht in Rom und Trisegni wird als Zeuge, nicht als Angeklagter gehört. 4 Das Gefängnis Conte Savelli. 5 Der Prozess endet mit den Strafen am 25. September. »Pro Michelangelo Merisio de Caravaggio None carcerato pro pretenso libello famoso […] de non offendendo sub penis arbitrio etc. necnon iniuncto precepto de non offendendo e domo sue habitationis sine licentia in scriptis etc. sub pena triremium arbitrio […].« Vgl. Di Sivo (Anm. 1), S. 108. Anmerkung: Dieser Beitrag ist während eines Forschungsaufenthaltes an der Bibliotheca Hertziana im akademischen Jahr 2006/07 entstanden und im Winter 2006 als Referat an der genannten Forschungsinstitution vorgestellt worden. Er ist seit dem an zahlreichen Universitäten und Museen in deutscher und englischer Sprache gehalten worden. Seit dem 16. 12. 2009 ist er als IKKM-Lecture im Netz zugänglich. Ich danke Andrea Kiehn, Lothar Sickel, Barbara Kuhn, Linda Nolan für Hinweise und Korrekturen. Bei der später beigefügten Übersetzung haben mich Francesca Santamaria und Stefano Rinaldi tatkräftig unterstützt, wofür beiden an dieser Stelle gedankt sei. DOI 10.1515/9783110521788-010



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fasst zu haben,6 verhält sich Gentileschi gegenüber dem verhörenden Beamten klüger. Er erinnere sich zwar nicht an konkrete Beleidigungen, da aber die Konkurrenz unter Künstlern groß sei und niemand perfekt,7 könne man jedermanns Arbeiten und selbstverständlich auch die seinen kritisieren. Zudem beschuldigt er nun seinerseits Baglione des Hochmuts. Dieser habe erwartet, dass er, Gentileschi, als Erster den Hut zu lüften habe, wenn sie sich begegneten.8 Caravaggio tritt selbstbewusster auf und gibt unumwunden zu, dass er den Kläger für einen unbegabten Maler halte. Ja mehr noch, er behauptet niemanden zu kennen, der Baglione je als guten Maler bezeichnet habe.9 Doch zunächst erwähnt der Angeklagte, dass er alle in Rom arbeitenden Maler kenne,10 aber nicht mit allen befreundet sei,11 um sodann gute und weniger gute Künstler aufzuzählen.12 Dass Caravaggio im Unterschied zu Gentileschi nicht straffrei ausgeht,13 könnte mit dem Umstand zusammenhängen, dass es ihm nahe ste-

6 Caravaggio: »Signor non che io non me deletto de compor versi né volgari né latini. […] Io non ho mai inteso né in rima, né in prosa, né volgari, né latini, né de nessuna sorte nelle quali se sia fatto mentione di detto Giovanni Baglione«. Di Sivo (Anm. 1), S. 104. – Gentileschi: »Io non ho mai inteso che nessuno né in voce né in scrittura habbi burlato per conto di detta collana detto Giovanni Baglione. […] Mai io ho inteso et ho hauto notitia nessuna che se sia fatti versi volgari che se tratti la persona di detto Giovanni et Thomasso o Mao. […] Queste sono le prime parole che io ho intese che se siano fatti versi sopra a Giovanni et che se facci mentione di collana«. Ebd. S. 106. 7 Gentileschi: »Sono amico de tutti questi pittori, ma c’è bene una certa concorrenza fra noi«. Ebd., S. 104; «Io non so chi se dica male di Giovanni Baglione se non quelli che vedono le sue opere et in quello che defettano dicono quello che se cognoscono come se vuol fare de tutti i pittori, che tutti hanno qualche imperfettione, come ancora nelle mie opere che se possono reprendere in qualche cosa«. Ebd., S. 105. 8 Gentileschi: »Il detto Giovanni Baglione […] non gl’ho parlato più, […] perché nell’andare per Roma lui aspetta che io facci di beretta, et io aspetto che facci di beretta a me«. Ebd., S. 104. 9 Caravaggio: »Io non so niente che ce sia nessun pittore che lodi per buon pittore Giovanni Baglione.« Ebd., S. 103. 10 Caravaggio: »Io credo cognoscere quasi tutti li pittori di Roma et cominciando dalli valent’huomini io cognosco Gioseffe [Cavalier d’Arpino], il Caraccio [Annibale Carracci], il Zucchero [Federico Zuccari], il Pomarancio, il Gentileschi, Prospero [Prospero Orsi], Giovanni Andrea [il Mastelletta?], Giovanni Baglione, Gismondo e Giorgio Todesco [Sigismondo Lair und Joris Hoefnagel], il Tempesta [Antonio Tempesta] et altri.« Ebd. 11 Caravaggio: »Quasi tutti li pittori che io ho nominati di sopra sono miei amici, ma non sono tutti valent’homini.« Ebd. 12 Caravaggio: »Delli pictori che ho nominati di sopra et per buoni pittori Gioseffe, il Zuccaro, il Pomarancio, et Annibale Caraccio, et gl’altri non li tengo per valent’huomini. […] M’è ben scordato de dirvi che Antonio Tempesta ancora quello è valent’huomo. […] Io non so che nessun pittore lodi et habbi per buon pittore nessuno de quelli pittori che io non tengo per buoni pittori.« Ebd. 13 Vgl. Anm. 5.

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hende Personen gewesen sein sollen, die die Gedichte verbreitet haben. So wird in diesem Zusammenhang sein ehemaliger Diener Bartolomeo erwähnt,14 der die Gedichte allen gegeben haben soll, die sie begehrten. Der Prozess nimmt seinen Ausgangspunkt, als Tommaso Salini, ein Mitarbeiter Bagliones, der in einem der beiden Gedichte ebenfalls verunglimpft wird, die Gedichte vom Maler Filippo Trisegni gezeigt bekommt.15 Salini wiederum behauptet, er habe sie von »Giovanni Battista« erhalten,16 einem Strichjungen, mit dem Caravaggio und Longhi Umgang pflegen, worüber noch zu sprechen sein wird. Erwähnenswert ist zudem der Umstand, dass Trisegni die Gedichte an Salini weiterreicht, weil er sich dadurch erhofft, von diesem in der Chiaroscuromalerei unterrichtet zu werden.17 Was diese wenigen Sätze deutlich machen, ist zum einen die Konkurrenz unter Malern,18 zum anderen, dass es durchaus üblich gewesen sein muss, Spottgedichte über unliebsame Kollegen zirkulieren zu lassen. Denn im Zusammenhang des Prozesses finden weitere Gedichte, aber auch Briefe19 Erwähnung, die in kritischer Weise von Malern gegenüber Kollegen verfasst wurden. Dass Ba­glione in die Schusslinie gerät, ist nicht verwunderlich. Er wird das Seine dazu beigetragen haben, den Unmut der anderen Maler zu erregen, wenn wir noch einmal

14 Salini: »[…] dicendomi che anco che un cero Bartolomeo servitore del detto Michelangelo andava distribuendo questi sonetti a chi ne voleva«. Di Sivo (Anm. 1), S. 98. Caravaggio: »Io cognosco Bartolomeo già mio servitore che andò due mesi sono alli Castelli di Soderino«. Ebd., S. 104. 15 Salini: »Io ho visto et vedo benissimo questi doi sonetti […] che mi havete mostrati et io vi dico che sono quell’istessi che ho hauti da detto Filippo et li riconosco benissimo«. Ebd., S. 98. 16 Salini: »[E]t [Filippo Trisegni] mi disse che l’havevano fatto detti Michelangelo e Honorio, et che lui l’haveva havuto da una bardassa di essi Honorio et Micalangelo chiamato Giovanni Battista che habita dietro a Banchi«. Ebd. Trisegni behauptet stattdessen, dass er die Gedichte von Gregorio Rotolanti bekommen habe. Ebd., S. 99. 17 Trisegni legt dar, dass ihn Tommaso Salini nach dem Urheber der Gedichte gefragt habe, er aber nicht antworten wollte: »[…] ma io non ve lo voglio nominare [den Autor]. Et io aspettavo che me insegnasse di fare una figura sbattimentata et che allora glelo volevo dire, ma lui non me imparò mai et così non glelo dissi«. Ebd. Vgl. außerdem Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. München 2012, S. 158. 18 Wir lesen mehrfach das Wort ›invidia‹ in den Protokollen. Baglione: »[L]i detti querelati, per invidia, […] sono andati sparlando del fatto mio, […] perché li suddetti querelati sempre m’hanno perseguitato, sono stati miei emoli et m’hanno havuto invidia vedendo che le mie opere sono in consideratione più che le loro«. Ebd., S. 97. – Salini: »Io m’imagino e tengo fermamente che li predetti Micalangelo et Horatio si siano mossi a fare questi versi infamatorii contro detto Giovanni per invidia che li portano per esser del medesimo essercitio, perché le pitture et opere del detto Giovanni sono tenute in maggior consideratione che le loro, et in particolare tra loro c’è nata invidia […].« Ebd., S. 98. 19 Und zwar ein Brief von Gentileschi gegen Baglione. Ebd., S. 104.



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daran denken, dass er von anderen Respekt insofern fordert, als sie als Erste den Hut zu ziehen haben.20 Vielleicht trug er seine Nase auch ein wenig zu hoch, weil er von Kardinal Giustiniani eine Ehrenkette21 und unlängst einen ehrenvollen Auftrag von den Jesuiten für eine Auferstehung erhalten hatte,22 den vielleicht auch andere Künstler gerne bekommen hätten. Für Caravaggio geht der Prozess vergleichsweise harmlos aus. Durch die persönliche Bürgschaft des französischen Botschafters kommt er schon bald frei.23 Darüber hinaus ist der Brief eines befreundeten Adeligen überliefert, der für den lombardischen Maler bürgt.24 In diesem Durcheinander von Neid, Spott und Arroganz sind Caravaggios Aussagen übrigens die einzigen Egodokumente, die wir von dem Maler besitzen. Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass es keine Übersetzung der beiden Gedichte ins Deutsche gibt und der Prozess so selten untersucht wurde. Das Gedicht, das ich nun vorstellen will, ist in Bezug auf das Phänomen der Invektive effizient.25 Es ist ebenso banal wie ehrabschneidend, ebenso obszön

20 Vgl. Anm. 8. 21 Wie Gentileschi behauptet, wurde die Kette Baglione von dem Auftraggeber Kardinal Benedetto Giustiniani für das Bild »Himmlische und Irdische Liebe« geschenkt. Vgl. De Sivo (Anm. 1), S. 104. Das Bild wurde in Konkurrenz zu Caravaggios Bild »Amor Vincitore« für Benedetto Giustianinis Bruder Vincenzo geschaffen. Beide Gemälde entstanden 1602. Vgl. Stefania Macioce: Giovanni Baglione. In: Alessandro Zuccari (Hg.): I Caravaggeschi. Percorsi e protagonisti, Mailand 2010, Bd. 2, S. 295–305. 22 Das Gemälde wurde von Baglione für die Kapelle des rechten Transeptes der Chiesa del Gesù, einer der wichtigsten Jesuiten-Kirchen in Rom, geschaffen. Es wurde im Jahre 1601 in Auftrag gegeben und zu Ostern 1603 der Öffentlichkeit präsentiert. Wahrscheinlich wurde das Gemälde nie ganz bezahlt. Es gibt einen Brief von 1607, in dem Giovanni Baglione sich beschwert, dass die Jesuiten ihm nicht saldieren wollen und dass er nur 200 anstatt 1000 scudi bekommen habe. Das Altarbild wurde später, wahrscheinlich in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, aus der Kapelle entfernt und ging verloren. Eine Skizze des Gemäldes befindet sich im Louvre, vgl. Macioce (Anm. 21), S. 295–305 und Federica Papi: Ombre e luci nel processo a Caravaggio. Ipotesi sulla Resurrezione di Baglione, novità su Filippo Trisegni e una proposta per Francesco Scarpellino. In: Michele Di Sivo, Orietta Verdi (Hgg.): Caravaggio a Roma. Una vita dal vero. Rom 2011, S. 109–116. Das Bild wird jedenfalls mehrmals in dem Prozess erwähnt. 23 Vgl. Anm. 5. 24 Ainolfo Bardi Conti di Vernio: »[P]rometto et do la mia parola al illustrissimo monsignor Governatore di Roma che Michelagniolo da Caravaggio pitore non ofenderà né farà ofendere né alla vita né nel onore Giovanni Baglione pitore et Tomaso alias Mau pitore.« Stefania Ma­cioce (Hg.): Michelangelo Merisi da Caravaggio. Documenti, fonti e inventari 1513–1875. Rom 2010, S. 133. 25 Im Rahmen von Caravaggios Malerei kommt seinem »Amor als Sieger« die Aufgabe eines subversiven Kommentars zu, vgl. Lothar Sickel: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu. Berlin 2003, S. 132–159, bes. 137.

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wie bösartig, stellt es doch einen Frontalangriff auf die Integrität des Malers Giovanni Baglione dar. Die Verse des kurzen Textes lauten folgendermaßen: Gioan Bagaglia tu non sai un ah le tue pitture sono pituresse volo vedere con esse che non guadagnarai mai una patacca che di cotanto panno da farti un paro di bragesse che ad ognun mostrarai quel che fa la cacca porta là adunque i tuoi desegni e cartoni che tu ai fatto a Andrea pizicarolo o veramente forbetene il culo o alla moglie di Mao turegli la potta che [libelli] con quel suo cazzon da mulo più non la fott[e] perdonami dipintore se io non ti adulo che della collana che tu porti indegno sei et della pittura vituperio.26 Giovanni »Krempel«, du hast keine Ahnung. Deine Gemälde sind große Schmierereien. Ich möchte sehen, wie Du mit ihnen auch nur einen Heller verdienst, um Dir (genügend) Stoff für ein Paar Hosen zu leisten. So wird jeder deinen Arsch sehen können. Also trage deine Zeichnungen und Kartons, die du gemacht hast, zu Andrea, dem Wurstverkäufer, [damit er seine Salami darin einwickeln kann]. Oder wisch dir den Arsch damit ab, oder stopfe der Frau von Mao [i. e. Tommaso Salini] (damit) die Fotze, da er sie mit seinem Maultierschwanz nicht mehr fickt. Vergib mir Maler, wenn ich dir nicht schmeichle, weil du der Kette unwürdig bist, die du trägst und der Malerei eine Schande.

Das Gedicht beginnt mit einer umfassenden Herabsetzung, werden doch sowohl der Name, die Kompetenz als auch die Werke Bagliones verspottet. Aus dem Nachnamen des Malers wird wertloser Krempel »Bagaglia«, er habe keine Ahnung und seine Bilder werden als »große Schmierereien« deklariert. Sie seien so schlecht, dass er noch nicht einmal genug Stoff für ein Paar Hosen erwerben könne, die sein Hinterteil vollständig bedecken. Zudem seien seine Zeichnungen von so minderer Qualität, dass man nur Wurst darin einpacken kann. Jetzt erfolgt ein

26 Di Sivo (Anm. 1), S. 97.



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Sprung in Bezug auf die Argumentation insofern, als nicht nur Baglione, sondern auch sein Mitarbeiter Tommaso Salini und dessen Frau beschimpft werden. Der Sinn des Ganzen ist klar: Nicht nur du, sondern auch die Deinen sind unwürdig und verabscheuenswert. Ein weiteres Mal ist es der Name, der zur Herabstufung dient, wenn aus Tomaso der umgangssprachliche »Mao« wird. Dabei wird dessen Maultierschwanz hier weniger durch Größe als durch die Unfruchtbarkeit jenes Tieres definiert, die mit der Kreuzung von Pferd und Esel einhergeht. Die vulgären Wörter »cazzon« und »potta« tun ein Übriges, um die Personen herabzusetzen. Der Schluss des Textes ist von ausgesuchter Bösartigkeit und geradezu sarkastisch, wenn der Vers in Bezug auf die Person Bagliones pseudohöflich beginnt, »perdonami dipintore«, um ihn dann der Kette als unwürdig und als Schande der Malerei zu bezeichnen. Ja, das Gedicht besitzt eine gewisse Achterlastigkeit und ist ohne Zweifel auf das letzte Wort »vituperio« hin komponiert, das gleichsam zum Fazit wird. Zusammenfassend sei auf die Bildhaftigkeit des Textes verwiesen, der einen Mann in zu kurzen Hosen zeigt und ihn der Lächerlichkeit preisgibt. Mehr noch, viele der in den Versen beschriebenen Vergleiche kann man sich als karikaturhafte Zeichnung vorstellen. Das Gedicht erinnert uns aber auch daran, wie eminent ästhetisch im Sinne von wirksam Spott ist, der sich quasi automatisch einstellt. Dies gilt ja ebenso für das Lachen, das wir als vorbewusste und automatische Reaktion bezeichnen dürfen, die der Planung bedarf. So hat das Lachen wohl seit jeher eine doppelte Stoßrichtung im Sinne von ridere und deridere, von Lachen und Auslachen, lachen wir doch sowohl mit als auch über jemanden. Es in- und exkludiert, es hat einen transitiven und intransitiven Modus. Im letzteren Fall stiftet es Identität durch Abgrenzung oder genauer noch Ausgrenzung. Die Prozessakten sind noch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung, wird hier doch von einer »bardassa« gesprochen, einem Homosexuellen, dem die weibliche Rolle zufällt. Zwei Mal nutzt Salini dieses Wort und nennt jene Person lediglich beim Vornamen »Giovanni Battista«. Er insinuiert, dass Caravaggio und Onorio Longhi mit dem Jungen nicht nur Umgang pflegen, sondern auch sexuellen Kontakt haben. Giovanni Battista, »che habita dietro a Banchi«27 scheint mit mehreren Personen des Prozesses in Kontakt zu stehen, soll er es doch gewesen sein, der die Gedichte Filippo Trisegni gegeben hat. Ein weiteres Mal sagt Salini im Verlauf des Prozesses aus, dass er die Gedichte von Trisegni erhalten habe,

27 Salini: »[E]t [Filippo Trisegni] mi disse che l’havevano fatto detti Michelangelo e Honorio, et che lui l’haveva havuto da una bardassa di essi Honorio et Micalangelo chiamato Giovanni Battista che habita dietro a Banchi«. Ebd, S. 98.

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der sie von jener »bardassa« bekommen habe, deren Name schon gefallen sei.28 Später wird der Richter Caravaggio fragen, ob er einen »iuvenem« kenne, der »post bancos« wohne,29 womit der Stadtteil hinter der Via dei Banchi gemeint ist, worauf Caravaggio antwortet: »Io non cognosco nessuno giovane che se chiami Giovanni Battista et in particolare che stia dietro a Banchi e che sia giovane«.30 Es fällt auf, dass der Untersuchungsbeamte den Umstand der »bardassa« ausklammert. Vielleicht weil dies zu einem weiteren Prozess geführt hätte, ohne dass der erste zu einem Abschluss gekommen wäre. Vielleicht aber auch, weil er unterstellte, Salini wolle Caravaggio durch diese Behauptung schaden. Es ist interessant zu sehen, wie oft die Frage der Homosexualität in der Forschung ausgeklammert wird. Entweder wird sie mit dem Hinweis abgewiesen, dass die Quellenlage nicht ausreiche, sie angemessen zu beantworten, oder sie wird schlichtweg übergangen. Auch die gegenteilige Reaktion ist zu nennen, wenn auch selten: Texte, die in apologetischer Hinsicht verfasst wurden, um en passant einer schwulen Ästhetik das Wort zu reden. Im Folgenden sei weder das eine noch das andere versucht, sondern der Spott als ästhetische Kategorie ernst genommen, den wir soeben kennen gelernt haben und der in den Protokollen einmal als »burla« bezeichnet wird.31 Damit verbindet sich die Aufgabe, eine Bildpoetik zu rekonstruieren, die im Modus der Latenz operiert und alle Erkenntnis in die Phantasie des Betrachters und dessen Vermögen verlegt, obszöne Bilder oder Witze zu entdecken. So gesehen wird das Gedicht quasi zum Resonanzraum meiner Interpretation. Dabei kann der Text insofern als Interpretament dienen, als wir gelernt haben, dass Obszönität der Idiomatik, also feststehender sprachlicher Ausdrücke bedarf. Mögen auch nur wenige Wörter wie »cazzon da mulo« oder »turegli la potta« explizit obszön sein, verleihen eben diese Ausdrücke dem Gedicht seinen pejorativen Charakter und machen es zur Invektive. Die Übertragung vom Wort zum Vorstellungsbild, aber auch umgekehrt vom dargestellten Motiv zum sichtbaren Wort sei also nun genauer in den Blick genommen. Freilich muss hier aus kunsthistorischer Sicht eine Vorbemerkung gemacht werden. Seit Jahren erleben wir die Feier ikonischer Differenz, als würden Bilder

28 Salini: »[E]t in particolare che glel’haveva dati [die Gedichte zu Filippo] uno che sta dietro a Banchi che me specificò il nome et che era bardassa di quelli che ho specificato nel mio essamine«. Ebd., S. 102. 29 Richter: »Interrogatus an cognoscat quendam Iohannem Baptistam iuvenem degentem post Bancos.« Ebd., S. 104. 30 Ebd. 31 Gentileschi: »Io non ho mai inteso che nessuno né in voce né in scrittura habbi burlato […] detto Giovanni Baglione.« Ebd., S. 106.



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ihre spezifische Dignität erst dann erhalten, wenn sie uns sprachlos und bass erstaunt werden lassen. Im Gegenteil glaube ich, dass es gerade die Transposition von Bild zu Text und umgekehrt ist, die uns die Bildende Kunst wertschätzen lässt und das genuin ästhetische Erlebnis ermöglicht. Das Gesehene wird verbalisiert und wirkt auf das zu Sehende zurück. Es schärft die Erkenntnis und leitet in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit. Gemälde müssen Worte werden. Wir haben vergessen, dass es in der Frühen Neuzeit ein »lautes Betrachten« gab.32 Obszönität, Frivolität, Witz oder Pointen kann es nur geben, wenn sie einen kollektiven, einen sprachlich vermittelten Rahmen haben. Gelächter kann es nur dann geben, wenn das Gesehene ausgesprochen und Schamgrenzen überschritten werden. Für sich genommen sind Frivolität oder Obszönität bedeutungslos. Erst ihre Aufführung im Sinne der Verbalisierung lässt sie zum Ereignis werden, das Lacher produziert. Die ikonische Differenz selbst ist historisch und hat im Paragone ihre Voraussetzung. Im Gegensatz zu dieser analytischen und für uns seit Lessing kanonischen Konstruktion möchte ich behaupten, dass wenn unsere Sinne unvermittelt nebeneinander stünden, Sprache nicht das Medium synästhetischer Erlebnisse sein könnte. Ich sehe, weil ich spreche. Ich spreche, weil ich sehe, höre, schmecke, rieche oder fühle. Doch bevor meine eigentliche Interpretation beginnt, sei daran erinnert, dass sich der leidgeprüfte Giovanni Baglione nicht nur als Maler, sondern auch als Biograph betätigte. 1644 erscheint in Rom unter dem Titel Le vite de’ pittori, scultori, architetti ed intagliatori dal Pontificato de Gregorio XIII del 1572 fino a’ tempi di Papa Urbano VIII nel 1642 eine Sammlung von Künstlerviten. Bei seiner Darstellung der Caravaggiovita stellt man allerdings fest, dass der Prozess und die Schmähgedichte Spuren hinterlassen haben. So erwähnt er dessen Sinn für Spott und Satire. Bezeichnenderweise spricht er in Bezug auf Caravaggio in einem Atemzug vom »huomo Satirico« und »altiero«, von Spottsucht und Hochmut: »Michelangelo Amerigi fu huomo Satirico, & altiero; ed usciva tal’hora a dir male di tutti li pittori passati, e presenti per insigni, che si fussero; poiche a lui parea d’haver solo con le sue opere avanzati tutti gli altri della sua professione.«33 Welchen konkreten Wahrheitsgehalt wir dieser Aussage nach den zugefügten Verletzungen auch immer zumessen wollen, selbst als Topos ist dieser Passus noch aussagekräftig. In der Beschreibung Bagliones sieht sich Caravaggio als

32 Vgl. Jürgen Müller: Vom lauten und vom leisen Betrachten. Ironische Bildstrukturen in der holländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a.  M. 1994, S. 607–647. 33 Giovanni Baglione, zitiert nach Howard Hibbard: Caravaggio. London 1983, S. 354–355.

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Höhepunkt der Malereigeschichte. Er fühlt sich seinen Vorgängern und Zeit­ genossen überlegen. Anders als man vielleicht vermuten könnte, widmen sich die Werke Michel­ angelo Merisis, die Anfang der 1590er Jahre nach seiner Ankunft in Rom entstanden sind, keinen christlichen Bildthemen. Nicht den großen Historien, sondern ausgewählten mythologischen Themen, vor allem aber der Genremalerei wendet er sich in der Hauptstadt der katholischen Kirche zu. Dies gilt auch für sein in der National Gallery zu London aufbewahrtes Gemälde, das zweifellos zu seinen rätselhaftesten Erfindungen gehört (Abb. 1). Wir kennen weder das genaue Entstehungsdatum des Bildes, noch für wen es ursprünglich bestimmt war, lässt es sich doch nicht in der Sammlung des Kardinals del Monte nachweisen, den wir als Caravaggios ersten Mäzen zu erachten haben.34 Das Bild ist in zwei Fassungen überliefert, wobei die Version in der Collezione Longhi von der Forschung zumeist als eigenhändige Replik betrachtet wird (Abb.  2). Röntgenaufnahmen haben gezeigt, dass das Londoner Gemälde im Bereich der linken Hand Pentimenti aufweist. Das Florentiner Bild hingegen besitzt keinerlei Überarbeitungen und muss entsprechend als Wiederholung gelten. In der Forschung sind für das Londoner Gemälde unterschiedliche Datierungen vorgeschlagen worden. Am plausibelsten erscheint mir jene Position, die das Eidechsenbild – wie ich es der Einfachheit halber in Zukunft nennen möchte – als eines von Caravaggios frühesten Bildern in Rom erachtet, was bedeuten würde, dass es um 1593 entstanden ist. Möglicherweise stellt es sogar das erste römische Werk dar, wofür sein programmatischer Inhalt sprechen würde.35 Das Eidechsenbild gehört jener Werkgruppe an, die zwischen – dies differiert von Autor zu Autor – 1593 und 1603 entstanden ist und jeweils genrehafte Szenen zeigt, deren Inhalt in zumeist diffuser Weise als amourös und homoerotisch gedeutet wird. Der dargestellte Jüngling ist ein sogenannter »bardassa« (Lustknabe), der auf einen Liebhaber wartet, wofür er sich besonders schön gemacht hat. Mit dem Inhalt des Bildes geht also das Thema käuflicher Liebe einher.36 Die hinter das Ohr gesteckte weiße Rose, die im rosafarbenen Exemplar in der Karaffe

34 Eine knappe Deutungsgeschichte findet sich bei Maurizio Marini: Caravaggio. »Pictor praes­ tantissimus«. L’iter completo di uno dei massimi rivoluzionari dell’arte di tutti i tempi. Roma 4 2005, S. 393–395. 35 Vgl. mit Nennung der wichtigsten Deutungsansätze und Datierungen Mia Coinotti, Gian Alberto dell’ Acqua: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio. Bergamo 1983, S. 436, Nr. 16. 36 Zum Topos von Käuflichkeit und Schönheit vgl. Jürgen Müller: Von der Verführung der Sinne – Eine neue Deutung von Hans Holbeins »Lais von Korinth« in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 55 (1998), S. 227–236.



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Abb. 1: Michelangelo Merisi da Caravaggio: Junge von einer Eidechse gebissen, um 1594/1595, Öl auf Leinwand, 66 × 49,5 cm, London, National Gallery, NG6504.

Abb. 2: Michelangelo Merisi da Caravaggio: Junge von einer Eidechse gebissen, um 1594/1595, Öl auf Leinwand, 65 × 52 cm, Florenz, ­Fondazione Roberto Longhi [Online: https://en.wikipedia.org/wiki/ Boy_Bitten_by_a_Lizard#/media/ File:Michelangelo_Caravaggio_061. jpg, Stand: 19. 12. 2016].

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ein Gegenstück hat, aber auch das auftoupierte Haar und die rot geschminkten Lippen zeugen von seinem Wunsch, so attraktiv wie möglich zu erscheinen. Auf dem Tisch vor ihm sieht man allerlei Früchte, wobei die beiden roten Kirschen an der vorderen Bildgrenze besonders prominent in Szene gesetzt sind. Dahinter befinden sich möglicherweise Feigen und weitere, dunklere Kirschen. Unmittelbar neben den Früchten steht eine Glaskaraffe mit Rose und Jasminblüten. Die Lichtführung im Zimmer scheint auf die untergehende Sonne zu verweisen, sieht man doch einen langen Schlagschatten, der sich an der rückwärtigen Wand abzeichnet. Die Glaskaraffe spiegelt das warme Sonnenlicht, das farblich deutlich von den anderen Reflexen unterschieden ist. Der Junge hat nach einer der vor ihm liegenden Früchte greifen oder diese – wie zuvor die Blumen in der Vase – hübsch arrangieren wollen. Dabei hat er eine Eidechse aufgeschreckt, die sich dort versteckt hielt. Diese fühlt sich angegriffen und beißt ihn in den Mittelfinger. Bei der ruckartigen Bewegung, in der er auch die linke Hand empor gerissen hat, ist sein weißes, gebauschtes Untergewand verrutscht und hat die rechte Schulter entblößt. Erschrocken blickt er in Richtung Betrachter und doch an diesem vorbei. Der deskriptive Titel »Junge von einer Eidechse gebissen« zerstört diese narrative Pointe des Bildes. Denn zunächst gilt unsere Aufmerksamkeit dem aufschreckenden Jungen und seinem überraschten Gesicht, dessen geöffneter Mund seinem Schmerz Ausdruck verleiht. Wir fragen uns, welch böses Geschick ihn ergriffen hat, um erst dann die winzige Eidechse zu entdecken und die Unverhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung. Nahezu alle Interpreten haben betont, dass Caravaggio die Sukzession unserer Wahrnehmung über die Lichtregie steuert, weshalb uns die Ursache des Schmerzes relativ spät deutlich wird. So ist die kleine Eidechse absichtsvoll ins Dunkel versetzt. Dabei ist nur zu offensichtlich, dass die Reaktion des Jünglings, der die linke Hand so dramatisch emporgerissen hat, übertrieben ausfällt. Das Entsetzen verhält sich umgekehrt proportional zu seiner Entstehungsursache. Hat man dies einmal erkannt, wirken seine Bewegungen geziert und theatralisch. In seiner Affektiertheit wird der Junge der Lächerlichkeit preisgegeben. Der überlegene Illusionismus des Bildes ist bewundernswert. Zweifelsohne darf man hier von einem malerischen Kabinettstück sprechen. Das starke Schlaglicht inszeniert den weiß gekleideten Jungen vor dunklem Hintergrund. Wunderbar mysteriös leuchtet der Farbakkord der Blumen, Blätter und Früchte. Das Licht erscheint spielerisch in den Reflexen auf der Glaskaraffe, welche ohnehin ein malerisches Meisterwerk darstellt, das, wie oft betont wird, der lombardischen Tradition des Künstlers geschuldet ist. Sie ist zugleich durchsichtig und undurchsichtig. So können wir die beiden dargestellten Blumenstängel erkennen. An einem von beiden befindet sich sogar noch ein Blatt. Die überzeugende feinma-



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lerische Technik steigert die Präsenz des Dargestellten und führt die technische Brillanz des Künstlers vor Augen. Caravaggio entspricht mit seinen frühen Genrebildern dem Postulat, Schönheit auf solch erotische Weise darzustellen, dass sie den Betrachter zu verführen vermag. Leonardo schreibt über die Darstellung menschlicher Schönheit: »[…] sie macht dich verliebt und ist die Ursache, dass sämtliche Sinne sie mit dem Auge zugleich besitzen möchten, so dass es den Anschein hat, als wollten sie mit diesem um den Vorrang streiten.«37 Schönheit ist für Leonardo vor allem sichtbare Schönheit, die alle anderen Sinne nachordnet, aber nichtsdestoweniger evoziert. Wer sieht, möchte auch berühren. Das »Eidechsenbild« war häufig Gegenstand der Forschung. In den letzten Jahren hat sich mehrheitlich die Deutung durchgesetzt, dass es sich um eine Allegorie des Tastsinns bzw. um die Darstellung menschlicher Affekte handelt.38 Die Deutungen des Bildes als Ausdrucksstudie können sich dabei auf Caravaggios Biographen Baglione berufen, der das Bild ausdrücklich in Hinsicht auf den dargestellten Affekt lobt: »[…] fece anche un fanciullo, che da una lucerta, la quale usciva da fiori e di frutti, era morso; e parea quella testa veramente stridere, e il tutto con diligenza era lavorato.«39 John F. Moffit verweist auf Alciatos Emblem »In Fraudolentos« (Abb. 3), das die Eidechse als Sinnbild der Missgunst aus Eifersucht und enttäuschter Liebe vorstellt.40 Weiterhin wurde das Gemälde von Klaus Krüger im Rahmen seiner Untersuchung zum Problem frühneuzeitlicher Bildlichkeit diskutiert: Es ziele auf den Akt des Sehens und Erkennens, über den sich die Bildwirklichkeit bei Caravaggio zuallererst herstelle.41 Hellsichtig, aber wenig einflussreich für die Forschung war auch Liselotte Stauchs Hinweis auf den sogenannten »Eidechsentöter« von Praxiteles und ein

37 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Heinrich Ludwig. Leonardo Da Vinci: Traktat von der Malerei. Hg. und eingel. von Marie Herzfeld, Jena 1925, Kap. 27, S. 21–22. 38 Mina Gregori (Hg.): Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori. Mailand 1991, S. 124–137, hier S. 130; Catherine Puglisi: Caravaggio. London 1998, S. 61; Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggios »Früchtekorb« – das früheste Stilleben? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 61 (2006), S. 1–23, hier S. 10. 39 Vgl. Hibbard (Anm. 33), S. 352. 40 John F. Moffit: Caravaggio in Context. Learned Naturalism and Renaissance Humanism. Jefferson 2004, S. 155. 41 »Daß die Existenz des Gegenstandes geknüpft ist an die Bedingungen seiner Erscheinung und seiner Sichtbarkeit im Bild, bestimmt den Darstellungsbegriff bei Caravaggio in maßgeb­ licher Weise. Er begründet sich durch die Aktualisierung und Involvierung des Betrachters, dessen Sehen an der Konstituierung der Bildwelt unmittelbar teilhat.« Vgl. Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001, S. 255, außerdem ebd. S. 259.

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Abb. 3: Anonym: In fraudulentos, Holzschnitt, in: Andrea Alciatus: Emblemata, Lyon 1551, Emblem 57, Exemplar in Rudolstadt, Historische Bibliothek Rudolstadt, Ma IX, Nr. 10., ca. 63 × 60 mm.

Epigramm Martials, das sich auf die berühmte Skulptur bezieht und von der Knabenliebe berichtet.42 Leonard J. Slatkes weist außerdem auf die Bedeutung des Mittelfingers als »impudicus« hin und zieht ein weiteres Epigramm Martials

42 In deutscher Übersetzung lautet es folgendermaßen: »Der Eidechsentöter  – korinthische Bronze / Die Echse, die zu dir kriecht, listiger Knabe, / verschone; von deiner Hand wünscht sie sich den Tod.« M. Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler, Düsseldorf/Zürich 22002, 14, 172. Um den Text zu verstehen, muss



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heran, in dem einem gewissen Sextius geraten wird, den anderen einfach ›seinen Mittelfinger zu zeigen‹.43 Der amerikanische Kunsthistoriker deutet das Eidechsenbild als Ausdruck cholerischen Temperaments, was wenig überzeugend erscheint. Einleuchtend ist hingegen sein Hinweis auf das breite Deutungsspektrum der Blumen. In diesem Zusammenhang hat Donald Posner die hinter das Ohr gesteckte Rose als amouröses Angebot gedeutet.44 Die im Bild thematisierte Homosexualität haben viele Interpreten zu präzisieren versucht, wie zum Beispiel Christoph Luitpold Frommel, der in Mario Minitti das Modell für die Genrebilder jener Zeit und wohl auch den damaligen Geliebten des Künstlers sieht, sodass er von einer Einheit von Kunst und Leben ausgeht.45 Und doch will mir scheinen, dass keine Interpretation den Gehalt des Bildes angemessen beschrieben hat. Wie spricht man auf anzügliche Weise über Homosexualität, so lautet meine Frage, ohne dass dies manifest wird? Dies gelingt, wenn man seine Aussage ironisch verschlüsselt. Ironie stellt eine List dar. Sie zielt auf das Unkenntlichmachen, auf Abweichung und Unterscheidung, auf die Umkehr von Machtverhältnissen, wenn ich trotz Zensur etwas ausdrücke, was ich eigentlich nicht ausdrücken darf.46 Meine erste These besteht darin, dass sich der Künstler verschiedener Bildtypen bedient, die er anspielungsreich miteinander in Beziehung setzt. Die androgyne Qualität der Knaben charakterisiert die Bilder jener Zeit deutlich, sie stellen effeminierte Jungen dar, die keinesfalls älter als 14 oder 16 Jahre sind. So geht es hier auch nicht allgemein um Homosexualität, sondern um Knabenliebe. So wurde immer wieder festgestellt, dass diese Gemälde nicht ohne eine bestimmte Klientel denkbar sind. Mit dem Kardinal Francesco Maria del Monte schien ein solcher homophiler Auftraggeber und Mäzen gefunden zu sein, von dem es in zeitgenössischen Quellen heißt, er habe bei seinen Feiern Lustknaben wie Mädchen verkleidet teilnehmen und tanzen lassen.47 Allerdings scheint das Gemälde »Junge

man wissen, dass die Worte Eidechse und Phallus im Griechischen ähnlich sind. Wenn es im Epigramm heißt, dass der ›listige Knabe die Eidechse verschonen solle, die zum ihm kriecht‹, ist damit einerseits die Annäherung des erwachsenen Liebhabers an den Knaben, andererseits dessen Phallus gemeint, womit ein gewisser Hintersinn entsteht, vgl. Liselotte Stauch: Eidechse. In: RDK, Bd. IV, Sp.  931–939. 43 Vgl. Leonard J. Slatkes: Caravaggio’s boy bitten by a lizard. In: Print review 5 (1976), S. 149–153. 44 Donald Posner: Caravaggio’s homo-erotic early works. In: Art Quarterly 34 (1971), S. 301–324, hier S. 304–305. 45 Vgl. Christoph Luitpold Frommel: Caravaggio und seine Modelle. In: Castrum Peregrini 96 (1971), S. 21–56. 46 Zur Einführung vgl. Marika Müller: Die Ironie. Kulturgeschichte und Textgestalt. Würzburg 1995. 47 Diesen Hinweis entnehme ich Moffit (Anm. 40), S. 152.

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von einer Eidechse gebissen« nicht für den ersten Förderer Caravaggios bestimmt gewesen zu sein, sondern könnte sogar vor 1594 entstanden sein. Im »Eidechsenbild« verwendet Caravaggio zunächst einmal Motive und »Requisiten« venezianischer Kurtisanenbildnisse. Dies beginnt mit der entblößten Schulter als Teil lasziver Inszenierung des Dargestellten. Zum Vergleich sei an Tizians »Junge Frau bei der Toilette« erinnert, die sich heute im Louvre befindet (Abb. 4). Hinter einer Balustrade steht eine junge Frau, die versonnen in einen Spiegel blickt und ihr blondes Haar richtet, wobei sie in ihrer Linken ein kleines Glasgefäß hält. Ihr plissiertes Untergewand ist verrutscht und hat ihre schöne Schulter entblößt. Über die Inszenierung einer gewissen Nachlässigkeit weiß der Maler die Grazie der jungen Frau herauszustellen. Im Zusammenhang des Kurtisanenbildes denkt man natürlich an Tizians »Flora« in den Uffizien, die in ihrer rechten Hand weiße und rosafarbene Rosen sowie Jasminblüten hält, wie wir sie auch im Bild des lombardischen Malers entdeckt haben (Abb. 5). Im Vergleich zum Pariser Bild geht Tizian hier insofern einen Schritt weiter, als er die junge Frau stärker entblößt und dem Betrachter deutlich annähert. Schließlich scheint es auch kein Zufall zu sein, dass sich Caravaggio für ein plissiertes, weißes Untergewand entschieden hat, das im Rahmen von Kurtisanenbildnissen häufig vorkommt. Auch die im »Eidechsenbild« abgebildeten Früchte finden im Kurtisanenbildnis einen Anknüpfungspunkt, wenn man Sebastiano del Piombos Frauenbildnis hinzuzieht, das unterschiedliche Deutungen hervorgebracht hat und in seiner Direktheit einen provozierenden Eindruck hinterlässt (Abb. 6). Es ließen sich weitere Vergleiche anstellen, aber es reicht festzustellen, dass der Reiz des Kurtisanenbildes für Caravaggio in dessen kunsttheoretischer Grundausrichtung besteht. Mit diesem Bildtypus geht ein bestimmtes Geltungsniveau einher: Keine geringeren Maler als Giorgione, Raffael, Tizian, Palma Vecchio, del Piombo und andere mehr haben berühmte Kurtisanenbildnisse geschaffen und damit den Anspruch formuliert, in der Tradition des Apelles zu stehen, dem es bekanntlich gelang, weibliche Grazie besser als jeder andere Maler schildern zu können. Malt Caravaggio also ein inverses Kurtisanenbildnis männlicher Grazie, so stellt er sich damit in eine große Tradition und macht sich zugleich über diese lustig, wenn er statt einer schönen Frau einen käuflichen Lustknaben darstellt. Caravaggio konstruiert Witz und Pointe, indem er die ikonographischen Topoi der Kurtisanenikonographie um das unerwartete Motiv der Eidechse zu ergänzen weiß. Denn mit dem Tier ist ein Hinweis auf das männliche Geschlecht gegeben. Auch ohne das immer wieder zitierte Sauroktonos-Epigramm des Martial wäre die Identifikation der Eidechse als Phallus für einen italienischen Rezipienten des 16.  Jahrhunderts möglich gewesen. So bezeichnet das italienische Wort



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Abb. 4: Tiziano Vecellio: Junge Frau bei der Toilette, um 1515, Öl auf Leinwand, 99 × 76 cm, Paris, Musée du Louvre, inv. 755. [Online: https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/0/04/0_Portrait_d’une_ femme_%C3  %A0_sa_toilette_-_ Titien_-_Louvre_(INV_755)_-_(2).JPG, Stand: 19. 12. 2016]

Abb. 5: Tiziano Vecellio: Flora, um 1515/1517, Öl auf Leinwand, 79,7 × 63,5 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi, inv. 1890 no. 1462 [Online: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Tiziano_-_Flora_-_Google_Art_ Project.jpg, Stand: 19. 12. 2016].

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Abb. 6: Sebastiano del Piombo: Bildnis einer jungen Frau, um 1512, Öl auf Pappelholz, 78 × 61 cm, Berlin, SMB, Gemäldegalerie, 259B [Online: https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/8/86/Dorotea_berlino.jpg, Stand: 19. 12. 2015].

lucertolotto das männliche Geschlecht, wie der »Dizionario della Lingua italiana« unter Verweis auf eine Belegstelle bei Niccolò Machiavelli bemerkt.48 Der Biss der Eidechse in den Mittelfinger des Jungen ist somit ein Bild für den homosexuellen Geschlechtsakt. So heißt es in Machiavellis Karnevalslied Canto de’ ciurmadori: »Diese Echse, wohl gerollt und dick,  / hat lieber einen Mann vor sich  / und schert sich um euch Frauen wenig, / ein Fall, den ihr die Natur

48 Lucertolotto. In: Salvatore Battaglia (Hg.): Grande dizionario della lingua italiana. Bd.  9. Turin 1975, S. 251.



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Abb. 7: Hagesandros, Athanadoros und Polydoros: Laokoongruppe, 1. Jh.  n.  Chr., Marmor, h. 184 cm, Rom, Musei Vaticani, Cortile del Belvedere, Inv.-Nr. 1064 [Online: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4a/Laocoon_and_His_Sons_black.jpg, Stand: 19. 12. 2016]

gewährt. / Gewisse Echslein haben wir hierin, / die einen hinterrücks anfallen, / und wenn sie nicht gleich Schreck einjagen,  / gelingt dann doch manch böser Stich.«49 49 »Questo ramarro grosso e ben raccoloto, / piglia piacer di veder l’uomo in volto, / e di voi, donne, non si cura molto, / cosa che li ha concessa la Natura. / Certi luccertolotti abbiam qui drento / ch’assaltono altri dreto a tradimento; / e se da prima e’ non danno spavento, / riesce la lor poi mala puntura.« Italienischer Text und Übersetzung zitiert nach Dirk Hoeges: Niccolò Macchiavelli. Dichter  – Poeta. Frankfurt a.  M. 2006, S.  41–42. Das Thema des Karnevalsliedes sind vornehmlich die Spielarten heterosexueller Geschlechterbeziehung, die für die Zielgruppe

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Die ikonographischen Elemente des Bildes werden umso pikanter, als es sich bei der Darstellung des Jungen um ein Zitat aus der Laokoongruppe handelt (Abb. 7). Diese Entdeckung geht auf Maurizio Calvesi zurück, der allerdings einen Vergleich zum Motiv des kämpfenden Vaters zieht.50 In Wirklichkeit spielt der Künstler auf den älteren Sohn auf der rechten Seite an, den die Schlange gefesselt hat, und der in banger Erwartung dem grausigen Geschehen zuschauen muss. Caravaggio übernimmt die leidende Miene und den charakteristischen Blick über die vorgestreckte Schulter. Für den Betrachter hat der Maler mehrere Markierungen gesetzt, die diesen Zusammenhang bestätigen. So sitzt das heruntergerutschte Hemd genau an jener Stelle, an der sich in der Skulptur die Schlange befindet. Noch deutlicher wird das Zitat durch den Verlauf des hochgeschobenen Mantels auf der linken Schulter des Laokoonsohnes, das deutlich in Szene gesetzt wird und auf das antike Vorbild verweist. Sogar das Haar des Jungen, das auf den ersten Blick toupiert erscheint, könnte man mit den wilden Locken des Vaters in Verbindung bringen. Damit würde der Künstler sogar den Regeln und Vorschriften der Kunsttheorie folgen. Giovanni Paolo Lomazzo legt ausführlich in seinem Tratatto dell’arte della pittura, in dem Kapitel, das den »moti« und »capelli« gewidmet ist, die Bedeutung angemessener Gestaltung der Haare dar. Er warnt davor, die Haare Christi auf dieselbe Weise zu gestalten, wie jene der Gottheit Mars, aber sehr wohl wie jene Jupiters.51 Im Anschluss an diese Forderung heißt es im Tratatto, dass die guten Künstler bei der Gestaltung der Haare deshalb »[…] la maniera degli antichi, come quelli del Laocoonte« imitiert hätten.52 Der lombardische Künstler wertet seinen Bildgegenstand scheinbar durch diese Befolgung der Kunsttheorie auf, macht sich jedoch in Wirklichkeit über die normative Forderung lustig, das Haar in antiker Manier zu gestalten. Diese kunsttheoretische Verpflichtung gilt natürlich a fortiori für das Thema von Caravaggios Bild, stellt es doch einen Menschen dar, der von einem Reptil gebissen wird – wie schon der trojanische Priester und seine Söhne. So gesehen

der Frauen anhand der Schlangensymbolik erörtert wird, wobei auch die Homosexualität der Männer nicht unerwähnt bleibt. Mittels der Gattung der Spott- und Karnevalslieder als Teil der populären Gebrauchslyrik war die Möglichkeit gegeben »in Lied und Tanz […] Unzucht öffentlich« zu machen. »Die durch Form gebändigte Unzucht wird Teil des Kultes, in dem die verdeckte Fülle des Lebens jetzt ihrer selbst ansichtig werden will.« Ebd., S. 34. 50 Vgl. Maurizio Calvesi: Le realtà del Caravaggio. Turin 1990, S. 393–394. 51 »E quivi si hà d’havere accurata avertenza; acciò che per essempio le chiome di Christo non si diano a Marte, ma sì bene a Giove.« Zitiert nach Salvatore Settis: Laocoonte. Fama e stile. Rom 2 1999, S. 195. 52 Ebd.



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Abb. 8: Anonym: Dolore, Holzschnitt, in: Cesare Ripa, Iconologia, Rom 1603, S. 102, Exemplar in Heidelberg, Universitätsbibliothek, C 5456 A RES [Universitätsbibliothek Heidelberg, online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603/0135/image?sid= b49d8969098e66dfd1d42d280c945c76, Stand: 19. 12. 2016]

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stellt der Biss der Eidechse die Gedankenbrücke zum antiken Vorbild dar. Den Schriften Giovanni Andrea Gilios verdanken wir die definitive Bestimmung des Laokoon als »exemplum doloris«, das sodann in Cesare Ripas Iconologia verbreitet und kanonisiert wird (Abb.  8). Caravaggio macht sich ebenfalls über dieses Gebot klassizistischer Kunsttheorie lustig, wenn er aus dem tragischen Todeskampf des Priesters und seiner Söhne ein komisches Histörchen werden lässt.53 Doch er belässt es nicht bei dieser Klassizismus-Kritik. Die Dramaturgie seines Bildes folgt dem Prinzip der Steigerung oder Überbietung. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal dem »Eidechsenbild« nähern, können wir eine erstaunliche Entdeckung machen, weiß Caravaggio doch ein signifikantes Motiv aus der Marienikonographie zu nutzen. Die vor Schreck emporgerissene sowie die mit den Fingern nach unten weisende Hand – in der wir eine Geste der Kurtisanenbildnisse entdeckt zu haben glaubten – entstammt in Wirklichkeit dem Typus der Verkündigung, wie uns ein Blick auf eine um 1442 entstandene Darstellung dieses Themas von Filippo Lippi in San Lorenzo zu Florenz zeigt (Abb. 9). In der Predigtlehre werden für das Mysterium der Begegnung Mariens mit dem Erzengel drei Phasen unterschieden: Erstens erfolgt die Botschaft des Engels, sodann zweitens die Begrüßung und schließlich drittens das Gespräch mit Gabriel. Dabei entfaltet sich das Gespräch wiederum in einer idealen Abfolge von fünf Schritten. Lippis Verkündigung zeigt den Beginn des Gesprächs, das verständlicherweise mit der Aufregung Mariens, der sogenannten Conturbatio beginnt.54 Caravaggio orientiert sich für die exaltierten Gesten seines Jünglings am Motiv der Conturbatio Mariens – wenn auch unsere Blickrichtung auf seine Figur eine andere ist, als man es im Kontext dieses Bildtypus gewohnt ist. In Darstellungen der Conturbatio ist eine Hand überrascht oder erschreckt erhoben, während die Finger der anderen nach unten weisen. Ein berühmtes Exemplum stellt in diesem Zusammenhang sicherlich auch Leonardos Verkündigung aus den späten 1470er Jahren in den Uffizien dar, die die gleichen Hand- und Armhaltungen aufweist. Allerdings ist der Witz, den Caravaggio hier nutzt, alles andere als neu und entstammt einmal mehr der Kurtisanenikonographie. Die erhobene  – so

53 Als Modell einer solchen Einschätzung dienen meine eigenen Forschungen zu Pieter Bruegel d.  Ä. Vgl. Jürgen Müller: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.  Ä. München 1999. Zur Einführung: Albert Blankert (Hg.): Hollands Classicisme in de zeventiendeeeuwse schilderkunst (Ausst.-Kat. Rotterdam Museum Boijmans Van Beuningen / Frankfurt am Main Städelsches Kunstinstitut). Rotterdam 1999. 54 Vgl. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a.  M. 21987, S. 64–73, bes.  S. 66–67.



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Abb. 9: Filippo Lippi: Martelli-Verkündigung, um 1440, Temperaauf Holz, 175 × 183 cm, Florenz, San Lorenzo [Beck, James H.: Malerei der italienischen Renaissance. Köln 1999. Abb. 109].

geziert wirkende – linke Hand findet in dieser Tradition ein Vorbild, wenn man eine Arbeit Palma Vecchios aus Wien hinzuzieht (Abb. 10). Die dort dargestellte junge Frau nimmt direkten Kontakt mit dem Rezipienten auf, den sie scheinbar erschrocken anblickt und entsprechend ihre Linke emporgerissen hat, als wäre sie vom Betrachter überrascht worden. Schon der venezianische Künstler nutzt einen Topos erotischer Literatur, dass nämlich Männer Frauen besonders dann begehren, wenn diese ausgesprochen keusch erscheinen, wie man in jedem

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Abb. 10: Jacopo Negretti, gen. Palma il Vecchio: Junge Frau in blauem Kleid, 1512/1514, Öl auf Pappelholz, 63,5 × 51 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, GG 63 [Online: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/aa/ Jacopo_Negretti%2C_called_Palma_il_Vecchio_-_Young_Woman_in_a_ Blue_Dress%2C_with_Fan_-_Google_Art_Project.jpg, Stand: 19. 12. 2016]

zweiten Kurtisanengespräch Aretinos und schon in Ovids Ars amatoria nachlesen kann.55 Eine noch pikantere Wendung nimmt unsere Deutung, wenn wir den symbolischen Gehalt der Blumen in die Betrachtung einbeziehen. Es war bereits die Rede von der weißen, hinter das Ohr des Jünglings gesteckten, und der rosafar55 Ovid: Ars Amatoria, lateinisch – deutsch. Hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2005, III, 473–476, III, 579–583.



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Abb. 11: Jacopo Zucchi: Amor und Psyche, um 1589, Öl auf Leinwand, 173 × 130 cm, Rom, ­Galleria Borghese, inv. no. 10 [Christian Stukenbrock und Barbara Töpper: 1000 Meisterwerke der Europäischen Malerei von 1300 bis 1850, Hagen, Verlag Könemann, 2005, S. 968].

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benen, in der Glaskaraffe befindlichen Rose. In der Marienikonographie symbolisiert die weiße Rose die Reinheit und Unschuld der Gottesmutter. Doch bleibt das Verständnis der Rosen hier solange unzureichend, wie man nicht erkennt, dass dieses Motiv auf eine Defloration verweist. Für diese unerwartete Volte sei zunächst einmal auf die wörtliche Bedeutung der abgeschnittenen Blumen verwiesen. Diese spielen wörtlich auf die »defloratio«, das Abschneiden oder Entblüten an. Den sexuellen Kontext der Metapher belegt ein Gemälde von Jacopo Zucchi aus den späten 1580er Jahren (Abb. 11). Dargestellt ist eine Szene aus dem Märchen von Amor und Psyche, die das Mädchen mit dem Messer zeigt, wie es auf den schlafenden Jungen zugeht und auf den bevorstehenden Geschlechtsakt verweist.56 Bezeichnenderweise überragt in Zucchis Bild eine aufrecht stehende weiß-rötliche Rosenblüte den Blumenstrauß in der Vase und überblendet das männliche Geschlecht des jugendlichen Gottes. Auch dem Wechsel von der weißen zur rosafarbenen Rose ist eine spezifische Bedeutung zu entnehmen, findet sich doch hierfür ein prominentes Beispiel in Bartholomaeus Anulus Emblembuch Picta poesis (Abb.  12). Unter der Inscriptio »Defloratio« zeigt die Pictura Venus, die eine weiße Rose am Dornenstrauch pflückt und sich dabei verletzt, sodass sich die weiße Rose rötet. Die erläuternde Subscriptio berichtet, dass wenn Venus die Blume der Jugend bei einem weißen Mädchen gepflückt hat, durch den Stich eine Wunde entstünde und das Blut hervorkomme.57 In welch witziger Weise sich Caravaggio über die Laokoon-Gruppe lustig macht, kann erst jetzt deutlich werden. Er inszeniert die »Laokoonisten« auf allerschlimmste Weise. Denn wenn es sich im Eidechsenbild um eine Defloratio handelt, ist natürlich ein »coitus a tergo« gemeint. So besteht der anzügliche Witz darin, dass hier die »Jungfräulichkeit« intakt bleibt, weil es sie nie gegeben hat und das Erschrecken des Jungen eine ganz andere Erklärung bekommt. Für die Sexualisierung der berühmten Skulpturengruppe lässt sich wiederum ein literarisches Vorbild finden. Im Ragionamento della Nanna e della Antonia von Pietro Aretino aus dem Jahre 1534 dient der Vergleich mit der antiken Statuengruppe der Beschreibung erotischer Ekstase, wie Salvatore Settis schreibt. Der Dichter beschreibt, wie ein Ordensgeneral gleichzeitig Sex mit jungen Mönchen und Nonnen hat: »[…] nun küsste er bald ihn und bald sie und verzog dabei sein Gesicht so, wie es in Belvedere die Marmorfigur von dem Manne tut, der inmitten 56 Apuleius. Der goldene Esel. Metamorphosen lateinisch – deutsch. Hg. von Edward Brandt, Wilhelm Ehlers. Darmstadt 41989, V, 22, 1–7, S. 192/193–194/195. 57 »Quaeque prius medio Rosa candida floruit horto: Panditur explicitis suaue rubens folijs«. Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, Sp.  299.



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Abb. 12: Bernard Salomon: Defloratio, Holzschnitt, ca. 50 × 37 mm, in: Bartholomaeus Anulus: Picta Poesis, Lyon 1552, S. 101, Exemplar in Rom, Biblioteca centrale di Roma, 9.15.A.14 [Online: https://books.google.de/books?id=Yyr6BVPnrgAC&hl, Stand: 19. 12. 2016]

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seiner Söhne von den Schlangen getötet wird.«58 Vor dem Hintergrund dieser literarischen Inszenierung von Schmerz und sexueller Lust entsteht die Frage, ob wir nicht auch den Gesichtsausdruck des Jungen im Sinne eines Orgasmus’ deuten dürfen. Das hieße allerdings, dass die Deutung des Affekts nicht a priori feststeht, sondern entsprechend dem erzählerischen Kontext interpretiert werden kann.59 Die hier festgestellte Ambivalenz hat meines Erachtens erneut einen kunsttheoretischen Zusammenhang, findet hier doch insofern eine Kritik der Gattungshierarchie statt, als der Schmerz als Distinktionsmerkmal und exklusives Charakteristikum der Historienmalerei gelten kann. Wie schon in Bezug auf die vermeintlich notwendige Übernahme bewährter Vorbilder weist Caravaggio damit eine allzu mechanische Konzeption von gelungener Kunst zurück, ganz so als würde schon der Einsatz eines antiken Motivs im Rahmen eines Historienbildes ein bedeutendes Werk generieren können. Dabei muss man sich die Arroganz dieses Entwurfs vor Augen führen, präsentiert Caravaggio doch zugleich ein Kabinettstück im Sinne manieristischer Difficoltà. Er kritisiert die von klassizistischen Kunsttheoretikern verordnete Laokoon-Begeisterung, aber er lässt es sich auch nicht nehmen, dabei seine künstlerische Souveränität zu demonstrieren. Hat er für seinen Blick auf den Jungen doch eine Perspektive gewählt, die faktisch unmöglich ist. Das Bild positioniert den Betrachter an jene Stelle, die bei der Laokoon-Gruppe dem Vater vorbehalten ist. In Caravaggios Gemälde fallen Spott und Überbietung in eins. Das Gemälde erzählt auf anspielungsreiche Weise die Geschichte einer Defloration. Der mit einer weißen Rose geschmückte Junge hat das Süße gesucht und nach den roten Kirschen gegriffen, aber den schmerzhaften Biss einer Penetration erfahren müssen. Dies ist der Grund für seinen ebenso überraschten

58 Pietro Aretino: Ragionamento della Nanna e della Antonia. Venedig 1534, zitiert nach Pietro Aretino: Die Gespräche des göttlichen Pietro Aretino. Übertr. von Heinrich Conrad, Leipzig 1999, S. 44. 59 Der Ausdruck des menschlichen Gesichtes kann somit nicht zweifelsfrei, im Sinne einer arche­typischen Deutung, der von Aby Warburg geprägten Pathosformel, interpretiert werden, die eine unveränderliche Urgebärde voraussetzt. Vgl. Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike. In: Verhandlungen der 48.  Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, S. 55–60. Vielmehr bedarf es der Annahme der Sinnoffenheit von Gesichtsausdrücken, wie sie sich im Bereich der Filmmontagetechnik 1921 der russische Regisseur Lew Kuleschow zu Eigen macht. Über die Kombination dreier unterschied­ licher situativer Einstellungen mit der jeweils identischen Aufnahme des Gesichtsausdrucks eines Schauspielers erzeugte er beim Zuschauer  – obwohl es sich immer um die gleiche Aufnahme handelte  – drei vollkommen unterschiedliche Wahrnehmungen dieses Gesichtsausdrucks. Vgl. Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (Hg.): Lew Kuleschow. Filmwissenschaftliche Materialien. Potsdam 1977, S. 16.



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Abb. 13: Michelangelo Buonarroti, Verkündigung, 1547–1550, Schwarze Kreide auf Papier, 38,3 × 29,7 cm, New York, Pierpont Morgan Libary, IV,7 [Pierpont Morgan Library].

wie erschreckten Gesichtsausdruck. Der Junge wird gebissen, aber nicht vorne, sondern hinten. Der Biss findet also gar nicht dort statt, wo man ihn zu sehen glaubt, und es handelt sich auch nicht wirklich um einen Biss in den Mittelfinger. Dies mag man für mehr oder weniger lustig halten. Der zotige Spaß des Bildes hat aber durchaus einen ernsten Hintergrund im Sinne der Kritik der Imitatio artis, der Verwendung und Kombination kunsthistorischer Vorbilder sowie der Affektelehre, die als Grundlage der Gattungshierarchie gelten kann. Caravaggio hat für seine satirische Darstellung christliche und antike Überlieferung in unvorhersehbarer Weise zu verbinden gewusst. Dies ist freilich nicht neu. Im Gegenteil stellt die Überhöhung christlicher Themen durch antike Motive seit dem Quattrocento ein wichtiges Verfahren künstlerischer Praxis dar. Meines Erachtens ist es kein geringerer als Michelangelo, auf den der lombardische Künstler mit seinem Eidechsenbild reagiert. So sei auf eine Zeichnung Buonarrotis aus den 1540er Jahren verwiesen, die in ikonographischer Hinsicht für Cara-

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vaggios Entwurf bedeutsam gewesen sein muss (Abb. 13).60 Schwebend hat sich Gabriel der Gottesmutter angenähert und spricht sie an. Maria blickt sich um und hat ihre linke Hand vor Schreck emporgehoben, während ihre Rechte auf dem Buch ruht, in dem sie soeben noch gelesen hat. Bei der Zeichnung handelt es sich um den ersten Versuch, das Motiv von Laokoons älterem Sohn, wenn auch in spiegelbildlicher Form, für eine Verkündigungsszene zu nutzen. Buonarroti passt das antike Motiv dem neuen Kontext an. Eine ästhetische Maßnahme, die man insofern als gelungen erachten kann, als der Schrecken des Sohnes auch im neuen Kontext lesbar bleibt. Die Verwendung des Motivs aus der Laokoon-Gruppe weiß den affektiven Eindruck gegenüber vorhergehenden Verkündigungsbeispielen sogar zu steigern. Wenn Caravaggio auf kuriose Weise Elemente der Verkündigung und solche der Laokoon-Gruppe zu verbinden weiß, bezieht er sich nicht nur auf eine gängige Praxis, sondern auch auf ein berühmtes Vorbild. Während in der Verkündigung Michelangelos ein profanes Motiv in ein christliches verwandelt wird, geht sein Nachfolger den umgekehrten Weg und rückverwandelt das christliche Motiv in ein profanes. Michelangelo transformiert den älteren Sohn Laokoons in die Gottesmutter, Caravaggio die Gottesmutter in einen Lustknaben. Bei Michelangelo werden die profanen Gesten des Jungen in christliche umgedeutet. Doch während Michelangelo die Verkündigungsikonographie durch antike Formensprache überhöhen will, macht sich Caravaggio über Michelangelo lustig, indem er alles in sein Gegenteil verkehrt und eine religiöse Bildsprache kritisiert, in der christliche und antike Formen beliebig austauschbar geworden sind.

60 Die Komposition war im 16.  Jahrhundert schon so bekannt, dass sie von Giorgio Vasari in Buonarrotis Vita erwähnt wird: »Ha fatto poi fare messer Tommaso a Michelagnolo molti disegni per amici, come per il cardinale di Cesis la tavola là dove la Nostra Donna annunziata dall’Angelo, cosa nuova, che poi fu da Marcello Mantovano colorita e posta nella cappella di marmo che ha fatto fare quel cardinale nella chiesa della Pace di Roma.« Das Zitat verdeutlicht, dass die Zeichnung ihrer innovativen Formensprache wegen eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Ausdrücklich redet Vasari von der Verkündigung als einer »cosa nuova«, vgl. Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccelenti pittori scultori e architettori. Bd. 6. Hg. von Rosanna Bettarini, Paola Barocchi. Florenz 1987, S. 110. Vergleichen wir Michelangelos Verkündigung mit Beispielen aus dem Quattrocento, leuchtet Vasaris Urteil unmittelbar ein. Mariens Schreck findet in ihrem Blick nach hinten und nach oben einen gelungenen Ausdruck. Sie hört die Stimme aus einer Richtung, aus der sie sie nicht erwartet hat. Wie einflussreich Michelangelos Entwurf geworden ist, belegt auch ein Stich von Mario Cartaro nach Marco Pino aus dem Jahre 1571. Maria ist in das Studium der Hl. Schrift vertieft, als ihr plötzlich der Engel erscheint. Halb ist sie noch dem Buch zugewandt, auf dessen aufgeschlagene Seiten sie ihre Hand gelegt hat, während sie den Kopf wendet und in Richtung des Engels blickt. Man achte auf die Handgesten, die nicht mehr weiter beschrieben werden müssen.



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Abb. 14: Anonym: Pinkelnder Homer, Holzschnitt, ca. 55 × 73 mm, in: Guillaume la ­Perrière, Morosophie, Lyon 1553, d2v, Emblem 14, in: München, Bayerische Staats­bibliothek München, P.o.gall. 1179 [Bayerische Staatsbibliothek München, P.o.gall. 1179, d2v, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10189291–4].

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Diese Beobachtung gilt nicht nur für den Umgang mit Motiven, sondern schon für die Gattung von Caravaggios Gemälde. Das »Eidechsenbild« gehört in den Bereich der Genremalerei, die im 16. und 17. Jahrhundert ein Experimentierfeld für Modernisten darstellt. Seit langem sind wir es gewohnt, diesen Prozess als »Querelle des anciens et des modernes« zu bezeichnen. Dass sich dieser Prozess über weite Strecken als Polemik gestaltet hat, belegt der französische Emblembuchautor Guillaume de la Perrière. In seiner Morosophie aus dem Jahre 1553 entwirft er ein drastisches Bild, um übertriebene Antikenverehrung zu denunzieren (Abb.  14).61 Die Pictura seines Emblems zeigt Homer, wie er auf einem Re­nais­ sance­brunnen steht und in dessen Schale uriniert. Aus dieser Schale trinken seine Verehrer den Urin, den sie als besonders köstlich zu empfinden scheinen. Die Metapher vom Urin des Homer verballhornt die Vorstellung vom Text als nahrhafter Speise, scheint es doch den Verehrern des antiken Dichters gleichgütig zu sein, was sie sich vom Meister aneignen, solange es nur von Homer ist.62 In meiner Interpretation wird das »Eidechsenbild« durch drei ironisch-kritische Negationen bestimmt, die vorherrschende Konventionen in Frage stellen, indem sie sie der Lächerlichkeit preisgeben. So verweigert sich der Maler erstens der Tradition des Kurtisanenbildes als Ausdruck spezifisch weiblicher und spezifisch malerischer Schönheit. Es sind weder die Darstellung von Grazie, noch der Ehrentitel eines neuen Apelles, die Caravaggio zu reizen scheinen. Sodann bricht er zweitens mit dem Modell einer ebenso kanonischen wie beispielhaften Antike, die im Laokoon eines ihrer wichtigsten Vorbilder hat. Damit geht kunsttheoretisch eine Ablehnung der Imitatio veterum einher. Davon nicht zu trennen ist drittens seine Ablehnung der Bildrhetorik Michelangelos und der von Vasari behaupteten Vorbildlichkeit der Kunst der Hochrenaissance bzw. der Synthese vorbildlicher Kunstwerke von Raffael oder Michelangelo, wie sie von den Zeitgenossen Merisis betrieben wird. Doch wie viel Ernst liegt bei Caravaggio im Unernst verborgen? Hat seine Satire vielleicht doch einen seriösen Hintergrund? Von Erasmus von Rotterdam kennen wir den Ausdruck des Serio-ludere, was nichts anderes bedeutet, als ein ernsthaftes Problem in komischem Kleid daherkommen zu lassen. Um den ernsten, aller Ironie Caravaggios zugrundeliegenden Gedanken sowie die dritte Negation seiner Ironiekonzeption aufdecken zu können, müssen wir uns ein letztes Mal der marianischen Symbolik zuwenden. Lippi zeigt die Gottesmutter vor einem Lesepult (Abb. 9). Eben widmet sie sich noch dem Studium der Heili-

61 Henkel, Schöne (Anm. 57), Sp.  1163. 62 Zur Speisemetaphorik im Zusammenhang der Dichtungslehre vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittlelalter. Bern 101984, S. 18–20.



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gen Schrift, als sich Gabriel niedergekniet und die zitierten Worte spricht. Seine Verkündigung erzählt von der unbefleckten Empfängnis Mariens. Wir sehen die Taube des Hl. Geistes vom Himmel herabschweben. Die Jungfrauengeburt hat im Glasgefäß ein aussagekräftiges Symbol, weist es doch die Form eines Uterus auf. Zudem erkennen wir seine Durchsichtigkeit einerseits, und den Schatten, den es ins Bild hineinwirft andererseits. Der Maler macht somit zweierlei deutlich, dass nämlich erstens der Lichtstrahl das Glas passiert, ohne es zu zerstören; und dass zweitens das Gefäß trotz seiner Durchsichtigkeit materieller Natur sein muss, könnte es doch sonst keinen Schatten werfen. Lippi führt dem Betrachter eindringlich vor Augen, dass sich bei der Jungfrauengeburt Göttliches und Menschliches begegnen, wie auch die Menschwerdung Christi die Ankunft Gottes auf Erden repräsentiert. Er nimmt sogar für sich in Anspruch, durch das Symbol die Anwesenheit des Göttlichen im Bild selbst darstellen zu können und legitimiert somit die Zeichenhaftigkeit der Malerei. Schließlich kommentiert Lippi damit sogar die besondere Seinsweise seines eigenen Bildes. Denn es handelt sich keinesfalls um einen Zufall, wenn die Karaffe so auffällig die ästhetische Grenze des Bildes bezeichnet und damit den Berührungspunkt von Bild- und Betrachterraum bildet. Auch das Bild, so scheint der Künstler sagen zu wollen, ist eine solch geheimnisvolle »Membran«, in der das Materielle für das Ideelle durchlässig wird, damit das Göttliche den Menschen berühren kann und Gott durch das Bild für den menschlichen Betrachter erfahrbar wird. Christiane Kruse hat in ihrer anregenden Studie über die Metaphorik frühneuzeitlicher Bildlichkeit dem Problem von Inkarnation und Bildwerdung ein eigenes Kapitel gewidmet.63 Dabei stellt sie fest, dass dem Verkündigungsthema eine kunsttheoretische Bedeutung zukommt. Viele Künstler haben in bildlichargumentativer Form bei ihrer Gestaltung dieser Ikonographie geltend gemacht, dass in der Entwicklung von der Bildidee zum Bildkörper eine ähnliche Kluft überbrückt werden muss, wie in der Inkarnation Christi. Das ontologische Paradox der Menschwerdung Christi wird auf diese Weise zum Paradox des Bildes. Das Paradox findet im Glasgefäß seinen überzeugenden Ausdruck. Es ist lichtdurchlässig und seiner Natur nach zugleich materiell. Dies ist eine wahrhaft metaphysische Definition des Bildes, das zum Medium göttlicher Gnade avanciert. Schauen wir daraufhin auf Caravaggios Glaskaraffe, erkennen wir, dass der Maler im Unterschied zu Lippi die Oberfläche des Gefäßes inszeniert hat.

63 Vgl. Christiane Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen. Malerei als »incarnazione«. Mediale Verfahren im Libro del’Arte des Cennino Cennini. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 305–325.

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Zunächst entdeckt man auf der Oberfläche unterschiedliche Lichtreflexe. Bei den Reflexionen kann es sich nur um das Licht handeln, dass durch das Fenster oder eine Tür des rückwärtigen Raumes eindringt. Jedenfalls spiegelt sich das Licht einmal kalt und weiß und ein anderes Mal warm und gelb auf der Glasoberfläche. Wir sehen – und dies ist mir wichtig zu betonen – nicht das Licht, sondern nur seinen Abglanz. Als es selbst bleibt es unsichtbar. Caravaggio scheint sagen zu wollen, dass das Bild nicht die durchlässige Membran ist, die wir bei Lippi kennen gelernt haben, sondern lediglich eine spiegelnde Oberfläche. Das Bild ist nicht das Fenster von der materiellen Welt des Menschen zur ideellen Welt Gottes, sondern nur ein Spiegel der Wirklichkeit. Das Bild kann nicht die Gegenwärtigkeit Gottes im Bild repräsentieren, sondern nur auf seine Abwesenheit verweisen. Um daran keinen Zweifel zu lassen, hat Caravaggio auf der Glasoberfläche vier Wassertropfen gemalt. Diese vier Wassertropfen demonstrieren die spiegelnde Undurchlässigkeit der Karaffe und sind somit ein Sinnbild der Malerei und ihrer begrenzten Möglichkeiten, kann sie doch in Wirklichkeit niemals das Göttliche selbst darstellen, sondern höchstens die Wirklichkeit perfekt nachahmen. Wenn Caravaggio sich bei der Darstellung einer »bardassa« eines Haltungs­ motivs und einer Bildmetapher der Verkündigungsikonographie bedient, verkehrt er somit den höchsten aller Bildgegenstände ironisierend in sein Gegenteil. Darüber hinaus übt er eine – ganz ernsthafte – Kritik an einer metaphysischen Definition der Malerei, nämlich dass sie in der Lage ist, die Gegenwärtigkeit des Göttlichen darstellen zu können. Zahlreiche religiöse Historien Caravaggios werden, eindringlicher als dies je zuvor geschehen ist, den vermessenen Anspruch des Menschen aufzeigen, aus eigener Kraft das Göttliche erkennen zu können. Man mag Lippis Bild als ein frommes Bekenntnis erachten, aber es ist auch eine Geste der Ermächtigung, die nichts weniger als die Anwesenheit des Göttlichen im Bild verspricht und zugleich eine Erklärung für die Art und Weise seiner Präsenz geben möchte. Caravaggio wird genau den umgekehrten Weg gehen. Durch seine Ironisierungen zeigt er Scheitern und Unvermögen, Gott bleibt unverfügbar. So provokativ das »Eidechsenbild« auch daherkommt, in seiner ironisch-distanzierenden Grundstruktur verweist es auf das Problem des religiösen Bildes und inszeniert sein Scheitern. Meine Interpretation hat unerwartete Wendungen genommen. So bin ich zunächst dem satirischen Gehalt nachgegangen, der im Bild zweifelsohne enthalten ist. Lässt man sich davon in negativer Weise beeindrucken, wird einem die denkerische Tiefe des Bildes verschlossen bleiben. Caravaggio schafft eine spöttische Malerei, in der sich Komik und Kritik, Spaß und Ernst auf das Beste ergänzen und gegensätzliche Interpretationen provozieren. Ob ich »cazzo«, »mentula« oder gar »mentulatus«, »ucello«, »Phallus«, »lucertolotto« oder »membrum



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virile« sage, macht einen Unterschied aus. Vieldeutigkeit und unterschiedliche Benennung sind kein Mangel, sondern ein Vergnügen. Dies gilt ebenso für die Spannung von lateinischer und volkssprachlicher Tradition, die für das Werk unterschiedliche Horizonte eröffnet. Wenn man ein Bild in geselliger Runde interpretiert, ergibt eine Entdeckung die nächste, ein Scherz versucht den vorhergehenden zu überbieten. Pornographische und blasphemische Witze sind an und für sich bedeutungslos, sie sind es aber keineswegs, wenn Schamgrenzen überschritten und die Dinge ausgesprochen und beim Namen genannt werden müssen. Sexuelle Anspielungen setzen ein kollektives und lautes Betrachten eher voraus als ein individuelles. Die vordergründige Schlichtheit des »Eidechsenbildes« verhält sich umgekehrt proportional zur Dichte des intellektuellen Entwurfs. Man steht dem Gemälde hilflos gegenüber, wenn man nicht die ebenso klassischen wie unklassischen Quellen berücksichtigt und wenn man es nicht als Ausdruck einer libertinären Kultur begreift. Ja mehr noch, das Gemälde ist Ausdruck einer Kultur des Scherzo und der Burla, die dem Betrachter die Möglichkeit eröffnen, seinen Scharfsinn zu demonstrieren.64 Über den Kardinal del Monte als dem wahrscheinlichsten Auftraggeber oder doch immerhin Adressaten des Bildes heißt es: »[…] é galanthuomo, musico eccelente, burla volontieri, piglia il mondo come va e vuol vivere.«65 Wo gut gemeinter Spott endet und die Invektive im Sinne der Beleidigung oder Verhöhnung beginnt, ist nur im Einzelfall zu entscheiden. Im analysierten Beispiel des »Eidechsenjungen« besteht die Kunst Caravaggios ohne Zweifel darin, en permanence das Hohe und das Niedrige, das Ernste und das Lächer­ liche zu verkehren und auch vor religiösen Symbolen nicht Halt zu machen. Das Gemälde dient maximaler Versprachlichung. Dabei haben wir festgestellt, dass es sprach- und bildorientierte Witze gibt. Der Biss der Eidechse als Penetration,

64 Die Kultur der Burla definiert auch Baldassare Castiglione in seinem zweiten Buch des Cortegiano im Sinne eines geistvollen und taktvollen Scherzes, der für Verwirrung und Erschrecken sorgen dürfe, seine Auflösung jedoch in einem Lachen wider die Erwartung und letztlich in einem ruhigen Ende finden solle. Vgl. Baldassare Castiglione: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt u. erläutert von Fritz Baumgart. Bremen 1960, S. 214, 222. Das Verständnis für Humor und ironischen Feinsinn war gleichfalls Charakteristikum von Caravaggios Mäzen Francesco Maria del Monte, den sein Biograph Dirk van Ameyden als »uomo di giocondissima maniera e conversatione« beschreibt und der das Streben Del Montes nach Harmonie als herausragende Inspiration seiner Persönlichkeit hervorhebt. »[…] quella possibilità di armonia, quell’ideale irenico che sembra ispirare tutta la maturità del cardinal Del Monte.« Zitiert nach Luigi Spezzaferro: La cultura del cardinal Del Monte e il primo tempo del Caravaggio. In: Storia dell’arte 9/10 (1971), S. 57–92, hier S. 90. 65 Riccardo Bassani, Fiora Bellini: Caravaggio assasino. La carriera di un »valenthuomo« fazioso nella Roma della Controriforma. Rom 1994, S. 59.

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die Entjungferung des nicht Jungfräulichen im Sinne des Deflorare, die Eidechse als Penis im Sinne des Lucertolotto, das Naschen der Früchte und deren »dolcezza« – all das sind sprachorientierte Anspielungen, die sich etablierter Topoi bedienen. Sodann gibt es ikonographische Traditionen, derer sich der Künstler bedient. Die Conturbatio als spezifische Handstellung, Kleidung und Attribute als Bestandteil der Kurtisanen- und Marienikonographie, das Motiv des älteren Laokoonsohns, die übertriebene Darstellung der Haare etc. Die Kunst der Bildlektüre besteht in der permanenten Verschränkung all dieser Traditionen, Motive und rebusartiger Konstruktionen. Es gibt eine Phase frühneuzeitlicher Bildkunst, die in der Tradition von Apuleius, Petron und Martial steht, eine Tradition, in der nicht nur Diotimas hehre Lobrede auf den Eros, sondern auch die spöttischen Bemerkungen des Alkibiades über den Verstellungskünstler Sokrates und dessen besondere Verführungskunst ihre Wirkung gezeitigt haben und in der es einen fließenden Übergang vom Lustigen zum Lächerlichen gibt. Mit Nietzsche gesprochen besteht die Antike eben nicht nur aus Apoll, sondern auch aus Dionysos, nicht nur aus Platon, sondern auch aus dem Kuppler Sokrates in Xenophons Gastmahl, nicht nur aus Hetero-, sondern auch aus Homosexualität, um bei meinem Beispiel zu bleiben. Ich fasse zusammen: Als Dichter ist Caravaggio eine Katastrophe. In Bezug auf die Komplexität des Bildes ist seine Invektive allerdings erregend. Abschließend stellt sich die Frage, ob und inwieweit Bild und Text einen gemeinsamen Verstehenshorizont haben. Im Sinne der Transgression ist dies ohne Zweifel der Fall. Bild und Text überschreiten in extremer Weise das Schickliche. Dabei ist das Gemälde im Vergleich zum Gedicht keinesfalls weniger transgressiv. Doch während das Gedicht den Gegner benennt, wird im Bild alles dissimuliert. Dies hängt zweifellos mit den blasphemischen Konnotationen in Bezug auf Jungfräulichkeit, aber auch mit dem justiziablen Tatbestand der Sodomie zusammen. Doch kritisiert Caravaggio weniger Michelangelo oder die Qualität bestimmter Kunstwerke, als vielmehr jene Künstler, die klassizistischer Imitatiopraxis folgen und die Kunst nicht voranbringen, da sie bloß nachäffen. Dies alles mag zutreffend scheinen oder auch nicht. Es stimmt, was der Volksmund sagt: Über Humor und dessen Inhalt lässt sich trefflich streiten. Keiner hat es konziser formuliert als Johann Wolfgang von Goethe. In seinen Gesprächen mit Eckermann beschwört er das Diktum Christoph Martin Wielands: »Ich wollte die Menschen wohl amüsieren, wären sie nur amüsabel.«66

66 Regine Otto, Peter Wersig (Hgg.): Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Berlin 1982, S. 233.

Monika Schmitz-Emans

Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 1 Ikonotexte der Zeit: Schreibverfahren und Zeitbewußtsein Die lange Zeit in ästhetischen Diskursen vorausgesetzte (und etwa zum Künstevergleich motivierende) kategoriale Differenzierung zwischen Text und Bild ist in den vergangenen Jahrzehnten einer kritischen Revision unterzogen worden. Für das (Selbst-)Verständnis von text- und bildmedialen Darstellungsformen ist dies ausnehmend folgenreich. Insbesondere die Erscheinungsweisen von Schrift (im engeren wie im weiteren Sinn, also die verschiedenen Spielformen von Graphie) sind im Zeichen komplexer grammatologischer Interessen als Darstellungsformen in den Blick gerückt, die zugleich eine textuelle und eine visuelle Dimension besitzen. Die Arbeiten William J. Thomas Mitchells, der den Begriff des »Ikonotextes« geprägt hat, repräsentieren diese Tendenz besonders prägnant.1 Laut Mitchell ist auch an den vermeintlich ungemischten Medien immer Bildliches und Textuelles beteiligt. Alle Künste, so Mitchell, sind komposit;2 jedem Text inhäriert eine bildliche, jeder visuellen Darstellung eine sprachliche Dimension, und so gelte es nicht, angeblich reine Bilder mit angeblich reinen Texten zu vergleichen, sondern die Verschränkung von bildlicher und sprachlicher Dimension in ihren verschiedenen Spielformen nachzuvollziehen.3 Mitchell unterscheidet dabei zwischen bruchlosen und daher unauffälligen Text-Bild-Kombinationen auf der einen, spannungsvollen oder sogar brüchigen auf der anderen Seite. Die mit der Konzeption des Ikonotextes ausgearbeitete Idee, daß graphisch-visuelle und verbale Darstellung nicht zu trennen sind, findet sich (bezogen auf die zugleich verbale und visuelle Dimension von Schrift) im Wesentlichen schon in Barthes’ Variations sur l’écriture (1973) ausformuliert  – u.  a. unter Akzen­tuie­rung der erzählenden Dimension bzw. Funktion von Zeichnungen, die einem Zwischenund Übergangsbereich zwischen bildlicher und schriftlicher Darstellung angehören, etwa wenn sich Figurationen in Form eines graphischen Bandes präsentie-

1 Vgl. William J.  T. Mitchell: Bildtheorie. Hg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Frankfurt a.  M. 2008. 2 Ebd., S. 152  f. 3 Ebd., S. 154  f. DOI 10.1515/9783110521788-011

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ren, das als Darstellung einer temporalen Sequenz gedeutet wird.4 Darauf, daß Schrift- oder Text-Bilder u.  a. dazu dienen, Zeit zu gliedern und zu ordnen, weist Barthes ebenfalls hin.5 Untersuchungen zum wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Formen der Graphie (als einer textbildlichen Darstellungspraxis) auf der einen, jeweils kulturspezifische Vorstellungen über die Zeit und ihre Ordnungen auf der anderen konvergieren; Theorien der écriture, Reflexionen über die ikonotextuelle Dimension aller Formen von Schrift und kulturgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte der Zeitvorstellungen greifen ineinander. Zeit  – so haben wichtige Studien dargelegt6  – ist nicht an und für sich wahrnehmbar; sie wird immer an etwas sichtbar, hörbar oder ablesbar (für Aristoteles waren dies die Bewegungen). Im Bereich der Artefakte dienen vor allem Kalender, wie sie seit prähistorischen Zeiten hergestellt wurden, der Wahrnehmbarmachung von Zeit. Aber auch Sequenzen von Stunden-, Tages- und Monatsnamen, von Jahreszahlen und Daten, Listen von Tagesheiligen, von Taten und Ereignissen etc. visualisieren Zeitlichkeit – ebenso wie die Darstellung von Geschichten durch Bilder und Bildzyklen sowie die Repräsentation von Jahreszeiten und anderer mit Zeitverlauf konnotierter Gegenstände. Ernst Cassirer erörtert in den 1920er Jahren in seiner Philosophie der symbolischen Formen fundamentale Praktiken der Modellierung von Zeit und entwickelt dabei die These einer Gleichursprünglichkeit und Wechselabhängigkeit von Zeiterfahrung und Schriftlichkeit.7 Nach seiner Überzeugung sind im mythischen Denken Zeit- und Raumvorstellungen noch ungeschieden; erst allmählich kommt es zum Übergang »diese[r] mythische[n] ›Urzeit‹ […] in die ›eigentliche‹ Zeit«, in »das Bewußtsein der Folge«. Grundlegend seien jeweils, so Cassirer, Verfahren der Unterteilung,8 welche die Differenz eines Hier und Dort, eines Vorher und Nachher sinnfällig machen; sie lassen dadurch Räume entstehen, in denen man sich anhand von Differenzierungen orientieren kann, und sie segmentieren Zeit in einer Weise, die temporale Orien-

4 Vgl. Roland Barthes: Variations sur l’écriture / Variationen über die Schrift. Frz./Dt. Übers. von Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006. Eine Definition von »Erzählen« erfolgt im Artikel »Ruban« (»Band«), S. 91, 93, 95. 5 Vgl. ebd. die Abschnitte »Mapping« (frz.-dt., S.  84–91), wo auf die Markierung von Wintern durch Piktogramme bei den Dakota-Indianern hingewiesen wird (S.  86  f.), und »Astronomie«, wo Barthes die »privilegierte Verbindung zwischen Astronomie und Schrift« (S. 105) erörtert. 6 Vgl. insbesondere: Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen ³1985. 7 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. und Indexband. Darmstadt ²1964. 8 Ebd., S. 132.



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tierung ermöglicht.9  – André Leroi-Gourhan geht 1964 in La geste et la parole dem Zusammenhang zwischen elementarer Zeiterfahrung und basaler Schriftkultur im Rahmen einer großangelegten anthropologischen Studie nach10 und bestätigt den Grundgedanken: Jede Gliederung von Raum und Zeit ist an spezifische Notationspraktiken gebunden. Den Anfängen menschlicher Zeiteinteilung korrespondieren die Anfänge der Schrift; mit dem Skandieren zeitlicher Verläufe beginnt das Schrei­ben. Die verwendeten Markierungen changieren dabei zwischen Bild und Schriftzeichen: Sie sind visuell erfahrbar – wie Bilder – und sie notieren etwas – wie Schrift. Zeit wird, anders gesagt, immer schon im SchriftBild dargestellt. Darstellungsformen der Zeit und ihrer Ordnung dienen der Orientierung innerhalb einer als an sich strukturlos erfahrenen Zeitlichkeit, und sie prägen die Kulturen, die sich ihrer bedienen, bis hin in die kleinsten Lebensbereiche. Frühe Zeiterfahrung ist kulturanthropologischen-/ historischen Thesen zufolge noch ganz an konkrete rhythmische Vorfälle bzw. Erfahrungen gebunden. Und deren Erfahrung verbindet sich mit der Entstehung rhythmischer Muster, ja sie wird durch die Fähigkeit zur Herstellung solcher Muster bedingt. Am Anfang der Geschichte der Schrift stehen entsprechende regelmäßig angeordnete Einkerbungen: »hufenförmige Linien oder Folgen von in Knochen oder Stein eingegrabenen Kerben, kleine, im gleichen Abstand angeordnete Einschnitte.«11 (Schrift, scribere und Einkerbung, Ritzung hängen etymologisch zusammen.12) Daß eine solche Sichtbarmachung eine Strukturierungsleistung ist, welche dem Gegenstand der jeweiligen Darstellung (also der Zeit) eine Form allererst gibt, daß Zeitordnungen sich also aus Darstellungsweisen – aus Formen der Graphie – ergeben, ist eine Einsicht der Moderne. Diese wendet sich ab von der Vorstellung einer absolut gültigen, durch Zeichen nur nachträglich abgebildeten Zeitordnung und begreift Zeitordnungen als kulturelle Konstrukte, die mit Praktiken der Notation von Zeit aufs engste verflochten sind. Dies aber wird u.  a. zum Anlaß, sich älteren, vor-modernen Zeitauffassungen und deren Graphien zuzuwenden, um die Implikationen der dort praktisierten Graphie der Zeit zu studieren.

9 Ebd., S. 132. 10 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Dt. von Michael Bischoff. Frankfurt a.  M. 1980 (zuerst frz. 1964). Zu frühen Ritzungen bzw. Kerbungen auf Stäben als Ausdruck erster Maßsystemen: S. 391. 11 Ebd., S. 238. 12 Vgl. dazu Peter Gendolla: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur ›Punktzeit‹. Köln 1992, S. 19, sowie Cassirer (Anm. 7), S. 133.

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2 Stundenbuch und historische Zeitauffassungen: Vom Mittelalter zur Neuzeit Das Stundenbuch als Buchtypus entsteht vor dem Hintergrund einer sich im Mittelalter herausbildenden spezifischen Zeitauffassung. Diese ist vor allem durch dreierlei charakterisiert. Erstens durch ein theologisch-religiös motiviertes Anliegen: Im Horizont des christlichen Denkens besteht ein Bedarf, zwischen der irdischen Lebenszeit des Menschen und seinen Beschäftigungen auf der einen Seite, der als Heilszeit verstandenen Gotteszeit auf der anderen Seite, zwischen endlicher Zeit und Ewigkeit gleichsam, zu vermitteln, und zwar sowohl ideologisch-konzeptuell als auch praktisch. Der Christ soll insbesondere auch während seines irdischen Alltags stets daran erinnert werden, daß sein endliches Dasein in einen größeren Zeit- und Sinnzusammenhang eingebettet ist. Zweitens korrespondiert dem eine Strategie im Umgang mit der Zeit: Der Alltag des Christen wird einem formalen Schema unterworfen, das ihn dazu anleitet, seinen Tagesablauf regelmäßig zugunsten des Gebets zu unterbrechen. Arbeit und Gebet bekommen feste Zeiten zugewiesen. Als Gliederungsschema des Tages setzt sich die Segmentierung nach Stunden durch, die bis weit ins Mittelalter keine große Rolle gespielt hatte; als Folge der Einteilung des Tages in Gebets- und Arbeitszeit beginnt sich das Leben nun also drittens im Rhythmus von mehrstündigen Takten zu organisieren. Ermöglicht wird dies durch Uhren, deren Technologie sich sukzessiv verbessert, sowohl hinsichtlich der Präzision der Zeitmessung als auch hinsichtlich der Wahrnehmbarkeit eingeteilter Zeit für ganze Kollektive, die ja gemeinsam nach dem Takt der Uhr leben sollen. Wie andere kulturelle Leistungen auch, so hat die neue Praxis der Segmentierung des Tages im Stundentakt und des stundenweise geregelten regelmäßigen Gebets ihren Ursprung in den mittelalterlichen Klöstern. Das Brevier und das Stundenbuch teilen sich hier bis zu einem gewissen Grad ihre Funktion mit der Uhr: Sie gliedern den Tag, sorgen dafür, daß die Phasen des irdischen Alltags nach einem festgelegten Rhythmus von Phasen der religiösen Besinnung und der Hinwendung zur Ewigkeit unterbrochen werden. Ebenso wie mit dem Stundenbuch das Buch des Klerikers (das Brevier) vom klösterlichen Bereich in die Welt der Laien (als Laien-Stundenbuch) übergreift, so setzt sich die Zeiteinteilung im Takt der Tagesstunden von den Klöstern ausgehend in die säkulare Sphäre hinein fort. Die mittelalterlich-christliche Kultur etabliert das Leben nach der Uhr zwar zunächst, um den diesseitigen Menschen regelmäßig an die Ewigkeit zu mahnen, zumindest ist dies die ideologische Begründung der neuen Zeitmessungs- und Zeitnutzungspraxis. De facto wird mit der strikt regulierten Zeit aber ein wichtiges Dispositiv für eine ökonomische, also ganz und gar irdische Effizienz geschaffen:



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Regulierte Arbeitszeiten begründen eine Disziplin, die der sich modernisierten Ökonomie zugute kommt. Nur wer seine Zeit ordnet, ist verläßlich; diese Überzeugung prägt vor allem den Umgang der die neuzeitliche Gesellschaft prägenden Kaufleute mit der Tageszeit. Im weiteren Verlauf der Neuzeit etablieren sich – gerade im kaufmännischen Umfeld – Stunden-Bücher anderer Art: Tagesplaner, in denen über die einzelnen Beschäftigungen des Tages Buch geführt wird und mit denen sich die Buchführer über die eigene Tageszeit Rechenschaft geben, die zur Disziplin im Umgang mit der Zeit rufen.13 Noch in der Epoche der Kaufleute ist dabei allerdings das christlich-ideologische Argument im Spiel, es gelte, die dem Menschen von Gott zugemessene Zeit adäquat und fruchtbringend zu nutzen. Und noch bis weit in die Neuzeit hinein ist neben der ökonomisch effizient zu nutzenden Arbeitszeit auch die Meditations- und Gebetszeit im Tagesplan des Christen (etwa des christlichen Kaufmanns) vorgesehen. Aber als Dispositiv arbeitet der regulierte Tagesplan, die buchförmige Anweisung zur Nutzung der Tagesstunden, die Anleitung zu einem regelmäßigen disziplinierten Leben doch der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer spezifischen Rationalität in besonderem Maße zu.14 (Es so zu sehen, entspricht jedenfalls einer modernen rationalitätskritischen Einschätzung.) Eine das Format des Buchs nutzende Strategie, dem Transzendenten seinen Anteil am menschlichen Leben zu sichern, hat langfristig der Säkularisierung durch Rationalisierung Vorschub geleistet. Die Zeit des homo oeconomicus ist wichtiger geworden als die Gottes. In gewissem Sinn ist die Geschichte der modernen Gesellschaft eine Geschichte der Buchführung über die im Takt der Stunden (später: der Minuten und Sekunden) segmentierten Zeit. Kalender und Diarien haben hier ihre wesentliche Funktion. Das Stundenbuch ist als Buchtypus aber immerhin eine wichtige Station auf dem Weg zu einem Leben im festgelegten Takt einer gleichförmig und regelmäßig verlaufenden Zeit. In Stunden wird verrechnet, was langfristig zählt – denn Zeit ist Geld. (Und auch hier zählen kleine Einheiten, weil sie sich in ökonomischen Handlungskontexten multiplizieren lassen.) Das Konzept einer quantifizierbaren und berechenbaren Zeit kommt in der Neuzeit zur vollen Ausbildung. Lebenszeit wird verwaltet.

13 Benjamin Franklin, der die Formel Zeit ist Geld geprägt haben soll, führt ein solches TagesStunden-Buch. Vgl. Benjamin Franklin: Autobiographie. Nach der dt. Übers. von Friedrich Kapp von 1882 bearb. von Ernst Habersack. Berlin 1954, S. 151. 14 Werner Sombart hat dargelegt, inwiefern die Geschichte des Kapitalismus auch und gerade eine Geschichte der Buchführung ist, wobei er die kaufmännische Buchhaltung meint. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des Gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. II/1: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. München, Leipzig 61924.

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Das Leben im Takt von Stundenblöcken, sich bereits im Mittelalter durchsetzend, die Neuzeit und ihr Zeitmanagement prägend, hängt mit der Geschichte des Stundenbuchs eng zusammen. Diese bahnt insofern der Neuzeit selbst den Weg. Aber im Mittelalter wird  – gerade mittels des Stundenbuchs  – noch eine andere Komponente oder Dimension menschlicher Beziehung zur Zeitlichkeit vorbereitet: Die Vorstellung mehrfacher Zeiten. Für den mittelalterlichen Christen hat die Zeit die doppelte Dimension der säkularen Alltagszeit und der Heilszeit, und gerade das Stundenbuch reguliert deren Beziehung durch die Suggestion eines alternierenden Rhythmus, bei dem zeitweilig das säkulare Leben zugunsten einer Hinwendung zur Heilszeit bzw. zur Ewigkeit unterbrochen wird. Komplex ist die vom mittelalterlichen Stundenbuch modellierte Zeitlichkeit auch insofern, als sich hier ein zyklisches und ein lineares Modell überlagern: Der Zyklus der Jahrzeiten erscheint eingebettet in die Dimension der Heilszeit. Das Projekt einer Strukturierung der Zeit durch die darstellerisch-gestalterischen Mittel des Menschen bereitet sich vor; Zeit erscheint im Stundenbuch manchmal bereits als etwas, das auch dem Takt der kulturellen Institutionen gemäß organisiert ist, die sich allerdings den Jahreszeiten und religiös signifikanten Kalenderdaten angleichen. In der Frühen Neuzeit wird das Rechnen mit säkularer Zeit zur kulturprägenden Praxis, verbunden mit einer rigideren Quantifizierung von Zeit. Aber auch hier bedarf es der Integration differenter Zeitdimensionen. So muß etwa die in kleine Zeitintervalle (Stunden, Tage) segmentierte Alltagslebenszeit in größere Zeitdimensionen (Jahre, Lebenszeiten) integriert werden; das jeweils einzelne Leben wird in eine abstrakte Zeitordnung integriert und von dieser ausgehend quantifiziert.

3 Formate und Funktionen des Stundenbuchs im Wandel der Zeit Der Buchtypus des Stundenbuchs (Horarium, Livre d’Heure; im englischen Raum auch: Primer) bildet sich im 13. Jahrhundert heraus und floriert vor allem im 14. und 15. Jahrhundert.15 Frankreich und Flandern sind die wichtigsten Pro­duk­tions­ 15 Zur Verbreitung und (auch wirtschaftlichen) Bedeutung des Stundenbuchs in der frühen Neuzeit vgl. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Aus d. Frz. von Brita Schleinitz u. Ruthard Stäblein. Frankfurt a.  M., New York, Paris 1990. Kap. 2: »Verlegerstrategie und volkstümliche Lektüre zwischen 1530 und 1660«, S. 55–90. Das Stundenbuch als Gebetbuch wurde innerhalb der Familie oft weitervererbt; in dieser Funktion stand es noch



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regionen; um 1400 werden in Paris Stundenbücher in großer Zahl hergestellt. Auch in Italien beginnt man bald mit der Produktion. Konstitutiv für das Stundenbuch ist zunächst sein Zweck: Es dient als Gebets- und Andachtsbuch. Die einzelnen Abschnitte seines Inhalts sollen zu bestimmten festgelegten Stunden konsultiert werden; Lektüre und Meditation sollen sich verbinden. Für Laien produziert, ist das Stundenbuch bei Adligen und wohlhabenden Stadtbewohnern sehr beliebt. In seiner Blütezeit gehören aber auch Kleriker zu seinen Besitzern. Viele Stundenbücher werden für Frauen hergestellt. Innerhalb von Familien vererbt man sie weiter. Funktional und strukturell korrespondiert das Stundenbuch dem Brevier des römisch-katholischen Klerus. Dieses hatte sich bis zum 12. Jahrhundert aus dem Psalter entwickelt, den Mönche und Nonnen zu beten verpflichtet waren. Die Lesungen folgten der jeweiligen Liturgie des Kirchenjahrs. Psalmen und Antiphone wurden in wöchentlichen Zyklen gebetet. Hinzu kamen weitere Gebete, Gesänge, Hymnen und Dialoge. Ein typisches römisch-katholisches Stundenbuch gibt die in Klöstern gebetete Liturgie wieder. Nach seinem Aufkommen übernimmt es allmählich die Funktion des Psalters, der bis dahin die wichtigste Form des Gebetbuchs war.16 Die Stundenbuchtexte strukturieren in ihrer Anordnung den Tagesverlauf der Leser; die Inhalte beziehen sich auf die Passionsgeschichte, das Marienleben, die Lebensgeschichten von Heiligen und die Heilsgeschichte insgesamt, und durch die Integration von Kalendarien werden Tages- und Weltzeit mit dem Rhythmus der Jahreszeiten verknüpft.17 Der

der Bibel voran. – Zum Stundenbuch vgl. auch: Janet Backhouse: Books of Hours. London 1985. Christopher de Hamel: Scribes and Illuminators. Toronto ²1993. Christopher de Hamel: A History of Illuminated Manuscripts. London ²1994. John Harthan: The Book of Hours. New York 1977. Joachim M. Plotzek: Andachtsbücher des Mittelalters aus Privatbesitz. Köln 1987. Joachim M. Plotzek: Ars Vivendi  – Ars Moriendi. München 2001. Roger S. Wieck: Time Sanctified. The Book of Hours in Medieval Art and Life. New York 1988. Roger S. Wieck: Painted Prayers. The Book of Hours in Medieval and Renaissance Art. New York 1997. Eleanor Simmons: Les heures de Nuremberg. Paris 1994. Rob Duckers, Pieter Roelofs: The Limbourg Brothers – Nijmegen Masters at the French Court 1400–1416. Gent 2005. Robert G. Calkins: Illuminated Books of the Middle Ages. Ithaca, New York 1983. Otto Pächt: Book Illumination in the Middle Ages. London 1986. 16 Die Texte im Stundenbuch sind meist lateinisch. Es gibt aber auch Beispiele, die teilweise oder ganz in einer der europäischen Volkssprachen verfaßt wurden; das Niederländische ist hier besonders gut vertreten. 17 Bereits im Brevier finden sich alle im Stundenbuch anzutreffenden Texttypen auf eine Weise arrangiert, die ihnen einen bestimmten zeitlichen Ort zuweist: eine bestimmte Tageszeit, einen Wochentag, einen Tag im Jahreslauf. Zudem sind die Feiertage des Kirchenjahrs und die Jahreszeiten im Stundenbuch durch einen liturgischen Kalender dargestellt, dem man entnehmen kann, welche Texte gerade zu lesen sind. Am Anfang des Stundenbuchs plaziert, besitzt dieser eine komplexe Struktur. (Dem römischen Kalender hatte sich der durch die religiösen Feiertage strukturierte christliche Kalender überlagert.) Neben fest im Kalender verankerten Feiertagen

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Besitzer eines Stundenbuchs war dazu angehalten, achtmal täglich seine lektüregestützte Andachtsübung zu vollziehen.18 Während solch regelmäßige Andachten auf der Basis des Breviers in Klöstern an der Tagesordnung waren, ist bezogen auf die Welt der Laien kaum entscheidbar, ob und wie die fraglichen Übungen wirklich stattfanden. (Der gute Erhaltungszustand vieler Stundenbücher könnte ein Indiz dagegen sein – doch es könnte auch sein, daß die intensiv genutzten einfach nicht erhalten sind.19) Der kalendarische Teil machte neben den Andachts- und Gebetstexten einen wichtigen Bestandteil des Stundenbuchs aus.20 Die meisten Manuskripte beginnen mit einer Übersicht über das Kirchenjahr. Den einzelnen Tag sind bestimmte Heilige zugeordnet. Die Namen besonderer Feste werden oft rot geschrieben, die

gibt es bewegliche Feiertage, deren Datierung sich nach Sonnen- und Mondzyklen und Wochentagen richtet. Feste wie bewegliche Feiertage dienen der Erinnerung an das Leben Christi, dessen Stationen ihre Folge grob abbildete. Aus mittelalterlich-christlicher Sicht bildet nicht nur der Jahreszyklus das Leben Christi ab, sondern auch der Wochenzyklus hat eine symbolische Bedeutung: Er entspricht den sieben Schöpfungstagen und den sieben Tagen der Passion Christi bis zur Auferstehung. 18 Zentrale Textbestandteile des Stundenbuchs sind die Gebete. Die Tagzeiten sind in dreistündigem Rhythmus zu bestimmten Stunden des Tages zu beten: um Mitternacht zunächst die Matutin; dann die Laudes (3 Uhr morgens), mit denen die Matutin später zusammengefaßt wurde. Um 6 Uhr morgens wurde die Prim gebetet, dann in dreistündigen Abständen die Terz, die Sext, die Non, die Vesper und die Komplet. Als typisch für Stundenbücher können ferner, vor allem im 15. Jahrhundert, folgende Bestandteile gelten: Auszüge aus den vier Evangelien, das kleine Offizium der Heiligen Jungfrau Maria (eine Marienliturgie), Stufenpsalmen, Bußpsalmen, eine Heiligenlitanei, Gebete, die als Stunden des Heiligen Geistes bezeichnet wurden, Texte zu den Passionsstunden, ein Totenoffizium. Beliebt sind die Mariengebete Obsecro te und O Intemerata. Selten enthalten Stundenbücher auch Gedichte, die eigens für die Besitzer verfaßt wurden. Oft aber werden bestehende Texte in einer Weise modifiziert, die auf den vorgesehenen Besitzer abgestimmt war, etwa durch Aufnahme von deren Namen in Gebete. – Die Litanei – auf die frühen Formen christlicher Liturgie zurückgehend – ähnelt der Form und Funktion nach Zauberformeln; die mit ihr verbundene Fürbitte ist stark emotiv (vgl. de Hamel [Anm. 15], S. 160). Ein enger Zusammenhang besteht zu den Bußpsalmen. Gerade Litanei und Bußpsalmen sowie das Totenoffizium entsprechen dem intensiven Interesse des Mittelalters am Thema Tod, an der Endlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens. Im 15. Jahrhundert intensivierte sich dieses Interesse bis zur Obsession; Todesdarstellungen florieren. Das Totenoffizium, in frühen Formen seit dem 9. Jahrhundert gebräuchlich, etablierte sich erst im 13. Jahrhundert breit. Als Text findet es sich meist am Ende der Stundenbücher. Es sollte bei Todesfällen rezitiert werden, aber auch unabhängig davon der täglichen Erinnerung an die eigene Sterblichkeit dienen – und, so hoffte mancher, als Schutzmaßnahme gegen einen plötzlichen und unvorhergesehenen Tod. 19 de Hamel (Anm. 15), S. 160. 20 Ergänzt wird der liturgischen Kalender im Stundenbuch durch sogenannte Cisiojanus-Merkverse, welche die Datierung der beweglichen Feiertage leichter memorierbar machen sollen.



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Namen der gewöhnlichen Heiligen schwarz. (Manchmal werden auch die Farben Blau, Rot, Gold eingesetzt.) Das wohl älteste erhaltene englische Stundenbuch entstand um 1240 für eine Frau aus dem Raum Oxford. Es enthält viele illuminierte Initialen, aber keine ganzseitigen Bilder. Nicht alle Stundenbücher also sind bebildert, aber die Verbindung von Text- und Bildanteilen prägt doch sehr viele Beispiele, und die wertvollsten und bekanntesten Stundenbücher erscheinen nicht wegen ihrer Textanteile, sondern wegen ihrer graphischen Ausstattung bedeutend.21 Illuminierte Stundenbücher zeigen typischerweise jeweils eine größere Miniatur zu Beginn jedes Hauptabschnitts der Texte; die Bilder strukturieren die Bücher also bzw. machen deren Struktur sichtbar. Viele Stundenbuchillustrationen gelten biblischen Episoden, aber auch Szenen aus der zeitgenössischen Alltagswelt.22 Die Illustrationen zum kleinen Gottesdienst beziehen sich meist auf die Weihnachtsoder die Passionsgeschichte, letzteres vor allem in England. Die Kalendarien stellen oft die typischen Arbeiten der einzelnen Monate dar. Manche der schönsten Stundenbücher, die für höfische Rezipienten angefertigt wurden, spiegeln deren Interessen gerade im Kalendarium wider. Das Totenoffizium hat Anlaß zu originellen Miniaturdarstellungen gegeben, in denen sich die Faszination durch

21 Im späten 14. Jahrhundert beginnen wohlhabende Adlige und Herrscher, Stundenbücher zu sammeln; im 15. Jahrhundert kann der Besitz kostbarer Stundenbücher förmlich als Statussymbol gelten. Daß viele Stundenbücher eher für Sammler als für fromme Beter geschaffen wurden, läßt sich u.  a. aus ihrem guten Erhaltungszustand erschließen. Die weitaus häufigeren schlichteren, zum Gebrauch bestimmten Exemplare hingegen sind vielfach gar nicht mehr erhalten. Philipp der Gute von Burgund ist als Sammler besonders bedeutend. Führte Frankreich zunächst in der Produktion illuminierter Bücher, so wird es allmählich von Flandern überrundet, das dann bis zum Ende der Blütezeit der illuminierten Handschrift diese Spitzenstellung hält. Die Ablösung des Psalters durch das Stundenbuch als dominantes Medium illuminierter Handschriften korrespondiert der allmählich wachsenden Bedeutung von Laien als Produzenten dieser Handschriften. 22 Die Bilder in den Stundenbüchern geben durch ihre Darstellung alltäglicher Szenen vielfach Aufschluß über das Leben im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, aber auch über kollektive Vorstellungsbilder, insbesondere aus dem Bereich christlicher Ikonographie. Bildzyklen gelten etwa dem Leben der Jungfrau Maria oder der Passion Christi, den acht Stunden Mariae, den Arbeiten der verschiedenen Kalendermonate oder den Tierkreiszeichen. Tages- und Jahreszeiten sind durch die Form des Stundenbuchs zu wichtigen Sujets bildkünstlerischer Darstellung geworden. Abbildungen alltäglicher säkularer Gegenstände und Handlungen in Kalender-Bildzyklen haben auf die Geschichte der Landschaftsmalerei prägenden Einfluß genommen. Seit dem 14. Jahrhundert bürgern sich ornamentale Umrahmungen, manchmal auch nur einzelner Seiten, ein. Bis zum frühen 15. Jahrhundert werden sie meist einfach auf die Seiten gesetzt, doch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts breiten sich zumindest im Bereich der aufwendigeren Stundenbücher farbige und gemusterte Hintergründe aus, die Bilder verschiedener Gegenstände enthalten.

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den Tod und durch allerlei Katastrophen ausdrückt. Konservativere Illustratoren stellen vorzugsweise Begräbnisszenen dar.23 Oft tritt der Tod in Person – als Skelett – auf; auch Höllenszenen werden dargestellt. Auch in bescheideneren Stundenbüchern, die keine illustrativen Anteile enthalten, spielen graphische Präsentationsformen eine wichtige Rolle, etwa Praktiken visueller Textgestaltung (hierzu gehören etwa hervorgehobene Initia­ len) und ornamentaler Textrahmung (zur Seitendekoration). Der Nennung von Besitzernamen auf der Textebene entspricht im bildlichen Bereich die Verwendung persönlicher Wappen. Manchmal werden auch Porträts der Besitzer in die Bilder eingefügt. Sowohl mit Blick auf Verfahren des Als-Bild-Gestaltens und Ins-Bild-Setzens von Schriftzeichen, als auch hinsichtlich der für die bebilderten Stundenbücher konstitutiven Verschränkung von Texten und Bildern, kann von einer gerade für diesen Buchtypus prägenden Tendenz zur Verschmelzung von verbaler und vi­suel­ler Darstellung die Rede sein.24 Auf den Buchseiten bilden Texte und Bilder eine ästhetische Einheit; die Texte selbst sind Ikonotexte, deren visuelle Dimension für ihre Bedeutung konstitutiv ist, und dies betrifft so verschiedene Parameter wie die Plazierung auf der Seite, die Aufteilung der Seite, die Wahl der Farbe, die Größe, ggf. die Gestaltung als Initiale oder die Einbettung in ornamentale Strukturen. Letztlich ist es das Buch als Hypermedium, dessen ikonotextuelle Dimension durch das Stundenbuch in besonderem Maße sinnfällig wird. Denn die Lektüre eines Stundenbuchs ist ja immer auch ein blätternder Durchgang durch den Buchraum, und dieser gestaltet sich als ein Weg durch vielfältige Formen der Schriftbildlichkeit.25 Vor allem in den Niederlanden und in Frankreich etablieren sich bis zum 15. Jahrhundert verschiedene Werkstätten zur Produktion von Stundenbüchern.26 Diese werden zunehmend effizienter arbeitsteilig hergestellt und professionell vertrieben; Schreiber verfassen an einem Ort den Text; Maler schaffen dann die Illustrationen an einem anderen Ort; der Buchbinder fügt beides zusammen.

23 Backhouse (Anm. 15), S. 51. 24 Vgl. den Katalog: Elmar Härtel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Das Stundenbuch Herzog Augusts d.  J. Hg. von der Kulturstiftung der Länder in Verb. mit d. HAB Wolfenbüttel. Berlin, Wolfenbüttel 2004, S. 39. 25 Das moderne Malerbuch ist mit dem Stundenbuch in mehr als einer Hinsicht vergleichbar: Werden doch auch hier bestehende Texte durch Bildende Kunst ergänzt, ausgelegt, angereichert – und verbinden sich mit ihnen. Und auch hier ist das Buch der sich dafür bietende und das Ensemble durch seine spezifische Medialität prägende Rahmen. 26 Im 15. Jahrhundert kommt es zu einer weiten Verbreitung kleiner, nicht oder nur wenig illuminierter Stundenbücher, die wenig kosten und auch von weniger wohlhabenden Bürgern, ja selbst von Dienern erworben werden können.



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Obwohl sich im Stundenbuch Text- und Bildanteile zu einem aufeinander abgestimmten Ensemble integriert finden, läßt sich insofern die Stundenbuchproduktion nicht im Vorstellungshorizont des integralen, organischen, in sich geschlossenen Kunstwerks beschreiben; meist erfolgen Koproduktionen mehrerer Personen. Nur selten sind die Stundenbücher von ihren Produzenten signiert.27 Auch die aufwendigeren Exemplare geben oft keine oder nur wenige Anhaltspunkte über ihre Entstehung. Als Illuminatoren konnten gleich mehrere Künstler an einem Exemplar arbeiten, erkennbar an verschiedenen Stilen der Illumination. Die aufgrund ihrer Stile identifizierbaren Meister sind meist nicht namentlich bekannt, sondern werden nach wichtigen Werken genannt. Vielfach ähneln sich die Miniaturen in den Stundenbüchern; offenbar gab es für die Standardszenen, wie sie in vielen Stundenbüchern malerisch dargestellt wurden, Vorlagenblätter.28 Als das wichtigste Stundenbuch und zugleich eine der bedeutsamsten illuminierten Handschrift des 15. Jahrhunderts gelten die von den Brüdern Limburg geschaffenen Très Riches Heures du Duc de Berry (Herzog von Berry, 1340–1416). Das Werk (das heute im Musée Condé in Chantilly aufbewahrt wird) besteht aus über 200 Blättern, von denen rund die Hälfte ganzseitige Bilder sind. Es entstand zwischen 1410 und 1416; die Gebrüder Limburg schufen es für ihren Herrn, Jean, Duc de Berry, der auch andere wertvolle Stundenbücher besaß. Es blieb, bedingt durch ihren Tod, zunächst unvollendet. Charles I., der Herzog von Savoyen, ließ es durch Jean Colombe zwischen 1485 und 1489 fortsetzen. Die berühmten Darstellungen der Kalendermonate bieten detaillierte Szenen des mittelalterlichen Lebens zu den entsprechenden Jahreszeiten; im Hintergrund ist oft ein Besitztum des Herzogs von Berry zu sehen. Das von Giulio Clovio im Jahr 1546 für den römischen Kardinal Alessandro Farnese geschaffene sogenannte Farnese-Stundenbuch ist eines der letzten bedeutenden illuminierten Stundenbücher. Im Bereich des russisch-orthodoxen Glaubens werden ebenfalls Stundenbücher geschaffen und verwendet, noch als sie im Westen bereits ihre Blütezeit hinter sich haben.

27 Dazu de Hamel (Anm. 15), S. 169. 28 Bei der Arbeit nach Bildvorlagen konnte es geschehen, daß die Vorlagen für die Bilder verschiedener Gegenstände verwendet wurden: Darstellungen von Monaten konnten als Hintergründe für biblische Szenen wie die Flucht aus Ägypten dienen. Vielfach entstanden die Illustrationen der Stundenbücher weitgehend als Kopien früherer Bilder. Das vielfache Kopieren erregte offenbar keinen Anstoß. Die Miniaturenmaler selbst stellten nicht die kompletten Bücher her; sie waren für die Bilder zuständig, andere stellten Texte und Bilder zusammen, wiederum andere banden das Buch – jeweils im Dienst der Buchmanufaktur bzw. des Buchhändlers, der die Stundenbücher vertrieb. In Flandern wurden viele Miniaturen für Stundenbücher auf separate Einzelblätter gemalt und anschließend von Buchhändlern aufgekauft, um sie in Stundenbücher einbinden zu lassen (de Hamel [Anm. 15], S. 185).

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Entstehen die aufwendigsten handgefertigten Stundenbücher auch im frühen 15. Jahrhundert,29 so bringt man nach Einführung des Buchdrucks diesem Buchtypus doch wieder ein neues Interesse entgegen. Jetzt in größeren Stückzahlen produzierbar und durch neue druckmedienspezifische Text-Bild-Verbindungen geprägt, sprechen die Stundenbücher nochmals ein breiteres Publikum an. Dabei bemühen sich Buchdrucker teilweise um eine Gestaltung der Stundenbücher, welche diese den handschriftlichen Werken möglichst ähnlich erscheinen läßt. Beispiele für gedruckte Stundenbücher, die den handschriftlichen ähneln, schaffen etwa Adriaen van Liesfelt (Horarium secundum usum Romanae curiae, mit Holzstöcken des Druckers Gerard Leeu, erschienen 1494 in Antwerpen) und Lucantonio Giunta (Officium Beatae Mariae Virginis secundum consuetudine romane curie, erschienen 1506 in Venedig). Seit dem späten 15. Jahrhundert verwenden die Buchdrucker Holzschnitte zur Ausstattung von Stundenbüchern. Damit werden größere Auflagen möglich. Aber auch die so entstehenden Exemplare werden gern noch auf individualisierte Weise behandelt, wobei man sich allerdings teilweise schematischer Illustrationsvorlagen bediente. Manchmal stellen die Stundenbücher die einzigen Bücher im Haushalt dar, und neben ihren im engeren Sinn frommen Zwecken dienen sie auch dazu, die Kinder im Lesen zu unterrichten. Darum enthalten manche eine Seite mit dem Alphabet. Bis zum späten 16. Jahrhundert verliert das Stundenbuch allmählich seine Bedeutung als Andachtsbuch. In England behielt jedoch der Primer seine Bedeutung, dessen Name sich vielleicht von der Prim ableitet: Er wird eingesetzt als ein Buch, das über alles mögliche informierte, was zum Wissen eines guten Christen gehört; er dient als Unterrichtsbuch für Kinder, vor allem zur Einführung in den christ­ lichen Glauben.30 Das Stundenbuch ist mehrfach semantisiert. Es steht seit seinen Anfängen in Beziehung zu praktischen Ausprägungsformen christlicher Spiritualität (wie Gebet und Meditation) und ist nach der Reformation dann konfessionell konnotiert; die Gegenreformation verschafft Stundenbüchern in den katholischen Ländern auch und gerade in der frühen Neuzeit anhaltende Beliebtheit, und so kommt es zur teils aufwendigen Ausstattung mit Druckgraphiken.31 Aber

29 Handgefertigte oder per Hand nachbearbeitete Stundenbücher sind Unikate, auch wenn ihre Textelemente einander ähnlich bleiben, weil sie zu weiten Teilen ja festliegen. 30 Überliefert ist u.  a. ein Primer von 1599: Primer, or Office of the Blessed Virgin Marie, lat.engl., Antwerpen. 31 Zum folgenden: Marion Janzin, Joachim Güntner: Das Buch vom Buch. 5000  Jahre Buch­ geschichte. Hannover ³2007: Gedruckter Buchschmuck wurde in Frankreich erst spät heimisch, weil die Buchmalerei auf so hohem Niveau praktiziert wurde. Jean Dupré und andere Drucker produzierten ab 1481 aber aufwendig geschmückte gedruckte Stundenbücher – nach dem Mo-



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Stundenbücher sind auch Objekte ästhetischen Genusses; sie werden bereits im Verlauf ihrer mittelalterlichen Geschichte nicht nur als Gebrauchsobjekte, sondern auch als Kunstwerke produziert, und dies setzt sich in die Frühe Neuzeit hinein fort.32 Zunächst besteht im Stundenbuch natürlich ein Primat des Wortes. Die Bilder sind verbalen Einheiten zugeordnet, die auf biblischen Texten und anderem, religiösem Schrifttum basieren. Aber es kommt zu einer Erweiterung und Bereicherung der Bildprogramme, die den Weg für die Genese eigenständiger malerischer Gattungen bahnt: im Bereich des Porträts, der Landschaftsdarstellung, der Darstellung von Vorgängen und Gegenständen. Von der mittelalterlichen Buchmalerei (die ja ohnehin quantitativ die dominierende und qualitativ eine besonders gewichtige mediale Form mittelalterlicher Malerei darstellt: Mittel­alterliche Malerei findet vor allem als Buchmalerei statt) gehen wichtige Impulse für die Malerei der Neuzeit aus. Die neuzeitliche Landschafts- und die neuzeitliche Porträtkunst werden im Mittelalter vorbereitet, und die Stundenbuchmalerei hat daran signifikanten Anteil. Analog Spektakuläres wie in der malerischen Ausgestaltung der Stundenbücher tut sich im Bereich der Texte kaum, dazu ist in zu hohem Maße festgelegt, was der Leser von diesen Texten erwarten kann.

dell der illustrierten Livres d’heures. Oft auf Pergament gedruckt, wiesen diese neben Illustra­ tionen auch Randleisten in Holz- und Metallschnitt auf. Diese Gebet- und Stundenbücher waren Luxusprodukte und fanden guten Absatz. Ihre Auflage war relativ hoch, und Paris wurde zu einem Zentrum für Gebetbuchproduktion (Ebd., S. 147). Wichtig waren die Druckereien von Antoine Vérard (ab 1485), Dupré und Philippe Pigouchet. Die Pariser Graveure setzten Vorbilder aus der Buchmalerei geschickt in Druckgraphiken um, und sie verwendeten die neuartige Ornamentik der Renaissance. Metallene Druckstöcke wurden um der größeren Feinheit der Abbildungen willen gern verwendet, obwohl sich das aufwendigere Verfahren gegenüber dem Holzschnitt insgesamt dann nicht durchsetzte. Pariser Druckereien bedienten sich dieser Metalldruckstöcke für Missal-Drucke und Stundenbücher aber noch bis ins 16. Jahrhundert (Ebd., S. 147). Das Zentrum des niederländischen Buchdrucks lag im 16. Jahrhundert in Antwerpen. Der zum Hofbuchdrucker ernannte Franzose Christoph Plantin produzierte Missale, Breviere und Stundenbücher von hoher Qualität (Ebd., S. 164). 32 Auch manche protestantische Fürsten sammelten Stundenbücher, wenngleich als papistische Objekte, aber doch in Anerkennung ihres künstlerischen Werts. Ein Beispiel bietet das von einem flämischen Maleratelier ausgestaltete Stundenbuch aus dem 16.  Jahrhundert, von dem nicht bekannt ist, für wen es geschaffen wurde, das aber später in den Besitz Herzog Augusts des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel gelangte und auch heute wieder zu den Beständen der Wolfenbütteler Bibliothek gehört. Herzog August sammelte solche (und andere) Bücher. Vgl. den Katalog: Härtel (Anm. 24). – Gerade Fürstengebetbücher wurden gern opulent ausgestattet; aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit sind verschiedene erhalten: das Gebetbuch Kaiser Ludwigs des Bayern († 1347), das Herzog Leopolds IV. von Österreich († 1411), das Kaiser Friedrichs II. († 1493) sowie die Gebetbücher Kaiser Maximilians I. († 1519).

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Unter dem Aspekt seiner Bedeutung für die Geschichte der Kunst und der ästhetischen Erfahrung ist gerade das Stundenbuch als Brücke vom Mittelalter zur Neuzeit beschreibbar, schon weil sich die Buchmalerei hier sukzessiv neuen Gegenstandsbereichen zuwendet. (Damit verbunden sind neue Funktionen der Kunst: die der Selbstdarstellung der kulturtragenden sozialen Schichten, die der Repräsentation ihrer Lebensformen. In einem Stundenbuch wie dem des Herzogs von Berry stellt sich vor allem die durchaus diesseitige Welt des Rezipienten selbst stilisiert, semantisch aufgeladen und ästhetisch verklärt dar. Im Spiegel der Kunst sieht sich der Besitzer selbst als Objekt künstlerischer Darstellung). Man wird wohl mit Blick auf die berühmtesten Stundenbücher sagen dürfen, daß die ästhetisch motivierte Freude am wertvollen Kunstobjekt und die Freude an der Darstellung der eigenen Welt im Buch sich erkennbar gegenüber der religiös-spirituellen Nutzungspraxis des Stundenbuchs emanzipiert. Umberto Eco hat die Très riches heures des Herzogs von Berry33 unter dieser Akzentuierung kommentiert.34 Als

33 »Dieser hochverfeinerte Mann hatte lüsterne, vergnügungssüchtige Augen, er hatte die Zerstreuung zu einer Kunst entwickelt. […] Es wird nicht respektlos sein, wenn wir uns vorstellen, daß der Duc de Berry im Zwielicht der Kirche die Bilder seines Buches so gierig verfolgte, wie wir heutzutage die Bilder im Fernsehen« So Umberto Eco über den Herzog von Berry. In: Raymond Cazelles, Johannes Rathofer: Das Stundenbuch des Herzogs von Berry/Les très riches heures. Mit einer Einführung von Umberto Eco, dt. von Burkhart Kroeber. Luzern o.  J., Einführung, S. 8–12, Zitat S. 10. 34 In Ecos Bemerkungen über das Stundenbuch des Herzogs von Berry – die das Buch mit Kino und Fernsehen und mit erzählenden Bildfolgen insgesamt analogisieren (vgl. ebd., S. 9 u. 10) – fließen auch Hinweise darauf ein, welche bildlichen Konkretisationen die Imaginationen der Künstler bereits in dieser noch dem Mittelalter zugerechneten Kunst erfuhren. Wie er sich für Monster und Fabelwesen in anderen Spielformen mittelalterlicher Malerei interessiert (siehe Il nome della rosa), so entdeckt er auch monströse Figuren in den scheinbar marginalen Zonen des berühmten Stundenbuchs: im Bereich der Initialen (Ebd., S. 9). Wie im Roman Il nome della rosa (1980) dient der Hinweis auf diese phantastischen Fabelwesen zur Plausibilisierung eines modernespezifischen Blicks auf Kunst: Kunst, so Ecos implizite These, wird zwar in den Dienst von Ideologien und Dogmen genommen (in diesem Fall: der christlichen Gedankenwelt), aber sie geht in dieser Funktion nicht auf, läßt sich nicht komplett disziplinieren. Wie die kleinen Monster, die der fiktive Buchmaler Adelmus von Otranto an den Rändern von Manuskripten anbringt (nach dem Eco wohlbekannten Muster realer mittelalterlicher Buchmalereien), so haben die monströsen Wesen, die sich im ansonsten einem ganz anderen Bildprogramm verpflichteten Stundenbuch des Herzogs von Berry tummeln, einen subversiven Zug. Für Eco ist es dabei wohl besonders interessant, daß Initialenmalereien dem Monströsen einen gern genutzten Spiel-Raum bieten. Denn für ihn ist Kunst – in der Malerei wie in der Literatur – gleichbedeutend mit der Etablierung und der Nutzung eines Spiel-Raums, einer antidogmatischen Freiheit der Gestaltung von Ungesehenem, Unerhörtem. Bachtins Karnevalsästhetik, von diesem selbst an der Literatur der frühen Neuzeit exemplifiziert, wird von dem Mediävisten Eco auf die mittelalterliche Kunst der Buch­ malerei zurückprojiziert – zugleich aber als wegweisend für die ästhetische Moderne verstanden.



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besonderer Verdienst der künstlerisch hochrangigen Stundenbuchmalerei  – etwa in den Très riches heures – ist die detaillierte Darstellung von Alltagsszenen gewürdigt worden, das reiche Informationsmaterial, das sich hier für eine Rekonstruktion des mittelalterlichen Denkens, der sozialen Verhältnisse, der Handwerke und anderer Berufspraktiken bietet. Zur empirischen Neugierde auf die irdische Welt, wie sie als neuzeitspezifisch interpretiert worden ist, bestehen hier zumindest Affinitäten. An der Schwelle zur Neuzeit befindet sich das Stundenbuch aber auch als ein Buch für Laien, vor allem für wohlhabende Bürger – und damit für die soziale Schicht, die zur maßgeblichen Trägerin der neuzeitlichen Kultur wird.

4 Moderne Stundenbücher Im 20. Jahrhundert wird an die verschiedenen Spielformen und Funktionen des Stundenbuchs in Mittelalter und Früher Neuzeit angeknüpft: So gibt es immer noch katholische Stundenbücher, die im Dienst religiös-meditativer Praktiken stehen. Dichtern und bildenden Künstlern bietet die Erinnerung an das Buchformat Stundenbuch vor allem immer wieder Anlaß, Formen der Text-Bildlichkeit auszuloten. So unterschiedlich die unter dem Titel Stundenbuch gestalteten Werke moderner Literatur und Kunst sind – sie konvergieren doch in einer (dem Genre Stundenbuch seit seinen Anfängen inhärenten) Tendenz zur Aufhebung der Grenze zwischen Wort und Bild. Rainer Maria Rilkes Stundenbuch (3 Teile, 1988–1903) ist zwar ein Gedichtzyklus und damit konkret-medial ein reines TextGebilde. Aber inhaltlich geht es doch um Malerei, und die Bilder des Maler-Mönchs sind in den Texten als aufgehoben zu denken: Rilkes Stundenbuch-Gedichte stehen in der Tradition des Bildgedichts und erinnern an dessen Anspruch einer Vergegenwärtigung von Bildlichem durch das evokative lyrische Wort. Frans Masereels Bildfolge Mein Stundenbuch (1920) erzählt eine Geschichte (und wendet sich bereits dadurch implizit gegen eine konventionelle Differenzierung von dichterischer Zeit-Kunst und bildnerischer Darstellung von Augenblicken).35 Sie übernimmt als Bild-Erzählung eine Funktion, die konventionellerweise Texte erfüllen. Masereels Bildgeschichte ist in ihrer konsequenten Wortlosigkeit zwar noch bildlastiger als der Comic, als dessen Vorläufer sie

35 Zu Masereels Stundenbuch vgl. Thomas Mann: Vorwort zu Masereels ›Stundenbuch‹. In: Thomas Mann: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a.  M. 1960, S.  660–673. Mann würdigt Masereel, den Holzschneider, hier als Fortsetzer einer mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tradition, vgl.  S. 663. – Sowie Thomas Mann: Vorwort [zu Frans Masereel: ›Jeunesse‹]. In: Thomas Mann: Essays VI (1945–1950). Frankfurt a.  M. 2009, S. 281–288.

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manchmal gedeutet wird; gleichwohl besitzt sie doch auch wieder Anschlußstellen an die Sphäre des Verbalen, beim Titel beginnend – und vor allem mit Blick auf die prägenden Metaphern und Symbole. Sonne, Stadt, Wald, Gerippe und andere Bildmotive stehen in einer bildsprachlichen Tradition, die von der Literatur und von der bildenden Kunst gemeinsam getragen wird. Eugen Gomringers stundenbuch (1977) ist eine Sequenz konkreter Gedichte (die Gomringer selbst auch als Konstellationen charakterisiert). Gomringer möchte das Changieren seiner Textgebilde zwischen Sprachlichem und Bild­ lichem für die meditative Auseinandersetzung mit ihnen fruchtbar machen: Denn als Texte, die zugleich Bilder sind, stimulieren diese Texte – den Prämissen ihres Verfassers zufolge – dazu, sie nicht einfach durchzulesen, sondern sich in sie zu vertiefen, zu Leseweisen und Denkspielen anregen zu lassen. Wichtig ist insbesondere das Strukturprinzip der variierenden Wiederholung. Es akzentuiert die Idee des Zyklischen und unterstreicht den nicht-mitteilenden Grundzug dieser Texte. Als Text-Bilder entsprechen die stundenbuch-Texte weder dem Konzept des bewegungslosen, momentgebundenen Bildes noch dem des auf Verlauf hin angelegten Wortes: Sie sind in mehrfachem Sinn Texte, in denen die Zeit aufgehoben erscheint. Die Wahl des Titels stundenbuch suggeriert nicht zuletzt, daß das Stundenbuch-Format einer solchen Aufhebung der Zeit besonders gut disponiert ist – und transportiert so eine implizite These über Stundenbücher insgesamt.36 Gomringers zur Meditation einladendes Stundenbuch ist insbesondere zu lesen vor dem Hintergrund einer Zeitwahrnehmung, die durch den Eindruck permanenter Beschleunigung geprägt wird. Und es suggeriert, daß es des meditierenden Blickens auf Wörter bedarf, um die Zeit zu entschleunigen. Peter Malutzkis rezentes Stundenbuch ist als multimedial gestaltetes Künstlerbuch eine Hommage an das Stundenbuch, insofern es zu den Vorformen moderner Buchgestaltungskunst gehört.37 Bei Malutzki fungieren bestimmte

36 Wilhelm Gössmann erinnert in einer Einleitung zu Gomringers Textzyklus stundenbuch an die Gattung der Andachtsbücher, und er sieht die Texte in der doppelten Tradition der modernen Lyrik und der Andachtslektüre, als deren Gemeinsamkeit er eine Tendenz zur Verdichtung und Konzentration begreift – ganz im Sinne Gomringers (Wilhelm Gössmann: Nachwort. In: Eugen Gomringer: konstellationen. ideogramme. stundenbuch. Stuttgart 1977, S.  103). Mit Blick auf Schreib- und Leseprozesse könne man von meditativen Konstellationen sprechen; auch assoziiert er die alte sakrale Form des litaneihaften Sprechens. Allerdings legt er doch Wert auf eine Abgrenzung zur christlichen Kunst und widerspricht einer Deutung des stundenbuchs als geistliche Dichtung (Ebd.). Ihr meditativer Charakter begründe eine Affinität zu verschiedenen spirituellen Welten, auch zu der des Zen-Buddhismus. Konstitutiv für den Textzyklus sei vor allem seine Beziehung zur Zeit, die Gomringer in Kenntnis der klösterlichen Tradition intendiert habe. 37 Peter Malutzki: Stundenbuch. (Künstlerbuch) Flörsheim/M. 2010. Vorlage war ein Werk des frühen 16. Jahrhunderts, eine Handschrift aus der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: das



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Bildmotive – insbesondere der Davidsstern – als Anlässe der Erinnerung und der Besinnung auf Historisches; das Stundenbuch wird im doppelten Sinn säkularisiert, knüpft aber dennoch an das Format des Meditationsbuches an. So unterschiedlich diese modernen Stundenbücher auch gestaltet sind – auf jeweils spezifische Weise akzentuieren sie die Bedeutung des Formats Stundenbuch für eine reflexive Auseinandersetzung mit Zeit und Zeitlichkeit. Rilke stellt sein Stundenbuch ins Zeichen der ästhetisch-zitathaften Evokation einer vergangenen, vor-modernen Zeit – und dies letztlich, um einer zerrissenen, metaphysisch haltlosen und orientierungslosen Moderne ihr Gegenbild vorzuhalten. Masereel gestaltet einen ausnehmend zeitgenössischen Stoff, akzentuiert durch das Ende, welches er seinen Protagonisten nehmen läßt, allerdings auch, daß die lineare, im Zeichen von Dynamik und Innovation stehende Lebenszeit des Großstadtmenschen in eine sie umgreifende natürlich-zyklische Zeitordnung eingebettet ist. Reminiszenzen an die Bildtradition des Totentanzes verstärken diese Suggestion einer anderen Zeitstruktur. Gomringer verordnet dem Leser in einer als sukzessiv beschleunigt erfahrenen Gegenwartszeit meditative Verlangsamung und bietet das Text-Bild als Anlaß solch meditativer Übungen an. Und Peter Malutzki lädt den Betrachter ein, sich in die historische Semantik der verwendeten Text- und Bildmaterialien zu vertiefen. Gerade weil sie den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stundenbüchern oberflächlich unähnlich sind, lenken jüngere Stundenbücher die Aufmerksamkeit auf das, was sie jenseits dieser Oberfläche mit den traditionellen Stundenbüchern verbindet: die reflexive Auseinandersetzung mit einer Zeit, die sich im Raum des Buchs veranschaulicht findet. Das Stundenbuch ist zudem ein visuelles (text-bildliches) Modell einer mehrfach geschichteten Zeitlichkeit. Denn es gliedert den Tagesverlauf ja – wie ausgeführt – in Stunden, die der säkularen Welt und der Alltagsarbeit gehören, und solche, die dem Gebet und der Meditation gehören: in zwei Sorten von Zeit also. Hier die Zeit des zweckgerichteten, rationalen Handelns, mit der ökonomisch umgegangen werden muß, dort die Zeit der Hinwendung zur Ewigkeit und der Meditation. Die Vorstellung einer Überlagerung differenter Zeiten (Dimensionen von Zeitlichkeit), in der Moderne ausgeweitet zum Modell der Polychronie, bleibt für das Verständnis von Zeitlichkeit bedeutsam, auch nachdem die christlich interpretierte Heilszeit (performativ vergegenwärtigt und repräsentiert in den Phasen des Gebets) an Signifikanz verloren hat. An deren Stelle tritt unter neuzeitlichen Verhältnissen etwa die Zeit der Selbstsorge (insofern diese über die Verfolgung praktischer Belange hinausgeht), die Zeit der Reflexion, d.  h. der refle-

Stundenbuch Herzog Augusts des Jüngeren. Das Format ist doppelt so groß wie das der Vorlage. Die Texte sind handgesetzt, die Vergoldungen mit Blattgold ausgeführt.

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xiven Distanz zur Welt mit ihren konkret-praktischen Zwängen und Forderungen, die Zeit des Genusses, die Zeit des ästhetischen Erlebens. In ihrer Abstraktheit, ihrem teilweise elementar wirkenden Notationscharakter erinnern manche künstlerisch gestaltet Stunden- und Zeitbücher der Moderne an die phylogenetischen Anfänge und die ontogenetischen Ursprünge kalendarischer Notation. Und damit gemahnen sie an die Anfänge der Zeit, die es für den Menschen nur insofern gibt, als er sie gliedert, rhythmisiert, skandiert – was wiederum an Notationsverfahren gebunden ist. Hanne Darboven spezialisiert sich vor allem darauf, größere Zeitintervalle durch regelmäßige, einem bestimmten System unterworfene Notationsverfahren in Buchform sinnfällig zu machen.38 Sie stellt eine homogenisierte, abstrakte Zeit dar – jene quantifizierbare und berechenbare Zeit, wie sie in der Frühen Neuzeit konzeptualisiert und zur Grundlage rationaler Verfügung über die Lebenszeit gemacht wird. Ihre Notationsverfahren sind auf eine ostentative Weise selbsterfunden und insofern doch auch wieder individuell; sie wechseln und demonstrieren dadurch ihre Bindung an den zeitmessenden Menschen. Je nachdem, wie Zeit notiert wird, ergeben sich andere Zeit-Bilder. Gerade die Schematik und die Konsequenz, mit der Darboven Zeit in Büchern zur Anschauung bringt, unterstreicht die Kontingenz des gewählten Verfahrens. Welche Bilder der Zeit wir uns machen, ist dabei entscheidend dafür, wie Zeit erlebt wird.39

38 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Werke: Hanne Darboven: R.  M.Rilke  – Das Stundenbuch. Leo Castelli, Feb. 1. 1957 – Feb. 1. 1987 NYC. 1500 num. Ex., 64 Seiten, 32 Farbtafeln Offsetdruck. München 1987. – Hanne Darboven: Die Stundenbücher. 1 Exemplar. 80 Bände, 4.80 Blätter, Pergamentpapier, eingeklebte Photographie, Klebebindung, eingelegte Zwischenpappen, schwarze und rote Leineneinbände, Etiketten auf Buchdeckeln und –rücken. 1990–1993. – Hanne Darboven: Stundenbuch. 160 Seiten, grüner Leinenrücken, schwarzmarmorierter Pappdeckel, Etikett auf Deckel, roter und schwarzer Stift. 1991. 39 Darbovens Zeit-Bücher bieten u.  a. Sequenzen von Zahlen, ausgeschrieben in Wörtern, an den Zeilengrenzen ohne Rücksicht auf Teilungsregeln getrennt. Bestandteil der Darstellung von Zeit sind insbesondere auf den ersten Blick rätselhafte, aber systematische Berechnungen, ausgehend von den Datenangaben; Darboven entwickelt ein eigenes Verfahren systematischer Additionen der Zahlzeichen, die dann zu Werten führen, mit denen die Tage bezeichnet werden. Die zu Kalenderdaten gehörigen Ziffern werden jeweils zur Quersumme addiert, und daraus resultieren zum einen Expansions-, zum anderen Reduktionsprozesse (vgl. Elke Bippus, Ortrud Westheider: Hanne Darboven: Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln 2002, S.  12). 1968–77 New York präsentiert das in New York entwickelte Darstellungsverfahren von Zeit. 1971 wird Ein Jahrhundert 1970–1971 ausgestellt: Aktenordner stehen in Holzregalen; in den Ordnern finden sich Blätter, die das Darbovensche System der Zeitdarstellung repräsentieren. Die Dauer der Ausstellung entsprach dem Titel des Projekts: ein Jahr; die Ordner wurden sukzessiv in die Galerie gebracht. Regale, Ordner und Tische erlaubten aber auch die Konsultation der Darstellungen bereits vergangener Daten. Darboven setzt verschiedene Formen des Buchs ein. Die Stun-



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Barbara und Gabriele ­Schmidt-Heins teilen mit Darboven das Interesse am Format des Buchs als einem Dispositiv zur Anschaulichmachung von Zeitlichkeit.40 Dabei spielen Wiederholungsstrukturen eine tragende Rolle. Die von ­ chmidt-Heins geschaffenen Stundenbücher akzentuieren insden Schwestern S besondere die quantitativ geringfügige, qualitativ aber signifikante Diskrepanz zwischen mechanisch-gleichmäßiger Uhren-Zeit und menschlichem Zeitempfinden.41 Erinnert wird so an die Spannung zwischen abstrakter Zeit und (persönlich) gestalteter Zeit, aber auch an die Differenz zwischen der Zeit der Uhren und der natürlicher Rhythmen (wie der Gezeiten).42 An der Art, wie hier Zeitliches visualisiert und materialisiert wird, haben individuelle körperliche Gesten, individuelles Zeitgefühl, körpergebundene Gestik sowie zufällige Parameter Anteil. Das stundenbuch von Gabriele ­Schmidt-Heins enthält pro bedruckter Seite fünf Zeilen mit jeweils etwa 60 senkrechten gleichförmigen Strichen, die jeweils im (gefühlten) Sekundentakt gezogen wurden und insofern eine (gefühlte) Minute repräsentieren. Unter den Zeilen steht, wie lange die Künstlerin wirklich gebraucht hat, um die Striche zu ziehen; die Abweichung von der genauen Dauer von fünf Minuten macht den subjektiven Anteil des Zeiterlebens aus. Die Striche, Markierungen der (Sekunden als) Zeiteinheiten erinnern an jene einfachen Striche, die sich bei Leroi-Gourhan abgebildet finden – als mutmaßlich atavistische Form des Kalenders, der die Zeit skandiert. In 18. September 2007 von Barbara ­Schmidt-Heins findet sich auf jeder bedruckten Buchseite jeweils eine Stunde von 24 Stunden eines Tages dargestellt – und zwar durch sechs mal zehn Benennungen der Minuten dieser Stunde. An einer Stelle (10.33) ist die Minutenangabe markiert, und auf der Seite aufgeklebt ist ein eingeklebter Kommentar: »bis zu diesem Zeitpunkt ist alles Vergangenheit / von diesem Zeitpunkt an ist

denbücher, 1990–1993, basieren – wie auch andere Arbeiten – auf zu Büchern mit Leineneinband gebundenen Schreibheften. Eine Gruppe gestalterisch ähnlicher Objekte bilden die Kalenderbücher (Existenz, 1966–1999, Diaries, 1990–1999, Wochenaufzeichnungen, 1993–1996). Das für Leo Castelli gestaltete Stundenbuch verwendet zitierend Rilkes Stundenbuch und betont so seinen Meta-Stundenbuch-Charakter, der sich hier gleichsam potenziert. 40 Vgl. Barbara ­Schmidt-Heins, Gabriele ­Schmidt-Heins: Buchwerke. Stichworte zu unserer Arbeit. [Bemerkungen über ihre Bücher und Buch-Installationen]. In: Overbeck-Gesellschaft Lübeck (Hg.): Das Buch als Kunstobjekt. Lübeck 17. Juni – 12. August 1979. 41 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Werke: Gabriele ­Schmidt-Heins: Stundenbuch. 120 Ex., 27 Seiten, Hamburg ca. 1980. – Barbara S ­ chmidt-Heins: Gezeiten. 150 Ex., 30 Seiten, Hamburg 1981. – Barbara ­Schmidt-Heins: Gedenkminute für die Zeit. 200 Ex., o.  O. 1980. 42 Die Sequenz von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Jahren bildet seit Einführung der exakt die Zeit einteilenden Uhr ein abstraktes Gerüst. Dessen Darstellung bzw. Ausfüllung kann im Zeichen der Subjektivierung stehen. So erfolgt z.  B. eine Aneignung der Zeit durch SchreibGesten, indem die Einteilung der Zeit gestisch nachvollzogen wird.

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alles Zukunft«. Die Wiedergabe der schematischen Uhrenzeit steht in Spannung zu dieser Markierung, die offenbar subjektiv motiviert, kontingent und rätselhaft ist. Diese und andere Zeit-Bücher von Barbara und Gabriele ­Schmidt-Heins (u.  a. eine Gedenk-Minute für die Zeit von Barbara ­Schmidt-Heins) basieren auf der konsequenten Verwendung konventioneller Darstellungsformen der Uhren-Zeit, wie sie das menschliche Leben seit der Frühen Neuzeit bestimmt – sie beziehen ihre Bedeutungspotenziale also durchaus aus kulturhistorischen Reminiszenzen. Zugleich wird der Konflikt zwischen neuzeitlicher Uhren-Zeit und subjektivem Zeitempfinden durch punktuelle und minimalistische Ergänzungen der UhrenZeit-Darstellung visualisiert. Sarah McKillops 1 Day Diary43 reduziert das Bildliche auf das immer wiederkehrende Logo einer Uhr. Ihr Büchlein ähnelt einem Taschenkalender und scheint dazu zu motivieren, die Lebenszeit eines Tages in seine Spalten einzutragen. Was das Pocket Size 1 Day Diary von einem konventionellen Taschenkalender unterscheidet, ist die Wandelbarkeit der Seitengestaltung: Verschiedene Gestaltungsoptionen eines Kalenders lösen einander ab. Wiederum entsteht dadurch ein reflexiver Zug: Das kleine Diary ist kein Tage-Buch, sondern ein Meta-Tagebuch  – Reflexion über die Beziehung (und d.  h.: die Spannung) zwischen normiertem Kalender und der Möglichkeit subjektiver Einträge in ein Kalendarium. Fast wortlos macht es Zeit sinnfällig. Übrigens ist es selbst nicht datiert. Einen ganz spezifisch akzentuierten meditativen Charakter hat auch Miranda Mahers Book of Hours.44 Hier geht es allerdings nicht darum, sich meditierend der Transzendenz zuzuwenden, sondern auf bewußt provokante Weise wird Diesseitiges zum Gegenstand des Verweises: Die Gewalt, die unablässig, im Fünfminutentakt, gegen Frauen ausgeübt wird. Auch hier geht es, anders gesagt, um die Diskrepanz zwischen gemessener, quantifizierter, statistisch verwertbarer Zeit – und subjektiver, erlebter Zeit.45

43 Sara McKillop: 1 Day Diary. Pocket Size. A project by Sara McKillop.  o.  O., o.  J. (erschienen 2011). 44 Miranda Maher: Redbook. A Book of Hours. New York 1992. 45 Maher hybridisiert für ihr Book of Hours mehrere Texttypen: Das Stundenbuch als einen Buchtypus, der den Ablauf von Zeit darstellt (1), einen Kalender (2), eine Verbrechensstatistik über Vergewaltigungen, derzufolge alle 5  Minuten eine Frau vergewaltigt wird (3), sowie ein alphabetisches Verzeichnis von Frauennamen (4). In Monats-Abschnitte eingeteilt und hier wiederum nach einander folgenden Tagen gegliedert, besteht das Stundenbuch aus Listen von Einträgen mit Zeitangaben im Fünfminutentakt. Vor den einzelnen Zeitangaben steht jeweils ein Frauenname; die Sequenz der Frauennamen entstammt der alphabetischen Namensliste. Wenn das Verzeichnis einmal ganz verwendet wurde, wird wieder von vorn angefangen (nicht immer beim selben Namen. (»January 1 / Abbey 12:00 am / Abigail 12:05 am …«). Das Vorwort thematisiert Statistik als eine Form der Darstellung von Zeit, welche den Schrecken abstrahiere



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Zu registrieren ist bei den genannten Beispielen eine Tendenz zum Verzicht auf Abbildlichkeit. Wo Schrift selbst als Schrift-Bild, als Medium von Ikonotexten aufgefaßt wird, ist dies durchaus konsequent – und es scheint, daß gerade die moderne Fortsetzung der Stundenbuch-Tradition diese Ostension von Schriftbildlichkeit konsequent betreibt. Die enge Wechselbeziehung zwischen graphischen Bildern der Zeit und den in ihnen artikulierten Modellen und Erfahrungsmodi von Zeit wird dadurch implizit betont. Zeit ist das, als was sie ins Bild gesetzt wird. Insofern die älteren Stundenbücher aber eben nicht nur Abbilder boten, sondern auch Kalendarien, Namenslisten, Datensequenzen und andere Formen skripturaler Zeitdarstellung, bieten gerade sie einer Kunst, deren Bild-Begriff sich gewandelt hat, naheliegende Anknüpfungsmöglichkeiten. So erinnern moderne Stundenbücher daran, daß die Zeit selbst eine Geschichte hat: die ihrer Notationspraktiken, die ihrer Kalender und die der an diese anschließenden Modellierungen. Als Reflexionen über den Entwurf von Zeitlichkeit durch Praktiken der Zeitdarstellung nehmen sie vor allem implizit, aber deutlich Bezug auf die frühneuzeitlichen Verschiebungen in der Formung und Interpretation von Zeit. Gerade die Frühe Neuzeit, so ließe sich bilanzieren, hat eine wichtige Scharnierfunktion zwischen modernem Künstler-Stundenbuch und dem im Mittelalter entstandenen Buchtypus, von dem es seinen Namen übernimmt. Denn hier werden die Konsequenzen jenes Prozesses manifest, den das Stundenbuch vorzubereiten hilft und der die Zeiterfahrung sowie das Selbstverständnis der Moderne prägt: Der Konstitution meßbarer, berechenbarer Uhrenzeit und der Verschärfung eines Bewußtseins für die Diskrepanz von Zeit­ ordnungen, das schließlich in modernen Konzepten von Polychronie mündet. Letztlich sind die modernen Stundenbücher dadurch, daß sie sich Stundenbücher nennen und damit ein altes Format zitieren, per se Meta-Stundenbücher; Meta-Stundenbücher sind sie darüber hinaus aber insbesondere als Zeugnisse der Reflexion über Verfahren im Buch veranschaulichter Temporalität. In dieser Eigenschaft sind sie zugleich Reflexionen über das Buch: das Buch als sequen­ zielles Format, das durchschritten werden kann und dabei Zeitlichkeit erfahrbar werden läßt – aber auch das Buch als Intermedium, das die Möglichkeit bietet, Schrift und Bild zu schrift-bildlichen Arrangements zu fügen und damit zum Verweilen, zur Entschleunigung, zur Meditation über ästhetische Konfigurationen einzuladen, in denen die Zeit aufgehoben ist.

und neutralisiere. Eine Einführung erinnert an die Form des christlichen Stundenbuchs. Zu den Stundenzyklus-Angaben werden jeweils Erläuterungen gesetzt, die sich auf die moderne Tageszeiteinteilung beziehen.

Joachim Hamm

Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus (Straßburg 1502) 1 Paratextualität um 1500: eine mediengeschichtliche Annäherung Im Jahr 2008 erschien ein Tagungsband, der sich mit der »Pluralisierung des Paratextes« in der Frühen Neuzeit auseinandersetzt.1 Gegenstand ist das von Gérard Genette sogenannte »Beiwerk zum Buch«, all das also, was in einem gedruckten Buch dem Kerntext beigegeben ist, um Aufmerksamkeit und Verständnis des Lesers zu lenken und die literarische Kommunikation zu steuern.2 Im frühneuzeitlichen Buch gehören hierzu etwa Titelblatt und Kolophon, Rahmentexte wie Widmungen, Vorreden und Nachworte, Hilfen zur Texterschließung wie Verzeichnisse oder Register, Layoutelemente wie Kolumnentitel, Kapitelüberschriften oder typographische Auszeichnungen, zudem alle Formen der Texterläuterung wie Glossen, Anmerkungen und Kommentare. Solche Paratexte sind keine Erfindung des Druckzeitalters, sondern vielmehr schon der antiken und mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung eigen. Doch mit dem frühneuzeitlichen Medienwechsel zum gedruckten Buch erlebt der Paratext einen wahren Boom, es kommt zu einer Vervielfachung und Ausfächerung paratextueller Formen und Funktionen: Neues Beiwerk wie das Titelblatt entsteht, und gleichzeitig differenzieren sich traditionelle Elemente wie Widmung, Vorrede oder Register typologisch und funktional aus. Im Zuge dieses Prozesses entstehen jene für die frühe Neuzeit so charakteristische Vielfalt und Allgegenwart des Beiwerks zum Buch, dessen kommunikatives Potential nunmehr voll entfaltet und ausgeschöpft wird. Die Frühe Neuzeit, so Frieder von Ammon und Herfried Vögel, könne insofern als erste eigentliche Epoche des Paratextes gelten, und seine Pluralisierung als ihre markante Epochensignatur.

1 Vgl. Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität; 15), hier S. VII–XIX. 2 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.  M. 1989 (stw; 1510). DOI 10.1515/9783110521788-012



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Wenn ich im Folgenden an diesen Diskurs anknüpfe, so geht es mir um mediengeschichtliche Aspekte frühneuzeitlicher Paratextualität, die in der gegenwärtigen Diskussion bisweilen zu wenig berücksichtigt werden.3 Mein Ansatzpunkt ist zunächst der Produktionsort von Paratexten, die Druckeroffizin also, die in der Frühen Neuzeit bisweilen mehr als nur ein Handwerksbetrieb war. In den größeren Druckerwerkstätten wurde ein Manuskript in einem mehrstufigen Prozess zum Buch, an dem neben Autor bzw. Herausgeber auch der Verleger und diverse Mitarbeiter der Offizin beteiligt waren. Insbesondere die oft hochgebildeten correctores fügten, wie dies Jürgen Schulz-Grobert und zuletzt Anthony Grafton eindrucksvoll gezeigt haben,4 einem Text Kapitelüberschriften, Kolumnentiteln sowie Widmungs- und Empfehlungsschreiben hinzu, wirkten an Konzeption und Herstellung der Holzschnitte mit und griffen nicht nur verbessernd in den Text ein, sondern waren auch als Übersetzer, Kommentatoren und Herausgeber eigenständig tätig. Zahlreiche Humanisten der ersten Garde arbeiteten zumindest zeitweise als corrector, und nicht wenigen correctores ist eine Autorschaft zuzugestehen, die sich von der des Werkverfassers nur noch graduell unterscheidet. Dass eine frühneuzeitliche Offizin insofern eine literaturorganisierende und literaturproduzierende Institution, ja der Mittelpunkt intellektueller Netzwerke oder gar eine »Gelehrtenakademie« sein konnte,5 dankt sich auch

3 Abgesehen von Bettina Wagners wichtigem Beitrag (An der Wiege des Paratexts. Formen der Kommunikation zwischen Druckern, Herausgebern und Lesern im 15. Jahrhundert. In: Ammon, Vögel [Anm. 1], S. 133–155) bleibt die buchgeschichtliche Seite des Paratextes im erwähnten Tagungsband weitgehend unberücksichtigt. 4 Vgl. Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung. Tübingen 1999 (Hermaea; 83) und jetzt Anthony Grafton: The Culture of Correction in Renaissance Europe. London 2011. Zum frühneuzeitlichen corrector vgl. zudem Paul Boesch: Julius Terentianus, Factotum des Petrus Martyr Vermilius und Korrektor der Offizin Froschauer. In: Zwingliana 8 (1948), S. 587–601; Heinrich Grimm: Von dem Aufkommen eines eigenen Berufszweiges Korrektor und seinem Berufsbild im Buchdruck des XVI. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 39 (1964), S. 185–190; Oskar von Hase: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebes in der Zeit des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit. 3. Aufl. Amsterdam, Wiesbaden 1967, S. 55, 82  f.; Jürgen Geiß: Herausgeber, Korrektor, Verlagslektor? Sebastian Brant und die Basler Petrarca-Ausgabe von 1496. In: Wilhelmi (Anm. 10), S. 83–102. 5 So Hase (Anm. 4), S. 29 mit Blick auf die Offizinen des Aldus und Stephanus; Schulz-Grobert (Anm. 4) hat dies am Beispiel des Straßburger Druckers Johannes Grüninger gezeigt. Die Bedeutung der Offizinen wurde auf der Tagung Buchkulturen des deutschen Humanismus (1430–1530). Netzwerke und Kristallisationspunkte (Berlin 2011) gewürdigt und ist Gegenstand des von Elsa Kammerer und Jan-Dirk Müller geleiteten Projekts Dynamik der Volkssprachigkeit im Europa der Renaissance. Akteure und Orte, das Austauschprozesse zwischen Latein und den Volkssprachen analysiert und sich hierzu Offizinen, Höfen und berufsspezifischen Netzwerken zuwendet. Die

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dem Umstand, dass so mancher frühneuzeitliche Autor versuchte, die Kontrolle über Text u n d Paratext zu behalten, indem er mit der Offizin kooperierte, die buchgestalterische Einrichtung seines Textes anleitete, seine Bebilderung selbst konzipierte und die Drucklegung überwachte. Im Verlauf des arbeitsteiligen Prozesses, in dem ein Manuskript zum Buch wurde, kam es immer wieder zu einer solchen Werkgemeinschaft, die bis vor den Setzkasten andauern konnte. Hierzu tritt ein zweites Anliegen, das Genettes Paratextkonzept betrifft. Ich will nicht auf die lauter gewordene Kritik an der typologischen Starrheit von Genettes Taxonomie eingehen, an ihrer nicht unproblematischen Subsumierung verschiedener Zeichensysteme unter den Paratextbegriff, an der doch prekären Grenzziehung zwischen Text und Paratext oder an der präsupponierten Eigenschaft des Paratextes, stets der Absicht des Autors zu entsprechen und insofern nur nachgeordnet-subsidiär, jedenfalls affirmativ zu sein.6 Mein Interesse ist vielmehr auch hier ein historisches. Dass Paratextualität sich auch und gerade in ihren frühen Erscheinungsformen komplex und vielschichtig erweist, zeigt der erwähnte Tagungsband. Der Paratext kann seinen Bezugstext relativieren, ironi-

Verbindung von Humanismus und Buchdruck untersuchte das Interreg-IV-Projekt Humanistisches Erbe am Oberrhein (2011–2014). 6 Zur neueren Kritik und Vertiefung des Paratextbegriffs vgl. u.  a. Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen Barock und Aufklärung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 25 (1995), S.  94–118; Horst Zander: Non enim adjectio haec ejus, sed opus ipsum est. Überlegungen zum Paratext in Tristram Shandy. In: Poetica 28 (1996), S. 132–153; Jacques Dugast: Parerga und Paratexte. Eine Ästhetik des Beiwerks. In: Gérard Raulet, Burghart ­Schmidt (Hgg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments. Wien 2001, S. 101–110; Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek (Hgg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin 2004; Uwe Wirth: Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart, Weimar 2004, S. 603–628; Remigius Bunia: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen Erzähler und Paratext, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E.  T. A. Hoffmann. In: Poetica 37 (2005), S. 373–392; Bernhard Pabst: Text und Paratext als Sinneinheit? Lehrhafte Dichtungen des Mittelalters und ihre Glossierung. In: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 117–145; Christoph Jürgensen: »Der Rahmen arbeitet«. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen 2007; Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Berlin, New York 2010, S. 157–202; Christel Meier: Typen der Text-Bild-Lektüre. Paratextuelle Introduktion, Textgliederung, diskursive und repräsentierende Illustration, bildliche Kommentierung, diagrammatische Synthesen. In: Lutz (Anm.  8), S.  157–181. Nach Abschluss meines Manusktipts (2014) erschienen und im Folgenden nicht mehr berücksichtigt ist Philip Ajouri, Ursula Kundert, Carsten Rohde (Hgg.): Rahmungen. Präsentationsformen und Kanoneffekte, Berlin 2017 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie). Frau Christine Grundig (Würzburg) bereitet eine Dissertation vor, die sich mit Paratextualität und Autorschaft im ›Narrenschiff‹ und seinen frühen Bearbeitungen beschäftigt.



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sieren oder gar destruieren, seine poetologische Faktur offenlegen oder über so zentrale Kategorien wie Fiktionalität, Autorität und Autorschaft Auskunft geben. Nicht selten gewinnt das Beiwerk eine solche ästhetische, explikative oder poetologisch-metapoetische Eigenständigkeit, dass Genettes Hierarchisierung von Text und subsidiärem Paratext ins Wanken gerät: Gerade in der paratextuellen Zone, am vermeintlichen Rand des Textes, ereignet sich doch immer wieder Entscheidendes. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass gerade im späten 15. und 16. Jahrhundert das Beiwerk zum Buch nicht nur aus Paratexten, sondern auch aus Bildern bestand. In der Frühdruckzeit war nicht nur für volksprachige Texte das Format des »Bildbuchs« sehr verbreitet, das sich durch ein aufwendiges BildText-Layout auszeichnet und heute zu den Vorgängern der Emblematik gerechnet wird.7 Die Bimedialität in zahlreichen Frühdrucken ist mit Genettes Paratextmodell (auch wenn dieses den Bildern einen »paratextuellen Wert« zugesteht) nicht angemessen zu erfassen, sondern empfiehlt sich der historischen Intermedialitätsforschung: Wenn in Bildbüchern, um mit Irina Rajewski zu sprechen,8 zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien kombiniert werden, 7 Vgl. Joachim Knape: Mnemonik, Bildbuch und Emblematik im Zeitalter Sebastian Brants (Brant, Schwarzenberg, Alciati). In: Werner Bies, Hermann Jung (Hgg.): Mnemosyne. Festschrift Manfred Lurker. Baden-Baden 1988, S. 133–178. Neuere Studien vermuten in den volkssprachigen Bildbüchern eine Protoemblematik, vgl. Seraina Plotke: Emblematik vor der Emblematik. Der frühe Buchdruck als Experimentierfeld der Text-Bild-Beziehungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 127–142 und jetzt Karl A.  E. Enenkel: Illustrations as Commentary and Reader’s Guidance. The Transformation of Cicero’s De officiis into a German Emblem Book by Johann of Schwarzenberg, Heinrich Steiner, and Christian Egenolff (1517–1520; 1530/1531; 1550). In: K.  E. (Hg.): Transformations of the Classics via Early Modern Commentaries. Leiden, Boston 2014 (Intersections; 29), S. 167–259. 8 Irina Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002 (UTB; 2261), S. 1–27. Nicht in den Blick kommen in dieser Einführung historische Konzepte von Intermedialität, die doch schon immer Gegenstand eines breiten (mediävistischen) Forschungsdiskurses sind. Zur geschichtlichen Dimension vgl. Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014 und u.  a. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Ulrich Schmitz, Horst Wenzel (Hgg.): Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Tübingen 2003; Horst Wenzel, C. Stephen Jaeger (Hgg.): Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen; 195); Michael Curschmann: Wort–Bild–Text. Studien zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit. 2 Bde. Baden-Baden 2007; Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr, Barbara Nitsche (Hgg.): Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2007 (Tholos – Kunsthistorische Studien; 2); Karin Krause, Barbara Schellewald (Hgg.): Bild und Text im Mittelalter. Köln 2011; Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter (Hgg.): Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Zürich 2010 (Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen; 11).

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die jeweils auf eigene, medienspezifische Weise zur Bedeutungskonstitution des Gesamtprodukts beitragen, so bleibt zu fragen, wie diese mediale Addition oder Verschränkung organisiert ist, inwieweit sie als Prozess erfahrbar wird, welche Formen und Funktion sie erkennen lässt, inwieweit medial unterschiedliche Formen der Bedeutungskonstitution zu beobachten sind und inwieweit die Medienkombination eine agonale Komponente, eine mediale Dominanzbildung aufweist. Gerade die Schwellenzeit um 1500 verspricht hier Aufschlüsse, war sie doch nicht nur eine Blütezeit des Paratextes, sondern zugleich eine höchst interessante Phase medialer Experimente.9 Um dieses Experimentieren mit den paratextuellen Möglichkeiten und intermedialen Potentialen des Bildbuches zu beschreiben, nehme ich zwei Schlüsselfiguren der oberrheinischen Mediengeschichte um 1500 in den Blick: den Humanisten Sebastian Brant und den Straßburger Drucker Johannes Grüninger. Dass Brants Bildbücher als komplexe Layout-Ensembles textuelle, bildliche und typographische Einzelelemente umfassen und zueinander in Beziehung setzen, dass gerade die hierbei auftretenden Interferenzen zwischen Bild und Text entscheidend zur Sinnvermittlung beitragen, dass das Experimentieren mit diesen Formen von Intermedialität Anlässe und Freiräume zur Ausstellung und Inszenierung von Autorschaft öffnet und dass all dies doch weit über Genette hinausgeht – dies will ich an einer bebilderten Klassikerausgabe erläutern, die Brant bei Grüninger publizierte.

2 Sebastian Brant, Johannes Grüninger und der Vergilius pictus von 1502 Bereits in seiner Studentenzeit hatte Sebastian Brant10 mit Basler Druckern und Verlegern zusammengearbeitet. Bis 1501 beteiligte er sich als Autor, Herausgeber

9 Vgl. Plotke (Anm.  7); Birgit Emich: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31–56; zudem Jan-Dirk Müller: Das Bild – Medium für Illiterate? Zu Bild und Text in der Frühen Neuzeit. In: Ryozo Maeda, Teruaki Takahashi, Wilhelm Vosskamp (Hgg.): Schriftlichkeit und Bildlichkeit. Visuelle Kulturen in Europa und in Japan. München 2007, S. 71–104. 10 Vgl. Joachim Knape: Brant (Titio), Sebastian. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Berlin, New York 2005, Bd. 1, S. 247–283 sowie Thomas Wilhelmi (Hg.): Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum Narrenschiff und zum übrigen Werk. Basel 2002; Hans-Gert Roloff, Jean Marie Valentin, Volkhard Wels (Hgg.): Sebastian Brant (1457–1521). Berlin 2008; Klaus Bergdolt (Hg.): Sebastian Brant und die Kom-



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und corrector an knapp hundert Buchprojekten. Insbesondere seine enge Zusammenarbeit mit dem Verleger Johann Bergmann von Olpe war so produktiv und innovativ, dass beide heute als die ersten Förderer und systematischen Nutzer der neuen Printmedien gelten.11 Als Brant 1501 nach Straßburg übersiedelte, nahm ihn sein neues Amt als Syndikus und Stadtschreiber stark in Anspruch, doch setzte er sein Engagement als Herausgeber, Übersetzer und Beiträger in kaum verminderter Intensität fort. Hierzu erneuerte er seine Kontakte zur Offizin des Johannes Grüninger. Seit seinen Anfängen im Jahr 1483 war Johannes Grüninger12 zum bedeutendsten Vertreter des Straßburger Buchgewerbes aufgestiegen. Zwischen 1483 und 1531 publizierte er fast 400 Druckausgaben: Keine andere Straßburger Druckerei in dieser Zeit war auch nur annähernd so lange so produktiv. Grüninger betrieb eine eigene Holzschneiderwerkstatt und beschäftigte zeitweise junge Humanisten wie Gervasius Sopher, Matthias Ringmann und Johannes Adelphus Muling als correctores. Sehr fruchtbar gestaltete sich seine Zusammenarbeit mit renommierten Autoren aus Straßburg und aus dem Einzugsbereich des oberrheinischen Humanismus, unter anderem mit Johannes Pauli, Johann Geiler von Kaysersberg, Thomas Murner, Jakob Wimpfeling und Heinrich Bebel.13 Einer

munikationskultur um 1500. Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung; 26); Joachim Knape, Thomas Wilhelmi: Sebastian Brant Bibliographie. Werke und Überlieferungen. Wiesbaden 2015 (Gratia; 53). 11 Vgl. Joachim Knape: Der Medien-Narr. Zum ersten Kapitel von Sebastian Brants Narrenschiff. In: Bergdolt (Anm. 10), S. 253–271, hier S. 263. 12 Vgl. Charles ­Schmidt: Zur Geschichte der ältesten Bibliotheken und der ersten Buchdrucker zu Straßburg. Straßburg 1882, S.  112–118; François Ritter: Histoire de l’imprimerie Alsacienne aux XVe et XVIe siècles. Strasbourg, Paris 1955, S. 81–110; Miriam Usher Chrisman: Bibliography of Strasbourg imprints 1488–1599. New Haven 1982; Robert Riße (Hg.): Johannes Reinhard alias Hans Grüninger, der Frühdrucker aus Markgröningen. Ein nachgereichter Ausstellungskatalog. Markgröningen 1990; Cécile Dupeux et al.: La gravure d’illustration en Alsace au XVIe siècle. Bd. 1: Jean Gruninger: 1501 –1506; Bd. 3: Jean Gruninger: 1507–1512. Strasbourg 1992, 2009; zur Straßburger Frühdruckzeit jetzt Oliver Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520). München 2007. In Druckvorbereitung: Catarina Zimmermann-Homeyer: Illustrierte Frühdrucke lateinischer Klassiker um 1500. Mit einem Schwerpunkt auf den Ausgaben des Straßburger Druckers Johannes Grüninger (Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissanceforschung). 13 Zum literarischen Leben in Straßburg um 1500 vgl. Klaus Manger: Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510). Heidelberg 1983; Miriam Usher Chrisman: Lay Culture, Learned Culture. Books and Social Change in Strasbourg 1480–1599. New Haven, London 1982; Stephen Mossman, Nigel F. Palmer, Felix Heinzer (Hgg.): Schrei­ben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg. Berlin, Boston 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums; 4).

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der Schwerpunkte seines Verlagsprogramms waren Editionen antiker Klassiker sowie Antikenübersetzungen, die teilweise von correctores seines Hauses erstellt wurden.14 Diese Klassikerdrucke waren meist mit aufwendigen Holzschnitten versehen – eine opulente buchkünstlerische Ausstattung, die Markenzeichen der Grüningeroffizin war. Aus der Zusammenarbeit von Brant und Grüninger resultierten zahlreiche Ausgaben von juristischen, theologischen, historischen und literarischen Werken, die weit über den oberrheinischen Humanismus hinaus wirkten.15 Dies gilt insbesondere für die illustrierte und kommentierte Ausgabe der Werke Vergils, die Sebastian Brant besorgte und Johannes Grüninger 1502 druckte.16 Nachdem Bernd Schneider, Werner Suerbaum und jüngst Nikolaus Henkel wesentliche Erkenntnisse zu dieser Ausgabe erarbeitet haben,17 beschränke ich mich auf zwei Aspekte der Paratextualität bzw. Intermedialität, die für das Thema des vorliegenden Sammelbandes von besonderem Interesse sind.

14 In der Offizin waren u.  a. der Terenz (1496) und der Horaz (1498) erschienen; Brant selbst gab 1501 den Boethius und 1502 den Vergil heraus; von 1499 bis 1515 druckte Grüninger zudem Übersetzungen des Terenz (1499), Vergil (1509, 1515), Caesar (1507) und Livius (1507). Adelphus Muling übersetzte Vergils Bucolica, Matthias Ringmann den Caesar, vgl. Franz Josef Worstbrock: Deutsche Antikerezeption 1450–1550. Teil I: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer. Boppard am Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung; 1). Einige dieser Grüninger-Ausgaben untersucht das Bochumer DFGProjekt Klassiker im Kontext (Leitung: Bernd Bastert, Manfred Eikelmann), siehe http://staff. germanistik.rub.de/klassiker-im-kontext/ (Stand: 07. 12. 2016). 15 Vgl. das neue Werkverzeichnis von Knape/Wilhelmi (Anm. 10). Einen konzisen Überblick gibt Henkel 2010 (Anm. 17), S. 132–136. 16 Publij Virgilij Maronis opera cum quinque vulgatis commentariis: expolitissimisque figuris atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis: exactissimeque reuisis: atque elimatis. Straßburg (J. Grüninger) 1502 (VD16 V 1332). Vgl. Knape/Wilhelmi (Anm. 10), Nr. D554. Im Folgenden zitiert als »Brant, Vergilius pictus«. Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir. 17 Vgl. jetzt Bernd Schneider: Vergilius pictus. Sebastian Brants illustrierte Vergilausgabe von 1502 und ihre Nachwirkung. Ein Beitrag zur Vergilrezeption im deutschen Humanismus. In: Wolfenbütteler Beiträge 6 (1983), S. 202–262; Werner Suerbaum: Handbuch der illustrierten VergilAusgaben 1502–1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Hildesheim 2008, S. 51–55, 151–157; Nikolaus Henkel: Die Carmina Priapea in Sebastian Brants Vergil-Ausgabe (1502). Strategien einer angeleiteten Kommunikation. Mit einem Anhang: Die Sammlung der Vergil-Epitaphien der Straßburger Ausgabe. In: Bergdolt (Anm. 10), S. 131–172. Nach meinem Eichstätter Vortrag erschienen und im Folgenden berücksichtigt ist Nikolaus Henkel: Das Bild als Wissenssumme. Die Holzschnitte in Sebastian Brants Vergil-Ausgabe, Straßburg 1502. In: Mossman (Anm. 13), S. 379–410.



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3 Vergil in Begleitung: zur paratextuellen ­Inszenierung von Autorschaft Die Straßburger Ausgabe ist ein Musterbeispiel für Paratextualität um 1500. Ihr Vorbild war die berühmte, erstmals 1491 in Venedig gedruckte Ausgabe des Antonio Mancinelli, die einen Vergilius cum quinque commentis präsentiert.18 Diese vielfach aufgelegte Edition umfasst, wie seit der Karolingerzeit üblich, die drei Hauptwerke Vergils (Eklogen, Georgica, Aeneis) sowie eine Reihe von Carmina minora. Dem Text Vergils sind fünf Kommentare beigegeben, die von den spätantiken Kommentatoren Servius und Donat und von den italienischen Humanisten Antonio Mancinelli, Cristoforo Landino und Domizio Calderini verfasst wurden. Den Rahmen bilden weitere, u.  a. biographische Paratexte, die sich aus antiker und humanistischer Tradition speisen. Sebastian Brant übernahm von Mancinelli die Anordnung und Textgestalt der Vergilwerke, einzelne Paratexte sowie das Layout der Textpräsentation.19 Dieses entspricht einem Typus, der bei Editionen juristischer, theologischer oder literarischer Texte von kanonischem Rang gebräuchlich war und auch in Grüningers Offizin schon mehrfach Verwendung gefunden hatte. In der Seitenmitte ist der Vergiltext in großer Type mit Durchschuss gesetzt, so dass Raum für eine handschriftliche Glossierung inter lineas bleibt (Abb.  1). Die fünf Kommentare sind in kleinerer Schriftgröße synoptisch um den Vergiltext angeordnet. Schon das Schriftbild markiert den Abstand zwischen kanonischem Dichterwort und Exegese. Sebastian Brant verstärkt diesen noch, wenn er die fünf Kommentare neu anordnet. Mancinelli hatte die Erläuterungen nacheinander abgedruckt, in jeweils längeren Textblöcken, die durch den Namen des jeweiligen Gelehrten gekennzeichnet sind. Brant löst diese Textblöcke auf, sortiert die Anmerkungen neu und ordnet sie dem Lemma im Vergiltext zu, auf das sie sich beziehen. Damit wandelt sich die Semantik des Layouts: Gegenüber Mancinelli rückt die lemmabezogene Exegese ins Zentrum des Lesevorgangs. Brant und Grüninger vereinfachen zudem die Benutzung der Ausgabe, indem sie in den Vergiltext Minuskeln eindrucken, welche die Lemmata exakt mit ihrer Erläuterung verknüpfen. Dem Leser wird damit nahegelegt, zwischen Text und

18 Benutzt wurde die Erstausgabe Vergilius cum quinque comentis. Venedig (Philippus Pincius) 1491 (GW M 49944). Zu dieser Ausgabe und ihren Auflagen vgl. Schneider (Anm. 17), S. 220  f. 19 Zum Textlayout der Vergilausgabe vgl. bereits Schneider (Anm.  17), S.  220  f.; Henkel 2010 (Anm.  17), S.  137  f.; Henkel 2013 (Anm.  17), S.  393  f. Zur Grüningers Horaz-Ausgabe vgl. Jürgen Leonhardt: Brants Handschrift der Ars poetica des Horaz und ihr Kontext. In: Bergdolt (Anm. 10), S. 121–130, hier S. 124.

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Abb. 1: Der Beginn von Verg. Aen. II (Brant, Vergilius pictus, fol. 157r; München, SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_333, Stand: 07. 12. 2016).



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Kommentar hin- und herzuwechseln  – ein philologischer Lesemodus, der das Gefüge von Paratext und Text gleichsam dynamisiert und in Bewegung versetzt. Diese paratextuelle Zuordnungstechnik, die seit der Karolingerzeit in kommentierten Klassikerausgaben praktiziert wurde, hatte Grüninger unter anderem bereits in den zwischen 1496 und 1501 gedruckten lateinischen Ausgaben des Horaz, Terenz und Boethius verwendet. 1499 übernimmt er sie auch in die deutsche Terenzübersetzung, allerdings nicht ohne sie in einer Art Gebrauchsanweisung für den unerfahrenen volkssprachigen Leser im Detail (und sehr umständlich) zu erläutern.20 Sowohl Antonio Mancinelli als auch Sebastian Brant bieten in ihren para­ textuell hochgerüsteten Ausgaben einen Vergil in Begleitung: Der antike Text wird buchgestalterisch und typographisch als Autorität inszeniert und in die Diskursgemeinschaft seiner Exegeten eingebettet, deren gelehrte Anmerkungen dem Klassikerwort zu- und untergeordnet werden – eine paratextuelle Einhegung des kanonischen auctor, die in den weitgehend paratextlosen Klassikerausgaben des Aldus Manutius, die den Text dadurch auratisieren, ihr Gegenstück findet.21 Was Textbestand und -gestalt, Kommentierung und Layout betrifft, wandelt Brant also auf traditionellen Pfaden. Die Vorrede zum Straßburger Vergil spricht freilich eine andere Sprache: Lectori loquitur liber hic: pictasque tabellas Commendat: quales virgilio addiderit. Perlege virgilios quotquot bone lector in orbe Comperies toto: me quoque confer eis. Spero equidem dices me longe alios superare: Videris atque ante hac nec mihi vbique parem. Multa characteribus aliorum: multa liturae: Et limae debes: sed mihi cuncta dabis. […]22

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20 In Grüningers deutschem Terenz (Straßburg 1499, GW M 45583) werden fünf Regeln zur Benutzung der Ausgabe aufgestellt (fol. 8v). »Die ander Regel besagt: So die personen im principal [gemeint ist der einleitende Holzschnitt, J.  H.] also erkant / vnd die Comedi vß dem Argument vnd declaration verstanden sind. so sol yeglicher in der ersten scen anfahen in der gloß / vnd den anfang lesen biß vff den buochstaben a und darnach im text byß vff das a vnd darnach wyderumb in der gloß biß vff das.b. vnd also für vnd für alweg wan du im text lysest byß du ein vfgesetzten buochstaben fyndest über dem text der ist ein zeichen das der text nit wort zeuerston ist vnd darumb sollte faren vff den selben buochstaben in die gloß da würt der text baß erklert etc.« Vgl. auch die Hinweise in Boethius de Philosophico consulatu. Straßburg (Johannes Grüninger) 1501 (VD16 B 6404), fol. A4r. 21 Vgl. Florian Mehltretter: Kanonisierung und Medialität. Petrarcas Rime in der Frühzeit des Buchdrucks (1470–1687). In Zusammenarbeit mit Florian Neumann, Berlin 2009 (Pluralisierung & Autorität; 17). 22 Brant, Vergilius pictus, fol. 1v: Sebastian. Brant Ad Lectorem operis.

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Dieses Buch spricht zum Leser und empfiehlt ihm / die Bildtafeln, wie es sie dem Vergil hinzugefügt hat. / Schau nur all die Vergilausgaben genau durch, geschätzter Leser, wie viele / Du auf der ganzen Welt nur finden kannst, und vergleiche mich mit ihnen. / Du wirst, so hoffe ich, sagen, dass ich die anderen bei weitem übertreffe, / und Du wirst erkennen, dass mir nirgends eine zuvor gleich kam. / Viel Lob schuldest Du den Schrifttypen der anderen, viel ihren Korrekturen / und ihrer Sorgfalt. Mir aber wirst Du allumfassende Bewunderung zollen. […]

Das personifizierte Buch rühmt sich hier seiner Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit, keine andere Vergilausgabe auf der ganzen Welt könne ihm das Wasser reichen. Im Gestus des alios superare stellt es sich über alle Vorgängerausgaben – und damit auch über jene berühmten italienischen Vergileditionen, denen es doch in so vielem verpflichtet ist. Man mag hierin eine Art translatio studii erkennen, wie sie Konrad Celtis 1486 in Nürnberg besingt,23 genauer: eine e d i t o r i s c h e translatio von Italien nach Deutschland, die im Modus des Agon, des Wettstreits erfolgt.24 Wenn Brant seinen Vergil zum Wendepunkt der Editionsgeschichte stilisiert und sich selbst in die Pose des Archegeten wirft, der noch nie Gesehenes geleistet habe, so ist dies eine ihm grundsätzlich nicht fremde25 und im konkreten Fall berechtigte Prätention: Denn in der Tat konnte Brant als erster Herausgeber eine durchgängig bebilderte Vergilausgabe vorlegen. Gemeinsam mit Grüninger stattete er Mancinellis Vergiltext mit 214 meist großformatigen Holzschnitten aus, die für diese

23 Humanistische Lyrik des 16.  Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch, in Zusammenarbeit mit Christof Bodamer, Lutz Claren, Joachim Huber, Veit Probst, Wolfgang Schibel und Werner Straube ausgew., übers., erl. und hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a.  M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit; 5), S. 68–71. Zur Apollo-Ode des Celtis vgl. Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003, S. 83–103. 24 Vgl. auch Brants De praestantia artis impressoriae a Germanis nuper inventae Elogium (vor 1498; siehe Sebastian Brant. Kleine Texte. Hg. von Thomas Wilhelmi. Bd. 1,2 Stuttgart–Bad Cannstatt 1998, S. 392  ff., Nr. 228), in dem er die Druckkunst als deutsche Erfindung besingt, der Griechen, Italiener und Franzosen nichts entgegenzusetzen hätten (v. 17–24). Zum Kontext Joachim Knape: Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300 –1700. Wiesbaden 2006, S. 163–171. 25 Schon im Vorwort zu Gratians Decretum (Basel [Johannes Froben] 1493, GW 11377) schreibt Brant: […] »Respice cuncta velim lector decreta per orbem: / Que vel pressa prius: que vel arata manu. / Non tamen inuenies dignum conferrier vsquam / Huic nostro: vicijs quod neque subiaceat. […]« (fol. 1v). Die Selbstrühmung setzt sich auch in seinen deutschen Ausgaben mit derselben Topik fort, vgl. etwa die Vorrede zum Freidank (Straßburg [Johannes Grüninger] 1508, VD 16 F 2542), fol. 2r: [Es sprich der Freidank …] »Jch bin lang zeit verlegen bliben / Vnd wer noch manichem vnerkant / Het mich nit funden doctor Brant / Mich neben ſeim ſchiff laſſen ſchwymmen / Vnd mir mein orgel machen ſtymmen / Mein kürtzen rymen corrigiert / Vß vinſter in das liecht gefiert / Dem ſag ich billich lob vnd ere […].«



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Ausgabe neu hergestellt wurden und als Szenenbilder suo loco in den fortlaufenden Text eingefügt sind. Aus der unbebilderten Ausgabe Mancinellis wird ein ­Vergilius pictus, der die Opera omnia in Wort und Bild präsentiert – eine Sensation für die Zeitgenossen, und für die Editionsgeschichte Vergils ein Markstein: Die Straßburger Vergilholzschnitte übten, wie Werner Suerbaum gezeigt hat, einen beherrschenden Einfluss auf die Aeneis-Illustration bis ins 17. Jahrhundert aus – auch und gerade in Italien.26 Die Grundkonzeption dieser Holzschnitte dürfte auf Brant zurückgehen, der auch bei seinen anderen Bildbüchern den Zeichnern beratend zur Seite stand, die Bildinhalte festlegte und gelegentlich wohl auch Vorzeichnungen anfertigte, wie sie sich auf einem Druckstock zur Terenzausgabe erhalten haben.27 Hier wie dort insistierte Brant darauf, die Bilder gemacht zu haben, beanspruchte also eine (zumindest konzeptionelle) Autorschaft, die ihm die neuere Forschung auch zugesteht. Es steht dahinter ein neuartiges Verständnis von Autorschaft, das die Möglichkeiten des Buchdrucks zu nutzen weiß und sich selbst wie eine Marke inszeniert: Seit dem Welterfolg des Narrenschiffs ließ Brant auf den Titelblättern seiner eigenen Werke ein Autorbild von sich abdrucken. Die innovative Bimedialität der Straßburger Ausgabe gab ihm Anlass, weit über das topische Korrekturrühmen hinauszugehen und sich selbstbewusst neben den augusteischen Dichter zu stellen: Der Titel nennt neben Vergil Sebastian Brant selbst, der, wie es heißt, die hochwertigsten Holzschnitte auf das sorgfältigste konzipiert und anfertigt habe.28 Die Leistung des Herausgebers besteht nun nicht allein in einer illustrativen Bildausstattung. Gegen die Annahme, es handele sich bei den Holzschnitten lediglich um schmückendes Beiwerk, sprechen schon der buchgestalteri-

26 Suerbaum (Anm. 17), S. 154. 27 Vgl. Thomas Wilhelmi: Zur Entstehung des Narrenschiffs und der illustrierten Terenz-Ausgabe. Beschreibung der Rückseiten der Terenz-Druckstöcke. In: T.  W. (Anm. 10), S. 103–124. Die neuere Forschung ist von Brants konzeptioneller Autorschaft für die Bilder des Vergilius pictus überzeugt (Henkel 2013 [Anm. 17], S. 394  f.; 400  f.). Dass Brant selbst hierfür Vorzeichnungen angefertigt habe, schließt Kristeller freilich aus, vgl. Paul Kristeller (Hg.): Die Strassburger BücherIllustration im XV. und im Anfange des XVI. Jahrhunderts. Leipzig 1888 (ND Nieuwkoop 1966), S. 32  f. Ansonsten beaufsichtigte Brant die Drucklegung und konnte offenbar noch verhindern, dass Grüningers Mitarbeiter die anstößigen Carmina Priapeia im Anhang der Vergilausgabe abdruckten (zur Expurgatio Seb. B. cur priapeiam imprimi prohibuerit vgl. Henkel 2010 [Anm. 17]). 28 Publij Virgilij Maronis opera cum quinque vulgatis commentariis: expolitissimisque figuris atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis: exactissimeque reuisis: atque elimatis. – Des Publius Vergilius Maro Werke mit fünf bekannten Kommentaren und überaus kunstvollen Holzschnitten und Bildern, die neulich durch Sebastian Brant hinzugefügt und mit größter Sorgfalt durchgesehen und ausgearbeitet worden sind.

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sche Aufwand, die künstlerische Qualität der Bilder und die Hochschätzung der Bildkunst, die der Herausgeber äußert: Dass der Malerei unter den Künsten ein besonderer Rang zukäme und dies zur ihrer hohen Wertschätzung in der Antike führte, erläutert Brants Vorrede in einer exkurshaften Laus picturae, die sich am 35.  Kapitel von Plinius’ Naturalis historia orientiert.29 Im Anschluss nennt die Vorrede einen weiteren Vorzug der Bilder: »Hic legere historias, commentaque plurima doctus: / Nec minus indoctus perlegere illa potest. […].«30 (»Hier kann der Gelehrte von historischen Ereignissen und auch sehr viel Erfundenes lesen, / und ebenso kann auch ein Ungebildeter all dies durchmustern.«) Wie auch an anderer Stelle, spielt Brant hier mittelbar auf das berühmte Dictum Gregors des Großen an, der Bilder als die Lektüre der Laien bezeichnet hatte.31 Mit Blick auf die Holzschnitte zur Aeneis lässt sich durchaus sagen, dass sich die 137 Szenenbilder zu einer kohärenten Bilderzählung formieren, die nahezu die gesamte epische Handlung abbildet. Doch ermöglicht dies für indocti wirklich eine alternative, vom Text unabhängige Bildlektüre? Die Forschung hat längst darauf hingewiesen, dass eine Bildlektüre Wissen voraussetzt. Vielfigurige Historienbilder wie die vorliegenden basieren auf einer Geschichte, und wenn man diese nicht kennt, ist das Bild unverständlich und bleibt stumm.32 Man könnte nun an vergleichbare textbasierte Bilder für indocti denken, etwa an Lehrbilder, wie sie seit der Antike im Schulunterricht eingesetzt wurden. Solche Lehr- und Ordnungsbilder sind Grüningers Terenzausgaben (1496, 1499) beigegeben: Als figura principalis setzen sie die beigegebene Textzusammenfassung der Komödienakte ins Bild und ermöglichen so einen schnellen Überblick über Handlung, Figuren und Orte.33 Ihre Funktion ist eine didaktische, hinfüh-

29 Es handelt sich wohl um das erste Beispiel für eine Beschäftigung mit Schriftquellen der antiken Kunstgeschichte in Deutschland. Vgl. Thomas Cramer: Der bildniß ich hab har gemacht – noch einmal: Zu Text und Bild im Narrenschiff. In: PBB 111 (1989), S.  314–335, hier S.  332  f.; Schneider (Anm. 17), S. 210  f. 30 Brant, Vergilius pictus, fol. 1v: Sebastian. Brant Ad Lectorem operis. 31 Hierzu Henkel 2010 (Anm. 17), S. 152. 32 Vgl. Suerbaum (Anm. 17), S. 52; Henkel 2010 (Anm. 17), S. 152. 33 In der Declaratio figure, die Grüningers Terenzausgabe (Straßburg 1496, GW M45481) beigegeben ist, heißt es: »Cum autem doctor melius doctrinare non possit: quam cum ea quae dicit ad oculum discentis realiter demonstrat. Id ego facere studui per hoc quod ad argumentorum declarationem Comoediarum omnium unam principalem sculpsi figuram: in qua intuitu vno simplici respectus personarum cernitur omnium« (fol 2r). In Grüningers Terenzübersetzung lautet die Passage: »So aber der lerer nit bas leren mag dann so er die ding die er sagt zuo oug des lerenden wesenlich zögt / das ich zethuon geflyssen hab / durch daz das ich ouch erclerung der argument und der Comedien ein furtreffenliche figure begraben hon in welcher in einer einfaltigen anschowung gegensichtig der personen allen gesehen würt […]« (fol. Br). Zu Grüningers Terenz vgl.



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rende: Die Bilder sollen einen leichteren, visuellen Zugang zum nachfolgenden Text eröffnen, indem sie im Bildmedium zentrale Details vorwegnehmen, die der Text in Wort fassen wird. Auch wenn die figurae der Terenz- sich von denen der Vergilausgabe erheblich unterscheiden, so ist doch die vorbereitende Hinführung auf die Texterzählung als eine in dieser Zeit mögliche Bildfunktion festzuhalten.34 Zugleich unterstützen die Terenz- ebenso wie die Vergilbilder die Erinnerung des Gelesenen. Diese mnemotechnische Funktion von Bildern ist für die Zeit um 1500 längst eine Selbstverständlichkeit. Die Klassiker der antiken Mnemonik und die nachfolgenden artes memorativae waren weit verbreitet, Brant selbst hatte sich mit ihnen nachweislich beschäftigt und zu einer einschlägigen Ausgabe einen Beiträgertext verfasst, in dem er das Erinnerungspotential von Bildbeigaben rühmt.35 Dass Holzschnitte zu einer die Textlektüre vertiefenden und festigenden memoria beitragen, wurde für Brants Bildbücher längst nachgewiesen.36 Dass dies auch für den Vergilius pictus gilt, sagt der Herausgeber selbst: »Nec tamen abiectus labor hic: nec prorsus inanis. / Nam memori seruat mente figura librum.«37 (»Dennoch ist diese Mühe nicht vergebens oder völlig umsonst.  / Denn das Bild bewahrt den Buchtext im erinnernden Gedächtnis.«) Brants Medienkombination hat also zunächst eine mnemotechnische Funktion. Die philologisch-exegetische Lektüre, die zwischen Text und Kommentar hin und herwechselt, wird durch Memorialbilder (imagines agentes) vertieft und im Gedächtnis verankert: Mnemonik in Reinform.

Cora Dietl: Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum. Berlin, New York 2004, S. 137–147. 34 Zudem fungieren die Bilder als eine Art bildliches argumentum, das die im Text erzählte Handlung verdichtet (ich danke Jörg Robert für den Hinweis). In einem Epigramm verkündet Brant, er wolle mit den Bildern den ungebildeten Leser belehren: »Virgilium exponant alij sermone diserto. / Et calamo pueris: tradere et ore iuuet. / Pictura agresti voluit Brant: atque tabellis: / Edere eum indoctis rusticolisque viris« (Brant, Vergilius pictus, Anhang fol. 33v). 35 Brant verweist bereits im Vorwort zu den Dekretalen (Basel 1494) auf die Mnemotechnik Quintilians, vgl. Knape (Anm. 7), S. 134. Vgl. auch Brants poetische Beigabe zur illustrierten Ausgabe des Rationarium evangelistarum des Petrus von Rosenheim (Pforzheim 1502; zit. nach Wilhelmi [Anm. 24], Nr. 385): »Quisquis percupies facile evangelica dicta / Servare: et memori mente tenere cito: / Picturam hanc cernas: lege carmina: mystica signa / Imprime […].« – »Wenn Du die evangelischen Sprüche leicht bewahren und schnell im Gedächtnis verankern willst, dann sieh das Bild, lese die Gedichte und präge Dir die geheimnisvollen Zeichen ein.« 36 Vgl. Knape (Anm. 7); Schneider (Anm. 17); Henkel 2013 (Anm. 17). Siehe hierzu Brant, Vergilius pictus, fol. A2r: »Nemo tibi voluit pingere Virgilium. / Nunc memorare potes monochromata cuncta maronis.« 37 Brant, Vergilius pictus, fol. 35v des Anhangs.

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4 Intermedialität und Metapoiesis: der Bilderfries auf dem Juno-Tempel Ein weiteres kommt hinzu. Direkt im Anschluss an die zitierte Passage gibt Brant einen weiterführenden, eher versteckten Hinweis: »Dardanium Aeneam doctum non legimus usquam:  / Picturam potuit perlegere ille tamen«.38 (»Nirgendwo lesen wir, dass der Trojaner Aeneas gebildet war. / Dennoch konnte er das Bild lesen.«) Diese Verse verweisen auf eine berühmte Szene im ersten Buch der Aeneis, in der Aeneas vor dem Junotempel von Karthago steht und den umlaufenden Bilderfries betrachtet, auf dem der Kampf um Troja dargestellt ist (Verg. Aen. I 441–493). Der aus dem brennenden Troja entkommene Held mustert die Bilderzählung und erkennt in ihr das leidvolle Geschick seiner Freunde und Verwandten wieder, ja entdeckt, zutiefst aufgewühlt, sich selbst im bildlichen Kampfgetümmel. In der Bildanschauung durchlebt Aeneas leidvoll den Kampf um Troja ein zweites Mal, in einer durch die pictura ausgelösten, vergegenwärtigenden Erinnerung. Ich denke, Brant verweist nicht ohne Grund auf diese Passage der Aeneis. Schlägt man die entsprechende Seite in der Straßburger Ausgabe auf, so sieht man einen Holzschnitt, der schon deshalb bemerkenswert ist, weil er das einzige doppelseitige Bild des gesamten Vergilius pictus ist (Abb.  2a/b).39 Dargestellt ist, wie Aeneas und Achates, vertieft ins Gespräch, die Bildszenen des Tempels betrachten. Der Holzschnitt setzt die Verse Vergils ins Bild, die beschreiben, wie Aeneas den Bilderfries betrachtet und sich an den Kampf um Troja erinnert. Es liegt damit ein drei-, ja vierfacher Medienwechsel vor: Das Geschehen des trojanischen Krieges wird auf dem Fries skulptural dargestellt, in der memoria des Betrachters Aeneas vergegenwärtigt, durch Vergils poetische Ekphrasis vertextet und durch Brants Holzschnitt von 1502 ins Bildmedium gesetzt. In der Straßburger Ausgabe sind alle diese medialen Ebenen gleichzeitig präsent: Brants Bild, Vergils Text und die Kommentare, die erläutern, dass Aeneas sich durch die Betrachtung der pictura seiner eigenen Vergangenheit erinnert. Diese Beobachtungen lassen sich präzisieren, wenn man die Bild-TextBezüge genauer betrachtet. Zwei Aspekte seien hervorgehoben. Der Tempel-Holzschnitt ist ein Beispiel dafür, dass die Bilder des Vergilius pictus nicht nur Details aus Vergils Text sehr exakt und sachkundig ins Bild

38 Brant, Vergilius pictus, fol. 1v: Sebastian. Brant Ad Lectorem operis. 39 Brant, Vergilius pictus, fol. 141v–142r. Die Sonderstellung dieses doppelseitigen Holzschnitts notiert Henkel 2013 (Anm. 17), S. 396  f. und 401, ohne auf seine metapoetische Funktion einzugehen.



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setzen, sondern auch darüber hinausgehende Informationen abbilden. Dass aus der Asche des von Achill getöteten Memnon Vögel aufsteigen, wie es der Tempel-Holzschnitt im unteren Register abbildet, berichtet Vergil nicht  – lediglich Memnons Name wird genannt (Aen. I 489). Es handelt sich um eine pikturale Plusinformation, die auf den Mythos rekurriert, nach dem Memnon nach seinem Tod auf Bitten seiner Mutter Aurora von Jupiter in einen Vogel verwandelt worden sei. Die ältere Forschung hat solche Zusatzinformationen dem gelehrten Humanisten Brant zugeschrieben, der sein breites Wissen ins Bild habe einfließen lassen. Erst jüngst hat man entdeckt, dass die Plusinformationen sich durchaus auf die Straßburger Ausgabe beziehen: allerdings nicht auf den Vergiltext, sondern auf dessen Erläuterung in den Kommentaren. Den Mythos von Memnon kann man im rahmenden Paratext, in Landinos Kommentar ad locum nachlesen.40 Dass die Holzschnitte bisweilen einen Überschuss pikturaler Elemente besitzen und sich nicht nur auf den Vergiltext, sondern auch auf dessen Kommentierung beziehen, hat Nikolaus Henkel jüngst umfassend dokumentiert  – offenbar hat Brant die Bilder selbst konzipiert und leitete ihre Ausführung durch Grüningers Mitarbeiter an.41 Die bildgestützte memoria gilt also dem Klassikertext u n d seiner Exegese, ja mehr noch: Die Bilder können sich, wie Henkels Ausführungen hinzuzufügen ist, sogar über den Rahmen des Seitenlayouts hinaus auf weitere, biographische Paratexte beziehen (siehe den Titelholzschnitt Abb. 3).42 Der g e s a m t e Vergilius pictus ist inter­medial angelegt. Der Tempelholzschnitt kann zudem, wie bisher unbeachtet blieb, als intermediale Schlüsselszene des Vergilius pictus gelten. Er bildet nämlich genau den 40 Vgl. Brant, Vergilius pictus, fol. 145r (ad Verg. Aen. I 489). 41 Vgl. Henkel 2013 (Anm. 17), S. 398–409 und Henkel 2010 (Anm. 17), S. 140. 42 Diese bisher unbeachteten Bezüge belegt ein Detail des Titelholzschnitts (fol. A1r, siehe Abb. 3) der Straßburger Ausgabe, auf das u.  a. Schneider (Anm. 17), S. 206–208 und Suerbaum (Anm. 17), S. 134 zu sprechen kamen. Im Hintergrund des Holzschnitts sieht man den jungen Vergil bei zwei Pferden stehen, neben ihm eine vornehm gekleidete Figur, von links eilt ein Diener mit einem Brotkorb herbei. Schneider identifiziert diese Szene zutreffend als eine Jugendepisode, die in der Vergilvita des Donatus auctus berichtet wird: »Danach soll sich Vergil, als er nach Beendigung seiner Studien in Neapel nach Rom kam, mit dem Stallmeister des Augustus angefreundet und als Pferdedoktor betätigt haben, wofür er als Lohn die Brotration eines Stallknechtes bezog. Durch seine Erfolge in der Pferdemedizin wurde Augustus selbst auf ihn aufmerksam, und so trat Vergil, jedenfalls nach dem Bericht des Donatus auctus, zum ersten Mal in Beziehung zu Augustus.« Dass dieses Detail Eingang in den Holzschnitt fand, dankt sich allerdings nicht notwendig der Gelehrsamkeit des Herausgebers, der sogar auf die entlegene Überlieferung des Donatus auctus zurückgreift. Vielmehr wird die fragliche Episode in der Straßburger Ausgabe selbst drei Seiten nach dem Titelholzschnitt berichtet: in Landinos Vita Maronis (fol. A4r). Auch das entlegene Bilddetail hat also einen konkreten Textbezug innerhalb der Vergilausgabe von 1502.

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Abb. 2a: Aeneas und Achates betrachten den Bilderfries auf dem Junotempel von Karthago (Aen. I 441–493; Brant, Vergilius pictus, fol. 141v–142r); linke Seite (München, SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_302, Stand: 07. 12. 2016).



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Abb. 2b: Rechte Seite (im unteren Bilderregister links steigen aus Memnons Asche Vögel empor; München, SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/ image_303, Stand: 07. 12. 2016).

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Abb. 3: Titelholzschnitt der Straßburger Vergilausgabe (Brant, Vergilius pictus, fol. 1r; München, SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_7, Stand: 07. 12. 2016). Im Hintergrund Vergil als »Pferdedoktor« (siehe hierzu Anm. 42).



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Lektüremodus ab, den Brant in seiner Vorrede angedeutet hatte: Wie der indoctus Aeneas den Bilderfries des Tempels in erinnernder Vergegenwärtigung betrachtet, so kann der indoctus lector der Straßburger Ausgabe die Bilderzählung der Holzschnitte lesen, perlegere. Diese Bildlektüre verweist auf die rhetorische Theorie. Die Junotempel-Ekphrase der Aeneis ist – ebenso wie die Beschreibung des Bilderfrieses auf dem cumaeischen Apollotempel (Aen. VI 9–36), die Brant gleichfalls in einen Holzschnitt umsetzt43 – ein rhetorischer locus classicus, an dem gezeigt werden kann, worum es in einer descriptio geht: um das veranschaulichende und vergegenwärtigende Vor-Augen-Stellen eines Sachverhalts mit sprachlichen Mitteln.44 Wie hierbei Verlebendigung (energeia) und Veranschaulichung (enargeia) zusammenwirken und den Präsenzeffekt der evidentia erzeugen, führt Vergil vor, indem er die descriptio fokalisiert (lustrat … singula, Aen. I 453) und ihre emotionale Wirkung über die Figurenwahrnehmung und -erinnerung vermittelt. Wesentlich ist hierbei der Aspekt der evidentia.45 Im Straßburger Holzschnitt sehen wir Aeneas im Gestus des Zeigens. Genau dieser Gestus findet in der Aeneis seine textuelle Entsprechung: Als Aeneas voller Überraschung in einem der Bilder König Priamus entdeckt, zeigt er mit den Worten En Priamus! (Aen. I 461) auf ihn. Der Präsenzeffekt ist hier maximiert: Aeneas sieht in diesem Moment nicht mehr nur ein Bild von Priamus, er sieht Priamus selbst: laus picturae, per quam non imago sed ipse ostenditur, sagt Servius zur Stelle (fol. 144r). Es ist die Verlebendigung und Vergegenwärtigung des Erinnerten, auf welche die Medienkombination im Vergilius pictus abzielt, und genau in dieser Kombination von

43 Auch diese zweite große Tempelbeschreibung der Aeneis wird von Brant mit einem (allerdings nur einseitigen) Holzschnitt ausgestattet, vgl. Brant, Vergilius pictus, fol. 253r. Der Bilderfries dieses Tempels wird in der Straßburger Ausgabe gleichfalls im Vergiltext, im Kommentar, in der Wahrnehmung des epischen Betrachters und als Holzschnitt vergegenwärtigt. 44 Zur descriptio vgl. als Überblick Albert W. Halsall: Descriptio. In: HWRh 2 (1994), S. 549–553 und Nikolaus Henkel: Descriptio. In: RLW 1 (1997), S. 337–339; zur Architekturbeschreibung vgl. Arwed Arnulf: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert. München, Berlin 2004; Christine Ratkowitsch: Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12.  Jahrhunderts. Wien 1991 (Wiener Studien Beiheft; 15); Christine Ratkowitsch (Hg.): Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit. Wien 2006; Ulrich Schlegelmilch: Descriptio templi. Architektur und Fest in der lateinischen Dichtung des konfessionellen Zeitalters. Regensburg 2003 (Jesuitica; 5); Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology; 3). 45 Vgl. Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit. In: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard, Markus Friedrich (Hgg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Münster 2007, S. 59–84.

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memoria und evidentia sahen auch Zeitgenossen Brants den besonderen Wert der illustrierten Vergilausgabe. Thomas Murner schreibt im Jahr 1503: Vidistine Virgilium in hac nostra imperiali vrbe Argentina formis diuersis impressum et imaginibus decorum vt fere vitali precepto Eolus ipse tempestates videatur sonoras excitare ilium destrui bello. vrbisque rhome menia noua visionis iucunditate exurgere et cetera id generis.46 Hast Du den Vergil gesehen, der in unserer kaiserlichen Stadt Straßburg mit verschiedenen Holzschnitten gedruckt und durch Bilder geschmückt wurde, so dass man Aeolus selbst erblickt, wie er geradezu lebendig den Befehl erteilt, die tosenden Sturmwinde aufzupeitschen, dass man sieht, wie Troja im Krieg zerstört wird und wie – ein ungekanntes Vergnügen, es zu betrachten! – sich Roms Mauern erheben und anderes dieser Art mehr?

Nicht nur Erinnerung, sondern Vergegenwärtigung des Vergangenen und Verlebendigung im Bild (fere vitali precepto) werden von Murner als Leistung des intermedialen Arrangements erkannt und gewürdigt (noua visionis iucunditate). Ganz ähnlich preist Jacob Locher im Vorwort zur zweiten Auflage die anschaulichen Holzschnitte in Grüningers Terenzausgabe (1499), die das Theater der Antike geradezu zum Leben erwecken würden: Viva omnia sunt!47 Womöglich ist es diese Bewunderung, die Thomas Murner Jahre später bewog, die von ihm verfasste erste deutsche Aeneis-Übersetzung, die 1515 bei Johannes Grüninger erschien, mit Brants Holzschnitten ausstatten zu lassen.48 Murner präsentiert Vergils Text in deutschen Knittelversen, ohne Kommentare oder sonstige Erläuterungen, lediglich mit lateinischen Versanfängen in margine,

46 Thomas Murner: Honestorum poematum condigna laudatio impudicorum vero miranda Castigatio. Straßburg 1503 (VD16 M 7038), fol. 9r. 47 Vgl. Grüningers Terenz (Straßburg 1496, GW M 45481), fol. 1v: »Quis non existimet? cum pictum spectaculum: Effigiatasque fabellas In hoc facundissimo ac politissimo opere conspicit. se romanum pompeianumque Theatrum invisere. Viva omnia sunt: que tamen ad umbram thea­ tricam ad harenam palestricam ac vite imagines a poeta nostro excogitata sunt.« – »Wer würde, wenn er das bildlich dargestellte Schauspiel und die mit Illustrationen ausgestatteten Stücke in diesem außerordentlich sprachgewandten und verfeinerten Werk sieht, nicht meinen, dass er in ein römisches und pompejanisches Theater blicke? Alles hier lebt, obwohl es doch nur von unserem Dichter für den schattigen Raum des Theaters und die Schularena als Abbilder des Lebens ausgedacht worden ist« (Übers. von Dietl [Anm. 33], S. 139). 48 Vergilij maronis dryzehen Aeneadischen Bücher von Troianischer zerstoerung vnd vffgang des Römischen Reichs. durch doctor Murner vertuetst. Straßburg (Johannes Grüninger) 1515 (VD16 V 1426), vgl. hierzu Carola Redzich: … in zeiten des fridens ein gelerte gab. Zu Thomas Murners Übertragung der Aeneis (1515) und ihrer Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian I. In: JOWG 17 (2009), S. 107–121 (mit weiterführender Literatur); Nikolaus Henkel (Freiburg) bereitet eine Edition der Übersetzung vor.



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die in regelmäßigen Abständen auf den lateinischen Vorlagentext verweisen. Einiges deutet darauf hin, dass diese Übersetzung ursprünglich als Lernhilfe für die Juristenausbildung dienen sollte49 und erst nachträglich, in Grüningers Offizin, mit den repräsentativen Holzschnitten der Vergilausgabe von 1502 ausgestattet wurde – womöglich spielten ökonomischen Erwägungen des geschäftstüchtigen Grüninger auch eine Rolle.50 Jedenfalls lässt sich anhand von Murners Bildbuch, das den deutschen Vergiltext ohne Erläuterungen und Kommentare präsentiert, leicht nachvollziehen, dass Brants Bilder als alternative Laienlektüre nicht taugen: Zwar übernimmt Murner den doppelseitigen Holzschnitt des Junotempels in seine Ausgabe (fol. 12v–13r), doch das Bild hat seine intermediale Funktion weitgehend eingebüßt. Was es mit dem Memnon-Bild auf dem Tempelfries auf sich hat, muss für Murners Leser rätselhaft bleiben. Die Plusinformation des Holzschnittes wird nicht wie in der lateinischen Vergilausgabe durch den Landino-Kommentar erklärt, sondern weist ins Leere. Zwar können die Bilder weiterhin den Vergiltext veranschau­ lichen und seiner memoria zuarbeiten. Doch das von Brant sorgsam kalkulierte intermediale Gefüge des Vergilius pictus, das Holzschnitt, Vergiltext und Kommentare korreliert und interagieren lässt, erstarrt in Murners Übersetzung im Illustrativen. Gleichwohl findet sich in der Rezeption der Holzschnitte doch ein Beleg dafür, dass die metapoetische Funktion der Tempelholzschnitte im Vergilius pictus von 1502 auch in der Folgezeit verstanden und eingesetzt wurde. In seiner Neuauflage der 1505 in Mainz erschienenen Liviusübersetzung51 übernahm Johannes Grü49 Im Widmungsbrief der deutschen Aeneis von 1515 schreibt Murner, seine Vergilübersetzung sei »[…] zuo wolgefallen allen denen so sich in Vergilio ieben […] vnd nach verfaßtem latyn Keiserliche recht begeren zuo leeren […] vssenwendig mit verzeichnetem latyn da menglich schier on meister Vergilium lesen moeg / vnd was geweltigs dalmetschen sie dabei erlernen« (fol. 1v). Diese an sich schon eindeutige Aussage wird noch durch den Umstand bekräftigt, dass Murner bereits 1519 die Institutiones für Juristen ins Deutsche übersetzt, mit lateinischen Initia »in margine« ausgestattet (wie in der deutschen Aeneis!) und »vff der hohen schuol Basel in syner ordenlichen lectur offenlich mit dem latin verglichet« hatte, wie es im Titel der Ausgabe (Basel [Adam Petri] 1519; VD 16 C 5233) heißt. 50 Murners lateinische Vorlage ist bisher unbekannt. Den Vergilius pictus von 1502 benutzte er nicht, wie abweichende Lesarten in den lateinischen Marginalien belegen: Wenn Murner zu Aen. VI 698  f. das Initium Nate dea angibt und entsprechend übersetzt (»das ich dich ietz kan sehen baß  / Ein sun von einer goettin gborn«, fol. 88v), so weicht er von allen von mir überprüften frühneuzeitlichen Editionen der Aeneis (Venedig 1475, 1491, 1494; Leipzig 1494; Straßburg 1505) ab, die – wie die modernen Editoren – Nate, tua lesen. Sollte es sich um eine simple Verlesung Murners handeln, wäre diese zumindest vergilisch, vgl. Aen. I 582; IV 560. 51 Romische Historie vß Tito Liuio gezogen. Mainz 1505 (VD16 L 2102); Römsche history vß T. Liuio. Straßburg (Johannes Grüninger) 1507 (VD16 L 2103).

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ninger die einleitenden Paratexte aus der Erstausgabe (Titelholzschnitt, Kapitelregister, Vorwort des Übersetzers Bernhard Schöfferlin) und fügte lediglich vor dem Textbeginn des Vorworts ein Bildelement ein: den einseitigen Holzschnitt des cumaeischen Apollotempels (fol. 11r, Abb.  4), den er dem Vergilius pictus (fol. 253r) entnahm.52 Die Beischrift zu diesem wiederverwendeten Holzschnitt lautet Eneas der Troianisch kunig von dem dy roeme yren vrsprung haben. Darüber hinaus hat dieser Holzschnitt, der die auf dem Tempelfries dargestellte Daedalussage abbildet, nichts mit der nachfolgenden römischen Geschichte des Livius zu tun. Und doch stellt er den Lektüremodus der folgenden Übersetzung vor, die wie die Vergilausgabe von 1502 ein Bildbuch ist: Wie der römische Stammvater Aeneas im Holzschnitt die Bilder des Tempelfrieses liest, so kann auch der Leser der Liviusübersetzung die Geschichte Roms in den Holzschnitten lesen. Der Holzschnitt übernimmt damit im Livius pictus dieselbe metapoetische Funktion wie in Brants Vergil von 1502: Er setzt den bimedialen Lektüremodus der Ausgaben ins Bild und dient als intermediale Metapher.

52 Zu den insgesamt 53 in den Livius übernommenen Holzschnitten vgl. Suerbaum (Anm. 17), S. 155  f.



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Abb. 4: Bilderfries des Apollotempels von Cumae (Verg. Aen. VI 9–36). Der Holzschnitt in der deutschen Liviusübersetzung (Straßburg [Johannes Grüninger] 1507; VD16 L 2103, fol. 11r) wurde aus Brant, Vergilius pictus, fol. 253r übernommen (München, SB, 2 A.lat.b. 461, http:// daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001874/image_23, Stand: 07. 12. 2016).

Astrid Dröse

Paragonale Relationen? Das Verhältnis von Musik, Bild und Text in Titelkupfern barocker Liedersammlungen Die Titelbildgestaltung eines Buches durch einen dekorativen, meist allegorisch aufgeladenen Kupferstich wurde im Barock geradezu zur Konvention.1 »Bey dieser Zeit / ist fast kein Buch verkaufflich / ohne einen Kupfertitel / welcher dem Leser desselben Inhalt nicht nur mit Worten / sondern auch mit einem Gemähl vorbildet«, schreibt Harsdörffer.2 Dem Rezipienten wird, so könnte man diese Feststellung umschreiben, durch ein Titelbild gleichsam ein »Entree aus Schrift und Bild«3 dargeboten, das ihm einen ersten Eindruck von dem gewährt, was ihn im Folgenden erwarten wird. Doch die Aufgaben von frühneuzeitlichen Titelbildern sind noch vielfältiger: Sie dienen zunächst der Werbung, indem sie als Blickfang zur Lektüre bzw. zum Kauf eines Buches stimulieren – »Die Titul der Bücher / nicht die Bücher selbst füllen des Käuffers und Verkäuffers Augen«, weiß der Satiriker Aegidius Henning.4 Darüber hinaus bieten Titelbilder dem Autor und/oder dem Verleger Möglichkeit zur Selbstdarstellung, sie können programmatisch konzipiert sein, dabei »Formen und Funktion literarischer Prologtopik«5 übernehmen und als Gradmesser der verlegerischen Wertschätzung eines Werkes aufgefasst werden. Häufig präsentieren sie sich dabei als »dichter semantischer 1 Jutta Breyl: »Nichtige Äußerlichkeiten?« Zur Bedeutung und Funktion von Titelbildern aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts. (Harsdörffer – »Kunstverständiger Discurs« – Lairesse). In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), S. 389–421, hier S. 389. 2 Frauenzimmer Gesprächspiele. VI. Teil. Nürnberg 1646. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1969 (Deutsche Neudrucke; 18), Vorrede, S. 18. S. auch Jutta Breyl: Pictura loquens – Poesis tacens. Studien zu Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahrhunderts von Sidneys »Arcadia« bis Ziglers »Banise«. Hg. von Hans Geulen, Wolfgang Harms und Nikola von Merveldt. Wiesbaden 2006 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 44), S. 11. 3 So der Titel des einschlägigen Tagungsbandes: Werner Busch, Hubertus Fischer, Joachim Möller (Hgg.): Entree aus Schrift und Bild. Titelblatt und Frontispiz im England der Frühen Neuzeit. Berlin 2008. 4 Aus dem Kontext der Passage geht hervor, dass der Autor mit »Titul« sowohl die graphische als auch die textuelle Ebene meint. Gepriesener Büchermacher Oder von Büchern / und Büchern machen ein zwar kleines jedoch lustiges und erbauliches Büchlein. Frankfurt 1666. (Kapitel: Ein kurtzer Bericht von den Titulen der Bücher, S. 107  ff.), S. 107. 5 Wolfgang Harms: Programmatisches auf Titelblättern naturkundlicher Werke der Barockzeit. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 326–355, hier S. 327. DOI 10.1515/9783110521788-013



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Komplex aus sprachlichen Zeichen und aus Bezügen auf das Buch, seinen Autor und ihre Vorgänger«6 usw. Dass jedoch von der wörtlich genommenen ›StirnAnsicht‹ (frontispicium) eines Buches einfach dessen Inhalt ›abgelesen‹ werden könne, ist eine Fehlannahme, vor der die Zeitgenossen selbst warnten: »Was du thust / der du Bücher kauffest / kauffe sie ja nicht auff den eusseren Titul / der ins gemein blendet und betreugt«, gab der erwähnte Aegidius Henning zu bedenken, denn die »schönen Titul« seien oft »als der Italiener geschmincket- und geschmücket Toden«. »Mundus vult decipi«, lautet das Fazit.7 Es ist jedenfalls hervorzuheben, dass ein barockes Titelbild »niemals als Illustration im heutigen Sinne zu verstehen« ist, es »hat eigene Bedeutung, kann den Text [des Titelblattes] gewissermaßen ersetzen, tritt an seine Stelle. So wurde oft das Bild als Kupfertitel dem Buch als zweiter Titel vorangestellt. Gelegentlich verzichtete der Autor selbst auf den Texttitel und ließ im Kupfertitel allein das Bild sprechen.«8 Aufgrund ihrer mannigfaltigen künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten und den diversen Funktionen, die sie erfüllen können, sind barocke Titelbilder daher als wichtige Zeugnisse für verschiedenste kulturhistorische Fragen von Relevanz. Indes stellt ihre systematische Erforschung, auch wenn ein zunehmendes Interesse in den zuständigen Disziplinen erkennbar ist, ein Desiderat dar. Wichtige Impulse sind von der neuesten Paratextforschung zu erwarten.9 In dem hier zu interessierenden Kontext ist hervorzuheben, dass auf einem frühneuzeitlichen Frontispiz Wort und Bild intermedial zusammenwirken,10 6 Ebd. 7 Gepriesener Büchermacher (Anm. 4), S. 108  f. zitiert z.  T. auch bei Breyl (Anm. 2), S. 12. 8 Dietrich Donat: Zu Buchtiteln und Titelblättern der Barockzeit. In: Dietrich Gerhardt u.  a. (Hgg.): Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizewskij zum 70. Geburtstag. München 1966, S. 163–173, hier S. 169  f. 9 Vgl. Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008 mit einer programmatischen Einleitung. Die wichtigsten neueren germanistischen Beiträge seien im Folgenden aufgeführt: Jutta Breyl (Anm. 2) konzentriert sich auf die Titelbilder von Romanen des 17. Jahrhunderts, einen regionalen Schwerpunkt setzt Annette Frese: Barocke Titelgraphik am Beispiel der Verlagsstadt Köln (1570–1700). Funktion, Sujet, Typologie. Köln/Wien 1989. Vgl. ferner Dietmar Peil: Titelkupfer/ Titelblatt – ein Programm? Beobachtungen zur Funktion von Titelkupfer und Titelblatt in ausgewählten Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Ammon/Vögel (Anm. 9), S. 301–336 mit einem Forschungsüberblick zum Thema (ebd., S. 301  f.). Vgl. auch den Beitrag von Joachim Hamm in diesem Band. 10 Zur Terminologie (›Titelbild‹, ›Titelblatt‹, ›Titelkupfer‹, ›Frontispiz‹) vgl. Joachim Möller: Eintree aus Schrift und Bild. In: Werner Busch, Hubertus Fischer, Joachim Möller (Hgg.): Ein Entree aus Schrift und Bild. Titelblatt und Frontispiz im England der Frühen Neuzeit. Berlin 2008, S. 9–39, hier S. 9–11. Seit Ende des 16. Jh. emanzipiert sich das in Kupfer gestochene Titelbild

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vielleicht könnte man sogar von einer Art »Gesamtkunstwerk« sprechen.11 Dabei dominiert der bildliche Teil; die dem Simonides zugeschriebene Sentenz »Pictura loquens – Poesis tacens«, mit dem eine einschlägige Forschungsarbeit zum Thema überschrieben ist,12 spitzt den Sachverhalt gewissermaßen zu. Der Text beschränkt sich (meist) auf Nennung des – gelegentlich abgekürzt wiedergegebenen – Titels, bisweilen ergänzt um den Autornamen. Es kann auch vorkommen, dass einzelne Bildelemente, v.  a. Figuren, benannt werden. Eine intensivere Interdependenz von Text und Bild ist auf einer anderen, ebenfalls zu berücksichtigenden, paratextuellen Ebene beobachtbar, nämlich wenn eine seit Mitte des 17.  Jahrhunderts verstärkt auftretende Titelkupfererklärung beigefügt ist. Tritt dieses subscriptio-artige Element hinzu, rückt das Titelbild in den Bereich der angewandten Emblematik.13

(Frontispiz) von dem typographischen Titelblatt. Ich folge dem terminologischen Vorschlag Möllers, »nur Seiten mit Titelei am Anfang eines Buches als Titelblatt zu bezeichnen«, während ich unter Frontispiz oder Titelbild »eine Seite ohne Titelei, auf der visuelle Darstellungen überwiegen, auch wenn sie durch einen Text ergänzt werden«, verstehe (Ebd. S. 11). 11 Donat (Anm. 8), S. 173. 12 Breyl wählte diesen Titel mit Rückgriff auf den Titel des Emblembuchs von David Manasser (»Poesis tacens, Pictura loquens«), der sich seinerseits auf Horaz (›ut pictura poesis‹) und das Diktum des Simonides bezieht. Vgl. Breyl (Anm.  2), S.  13. Zu diesen zentralen Topoi der abendländischen Intermedialitätsdiskussion vgl. Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 31  ff. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive vgl. Christiane J. Hessler: Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento. Berlin 2014 (Ars et Scientia) mit Überblickskapiteln zur Begriffsgeschichte des Paragone-Disputs und zum Paragone in der Literatur. 13 Zum Thema Titelkupfer als Form angewandter Emblematik vgl. Karl Josef Höltgen: Englische emblematische Titelblätter in der frühen Neuzeit und ihr kultureller Kontext. In: Gerhard F. Strasser, Mara R. Wade (Hgg.): Die Domäne des Emblems. Außerliterarische Anwendungen der Emblematik. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 39), S.  263– 299. Hinsichtlich des Begriffs ›angewandte Emblematik‹ gab es in der Emblemforschung einige Kontro­versen. Während Schöne die terminologische Dichotomie in ›reine Emblematik‹, also Emblem­bücher, und ›angewandte Emblematik‹ (das bedeutet auch »Wirkungen der Emblematik im Bereich der Literatur«, Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München ²1968, S. 59) beibehält, schlägt Harms eine Unterscheidung in literarische Emblematik, innerliterarische Verwendung des Emblems und außerliterarische Emblematik vor. Es gilt also zu differenzieren, ob es sich bei einem Untersuchungsgegenstand um ein Emblem-Zitat in einem literarischen Text (z.  B. sprachliche Bilder in einem Drama) handelt, um ein Emblembuch oder um emblematische Wandbemalungen. Vgl. Wolfgang Harms: Einleitung. In: Ders., Hartmut Freytag (Hgg.): Außenliterarische Wirkungen barocker Emblembücher. Emblematik in Ludwigsburg, Gaarz und Pommersfelden. München 1975, S. 7–18. Vgl. auch Dieter Peil: Zur Diskussion über ›angewandte Emblematik‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.  F. 29 (1979), S. 200–2007.



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Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf ein spezifisches Korpus frühneuzeitlicher Titelbilder, nämlich auf Frontispize weltlicher Barockliedersammlungen. In diesen Fällen kommt eine weitere Kunst hinzu, die graphisch berücksichtigt werden könnte: die Musik. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Bücher, insofern in allen ausgewählten Werken das beigefügte Notenmaterial ausdrücklich auf die intendierte sangliche und instrumentale Realisation hinweist. In diesem Zusammenhang ergeben sich aus der Perspektive der interart-studies14 mehrere Frage: Nimmt das Titelbild auf die musikalische Dimension des Buches Bezug und wenn ja, wie wird diese Komponente repräsentiert? Sind wiederkehrende Motive und ikonographische Topoi erkennbar? Welche Traditionen werden in der Darstellung der beteiligten Künste aufgegriffen? Wird die Kombination von Wort und Musik thematisiert oder wird gar eine Hierarchisierung der Schwesterkünste vorgenommen und somit im Medium des Titelkupfers die frühneuzeitliche Paragonediskussion anschaulich materialisiert? Hierbei ist eine historische Entwicklung im Verhältnis von Poesie und Musik im deutschen Lied mitzudenken: Vor Opitz stammt ein Großteil der weltlichen Liedersammlungen aus der Feder von Musikern, die sich entweder verbreiteter Volksliedtexte bedienten oder selbst poetisch tätig wurden.15 Diese Situation ändert sich spätestens um die Jahrhundertmitte, da »der Alleinvertretungsanspruch der Musiker für das Lied, wie er in dem Zeitraum 1580 bis 1625 geherrscht hatte«,16 endete: »Die mit und durch Martin Opitz erneuerte deutsche Dichtung, die altklassische Themen der Liebeskunst in natürlich deklamierte und dem Volkslied angenäherte Formen bringt […], stellte die Vertoner vor neue Aufgaben.«17 Fortan wurde der Ausdruck von der »Beseelung« poetischer Verse durch Musik zur festen Redewendung, wenn es um die Beschreibung des Verhältnisses der beiden Künste zueinander ging.18 Zweifellos hatte die Poesie

14 Vgl. Robert (Anm. 12), S. 97  ff. 15 Vgl. Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Laaber 1981 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft; 4), S. 171. 16 Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barock­liedes. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit; 100), S. 93. 17 Braun (Anm. 16), S. 91. 18 Ausdrücke wie »durch Thöne beseelt« etc. findet man häufig im Titel von barocken Liedersammlungen. Vgl. Braun, ebd. Vgl. z.  B. auch das Gedicht Martin Opitzens auf den Dresdner Komponisten Johann Nauwach, der in seinen Deutschen Villanellen (Dresden 1627) mehrere Gedichte des Bunzlauers vertont hatte: »An. H. Johann Nauwach. […] Was aber soll nun mir / o Nauwach / von dir ahnen / | Mir / der ich eine gans bin bey gelehrten schwanen / | Das du mein Kinderspiel mit solchem Eyfer liebst / | Vnd durch dein singen jhm erst seine Seele giebst?« Martin Opitz: Gesammelte Werke. Teil IV/2: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1990, S. 495  f.) Diese Vorstellung ist freilich nicht erst in der Neuzeit

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gegenüber der Musik in Deutschland nun aufgeholt. Und auch wenn der »süsse Bund«19 (Sigmund von Birken) als Geschwisterschaft betrachtet wurde, war in dieser Diskussion auch Konkurrenz im Spiel. »Sie bildet ein neues Element im Lied dieser Zeit.«20 Die folgenden Ausführungen können angesichts der Quantität und Heterogenität der Titelbildgestaltung barocker Liederbücher keinen Anspruch darauf erheben, eine Typologie zu entwickeln. Es wurde indes versucht, ein gewisses regionales Spektrum einzubeziehen (Sachsen, Hamburg, Nürnberg), bei einer Konzentration auf den Zeitraum ›um 1650‹. Berücksichtigt werden Bücher, als deren Autoren Dichter (Rist, Gläser), Komponisten (Kindermann) oder ›Doppelbegabungen‹ (Dedekind) verantwortlich zeichnen. Auch diese Unterschiede in der Editionsleitung könnten bei der Gestaltung des ›Entrees‹ von Belang sein.

1 Der neue Musenhügel: Rists Florabella und Dedekinds Aelbianische Musenlust21 Das Motiv des Musenhügels findet man sowohl im Titel von Liederbüchern als auch auf Titelbildern von Werken dieser Gattung.22 Derartige Parnass- bzw. Heli-

entstanden. Zum humanistischen Konzept der Verwandtschaft von Dichtung und Musik vgl. beispielsweise die grundlegende Studie von Daniel Pickering Walker: Der musikalische Humanismus im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Kassel/Basel 1949 (Musikwissenschaftliche Arbeiten; V) [engl. 1941]. 19 S. Birken-Wälder zitiert nach Braun (Anm. 16), S. 92. 20 Braun (Anm. 16), S. 93. 21 In einem jüngst erschienenen Aufsatz befasst sich Achim Aurnhammer eingehend mit der Opitz-Ikonographie auf Titelbildern bzw. -kupfern verschiedener, postum erschienener Werke. »Die Opitz-Präsentationen in Gruppenbildern« (S. 56) werden dabei als »Autor-Inszenierungen und Positionsnahmen im literarischen Feld« interpretiert (ebd). Zu den untersuchten Frontispizen zählen auch die beiden hier behandelten Frontbilder zu Rists Florabella und Dedekinds Aelbianischer Musenlust. Der vorliegende Beitrag setzt mit der Betrachtung der musikalischen Repräsentation einen anderen Akzent und ist somit als Ergänzung zu Aurnhammers Analyse zu verstehen. Achim Aurnhammer: Dichterbilder mit Martin Opitz. In: Achim Hölter, Monika Schmitz-Emans (Hgg.): Literaturgeschichte und Bildmedien. Heidelberg 2015 (Hermeia; 14), S. 55–76. 22 Im Folgenden seien einige, hier nicht näher behandelte Werke genannt: Mit einem Kupfertitel, auf dem die antiken Figuren durch christliche ersetzt sind (Christus als Apoll etc.), ist Christian Knorr von Rosenroths Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Das ist: Geistliche SittenLieder / […] Nürnberg 1684 [1699] ausgestattet (VD17 1:669812U). Ein Doppelparnass, offenbar an Dedekind (s.  u.) orientiert, auf dem sich musizierende Engel mit David als ›Musagetes‹ (»Geist-



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kondarstellungen stehen dabei in einer langen und vielschichtigen Schrift- und Bildtradition, auf die in diesem Rahmen nur stichpunktartig hingewiesen werden kann:23 Die neun Musen, Töchter des Zeus und der Mnemosyne, sind im antiken Mythos fest mit dem schöpferischen Akt des Dichtens verbunden. Bereits Homer beschreibt die Musen im Gefolge ihres Führers Apoll, des Urhebers der kitharodischen Musik, zu dessen Leierspiel sie tanzen und dabei mit ihren herrlichen Stimmen die Taten der Götter und Helden besingen. Die Theogonie Hesiods wird mit einer Beschreibung des Helikons als Musenberg und der Hippocrenequelle, die durch den Hufschlag des Pegasus entstanden ist, eingeleitet. Hier sei er, Hesiod, von den Musen zum Dichter berufen worden. Der Parnass als metaphorischer Ort der Dichterinspiration und Sitz des Apoll begegnet hingegen erst in der römischen Dichtung (Statius); Helikon- und Parnassvorstellungen verschmelzen in der Folgezeit, so dass die Namen der beiden Berge oft synonym für einander verwendet werden. Vor allem durch Dante (Apollanruf zu Beginn des Paradiso) und Petrarca (u.  a. Apoll-Ekphrasis im dritten Buch der Africa)24 entwickelt sich im 14. Jahrhundert die Vorstellung vom Parnass als Berg des Apolls, der Musen und der Dichter.25 Dabei wurde der Musenberg mit dem musizierenden Apoll (Kitharodos) als Führer und Begleiter der Musen (Musagetes) in der Renaissance in verschiedenen Kontexten zu einem beliebten Motiv, das sich in Bildprogramme verschiedener Funktionen (v.  a. Panegyrik) integrieren ließ. Zu einer bedeutenden Variante der Parnassdarstellung in Literatur und bildender Kunst avancierte die Idee einer zeitlosen Dichtergemeinschaft bzw. einer ›Berühmtenversammlung‹: Poeten, manchmal auch andere Künstler oder Staatsmänner der Vergangenheit und Gegenwart gesellen sich zum Musenensemble – man denke nur an Raffaels Parnassfresco in der Stanza della Segnatura.26

liches Sion«) und die Musen des »irdischen Helicon« gegenübersitzen, ziert Johann Franckens Geistliches Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder / und Psalmen: nebst beygefügten/ … Melodeyen / Wie auch sein Irrdischer Helicon o.  O. 1674. (VD17 12:120767W). Der Kupfertitel von Johann Rists Neüer Teütscher Parnass. Lüneburg 1652 [Kopenhagen 1668] zeigt drei musizierende Männer auf einem Miniaturhelikon, einer kleinen Elbeinsel vor Hamburg. (VD17 23:280884P). 23 Zu den folgenden Ausführungen vgl. die grundlegende Arbeit von Elisabeth Schröter: Die Ikonographie des Themas Parnass vor Raffael. Hildesheim, New York 1977 (Studien zur Kunst­ geschichte; 6), S. 5–23. 24 Eine detaillierte Darstellung des Parnassmotives bei Dante und Petrarca ist ebenfalls bei Schröter (Anm. 23), S. 64–85, zu finden. 25 Vgl. aber auch Ernst Robert Curtius: Die Musen im Mittelalter. In: Zeitschrift für romanische Philologie (1939), S. 129–188, der die »Musen« als »literarische Konstanten« seit der spätrömischen Dichtung verfolgt. 26 Zur Ikonographie des Freskos im Hinblick auf antike, mittelalterliche und humanistische Schrift- und Bildgeschichte vgl. Schröter (Anm. 23).

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Zwei Beispiele für Parnassdarstellungen auf den Titelbildern barocker Liederbücher sollen im Folgenden näher vorgestellt werden: Nach dem großen Erfolg seines Liederbuchs Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (1642) trat Johann Rist mit Deß edlen Daphnis aus Cimbrien besungene Florabella (1651) erneut als weltlicher Liedautor in Erscheinung, wobei der Hamburger Ratsmusiker Peter Meier als Herausgeber der Sammlung firmierte, der auch die Komposition der meisten Lieder besorgte. Eine zweite, »mit verschiedenen schönen Stücken« vermehrte Auflage erschien 1656 ebenfalls in Hamburg,27 diesmal herausgegeben von dem Verleger Christian Guth. Rist wollte aufgrund seines geistlichen Amtes wohl nicht explizit als Autor in Erscheinung treten, sondern nur unter seinem Nürnberger Schäfernamen »Daphnis aus Cimbrien«, wenngleich die literarische Szene das Pseudonym leicht entschlüsseln konnte. Die Auflage von 1656 ziert ein programmatischer Kupfertitel, der an der traditionellen Helikon-Ikonographie orientiert ist (s. Abb. 1).28 Gezeigt wird eine Gruppe modisch gekleideter Männer, die sich auf einem Felsen versammelt hat. Ein eher barock als antikisch gewandeter, die (theorbierte) Laute schlagender Apoll Musagetes thront mit einem Nimbus ausgestattet (in der ikonographischen Tradition des Sol Apollon) auf einem Plateau im Vordergrund. Die im Hintergrund stehenden Kavaliere werden durch Überschriften identifiziert: Es handelt sich um große Autoren der weiteren und näheren Vergangenheit bzw. der Gegenwart,29 nämlich von links nach rechts Jacob Cats (1577– 1660), daneben ›Altmeister‹ Petrarca, auf der anderen Seite Joost van den Vondel (1587–1679), Félix Lope de Vega Carpio (1562–1635), und die Pléiade-Dichter Pierre de Ronsard (1515–1585) und Théophile de Viau (1590–1626). Eine Figur im rechten Bildrand, die die Szenerie mit gleichsam schelmischem Lächeln auf den Lippen betrachtet, wird namentlich nicht benannt.30 Am Fuße des apollinischen Felsens, auf dem auch der Titel der Sammlung verkürzt (»Daphnis Florabella«) wiedergegeben ist, stehen zwei weitere Männer, von denen der eine als »Opits« ausgewiesen ist. Der zweite scheint der Autor des vorliegenden Buches, »Daphnis aus Cimbrien«, also Rist, selbst zu sein. Opitz hält ihn an der Hand, zieht ihn stür-

27 Die (verlorenen gegangene) Erstausgabe enthielt 50 Lieder mit Melodien, die zweite Auflage 72 Stücke. Weitere Auflagen folgten. 28 Abgedruckt auch bei Braun (Anm. 15), S. 173. Vgl. auch die kurze Beschreibung ebd. Zu dieser Sammlung hinsichtlich Metrik und Topik vgl. Anthony Harper: German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century. An examination of the texts in collection of songs published in the German-language area between 1624 and 1660. Aldershot 2003, S. 232–234. 29 Zu der Vorstellung vom Helikon als Ort, auf dem sich Dichter verschiedener Zeiten versammeln vgl. die Ausführungen bei Schröter (Anm. 23), S. 18  f. 30 Braun (Anm. 15) vermutet, dass es sich um Guarini handelt.



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Abb. 1: Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Hamburg 1666. BSB München, Signatur: Mus.pr. 109.

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misch zum Hügel hin, wobei er mit der Linken bedeutungsvoll auf das poetische Siebengestirn um den Musengott weist. Daphnis bzw. Rist verfolgt voll Ehrfurcht die Geste seines Führers. Aus Demut vor dem erhabenen Anblick oder vielleicht auch, weil er beim Herbeieilen verlorenzugehen drohte, hat er seinen Hut abgenommen. Im rechten Bildhintergrund schwingt sich derweil Pegasus von einem höhergelegenen Felsen zum Sprung auf. Einige Hinweise haben es bereits angedeutet: Das Titelkupfer inszeniert das Erweckungserlebnis des Autors in einer sinnbildlichen Traumbegegnung.31 Durch die Weisung Opitzens, als dessen Adept Daphnis/Rist präsentiert wird, erkennt dieser in den europäischen Meistern der volkssprachlichen Dichtung seine künftige Inspiration. Ihrem Beispiel wird er im Sinne einer imitatio modernorum folgen, um gemeinsam und in Fortsetzung seines Meisters Opitz die deutsche Kunst buchstäblich zum Gipfel zu führen. Das vorliegende Buch, das scheint das Bild anzudeuten, ist das Ergebnis von Rists Bemühungen. Dieses stellt womöglich zugleich das Entrebillet dar, mit dem der Autor Opitz folgend den metaphorischen Parnass besteigen und seine Dichterweihung empfangen wird, um neben dem Archegeten der deutschen Dichtung seinen Platz im Kreis der bedeutendsten europäischen Poeten einzunehmen, womit die neun Musenplätze auf dem Parnass adäquat vergeben wären. Traditionsbeziehungen und Genealogien werden hier effektvoll ins Bild gebracht. Der Bescheidenheitsgestus, mit dem sich ›Daphnis‹ den ehrwürdigen Vorbildern dabei zuwendet, verdeckt also nur vordergründig das durchaus beachtliche Selbstbewusstsein, mit dem die Sammlung bzw. der Autor präsentiert wird.32 Dass es Rist daran ohnehin nie gefehlt hat, ist hinreichend bekannt.33

31 Zur Tradition der »Traumreise zum Parnass« mit ›Berühmtenversammlung‹ vgl. Schröter (Anm. 23), S. 125  ff. 32 Aurnhammer (Anm. 21., S. 62  f.) weist darauf hin, dass die »programmatische Indienstnahme des Martin Opitz« in zwei Liedern der Sammlung »poetisch reflektiert« wird: In der Eingangsstrophe des zweiten Liedes der Sammlung wird explizit »das Setting des Frontispizes auf[gerufen]« (ebd., S. 62), indem die Dichter des gezeigten Parnasses um Beistand gebeten werden. Auch das Lied Nr. 65 thematisiert Rists ›Gradus ad Parnassum‹. Laut Aurnhammer wird deutlich: Rist konstruiert »zwar einerseits eine Tradition zu Opitz, setzt sich aber andererseits, indem er einen aktuellen, nachopitzischen Parnass erklimmt, als sein Vollender von ihm ab. « Ebd., S. 63. 33 Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: Anselm Steiger (Hrsg.): »Ewigkeit, Zeit ohne Zeit«. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007, S. 9–36; Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literatur­ politischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller  einer norddeutschen Region. Hg. von Alexander Ritter. Heide 1991, S. 47–66; Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Kon-



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Auch die 1657 erschienene Liedersammlung Aelbianische Musenlust34 des Dresdner Hofmusikers und Protégé Heinrich Schützens Constantin Christian Dedekind (1628–1715)35 wird mit einem Titelkupfer eröffnet,36 das den Topos des Dichterparnasses aufgreift. Bei dem Künstler handelt es sich um den Nürnberger Kupferstecher Peter Troschel (um 1620 – ca. 1667; Stecherzeichen am unteren Bildrand).37 Während bei Rist ein gesamteuropäisches Musenensemble der volkssprachigen Autoren gezeigt wird, setzt das Dedekind-Frontispiz eine translatio sedis Musarum nach Deutschland, genauer gesagt nach Sachsen, in Szene.38 Links sieht man den antiken Parnass mit Hippocrenequelle, den neun Musen und Apoll auf dem Gipfel thronend, rechts wird spiegelbildlich dazu ein deutscher Musenberg (ebenfalls mit Quelle) dargestellt mit dem zur Leier singenden Opitz als Apoll-Analogon auf seinem Gipfel. Pegasus schwebt zwischen beiden Hügeln, um seinen Körper flattert ein Spruchband mit dem Titel des Liederbuchs. Den antiken Musen werden auf dem ›deutschen Parnass‹ Lieddichter verschiedener Generationen und mit unterschiedlichem regionalem Wirkungskreis gegenübergestellt, die wie jene jeweils ein (zeitgenössisches) Instrument spielen, also singend und musizierend abgebildet werden.

vention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt poetologischer Vorreden im Zeichen der Reformpoetik am Beispiel Johann Rists. In: von Ammon/Vögel (Anm. 9), S. 353–374. 34 Aelbianische Musen-Lust: in unterschiedlicher berühmter Poeten auserlesenen  / mit ahnmuhtigen Melodeien beseelten / Lust- Ehren- Zucht und Tugend-Liedern / bestehende. Dresden Seyfert [1657]. (Faksimlie der Ausgabe von 1657 von Gary C. Thomas. Bern u.  a. 1991). 35 Die Erstausgabe 1657 enthält 174 Lieder und Canzonetten mit Texten von 27 Autoren. Eine Neuauflage im Jahr 1665 weist auf die Popularität der Sammlung hin. Zur literatur- und musikgeschichtlichen Bedeutung Dedekinds sowie zum komplexen Aufbau der Sammlung vgl. die Ausführungen von Gary C. Thomas in der Edition der Aelbianischen Musen-Lust (hg. von dems. Bern u.  a. 1991). Zum Autor vgl. Hans Heinrich Eggebrecht,/Werner Braun: Art. ›Dedekind, Con­ stantin Christian‹. In: Killy Literaturlexikon. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 2. Berlin, New York 2008, S. 570  f. 36 Vgl. auch die Beschreibungen des Titelkupfers von Aurnhammer (Anm. 21, S. 64  f.) und Martin Bircher: Pegasus beflügelt die deutschen Musen. [Kommentar zum Frontispiz in: Constantin Christian Dedekind: Aelbianische Musenlust. Dresden: Seyffart 1657] In: Bernhard Fabian, Elmar Mittler (Hgg.): Das deutsche Buch: die Sammlung deutscher Drucke 1450–1912: Bilanz der Förderung durch die Volkswagen-Stiftung. Wiesbaden 1995, S. 92. 37 Friedrich Thöne: Art. ›Troschel, Peter‹. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begr. von Ulrich Thieme und Felix Becker. Hg. von Hans Vollmer. Bd. XXXIII. Leipzig 1939, S. 431  f. 38 Diese Denkfigur steht im weiteren Kontext der geschichtsphilosophischen Idee einer »translatio artium« vgl. dazu Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung: Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit; 76), Kap. 2.6. (»›Ode ad Apollinem‹. Wie Apoll unter die Deutschen kam.«).

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Abb. 2: Aelbianische Musen-Lust in 175. unterschiedlicher berühmter Poeten auserlesenen, mit ahnmuhtigen Melodeien beseelten, Lust- Ehren- Zucht- und Tugend-Liedern, bestehende. Dresden/Leipzig 1665. BSB München, Signatur: Mus.pr. 9729.

Assoziationen ergeben sich sogleich zu der von Ovid geschilderten Episode vom musikalischen Wettstreit der Musen mit den vermessenen Pieriden (Ovid, Metamorphosen, V, 298–314), der für die Töchter des Königs Pieros bekanntlich übel endete. Doch der Fall scheint hier anders gelagert zu sein. Die Landschaft des Bildes erinnert mit ihren bizarren Felsenformen wie gesagt augenfällig an das sächsische Elbsandsteingebirge, deutsche und klassische Hippocrene vereinen sich hier zu einem lieblichen Strom, der Elbe. Zwischen dem alten und dem neuen Helikon wird der Blick weit in die arkadische Landschaft mit schafeweidenden Hirten freigegeben, die wie die Helikonpoeten durch Überschriften als aktuelle deutsche Autoren ausgewiesen werden: Enoch Gläser (1628–1668), Ernst Christoph Homburg (1607–1681, nicht sichtbar) und Johann Christoph Göring (1624–1684). Dedekinds Dresdner Kollege, der Komponist und Musiktheoretiker Christoph Bernhard (1628–1692), blickt mit der Laute in der Hand hinter dem Musenberg hervor und lauscht dem doppelchörigen Konzert. Direkt unterhalb Apoll-Opitz auf dem teutonischen Parnass sind Fleming (1609–1640) und



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Gottfried Finckelthaus (1614–1648) plaziert. Die folgende Dreiergruppe besteht aus Dedekinds Mentor Johann Rist (1607–1667), dem Rostocker Poetikprofessor Andreas Tscherning (1611–1659) und dem Königsberger Simon Dach (1605–1659), dann folgen die Sachsen David Schirmer (1623–1686) und Justus Si(e)ber (1628– 1695) und schließlich der von Tscherning geförderte schlesische Kirchenlieddichter Heinrich Held (1620–1659). Dedekind selbst sitzt rechts unten am Fuß des Hügels, das Orgelpositiv spielend – er liefert wie die ihm zugeordnete Muse Clio, ebenfalls an der Orgel, gleichsam das harmonische Fundament für Gesang und Spiel der Dichter. Die deutschen Autoren stehen den antiken Musen jedenfalls in nichts nach, man begegnet sich auf Augenhöhe. Das engagierte, jedoch harmonische Konzert  – der musikalisch-poetische Wettstreit zwischen Antike und Moderne  – bleibt unentschieden. Pegasus beflügelt die ›alten‹ Musen wie die ›modernen‹ deutschen Poeten. Dabei vereinigt der Stich zwei Dimensionen, Literaturgeschichte und Raum werden verknüpft: Auffällig ist nämlich die starke sächsische Dominanz auf dem deutschen Parnass und das sächsische Landschaftsbild, was im Zusammenhang mit Dedekinds Wirkungskreis zu betrachten und als Konzession an unmittelbaren Kollegen sowie an seinen Gönner, Kurfürst Johann Georg II., zu verstehen ist.39 Hinsichtlich des Anspielungsreichtums des Titelkupfers wollte Dedekind offenbar dem Leser Richtlinien zur Exegese an die Hand geben, so dass zu den Paratexten der Sammlung »Ein Vohrbericht zur Erläuterung des Kupfertituls Woraus die Ordnung des gantzen Werkes zugleich erhellet« gehört, als deren Verfasser er die »Aelbianischen Musen« ausgibt. Das Titelkupfer mit Werktitel und allegorischem Konzert auf den beiden Parnasshügeln wird also um eine Art subscriptio ergänzt, die zwar räumlich durch andere Paratexte (Widmungen etc.) von der pictura getrennt ist, jedoch der Funktion einer Emblemunterschrift sehr verwandt ist, nämlich den Anspruch hat, »das dunkle und rätselhafte Bild durch hermeneutische Kraft zu erhellen, das im Bild Verborgene zu entbergen.«40 Zudem steht eine solche Auslegung in der Tradition gelehrter Kommentartexte in Emblembüchern. Nach vier Aspekten erscheint Dedekind das graphische Titelbild erklärungsbedürftig: Zunächst müssen der Buchtitel sowie die Auswahl der Dichter, die nicht alle aus Sachsen stammen oder hier wirkten, expliziert werden. Darüber hinaus bedarf es einer Exegese des Bildes vom Doppelparnass, Dedekind befürchtet nämlich (freilich mit ironischem Unterton), dass man diese Allegorie 39 Diese lokalpatriotische Tendenz in Parnassdarstellungen ist durchaus verbreitet: Der Florentiner Dante-Epigone Giovanni Gherardi da Prato (gest. um 1450) versammelt z.  B. in seiner an Dante orientierten Parnassvision vor allem ›uomini illustri fiorentini‹. Vgl. Schröter (Anm. 23), S. 130. 40 Robert (Anm.  12), S.  103. Vgl. Karl Josef Höltgen: Early Modern English Emblematic TitlePages and their cultural Context. In: Busch/Fischer/Möller (Anm. 3), S. 40–17, hier S. 41.

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›wörtlich‹ nehmen könnte  – dann würde man die beiden Musenhügel im Elbsandsteingebirge vergeblich suchen; die aufgerufene mythologische bzw. allegorische Welt ist nicht real, sondern eben bildlich zu verstehen. Schließlich geht es darum, die Anordnung der Dichter und Musen zu rechtfertigen, denn diese suggeriere eine Hierarchie, auf die es dem Autor nicht ankäme. Auf diese Fragen geben nun die »Aelbianischen Musen« selbst Antwort. Zunächst wird der Name des Werks erklärt und zugleich die Disposition der Sammlung erläutert: Und verstehe erstlich / so viel den Nahmen dieses Werks betrifft / daß wihr Musen die wihr an der Aelbe unseren Aufenthalt suchen  / an denen hier aufgeführten Poeten und ihren Liedern / unsere Lust gehabt und noch haben / also / daß wihr nicht umhin gekunnt / die jenigen Liedere / so uns sonderlich gefallen / dergestalt zu erwählen / daß / wie du sichest / immer Zehen und Zehen / unter des Dichters Nahmen / zu seinem wohlerworbenem Gedächtnüsse versam(m)let / mit der ädlen Musik / als poetischer Seelen / belebet / und endlich / wie iedes Zehen mit einem […] Inhalts-Liede […] zu unerer Lust beschlossen worden. Daher dem Wercke auch billig der Nahme Aelbianische MusenLust gebühren wollen.41

Auch in dieser Erläuterung begegnet die eingangs erwähnte Idee von der Beseelung der Dichterworte durch die Musik. Gerade die Verbindung vortrefflicher Poesie mit Tönen verzückt die Musen und begründet ihren Aufenthalt an der Elbe. Im Folgenden wird der metaphorische Charakter des Doppelparnass betont – wie der antike Musenberg sei auch dieser »erdichtet« und diene »der Vergleichung derer Poeten mit jenen Musen« (ebd.). Die Anordnung der Dichter auf dem Parnass (die auch der Reihenfolge im Buch entspricht) sei so konzipiert, dass die Verstorbenen, »die den Sternen am nähesten seind«, im Sinne eines »EhrenGedächtnüss« den Gipfel des Hügels besetzen. Die folgende Ordnung sei dagegen eher kontingent, nämlich nach der »Gelegenheit, welche uns die annoch lebenden Poeten und ihre Schriften an die Hand gegeben«.42 Die Positionierung der lebenden Autoren solle also dezidiert keine Hierarchie symbolisieren. Zudem – so kann man ergänzen  – wird eine genealogische Reihe abgebildet, an deren Spitze Opitz steht, gefolgt von dessen sächsischen ›Nachkommen‹ Fleming und Finckelthaus, die das Erbe des Doyen der deutschen Dichtung weitertragen. Die jüngeren Autoren stehen ebenfalls in dieser Tradition.

41 Vohrbericht zur Erläuterung des Kupfertituls. [Ed. Thomas, unpaginiert]. Die folgenden Zitate stammen aus diesem »Vohrbericht«. Auf die komplexe Anordnung der Sammlung in Zehnergruppen mit Inhaltsliedern etc. geht Thomas detailliert ein. (s. Kommentar zur Edition [Anm. 35], S. 21  ff.). 42 Ob es sich hierbei nur um eine apologetische Schutzbehauptung handelt, um keinen der Kollegen zu brüskieren, diskutiert Thomas (Anm. 35), S. 23.



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Ausführlich wird in dem Auslegungstext sodann darauf eingegangen, warum Dichter und Musen mit einem bestimmten »Musikalische[n] Instrument oder klingende[m] Werkzeug« abgebildet sind. Es stellt sich heraus, dass das zugeordnete Instrument den Charakter der Lieder des jeweiligen Autors, seine jeweilige Bedeutung als Dichter oder persönliche Eigenschaften versinnbildlicht. Biblische und mythologische Topoi werden hierfür aufgegriffen. So ist der »Poeten-Fürst«, der »um die recht Göttliche Dichterei […] höchstverdient[e] und Preiswürdig[e] Herr Opitz / als unser Apollo« unstreitig mit »dem Thessalischen« vergleichbar, so dass er das gleiche musikalische Attribut, die Leier, erhält. Fleming spielt die Flöte, weil er »mannges Lied sehr lieblich gesungen  / und gleichsahm wie mit einer Flöten / die schattigen Auen und bluhmigen Matten / anmuthig erschallen gemacht« und Finkelthaus habe nachts »unter dem Fenster« tatsächlich gerne auf der Laute, mit der er dargestellt ist, melancholische Liebeslieder gesungen. Rist wird als Posaunist gezeigt, denn dieses Instrument sei traditionell religiös konnotiert wie auch der Wedeler Pastor »vornehmlich der Kirchen nützlich gedienet«. Tscherning sei mit seinen »schönen Liedern gleichsahm ein anderer David«, daher passe zu ihm die Harfe, während der »köstliche Herr Dach« Lieder verfasst habe, die besonders schön mit dem Geigenklang harmonisierten. Schirmer schätze die Viola, zu Siebers bald lieblichen, bald ernsten Stücken passten der »lispelnd[e] Drei-Angel« und das »Päukgen«, bei Held zeige bereits der Name den »kühne[n] Geist« des Autors, so dass er den »hellschreienden Zinken oder Cornett« sowie »den gravitätischen Fagott od Dulcian« zugeteilt bekommen habe. Die Orgel als Attribut Dedekinds sei ebenfalls nicht ›wörtlich‹ gemeint, er sei schließlich kein Organist. Doch höre man ihn seine Lieder »gahr sälten / anders / als in das Clavier singen«, auch symbolisiert das Instrument, dass er »der Grund und Werkmeister ist welche diese Aelbianische MusenLust befördert«. Fassen wir unsere bisherigen Beobachtungen unter besonderer Berücksichtigung der musikalischen Komponente zusammen: Autoren, Verleger und vermutlich die in ihrem Auftrag bzw. in Absprache wirkenden Stecher verfolgten mit den Titelkupfern der Florabella wie der Musenlust eine mehrfache Zielsetzung: Zen­ trale Elemente eines berühmten ikonographischen Musters werden aufgegriffen, so dass das Motiv ›Musenberg‹ klar erkennbar ist. Die Produzenten setzten also grundsätzlich auf Verstehen und Akzeptanz durch konventionelle Motive und Ikonographien. Jedoch werden bestimmte Bestandteile der Tradition abgewandelt, so dass ein allegorisches, programmatisches Titelblatt präsentiert wird, das zur Auslegung herausfordert. Bei Rist dient das Bild vor allem der Selbstinszenierung des Autors, der sich in die Tradition Opitzens und bedeutender volkssprachlicher Dichter anderer Nationen stellt. Literaturgeschichte wird allegorisiert. Der Bezug zur Musik wird implizit dargestellt, da auf dem Helikon generell gesungen wird, was durch den Kitharodos im Zentrum des Bildes unterstrichen wird.

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Dedekind verlegt den Musenhügel nach Sachsen, wobei die ›alten Musen‹ – entsprechend der Idee der translatio studii bzw. musicae – den Umzug mitvollzogen haben, um sich zur Freude der ›neuen Musen‹, der »Aelbianischen«, mit den Dichtern unter Führung Opitz’ in einem Wettstreit zu messen. Die Eröffnung der Sammlung des Dichterkomponisten Dedekind nimmt dabei auf die musikalische Komponente des Buches Bezug: Musen und Dichter spielen zeitgenössische Instrumente und singen dazu. Die Erklärung des Titelbildes betont den musikalischen Charakter der Sammlung und damit die Aufwertung (Stichwort »Beseelung«), den die Dichtungen durch die vorliegende Arbeit des Komponisten erfahren haben.

2 Streit der Schwestern: Enoch Gläsers SchäferBelustigung (1653) Auf dem ebenfalls von Peter Troschel gestochenen Titelkupfer der Liedersammlung Enoch Gläsers (1628–1668), der einige der enthaltenen Lieder auch selbst vertonte,43 sieht man einen unter einem Eichenbaum (?) sitzenden Schäfer, um dessen Gunst zwei weibliche Figuren werben. Eine ähnliche, antikisch anmutende Gewandung der Frauen sowie eine verwandte Physiognomie weisen sie als Schwestern aus und durch die Accessoires, die sie bei sich tragen, lassen sie sich als Allegorien zweier Künste identifizieren: Die Figur rechts des Schäfers ist durch Feder und Buch in der Hand als Verkörperung der Poesie erkennbar, die linke Figur mit der Laute als Attribut repräsentiert die Musik. Gestik und Mimik der Schwestern lassen auf eine konfliktreiche Situation schließen: Beide scheinen mit großem Engagement ihre Vorzüge anzupreisen und dabei einen Streit auszufechten. Der vor die Wahl gestellte Schäfer blickt unschlüssig in die Ferne, doch einem Paris-Urteil kann er sich entziehen: In seinen Händen hält er bereits die Lösung des Problems – Musica und Poesia werden beide einen Lorbeerkranz erhalten. Im Hintergrund grast friedlich die Schafherde des Hirten vor einer Waldlichtung (ein Schaf rechts scheint dem Geschehen wie dem Betrachter demonstra­tiv das Hinterteil zuzuwenden!). Links im Bild trägt ein üppiger Barockbrunnen mit einer ährenbekränzten Flora-Figur den Titel der Sammlung als Inschrift. 43 Gläser stammte aus Schlesien, hörte in Wittenberg bei Buchner und schloss ein Jurastudium in Helmstedt ab. Dort wurde er 1661 Professor. Seinen literarischen Ruhm (er war Poeta Laureatus) begründeten seine Schäferdichtungen und Liedsammlungen. Vgl. Bernd Prätorius, Reimund Sdzuj: Art. ›Enoch Gläser‹. In: Killy (Anm. 33). Bd. 4. Berlin, New York 2009, S. 226  f. Zu Gläsers musikalischen Kontakten vgl. Braun (Anm. 15), S. 172.



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Abb. 3: Enoch Gläser: Schäffer-Belustigung oder Zur Lehr und Ergetzligkeit angestimmter Hirthen-Lieder: Erstes und Andres Buch; Nebenst zugehörigen Melodeyen / ausgefärtiget von Enoch Gläsern / aus Schlesien. Altdorf 1653. SUB Göttingen: Signatur: 8 P GERM II, 7462 (1).

Auf ein Ensemble von Ehren- und Widmungsgedichten folgt auch in dieser Sammlung eine Erklärung des Titelkupfers. Sie stammt nicht vom Autor, sondern von »Strefon«  – bekanntlich Harsdörffers Gesellschaftsname im Blumenorden. Das ist insofern besonders interessant, als Harsdörffer an anderer Stelle, nämlich in der Vorrede zum sechsten Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele (1646), zu seinen Vorstellungen von Gestaltung und Funktion eines Titelkupfers Stellung bezieht. Seine poetische Ergänzung des Frontispizes von Gläsers Liederbuch ist also von theoretischen Vorüberlegungen getragen. Sie seien hier kurz zusammengefasst:44 Das Ziel des schmalen Traktats ist evident: Harsdörffer definiert für die intermediale Gattung des Kupfertitels Qualitätsstandards und erläutert diese an Mustern, um damit Autoren und Verlegern (weniger den bildenden Künstlern) Orien­tie­ rungs­hilfe anzubieten. Einen normativen Anspruch verfolgt er dabei jedoch ausdrücklich nicht.45 Die Abhandlung beginnt mit einem Systematisierungsversuch

44 Vgl. dazu Breyl (Anm. 1), S. 396  ff. 45 »Hierdurch aber gedenken wir niemand Gesetze und Ordnung vorzuschreiben / sondern nur denen / so in dergleichen Titelerfindunge(n) nicht geübet sind / kurtze Nachrichtung wolmeinend zu ertheilen.« Harsdörffer (Anm. 2), S. 117.

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verschiedener ›Kupfertitel-Typen‹. Harsdörffer unterscheidet solche für Bücher, deren Gegenstand »Lehren« sind, von solchen, in deren Zentrum »Geschichten« stehen.46 Daneben gebe es auch Mischtypen, zu denen er die Frauen­zimmer Gesprächspiele selbst zählt. Zu jedem dieser Typen liefert Harsdörffer Muster, die er kommentiert und anhand dieser Beispiele konkrete Anweisungen u.  a. zur dispositio von Bild und Text bietet.47 Besonders akzentuiert Harsdörffer wirkungsästhetische Aspekte und stellt dabei die Forderung nach perspicuitas ins Zentrum: Die Botschaft des Titelbildes müsse dem Rezipienten verständlich sein, zugleich solle es seine Neugier wecken, so dass er ein »Belieben zu dem Werk gewinne / massen der erste Wahn / den wir durch der gleichen Betrachtung zu Sinne fassen / sehr mächtig ist« (S. 113). Dies kann nur bei einer guten inventio gelingen, die dem Prinzip des äußeren, auf den Rezipienten zielenden aptum, genügt.48 Der Kupfertitel ist folglich dann der »schönste und behäglichste«, wenn er »des gantze[n] Werkes Haubtbegrif am deutlichsten / und zierlichsten zu verstehen giebt / und dem Leser eine so gute Meinung von dem Buch in das Gedächtniß drukket / daß er solches zu kauffen / und es zu lesen begierig wird« (S. 117  f.). Es geht also nicht um die anschauliche Illustration des Buchinhalts, vielmehr dürfte »Haubtbegrif« im Sinne von ›Kernidee‹ aufzufassen sein. Um die Verständlichkeit des Titelkupfers abzusichern, empfiehlt Harsdörffer zusätzlich eine Erläuterung in Form einer »Poetischen Erklärung« (S. 116), zumal der Rezipient »unsere Gedanken / (wann wir sie gleich für leitvernehmlich halten /) nicht so bald er­ra­then kan.« Die »Sin(n)bilder« seien allein wohl »gar zu tunkel / um den Begrief des Buches zu bedeuten.« (S. 109). Insofern sind die Titelkupfer nicht schlechthin ein Sonderfall der Emblematik, sondern grenzen sich davon ab, weil sie stärker die perspicuitas anstreben. Ein logozentrischer Standpunkt Harsdörffers, ein latentes Misstrauen gegenüber dem Bild ist – bei aller Ikonophilie des Autors – hier unverkennbar. Die poetische Erklärung ist eine Maßnahme der bildlichen Unklarheit, der semantischen Mehrdeutigkeit des Bildes Abhilfe zu schaffen.49 46 »Wie aber der Bücher zweyerley Arten / so sind auch der Gemähle / so darzu erkieset worden / zeweyerley: oder von diesen beeden zusammengesetzet. Alle Bücher […] behandeln: Entweder Lehren oder Geschichte.« (S. 109) 47 »Die rhetorische Dreistillehre gilt auch für das Bild; Anforderungen, die an die Rede gestellt werden  – sie solle ›Verständlich-zierlich und den Sachen gemäß sein‹ [Poetischer Trichter I, S. 106] –, hat auch ein Titelbild zu erfüllen und macht die Qualität eines Bildes aus.« Zum Beispiel schlägt Harsdörffer vor, dass in einem Buch über »Geschichten«, der Titel der Kupferstich »in einer Wolken / an einem Baum / auf einem Stein / an einer Thür« etc. »einverleibt« werde. Harsdörffer (Anm. 2), S. 113. 48 Breyl (Anm. 1), S. 400. 49 Vgl. Bettina Bannasch: Von der ›Tunkelheit‹ der Bilder. Das Emblem als Gegenstand der Meditation bei Harsdörffer. In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neu-



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Verschiedene Paratexte eignen sich laut Harsdörffer als Ort der Exegese: die Vorrede, die Zuschrift oder ein beigefügtes Gedicht – letzteres sei besonders für Lyriksammlungen zu empfehlen (S.  116). Bemerkenswert ist der abschließende Paragraph der Abhandlung, in dem Harsdörffer nochmals die Bedeutung der inventio eines Titelkupfers unterstreicht: so appelliert er zwar ausdrücklich an »Buchhändler und Verläger«, auch bei der Umsetzung durch einen Stecher auf Qualität zu achten, doch »wird der verständige Leser / nicht die Zierlichkeit der Handarbeit  / sondern die Würdigkeit der Kopfarbeit zu beobachten wissen« (S.  118). Diese Einschätzung spiegelt den Status von Kupferstechern im ›internen‹ Paragone der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit. Neben Bildhauern und Malern hatten Druckgraphiker, deren Werke auf technische Reproduzierbarkeit angelegt waren, seit jeher einen generell eher schwereren Stand.50 Kommen wir an dieser Stelle zurück zu Harsdörffers Erläuterung des Titelkupfers der Gläser-Sammlung.51 Er entwirft hierzu eine kleine dramatische Szene in der Tradition bukolischer Dialoge bzw. humanistischer Paragonegespräche mit diskutierenden Personifikationen52: Poetische Begebenheit Zur Erklärung des Tittel-Blats ausgedichtet. Demnach die Holde Lentze(n)-Göttin Flora sich mit singen und klingen jederzeit belustiget / hat sie bey erneuerung ihres zarten reiches eine(n) Krantz von bunte(n) und wohlriechende(n) Blume(n) gebunden und solchen dem Schäffer Amyntas zugestellet / daß er ihn den Schönsten und Lieblichsten unter der Musik und Poeterey zustellen solle: Solchen Ehrenpreiß zu erlangen  / haben sich bey ihm angegeben erstbesagte Kunst-schwestern folgender gestalt um den vorzug streitender.

Im darauf einsetzenden Streitgespräch stellen die rivalisierenden Schwestern ihre jeweiligen Vorzüge stichomythisch in heroischen Alexandrinern vor:

zeit. Göttingen 2000, S. 307–325; Barbara Becker-Cantarino: Ut pictura poesis? Zu Harsdörffers Theorie der »Bildkunst«. In: Doris Gerstl, John Roger Paas u.  a. (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Nürnberg 2005 (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg; 10), S. 9–21; Michael Thimann, Claus Zittel (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffers »Kunstverständige Discurse«. Beiträge zu Kunst, Literatur und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2010 sowie die Beiträge von Jörg Robert und Stefanie Stockhorst in diesem Band. 50 Margrit Vogel: Von Kunstworten und -werten: Die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Aufklärung. Berlin, New York 2010, S. 129  ff. 51 Nicht geklärt werden konnte, inwieweit Harsdörffer an der inventio des Titelkupfers involviert war. Zumal auch alle Beteiligten in Nürnberg wirkten, ist eine Zusammenarbeit von Verleger, Autor, Stecher und Beiträger, also Harsdörffer, jedoch recht wahrscheinlich. 52 Zu dieser Tradition vgl. den Überblick bei Hessler (Anm. 12), Kap. III. (»Der Paragone in der Literatur«).

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Musik. Wann das Alter ist zu loben / So dring’ ich dir billig vor. Poeterey. Meiner Künste neuer Proben / Heb ich über dich empor. Musik: Wenn man feste will begehen / Dien ich mit dem Seyten-Klang Poeter. Niemand wird dein Spiel verstehen / Ohn mich und mein Reimgesang. Musik: Hertz und Sinne zu erregen / Stimm ich meine tönung an. Poeter. Und den willen zu bewegen / Dicht’ ich was ich dichten kan. Musik: Lauten / Geigen und Schalmeyen / Bring’ ich zu dem Freuden-dantz. Poeter. Ich sing’ an der Musen-reyen / Mir gebührt der Blumen-Krantz.

Die Argumente sind bekannt: Am Beginn steht die Querelle des Anciens et des Modernes. Die Musik reklamiert für sich, das höhere Alter zu haben. Dagegen setzt die Poesie gerade ihre Innovationskraft, sie kann mit »neue[n] Proben« aufwarten, also Tradition und Neuheit zusammenführen – »Summa enim laus in Poetica, Novitas« heißt es z.  B. bei Scaliger.53 Die Musik macht ferner ihre sensuelle und emotionale Wirkkraft zur Freude der Menschen bei Festen und Tänzen geltend. Die Poesie erkennt demgegenüber ein Defizit der Schwester darin, dass ihre Kunst einer semantischen Ebene entbehre (»Niemand wird dein Spiel verstehen«). Erst das Wort mit seinem hermeneutischen Potential könne der Musik Sinn verleihen, sie selbst (also die Poesie) verfüge somit über die viel wichtigere rhetorische Fähigkeit des movere (»den willen zu bewegen«) – ein Argument, das bereits im Umfeld der Florentiner Camerata, im Kontext der Seconda Prattica bzw. der frühen Operndiskussion von Bedeutung war, um dem Wort den Vorrang gegenüber der Musik einzuräumen. Der Dialog wirkt insgesamt ausgeglichen, das Gefecht endet gleichsam in einem Patt. Jede der Schwestern hat gute Gründe dafür vorgetragen, als Siegerin prämiert zu werden. Das liegt auch daran, dass die theologischen Argumente in lutherischer Tradition angesichts des weltlichen Charakters des Liederbuchs ausgespart bleiben: In anderen Zusammenhängen wirft Harsdörffer, dessen große Affinität zur Musik bekannt ist,54 die transzendentale Ebene der Musik als »Widerhall der himmlischen Freuden«55, ihre Trostwirkung, ihre therapeu-

53 Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann. Hg. und übers. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. 5 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994–2003, hier Bd. 1, S. 162. 54 Vgl. Irmgard Scheitler: Harsdörffer und die Musik. Seelewig im Kontext deutschsprachiger Musikdramatik. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität: Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher, S. 213–236, mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen. 55 So heißt es im Prolog des Seelewig. Hier tritt »Die Musik oder Singkunst« auf, um ihre Funktion und Wirkung zu erläutern. Vgl. die Analyse des Prologs durch Sven Rune Havsteen: Der musiktheologische Diskurs in der Musikanschauung Georg Philipp Harsdörffers. In: KepplerTasaki/Kocher (Anm. 54), S. 197–211, hier S. 199  ff.



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tische Funktion und ihre doxologische Aufgabe mit in die Waagschale. Hier gilt sie dann zweifelsohne als die höchste Kunst. In dem kleinen Streitspiel fällt die Entscheidung offenbar schwerer. Harsdörffer fährt fort und erklärt nun, warum der Titelkupfer den Schäfer mit zwei Kränzen in der Hand zeigt: Er hat aus einem Siegerkranz zwei gewunden. Genau diesen Moment hält das Bild fest. Die Preisverleihung und die ironische Urteilsbegründung, nicht Gegenstand der Graphik, schließen sich an: Nach genommenem bedacht theilte Amynthas den wettpreis und machte also aus einem zween Blumen-kräntze; sätzte solche den freundlich-streitenden Schwestern auf  / und liesse folgenden entscheid-spruch hören: Ein gleich belobter Lohn sol gleichbegabte zieren; Ein gleichbeliebter streit verdienet gleiche beut: Den kunst beseelten thon soll gleiche dichtung führen. Der Schönsten reinem Lied bezaubert durch das singen Wen(n) solches Waldgesang der lieblichst harf zwa(n)g Folgt jeder stimmung schritt mit überholdem klingen: Ihr schwestern lebet frey verschwestert / gleich gesin(n)et / Schniert mit gesamter Hand das zarte Saiten band Auf das geeret sey was gleiche ku(n)st begin(n)et. Von Strefon

3 Collegium Musicum: Johann Erasmus Kindermanns Opitianischer Orpheus (Nürnberg 1642) Die 1642 vom Nürnberger Musiker Johann Erasmus Kindermann (1616–1655), einem Schüler Johann Stadens, publizierte Sammlung Opitianischer Orpheus stellt innerhalb der deutschen Liedgeschichte des 17. Jahrhunderts insofern eine Besonderheit dar, als sie das einzige Liederbuch ist, in dem (drei Jahre nach dem Tod des Bunzlauers) ausschließlich weltliche Opitz-Texte vertont sind.56

56 Abdruck von Titelblatt und Vorrede auch bei Thomas Schlage: Die Vokalmusik Johann Erasmus Kindermanns (1616–1655). Neckargemünd 2000, S. 324  ff., s. auch ebd., S. 51. Im selben Jahr veröffentlicht Kindermann auch ein geistliches Pendant, den »Concentus Salomonis«, eine Vertonung von Opitz’ Hohelied-Übersetzung. »Die Titelfiguren beschwören mit Orpheus die heidnische, mit Salomon die biblische Tradition der Musica.« (Braun [Anm. 16], S. 184). Der Opitianischen Orpheus umfasst 24 Lieder für ein oder zwei Stimmen, Generalbassbegleitung und drei Violinen für die Ritornelle im Stil Heinrich Alberts. Zur musikalischen Faktur und Auswahl der Texte vgl. Schlage (Anm. 56), v.  a. S. 93–108 sowie Braun (Anm. 16), S. 184–189.

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Kindermann wirkte um die Jahrhundertmitte als Organist an St.  Egidien in der Reichsstadt und stand mit den Pegnitzschäfern, die ihn als Vertoner ihrer Gedichte schätzten, in Kontakt. Die Vorrede der Sammlung greift Kerngedanken der protestantischen Musikanschauung auf, verbindet sie mit den alttestamentarischen Zeugnissen (David, Elisa) sowie dem humanistisch-antiken Mythos von Orpheus, der »die sonsten von Natur wilde Thier gezähmet / ja die leblose Creaturen frewdig gemacht haben solle«.57 In ähnlicher Weise habe Opitz eine verwilderte Landschaft kultiviert, indem er die deutsche Sprache zu einer der Dichtung würdigen entwickelt habe. Während Orpheus jedoch nur durch die Musik, Opitz nur durch das Wort gewirkt habe, könne die Verbindung beider Künste in der vorliegenden Sammlung die höchste Kunst hervorbringen. Erst die »edle Kunst der lieblichen Musica«, »der Vorschmack des ewigen Lebens«58 vervollkommne gewissermaßen Opitz’ Poesie. Das Titelblatt (Abb. 4) steht mit diesen Gedanken in Verbindung bzw. scheint darauf Bezug zu nehmen. Es handelt sich in seiner Grundgestalt um ein Kupfertitel im verbreiteten »Architekturdesign«59. In der Dachkonstruktion der Schauwand ist die beliebte Sentenz »Musica noster Amor« eingraviert, darunter sieht man ein zweigeschössiges, offenes Bauwerk. In der oberen Etage ist auf einem üppigen, wappenartig drapierten Stoffvorhang die vollständige Titelei wiedergegeben. Gleichsam als Schutzpatrone flankieren Pythagoras und Orpheus den Werktitel. Der antike Philosoph hält (als Reminiszenz an die berühmte Legende, laut der er in einer Schmiede auf Samos die Grundlagen für seine Intervalltheorie entwickelt habe) einen Hammer in der Hand. Er verkörpert hier die alte artesTradition.60 Orpheus mit der Leier trägt die Züge Martin Opitzens. Im unteren Stockwerk des Gebäudes hat sich eine musizierende Gesellschaft zusammengefunden. Bei diesem Bildteil handelt es sich um eine Kopie des berühmten Stichs »Auditus / L’ouye« des französischen Zeichners Abraham Bosse (1602–1676). Der Stich gehört zu Bosses Zyklus Les cinq sens (um 1638) und zeigt einen fürstlich ausgestatteten Raum im Paris Ludwigs XIII. Die abgebildete Musizierrunde, bestehend aus einem Knaben, einem Sänger, einer Sängerin, einer singenden Lautenistin und einem singenden Viola da Gamba-Spieler, intoniert offenbar nach

57 Zitiert nach Schlage (Anm. 56), S. 235. 58 Ebd., S. 235  f. 59 Möller (Anm. 10), S. 13. 60 Auf dem Frontispiz zu Kirchers Musurgia universalis sieht man z.  B. Pythagoras, sich auf eine Steintafel stützend und auf eine Steintafel deutend, auf der das nach ihm benannte Dreieck und einer Zahlenreihe, die auf die konsonanten Fundamentalzahlen der Intervallehre weisen. Er deutet dabei auf eine Schmiede, die im unteren Bildbereich dargestellt ist Vgl. Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Köln 1967, S. 409  f. Abbildung, ebd., Anhang IV.



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Abb. 4: Johann Erasmus Kindermann: Opitianischer Orpheus. Daß ist Musicalischer Ergetzligkeiten. Erster Theil, Mit 3. und 2. Stimmen neben dem General Baß darzu noch 3 Violin in Rittornello (so man will) können Musiciert werden. Nürnberg 1642. Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Signatur: 9995/Mus.pr. 13859.

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Stimmbüchern (im Querquartformat) eine »Chanson à 5 parties«, während sich im Hintergrund dramatische Gefechte ereignen. Die »bürgerliche Adaption«61 des Stichs bei Kindermann verzichtet auf die prächtige Ausstattung zugunsten einer schlichten Stube, Gewand und Haartracht der Figuren sind dem örtlichen und zeitlichen Kolorit angepasst, Instrumente, Anordnung und Körperhaltung sind jedoch übernommen. Bereits Walter Salmen hat darauf hingewiesen, dass Kindermanns Kupfertitel insofern quellenkritisch aufschlußreich ist als man augenscheinlich nicht stets vom Titelkupfer auf die Aufführungspraxis des in der Ausgabe Enthaltenen schließen kann […], denn weder liegen in dieser Liedausgabe die abgebildeten Querquartstimmbücher vor […], noch stehen die Angaben für die Besetzung damit in Einklang. Der Zeichner Abraham Bosse lernte gewiß in Paris eine anders ausgeführte Kammermusik kennen als diejenige, welche der Nürnberger Organist seinem Käufer anbot. Bild und Sache stimmen somit nicht stets überein.62

Die Darstellung eines solchen Collegium Musicum63 findet man auf zahlreichen Titelbildern barocker Liedersammlungen: Johann Martin Ruberts Musikalische Arien 1. Teil (Stralsund 1647) ziert ein ähnlicher Stich des Künstlers »D.  D.« (vermutlich der in Hamburg wirkende Dirk Diricksen, gest. 1653). Hier passt die Darstellung zu der praktischen Umsetzung der Arien: Man sieht zwei Musiker, die die Violenduette (»Sinfonien«) der Sammlung spielen, ein Clavichordspieler begleitet das Ensemble durch Ausführung des Generalbasses, unterstützt durch akkord­ liche Ergänzungen des Lautenisten (er blickt in das Stimmbuch des Tastenspielers). Auch der zweite Lautenist und der Gambist intonieren offenbar gemeinsam nach der Generalbassstimme. Dazwischen sitzen drei Sänger. »Musica noster Amor« ist auch ihr Motto.64 Rists Sammlung Frommer und GottSeliger Christen Alltägliche HausMusik (Lüneburg 1654) zeigt in verwandter Weise das Interieur eines Pfarrhauses, den Hausvater als König David stilisiert mit der Laute, um ihn herum singen und musizieren die Hausmutter und die Kinder.65

61 Braun (Anm. 16), S. 59. 62 Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900. Leipzig 1969 (Musikgeschichte in Bildern. Musik der Neuzeit; VI, 3), S. 46. 63 Zu dieser Geselligkeitsform vgl. Braun (Anm. 16), S. 304  f. 64 Abbildung und Beschreibung bei Salmen (Anm. 62), S. 66. Vgl. auch ders.: Literarisch-musikalische Lustgärten im 16. und 17. Jahrhundert. In: Euphorion 94 (2000), S. 403–422. 65 Abbildung und Beschreibung s. Salmen (Anm. 62), Abb. 17.



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4 Fazit Die ausgewählten Titelkupfer weltlicher Barockliederbücher zeigen unterschiedliche Motive, die bisweilen stärker, bisweilen eher peripher auf die Beteiligung zweier Künste im vorliegenden Buch referieren. Für eine Typologie müssten freilich weitere Frontispize hinzugezogen werden. Ein weiterer Bildbereich, den man in diesem Zusammenhang immer wieder antrifft, ist z.  B. der des Venusgärtleins.66 Dennoch lassen die analysierten Exempel die Vermutung zu, dass zum Beispiel das Motiv des Helikon/Parnass für diese Gattung mehrfach gewählt wurde. Es weckt durch den mythologischen Bezug auf Apoll und die singenden Musen Assoziationen mit dem Bereich, wo die musische Kraft des ›Singen und Sagens‹ ihren Ursprung hat, die Idee der ursprünglichen Einheit von Musik und Sprache im lyrischen Gesang. Außerdem eignet es sich, poetologisch-programmatische Ideen mit kulturpatriotischem Impetus wie die ›translatio artis‹ (Dedekind) und die ›imitatio modernorum‹ (Rist) darzustellen. Auch bietet es die Möglichkeit einer effektvollen Autorinszenierung, indem dieser mit dem vorliegenden Buch Teil des Helikons ist bzw. wird. Musik und Poesie werden in diesen Stichen jedenfalls nicht als Konkurrenten gesehen, sondern als ohnehin untrennbar miteinander verbundene Künste dargestellt. Der sozialgeschichtlichen Bezugsrahmen der Liederbücher spielt häufig eine Rolle; so ist das Collegium Musicum ein typisches graphisches Element auf den Titelblättern (Rubert, Rist, Kindermann), wobei der Quellenwert dieser Darstellung hinsichtlich der Aufführungspraxis der Lieder in jedem Einzelfall zu untersuchen ist (s. Beispiel Kindermann). Neben dem Helikon mit Pegasus und verschiedenen Musenvariationen begegnet man auf den Stichen mythologischen bzw. antiken Musikerfiguren wie Orpheus (Kindermann) und Apoll (Dedekind) sowie Pythagoras (Kindermann). Ferner hat sich die Vermutung bestätigt, dass bei Autoren, die selbst (auch von Berufs wegen) der Musik näher stehen wie Dedekind und Kindermann, der Tonkunst eine wichtige(re) Funktion bereits im Titelbild zugesprochen wird. Beim Textautor mit musikalischer Ambition, Enoch Gläser, kann die Poesie der Musik auf Augenhöhe begegnen, der Paragone zwischen Musik und Poesie wird hier auf einer dritten medialen Ebene, nämlich im Medium des Titelkupfers, allegorisch ausgetragen, um in einem versöhnlichen Remis zu enden.

66 Z.  B. bei Georg Greflinger: Zwei seiner Liederbücher (Seladons beständige Liebe, Frankfurt 1644 bzw. Seladons weltliche Lieder, Frankfurt 1651) zeigen eine Garten-Eden-Kontrafaktur. Vgl. dazu die Verf.: Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert. Berlin, Boston 2015 (Frühe Neuzeit; 191), S. 217–219.

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Eine systematische Erschließung von Titelkupfern musikoliterarischer Werke dieser Epoche könnte innerhalb dieses Korpus auch zeigen, welche Elemente von Stichen übernommen werden. Hier konnte das andeutungsweise am Beispiel der Bosse-Adaption bei Kindermann gezeigt werden. Bei Dedekinds Parnassdarstellung könnte es sich sogar um einen beabsichtigten interpikturalen Bezug zu Rists Titel handeln.67 Um in diesem Zusammenhang nur zwei weitere Anregungen zu geben: Elemente des komplexen Titelkupfers von Kirchers Musurgia universalis (Rom 1650) zieren in leichter Abwandlung auch Rists Sabbathische Seelenlust (Lüneburg 1651)68. Im Titelbild von Ambrosius Profes Ausgabe der Albertschen Arien69 (Leipzig 1657) werden neben einen Putten-Helikon zwei Figurenpaare (Venus mit Amor und Schäfer mit verschleierter und myrtenbekränzter Hirtin) montiert, die sich zuerst auf Johann Dürrs Kupfertitel zu Homburgs Schimpff und ernsthaffter Clio (1642)70 befinden.71 In den hier untersuchten Beispielen – das bleibt festzuhalten – werden unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen poetologische, programmatische und genealogische Aspekte thematisiert sowie literaturgeschichtliche und kunsttheoretische Diskurse wie der Paragonge intermedial-emblematisch in Szene gesetzt.

67 Vgl. Braun (Anm. 16), S. 271  f. 68 Zum Kupferstichs der Musurgia vgl. die ausführliche Interpretation von Dammann (Anm. 60), S. 406  ff. Bei Rist ist der mittlere Bereich (die ›Musica mundana‹) des Stichs übernommen: die Heilige Cäcilia als Laureata mit Kithara und Syrinx auf einer Kugel thronend, die »die Natur (Makrokosmos) des Gestirnhimmels mit dem umspannenden Bandstreifen des Tierkreises« repräsentiert. Ebd., S. 407. 69 VD17 7:685571Y. 70 Das Titelkupfer ist nur wenigen Clio-Drucken beigefügt. Abbildung bei Ernst Christoph Homburg: Schimpff- und Ernsthaffte Clio. Historisch-kritische Edition nach den Drucken von 1638 und 1642. Text- und Kommentarband. Hg. von Achim Aurnhammer, Nikolas Detering und Dieter Martin. Stuttgart 2013, S. 20. 71 Kaum beachtet werden konnten in diesem Rahmen ferner sozialhistorische Aspekte wie die Zusammenarbeit von Vertretern verschiedener Künste. John Roger Pass hat am Beispiel der Nürnberger Konstellation um Sigmund von Birken gezeigt, dass die Gestaltung eines Titelkupfers von Verlegern, Autoren und Künstlern sehr ernst genommen wurde und dass ein solches Bild in enger Absprache, bisweilen sogar in Teamwork entwickelt wurde. John Roger Pass: Zusammenarbeit in der Herstellung illustrierter Werke im Barockzeitalter: Sigmund von Birken (1626–1681) und Nürnberger Künstler und Verleger. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 24 (1997), S. 217– 239. Andere Beispiele für diese künstlerische Zusammenarbeit sind u.  a. Moscherosch und Peter Aubry in Straßburg, Rist und Franz Stüerhelt in Hamburg, Johann Georg Schleder und Abraham Aubry in Frankfurt, s. ebd., S. 239.

IV Literarische Bildpoetik

Stefanie Arend

Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik anhand von emblematischen Figurationen in der Frühen Neuzeit Die Lehrbücher der klassischen Rhetorik, die Rhetorica ad Herennium, Ciceros Orator und De oratore, Quintilians Institutio oratoria, als die wichtigsten, sind Anweisungen für einen Redner, der öffentlich seine Rede hält, dem neben der Modulation seiner Stimme Mimik und Gestik zur Verfügung stehen, um seine Worte zu unterstützen. Diese Lehrbücher sagen zwar einiges zu dem Gebrauch von Bildern in Form von Metaphern oder Allegorien, jedoch nichts zu Texten, die visuelle Bilder verwenden. Es sind vor allem Anleitungen für die lebendige Rede. Sie zielen auf den gelungenen Vortrag, die actio. Um frühneuzeitliche Text-BildKompositionen zu beschreiben, ist es dennoch hilfreich, sich der Begrifflichkeiten der klassischen Systematik zu bedienen. Uneinigkeit aber besteht seit langem in der Frage, wie derartige Kompositionen in ihren Strategien der Überzeugung genau funktionieren. Beispielsweise ist seit Albrecht Schönes Emblematik und Drama ein reger Streit um die Priorität des Bildes oder der Schrift entbrannt.1 Merkmale der bilderreichen und rhetorisch oft sehr durchdachten Flugblatt­ publizistik und die Interferenzen mit anderen literarischen Gattungen sind von Michael Schilling und Wolfgang Harms in Ansätzen untersucht.2 Ein Versuch, 1 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. Mit 67 Abbildungen. München 1964, S.  25. Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf einer mnemonischen Emblematiktheorie. In: Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber (Hgg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400‒1750. Tübingen 1993, S. 351‒372. Bernhard F. Scholz: Ontologie oder Semantik. In: B.  F. S.: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften; 3), S. 247‒269. Joachim Küpper: Bild und Text. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Heft 50/1 (2005), S. 77‒109. Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk. In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Teil 1. Unter Mitarbeit von Michael Waltenberger. Frankfurt am Main u.  a. 2002 (Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies), S. 9‒24. Thomas Althaus: Differenzgewinn. Einwände gegen die Theorie von der Emblematik als synthetisierender Kunst. In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik (wie ebd.), S. 91‒109. 2 Michael Schilling: Flugblatt und Drama in der Frühen Neuzeit. In: Daphnis 37 (2008), S. 243‒270. Vgl. Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen DOI 10.1515/9783110521788-014

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 Stefanie Arend

Grundzüge einer intermedialen Rhetorik in der Frühen Neuzeit über die Grenzen einzelner Textsorten hinweg zu entwerfen, ist bisher jedoch nicht unternommen worden. Die Frage ist zunächst, ob es überhaupt möglich ist, generell Aussagen darüber zu treffen, wie idealtypisch intermediale Rhetorik in der Frühen Neuzeit funktioniert. Können wir davon ausgehen, dass Text und Bild, wie Harsdörffer es in seinem Kunstverständigem Discurs, von der edlen Mahlerey metaphorisch ausdrückt, idealerweise das Verhältnis einer guten Ehe spiegeln, einen »fried­ lichen / glücklichen Ehestand« führen?3 Was sagen intermediale Text-Bild-Kombinationen über sich selbst und ihr Miteinander? Wie machen sich paragonale Tendenzen bemerkbar? Welche Szenarien des Zusammenspiels zwischen Lesen und Sehen, zwischen äußerem und innerem Bild sind denkbar? Welche Rolle spielt ein weiteres Medium, das Gedächtnis, die memoria? Zur Annäherung und Anregung wurden Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten gewählt: ein Flugblatt aus der geistlichen Erbauungsliteratur, ein Emblem aus dem Bereich der moralisch-politischen Paränese und das Titelkupfer einer Poetik. Dieses Flugblatt (Abb. 1)4 der allegorischen Figur der Gedult, der patientia, kursierte 1616 in Nürnberg. Peter Isselburg fertigte den Kupferstich an, Johannes Preisegger vermutlich den Text.5 Merkmale eines idealtypischen Flugblattes sind, dass es 1. dem rhetorischen Ideal der Kürze entspricht, der brevitas, 2. das Ziel seiner Paränese unmissverständlich deutlich wird und 3. es Aufmerksamkeit erregt, das attentum parare leistet. Dafür kam dem Bild außerordentliche Bedeutung zu, weil es den Blick zunächst auf sich ziehen sollte. Spitzfindigkeiten, wie in einigen gelehrten Ausprägungen der eigentlichen Emblemkunst, waren weniger zu erwarten. Dies hatte auch ökonomische Gründe. Häufig wurden Flugblätter

des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 29); Wolfgang Harms, Michael Schilling: Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte. Stuttgart 2008. 3 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Diskurs, von der edlen Mahlerey. Nürnberg 1652. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Michael Thimann. Heidelberg 2008 (Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Kunst; 1), S. 17. Ein sehr harmonisches Miteinander von Text und Bild im Emblem suggeriert Harsdörffers Definition in den Frauenzimmer Gesprächsspielen: Das »Gleichniß ist die Seele des Sinnbildes / dessen Dolmetscher die Obschrift / und der Leib ist das Bild oder die Figur an sich selbsten / gleicher gestalt der Musickunst gemässe Zusammenstimmung / und in der Uhr die Bewegung der Röder / derselben Geist genennet werden können / aber nicht die Noten / oder Zahlen / welche der Zeichner [sic] weiset.« Georg Philipp Harsdörffer: Frauen­zimmer Gesprächsspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. I. Teil. Tübingen 1968, hier S. 59. 4 Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe. Hg. von Wolfgang Harms und Michael Schilling. Bd. 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Teil 1: Ethica. Physica. Tübingen 1985, S. 37. 5 Vgl. die Erläuterungen ebd., S. 36.



Abb. 1

Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 

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auf öffentlichen Plätzen verkauft. Das Bild sollte zuerst neugierig machen und anziehen und möglicherweise bereits von selbst bewegen und aufrühren, das movere leisten. Es kam folglich in erheblicher Weise auf die inventio des Bildes an, das dann in einer unmissverständlichen Relation zum Text stehen sollte, um Irritationen auf Seiten des Rezipienten zu vermeiden. Idealerweise hätten wir es bei Text und Bild mit einer wechselseitigen Erhellung des Sinns zu tun, so dass sich beim Hin- und Herschalten zwischen den Medien die Deixis verstärkt, etwa die moralische Paränese deutlicher wird, die hier lautet, sich in der christlich-stoischen Tugend der Geduld, der patientia, zu üben. Die Überschrift kann die Rezeptionshaltung lenken: »Gedult / Die Edele Tugent / mit ihren liebreichen eigenschafften und nutzbarkeiten  / anmütlich und tröstlich für  / und abgebildet.«6 Zu sehen ist die allegorische Personifizierung der Geduld, die eine Kerze und ein Buch mit der Inschrift verbum dei, »Wort Gottes«, in der Hand hält. Vor ihr liegen ein Skelett, eine Teufelsfigur mit einem Vogelfuß und eine Weltkugel als typisch barocke Requisiten der Vergänglichkeit. Links sehen wir ein Lamm als Sinnenbild der Geduld. Die patientia wendet ihr Gesicht nach oben zur Putte, die einen Lorbeerkranz und einen Palmzweig in der Hand bereithält. Die pictura ist einfach zu verstehen, offenbar dazu angetan, das Wirkungsziel der Affekterregung (movere) und des Trostes (consolari) einzulösen, zumal beim christlich versierten Betrachter, der ikonographisch einiges wiedererkennen könnte, seinen Gedächtnisspeicher aktiviert sieht. Damit das Wirkungsziel ohne Irritation erreicht wird, müssten paragonale Tendenzen ausgeschlossen werden, die Unruhe zu stiften imstande sind und somit das didaktische Moment unterlaufen. Ist dies aber tatsächlich der Fall? Welche Szenarien sind denkbar, die ein homogenes Zusammenspiel von Text und visuellem Bild stören? Welchen Status haben der Kupferstich und der darunter stehende Text? Erfüllt der Kupferstich das klassische rhetorische Ideal der Deutlichkeit, der perspicuitas so, dass die Lektüre der Verse nicht unbedingt nötig ist? Es fällt auf, dass im Bild eine gewisse Unruhe herrscht. Die Figuren zu Füßen der Geduld sind alle in Bewegung, verrenken ihre Körperteile, die Erdkugel rollt am Boden herum, das Lamm verdreht seinen Kopf, die Geduld selbst liest nicht in dem Buch, sondern schaut zur Putte empor, die herbeigeeilt kommt. Das Bild lässt den Blick nicht ruhig haften. Auch die direkt unter ihm stehenden Verse lenken ihn auf sich, allein schon deshalb, weil sie graphisch im Fettdruck hervorgehoben sind, wie im weiteren Verlauf des Textes auch einzelne Worte. Der erste Vers besitzt deiktische und ermahnende Funktion und vermag den Blick festzuhalten. Die Geduld tritt selbst als Rednerin auf und beginnt zu sprechen:

6 Ebd., S. 37.



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»Schaue mich an O lieber Christ«.7 Nun gibt sie den Ton an, ihre Ermahnung könnte zunächst den Blick wieder auf den Kupferstich zurücklenken, aber das ›schau mich an‹ meint zugleich ›lies weiter‹. Es entsteht auf synästhetische Weise eine neue und andere Energie, wenn der Rezipient selbst angesprochen wird und die Geduld sich selbst noch einmal vor ihm ›fürbildet‹, sich vor seinem geistigen Auge neu erfindet, die Imagination erst recht in Gang bringt, so, dass sie ihr Abbild im Kupferstich Schritt für Schritt überflüssig werden lässt. Schritt für Schritt entwirft die nun redende Geduld ihr eigenes Bild im Gedächtnis des Rezipienten neu. Womit kann sie rechnen? Entweder ist dort schon ein Vorstellungsbild von ihr vorhanden, dann wird sie dieses bestätigen und bekräftigen, oder sie malt in ihrer Rede eines dorthin, ins ›Wachs‹ des Gedächtnisses, und schreibt die Bedeutung der Zeichen gleich hinzu. Falls der Titelkupfer ohne Worte die Imagination in Gang gesetzt hat, amplifiziert sie diese oder errichtet sie Grenzen, verhindert, dass sie eigensinnig ausschweift. Wie auch immer motiviert sie das Denken und beschränkt es zugleich oder stellt es sogar still, denn sie beansprucht Autorität und meißelt besonders die Zeichen, die im Druck hervorgehoben sind, wie »Kron«, »Buch«, »Kertz«, »Todt«, »Teufl«, »Lamb« und »Ehrnkrentzlein« im Gedächtnis ein oder erinnert an sie,8 falls sie dort bereits als Bilder vorhanden sind. Zugleich deutet sie sie aus im Hinblick auf das Wort Gottes, das im Zentrum steht. Die homiletisch anmutende die Rede der patientia richtet die Zuhörer auf dieses Wort aus und erläutert die eigene Haltung als Frucht der Lektüre des paradoxen verbum dei. Sie spricht ihren betrachtenden Leser als »Jesu nachfolger« an,9 als jemanden, in dem das Wort Gottes ebenfalls Fleisch werden könnte, so er denn ihre Worte recht beherzigt. So legt sie ihn auf seine Rolle fest und fordert ihn auf, sich selbst zu bilden im Sinne des Gotteswortes. Entscheidend für die intermediale Rhetorik ist, dass der Rezipient sich im Kupferstich nicht wiederfindet. Er muss sich von der Ikonographie nicht angezogen fühlen. Es ist möglich, dass er sich nicht angesprochen, seine Neugierde nicht erregt wird, weil das Dargestellte ihm fremd ist ‒ was im Kontext der Frühen Neuzeit wenig wahrscheinlich ist ‒ oder, weil es ihm nur zu gut bekannt ist und der Reiz des Neuen fehlt. Wie auch immer: Er ist in seinem Sehen frei, er kann wegschauen, es nicht auf sich beziehen.10 Erst die Rede der Geduld nimmt ihn

7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Das Übersehen gehört zur Performativität des Sehens dazu. »Habituell bedingte Blindheiten« bestehen darin, »Vertrautes nicht mehr zu sehen oder durch eingespielte Deutungsbilder zu übersehen.« Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt am Main 2008, S. 109.

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mit ins Bild hinein, nun findet er sich angesprochen, nun findet die applicatio des Bildes statt, im ›schaue mich an O lieber Christ‹. Da schaut er sich auch selbst an, denn hier wird deutlich, dass die Geduld ja ein besserer Teil seiner selbst ist, der mit ihm spricht. Ihre Rede läuft dem visuellen Bild den Rang ab, setzt sich an seine Stelle, indem sie den Betrachter mit ins Geschehen hinein nimmt. Falls sich sein Blick dann doch einmal wieder nach oben bewegen sollte, ist sie aber dennoch da. Allein aber die Worte vermögen, ihn am Geschehen zu beteiligen und zu sagen, »Deine Sache wird verhandelt«, »es geht um Dich«, »tua res agitur«. So ein Fall wie dieser zeigt, dass eine Theorie der intermedialen Rhetorik über die Frage nachdenken sollte, die auch für die klassische Rhetorik und ihre Anverwandlungen in der modernen Persuasionsforschung äußerst wichtig ist: Wo könnte sich der Zuhörer befinden, wo und auf welche Weise wird er angesprochen, wie bewegt er sich zwischen Worten und sichtbaren wie unsichtbaren Bildern, an welcher Stelle wird er eigentlich erst so affiziert, dass Überzeugung, persuasio, zustande kommt?11 Auch ist es hilfreich, den ideengeschichtlichen Kontext zu beachten. In Luthers bildtheologischen Überlegungen stehen die Adressaten im Zentrum, die potentiellen Zuhörer einer Predigt in Worten. Luther hat nicht nur eine weitaus gemäßigtere Haltung gegenüber der Bilderfrage eingenommen als etwa Karlstadt in seiner Schrift Von Abthuung der Bilder oder als die Reformierten.12 Stand er auch der Allegorese kritisch gegenüber, so hat er der Bildlichkeit in der Predigt eine außerordentliche Rolle zuerkannt. Homiletische Grundlage ist zwar stets der »Literalsinn«,13 aber Bilder und Gleichnisse sollen die Lehre und die Glaubensinhalte, die doctrina, verdeutlichen, sie »amplifizieren« und sie »zieren«.14 Das ›Fürbilden‹, das auch in der Überschrift des Flugblattes zur Geltung kommt, spielt in der bildreichen Predigtsprache Luthers eine wichtige Rolle, es zielt auf das ›Einbilden‹ des Bildes und seiner Lehre in der Seele des Gläu-

11 Vgl. Heike Mayer: Rhetorische Kompetenz. Grundlagen und Anwendung. Mit Beispielen von Ahmadinedschad bis Juli Zeh. Paderborn u.  a. (Rhesis. Arbeiten zur Rhetorik und ihrer Geschichte), S. 85‒97. 12 Vgl. Andreas Bodenstein, gen. Karlstadt: Von abthuhung der Bylder, Und das keyn Betdler unther den Christen seyn soll [1522]. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bilderstreits im 16. Jahrhundert. Bd. 1 und 2. Berlin, Boston 2014 (Frühe Neuzeit; 184), S. 91‒114. Vgl. Walther von Loewenich: Bilder VI: Reformatorische und nachreformatorische Zeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe. Teil I. Bd. 6, S. 546‒557, hier S. 549  f. 13 Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit einer Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Brill 2002 (Studies in the History of Christian Thought; 104), S. 126. 14 Ebd., S. 126.



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Abb. 2

bigen.15 So unternehmen es im Flugblatt die Verse. Diese sollen den bildnerischen Akt des Adressaten in Gang setzen, der mit Hilfe des in Sprache ›fürgebildeten‹ Bildes sich selbst vor dem inneren Bild vergleicht und es zum Maßstab seiner Arbeit an sich selbst macht. Auf dieses innere Bild kommt es an, im plotinischen Sinne auf das endon eidos (vgl. Plot., Enn. 1. 6. 3, 14).16 Das ist nicht das Bild, das die redende Geduld entwirft, aber eines, das durch dieses wiedererinnert wird, das Ideal des Christenmenschen in Gestalt des eigenen Selbst. Idealerweise beginnt nach der Rede der Geduld das Selbstgespräch, die meditative Befragung seiner Selbst, oder sogar die Wandlung. Das nächste Beispiel (Abb. 2)17 findet sich in Julius Wilhelm Zincgrefs Ethischpolitischen Emblemen (Emblematum ethico-politicorum), zuerst veröffentlicht

15 Vgl. ebd., S. 123. Vgl. WA 2,689,24‒29; WA30/I,267,22;268,2. Vgl. auch Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000, S. 67. 16 Zit. wird nach: Plotin: Enneaden. In: Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Bd. 1: Die Schriften 1–21 der chronologischen Reihenfolge. a Text und Übersetzung. Hamburg 1956. 17 Julius Wilhelm Zincgref: Emblematum ethico-politicorum centuria. Editio ultimo, auctior et emendatior annexa Indice. Heidelberg 1666, Clemens Ammon. Hier das Emblem XLII, L2v.L3r.

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1619 in Heidelberg und dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz gewidmet. Die Sammlung war sehr erfolgreich und erschien bis 1698 in elf Ausgaben, die sich in Teilen erheblich vom Erstdruck unterscheiden. Ich verwende hier die Ausgabe von 1666, die in ihrer Komposition dem Original wieder relativ nahe kommt. Die Gestaltung spiegelt insgesamt eine typische Entwicklung der Emblembücher im 17.  Jahrhundert wider. Im Unterschied zum ›Idealtyp‹ sind den eigentlichen Emblemen längere Kommentare, in dieser Ausgabe auf der linken Seite, beigegeben.18 Die erläuternden Unterschriften, die subscriptiones, sind in französischer und in deutscher Sprache verfasst und mit kurzen Überschriften versehen. Dem Betrachter und Leser wird folglich so einiges abverlangt, wollte er sich intensiv allen Einzelheiten widmen. Die Zugänge zu Emblem und Kommentar sind dabei variabel, etliche Möglichkeiten der Erschließung denkbar. Auch bei diesem ausgewählten Emblem mit dem Motto Nisi infundas oleum handelt es sich sowohl graphisch als auch sprachlich um ein komplexes Konstrukt, das auf verschiedenen Wegen durchwandert werden könnte. Lassen sich hier deutlich die Funktionen von Text und Bild in Hinsicht auf die Überzeugung des Rezipienten bestimmen? Ist beispielsweise der Kommentar, um mit Albrecht Schöne zu sprechen, »eine entbehrliche Zutat« – da ja, nach seiner Auffassung, das Bild ›Priorität‹ besitzt und die Deutung bereits in sich enthält?19 Allein die Möglichkeiten des Zutritts zu diesem Text oder Bildraum sind vielfältig. Auch wenn die Lesegewohnheit das Auge von links nach rechts führen würde, schaut man vermutlich erst auf das Bild –, weil es die Aufmerksamkeit bindet. Es kommt hinzu, dass das dichte unsinnliche Zitatengeflecht, zudem auf Latein, nicht sehr einladend wirken könnte. Generelle Aussagen zur Rezeption sind allerdings kaum zu treffen, ein schriftfixierter Gelehrter beginnt vielleicht zuerst zu lesen und erfaßt das Bild nur am Rande. Was sehen wir? Im Vergleich zum Kupferstich des Flugblattes handelt es sich um eine recht abstrakte Szenerie. Abgebildet sind unbelebte Dinge aus der Alltagswelt, eine Öllampe, ein Federkiel, im Hintergrund etliche Bücher, es ist

18 Vgl. zu den einzelnen Ausgaben und zur Druckgeschichte die Erläuterungen von Theodor Verweyen und Dieter Mertens: Einleitung zu: Julius Wilhelm Zincgref: Emblematum ethicopoliticorum centuria. Hg. von Dieter Mertens und Theodor Verweyen. Bd.  1‒2. Tübingen 1993 (Julius Wilhelm Zincgref: Gesammelte Schriften. Bd.  2/ 1‒2), hier 2.  Teilband: Erläuterungen und Verifizierungen, hier S. 43  f. Nach Albrecht Schöne zeichnet sich der ›Idealtyp‹ eines Emblems dadurch aus, dass es deutlich in drei Teile gegliedert werden kann, Lemma/Motto (Überschrift), pictura (Bild) und subscriptio (Unterschrift), und dass das Bild relativ leicht auch ohne die Schriftanteile zu verstehen ist. Das Bild besitzt »Priorität«. Schöne: Emblematik und Drama (Anm. 1), S. 27, vgl. ebd., S. 32. 19 Ebd., S. 19, vgl. ebd. S. 27.



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Nacht in einer schlichten Stube. Das Bild evoziert die fast idyllische Szenerie eines Schriftstellerdaseins, ist doch die Öllampe seit der Antike wichtiges Zeichen für den Poeten, der nächtlicher Weise seine Verse schmiedet. Wo aber läge die sinnbildliche Dimension der Zeichen? Im Gedächtnis fände sich vermutlich die abbrennende Kerze, die in der frühneuzeitlichen Emblematik und in der Lyrik gerne als Zeichen für die Vergänglichkeit genutzt wird.20 Die Bücher würden dazu passen, denkt man an die oft christlich motivierte Kritik an der menschlichen Vielwisserei, die am Ende auch die Frage nach den letzten Dingen nicht lösen kann.21 Allerdings drängt sich der Eindruck sinnbildlicher vanitas nicht auf und wäre auch mit der Zielrichtung eines Fürstenspiegels nicht gut zu vereinbaren. Indem die abstrakte pictura wenig sagt oder die imaginativen Zuweisungen unbefriedigend bleiben und nach mehr Erläuterung verlangen, erzeugt es Spannung, in rhetorischer Begrifflichkeit eine sustentatio (vgl. Quint. Inst. orat., 9. 2. 22  f.).22 Die Gesamtkomposition ist dazu angetan, die Spannung aufrecht zu erhalten. Der dichte Kommentar und die verschiedenen Sprachen dienen ihr, indem sie unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten erfordern, vielleicht geheimnisvoll wirken, wenn sie nicht verstanden werden. Das lateinische Motto erzeugt aufgrund seiner Grammatik Spannung: Nisi infundas oleum ‒ ›wenn Du kein Öl hinzugießt‹. Es nimmt den Rezipienten mit hinein als ein ›Du‹, allerdings wird der Irrealis zunächst nicht aufgelöst. Wer spricht da wen eigentlich an? Am ehesten könnten die deutschen Verse die Spannung etwas lösen, aber sie machen zunächst nur einen Teil des Bildes verständlicher: »Oehl her  / sonst lösch ich auß. So lang ich werd im öle stehen / So lang solstu mich brennend sehen / So lang man wird die Kunst begaben / So lang wird man sie Völlig haben.« Wie in der Darstellung der Geduld im Flugblatt, so beginnt hier etwas im Bild zu sprechen, ein ›Du‹ anzureden, in Form einer etwas rüde erscheinenden Ermahnung, einer adhortatio. Die Flamme ist Zeichen einer Existenz, die von diesem ›Du‹ gespeist wird, durch dessen Öl, durch dessen Fürsorge brennen kann. Es geht offenbar um ein Abhängigkeitsverhältnis, so dass nun der Kontext des Fürstenspiegels etwas geöffneter erscheint. Die moralisch-politische Konnotation unterstreichen die französischen Verse in weit höherem Grade. Ein zweiter Sprecher ergreift das Wort, kommentiert im Sinne des anderen Sprechers dessen Worte und deutet die

20 Die Kerze als Requisit der Vergänglichkeit erscheint gerne neben Totenschädel und Sanduhr. Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 1996, Sp.  998. 21 Zum Buch als Zeichen der Vergänglichkeit im Verein mit der Kerze vgl. ebd., Sp.  1366  f. 22 Zit. wird nach: Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Einbändige Sonderausgabe. 5., unveränderte Aufl. 2011 (unveränderter Nachdruck der 3. Auflage 1995), S. 278  f.

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Zeichen sinnbildlich aus: »Deine mit Öl gefüllte Lampe, wenn Du willst, dass sie leuchtet, wenn Du willst, dass man Dir dient, sei dankbar dafür, der loyale Diener muss entlohnt werden, der würdige Mitstreiter ist sein Geld wert.« Überschrieben sind die Verse mit den Worten ›Despense necessaire‹ ‒ ›notwendige Ausgaben‹. Die französischen Verse streichen heraus, dass auch der Herrscher vom Diener abhängig ist. Erlöscht dessen Lampe, so herrscht auch Dunkelheit um den Herrscher herum, mit anderen Worten: ist auch seine Existenz in Gefahr. Bisher lösen die Schriftanteile aus verschiedener Perspektive die Spannung auf und lassen das Bild komplexer werden, setzen zugleich einen Kontrapunkt zu dieser schlichten Szenerie im Bild, das wenig codiert offen für Einschreibungen und Zurufe ist, die auch dann von allen Seiten erfolgen. Die Schlichtheit des Bildes suggeriert jedoch zunächst Eindeutigkeit. Ich werfe einen kurzen Blick auf Zincgrefs Vorrede Praefatio de origine et usu emblematum, Vorrede über Ursprung und Gebrauch der Embleme. Um die eigene Vorgehensweise zu beschreiben, wird Seneca herbeizitiert und hier sein 59. Brief, der sich mit dem Schreibstil des Adressaten Lucilius beschäftigt. Zincgref flicht die Stelle in seine Rede ein, an der der Brief in Hinsicht auf »bildliche Ausdrücke« die »alten Schriftsteller« lobt, »deren Vortragsweise doch noch nicht auf den rauschenden Beifall berechnet war« und die sich einer »einfachen, einer […] rein sachlichen Darstellung befleißigten«.23 Sie nutzten »Gleichnisse[n], die sie für unentbehrlich hielten«, nicht um durch Effekte zu gefallen, sondern »um der sprachlichen Notlage einigermaßen abzuhelfen und die Vortragenden und die Hörer in die Lage zu bringen, sich mit der Sache gehörig abzufinden.«24 In unmittelbarem Anschluss an das Zitat Senecas werden die heiligen Schriften angeführt, die mit ihrer Bildersprache ebenso umgingen.25 Zincgref beschreibt mit diesen Verweisen seine Ästhetik im Grunde als eine, die der res ganz angemessen ist, keinen asiatischen Zierrat bereit hält; sein Stil erscheint als sermo humilis, wie Augustinus’ in De doctrina christiana den Stil der Bibel nennt, den die Predigten nachahmen mögen (Aug., De doctr. christ., 4. 19. 104).26 Folgt man Zincgrefs

23 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 1‒4. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Hamburg 1993, hier Bd. 3: Briefe an Lucilius. Erster Teil: Brief 1‒81, hier S. 215. (Sen. Ep. 59. 6, zit. nach Lucius Annaeus Seneca: Ad Luilium Epistulae morales. Recognovit et adnotatione critica instruxit L.  D. Reynolds. Tomus I: Libri I‒XIII. Oxford, 10. Aufl. 1991). 24 Ebd. Vgl. Zincgref: Emblematum ethico-politicorum centuria (Anm.  17), hier die praefatio, unpag. 25 Vgl. ebd. 26 Zitiert wird nach: Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung/De doctrina christiana. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2002. Vgl. zum sermo hu-



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Vorrede, so geht es ihm nicht darum, mit effektreichen und komplizierten Zeichenkombinationen bewusst Rätsel aufzugeben. Allerdings besteht gerade, wie diese pictura in dem besprochenen Emblem (Nr. XLII) zeigt, in ihrer Schlichtheit eine Herausforderung, weil sie einerseits wenig anbietet, andererseits den Imaginationen weiten Raum geben könnte, den aber die Textanteile gleich besetzen. Eigentlich ist es erst der Kommentar auf der linken Seite, der die ganze Tragweite des Bildes entfaltet, die es alleine kaum von selbst andeutet. Im gesamten Buch hat Zincgref von etwa 120 Autoren 1300 Zitate, die kursiv gesetzt sind, genutzt und sie mit den eigenen Worten wie ein Cento verflochten.27 Es findet sich viel Antikes und Spätantikes. In diesem Fall diskutiert der Kommentar die interessante Frage, was man mit langgedienten Staatsdienern tut, die viel geleistet haben. Gleich zu Anfang geht es um Anaxagoras, den Hofphilosophen des Perikles, der im hohen Alter keine Aufmerksamkeit mehr erfuhr und sich das Leben nehmen wollte. Als Perikles dies vernahm, soll er ihn darauf hingewiesen haben, dass er allein ihn als Ratgeber entlassen könne. Da habe Anaxagoras gesagt, er müsse Öl hineingießen, sonst wolle er nicht weiter leben, das heißt ihm Aufmerksamkeit und Fürsorge zu Teil werden lassen.28 Der weitere Kommentar nimmt mit Hilfe von Zitaten eine sozialkritische Perspektive ein oder eine christliche, verweist den Herrscher auf die christliche Tugend der misericordia, die ihn verpflichtet, den verarmten und alten Staatsdienern Zuwendungen zu gewähren. Das Sinnenbild nimmt folglich das Ergebnis klugen und fürsorglichen Herrschens vorweg. Der Kommentar stellt es unmissverständlich in den Kontext eines Fürstenspiegels. Die Frage ist aber, ob er die Spannung vollständig auflöst, weil man – zur pictura zurückgeführt ‒ sich doch noch einmal fragen könnte, ob die Schlichtheit des Sinnenbildes nicht eher die komplexen Zuweisungen verdeckt. Ist diese pictura überhaupt, wenn nicht allein, so auch im Kontext des Textgewebes imstande, das Überzeugen zu befördern? Allegorisiert nicht die Dominanz der Schriftanteile, die den gelehrten poeta doctus nicht verkennen lassen, auch hier den Status der pictura als im Grunde überflüssige Zutat, in diesem Fall deshalb, weil sie die komplexe res nicht verhandeln kann? Was den Status der Kupferstiche im Verhältnis zum Kommentar angeht, so könnten die besonderen Entstehungsbedingungen eine Rolle spielen. Die Herausgeber haben in der Einleitung zur Edition der Erstauflage darauf hingewiesen, dass das Buch unter Zeitdruck entstanden sei und dass der Kupferstecher Mat-

milis auch Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1959, S. 42. 27 Vgl. Dieter Mertens und Theodor Verweyen: Einleitung zu: Zincgref (Anm. 18), hier S. 20. 28 Vgl. Zincgref: Emblematum ethico-politico centura (Anm. 17), L2v.

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thäus Merian Bilder geliefert habe, die nicht immer unbedingt passten, manchmal deshalb, weil sie in anderen Kontexten genutzt wurden.29 Auf den Kommentar legte Zincgref besonderen Wert. Mit den zahlreichen Marginalien sollte er in seiner Ästhetik Justus Lipsius’ Politica nachahmen – sechs Bücher, die ganz ohne visuelle Bilder auskommen, ganz der verbalen Rhetorik verpflichtet sind.30 So ist bezeichnend, dass in der Erstausgabe die Bildseite noch links angeordnet ist und in Leserichtung Priorität erhält. Wenn man aber bedenkt, dass man angeblich erst auf die rechte Buchseite schaut, dann liegt das Gewicht auf dem Kommentar. Dann erschienen Ausgaben, die den Kommentar ganz wegließen.31 Erst in der hier genutzten Ausgabe von 1666 springt der Kommentar nach links, so wird ihm zumindest graphisch ein größeres Gewicht eingeräumt, erhält der poeta doctus zunächst die Stimmgewalt und redet die Schrift das Bild förmlich an die Wand. Auf der Suche nach Bausteinen für eine intermediale Rhetorik könnte es hilfreich sein, derartige komplizierte produktionsästhetische Bedingungen mit zu berücksichtigen. Sie können unter Umständen den Befund erklären, der sich hier zeigt, dass das Bild keineswegs ›Priorität‹ besitzt, indem es sich selbst deutet, sondern aufgrund seines schlichten Stils, der die Schrift herausfordert, imstande ist, Spannung zu erzeugen, am Anfang des Weges sowie am Ende noch einmal neu. Zum Schluss ist noch ein besonderes Beispiel intermedialer Rhetorik vorzustellen. 1692 legt Christian Weise seine Poetik Curieuse Gedancken von Deutschen Versen vor, verfasst vor allem für seine Schüler am Zittauer Gymnasium. Die Gedancken schmücken dieses Titelkupfer (Abb. 3)32. Als Blickfang finden sich die Worte Numero, mensura et pondere ‒ ›nach Maß, Zahl und Gewicht‹, ursprünglich ein Zitat aus dem Buch der Weisheit (vgl. Weish 11.20), das nun zu dichtungstheoretischen Überlegungen genutzt wird. In der Mitte dominieren an den Seiten zwei Gesichter, die nach unten gerichtet sind. Im unteren Bildteil sieht man zwei Poeten an einem Tisch sitzen. Blätter liegen auf dem Tisch und fallen herunter. In der Nachricht wegen des Kupffertituls heißt es gleich zu Anfang:

29 Vgl. Dieter Mertens und Theodor Verweyen: Einleitung zu: Zincgref (Anm. 18), S. 2. 30 Vgl. ebd., S. 16. 31 Vgl. ebd., S. 43. 32 Christian Weise: Curieuse Gedancken Von Deutschen Versen / Welcher gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden sol / damit er Gute Verse vor sich erkennen / selbige leicht und geschickt nachmachen endlich eine kluge Maße darinn halten kan: wie bißhero Die vornehmsten Leute gethan haben / welche / von der klugen Welt / nicht als Poeten / sondern als polite (sic) Redner sind æstimirt worden. Verlegts Johann Friedrich Gleditsch 1692, hier das Titelblatt.



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Abb. 3: Christian Weise: Curieuse Gedancken Von Deutschen Versen, Titelblatt.

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Als ich in einer langen Vorrede gethan hätte / das habe ich in einem kurtzen Bilde verrichtet. Wer es mit Bedacht ansiehet / der hat die Erklärung selbst vor Augen. Und es ist vielleicht ein Uberfluß / wenn ich die ledigen Seiten mit solchen Gedancken anfülle.33

Wie sich herausstellt, muss Weise zu dieser Vorrede dann doch anheben, um etwas Wichtiges herauszustreichen, dass durch sogenannte imagines agentes, bewegliche Bilder im Gedächtnis, verdeckt werden könnte. Imagines agentes zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie ‒ wie es in der anonymen Rhetorica ad Herennium heißt ‒ »etwas in Bewegung bringen« (Rhet. ad Her., 3. 37).34 Weises Titelkupfer ist ebenso ein solches Bild, das an andere bewegliche und bewegende Bilder erinnert. Zum Beispiel erinnert es aufgrund einer strukturellen Analogie an das Titelkupfer von Birkens Rede-bind und Dichtkunst (1679, Abb. 4)35. Auch dort dominiert die obere Hälfte des Bildes die untere und steht zur Tätigkeit der beiden Figuren in der unteren Hälfte in einer Beziehung. In Birkens Inspirationstheorie ist es »die Feuer-Flut des himlischen Geistes«,36 die, in Anlehnung an die Inspirationstheorie in Platons Ion, die Dichter anweht (vgl. Plat. Ion. 533e‒534a).37 Die ersten Dichter seien die biblischen Hirten gewesen. Die »Wohnung der Herrlichkeit Gottes« sei »der rechte Parnassus«, aus dem die »Geistes-Flut« hervorquelle und herunterschieße.38 Diese hätten die Hirten-Dichter in Lieder zu Ehren Gottes zu verwandeln und wieder »gen Himmel« aufsteigen zu lassen, so wie ein Brunnensystem das Wasser auffange und wieder nach oben abgebe.39 Die »Erde« sei durch Poesie und Musik »Echo« und »Gegenhall« des Himmels.40 An diesen flatus von oben, an das himmlische ›Gebläse‹ erinnert nun auch die Komposition in Weises Titelkupfer, allerdings schauen die beiden lustigen Gesellen am Tisch nicht andächtig nach oben. Dass Blätter zur Erde fallen, markiert eine wichtige Differenz zu Birken. Die Funktion dieses speziellen Windes erläutert die Nachricht wegen des Kupffertituls.

33 Ebd., Nachricht wegen des Kupffertituls (unpag.). 34 Zit. wird nach: Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein. Düsseldorf, 21994/1998 (Sammlung Tusculum). 35 Siegmund von Birken: Teutsche Rede- bind und Dichtkunst. Hildesheim, New York 1973 (Nachdruck Nürnberg 1679), hier das Titelblatt. 36 Ebd., Vor-Rede, B4r. 37 Zit. wird nach: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hg. von Gunther Eigler. Sonderausgabe. Darmstadt 1990, hier Bd. 1: Ion. Hippias elatton u.  a. 38 Birken: Dichtkunst (Anm. 35), Vor-Rede, Bvr. 39 Ebd. 40 Ebd.



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Abb. 4: Siegmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dichtkunst, Titelblatt.

Zunächst überblenden könnte Weises Bild ein weiterer Titelkupfer, derjenige aus Harsdörffers Poetischem Trichter mit dem Motto Zucht bringt Frucht (Abb. 5).41 Die Verse dienen als subcriptio und vergleichen den Weinanbau mit der Poeterei, die »Rede« mit den »Reben«, und zitieren das ›numero, mensura et pondere‹ ebenfalls an, wobei nur »Maß und Zahl« genannt werden: »Sol die Rede / gleich dem Reben / honigsüsse Früchte geben / muß der Wörter Maß und Zahl sie ver-

41 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Darmstadt 1969. Nachdruck Nürnberg 1650 (= Erster Teil), Nürnberg 1648 (= Zweiter Teil), Nürnberg 1653 (= Dritter Teil), hier das Titelblatt.

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Abb. 5: Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter, Titelblatt.

binden / und bereiten […]«.42 Harsdörffer spart das ›Gewicht‹ aus, und eben hier greift Weise ein und fügt es hinzu. Diese kleine Nuance ist der Schlüssel zum Bild. Auch wenn man richtig zähle und abmesse, worin man, so Weise, »die meiste Kunst« sehe, könne es an etwas fehlen:43 Allein die Syllben sind offte wol gezehlet / die Scansion hat alles richtig abgemessen: und dennoch fehlt es nirgends als allenthalben. Das machts / der Dichter hat das Gewichte ver-

42 Ebd. 43 Weise: Curieuse Gedancken (Anm. 32), Nachricht wegen des Kupffertituls, unpag.



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gessen. Und wenn der Wind die Lufft beweget / ich wil sagen / wenn die Menschliche Curio­ sität mit ihrem Urthel darzwischen kommt / so müssen die Blätter gleichsam vom Tische fliegen: denn das beste fehlt / welches dem Winde wiederstehen soll.44

Ob ›das Gewichte‹ als ›das beste‹ fehlt, das beurteilen »die allgemeinen Richter im gelehrten Parnasso«, die gelehrten Autoritäten und Vorbilder, deren Urteil »dem Winde« zu vergleichen ist, der an die Stelle des himmlischen spiritus in Birkens Titelkupfer tritt.45 Geht es Birken darum, besonders die geistige Poesie zu profilieren, so verfolgt Weise ein anderes Ziel. Er stellt den Schüler ins Zentrum und die Idee, dass dieser lernfähig ist und seine Erzeugnisse von anderen beurteilt werden. Versinnbildlicht wird folglich auch die Literaturkritik, die Instanzen im Gelehrtenkosmos üben. Die Gesichter rechts und links blasen gewissermaßen ihre Urteile herab und fegen die poetischen Produkte der Schüler mit einem Streich vom Tisch, vernichten sie mit ihrer Kritik. Der Schwerpunkt der Nachricht wegen des Kupffertituls liegt auf der Kritik und ihrem Anspruch, auf dem, was sie von den Schülern verlangt. Genau dies ist der virulente Punkt, der dazu zwingt, dann eben doch zu reden und das Bild nicht einfach für sich sprechen zu lassen: »Worinn aber das Gewichte bestehe / damit man auch den Wind braviren kan / solches habe ich im Bilde nicht abmahlen können. Doch im gantzen Buche wird darauff gezielet.«46 Es gibt einen obscuren und nicht malbaren Aspekt im Bild, der mit Worten erklärt werden muss und der das aptum meint, das Ideal der Angemessenheit. Ein änigmatisches Konzept, um das seit jeher seit dem Streit zwischen Asianismus und Attizismus diskutiert wird und das, nach der Auffassung der klassischen Rhetoriker, nicht gelernt und eigentlich nicht abstrakt in Worte gefasst werden kann.47 Weise kündigt an, sich in seinen Curieusen Gedancken von Deutschen Versen um diesen Aspekt zu kümmern, zu vermitteln, wie poetischen Produkten ›Gewicht‹, d.  h. die Angemessenheit zu Teil werden kann. Dies ist deshalb ein exklusiver Anspruch, da das aptum nach klassischer Auffassung erst so recht eigentlich das Zentrum des dichterischen Könnens, des ingeniums, darstellt und nicht als Ergebnis von Übung aufgefasst wird, sondern als Anzeiger der natürlichen Begabung, der natura. Gegenüber dieser wertet Weise die Übung deutlich auf und weist auf »Doctrina & Experientia« hin, die mit den Jahren dazu 44 Ebd. 45 Ebd. Im Buch der Weisheit ist die Rede vom Strafgericht Gottes, das mit einem »einzige Hauch« zu Fall bringen kann (Weish 11.20). 46 Ebd. 47 Vgl. Bernhard Asmuth: Art. ›Angemessenheit‹. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1 (1992), Sp.  579–604.

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führe, sich auf das ›Gewicht‹ zu verstehen.48 Er nutzt dann recht viele sprachliche Bilder, um dasjenige, was das Titelkupfer seiner Meinung nicht sagen kann, poetisch zu versinnbildlichen und lanciert einen Seitenhieb auf Harsdörffers Poetik. »Poetische Trichter« gehörten mit anderen Kollektaneen zu »gebrechlichen Rohrstäben«, die nicht lehrten, worauf es letztlich ankomme, sondern den jungen angehenden Dichter betrögen, so dass er verzweifelte, »ob er jemahl etwas nur in wenigen Zeilen abfassen könte / das vor dem Winde sicher seyn / und auff dem Tische / das ist vor dem Patrone möchte liegen bleiben«.49 Weises Nachricht wegen des Kupffertituls setzt seine Curieusen Gedancken von Deutschen Versen deutlich von den Poetiken Birkens und Harsdörffers ab und verspricht etwas Neues, da er an dem durch antike Rhetorik und Poetik tradierten Bild eines Dichters rüttelt, der das Besondere, das Wichtigste eben nicht erlernen kann, das Ideal der Angemessenheit. Im Unterschied zu den Sinnbildern von Birkens und Harsdörffers Poetiken problematisiert Weise den dichterischen Produktionsprozess und stellt ihn zunächst als etwas dar, was nicht einfach gelingt. Das Misslingen ist das Normale. Das Misslingen der Angemessenheit, des ›Gewichtes‹, im Bild durch die herunterfallenden Blätter allegorisiert, ist Legitimation für die Curieusen Gedancken in Deutschen Versen. Diese werden dazu dienen, so die Verheißung, die Angemessenheit zu lernen. Das Titelkupfer läuft aber Gefahr, von imagines agentes, von Birkens und Harsdörffers Allegorisierungen der Dichtkunst, überblendet zu werden. Deshalb sind dann doch Worte nötig, das Titelkupfer zu erklären und seine Besonderheit zu unterstreichen. Hier finden sich Anklänge einer kritischen Auseinandersetzung mit der Formel ut pictura poesis, mit dem Ziel allerdings, nicht nur die anderen Möglichkeiten des Wortes, sondern auch dessen Notwendigkeit herauszustreichen. Dies ist anders, aber ähnlich in den vorhergehenden Beispielen der Fall. Was zeigt diese Beispielreihe? Es könnte so scheinen, als laufe das Wort regelmäßig dem Bild den Rang ab, aber so einfach verhält es sich nicht; sei es, weil das Wort selbst das Bild noch einmal entwirft, wie im Flugblatt, sei es, weil das Bild, wie die pictura im Emblem, aufgrund dessen, dass es zunächst wenig codiert erscheint, besondere Spannung erzeugen könnte, auch noch nach dem Lesen oder erst recht nach dem Lesen, sei es, dass das Bild wie in Weises Titelkupfer auch intermedial mit anderen imagines agentes in ein fast paragonales Verhältnis tritt, weswegen das Wort sein muss. Ruhig jedenfalls geht es nirgendwo zu, und vielleicht ist dies der erste Baustein, ein Sockel für die Frage nach Spezifika einer

48 Weise: Curieuse Gedancken (Anm. 32), Nachricht wegen des Kupffertituls, unpag. 49 Ebd.



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intermedialen Rhetorik in der Frühen Neuzeit: Es mögen sich Text-Bild-Verhältnisse auf den ersten Blick einfach verhalten, harmonisch, auf den zweiten aber zeichnet sich unter der Oberfläche ein feiner Kampf ab. Spürbar werden Widerständigkeiten und Irritationen, die auch von außen motiviert sein könnten, durch das Gedächtnis zum Beispiel, durch im Grunde unwägbare receiver-Faktoren, wie man sie in der modernen Rhetorikforschung nennt.50 Ein erster Ansatz für den Entwurf einer intermedialen Rhetorik wäre, grundsätzlich von Spannungsverhältnissen auszugehen und nicht von einer harmonischen Einheit von Text und Bild. Diese Spannungsverhältnisse zu beschreiben, wäre ein brauchbares analytisches Instrumentarium nötig, das die Lücke in den klassischen Rhetoriklehr­ büchern auffüllen könnte. Diese sehen ein solches Instrumentarium noch nicht vor, weil sie vor allem auf den präsenten Redner zugeschnitten sind. Wie zu sehen war, ergeben sich intermediale Fragestellungen jeweils anders vor dem Hintergrund spezieller Kontexte und Diskurse. Für die Darstellung der Geduld im Flugblatt ist es hilfreich, die komplexen theologischen Debatten zu berücksichtigen, die Traditionen christlicher Ikonographie sowie Gattungs­ aspekte der Textsorte ›Flugblatt‹. Zincgrefs Emblem müsste weiter im Zusammenhang des gesamten Fürstenspiegels und seiner Ästhetik betrachtet werden. Eine besondere Herausforderung bietet zudem die Mehrsprachigkeit. Wege durch den gesamten Text-Bild-Komplex mit seinen polyglotten Anteilen und den vielen Zitaten, seinen Kreuzungen, können auch anders abgeschritten werden als vorgeführt. Die Überlegungen zu Weises Titelkupfer im Verein mit seiner Erklärung zeigten, wie wichtige literaturtheoretische Positionen verhandelt werden. Ein noch zu entwerfendes Instrumentarium einer intermedialen Rhetorik hätte darüber hinaus mögliche Spielarten der Rezeption zu berücksichtigt und müsste Formen des ›lesenden Beobachtens‹ respektive variantenreicher Möglichkeiten des Erinnerns unterscheiden.

50 Vgl. Heike Mayer: Rhetorische Kompetenz (Anm. 11), S. 91.

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Laokoons Schlange Die antike Laokoon-Gruppe gilt in der Frühen Neuzeit seit der Entdeckung der bekannten Marmorkopie am 14.  Januar 1506 durch Felice de Fredis als ästhetisches Ideal. Vorgezeichnet und historisch vermittelt ist ihre künstlerische Vorrangstellung durch Plinius den Älteren, nach dessen Naturalis historia (um 77  n.  Chr.) dem Kunstwerk »vor allen Meisterstücken, der Maler- und Bildnerkunst der Rang gebührt.«1 Was sich überhaupt über bildende Kunst sagen lässt – so noch im 18. Jahrhundert eine verbreitete Vorstellung –, »an Laokoon muß es sich bewähren.«2 Bemerkenswerterweise steht nun im Mittelpunkt der skulpturalen Bildkomposition ein Schlangenhaupt. Diese Zentrierung des Tiers ist in der kunsttheoretischen Diskussion jedoch vergleichsweise wenig reflektiert worden. Insofern bildet die Schlange gleichsam den blinden Fleck der Gruppe. Dies lässt sich auch einigen historischen Darstellungen entnehmen, welche die dramatische Konfiguration der Szene verändern, indem sie die Position des Schlangenhaupts gegenüber der Marmorvorlage aus dem Mittelpunkt verlegen.3 Johann Jakob Thourneysers für die deutsche Laokoon-Rezeption nach dem 30jährigen Krieg entscheidende Darstellung in Joachim Sandrarts Teutscher Akademie (1675)4 verlagert den Gipfelpunkt der Komposition z.  B. mit dem Schlangenhaupt nach oben. Als empfindliche Stelle des Bisses erscheint die linke Brustwarze des ringenden Helden, auf den Thourneysers Zeichnung durch die Fortlassung der Kinder konzentriert ist. In der Laokoon-Skizze aus François Perriers Segmenta nobilium Signorum et Statuarum (1653) ist der Schlangenkopf in der Frontansicht hingegen versteckt, wodurch im Zentrum eine Bildlücke entsteht. Gegenüber der herkömmlich anthropozentrischen Wahrnehmung der Gruppe mit umfassenden Auskünften zu den mutmaßlich dargestellten Gefühlslagen von Laokoon und

1 In der historischen Übersetzung C. Plinius Secundus: Naturgeschichte. Übers. von Gottfried Große. Bd. 11. Frankfurt a.  M. 1787, S. 193. 2 Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 22004, S. 222. 3 Allgemein gehört die Laokoon-Gruppe zu den Antiken, die auf Grund ihrer ästhetischen Mustergültigkeit schon in der Frühen Neuzeit häufig kopiert wurden. In der Mehrzahl beschränken sich die Kopien dabei bezeichnenderweise auf den Kopf des Priesters (vgl. Anja Zimmermann: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen Stils im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 68). 4 Vgl. Christoph Schmälzle: Martern aller Arten. Laokoon – ein Jubiläum schöner Wunden. In: C.  S. (Hg.): Marmor in Bewegung. Ansichten der Laokoon-Gruppe. Frankfurt a.  M. 2006, S. 6–15, hier S. 10. DOI 10.1515/9783110521788-015



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seinen beiden Söhnen gibt es in der Skulptur also so etwas wie eine theriozentrische Schauanordnung, die  – wie in den genannten Beispielen  – allerdings leicht aus dem Blickpunkt fällt. Die nachfolgenden Überlegungen nehmen daher probeweise die nicht periphere, sondern eigentümlich im Zentrum überblendete Perspektive des blinden Flecks ein, um wichtige Rezeptionsdimensionen der Schlangendarstellung in einschlägigen Kunstwerken bzw. Laokoon-Dichtungen zu rekonstruieren.5 Gefragt wird damit letztlich nach der wirkungsgeschicht­ lichen Bedeutung der animalischen Geschöpflichkeit, die dem Mythos im Kern eingeschrieben ist. Intensiver beleuchtet werden dabei dichtungspraktische und ästhetiktheoretische Positionen, welche die Schlangendarstellung argumentativ in die Kunstreflexion einbeziehen (Goethe), dem kreatürlichen Moment im Mythos wenig Beachtung schenken (Lessing) oder es darstellungstechnisch gezielt ausspielen (Vergil). Die Gegenüberstellung solcher Grundpositionen führt in einem rezeptionsgeschichtlichen Ausblick schließlich noch einmal gezielt zum Problem der anhand der Laokoon-Gruppe verhandelten Frage nach den medialen Eigenheiten der Künste. Wie ist also der in der kunst- und dichtungstheoretischen Diskussion zentrale Zusammenhang von Affekt, Illusion und Vorstellung im Hinblick auf die sprach- oder bildästhetisch zu bewältigende Abgeschiedenheit der stoffgeschichtlich gegebenen Tierperspektive zu verstehen?

1 Laokoon als Tier-Mensch-Konstellation. Zur kompositorischen Doppelfunktion der Schlange bei Goethe Geht es um Laokoons Schlange, hat unter den Stimmführern der Diskussion im 18.  Jahrhundert besonders Goethe ein Augenmerk auf sie gelegt.6 In seiner vielbeachteten Propyläen-Schrift Über Laokoon, die 1798 in Erwiderung auf Alois

5 Dazu grundlegend ist im Folgenden die diachrone Quellensammlung Schmälzles (Anm. 4). 6 Die Anzahl der Schlangen folgt gemäß dem Mythos der generationellen Bildlogik der Skulptur, indem der Gegenüberstellung von Vater und Söhnen die Zuordnung der beiden strafenden Schlangen korrespondiert. Abweichend von der Vergilschen Überlieferung kann die Zahl der Individuen auch variieren. Vgl. z.  B. bereits Lessings Hinweis auf den Singular bei Lykophron (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Hg. von Wilfried Barner [= Werke Bd. 5/2] Frankfurt a.  M. 2007, S. 50) oder in der Frühen Neuzeit die Darstellung Tod des Laokoon Hans Brosamers (1538), auf der sechs Schlangen abgebildet sind (Nachdruck bei Schmälzle [Anm. 4], S. 30).

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Hirts ›chirurgisch‹ vorgehenden Aufsatz erscheint,7 würdigt er die buchstäb­liche Gelenkfunktion der Schlange für die kompositorische Dynamik der Gruppe. Entsprechend betont er ihre zentrale Bedeutung im sinnlichen Ursache-Wirkungsbzw. Reiz-Reaktions-Gefüge der körperlichen Augenblicksdarstellung: Es ist also dieses ein Hauptsatz: der Künstler hat uns eine sinnliche Wirkung dargestellt, er zeigt uns auch die sinnliche Ursache. Der Punkt des Bisses, ich wiederhole es, bestimmt die gegenwärtigen Bewegungen der Glieder: das Fliehen des Unterkörpers, das Einziehen des Leibes, das Hervorstreben der Brust, das Niederzucken der Achsel und des Hauptes, ja alle die Züge des Angesichts seh ich durch diesen augenblicklichen, schmerzlichen, unerwarteten Reiz entschieden.8

Geht die Bewegung Laokoons mit Goethe also aus dem »Punkt des Bisses« hervor, erscheint das Tier als Impulsgeber des menschlichen Hauptaffekts. Der Schmerz rührt vom tödlichen Schlangenbiss, so dass die Kreatur als das zentrale ›Movens‹ menschlicher Gefühlsbildung fungiert. Dabei setzt die Schlange im Doppelsinn Bewegung in Gang: als Pathos und als Imagination. Denn die vorgestellte Beweglichkeit des skulptural stillgestellten Augenblicks entzündet sich an ihrer bildkompositionellen Zentrierung. Goethe beschreibt dazu bekanntlich eine gleichsam photographische Betrachtungstechnik der Gruppe. Durch schnelles Öffnen und Schließen der Augen aus der Distanz werde das dargestellte Bild wie ein »fixierter Blitz« eingefangen und mit dem Bisspunkt als Zündung der Imagination in eine vorgestellte Bilderfolge überführt.9 Für diesen auch im Fackelschein entstehenden Effekt findet Goethe dann die einprägsame Formulierung vom »ganzen Marmor in Bewegung«.10 Wird die Schlange ebenso als Initialpunkt des Marmors in Bewegung wie als Initialpunkt menschlicher Empfindungen gesehen, ist deutlich, dass die Gruppe durchaus auch das Verhältnis von Tier und Mensch in Szene setzt. Goethe wertet das ästhetische Sujet von »Menschen mit gefährlichen Tieren im Kampfe« 7 Dazu etwa Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz Über Laokoon. In: Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner (Hgg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichen­ regime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000 (Literaturforschung), S. 465–479 sowie Ernst Osterkamp: Nachwort. In: Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon (1798). Nachdruck der Ausgabe von 1896. Stuttgart, Weimar 1998 (Goethes Werke I. Abteilung, Bd. 47), S. 1–34. 8 Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: Erich Trunz (Hg.): Goethes Werke. Bd. XII. Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. München 121994, S. 56–66, hier S. 61. 9 Ebd., S. 60. 10 Ebd. (Die »unendliche Mannichfaltigkeit« bzw. Facettierung des Sinneseindrucks durch Fackelbeleuchtung beschreibt bereits Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. Bd. 3. Berlin 1793, S. 155.)



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als eines der »glücklichsten, die sich denken lassen.«11 Bezogen auf Laokoon erscheint das dramatisch zuspitzende Motiv des Zweikampfs somit eingebunden in den Dualismus von Humanität und Animalität. Entsprechend stellt sich ihm schlicht ein Vater mit zwei Söhnen [dar], in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren unterzuliegen. So sind auch hier keine göttergesandten, sondern bloß natürliche Schlangen, mächtig genug, einige Menschen zu überwältigen, aber keineswegs, weder in ihrer Gestalt noch Handlung, außerordentliche, rächende, strafende Wesen. Ihrer Natur gemäß schleichen sie heran, umschlingen, schnüren zusammen, und die eine beißt erst gereizt.12

Die postulierte Natürlichkeit der Kreaturen als ästhetische Kreuzung von Würgeund Giftschlangen lässt sich trotz der vordergründig realistischen skulpturalen Gestaltung zwar biologisch nicht stützen.13 Doch geht der naturkundlich interessierte Goethe immerhin auf die schlangenspezifische Morphologie ein und hebt die »ausgedehnte Organisation« der Tiere, ihre Fähigkeit, »drei Menschen mehr oder weniger ohne Verletzung zu paralysieren«, als »Mittel der Lähmung« hervor, wodurch bei der »großen Bewegung, über das Ganze schon eine gewisse Ruhe und Einheit verbreitet« sei.14 Insofern handelt es sich bei Goethe letztlich um eine gleichzeitige Inanspruchnahme der Schlange(n) als Initialpunkt von Bewegung und Stillstand. Dem Bisspunkt des Marmors in Bewegung ist die artspezifische Paralyse als Anzeichen plastischer Statik gegenübergestellt. So gesehen erwächst das von Goethe gesehene Humanum des Kunstwerks, das den hässlichen Schrecken bzw. die »leidenschaftlichen Ausbrüche der menschlichen Natur in der Kunstnachahmung zu mäßigen und zu bändigen versteht«,15 auch der ästhetisch stillstellenden Animalität der Schlangen.

11 Goethe (Anm. 8), S. 62. 12 Ebd., S. 59. 13 Wilhelm Heinse akzentuiert zuvor in seinen Aufzeichnungen von der italienischen Reise (um 1782) ausdrücklich die Künstlichkeit der Schlangen und spricht von ihrer »Tanzmeisterstellung« (Schmälzle [Anm. 4], S. 70). 14 Goethe (Anm. 8), S. 59. 15 Ebd., S. 65.

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2 Der Künstler als Anthropograph. Über Lessings ästhetisches Desinteresse am Tier Lessings Überlegungen zum Laokoon sind im Vergleich zur Argumentation Goethes weitaus weniger auf die Kreatürlichkeit der Schlangen gerichtet. Allgemein lässt sich dieser Befund zunächst im Werkkontext bedenken. Am deutlichsten zeigt sich Lessings ästhetisches Tierverständnis wohl in der zweiten fabeltheoretischen Abhandlung Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel (1759).16 In kritischer Erwiderung auf Breitingers Begründungsversuch, Tiere in der Fabel als Elemente des Wunderbaren poetisch einzusetzen, hebt Lessing darin die »allgemein bekannte Bestandheit der Charaktere« als Legitimation für die Verwendung von Tieren in der Fabel hervor.17 Der Gedankengang verknüpft dieses Argument schließlich mit einem angenommenen Mangel an Empathiefähigkeit des Menschen gegenüber Tieren: Ja, ich will es wagen, den Tieren, und andern geringern Geschöpfen in der Fabel noch einen Nutzen zuzuschreiben, auf welchen ich vielleicht durch Schlüsse nie gekommen wäre, wenn mich nicht mein Gefühl darauf gebracht hätte. Die Fabel hat unsere klare und lebendige Erkenntnis eines moralischen Satzes zur Absicht. Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis mehr als die Leidenschaften. Folglich muß der Fabulist die Erregung der Leidenschaften so viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z.  B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt?18

Was in der berühmten Begründung ähnlich funktioniert wie später in der dialektischen Theaterkonzeption Brechts – also das Wachrufen lebendiger Erkenntnis durch das distanzierende Unterbinden leidenschaftlicher Anteilnahme  –, mag aus heutiger Sicht insofern als Irritation erscheinen, als aktuell vielmehr ein ausgeprägter, auch medial stetig eingeübter Hang zu affektiven Bindungen an Tiere verbreitet ist. Entsprechend wähnt man sich von Tierfabelfiktionen als Erfolgsgarant in Literatur und Film geradezu umstellt. Lessing denkt es seinerzeit anders, indem er die mangelnde Empathie für Tiere hervorkehrt und in dieser Eigenschaft ihr Potential als Sittenlehrer erblickt. Die angedeutete kulturhistorische Differenz ist dabei sicherlich auch wissensgeschichtlich verwurzelt. Nimmt Lessing mit seiner Überlegung eine leidenschaftslose Haltung gegenüber Tieren 16 Zur Fabeltheorie immer noch grundlegend Siglinde Eichner: Die Prosafabel Lessings in seiner Theorie und Dichtung. Ein Beitrag zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bonn 1974. 17 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. 5. Literaturkritik. Poetik und Philologie. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1973, S. 389 (Hervorh. i. Orig.). 18 Ebd., S. 393  f.



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ein, wäre etwa zu prüfen, inwiefern dabei – trotz der poetischen Distanznahme gegenüber den materialistischen Ausweitungsversuchen auf den Menschen bei La Mettrie19  – das cartesische Tiermaschinenmodell im Hintergrund steht. Der affektiven Ausweidung steht bei Lessing jedenfalls das Ausstopfen von Tieren mit menschlichen Eigenarten (in der Fabel meist Fehler) zur Seite. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive dienen Tiere somit als ›Container‹ menschlicher Devianz.20 Entsprechend exklamiert Lessing in der Fabeltheorie: »Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte!«21 Denn, so seine Überlegung, von diesen Wesen die wenigsten, ihrer Natur nach geschickt waren, die Rollen freier Wesen über sich zu nehmen, so erweiterte man lieber die Schranken ihrer Natur, und machte sie, unter gewissen wahrscheinlichen Voraussetzungen, dazu geschickt.22

Die charakterliche ›Bestandheit‹ von Fabeltieren wird so durch die Unfähigkeit von Tieren zu freier Individualität begründet. Dies macht sie für Lessing geeignet, ihre Natur zu menschlichen Typen zu erweitern. So entsteht eine charakterlich eindimensionale Chimäre zwischen Tier und Mensch, eine menschliche Eigenschaft in tierischem Gewand, die gerade auf Grund ihrer unnatürlichen Disposition leidenschaftslose moralische Erkenntnis im Leser in Gang setzt. Werkgeschichtlich kann man formulieren, dass in dieser Fabelkonzeption das frühe Typentheater Lessings sein Fortleben findet; wissenschaftsgeschichtlich lohnt sich zudem ein Hinweis darauf, dass das Desinteresse am Tier offenbar auch dahin geführt hat, dass Lessing, welcher später vehement für die Reimarus-Fragmente eingetreten ist, den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760) von Reimarus keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Biologie gilt das monumentale Werk dabei immerhin als Gründungsschrift der modernen Ethologie, da Reimarus tierische Verhaltensweisen darin erstmals als Instinkte (›Kunsttriebe‹) beschreibt.23

19 Zu diesem Komplex Roman Lach: Das Skandalon des Zufalls. Lessing und La Mettrie. In: Jürgen Stenzel, Roman Lach (Hgg.): Lessings Skandale. Tübingen 2005 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; 29), S. 129–144. 20 Vgl. Hartmut Böhme: Im Zwischenreich. Von Monstern, Fabeltieren und Aliens. In: Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung. Hg. von ZDF-Nachtstudio. Frankfurt a.  M. 2001, S.  233–258. Ist man zu etwas spielerischer Phantasie aufgelegt, bietet auch der Laokoon-Stoff nicht nur die bedrohliche Andersartigkeit der Schlange, sondern mit dem Danaer-Geschenk des trojanischen Pferds auch den Tiercontainer, sozusagen die künstliche Tierhülle, die mit den listen­reichen Griechen nur allzu Menschliches enthält. 21 Ebd., S. 392. 22 Ebd., S. 390. 23 Vgl. das Geleitwort Ernst Mayrs zu Neuausgabe von Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. 2 Bde. Hg. von Jürgen

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Die Betrachtung von Lessings Laokoon-Auffassung im Gegenlicht der Fabeltheorie mag indessen auch sein latentes Desinteresse an der Kreatürlichkeit der Schlangen erhellen. Die von Goethe akzentuierte Bedeutung ihrer Animalität für die Dramatik des Ringkampfs, ihre Funktion als Initialpunkt von Schmerz und Paralyse, kann in der von den Leidenschaften entkoppelten Tierauffassung Lessings kaum zur Geltung kommen. Stärker in die Tiefe reichen in der Schlangenfrage allenfalls Lessings Überlegungen zu den unterschiedlichen Darstellungspräferenzen in Literatur und Kunst bzw. Skulptur. An dieser Stelle wirkt sich das Erkenntnisinteresse am Künstevergleich auf die Wahrnehmung der Schlangen aus. Lessings Ausführungen zielen mit Blick auf die Schlangen dabei wesentlich auf die Bildkomposition ab (in diesem Punkt ähneln sie den Beobachtungen zur skulpturalen Bewegungslogik bei Goethe). Dazu setzt Lessings Argumentation bei der Schlangen-Darstellung Vergils, also bei der ›Wortkunst‹, an: »Virgil läßt die Schlangen doppelt um den Leib, und doppelt um den Hals des Laokoon sich winden, und hoch mit ihren Köpfen über ihn herausragen.«24 Dieses literarisch evozierte »Bild«, so führt er weiter aus, »füllet unsere Einbildungskraft vortrefflich; die edelsten Teile sind bis zum Ersticken gepreßt, und das Gift gehet gerade nach dem Gesichte.«25 An dieser Stelle hebt Lessing nun die mediale Differenz zur bildlichen Darstellung hervor und weist auf die Notwendigkeit hin, in der bildkünstlerischen Repräsentation dagegen die Sicht auf die Körperteile frei zu halten, um die Giftwirkung anzeigen zu können: »Die alten Bildhauer übersahen es mit einem Blicke, daß ihre Kunst hier eine gänzliche Abänderung erfordere. Sie verlegten alle Windungen von dem Leibe und Halse, um die Schenkel und Füße«.26 Nicht ohne den Stolz des Entdeckers resümiert er schließlich:

v. Kempinski. Göttingen 1982, bes.  S. 14  f. Prägnant formuliert Reimarus seinen Grundgedanken etwa in einer lateinischen Abhandlung über den Instinkt der Tiere, die Michael Emsbach für die Edition ins Deutsche übertragen hat: »Da nun die Fertigkeiten der Thiere, mit welchen sie zu ihrem und ihren Geschlechtes Bestem so klug und künstlich handeln, ihren Seelen hauptsächlich zukommen, und doch weder durch sinnliche Erfahrung, Beyspiele, Unterricht und Übung erworben, noch durch Überlegung, Vernunft und Witz erfunden sind; so folgt nothwendig, daß sie eine wesentliche, eingepflanzte, angeborene Eigenschaft ihrer Seelen sind, nach welcher sie sogleich, als sie das Leben haben, ohne weiteres Nachdenken und Mühe, blindlings, und mit sehr undeutlicher Vorstellung, gleichsam als im Schlafe, und spielend, richtig und ohne Fehl verfahren.« (ebd., Bd. 1, S. 337). 24 Lessing (Anm. 6), S. 56. 25 Ebd. 26 Ebd.



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Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß die Kunstrichter diese Verschiedenheit, welche sich in den Windungen der Schlangen zwischen dem Kunstwerke und der Beschreibung des Dichters so deutlich zeiget, gänzlich mit Stillschweigen übergangen haben.27

In Lessings medial vergleichender Erläuterung geht es beim Bildkunstwerk – im Sinn der Forderung des jeweils zu treffenden ›fruchtbaren‹ Augenblicks  – also um das Moment der Sichtbarkeit, damit Illusion entsteht.28 Zudem glaubt Lessing die »pyramidalische Zuspitzung der Gruppe, welche dem Auge so angenehm ist, gänzlich verdorben«, wenn der Hals wie in der Beschreibung Vergils mehrfach umschlungen gezeigt würde.29 Daher die Verlagerung auf die Schenkel und Füße30 (der Bisspunkt bzw. Schlangenkopf selbst bleibt bei Lessing im Gegensatz zu Goethe allerdings jener blinde Fleck31). Allerdings legt dieser Gedankengang wiederum den anthropozentrischen Ausgangspunkt in Lessings Argumentation offen. Denn die Schlangendarstellung wird stets in Hinblick auf ihre Orientierung zum menschlichen Körper und dessen Empfindung ästhetisch optimiert. Auf dieser Linie argumentiert Lessing bereits im zweiten Kapitel des Laokoon bei der Darlegung des griechischen Kunstideals als Begrenzung auf die »Nachahmung schöner Körper«.32 In einer Anmerkung dazu weist er ausdrücklich zurück, dass Pauson »Tiermaler« gewesen sei, würdigt Dionysius im Gegenzug als »Anthropograph[en]« und gibt damit das Stichwort für die ästhetische Abwer27 In der Forschung hat man für die Skulptur den Quellenstatus der Fassung Vergils allerdings in Frage gestellt und mögliche Bezüge zu Arktinos von Milet hervorgehoben. Vgl. Erika Simon: Laokoon und die Geschichte der antiken Kunst. In: Archäologischer Anzeiger 8 (1984), S. 643– 672, bes.  S. 651  f. 28 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lessings ›enárgeia‹-Auffassung (dazu Friedrich Vollhardt: Nachwort. In: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 437–467, hier S. 450–452). Zur ›enárgeia‹ als frühneuzeitliches Leitmodell der englischen Schauspielkunst s. den Beitrag von Rüdiger Singer in diesem Band. 29 Hier zeigt sich die auf Sichtbarkeit und Körperlichkeit abgestellte Schönheitsauffassung Lessings, die er für die Dichtkunst suspendiert (s. Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Tübingen 2007, S. 188). 30 Ebd. Außer Kraft gesetzt ist dieses bildkünstlerische Postulat unter den frühneuzeitlichen Belegen z.  B. in der Laokoon-Illustration von John Ogilby zu John Drydens Vergil-Übersetzung von 1697 (s. Schmälzle [Anm. 4], S. 41). Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Lessing (Anm. 6), S. 57, Anm. 9. 31 Dass Lessing den prägnanten Augenblick der bildlichen Darstellung als Handlungsablauf zwischen Schlangenbiss und Schrei lesbar macht und damit die postulierte Künstedifferenz letztlich unterläuft, betont Peter J. Burgard: Schlangenbiß und Schrei. Rhetorische Strategie und ästhetisches Programm im Laokoon. In: Wolfram Mauser, Günter Saße (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 194–202, bes.  S. 201. 32 Lessing (Anm. 6), S. 22.

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tung des Animalischen, die auch seine Wahrnehmung der Laokoon-Gruppe prägt.33 Gleichwohl darf sich die Meisterschaft des Malers in der Frühen Neuzeit – auch in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu Lessings Laokoon – aus kunsthistorischer Sicht durchaus am ›Tierstück‹ erweisen.34 Durch naturkundliche und gestische Genauigkeit zielt das seinerzeit geschätzte Genre auf Artspezifik (wie im 17. Jahrhundert z.  B. das große Kasseler Tierbild)35 oder gar individuelle Einzigartigkeit (wie in den 1760er Jahren z.  B. die aufsehenerregenden Tierstudien von George Stubbs).36 Hinzudenken muss man im Hinblick auf Lessings Desinteresse am Kreatürlichen schließlich auch seine Geringschätzung der überkommenen Beschreibungsliteratur, die sich im Laokoon anhand von Hallers Alpen (1729) artikuliert.37 Explizit und mit besonderer Schärfe gegen naturgetreue Tierdichtung wendet er sich bereits in der Polemik zu Duschs Schilderungen aus dem Reiche der Natur und der Sittenlehre (1757–59): Was giebt es denn nun zu betrachten? Da repräsentieren sich: ›Entblößte Hügel, die ihr Inneres aufdecken […].‹ Und abermals repräsentieret sich: ›Die schönste Gegend […].‹ Und abermals repräsentieret sich: ›eine unzählbare Menge von Stauden‹. Und abermals repräsentieren sich: ›teils Pflanzen, teils lebendige Geschöpfe‹. Und abermals repräsentieren sich  – O verzweifelt! Ich wollte meinen Herren noch das ganze Tierreich repräsentieren; aber Sie sehen das Licht geht mir in dem Kasten aus. ›Die Betrachtung des Tierreichs soll daher Ihnen selbst überlassen sein!‹38

33 Ebd., S. 23, Anm. 2. Vgl. im Gesamtwortlaut: »Sie [= Polygnotus, Dionysius und Pauson] malten allesamt menschliche Figuren; und daß Pauson einmal ein Pferd malte, beweiset noch nicht, daß er ein Tiermaler gewesen, wofür ihn Hr. Boden hält. Ihren bestimmten die Grade des Schönen, die sie ihren menschlichen Figuren gaben, und Dionysius konnte nur deswegen nichts als Menschen malen, und hieß nur darum vor allen andern der Anthropograph, weil er der Natur zu sklavisch folgte, und sich nicht bis zum Ideal erheben konnte, unter welchem Götter und Helden zu malen, ein Religionsverbrechen gewesen wäre.« 34 Zur Tiermalerei grundlegend Claudia List: Tiere. Gestalt und Bedeutung in der Kunst. Stuttgart, Zürich 1993. 35 Vgl. Evelyn Lehmann: Das große Kasseler Tierbild. Das barocke »Thierstück« von Johann Melchior Roos, die Kasseler Menagerien und einiges mehr über Mensch und Tier. Petersberg 2009. 36 Vgl. zuletzt: Herbert W. Rott (Hg.): George Stubbs (1724–1806): Die Schönheit der Tiere. Von der Wissenschaft zur Kunst. München, London, New York 2012. 37 Dazu mit weiterführenden Belegen Vollhardt (Anm. 28), S. 451. Zum diskursgeschichtlichen Kontext Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972. 38 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 4. Werke 1758–1759. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a.  M. 1997, S. 574 (vgl. auch Fick [Anm. 2], S. 171).



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3 Mythische Meta- und Theriomorphose. ­Gestaltwandlungen bei Vergil Blickt man vor dem dargelegten Hintergrund in die Vergilsche Quelle,39 ist den Tieren in der Laokoon-Episode weitaus mehr Eigenständigkeit als in der anthro­ pographischen Sicht Lessings abzugewinnen. Zunächst fällt in der bei Vergil stoffgeschichtlich besonders ausgearbeiteten Laokoon-Erzählung im zweiten Buch der Aeneis die ungeheuerliche Größe der Schlangen ins Auge. Diese bemerkt auch Lessing und begründet sie durch das Wahrscheinlichkeitsgebot, da »von dieser Größe die Wahrscheinlichkeit der folgenden Erscheinung« abhänge.40 Ohne übermenschliche Dimensionierung scheint ihm die Überwältigung Laokoons und seiner Kinder unglaubwürdig.41 Wichtig ist darüber hinaus aber auch die Berücksichtigung der Erzählperspektive. Ist es bei Vergil Aeneas, der die Geschichte der Geliebten Dido erzählt, fällt dabei ins Auge, dass Vergil bei der Laokoon-Episode möglichst auf Erzählerkommentare verzichtet und die Darstellung im Modus berichtender Zeugenschaft hält. Teichoskopisch – gleichsam von den Mauern Trojas aus – wird mit dem erzählerisch aus der Erinnerung vergegenwärtigenden Beobachter auch der Leser zum entsetzten Zeugen der furchtbaren Angriffsszene. Bemerkenswert ist dabei, dass die Beschreibung der Schlangen hier weitgehend von anthropomorphen Attribuierungen frei ist: Laocoon, ductus Neptuno sorte sacerdos, sollemnis taurum ingentem mactabat ad aras. ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta (horresco referens) immensis orbibus angues incumbunt pelago pariterque ad litora tendunt; pectora quorum inter fluctus arrecta iubaeque

39 Zur antiken Literaturgeschichte und Vorgeschichte des Mythos bis zu Lessing Heinz-Günther Nesselrath: Laokoon in der griechischen Literatur bis zur Zeit Vergils. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hgg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berlin, New York 2009 (Beiträge zur Altertumskunde; 254), S. 1–13 sowie Anja Wolkenhauer: Laokoon vor Lessing. Anmerkungen des Laokoonstoffs und seiner Präsenz in Lessings Laokoon. In: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit; 181), S. 153– 174. Grundlegend zudem Clemens Zintzen: Die Laokoon-Episode bei Vergil. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 10 (1979), S. 1–77. 40 Lessing (Anm. 6), S. 54, Anm. 8. 41 An die biologische Unwahrscheinlichkeit von Würgeschlangen, die zugleich Giftschlangen sind, denkt der zoologisch desinteressierte Lessing hier ebenso wie Goethe allerdings nicht.

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sanguineae superant undas, pars cetera pontum pone legit sinuatque immensa volumine terga. fit sonitus spumante salo; iamque arva tenebant ardentisque oculos suffecti sanguine et igni sibila lambebant linguis vibrantibus ora. diffugimus visu exsangues.42

Affektive Zuschreibungen aus dem Bereich der menschlichen Natur, die über die Gefühlslage der Schlangen Auskunft gäben (wie ›strafend‹ oder ›zornig‹) sucht man vergebens.43 Stattdessen springen ins Auge: die erwähnte Überdimensionierung, die bildliche Parallelsetzung von Wellen- und Schlängelbewegung als Engführung mit der Naturgewalt sowie die anschauliche Darstellung der scheußlichen Sinnesorgane mit dem starren, blutunterlaufenen Blick und der zuckenden zischenden Zunge, die zudem durch effektvoll schwankende Tempuswechsel vom dramatischen Präsens zur gleichsam flüchtend distanzierenden Vergangenheitsform begleitet wird. Undurchdringlich starr blickt das Tier gewissermaßen aus dem Text zurück. Zwar kann man bei diesem animalischen ›stare down‹ in der Lessingschen Optik argumentieren, dass der poetische Text hier schlicht die Sukzession der Sprachzeichen ausreizt, indem er den schrecklichen Augenblick durch solche anbahnenden Spannungsmomente dramaturgisch steigert, doch bleibt die tierhafte Geschöpflichkeit als wichtiger Aspekt der Erzählpassage in dieser Sicht unberücksichtigt. Bei Vergil leitet sich das Entsetzliche der Szene jedoch wesentlich aus der verstörend fremdartigen Animalität der Schlangen her, die der Text nicht einfach als dinglichen Götterfluch, sondern als lebendige Ungeheuer einführt. So erwächst das Schreckliche der Szene dem undurchsichtig Kreatürlichen, das nicht durch menschliche Zuschreibung eingeholt oder – wie Lessing es in der Fabeltheorie formuliert – ›Bekanntheit‹ bewältigt werden kann. Stattdessen lässt die distanzierte Außensicht den grotesk starren (An-)Blick (»visu«) stehen. Fremdartig feurig und blutunterlaufen markiert er in der Episode

42 Vergil: Aen. II, V. 201–212. Dt.: »Da! Da gleitet von Tenedos her durch ruhige Wogen  /  – jetzt noch faßt mich Entsetzen  – in riesigen Bogen ein Paar von  / Schlangen im Meere dahin und strebt gemeinsam zum Strande.  / Steilauf recken sie zwischen den Fluten die Brust, ihre Kämme / glühn blutrot aus Wogen empor. Der übrige Teil streift / hinten das Meer und wirft zu gewaltiger Windung den Rücken. / Schaurig schäumt das Wasser der See; schon gingen an Land sie, / brennend starrten die Augen, vom Blut unterlaufen und Feuer, / und schon leckten sie zischend ihr Maul mit zuckenden Zungen / Bleich vom Anblick fliehn wir hinweg« (Vergil: Aeneis. Lateinisch-Deutsch. Hg. und übers. von Johannes Götte. München, Zürich 71988, S. 61). 43 In der Frühen Neuzeit betont diesen Effekt auch für die skulpturale Schlangendarstellung Jacopo Sadoletos Beschreibung Über die Statue des Laokoon (1506) die Animalität der »flammenden Reptile« und die Fühllosigkeit ihrer »mitleidlosen Zähne« (Schmälzle [Anm. 4], S. 29).



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eine angstauslösende Grenze zum unbändigen Tier, vor dem auch der sprachlich in die Unmittelbarkeit der Szene hineinversetzte Betrachter mit bleichem Entsetzen entflieht (»diffugimus visu exsangues«). An dieser Stelle lässt sich eine Überlegung aus Lessings Paralipomena heranführen, in der er sich im Zusammenhang der Illusionsbildung tatsächlich dezidiert mit dem Tierblick auseinandersetzt. So formuliert er mit Bezug auf die Zeuxis-Anekdote über die Täuschung der Vögel durch naturgetreu gemalte Trauben: Thierische Augen sind schwerer zu täuschen als menschliche; sie sehn nichts, als was sie sehen; uns hingegen verführet die Einbildung, daß wir auch das zu sehen glauben, was wir nicht sehen.44 Der Kontrast zwischen dem blutlosen Menschengesicht und den blut­ unterlaufenen Schlangenaugen bei Vergil stellt sich vor diesem Hintergrund als Schrecken vor der Fremdheit der absoluten Illusionsleere im Tierblick dar. Entsprechend entfällt in der Fassung Vergils durch den Verzicht auf die Benennung der Schlangen mit Individualnamen auch ein basaler Akt der anthropomorphisierenden Bewältigung des Animalischen, während zuvor etwa in Nikanders Mythenversion die Namen ›Porkes‹ und ›Chariboia‹ geläufig sind.45 Bedenkt man bei Vergil zudem den lateinischen Wortlaut, wird deutlich, dass hier weniger eine vermeintlich natürliche Tierdarstellung, wie sie z.  B. Goethe beim Anblick der Skulptur im Sinn hat, (s.  o.), sondern offenbar eine archaisch-mythisch geprägte Tierauffassung zu Grunde liegt. So erwächst das Grauen der dichterischen Anschauung bei Vergil nicht zuletzt dem sprachlich mitvollzogenen Gestaltwandel der Tiere von Seeschlangen im Meer (»angues«), zu Kriechtieren an Land (»serpentes«) und schließlich zu Schlangendrachen im Tempel (»dracones«46). So wird die Schrecklichkeit der göttergesandten Kreaturen auch in ihrer ungeheuerlichen Metamorphose ausgedrückt. Dieser Verstörung korrespondiert nun auf der menschlichen Seite die Verwandlung Laokoons ins Tierhafte. Denn der furchtbar klagende Schrei Laokoons findet bei Vergil bezeichnenderweise im gleichfalls riesenhaft überdimensionierten Stier (»taurum ingentem«), den der Priester gerade auf dem Altar zu opfern im Begriff ist, sein schmerzvolles Echo:

44 Lessing (Anm. 28), S. 245; dazu Vollhardt (Anm. 28), S. 458. 45 Vgl. Alfred Chilton Pearson: ΛΑΟΚΟΩΝ. In: A.  C. P. (Hg.): The Fragments of Sophocles. Cambridge 1917, S.  38–47, hier S.  43. Ein christliches Analogon menschlicher Selbstermächtigung über die Natur durch Namengebung ist im Schöpfungsbericht die Benennung der Tierwelt durch Adam (Gen 2,19). 46 Aen. II, V. 225. Hierzu Bernhard MacGregor W. Knox: The Serpent and the Flame: The Imagery of the Second Book of the Aeneid. In: The American Journal of Philology 71 (1950), S. 379–400.

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clamores simul horrendos ad sidera tollit: qualis mugitus, fugit cum saucius aram taurus et incertam excussit cervice securim. at gemini lapsu delubra ad summa dracones effugiunt saevaeque petunt Tritonidis arcem, sub pedibusque deae clipeique sub orbe teguntur.47

Liest man die Passage im Zusammenhang, erscheint die Verdopplung des Schreis durch den Stier als Anzeichen für die rein kreatürliche Qualität des Schmerzes, die Laokoon im Augenblick des Leidens seines Menschseins beraubt und auf die Stufe des Opfertiers herabsetzt. Im Schmerz, so arrangiert es der Text, werden Mensch und Tier sich gleich. Die Strafe verwandelt den hochmütig gegen die Götter aufbegehrenden Priester selbst zum Tieropfer. Insofern spiegelt die Erzählung die Metamorphose der Schlangen in der Theriomorphose Laokoons.48

4 Verhandlungen der anthropologischen Differenz. Rezeptionsgeschichtlicher Ausblick Steht die theriomorphe Anlage der Erzählung Vergils u.  a. gegen das klassische Kunstideal einer erhabenen Bewältigung des Schmerzes durch ›stille Größe‹, welche Winckelmann der Plastik als ästhetisches Überlegenheitsmoment zuschreibt,49 macht der kreatürliche Absturz des Priesters zum Opfertier deutlich, inwiefern der Laokoon-Mythos als Tier-Mensch-Konstellation letztlich die anthropologische Differenz zur Disposition stellt. Wertet man in dieser Hinsicht Christoph Schmälzles rezeptionsgeschichtliche Sammlung weiter aus, rückt zunächst Schiller ins Zentrum. Die Idee einer ästhetischen Rettung des schmerzerfüllten Menschen in die Kunst (wie bei Winckelmann oder Goethe) erprobt er für die Dichtung explizit durch Abgrenzung gegenüber dem Animalischen. So

47 Dt.: »Jener [Laokoon] bemüht mit den Händen sich hart, zu zerreißen die Knoten, / schwarz übergossen von Geifer und Gift an den heiligen Binden, / furchtbar zugleich tönt klagend sein Schrei hinauf zu den Sternen.  / So brüllt auf der Stier, der wund vom Altare geflüchtet  / und das Beil, das unsicher traf, geschüttelt vom Nacken. / Aber zum Tempel hoch drüben entfliehn schnell gleitend die beiden / Schlangen und streben hinauf zur Burg der grausen Tritonis, / bergen zu Füßen der Göttin im Rund sich unten des Schildes.« (Vergil [Anm. 42], S. 60). 48 Spiegelsymmetrisch ins Bild gesetzt ist das Motiv des Doppelopfers im 17. Jahrhundert z.  B. in einer Graphik Pietro Santo Bartolis (Nachdruck bei Schmälzle [Anm. 4], S. 20  f.). 49 Zum Komplex etwa Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann. Stadien und Quellen seiner Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe. In: Gall, Wolkenhauer (Anm. 39), S. 228–241.



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übersetzt er in seiner poetischen Vergil-Übertragung (1791) beispielsweise den lateinischen Vers »ardentisque oculos suffecti sanguine et igni«50 in die freie Formulierung »Im blut’gen Auge flammt des Hungers Wuth«.51 Wiederholt verstärkt Schiller gegenüber Vergil in dieser Richtung das Moment der kreatürlichen Wut (so ist etwa von des »Bisses Wuth« oder »Geifers Schaum« die Rede).52 Dabei geht es ihm allerdings nicht um die Übertragung eines menschlichen Affekts auf das Tier, sondern gerade um die vernunftlose Überwältigungsgewalt, das ungebändigt Zerstörerische des animalischen Gefühlsantriebs. Gleichsam eine Erläuterung zu dieser Nachdichtungstendenz liefert Schiller 1793 in der Abhandlung Vom Erhabenen: Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Thierheit sich äußert ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos. […] Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ungefähr ein Maaß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte.53

Überwindung des Affekts durch ästhetische Transposition ins Pathetische als moralischer Triumph des Humanen über das Animalische: So stößt sich die Freiheitsidee, für die Schiller die Laokoon-Gruppe als Maßstab einsetzt, vom Animalischen ab. Vor dem Hintergrund dieser triumphalen Aufrechterhaltung der anthropologischen Differenz54 scheint es folgerichtig, wenn Schiller auch in der Nachdichtung Vergils die ›Gewaltsamkeit‹ des tierischen Wutaffekts hervorkehrt. Die gewohnt weniger idealistische Variante liefert zeitgleich Karl Philipp Moritz, der in den Reisen eines Deutschen in Italien (1793) die anthropologische Differenz angesichts der artspezifischen Schrecklichkeit der Schlangentiere ebenso wie Vergil zum Einsturz gebracht sieht:

50 Aen. II, V. 210. 51 Schmälzle (Anm. 4), S. 23. Vgl. dagegen z.  B. in der wörtlichen Übersetzung von Voß (1799): »Und, die entflammeten Augen mit Blut durchströmet und Feuer« (Publius Vergilius Maro: Äneis. Übers. von Johann Heinrich Voß. Leipzig 1875, V. 209). 52 Ebd., S. 23  f. 53 Ebd., S. 54  f. 54 Vgl. dazu in Schillers Dichtung Das Reich der Schatten (1795) auch die an Laokoons »Namen­ losem Schmerz« entzündete poetische Geste »Da empöre sich der Mensch!« (ebd., S.  43). Zu Schillers Auffassung der Natur als zerstörerischer Kraft seit den 1790er Jahren vgl. Helmut Koop­ mann: Schiller – die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens. In: Georg Braungart, Bernhard Greiner (Hgg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft; 6), S. 177–190.

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Man denke sich statt der Schlangen in dieser Gruppe, den reißenden Tyger, den verwundenden Pfeil, den tödtenden Dolch  – nichts kommt dem Entsetzen dieser furchtbaren Umwindung bei, wo die mächtigen Ungeheuer in schrecklichen Krümmungen den ganzen Gliederbau umfesseln – das Edle, Gebildete erliegt der Macht des Ungeheuers; der Mensch dem Wurme –.55

Die buchstäbliche Gleichwerdung des Menschen mit den Schlangen gestaltet parodistisch schließlich Heines Gedicht Du sollst mich liebend umschließen (1823) in den geschmeidigen Versen »Gewaltig hat umfangen,  / Umwunden, umschlungen schon / Die allerschönste der Schlangen / Den glücklichsten Laokoon.56 Die Inversion der tragischen Laokoon-Gestalt, den man sich später wie Camus’ Sisyphos als Glückspilz vorzustellen hat, wurzelt dabei in der erotischen Femininisierung und Ästhetisierung der Schlange, welche die unwiderstehliche Verführungsgewalt des Animalisch-Weiblichen hervorkehrt.57 Nicht zuletzt liegt damit eine spöttelnde Verschmelzung des heidnischen Laokoon-Mythos mit dem christlichen Sündenfall vor, für die wiederum die Schlange in der Gelenkfunktion steht. Vorgezeichnet ist diese Mythenkontamination in der Frühen Neuzeit wohl durch El Grecos Laokoon (1610–1614).58 Im Hintergrund hier dabei u.  a. die Tizian nachempfundene Laokoon-Parodie Boldrinis (um 1545), die den Priester und seine Söhne als Affen zeigt und das theriomorphe Motiv somit im Nachgang des 1506 entbrannten Laokoon-Kults früh auch kunstkritisch wendet.59 Dass die Schlange auch bildliche Bogenschläge zu weiteren Mythen ermöglicht, veranschaulicht in der Frühen Neuzeit schließlich die Schmerz-Allegorie aus Cesare

55 Schmälzle (Anm. 4), S. 54. 56 Ebd., S. 74. Das Motiv der Gleichwerdung nutzt in der Moderne auch die zweite Strophe aus Johannes R. Bechers Laokoon-Gedicht (1958): »Verstrickt unlösbar in das Spiel der Schlangen, / Wird auch der Leib des Menschen schlangengleich, / Umfängt sich selbst im tödlichen Verlangen, / Bis er versteinert und wird marmorbleich.« (Schmälzle [Anm. 4], S. 92). Die Pointe des Gedichts überführt den Gedanken wiederum in die triumphale Haltung der Schmerzüberwindung: »Triumph in einer plastischen Vision, / So ruht in seinem Schmerz Laokoon.« (ebd.) Ästhetisch heilsam erscheint dabei im Gegensatz zu Schillers Selbstbehauptung des pathetisch Humanen jedoch die Engführung von skulpturaler Erstarrung und paralytischer Schlangengewalt (vgl. oben die Überlegungen zu Goethe). 57 Das männliche Pendant zu Heine findet die erotische Triebnatur der Schlange bereits 1786 in der Phallus-Anspielung der Laokoon-Zeichnung Giovanni Volpatos (Nachdruck bei Schmälzle [Abb. 4], S. 82). 58 Zur Diskussion Mathias Mayer: Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg i.  Br. 1997, S. 170–191. 59 Gewissermaßen in die Froschperspektive kippt die Darstellung in der satirischen Antwort Wilhelm Höpfners von 1939 (Nachdruck bei Schmälzle [Anm. 4], S. 94  f.).



Laokoons Schlange 

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Ripas illustrierten Fassung der Iconologia (1603), die den trojanischen Priester durch den gefesselten Prometheus ersetzt und diesen der Schlange ausliefert.60 Mögen die versammelten Belege die Wahrnehmung des Laokoon-Mythos in Literatur und Kunst als Tier-Mensch-Konstellation plausibilisieren, lässt sich die ästhetiktheoretische Dimension dieser Konstellation abschließend bündeln. Wichtig ist mit Blick auf die mediale Differenz zwischen bildender Kunst und Dichtung vor allem die in der Künstedebatte überblendete ästhetische Unverfügbarkeit, die mit der Tierdarstellung Einzug in den Laokoon-Mythos hält. So setzt Vergils Erzählung ebenso wie die Laokoon-Gruppe mit den Schlangen Zeichen ins Bild, die sich der Vorstellung entziehen und im Wort- oder Bildkunstwerk letztlich auch auf die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft verweisen. Lessing würdigt die Entsinnlichung der Gegenstände in der Dichtkunst allerdings als etwas, das der Malerei überlegen ist, indem die Sprachzeichen das freie Spiel der Einbildungskraft ermöglichen. Dieser Imaginationsfreiheit sind bei Tierperspektiven jedoch in der sprachlichen Repräsentation Grenzen gesetzt. Wertet Lessing es als Nachteil der auf den Sehsinn abgestellten Malerei, dass ihr im Gegensatz zur Poesie vor allem der ›innere‹ Mensch verschlossen bleibt, muss man vor diesem Hintergrund also bedenken, dass tierische Innenwelten auch der Dichtkunst auf besondere Weise entzogen sind. Als Vorteil der sprachlichen Darstellung gegenüber der von Lessing herausgestellten Nachahmung des Nebeneinanders der Gegenstände und Körper im Bildkunstwerk kommt bei Vergil vielmehr zur Geltung, dass die animalische Fremdheit der Schlangen der linearen Dramatik als starrer (An-)Blick bedrohlich entgegengestellt bleibt und der Erzählverlauf zudem als mythischer Gestaltwandel (Seeschlange, Kriechtier, Schlangendrache) ausgespielt werden kann. Man kann die besonders von Goethe gesehene, im Wortsinn tragende Funktion der Schlangen in der Laokoon-Gruppe mit der Ausgangskonstellation von Uwe Saegers Roman Laokoons Traum (2002) zuspitzen. Die berühmte Marmorgruppe ist »explosionsartig« in Einzelteile zerfallen.61 Das zersprungene Kunstwerk scheint endgültig verloren, da es sich nicht mehr zusammensetzen lässt. Denn die Schlangen haben sich gehäutet und sind davongeschlängelt.

60 Nachdruck ebd., S. 44. 61 Ebd., S. 93.

Jörg Robert

»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 1 Opitz-Bilder Unter den Bildnissen des Martin Opitz nimmt das Ölgemälde, das Bartholomäus Strobel d.  J. (um 1591–um 1650/60) zwischen 1635 und 1639 verfertigte, einen besonderen Rang ein. Es befindet sich heute in der Stadtbibliothek zu Danzig.1 Das eindrucksvolle Standesporträt ist das Dokument einer langen Freundschaft: Opitz lernt Strobel, einen der »wichtigsten Epigonen der rudolfinischen Manier«2, 1627 in Breslau kennen, wo der Dichter in Diensten des schlesischen Kammerpräsidenten Karl Hannibal von Dohna stand (seit 1626).3 In einem Brief an Buchner vom 1.  10. 1627 nennt er Strobel »nobilissimus Germanie pictor« und »amicus

1 Zu den Abbildungen kurz und mit weiterer Literatur Klaus Conermann (Hg.): Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Berlin 2009, 3 Bde., hier Bd. 1, S. 160–163; vgl. auch Achim Aurnhammer: Dichterbilder mit Martin Opitz. In: Achim Hölter, Monika Schmitz-Emans (Hgg.): Literaturgeschichte und Bildmedien. Heidelberg 2015 (Hermeia; 14), S. 55–76, der vor allem die weitere Opitz-Ikonographie bis ins 18. Jahrhundert eingehend untersucht. 2 Jan Harasimowicz: Johann Christian  – ein unbeugsamer Fürst. Die ›Europäische Allegorie‹ von Bartholomäus Strobel dem Jüngeren im Museo del Prado in Madrid. In: J.  H.: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2010 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; 21), S. 143–155, hier S.  144. (Geringfügig modifizierter Wiederabdruck des Beitrages: J.  H.: Strobel, Opitz, Gryphius und die ›Europäische Allegorie‹ im Museo del Prado in Madrid. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63), S. 250–271; zu Strobel weiterhin: Jacek Tylicki: Bartholomäus Strobel the Younger; a post-Rudolfine Painter in Silesia and Poland. In: Lubomir Konečný, Beket Bukovinská, Ivan Muchka (Hgg.): Rudolf II, Prague and the world. Papers from the international conference, Prague, 2–4. September 1997. Prag 1998, S.  145–155; Ernst Scheyer: Der Maler Bartholomäus Strobel. Künstlerische Beziehungen Breslaus zu Danzig in der Zeit des großen Krieges. In: Ostdeutsche Monatshefte 13 (1932–1933), S. 517–537. 3 Vgl. Marian Szyrocki: Martin Opitz. Berlin 1956, S. 77–99; Klaus Garber: Martin Opitz. In: Harald Steinhagen, Benno von Wiese (Hgg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 116–184, hier S. 128–130 (mit Lit.). Schon in Danzig verspricht Opitz seinem Freund August Buchner die Kopie eines Strobel’schen Porträts (271001 ep; 280507 ep; 281216 ep). Conermann (Anm. 1), Bd. 1, S. 159  f. Möglicherweise existierte gar kein solches Porträt; das Danziger Porträt datiert erst in die Danziger Zeit. DOI 10.1515/9783110521788-016



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meus optimus«.4 Nach dem Frieden von Prag sehen sich beide 1635 genötigt, Herzog Johann Christian von Brieg auf seiner Flucht nach Thorn zu begleiten.5 In Danzig werden beide von dem überzeugten Calvinisten Gerhard Graf von Dönhoff, dem Berater Władisławs IV. und späteren Danziger Kastellan sowie Marienburger Ökonom, protegiert.6 Auf sein Betreiben wird der Dichter dem polnischen König vorgestellt und erhält das Amt des königlichen Historiographen, später des Sekretärs »mit einem beachtlichen Salär«.7 Dönhoffs Fürsprache ist es wohl auch zu verdanken, dass Strobel 1636 zum Kammermaler des Königs bestellt wird; am 16. 11. 1639 wird ihm von Władisław IV. der Freibrief ausgestellt, der die früheren kaiserlichen Privilegien bestätigte.8 Strobels Porträt ist mehr als ein Bild des Martin Opitz, es ist zugleich (s)ein Image. Es zeigt den Autor des berühmten Buches von der Deutschen P ­ oeterey (1624) und der Acht Bücher Deutscher Poematum (1624 bzw. 1625), allerdings ohne jeden Hinweis auf sein Dichteramt. Alle Attribute des Gelehrten – Bücher, Schreib­utensilien, ein entsprechendes Studiolo o.  ä.  – fehlen. Wir sehen nicht den Philologen, den »Vater der deutschen Dichtung« oder den »Boberschwan«, sondern einen Würdenträger, Diplomaten und Hofmann.9 Opitz’ Haltung auf dem Porträt drückt seine Stellung aus: Den Körper leicht zur Dreiviertelansicht gewendet, die Weste lässig geöffnet, stemmt er den linken Arm stolz und ein wenig herausfordernd in die Hüfte. Der Blick richtet sich selbstbewusst auf den Betrachter. Gekleidet nach der neuesten spanischen Mode tritt uns Opitz als Funktionär des frühmodernen Staates und Vertreter einer neuen, durch virtus und fama legitimierten Geistesaristokratie, einer vera nobilitas, entgegen.10

4 Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 566 (271001 ep): »Jubeo eam paulo post te expectare, ubi copia mihi nobilissimi Germaniae pictoris Strobelij amici mei optimi fieri potuit.« 5 Richard Alewyn: Opitz in Thorn (1635/1636). In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 66 (1926), S. 169–179; Scheyer (Anm. 2), S. 526–537. 6 Vgl. hierzu Gustav Sommerfeld: Zur Geschichte des Pommerellischen Woiwoden Grafen Gerhard von Dönhoff († 23. Dezember 1648). In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 43 (1901), S. 219–265; Gerhard Kosellek: Martin Opitz im Dienst des polnischen Königs Władysław IV. Wahrheit und Legende. In: Germanoslavica 19 (2008), S. 17–33. 7 Garber (Anm. 3), S. 132. 8 Vgl. Harasimowicz (Anm. 2), S. 148. 9 Garber (Anm.  3), S.  133: »Tatsächlich war Opitz jedoch in erster Linie Diplomat und erst in zweiter Linie Gelehrter und Dichter.« 10 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 3). Tübingen 1982, S. 255–267.

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Abb. 1: Bartholomäus Strobel (um 1636/1637): Porträt des ­Dichters Martin Opitz (1597–1639). Ölgemälde, Biblioteka Polskiej Akademii Nauk, Gdánska (Inv. Z IV 4435).11

Dass die »prächtige Erscheinung des hofmännischen Opitz« auf Strobels Bild »mit dem Urteil über das gar nicht so eindrucksvolle Aussehen des schmächtigen Mannes«,12 wie es die Lebenszeugnisse überliefern, kontrastiert, ist kaum überraschend. Das Bild zeigt nicht das Individuum Opitz, sondern seine soziale imago, die für sich spricht, weil er nicht (oder mehr) zu uns sprechen kann. Bilder schaffen Gegenwart – über die räumliche Distanz oder die Distanz des Todes hinweg.

11 Harasimowitz: Strobel, Opitz, Gryphius (Anm. 2), S. 265; Bildquelle: https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/0/00/Painting_of_Martin_Opitz_by_Bartholom%C3%A4us_Strobel. jpg (Zugriff am 25.4.2017). 12 Conermann (Anm. 1), S. 159.



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Das Bild des »Vaters der deutschen Poesie«13 ist dabei besonders erfolgreich, denn Strobels Opitz-Porträt wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder kopiert. Von Gottsched wissen wir, dass er eine Kupferstichkopie des Strobel’schen Gemäldes für die Deutsche Gesellschaft in Leipzig in Auftrag gab, die es »neben Canitzen und Bessern auf[ge]stellet« hat.14 Opitz’ Biograph Kaspar Gottlieb Lindner schreibt (1741): »Jn Gemählden wird er auch hier und dar angetroffen«.15 Auf der anderen Seite ist es doch nur ein phantasmagorisches und geisterhaftes Leben. Das Dichterporträt ist eine paradoxe Form. Mag das Bild auch zum Leitbild werden, so sieht sich der Künstler doch vor eine prekäre Frage gestellt: Wie bildet man einen Menschen ab, dessen Bestimmung das Wort, die hörbare Stimme ist, wie es der Topos vom »Boberschwan« suggeriert? Der Dichter lebt im Gemälde fort, aber lebt er auch? Kann er zu uns sprechen, wenn er nicht spricht? Dieser Paradoxie stellt sich das zweite authentische Opitz-Porträt. Auch dieses wird für das Bildgedächtnis des Dichters bedeutsam.16 Auf der Rückreise aus Paris ließ sich Opitz im September 1630 in Straßburg von einem unbekannten Maler porträtieren. Die Entwurfszeichnung zum Kupferstich wurde im Mai 1631 vollendet.17 »Caeterum ut tibi ac Berneggero nostro tandem obsequerer, passus sum Argentorati me depingi, ita ut Calcographi manu, si nunc coram non licet, vel sic tamen brevi me visurus sis«.18 Der unbekannte Künstler fertigte eine Zeichnung an, die der bekannte ›Chalcograph‹ Jacob van der Heyden (1573–1645) in Kupfer stechen ließ.19 Bernegger finanzierte den Kupferstich.20 Erst auf dessen mehrfache Mahnung hin vollendete Jacob van der Heyden sein Werk im Frühjahr 1631. Er zeigt das Brustbild des Autors in einem medaillonähnlichen Oval (in der Tradition der römischen imago clipeata), ein Typus, der für den kaiserlichen

13 So Gottsched in seiner Lobrede auf Opitz (Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst […]. Leipzig 1739, S. 161). 14 Conermann (Anm. 1), S. 162. 15 Ebd., S. 162. 16 Zuletzt Susanne Skowronek: Autorenbilder. Wort und Bild in den Porträtkupferstichen von Dichtern und Schriftstellern des Barock. Würzburg 2000 (Würzburer Beiträge zur deutschen Philologie; 22), S. 80–95; Erich Trunz: Das Opitz-Porträt des Jacob van der Heyden von 1631. In: Barbara Becker-Cantarino, Jörg Ulrich Fechner (Hgg.): Opitz und seine Welt. FS für George SchulzBehrend zum 12. Februar 1988. Amsterdam 1990 (Chloe; 10), S. 527–539; wieder abgedruckt in: Erich Trunz: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. München 1995, S. 356; Conermann (Anm. 1), S. 176  f. 17 Vgl. Skowronek (Anm. 16), S. 80. 18 An Buchner, 27. 9. 1630; Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 868. 19 Da sich van der Heyden auf dem Stich selbst nur als Stecher bezeichnet, wird er nicht mit dem Urheber der Zeichnung identisch sein. 20 Brief vom 27. 3. 1631 an Opitz. Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 976  f.

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Abb. 2: Jacob van der Heyden: Porträt ­(Brustbild) des Martin Opitz, Straßburg 1631. Kupferstich (Platte 145x96 mm). KupferstichKabinett, Staatliche Sammlung Dresden (152569 im A 242 m,2).21 21

Hof in Prag um die Jahrhundertwende vielfach belegt ist und sich am »Ideal des Hofmannes« orientiert.22 Der Dichter erscheint (vom Betrachter aus) leicht nach rechts gewandt; das als Brüstung deutbare untere Ovalsegment war offenbar für Motti oder Symbole gedacht. Um die subscriptio entbrannte ein regelrechter Streit23: Bernegger bittet mehrfach Balthasar Venator um ein Epigramm, während Opitz selbst bei Buchner anfragt. Venator und Bernegger besuchen im September/Anfang Oktober 1630 Caspar von Barth in Sellerhausen (bei Leipzig), welcher mehrere Epigramme auf Opitz’ Bildnis dichtet.24 Spontan vorgetragen, findet eines Gefallen und wird an Bernegger nach Straßburg übersandt, der es dem Kupferstecher übergibt. Offenbar geschieht dies jedoch ohne explizite Billigung Barths, der sich verstimmt von Opitz distanziert.25 Das Epigramm hat folgenden Wortlaut:

21 Bildquelle: http://www.bildarchivaustria.at/Preview/7683984.jpg (Zugriff am 25.4.2017). 22 Skowronek (Anm. 16), S. 82. 23 Conermann (Anm. 1), Bd. 1, S. 177. 24 Ebd., Bd. 2, S. 872. 25 Ebd., S. 878  f.



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Talis Lector erat facie phœbeia Seiren, Germani princeps carminis OPITIUS C. Barth. J. van der Heyden sculpsit 1631

In der Edition des Briefwechsels findet sich folgende Übersetzung: So sah, Leser, der apollinische Sänger aus, Der Fürst des deutschen Gesangs, Opitz.26 C. Barth Gestochen von J. van der Heyden 1631

Die Übersetzung gibt den enkomiastischen Kerngedanken gut wieder, unterschlägt jedoch die Pointe des Epigramms: das Gegen- bzw. Zusammenspiel der beteiligten bzw. aufgerufenen Medien.27 Anders als das gemalte Porträt ist das Porträtkupfer eine intermediale Form. In seiner Dreiteiligkeit assimiliert es sich der bimedialen oder ›symmedialen‹ Form28 des Emblems.29 Die Umschrift der Vi­gnette (»Imago MARTINI OPITII«) repräsentiert titulus/inscriptio, das Porträt selbst die imago/pictura, das enkomiastische Epigramm die subscriptio. Letztere erst gibt der pictura ihren Sinn30, und zwar auf zwei Ebenen: Das Epigramm bekräftigt einerseits – im Stile einer Zeugenaussage – den dokumentarischen Charakter des Bildes (»so und nicht anders war er«). Es ist eine klassische Ekphrasis, die ihren performativen Rahmen mitsetzt: den Gang durch einen imaginären Bildersaal von viri illustres, ähnlich z.  B. Nikolaus Reusners Icones sive imagines virorum literis illustrium (1587). Die Pointe liegt in dem, was nicht im Bild erscheint und nur mittelbar im Text der Ausgabe jenes carmen Germanum, das das Autorbild voraussetzt. Die folgende Übersetzung versucht dies wiederzugeben: 26 Übers. nach Conermann (Anm. 1), Bd. 1, S. 176. 27 Dies gilt auch für Skowroneks – im Übrigen anakoluthische – Übersetzung ([Anm. 16], S. 82): »So, war, Leser, das Antlitz der apollinischen Sirene / Opitz, der Fürst des deutschen Gedichts«. 28 Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk. In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Emblem. Akten des 5.  Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Frankfurt a.  M. u.  a. 2002, Bd. 1, S. 9–24. 29 Zur Intermedialität des Emblems vgl. den Sammelband von Johannes Köhler, Wolfgang Christian Schneider (Hgg.): Das Emblem im Widerspiel von Intermedialität und Synmedialität. Hildesheim, Zürich, New York 2007. Zum Wechselspiel von Assimilation und Dissimilation, das die Emblematik als Gattung konstituiert, vgl. Bernhard F. Scholz: Themen und Fragen der Emblem­forschung. In: B.F.S. (Hg.): Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002, S. 15–41, hier S. 22–24. 30 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 2. überarb. und ergänzte Auflage. München 1968, S. 22  f.: »Abbilden und Auslegen, Darstellen und Deuten.«.

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So sah es aus, lieber Leser! Das apollinische Antlitz des Sängers (wörtl. der Sirene), des Fürsten31 der Deutschen Dichtung – Opitz. (Übers. J.  R.)

Das Emblem ist nicht nur ein »bi-medial realisiertes Concetto«32; die intermediale Struktur ist nicht nur Form, sondern Thema des Gedichts: seine argutia entfaltet sich in der Reflexion seiner dreifachen Medialität.33 Lesen, Sehen, Hören – Opitz ist in allen drei medialen Aggregatzuständen präsent: der Dichter ist die betörende Stimme (»Seiren«)34, deren Laut aber nur im Aufzeichnungsmedium Buch (»Lector«) wahrnehmbar wird, dem die imago (»facie apollinea«) als (gedachtes) Autorenbild vorausgeht. Im Zusammenspiel von Bild und Schrift wird ein drittes, flüchtigeres Medium – die Stimme, der Klang – greifbar, das sich der Repräsentation entzieht. Die Mediensynthese dient der Medienevokation.35 Der Leser sieht ein Bild, das einen Text begleitet, in dem die Stimme des Dichters virtuell präsent ist. Auffällig ist die Anachronizität des Arrangements. Das Porträt hat proleptische Struktur: Die Unterscheidung von Lesen und Hören, Schrift und Stimme impliziert die von Tod und Leben. Schon Erich Trunz fand die imperfektische Form (»erat«) »etwas ungewöhnlich«36, sie wird jedoch ganz bewusst eingesetzt.37 Das Bild ist ein Gedenk- und Ahnenbild. Es setzt die Präsenz des Autors in das Präteritum des Nachrufs. Caspar von Barths Epigramm verwandelt die viva imago in eines jener Sterbe- oder Memorialbilder, die die humanistische Tradition hervorgebracht hat. Eines der prominentesten Beispiele dürfte Hans Burgkmairs so

31 Dass in »princeps« neben dem aristokratischen Anspruch auch das »principium« und mithin der Archeget mitschwingt, lässt sich hier nur schwer wiedergeben. 32 Bernhard F. Scholz: Emblem. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 435–438, hier S. 436. 33 Vgl. dazu meine Überlegungen in: J.  R.: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 91. 34 Als Bezeichnung für Dichter schon bei Sueton und Horaz. Vgl. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp.  2691 (s.v. ›Siren‹). Skowronek (Anm. 16), S. 82. 35 In der Typologie von Uwe Wirth: Intermedialität. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hgg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn 2005, S. 118  f. liegt hier eine Intermedialität auf 2. Stufe vor: Die Kopplung zweier Zeichenverbundsysteme. Die Pointe dieser harten Intermedialität liegt jedoch gerade darin, dass sie eine ›konzeptionelle‹ Intermedialität – die Rückführung von Schrift auf Stimme – entwickelt. 36 Trunz 1990 (Anm. 16), S. 82. 37 Skowronek (Anm. 16), S. 82.



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genanntes Sterbebild des Conrad Celtis sein.38 Die Strategie des zu rhetorischen Zwecken antizipierten Todes ist hier noch deutlicher formuliert:

Abb. 3: Hans Burgkmair d.  Ä.: Gedächtnisbild des Konrad Celtis. 1507.39

Barths Epigramm vollzieht drei Metamorphosen: a) eine mediale (von der Schrift über das Bild zur Stimme), b) eine gender-logische (vom Vater und »Fürsten« zur Sirene) und c) eine zeitliche (von der Präsenz zum Präteritum). Während das Bild den leibhaftigen Dichter zeigt, antizipiert die subscriptio seinen Tod. Die paulinische Unterscheidung (2 Kor. 3,6): »littera enim occidit. spiritus autem vivificat«

38 Skowronek (Anm. 16), S. 43–46; Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit; 76), S.  497–509; Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte. Frankfurt am Main 2001, S. 282–312. 39 Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Conrad-Celtis.jpg (Zugriff am 25.4.2017).

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(»der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig«) kehrt sich um:40 Denn (nur) das tote Bild ist Ausdruck eines Lebens über den Tod hinaus – imago und imitatio.

2 »geschwiester Kinder« Opitz’ imago lebt fort  – auch nach dem Tod des Dichters, der das imaginierte zum realen Epitaph werden lässt. Ein unbekannter Künstler hat das van der Heyden’sche Epitaph im Auftrag des Nürnberger Kupferstichhändlers Paul Fürst (1605–1666) vor 1655 nachgestochen (Abb.  4). Der Stich ist dem Nürnberger Organisten Sigmund Theophil Staden (1607–1655) gewidmet. Die Grundkon­ zeption bleibt bestehen. Das Bild zeigt Martin Opitz, der jetzt als »bedeutendster Dichter Europas« apostrophiert wird, in einem ovalen Medaillon. Insgesamt wird ein Bestreben nach amplificatio sichtbar: Die schlichte Betitelung des ovalen Rahmens bei van der Heyden wird deutlich erweitert. Die neu gefasste Umschrift hebt sowohl Opitz’ Stellung bei Hofe als auch die in der europäischen respublica litterarum gebührend hervor: »NOBILISS. [IMUS] EXCELL:[ENS] DN: [DOMINUS] MARTINUS OPITIUS, REGIAE MAIESTATIS POLONIAE A CONSILIIS ET SECRETIS, OMNIUM EUROPAE POETARUM FACILE PRINCEPS.« Dies spiegelt v.  a. Opitz’ polnische Karriere nach 1636 wider: seine Ernennung zum Hofhistoriographen und zum königlichen Sekretär (1636), zudem im Rückblick die Dichterkrönung (1625) und die Nobilitierung (1627; »nobilis Opitius«). Interessanterweise setzt auch die völlig neu verfasste subscriptio des Hieronymus Ammon eine intermediale Pointe: Nobilis Opitii facies est picta Poetae Dona sed ingenii pingere nemo potest. Das ist das gemalte Antlitz des edlen (adligen) Dichters Opitz Die Gaben seines Geistes kann jedoch niemand malen. (Übers. J.  R.)

Im Epigramm klingt ein Topos des humanistischen Autorenbildes an: Das Bild kann nur ein Abbild des Äußeren sein, während alle inneren Werte und Qualitäten (»dona ingenii«) undarstellbar bleiben. Die Kunst liefert ein Bild des äußeren, die Schrift das des inneren Menschen. Idealtypisch findet er sich bereits auf verschiedenen Porträtstichen Dürers, etwa dem bekannten Porträt des Erasmus von 40 Peter Koch, Wulf Oesterreiche: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43.



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Abb. 4: Unbek. Künstler nach Jacob van der Heyden: Porträt (Brustbild des Martin Opitz).41

41 Rotterdam (Abb. 5).42 Die lateinisch-griechische Beischrift bietet eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Malerei. Zunächst der lateinische Vordersatz: »Imago Erasmi Roterodami ab Alberto Durero ad vivam effigiem deliniata«, das heißt: »Bildnis des Erasmus von Rotterdam, von Albrecht Dürer nach dem Leben gezeichnet«. Dieser Stolz auf die gelungene Porträtähnlichkeit wird im griechischen Nachsatz jedoch wieder zurückgenommen: »τὴν κρείττω τὰ συγγράμματα δείξει« also: »Besser aber werden ihn seine Schriften zeigen«. Diese 41 Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/87/Martin_Opitz_F%C3% BCrst_excud.jpg (Zugriff am 25.4.2017). 42 J.  R.: Evidenz des Bildes, Transparenz des Stils. Erasmus und die Semiotik des Porträts. In: Frank Büttner (Hg.): Die normierende Kraft des Bildes – die normierende Kraft von Bildern (Pluralisierung & Autorität; 4). Münster u.  a. 2004, S. 205–226; Rudolf Preimesberger: Albrecht Dürer: Imago und effigies (1526). In: R.  P., Hannah Baader, Nicola Suthor (Hgg.): Porträt. (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren; 2). Darmstadt 2003, S. 228– 237; Walther Ludwig: Ein Porträt des Erasmus. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertums­ wissenschaft, NF 27 (2003), S. 161–179.

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Schriften wiederum sind im Vordergrund zu sehen. Dürer zeigt sie, wie sie uns den ›wahren‹ Erasmus, sein ingenium, zeigen. Das Bild zeigt die Schrift, die Schrift zeigt das Bild des Erasmus – d.  h. das Bild seines Charakters und seines Genies. Dürer bemächtigt sich der Schrift, indem er sie schon technisch (in Form der Beischrift) in sein Medium, den Kupferstich, hinüber moduliert. Auf der anderen Seite bemächtigen sich die Bücher und die Schrift des Bildraumes: Nur indem Dürer uns die Bücher zeigt, zeigt er uns mehr von Erasmus, als er uns eigentlich zeigen kann  – Medienkombination wird zur Medienkonkurrenz, der Agon zum Paragone.43 Das Bild scheint den humanistischen Geist der Schrift verinnerlicht zu haben, so, wie es die Schrift – oder doch das Bild der Schrift – ins Innerste des Bildes stellt. Dort, im Herzen des Bildes, ist die Schrift. Damit scheint das Bild einer logozentrischen Unterscheidung von Körper und Geist, Stoff und Form zuzustimmen, die den paragone der Künste bis Lessing bestimmen wird. Denkbar ist aber auch eine konträre Lesart. Sie würde betonen, dass im intermedialen Spannungsraum des Porträts das Bildmedium die Grenzen der Sichtbarkeit und der Lesbarkeit der Schrift bestimmt. Die Schrift ist – frei nach McLuhan – der Inhalt des Bildes. Auch Opitz kannte den porträtskeptischen Topos; er greift ihn in einem Enkomion auf den Maler-Freund Bartholomäus Strobel auf, entstanden wahrscheinlich während der gemeinsamen Breslauer Zeit.44 Sein Titel lautet: Über deß berümbten Mahlers Herrn Bartholomei Strobels Kunstbuch: […] du kanst uns unser Leben Zu trutze der Gewalt deß Todes widergeben Kanst zeigen was für thun ein Mensch im Schilde führ Auß seiner Augen Art / was seine Sitten ziehrt / Und jhre Mängel sind: ein flüchtiges Gemüte / Zorn / Rachgier / Unbestand / Gerechtigkeit und Güte / Furcht / Hoffnung / Trost und Angst / das zeigst du inniglich Mit ungefärbter Farb. […] MOGW 4.2., S. 493. 43 Zum Paragone vgl. Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone delle arti für die Entwicklung der Künste. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, New York 2011, S. 179–209; Ekkehard Mai, Kurt Wettengl (Hgg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Wolfratshausen 2002. 44 Es ist enthalten in der sogenannten Sammlung C der Deutschen Poemata (Breslau: Müller 1629). Schulz-Behrend datiert es in die Jahre 1626 bis 1629, in denen Opitz und Strobel in Breslau freundschaftlich verbunden waren. Eine Beziehung zum späteren Porträt liegt also nicht vor. Abdruck des Textes in: Martin Opitz: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. Hg. von George SchulzBehrend. Stuttgart 1990. Bd. 4.2., S. 492–494 (Im Folgenden: MOGW). Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. München 2009, S. 115–117.



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Abb. 5: Albrecht Dürer: Porträt des Erasmus von Rotterdam 1526. Kupferstich. Metropolitan Museum of Art, New York City.45 45

Opitz wendet die humanistisch-platonische Bildkritik in ein Lob des Malers, der nicht nur den Körper, sondern auch Charakter und Wesensart eines Menschen darzustellen vermag. Dabei gibt er diesem Lob eine bestimmte funktionale Wendung. Opitz geht es nicht um die Darstellung des ingenium des porträtierten Gelehrten. Die Malerei offenbart nicht nur die Vorzüge (wie »Güte und Gerechtigkeit«), sondern vor allem die sittlichen »Mängel« des Menschen. Porträtkunst legt jene Affekte und Regungen bloß, die den neostoischen Idealen der constantia und der tranquillitas animi widersprechen: Neben »Zorn/Rachgier« werden »Unbestand«, »Angst« und ein »flüchtiges Gemüthe« erwähnt. Kunst wird zum öffentlichen Instrument der ›guten Affekt-Polizey‹. Wenn sie entlarvt, »was für thun ein Mensch im Schilde führ«, kann sie nachgerade der Kriminalprävention zuarbeiten. Was zunächst wie ein Lob wirkt, enthält jedoch eine verdeckte Spitze: Kunst wird erst dann zur Kunst, wenn sie sich transzendiert und – wie es heißt – »mit ungefärbter Farb’« malt. Im Paradox treffen eigentliche und uneigentliche Bedeutung des Wortes Farbe aufeinander. »Farbe« ist einerseits Medium der

45 Bildquelle: http://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/19.73.120/ (Zugriff am 25.4.2017).

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Malerei als einer sinnlichen Kunst (im Gegensatz zum intelligiblen disegno), andererseits – im Begriff des »Schönfärbens« – ein Ausdruck der Verstellung, des falschen rhetorischen Schmucks (colores rhetorici), der Lüge. Die Malerei ist »ungefärbt«, d.  h. schonungslos, aufrichtig und echt; sie dissimuliert nicht, sondern enthüllt – als Medium der Hofkritik – die dissimulatio, paradoxerweise durch den Einsatz von Farben. Hieran schließt sich ein zweiter Topos an, der für die intermediale Selbstverständigung über Grenzen der Malerei und der Poesie in der Frühen Neuzeit zentral ist. Es handelt sich um das berühmte ›Diktum des Simonides‹.46 Es entstammt einer Schrift des Plutarch, die lateinisch oft mit dem Titel Bellone an pace clariores fuerint Athenienses (»ob die Athener durch ihre zivilen oder kriegerischen Leistungen mehr Ruhm verdienten«) wiedergegeben wird:47 Simonides nun nennt die Malerei eine schweigende Dichtung, die Dichtung aber eine sprechende Malerei. Denn die Handlungen, welche die Maler in ihrem Vollzug schildern, diese erzählen und beschreiben die literarischen Werke (logoi) wie vollzogene. Wenn nun die einen Farben und Figuren, die anderen Wörter und Sätze verwenden, so unterscheiden sie sich zwar im Material und Vorgehen, doch haben beide dasselbe Ziel, und der beste Geschichtsschreiber imaginiert seine Erzählung wie ein Gemälde durch Leidenschaften und Charaktere. (Übers. J.  R.)

Dass Opitz auch diesen Topos kennt, zeigt unser Gedicht an Bartholomäus Strobel: […] es weiß auch fast ein Kindt / Das dein’ vnd meine Kunst geschwiester Kinder sindt. Wir schreiben auff Papier / jhr auff Papier vnd Leder / Auff Holtz / Metall vnd Goldt. der Pinsel macht der Feder / Die Feder wiederumb dem Pinsel alles nach. Diß ists was hiebevor der Cheroneser [sc. Plutarch; J.  R.] sprach / Der mann dem Griechenlandt vnd Rom nicht kan bezahlen Der Klugheit hohen werth; daß ewer edles mahlen Poeterey die schweig’ / vnd die Poeterey Ein redendes gemeld’ vnd bildt das lebe sey.48 MOGW 4.2., S. 492  f., v. 5–14

46 Gabriele K. Sprigath: Das Dictum des Simonides: der Vergleich von Dichtung und Malerei. In: Poetica 36 (2004), S. 243–280. 47 Plutarch 345C-351B, hier 346F. Plutarque: De Gloria Atheniensium. Ed. critique et commentée. par. J. Cl. Thiolier. Paris 1985, hier S. 40. 48 Vgl. Martin Opitz: Ueber deß herühmten Mahlers Herrn Bartholomei Strobels Kunstbuch. In: Martini Opitii Weltliche Poëmata. Der Ander Theil. Frankfurt 1644, S. 43.



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Für Opitz steht die Gleichrangigkeit und Gleichursprünglichkeit von Dichtung und Malerei fest. Nimmt man die Metapher von den »geschwiester Kinder[n]« beim Wort, so sind beide Künste genealogisch verbunden, dies jedoch im Sinne von ›Cousinen‹49. Diese Rede von der Verwandtschaft der Künste ist – auch das sagt uns Opitz – schon 1626 ein Gemeinplatz, und sie bleibt es in verschiedenen topologischen Variationen das gesamte 17. und 18. Jahrhundert hindurch.50 Eine solche Variation bietet Harsdörffer in seinem Kunstverständigen Discurs, von der Mahlerey (1652). Er spinnt die genealogische und familiale Metaphorik weiter aus, wenn er im Kapitel »Von der Mahlerey Verwandtschaft mit anderen Künsten« fordert, »daß der Poet und der Mahler ihre Kunst-Kinder zusammen heyrathen / welche dann eine[n] friedlichen  / glücklichen Ehestand zubesitzen pflegen«.51 Die ars emblematica ist das naheliegende Beispiel einer solchen ästhetischen Kon­ven­tions­ehe.52 Wir sind ihr in den Autorenbildern bereits begegnet. Opitz’ Gedicht an Strobel führt alle zentralen Topoi zum Paragone an und setzt sie in ein Verhältnis zueinander. Dabei zeichnen sich sechs Aspekte ab: Beide Künste teilen 1. dieselbe Genealogie, sie sind stammverwandt. Beide sind 2. Schrift-Künste: »Wir schreiben auff Papier / jhr auff Papier vnd Leder«, die sich immerhin 3. durch Material und Schreibmedien unterscheiden. Hier scheint sogar die Dichtung im Nachteil zu sein, da sie nur »auff Papier« schreibt, während die Malerei ganz unterschiedliche, namentlich edle Materialien wie Gold oder Metall bearbeitet. 4. Trotz dieser unterschiedlichen Materialien sind sie ästhetisch und sozial gleichrangig. Opitz nennt Strobel »meiner Freunde Ziehr«; diese Freundschaft ist keine empfindsame, sondern eine soziale im Sinne einer späthumanistischen sodalitas, die wechselseitige Anerkennung öffentlich signalisiert. 5. wird (auch) die Malerei sozial gehoben, geradezu nobilitiert (»edles mahlen«). Damit sind 6. Malerei und Dichtung Künste (artes) in einem starken Sinne. Wie Opitz die Poeterey, so muss Strobel die Malerei »richten vnd reguliren«53. Neben »Müh und Übung« (exercitatio) setzen Künste Regularität (darauf zielt das »Kunstbau«), 49 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33  Bde., Nachdruck München 1984, hier Bd. 5, Sp. 4006. 50 Jean H. Hagstrum: The Sister Arts: The Tradition of Literary Pictorialism and English ­Poetry from Dryden to Gray. Chicago 1987; Gottfried Willems: Anschaulichkeit: Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (Studien zur deutschen Literatur; 103); W. Lee Rensselaer: Ut pictura Poesis. The humanistic theory of painting. New York 1967. 51 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Discurs, von der Mahlerey. Nürnberg 1652. Hg., komm. und mit einem Nachwort von Michael Thimann. Heidelberg 2008, S. 17. 52 Ebd., S. 15. 53 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 52.

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aber auch »deß Himmels Gunst« (Inspiration, Naturbegabung, ingenium) voraus. Wie in der Poeterey akzentuiert Opitz diesen Aspekt stark und leitet aus ihm die soziale Distinktion des Dichters ab.54 Ein Bürgermeister zwar wird alle Jhar’ erkohren / Ein Rhatsherr wird gemacht / wir aber nur gebohren: Ein Mahler vnd Poet ist minder der die Kunst Auß Müh’ vnd Vbung hatt / als von des Himmels gunst Die euch die hände führt / vnd uns die heißen Sinnen. MOGW 4.2, S. 493, v. 15–19.

Die Bestimmung und Begabung zur Kunst adelt den Künstler – das natura-Argument schließt Dichter und bildenden Künstler ein. Diese Aufwertung der Malerei wird jedoch unterlaufen durch eine Argumentation, die den Vergleich zur Konkurrenz der Künste (aemulatio) überschreitet. Sieht man genau hin, erweist sich nämlich die Dichtung als die überlegene Kunst. Schon das Diktum des Simonides verteilt die Leistungen ungleich. Denn ist nicht eine »Poeterey die schweig’« letztlich eine, die sich selbst negiert und ad absurdum führt? Ist nicht umgekehrt die Dichtung die wahre Malerei, sofern es ihr gelingt, »ein redendes Gemäld’ und Bild das Lebe [zu] seyn«, während der Malerei genau diese Qualitäten – Sprache, Leben – fehlen? Die Lektion, die Strobel zwischen den Zeilen lernt, ist unmissverständlich: Die Feder ahmt zwar dem Pinsel nach, wie es heißt, verleiht jedoch den Dingen Sprache, Leben und Präsenz, wo das Gemälde nur mortifiziert. Opitz’ Gedicht entwickelt eine komparative Medientheorie: Sein Begriff von Dichtung wie sein Autorkonzept gehen stark vom Schrift-Steller und vom Schreibvorgang aus. Nur so gelingt die Analogie. Während das Diktum des Simonides geradezu die Ungleichheit der Künste nahelegt  – hier belebte Rede, dort totes Schweigen –, gelingt der Vergleich auf der Grundlage der Materialität des Mediums: Pinsel und Feder, Schrift und Buch. Opitz fasst die Malerei als ein Schreib- und Aufschreibsystem auf, das evolutionär der Literatur vorausgeht. Er ›propft‹ ihr die Qualität des eigenen Mediums auf: »Wir schreiben auff Papier / ihr auff Papier und Leder«. Diese Argumentation ist zugleich widersprüchlich: Obwohl die Dichtung »redendes Gemäld’« ist, scheint sie nur dort zu ihrer Bestimmung zu finden, wo sie schreibt, d.  h. lebendige Rede im Buchstaben mortifiziert. 54 Wenn Opitz dem Dichter die »heißen Sinnen« zuweist, so nimmt dies die Longin-Referenz der Poeterey auf, wonach die Dichter »εὐϕαντασιωτὸϛ« sein müssten. Ebd., S. 18; vgl. zudem ebd., S. 19: »Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil / sondern wenn er kan / vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zuer kommen vermeinen / treibet.«



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Dies schafft ihr aber auch eine Unabhängigkeit gegenüber der Natur. Denn weiter unten heißt es: […] wir schreiben den Verstandt Vnd Weißheit in ein Buch; jhr mahlt sie an die Wandt; Bey uns wirdt sie gehört / bey euch gar angeschawet; So daß euch die Natur fast mehr als vns vertrawet / Die tausendkünstlerinn / die euch noch nicht begnügt / Weil jhr in eine Welt des Epicurus fliegt / Vnd ein Geschöpffe macht von dem man nie gelesen/ Das künfftig nicht sein wirdt / noch jemals ist gewesen. MOGW 4.2., S. 493, v. 21–28.

Malerei und Dichtung sind gleichermaßen in der Mimesis verankert. Hier wirkt die aristotelische Tradition doppelt nach: Einerseits die Poetik mit ihren zahlreichen Vergleichen zwischen Poesie und Malerei im allgemeinen Teil. Andererseits die Aussage in der Physik (II, 8, 199a 15–17), dass Kunst bestrebt ist, »einerseits zu vollenden, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen«. Kunst kann Natur supplementieren, indem sie das »von der Natur Liegengelassene« aufnimmt und gewissermaßen ›einspringt‹ für die Natur, wo diese mögliche Erfindungen (noch) nicht selbst hervorgebracht hat.55 Die Malerei scheint dabei doppelt im Vorteil: Einerseits ist sie der Natur näher, weil sie sich, wie Dubos und nach ihm Lessing feststellen werden, natürlicher, nicht künstlicher Zeichen bedient.56 Andererseits aber ist gerade sie es, die Natur durch imitatio zu transzendieren vermag. In Opitz’ Strobel-Enkomion steht die Malerei in einem doppelten Paragone: Sie wetteifert nicht nur mit der Dichtung, sondern mit der Natur als universaler Produktivkraft selbst. Sie ist das Prinzip der Produktivität schlechthin, die Erz- und Urkünstlerin. Doch dieses Lob der Malerei wie der Natur ist ambivalent, und dies von zwei Seiten. Zunächst, weil die Natur selbst eine ambivalente Instanz ist. Bei Opitz gewinnt sie mythopoetisch die Konturen einer großen Mutter.57 Diese Figuration

55 Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: H.  B. (Hg.): Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 55–103, hier S. 55  f.; Arne Moritz (Hg.): Ars imitatur naturam: Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Münster 2010. 56 Jean-Baptiste Dubos: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Premiére partie (Section; 40). Paris 1719, S. 375: »La premiere [sc. raison; J.  R.] est que la peinture agit sur nous par le sens de la vûe: La seconde est que la peinture n’employe pas des signes artficiels ainsi que le fait la poësie, mais bien des signes naturels«. 57 Vgl. dazu meine Überlegungen in J.  R.: Martin Opitz: Vesuvius. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes u.  a. (Hgg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch.

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einer mütterlichen Natur durchzieht auch Opitz’ spätere Texte. Im Lehrgedicht Vesuvius (1633) erscheint Natur als »Göttin«58, als Verkörperung des produktiven Prinzips und der Einheit der Schöpfung: Natur / von derer Krafft / Lufft / Welt und Himmel sind / Des Höchsten Meisterrecht / und erstgebornes Kind / Du Schwester aller Zeit / du Mutter dieser Dinge / O Göttin / gönne mir daß mein Gemüte dringe In seiner Wercke Reich / und etwas sagen mag Darvon kein Teutscher Mund noch biß auff diesen Tag Poetisch nie geredt; […]. Weltliche Poemata 1644. Hg. von Erich Trunz. Ndr. Tübingen 1967, S. 43

In Vesuvius verkörpert die Göttin Natur ein universales matriarchales Prinzip, das in einer Art heiligen Hochzeit mit dem »Höchsten« die Schöpfung fortlaufend generiert. Zugleich ist sie eine Figur in Opitz’ neuer wissenschaftlicher Mythologie. Als Schwellen- und Mittlerfigur eröffnet sie Zugang zum väterlichen Reich der Schöpfung  – ganz analog zur Nymphe Hercinie in der Schäfferey, die den Dichter und seine Freunde in die unterirdische Grotte führt.59 Ähnlich ambivalent erscheint sie bereits im Gedicht an Strobel. In der Prädikation als »tausendkünstlerinn« schwingt beides mit: ihre unbegrenzte Produktivkraft, die Varianz und Fülle in der Schöpfung garantiert; damit verbunden aber auch die irritierende Vorstellung des Magischen, Gauklerischen und Dämonischen. Die Natur ist eine Verkörperung der Magie selbst.60 Im 16. und 17. Jahrhundert ist es der Teufel, der immer wieder als »Tausendkünstler« angesprochen wird – so schon bei Luther.61 Bei Paul Gerhardt heißt es: Stuttgart 2013, S.  301–305; zum Naturbegriff Ralph Häfner: Naturae perdiscere mores. Naturrecht und Naturgesetz in Martin Opitz’ wissenschaftlichem Gedicht ›Vesuvius‹. In: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 41–50; Claus Zittel: La terra trema. Unordnung als Thema und Form im frühneuzeitlichen Katastrophengedicht (ausgehend von Martin Opitz, ›Vesuvius‹). In: Zeitsprünge 12 (2008), S. 385–427. 58 Zur Motivik vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 116–137 (»Göttin Natur«). 59 Silvia Serena Tschopp: Die Grotte in Martin Opitz’ ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ als Kreuzungspunkt bukolischer Diskurse. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63), S. 236–249. 60 Hartmut Böhme: Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie. In: H.  B. (Hg.): Natur und Subjekt. Frankfurt a.  M. 1988 (es; 470), S. 67–144. 61 D.  Martin Luthers Werke.  Weimarer Ausgabe Band  3. Weimar 1885, 338a: »Der Teufel ist



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es zeucht der engel schar mit waffen ausgerüst, und wehren hier und wehren dar des tausendkünstlers list. P. Gerhardt Geistl. Andachten (1669) 721.62

Dennoch bleibt die Natur  – siehe Opitz’ ingenium-Theorie  – die entscheidende Bezugsinstanz auch des Dichters, freilich nicht die äußere, sondern die innere Natur. Ist bereits die Natur in ihrer produktiven Potenz verdächtig, so erst recht eine Malerei, die noch deren Potentiale ins Phantasmagorische erweitert. Dass die Kunst der Natur als Magierin vertraut, macht sie der Mitwirkung an magischen Praktiken verdächtig. Kunst produziert Illusionen und Simulacren jenseits der göttlichen Natur- und Schöpfungsordnung. Wo Natur im Gesamt der göttlichen Schöpfung ruht, geht Kunst in einem Akt kreativer Hybris über diese hinaus. Das gilt erst recht für das zweifelhafte Lob, sie produziere – jenseits der Mimesis – »ein Geschöpffe […] von dem man nie gelesen«. Das nimmt den berühmten Beginn der Ars poetica des Horaz auf: Humano capiti cervicem pictor equinam Iungere si velit et varias inducere plumas Undique conlatis membris, ut turpiter atrum Desinat in piscem mulier formosa superne, Spectatum admissi risum teneatis, amici? Credite, Pisones, isti tabulae fore librum Persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae Fingentur species, ut nec pes nec caput uni Reddatur formae. […] Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende weib: könntet ihr da wohl, sobal man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören. Horaz, De arte poetica, v. 1–5. Q.  H. Flaccus: Sämtliche Gedicht. Lat. und dt. Hg. von Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 628  f.

tausendkünstler«; weitere Belegstellen s.v. »Tausendkünst(l)er«, »Tausendkünstner« in Grimmsches Wörterbuch (Anm. 49, Bd. 21, Sp. 222–223). 62 Vgl. Titel wie: Christian Warner: Carnüffel-Spiel des Teuffels. Dadurch er als ein Tausentkünstler / vielen Millionen Menschen / bißhero Himmel / Seel und Seeligkeit abgewonnen hat. Quedlinburg 1664.

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Opitz gibt dem Bild der Chimäre eine doppelte Wendung: er positiviert scheinbar das Horazische monstrum im Sinne einer produktiven Einbildungskraft, wie sie etwa Montaigne in seinen Essais De la force de l’imagination oder De l’oisivité beschrieben hatte.63 So gilt: »In der Geschichte der literarischen Phantasie wäre vielleicht die Position von Opitz damit neu zu bestimmen«.64 Neben die Asso­ zia­tion des Dämonischen tritt die des Materialismus. Der Maler hält es nicht nur mit der Natur (im Sinne von natura naturans), sondern auch mit Epikur, bei dem die Natur die Elemente zu immer neuen, kontingenten Formationen zusammenführt und wieder auflöst.65 Auf der anderen Seite bestreitet gerade die wichtigste Quelle – Lukrez mit seinem Lehrgedicht De rerum natura – die Möglichkeit der Bildung von Monstren und Chimären ausdrücklich,66 da diese nicht lebensfähig seien. So bleibt das Lob der Malerei, die es der »Tausendkünstlerin« Natur gleich tut, zwiespältig. Die Mimesis rückt in den Horizont ambivalenter Naturzuschreibungen ein: treue Dienerin einer Natur, die selbst eine dämonische Instanz ist, übersteigt die Malerei diese noch in der Produktion möglicher und unmöglicher Wesen. Und gerade in dieser Produktion des Chimärischen, Grotesken und Hybri­ den findet die Malerei zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Die Malerei besitzt ferner die göttliche Gabe der Ubiquität, d.  h. »allenthalb sein [zu können]« (V. 30) und – wie eingangs zitiert – die Fähigkeit, die Toten am Leben zu erhalten bzw. wiederzuerwecken. Sie ist eine Art ästhetischer Nekyomantie: […] du kanst vns vnser Leben zu trutze der Gewalt des todes wiedergeben. MOGW 4.2., S. 493, v. 31  f.

63 Michel de Montaigne: Essais. 3 Bde. Hg. von Pierre Michel. Paris 1965. Bd. 1, S. 81–82 bzw. Bd.  1, S.  160–171. Zur Rezeption der Horazischen Stelle vgl. Urte Helduser: Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der ›Missgeburt‹ (1600–1835). Göttingen 2016, S. 25–29. 64 Markus Fauser: Bild und Text bei Martin Opitz. Beschreibung und mentale Bilder in den Liebesgedichten. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt (Frühe Neuzeit; 63). Tübingen 2002, S. 123–153, hier S. 143. 65 Vielleicht ist konkret auch auf die Theorie der Simulacren angespielt. Lukrez: De rerum natura, 4. Buch, v. 30–53. Schulz-Behrends Hinweis auf die Zwischenweltentheorie (intermundia) passt dagegen weniger zur Stelle (Schulz-Behrend 1990 (Anm. 44), S. 492). Vgl. auch v, 878–881. 66 Lukrez De rerum natura 2, 700–710: »Nec tamen omnimodis conecti posse putandum est / omnia.« (v. 700  f.). Titus Lucretius Carus: De rerum natura – Welt aus Atomen. Lat. u. dt. Übers. und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner. Stuttgart 1973, S. 134 bzw. 135.



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Die Malerei verwandelt  – wie der Nekyomant Faust, der die schöne Helena beschwört67 – das Tote ins (scheinhaft) Lebendige. Sie schafft materiale Trugbilder. Hieran schließt sich die bereits erwähnte Gabe an, die verborgenen Intentionen der Menschen zu erforschen. Auch die polizeiliche Detektion dessen, »was für thun ein Mensch im schilde führt« (v. 33), steht in der Fluchtlinie dieser magischen Fähigkeiten, die hier in den Dienst einer Überwachungsphantasie der guten ›Policey‹ gestellt wird. Doch all dies ist nicht genug. Die Pointe des Gedichtes spitzt den doppelten Paragone zu. Dem ars imitatur naturam stellt Opitz sein pictura imitatur poeticam entgegen. Ziel der Malerei sei es nun nicht, die Natur zu transzendieren, sondern das eigene Medium und seine Materialität. Hier nun verlagern sich eindeutig die Gewichte zwischen den »geschwiester Kinder[n]«. Jetzt klärt sich der Titel des Gedichtes auf. Das Enkomion auf Strobel gipfelt nicht im Lob seiner Kunst, sondern im Lob seiner ars, seines »Kunstbuchs« also.68 Das Enkomion erweist sich als exhortatio ad theoriam. Wie Opitz wenige Jahre vor unserem Gedicht mit dem Buch von der Deutschen Poeterey so soll Strobel durch sein nicht erhaltenes, wohl eher nie geschriebenes ›Kunstbuch‹ sein Malen auf ein theoretisches Fundament von Regeln und Gesetzen bringen: Daß aber dein gemüt’ auch durch ein Buch wil weisen Des klugen pinsels Geist / wie soll ich dieses preisen? Deß Menschen bildt vnd er sindt nur ein spiel der Zeit / Die farb’ entfärbet sich; du suchst die ewigkeit / Vnd hast auch diß erlernt vom Volcke der Poeten/ Daß Bücher für den rost / für Neidt vnd sterbensnöthen Die besten ärzte sindt. wolan / so brich herfür / Mahl’ ab dein mahlen selbst / laß deines pinsels Ziehr Nicht immer Häusern nur vnd Fürsten Höfen stehen / Sie soll auch durch das Hauß der liechten Sonnen gehen / Vnd gläntzen neben jhr: dann eine solche Handt Ist würdig daß sie sey durch alle Welt bekandt. MOGW 4,2, S. 494, v. 51–62.

Das Finale rückt die Verhältnisse zurecht. Die Malerei mag die Vertraute der Natur sein, als Kunst ist sie Schülerin der Poetik (»Vnd hast auch diß erlernt vom

67 Andreas Kraß: Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Helena als Figur des Begehrens in der Historia von D. Johann Fausten. In: Mireille Schnyder (Hg.): Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology; 13), S. 243–256. 68 Von ihm haben sich keine Spuren erhalten.

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Volcke der Poeten«). Dies beruht auf zwei Argumenten: Dauer und (theoretische) Durchdringung. Gefordert ist also der pictor doctus (»des klugen pinsels geist«), der ein Buch von der deutschen Kunst vorlegt (vergleichbar etwa Dürers Traktaten oder dem Schilder buch des Karel van Mander). Das konservatorische Argument wendet die vanitas-Thematik medienästhetisch: Das Buch ist universeller und demokratischer, von der Materialität seines Mediums entkoppelter als die Malerei, die der physischen Verderbnis ausgesetzt ist. Erst wenn die Hand-Arbeit zum Geistes-Werk und Schrift-Stück wird, kann sie als Mal-Kunst Anerkennung finden. Erst im Prozess der Selbstreflexion und Selbstregulierung nobilitiert sich das Handwerk zur Kunst, gewinnt die Kunst Bestand und Ruhm (»ewigkeit«). Jetzt enthüllt sich auch der Sinn des etwas umständlichen Eingangs (›Man fragt mich, ob ich dich kenne‹). Vorerst kennt nämlich nur Opitz den Freund, »aller mahler liecht«. Sein Ruhm ist erst noch zu erobern, und zwar dadurch, dass Strobel dem Theoriebefehl des Poeten, der Verpflichtung auf Selbstreflexion und Selbstregulation, nachkommt. Erst unter dieser Bedingung ist seine Hand »würdig daß sie sey durch alle welt bekandt« (v. 62). Das Enkomion erweist sich somit als Wechsel auf die Zukunft, ein Lob­gedicht unter Vorbehalt und auf Kredit. Strobel muss sich auf die grundlegende Priorität der Dichtung als durchregulierter – und regulierender! – Kunst einlassen. Aus ut pictura poesis wird am Ende ut poesis pictura. Aus den Geschwisterkindern sind Lehrerin und Schülerin geworden. Opitz’ Paragone der Künste zeigt, so könnte man resümieren, nur deren vorläufige Unvergleichbarkeit. Dichtung und Malerei stehen sich gegenüber wie Geist und Natur, Wahrheit (res. Vernunft) und Betrug. Erst die Entkoppelung von der (sichtbaren) Natur kann die Malerei zur Kunst machen. Malerei ist Handwerk, das auf zweideutige Weise in Dämonie, Materialismus und Magie verstrickt ist. Diese dämonischen Ursprünge müssen durch Regel und Gesetz exorziert werden. Erst in der Schrift findet das Bild zu sich. Hier artikuliert sich eine Position im Paragone, die dann Lessing aufnehmen wird: Die »Geistigkeit«69 der Dichtung siegt über die »Dinglichkeit«70 der schönen Künste. Für Opitz ist der Buchstabe der Geist. Erst als Meta-Kunst ist Malerei echte Kunst, nicht mehr nur magische Praxis und Nekyomantie. Hinzu kommt die alte Verbindung von Farbe und Fleisch, Farbe und Sterblichkeit: »Die Farb entfärbet sich«, während das Schwarz der Lettern die reine Struktur und Logizität garantiert. Am Ende hat Opitz sowohl Horaz als auch Simonides korrigiert. Die Gemeinsamkeit von Dichtung und Malerei besteht 69 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a.  M. 1990, S. 60. 70 David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, S.  118, der von »thingness« und »the heaviness and coarseness of things them­ selves« spricht.



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weniger in der Mimesis und ihrer Reichweite als in ihrer Fähigkeit, sich selbst Regeln zu geben. Diese Regeln jedoch sind immer Regeln der Schrift.

3 Das Unbehagen am Bild In der Sammlung C der Deutschen Poemata von 1629, die das Enkomion auf Strobel zuerst abdruckt, findet sich unmittelbar im Anschluss an unseren Text ein weiteres Gedicht auf ein Bild dieses Malers: An ebn jhn / vber seine seine Abbildung eines Frawenzimmers. WEm seh’ ich / oder wer sieht mir vom bilde zu? Hatt’s die Natur gemacht / Herr Strobel / oder du? O Bildt! / o nicht ein Bildt! diß lieblich sehn / diß lachen / Den Halß / diß Haar / den Mundt / kan diß der Pinsel machen? Wo bleibet dann der Geist? das Antlitz ist allhier: Der Geist sey wo er wil / das Mensch steht doch bey mir. Es lebet / oder muß ja etwas in ihm leben/ Bist du Bildt oder Mensch? wilt du nicht Antwort geben? MOGW 4.2., S. 495.

Der Text steht in der langen Tradition ekphrastischer Epigramme, wie sie insbesondere die Anthologia Graeca überliefert.71 Auf welches Gemälde Strobels angespielt wird, bleibt unklar. Dass es sich um ein Porträt (Brustbild) handelt, wird dadurch nahe gelegt, dass die Ekphrasis nur das »Antlitz« und dessen Teile anspricht. Deutlich sind die motivischen Analogien zum Strobel-Enkomion, das nun in eine szenische Miniatur verwandelt wird. Die vollkommene Kunst (Malerei) illudiert den Betrachter. Originell ist die Inszenierung des Topos. Sie beruht auf der radikalen Subjektivierung der Perspektive. Der Leser nimmt an einem inneren Monolog teil, der wiederum den Moment einer ästhetischen Erfahrung reflektiert. Die Aussage scheint allzu offensichtlich: Vollkommene Kunst hat die Fähigkeit, wieder Natur zu werden. Das Porträt der Dame substituiert diese selbst. Die Unterscheidung »Bildt oder Mensch« ist das Leitmotiv: In Aristotelischer Tradition führt Bodmer in seinen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (1741) das Vergnügen an den Künsten darauf zurück, »daß sie das Gemüthe durch die Ähnlichkeit und die Uebereinstimmung ihrer 71 Irmgard Männlein-Robert: Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der hellenistischen Dichtung. Heidelberg 2007, S. 37–81.

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Bilder mit den Urbildern zu erfreuen und zu ergezen suchen«.72 Der Gedanke der Übereinstimmung von Bild und Urbild wird im Epigramm als Frage formuliert: In Bodmers Logik sind beide immer schon klar voneinander getrennt. Der Vergleich ruht auf dem sicheren Wissen, dass Bild Bild und Wirklichkeit Wirklichkeit bleibt. Die Opitz’sche Pointe liegt dagegen in der Unentschiedenheit und Ambivalenz, die zwischen beiden entsteht. Das Epigramm löst sie selbst nicht auf, im Gegenteil: Es beginnt und endet mit der Frage nach dem Status des Gesehenen und erzeugt so auf doppelter Ebene das Gefühl der Unschlüssigkeit (»hésitation«), das Todorov als Kennzeichen des Phantastischen identifiziert: »le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connait que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel«.73 Eine solche ›Unschlüssigkeit‹ – »Bildt oder Mensch«  – liegt auch im Epigramm vor. Sie stellt sich einerseits auf der Ebene des Bildbetrachters im Text (Beobachtung erster Ordnung), andererseits auf der Ebene des Lesers (Beobachtung zweiter Ordnung) ein. Das Phantastische entsteht in der Kombination beider Unschlüssigkeiten. Es impliziert »une intégration du lecteur au monde des personnages. Il se définit par la perception ambiguë qu’a le lecteur même des événements rapportés«.74 Die Berechtigung dieser Definition zeigt das Epigramm: Sein Kern ist eine Beobachtung zweiter Ordnung: Während der Sprecher (und Beobachter) am Status des Bildes zweifelt, zweifelt der Leser am Status der Beobachtung des Sprechers. Aus dieser Potenzierung der ›hésitation(s)‹ ergibt sich der besondere Effekt des Textes, der Faszination und Unbehagen am Bild verbindet. Er fokussiert kein reales Bild mehr, sondern ein Wahn- und Trugbild, das Ergebnis einer affektiv motivierten Perzeptionsstörung des Beobachters/Sprechers. Das Fantastische – könnte man sagen – resultiert hier aus der Interferenz von Ästhetik und Erotik. Der Sprecher schildert ein Wahrnehmungsexperiment am eigenen Körper bzw. Auge. Dabei kreuzen sich der Blick des Betrachters und der Blick aus dem Bild. Der Blick aus dem Bild ist eine Bildkonfiguration, die »mit der

72 Johannes Jacob Bodmer: Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Frankfurt a.  M. 1741, S. 27. Diese im Kern rationalistische Kognitions- und Lerntheorie der ästhetischen Erfahrung geht von Aristoteles aus, der im vierten Kapitel der Poetik auf den Grund des Vergnügens an der Kunst zu sprechen kommt: »Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z.  B. daß diese Gestalt den und den darstelle.« Aristoteles: Poetik. Gr. und dt. übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (bibliogr. ergänzt 2008), S. 11–13. 73 Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970, S. 29  f. 74 Ebd., S. 35.



»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 

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ästhetischen Grenze illusionistisch spielt und die Trennung von Kunst und Wirklichkeit versucherisch in Frage stellt«.75 Die Belebung des Bildes verdankt sich dem pygmalionischen Effekt, dem Blick des Begehrens, das unheimliche Züge trägt. Das Leben des Bildes ist ein geliehenes, es beruht auf Projektion. Malerei enthüllt also nicht nur Triebe – siehe das Gedicht an Strobel – es befördert diese auch. Der Blick des Betrachters dringt gerade nicht auf den »Geist« der Dargestellten, sondern tastet beobachtend deren Antlitz ab. In der bekannten Logik der enumeratio partium zerfällt ein Gesicht in disiecta membra. Die correctio (»O Bildt! / o nicht ein Bildt!«) vollzieht performativ die Verwandlung des toten Bildes in ein Phantasma des Begehrens. Der Maler wird zum ›pictor creator‹. Das Verb »machen« in der Frage: »Den Halß / diß Haar / den Mundt / kan diß der Pinsel machen?« ist im starken Sinn des englischen to make oder des griechischen poiein als schöpferischer Akt gemeint. Doch auch hier wirkt die Dichotomie von Geist und Körper, der porträtskeptische Topos. Die Frage »Wo bleibet dann der Geist« verweist auf die Grenzen der Malerei; das Enkomion hatte Strobel noch die Fähigkeit attestiert, auch diesen Geist und die Wesensart der Dargestellten zu erfassen. Hier geht es um Anderes. Der Geist wird sogleich für irrelevant erklärt (»Der Geist sey wo er wil«); was den männlichen Betrachter anzieht und bewegt, ist die schiere körperliche Präsenz der Figur (»das Mensch«). Namen, Stellung und Herkunft der Dargestellten interessieren nicht. Auch von ›interesselosem Wohlgefallen‹ ist nicht die Rede, sondern von einer physischen Attraktion, die zur Verstrickung in die Illusion der Präsenz führt. Die abgebildete Dame ist ein simulacrum, wie die schöne Helena in der Historia von D. Johann Fausten, die als eine Art 3D-Hologramm das Begehren von Fausti Studenten entzündet – bis Faust dem Ansinnen nachgibt, von ihr ein autorisiertes Porträt anzufertigen.76 Lebensechte, veristische Kunst steht im Verdacht Teufelsspuk zu sein. Hier und am Enkomion auf Strobel zeigt sich die enge Verflechtung von ästhetischen und magischen Diskursen: Begriffe wie Faszination, Illusion/Täuschung oder Suggestion werden um 1600 im dämonologischen geprägt und wandern sukzessive in den ästhetisch-literarischen Kontext ein.77 Noch fünfzig Jahre nach Faust und Helena ist Malerei im Verruf, eine »Tausendkünstlerinn« zu sein, die mit magischen Praktiken Leben gewinnt. Im Horizont der Dämonologie gewinnt die evidentia-Lehre magische Formen. Das Epigramm 75 Alfred Neumeyer: Der Blick aus dem Bilde. Berlin 1964, S. 11. 76 Jörg Robert: Dämonie der Technik – Die Medien des D. Johann Fausten. In: Kirsten Dickhaut (Hg.): Kunst der Täuschung – Art of Deception: Über Status und Bedeutung von ästhetischer und dämonischer Illusion in der Frühen Neuzeit (1400–1700) in Italien und Frankreich. Wiesbaden 2016 (culturae; 13), S. 373–396. 77 Vgl. dazu die Beiträge des in Anm. 76 zitierten Sammelbandes.

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 Jörg Robert

leuchtet den Zusammenhang von Bild und Begehren, Malerei und Magie aus. Die sinnliche Kraft des Bildes ist so groß, dass es leicht die rationalistische Frage nach dem fehlenden Geist überwindet. Der pygmalionische Blick ist zugleich ein nekyomantischer. Vom Maler angezettelt, belebt er das Bild, schafft sich einen imaginären Sukkubus, der unentschieden zwischen Leben und Tod steht. Die abgebildete Dame ist weder lebendig noch tot, sondern ein Zwischenwesen, das die Malerei als praktische Magie beschwört und festhält. Der Betrachter unterliegt der Macht der Immersion, der Suggestion der Präsenz. Das Bild stimuliert seine Einbildungskraft, die wiederum das Bild belebt. Das Gedicht zeigt auf diese Weise  – gleichsam im poetisch-ästhetischen Selbstversuch – den magischen Grund der Malerei. Dass hier Aspekte einer allgemeinen Bildkritik und Bilddiätetik verhandelt werden, die einerseits aus den Debatten um das sakrale Bild, andererseits aus dem dämonologischen Diskurs gewonnen werden, scheint unabweisbar. Opitz ist ein faszinierter Bildskeptiker, der die magische Identität des Bildes mit dem Abgebildeten einerseits preist, andererseits fürchtet. Das Gedicht zeigt die Macht der Malerei und votiert im Umkehrschluss für ihre Desillusionierung, ihre Domestizierung durch den logos. Die Malerei muss ihre sinnliche Präsenz ablegen, sie muss sich ›entfärben‹, selbst reflektieren und völlig in Schrift übergehen (wozu sie evolutionär disponiert ist), um sich zu ent-dämonisieren und zur Technik zu reifen. Erst ihre innere Regularität und Rationalität sichert den Abstand von der bloßen Magie, der reinen Illusion, die Surrogate und Sukkuben statt Kunst schafft. Die Frage nach dem Prinzip des Lebens (»wo bleibet dann der Geist?«) wiederum zeigt Opitz’ Zugehörigkeit zum cartesischen Zeitalter, das res extensa und res cogitans, Geist und Materie, auseinanderfallen lässt. Opitz’ Ekphrasis gibt der Topik des lebenden Bildes damit eine ganz neue Wendung oder Tönung: Im Streiflicht auf einen Moment der »Zeichenvergessenheit«78 und der Bildverfallenheit kündigt sich ein Unbehagen am Bild an, wie es in den romantischen Puppen, Automaten und Marmorbildern wiederkehren wird.79

78 Helmut Pfotenhauer: Zeichenversessener Realismus. Fontanes Stechlin. In: H.  P. (Hg.): Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 187–206, hier S. 189. 79 Dass Descartes’ Discours de la méthode 1637  – praktisch gleichzeitig  – zu Strobels Porträt entstanden ist, ist vielleicht kein Zufall. Wie Descartes stellt Opitz die Frage nach dem Leben im Lebendigen: »Es lebet / oder muß ja etwas in ihm leben« (v. 7).

Stefanie Stockhorst

Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 1 Bausteine einer komparativen Medienästhetik Bei der Frage nach Text und Bild bei Harsdörffer liegt es nahe, als erstes an die Emblematik zu denken, denn der außerordentlich vielseitig belesene Harsdörffer gehörte zu den ersten Autoren, welche die rinaszimentale Emblemtheorie italienischer Herkunft für den deutschsprachigen Literaturbarock verfügbar machten. Die 1656 publizierte dritte Auflage von Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte enthält eine bemerkenswerte Neue Zugabe: Bestehend in C. Sinnbildern, in deren Vorrede Harsdörffer mit einer zur Redundanz neigenden Kleinteiligkeit in fünfzig durchnummerierten Punkten eine Sinnbildkonzeption wiedergibt,1 wie sie sich in der deutschsprachigen Poetik sonst noch nicht findet. Nachdem das Text-Bild-Verhältnis in der frühneuzeitlichen Emblematik nach der grundlegenden Erschließung durch Schöne/Henkel2 als Form der semantischen Verrätselung zweier ästhetischer Ausdrucksmedien seit den 1980er Jahren zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielt,3 liegen mittlerweile auch zu Harsdörffers Emblemverständnis etliche Spezialstudien vor.4 Eine neue Wendung nahm die einschlägige Harsdörffer-Forschung, als Andreas Herz 1996 1 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Vorrede. Bestehend in 50. Lehrsätzen / von der Sinnbild-Kunst [Vorrede zu Neue Zugabe: Bestehend in C. Sinnbildern, in Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte; 1649]. In: ders.: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Beigebunden ist: Neue Zugabe: Bestehend in C. Sinnbildern. Reprint der Ausgaben von 1656. Hildesheim, New York 1975, S. 3–10. 2 Albrecht Schöne, Artur Henkel (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967. 3 Vgl. z.  B. Christel Meier, Uwe Ruberg (Hgg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und Früher Neuzeit. Wiesbaden 1980; Carsten-Peter Warncke: Sprechende Bilder  – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen; 33); sowie Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposium 1988. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien Berichtsbände; 11). 4 Vgl. Ingrid Höpel: Harsdörffers Theorie und Praxis des dreiständigen Emblems. In: Italo Michele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern u.  a. 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur; 1), S. 195–234; Bettina Bannasch: Von der ›Tunkelheit‹ der Bilder. Das Emblem als Gegenstand der Meditation bei Harsdörffer. In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000, S. 307– 325 sowie die Beiträge von Doris Gerstl, John Roger Paas, Mara R. Wade und Rosmarie Zeller in DOI 10.1515/9783110521788-017

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 Stefanie Stockhorst

den Kunstverständigen Discurs, von der edlen Mahlerey wiederentdeckte,5 der inzwischen auch in einer modernen Edition vorliegt.6 Dieser Text wurde in allen Auflagen von Andreas Böcklers Kunstbüchlein (1652) als theoretischer Anhang mit abgedruckt.7 Während die Verfasserschaft des anonym erschienen Discurses als unstrittig gelten darf,8 bietet der Text inhaltlich nach wie vor Anlass für weitergehende Untersuchungen, insbesondere im Hinblick auf eine vergleichende Theorie der Künste, die sich im Kontext von Harsdörffers Gesamtwerk andeutet.9 Obwohl Harsdörffer sich theoretisch kaum weniger versiert als interessiert zeigt, liegen seine dahingehenden Überlegungen weder in einer systematischen Schrift noch auch nur in einem geschlossenen Argumentationszusammenhang vor. Vollauf berechtigt spricht Herz von »verstreuten Aussagen und Anekdoten zur Malerei«.10 Nicola Kaminski bekräftigte, dass Harsdörffer seine kunstvergleichenden Überlegungen »nicht theoretisch kohärent entwickelt«, sondern gleichsam als »disiecta membra eines Theorems« vorstellt.11 Solche versprengten Einzelteile finden sich, teils mit wiederkehrenden Gedanken und Formulierungen, in verschiedenen Texten. Dazu gehören neben dem Discurs vor allem die

Doris Gerstl (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Nürnberg 2005 (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg; 10). 5 Andreas Herz: Der Hase des Zeuxis: Von Sandrart über Birken zu Harsdörffer. Harsdörffers unbekannter »Discurs Von der edlen Mahlerey«. In: Daphnis 25 (1996), S. 387–422; eine Zusammenschau von Harsdörffers wichtigsten Argumenten bietet Barbara Becker-Cantarino: Ut pictura poesis? Zu Harsdörffers Theorie der »Bildkunst«. In: Gerstl (Anm. 4), S. 9–21. 6 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Discurs, von der edlen Mahlerey. Nürnberg 1652. Hg., komm. u. mit einem Nachw. versehen von Michael Thimann. Heidelberg 2008 (Texte zur Wissensgeschichte der Kunst; 1). 7 Kunstbüchlein Von der RADIER- und Etzkunst / Wie man nemlich mit Scheidwasser in Kupffer etzen / das Scheid- oder Etzwasser / wie auch den harten und weichen Etzgrund machen solle / beneben Kurzter Beschreibung / wie man die Kupffer-Platten abdrucken / die Truckerpreße machen / und was sonsten bey dieser Kunst nöthig zu wissen / in acht nehmen solle. Erstmahls durch A. BOSSE, Kupferstecher zu Pariß / in Französischer Sprach beschrieben / Anjetzo aber uff begehren vieler Liebhaber ins Teutsche befördert Durch GEORG-ANDREAM Böckler / Ingenieur. Diesem ist angefüget worden ein Kunstverständiger Discurs von der edlen Mahlerey / durch einen vnbenenneten Autorem. Nürnberg 1652. 8 Vgl. den ausführlichen Nachweis auf verschiedenen Ebenen bei Herz (Anm. 5), bes.  S. 394–399. 9 Vgl. den richtungweisenden Sammelband von Michael Thimann, Claus Zittel (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffers »Kunstverständige Discurse«. Beiträge zu Kunst, Literatur und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2010. 10 Herz (Anm. 5), S. 390. 11 Nicola Kaminski: »ut pictura poesis«? Arbeit am Topos in Georg Philipp Harsdörffers Seelewig. In: Miroslawa Czarnecka, Thomas Borgstedt, Tomasz Jablecki (Hgg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Bern 2010 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A; 99), S. 367–397, hier S. 371.



Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 

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Frauen­zimmer Gesprächspiele (1644–49),12 der Geschichtspiegel (1654), der Poetische Trichter (1647–53)13 sowie die Ars Apophthegmatica (1656). Die wiederkehrenden Argumente oszillieren zwischen mehreren Eckpunkten. Sie lassen sich an traditionellen Nachahmungsdiskursen, an paragone und Rhetorik sowie auch an einer eigenwilligen Sinnesästhetik festmachen, die späteren Ausprägungen des Sensualismus verwandt erscheint. Die Zielsetzung meines Beitrags richtet sich darauf zu zeigen, wie Harsdörffer das Verhältnis von Malerei und Poesie modelliert, d.  h. nach welchen Kriterien er Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellt und wie er die Funktionen und Grenzen der beiden Künste bestimmt. Dabei gehe ich von der Beobachtung aus, dass Harsdörffer Malerei und Poesie auf dreierlei Arten in Beziehung setzt: erstens durch Analogiebildung, zweitens durch Konkurrenz, und zwar nach Maßgabe sowohl des paragonare als auch der traditionellen Sinneshierarchie, und drittens durch das Ideal einer Synästhesie, wie sie im Zusammenspiel von Text und Bild in der Sinnbildkunst und im Drama entsteht – auf eine strukturelle Verwandtschaft dieser beiden Gattungen wies Albrecht Schöne nicht zuletzt im Rekurs auf Harsdörffer bereits vor rund 50 Jahren hin.14

2 Analogien der Künste Einen zentralen Ansatzpunkt für Harsdörffers komparatives Verständnis der Künste bildet der Verweis auf Analogien, auf eine »universale Entsprechung«,15 die sich an den Momenten von Nachahmung, Illusionismus und Fiktion festmachen lässt. Über die Nachahmung, genauer gesagt, die imitatio naturae, erfährt man in den Gesprächspielen zum einen, dass ihr Reiz in der Wirkung liege, denn: »Das ist gewiß / daß der Mensch sich belustiget in Nachahmung der Natur […]«.16 Zum anderen diene die Natur gleichermaßen als Lehrmeisterin und Stoffquelle beider Künste: »Wie sonsten der Mahler der Natur Schuler [!] ist / indem er von ihr

12 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. VIII Tle. Tübingen 1968–69 (Deutsche Neudrucke; Reihe Barock; 13–20). 13 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst  / ohne Behuf der Lateinischen Sprache  / in VI. Stunden einzugießen. Reprint Hildesheim/New York 1971 [drei Teile in einem Band; die fehlerhafte Paginierung wurde beibehalten]. 14 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl., München 1993 [zuerst 1964], S. 206  f. 15 Herz (Anm. 5), S. 408. 16 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 118.

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seine Kunst erstudiren muß; also bedienet sich der Poet der Natur selbsten […]«.17 Als Ideal der Nachahmung klingt immer wieder die täuschende Echtheit an, infolge derer man »fast darzu zuschreiben nötig hat / es sey Gemähl und nicht die Sache selbsten«.18 Bei der vollkommenen Sinnestäuschung durch die Kunst handelt es sich freilich um einen Topos. Über jahrhundertelange Nachahmungsdiskurse hinweg – und nicht zuletzt auch bei Harsdörffer selbst19 – wurde er in der Anekdote von Zeuxis veranschaulicht, der im Wettstreit mit Parrhasius derart natürlich wirkende Trauben gemalt haben soll, dass die Vögel daran zu picken versuchten (Plinius, Naturalis Historia XXXV, 64–66). Nicht von ungefähr also führt der folgende Leitsatz, der in seiner Unterscheidung der Poesie als geistiger Kunst von der handwerklichen Malerei eine gewisse Voreingenommenheit zeigt, die Künste in ihrer illusionistischen Wirkung zusammen: »Die Mahlkunst ist ein beliebter Betruge des von künstlicher Hand geführten Pinsels / und gleichwie die Poeten ihre Entzuckungen in dem Haubte leiden; Also haben selbe Mahler in den Händen«.20 An anderer Stelle heißt es prägnanter: »Jm Ende sind die Mahler und Poeten die besten Betrüger«.21 Während zeitgenössische Text-Bild-Debatten oftmals von dem notorisch missverstandenen22 Horazischen Diktum des »ut pictura poesis« ausgehen, greift Harsdörffer vorzugsweise auf einen anderen Gemeinplatz antiken Ursprungs zurück. Es handelt sich dabei um die in ihrer chiastischen Wendung recht eingängige Vorstellung vom Gedicht als redendem Bild (pictura loquens) und der Malerei als schweigender bzw. schweigsamer Poesie (poema tacens/tacitum), die bei Plutarch einmal im expliziten Rekurs auf Simonides und einmal als allgemeine Ansicht belegt ist.23 Bei Harsdörffer liest man entsprechend im Poetischen Trichter:

17 Ebd., Bd. VIII, S. 202. 18 Ebd., Bd. I, S. 130. 19 Vgl. Harsdörffer (Anm. 6), S. 12  f. 20 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. I, S. 129. 21 Ebd., Bd. V, S. 114. 22 Vgl. Peter Hess: »Nachäffin der Natur« oder »aller Völker Sprachen«? Zur Rolle visueller Bildlichkeit in Poetik und Rhetorik der Barockzeit. In: Hartmut Laufhütte (Hg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 35/2), S. 1046–1062; zur Problemgeschichte der Formel im Überblick Henryk Markiewicz: Ut Pictura Poesis: A History of the Topos and the Problem. In: New Literary History 18 (1986/87), S. 535– 558; das Zitat bei Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übers.  u. hg. von Eckart Schäfer. Bibliographisch erg. Ausg. Stuttgart 1997, V. 361 (S. 26). 23 Vgl. Thomas Pekáry: Imago res mortua est. Stuttgart 2002 (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien; 38), S. 187  f.



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Es wird die Poëterey ein redendes Gemähl / das Gemähl aber eine stumme Poëterey genennet  / nicht nur wegen der Freyheit dieser verbrüderten und verschwesterten Kunste  / in dem wir nach beliebten Einfällen  / Reden im Gemähl und Mahlen in der Rede; sondern auch wegen der Bilde welche mit Kunstartiger Zierlichkeit dardurch vorstellig gemacht werden  / deßwegen auch die Redner und Poëten sich der Personenbildung vielfältig gebrauchen […].24

Nach dieser Denkfigur erscheinen Dichtkunst und Malerei zwar als ebenbürtig, aber in den deutschsprachigen Formulierungen der barocken Dramen- und Em­ble­ma­tiktheorie wird die Malerei meistens nicht als ›schweigend‹, sondern als ›stumm‹ und damit als unterlegen bezeichnet.25 Peter Hess bemerkte zu Recht, dass der lateinische Chiasmus nur eine »oberflächliche Ähnlichkeit«26 aufweise, was Nicola Kaminski dahingehend präzisierte, dass Harsdörffer zum einen sein »binäres Differenzkriterium (›redend‹ versus ›nicht redend‹) einseitig aus dem Repertoire der Wortkunst« gewinne und die Bildkunst sich zum anderen »nicht nur als ›schweigend‹ erfahren müsse, sondern in der Rolle der ›stummen[n] Poëterey‹ als defizitär, verstümmelt, des Sprachvermögens beraubt«.27 Dieser Proble­ matik begegnet Harsdörffer in den Gesprächspielen mit einer spitzbübischen Erzählung, die er der Figur des Vespasian in den Mund legt: Als es wird von dem Mahler erfordert List und Verschlagenheit / wie aus folgendem Exempel zu beweisen: Es mahlten ihrer zween üm das Meisterstück / der erst fertiget ein so natürliches Bildniß / daß alle / so selbe anschaueten / bekennen musten / es ermangele daran nichts anders / als die Rede. Der ander aber hat auch ein Brustbild hervorgebracht / und / damit demselben ohne Entschuldigung die Rede nicht mangeln könte / hat er es mit einem Becher in der Hand trinckend gemahlet.28

In einer der zahlreichen Marginalien der Gesprächspiele verweist Harsdörffer etwas abseits von seinem Gegenstand im zugehörigen Haupttext auf Jakob Baldes Sylvae Lyricae (1643/46) und zitiert daraus kommentarlos: »pinges, non finges«.29 Schlägt man in Baldes Sylvae nach, so stößt man auf die umgekehrte Konstellation, in der nämlich der Dichter sich dem Maler unterlegen fühlt und daher Apoll um Hilfe bittet, der ihm prompt erscheint, um ihn mit der Formel »pinges non

24 Harsdörffer (Anm. 13), Dritter Theil, S. 101  f. 25 Vgl. Schöne (Anm. 14), S. 205  f. 26 Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers Dicht- und Reimkunst. Stuttgart 1986 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 165), S. 109. 27 Kaminski (Anm. 11), S. 369. 28 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. I, S. 132. 29 Ebd., Bd. V, S. 140.

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finges«30 dem Maler gleichzustellen. Eine verbindliche Festlegung der Poesie auf das Malen in Worten kann indes aus Harsdörffers Anspielung schwerlich abgeleitet werden. Im Gegenteil  – im Discurs wird als tertium comparationis beider Künste nicht das pingere, sondern eben doch das fingere herausgestellt, was in der frühneuzeitlichen Theorie der Künste keineswegs unüblich ist.31 So zitiert Harsdörffer dort den nachstehenden Ausspruch des Horaz, den er allerdings irrtümlich Ovid zuschreibt:32 »Der Erfindung nach  / ist die Mahlerey befreundet mit der Poeterey / daher Ovidius saget: Der Mahler und Poet hat gleiche Macht zu dichten«.33 Die Ausdrucksmittel beider Künste erachtet er dabei jedoch, so heißt es wiederum in den Gesprächspielen, für materiell verschieden: »Was dem Poeten die Wort sind / das sind dem Mahler die Farben: Jedes mit Verstand / an gehörigen Orten aufzutragen / ist Lobwürdig«.34

3 Konkurrenzverhältnisse der Künste Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert kennzeichnet sich vor allem die Theorie der bildenden Künste durch eine kompetitive Gegenüberstellung der einzelnen Kunstsparten.35 Das Ziel dieses fortwährenden paragonare lag zum einen darin, den sozialen Status von Kunst und Künstlern zu konsolidieren und zum anderen in der Feststellung von medialen Gemeinsamkeiten, Unterschieden und spezifischen Leistungsvermögen, was üblicherweise auf eine Hierarchisierung zugunsten des jeweils eigenen Metiers hinauslief. Als Argumente für den fall-

30 Im Zusammenhang: »Annuimus. pinges non finges ampliùs, inquit. Carmen enim mox fiet Imago.« (Iacobi Balde e Societate Iesv Sylvæ Lyricæ. Ed. 2. auctior et emendatior. Köln 1646, S. 117). Vgl. auch Spolia Vetustatis. Die Verwandlung der heidnisch-antiken Tradition in Jakob Baldes marianischen Wallfahrten: Parthenia, Silvae II Nr. 3 (1643). Eingel., hg., übers.  u. erl. von Andreas Heider. München 1999 (Münchner Balde-Studien; 1), S. 184. 31 Vgl. Ulrich Pfisterer: Künstlerische ›potestas audendi‹ und ›licentia‹ im Quattrocento. Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), S. 107–147. 32 Vgl. Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Discurs, S.  56.  – Der entsprechende Passus bei Horaz lautet: »pictoribus atque poetis / quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.« (Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica, V. 9  f. [S. 4]). 33 Harsdörffer (Anm. 6), S. 16. 34 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 143. 35 Vgl. Christiane J. Hessler: Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Ekkehard Mai, Kurt Wettengel (Hgg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Wolfratshausen u.  a. 2002, S. 82–97.



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weise behaupteten Vorrang wurden dabei neben den erforderlichen Kosten und Mühen sowie die vermöge der jeweiligen Disziplinen zu stiftende künstlerische Reputation insbesondere die Theoriefähigkeit, d.  h. die Rückführbarkeit auf Prinzipien geltend gemacht, nicht zuletzt, um die bildenden Künste aus den artes mechanicae in den Rang der artes liberales zu erheben.36 Bei Harsdörffer wird im Gegensatz dazu der geistige Ursprung aller Künste behauptet, wenn es in den Gesprächspielen heißt: Viel achten die Sinnreiche Erfindung höher als die Handarbeit: Dann  / gleichwie keiner kein Poet zu nennen  / der nichts erdichten  / kein Musicus  / der nur singen und Lieder abschreiben  / aber nichts auß seinem Kopf aufsetzen kan: So ist auch der kein Mahler  / der die Dichtkunst nie studieret / und alle Stellungen von Gemählen oder Kupferstükken absehen muß.37

Ruft Harsdörffer hier mit der ›Erfindung‹ bereits das rhetorische officium der inventio auf, so erfolgt im Discurs eine weitergehende Rhetorisierung38 der Malerei in der folgenden Auflistung von Grundvoraussetzungen: Zu einem vollkommenen Kunstgemähl / werden V. Stücke erfordert: I. Die schickliche Erfindung. II. Die Proportion oder Ebenmaß der Bilder. III. Liecht und Schatten / benebens der schicklichen Farben. IV. Die eigentlichen Bewegungen des Gemüthes  / so viel solche in den Geberden und dem Angesicht erhellen. V. Die richtige und kunstverständige Ordnung des Gemähls.39

Diese Zusammenstellung, bei der es sich möglicherweise um eine sehr freie Paraphrase nach Étienne Binets Essay des merveilles de nature, et des plus nobles artifices (1636) handelt,40 findet sich mit leichten Abwandlungen insgesamt nicht weniger als vier Mal in Harsdörffers Œuvre, neben der zitierten Passage auch an zwei Stellen in den Gesprächspielen sowie in den Mathematischen und Philoso-

36 Vgl. die Übersicht bei Ulrich Pfisterer: Art. ›Paragone‹. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. VI. Tübingen 2003, Sp.  528–546, bes. Sp.  529  f. 37 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 119  f. 38 Auf deren Verankerung in der kunsttheoretischen Tradition verweist Becker-Cantarino (Anm. 5), S. 16. 39 Harsdörffer (Anm. 6), S. 20. 40 Harsdörffers Verweis auf De pictura veterum (1637) des Franciscus Junius in der Marginalie zu den Gesprächspielen (Bd. VIII, S. 207) ist offenbar nicht als Quellenangabe zu verstehen (vgl. Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Anm. 6, S. 64).

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phischen Erquickstunden (1651/53).41 Wenn dieses Quintupel nun derart häufig wiedergegeben wird, verdient es als Schlüsselstelle für Harsdörffers Malerei-Verständnis eine nähere Würdigung. Die Produktionsschritte lassen sich wiederum in rhetorische officia überführen, denn Nr. I ruft mit der ›Erfindung‹ abermals die inventio auf, Nr. II und V betreffen mit »Proportion« und »Ordnung« die dispositio, während sich Nr. III der elocutio zurechnen lässt, nicht durch Wörter, sondern analog durch Licht, Schatten und Farben. Außerdem klingt in den »Bewegungen des Gemüthes« die rhetorische Aufgabe des commovere an, während sich die geforderte »Schicklichkeit« von Erfindung und Farbwahl aus dem rhetorischen aptum herleitet, welches nicht von ungefähr im paragone-Diskurs eine zentrale Rolle spielt, um den Anspruch der bildenden Künste auf die für die Abgrenzung gegen die angewandten artes mechanicae grundlegende ideelle liberalitas der artes liberales zu untermauern.42 Mindestens ebenso wichtig für die Legitimation als ›freie‹ Kunst sind die geistigen Vorarbeiten, die gegenüber der bloß handwerklichen Ausführung herausgestellt werden. Trotz einer unscharfen Semantik, die von der abstrakten Idee eines Kunstwerks bis hin zur konkreten Skizze reicht,43 erweist sich der Begriff des disegno als entscheidend im paragone, weil darin, so Eric Achermann, die »sklavische Nachahmung in eine freie Kreativität übergeht«, die Verbindung von »Erkenntnis und Ausübung« erfolgt und die »Einheit und Vergleichbarkeit der Künste«44 hergestellt wird. Treffen sich die Künste somit auch in Harsdörffers Auflistung vor allem in den geistigen Hauptarbeitsschritten der inventio und dispositio, die als ungefähre Enstsprechungen zum disegno gelten können,45 so nimmt es nicht wunder, wenn Julia in den Gesprächspielen folgendes Aperçu vorträgt: »Dieses haben wir gnugsam verstanden  / und erinnere ich mich / daß einer gesaget / sein Gedicht sey fertig / bis auf die Wort«.46 Um demgegenüber die praktische Leistungsfähigkeit von Malerei und Poesie auf die Probe zu stellen, schlägt Harsdörffer ebenfalls in den Gesprächspielen ein 41 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer [Bd. 2 u. 3]/Georg Daniel Schwenter [Bd. 1]: Deliciae physicomathematicae oder mathematische und philosophische Erquickstunden. Neudruck. Hg. und eingel. von Jörg Jochen Berns. Frankfurt a.  M. 1990/91 (Texte der Frühen Neuzeit; 3/1–3), Bd. III, S. 262; sowie Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 119 u. Bd. VIII, S. 207. 42 Vgl. Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, New York 2011, S. 179–209, hier S. 195. 43 Vgl. ebd., S. 199–200. 44 Ebd., S. 198–199 45 Eine explizite Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen disegno-Theorien findet indes nicht statt (vgl. Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Anm. 6, S. 99). 46 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 132.



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scherzhaftes Experiment zum Medienwechsel vor. Dabei geht es um die Aufgabe, »aus den Poeten eine schöne Jungfrau zu beschreiben / daß der Mahler / welcher auch selbe niemals gesehen  / doch abbilden könte«.47 Zitiert werden zunächst einige genrekonforme poetische Frauenbeschreibungen, bis Reymund auf eine offensichtlich missglückte Unternehmung zu sprechen kommt. »Daher gehört / was jener wahnwitzige Schäfer« – gemeint ist Charles Sorels Le Berger extravagant (1627/28) – »bey einem Mahler angebracht / nemlichen / er solte ihm seine Liebste lebhafft abmahlen«,48 die der Maler allerdings nicht persönlich kannte und daher nach folgender Beschreibung arbeiten musste: Das Angesicht ist weiß wie der Schnee / die Lefftzen Corallenzincken / die Zähn Perlen / auf beiden Wangen Lilien und Rosen / an statt der Augen zwo Sonnen / welche Pfeil und Flammen von sich stralen / die Augenbraun sind zween Bögen von Ebenholtz / die Stirn gläntzend wie das Eiß / und auf derselben Cupido in seinem Thron sitzend / die Haar theils als güldene Ketten  / theils als Netze und Garn  / in welchen die Hertzen der Verliebten bestricket zu sehen / beide Brüste aber sollen die Himmel vnd Erdkugel bemerken.49

Die zweifelhafte Güte der poetischen Metaphern wird durch eine spöttelnde Bemerkung Degenwerts unterstrichen: »Wann aber dieser Cupido / als ein unfletiges und schwaches Kind / solte auf der Stirn glitschen / und sich auf die Nasen herablassen  / solte die Sach wohl gefährlich seyn«.50 Spätestens die bildliche Umsetzung zeigt, dass das Experiment zu Lasten beider Künste ausgeht und letztlich nicht ganz ernstgemeint ist (Abb. 1). Gleichwohl lohnt es sich, die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Künste genauer zu verfolgen. Denn nur vordergründig erscheinen Poesie und Malerei bei medialer Verschiedenheit (»Was dem Poeten die Wort sind / das sind dem Mahler die Farben […]«.51) in ihren Darstellungsmöglichkeiten als ebenbürtig, wenn es z.  B. heißt: »Der Poet handelt von allen und ieden Sachen / die ihm vorkommen / wie der Mahler alles / was er sihet / bildet […]«.52 Oder auch: »Man kan also mit den Bildern zu verstehen geben  / alles  / was man sonst mit Worten ausdrukket  […]«.53 Desgleichen wird der Medienwechsel zumindest von der bildenden Kunst in die Poesie nicht grundsätzlich als Problem aufgefasst: »Nichts ist aber mit so natürlichen Farben ausgemahlet / oder in Gibs / Holtz und Stein nach dem

47 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. I, S. 136. 48 Ebd., Bd. I, S. 139. 49 Ebd., Bd. I, S. 140. 50 Ebd., Bd. I, S. 140. 51 Ebd., Bd. V, S. 143. 52 Harsdörffer (Anm. 13), Erster Theil, S. 3. 53 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. VIII, S. 224.

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Abb. 1: Bildliche Umsetzung eines poetischen Frauenportraits. In: Harsdörffer, Gesprächspiele (Anm. 12), Bd. I, S. 141.

Leben gebildet / daß man nicht mit mehr eigentlichen Worten solte ausdrukken können«.54

4 Sinnlichkeit und Synästhesie Die Differenzen und Grenzen der Künste begründet Harsdörffer mehrfach mit den Sinnesorganen, an die sie sich jeweils richten, und zwar zunächst einmal ohne hierarchisierende Implikationen. So heißt es im Poetischen Trichter: »Wie nun vorberührter Massen die Wort mit den Ohren reden  / also reden die Bilder mit den Augen […]«.55 Und an anderer Stelle noch einmal: »Wie nun das Aug von dem Gemähl urtheilt  / also richtet das Ohr von dem Wohlklang des Verses«.56 54 Ebd., Bd. V, S. 115. 55 Harsdörffer (Anm. 13), Dritter Theil, S. 105. 56 Ebd., S. 92.



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Weitere Belege finden sich in den Gesprächspielen, etwa: »[D]er Mahler und der Poet haben gleiche Arbeit  / indem ein jeder sein Bild auszieret und jener das Aug / dieser das Ohr / belustiget […].«57 Mit derselben Stoßrichtung, aber etwas ausführlicher liest man auch: Die Wort betreffen das Gehör  / wie das Gemähl das Gesicht: jenes hab ich den Sinn der Vnterrichtung / diesen den Sinn der Erfindung nennen hören: Beyde aber belustigen sich in der Vbung  / und wird das Ohr nicht ermüdet in Anhörung wolgesungener Gedichte  / noch das Aug in Beschauung künstlicher Schildereyen; Daher ist allen Menschen die Nacht beschwerlich / weil sie still und schwartz ist / daß noch das Gehör noch das Gesicht sich in gemässer Beübung erlustigen kan.58

Indem Harsdörffer die spezifische Medialität der Künste an der sinnlichen Wahrnehmung, also im Wortsinne an der Ästhetik festmacht, stellt er zunächst einmal eine Vergleichbarkeit über den sensualistischen Reiz her, der gleichermaßen von ihnen ausgeht, einmal für das Auge, einmal für das Ohr. Darüber hinaus war es traditionell üblich, die Reichweite der Sinne als Argument für die Rangfolge der Künste zu bemühen.59 Demnach müsste die Malerei der Poesie übergeordnet sein, sofern man letztere nicht als geistige, sondern – wie Harsdörffer – als akustische Kunst begreift. Harsdörffer deutet zwar eine Beschränkung der Künste nach Maßgabe der angesprochenen Sinne an, gelangt darüber jedoch zu der recht ku­rio­sen Schlussfolgerung, die Malerei mit der Astrologie gleichstellen zu wollen: Alle andere Sinne erheischen Ziel und Maas / als das Gehör erfordert / daß die Stimme nicht zu nahe sey meinen Ohren und nicht zu ferne; der Geruch / der Geschmak und die Fühlung deßgleichen. Das Gesicht allein erstrekket sich auch zu dem Abwesenden ja biß an den Himmel. Mit Recht solte deswegen die Kunst der Mahlerey neben der Sternkündigung ihren Ehrensitz haben / als welche noch viel beweißlicher als jene ist […].60

Merkwürdige Verschiebungen der hierarchischen Verhältnisse unter den Künsten treten auch in Harsdörffers Oper Seelewig (1644) zu Tage. Dort erfolge, so beobachtete Nicola Kaminski, eine ›Beseelung‹ der Oper als Gesamtkunstwerk durch die Musik, die vor den wettstreitenden Schwesterkünsten der Malerei und Poesie hervorgehoben werde.61 Dabei würden die medienspezifischen Defizite der ein-

57 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 140. 58 Ebd., S. 115–116. 59 Vgl. Achermann (Anm. 42), S. 202; sowie Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie: Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000, bes.  S. 53–60. 60 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 118. 61 Vgl. Kaminski (Anm.  11), bes.  S.  376–378; siehe zu dieser Oper ausführlich auch Irmgard Scheitler: Harsdörffer und die Musik. Seelewig im Kontext deutschsprachiger Musikdramatik.

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zelnen Künste durch die »Gebrechlichkeit des Mängelwesens Mensch«, also durch die begrenzte Leistungsfähigkeit der einzelnen Sinnesorgane, »legitimiert und bejaht«.62 Inwiefern es sich allerdings bei dem Blindekuhspiel innerhalb der Oper tatsächlich um die mehrfach gestaffelte metadramatische Inszenierung einer Reduktion auf den Tastsinn handelt63 oder schlichtweg um eine intertex­ tuelle Referenz auf das gioco della cieca am Beginn des dritten Aktes von Giovanni Battista Guarinis modellbildendem Pastor fido (1589), sei dahingestellt. Nicht zuletzt resultiert die im Stück sich abzeichnende Bewertungsunsicherheit aus der historisch neuartigen Opernästhetik, deren synästhetische Kraft erst allmählich ausgelotet wurde. Auch ohne die Musik als zusätzliche Konkurrentin64 gibt Harsdörffer zu verstehen, dass sich keineswegs alle Gegenstände ebenso gut in der Poesie wie in der Malerei ausdrücken lassen. Im Discurs weist er deutlich auf die Grenzen beider Künste hin: »Viel Sachen lassen sich sagen und nicht mahlen: viel lassen sich mahlen  / und nicht sagen: Theils aber müssen zugleich mit Worten und Bildunge[n] zu verstehen gegeben werden«.65 Am Beispiel von Herrscherportraits und Palastdarstelllungen benennt er als Nachteil einer sprachlichen Beschreibung in luzidem Vorgriff auf Lessings Unterscheidung nach Simultanität und Sukzession,66 man würde »beedes nicht so wol erkennen«, weil »man in einem Augenblick mehr sehen / als in einer halben Stunde reden und hören«67 könne. Umgekehrt sieht er auch die Schwächen einer bildlichen oder plastischen Wiedergabe: »Doch äffet die Kunst hierinnen der Natur nach / und ist das Gemähl flach und ohne Bewegung / das Waxbild klein / unbeständig und zerbrechlich / das Steinerne oder Messerne Bild sonder natürliche Farben«.68 Für die jeweiligen Vorzüge und Nachteile der Künste liefert Harsdörffer in den Gesprächspielen bei-

In: Stefan Keppler-Tasaki, Ursula Kocher (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit; 158), S. 213–235. 62 Ebd., S. 397. 63 Ebd., S. 393–394. 64 Diese komplexe Konstellation verdient eine gesonderte Untersuchung, wie sie Wolf Gerhard ­Schmidt vornimmt: Harmonikalität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken Systemdenkens. Zur Integralästhetik von Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächspielen‹ [1641– 1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4, S. 483–531. 65 Harsdörffer (Anm. 6), S. 17. 66 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. In: ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarb. m. Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding u. Jörg Schönert. 8 Bde., München 1970–1979, Bd. VI, S. 102  f. 67 Harsdörffer (Anm. 6), S. 17. 68 Ebd.



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läufig eine zeichentheoretische Erklärung, wenn er im Zusammenhang mit der Sinnbildkunst das Bild als ein »natürliches«, dagegen das Wort als »künstliches«69 Zeichen qualifiziert, ohne freilich das Potential dieser Unterscheidung eingehender zu nutzen. Weitere Beschränkungen der Darstellbarkeit liegen nach Harsdörffer in den Gegenständen selbst. Zum einen geht es dabei um die Verständlichkeit, was ebenfalls aus den Gesprächspielen ersichtlich ist: Nicht alle Bildungen lassen sich wohl mahlen / oder sind aus dem Gemähl deutlich zu verstehen / ohne Beyschrift: Als / wann ich die bösen / und nicht hafftenden Gedanken bilden wolte / durch einen Mann / der seine Kinder an einem Stein zerschmeisst / das lässt sich besser sagen / als mahlen / daß man die Meinung daraus vernehmen könte.70

Zum anderen verstoße die allzu explizite atrocitas gegen den guten Geschmack, wie folgender Empfehlung für die Dramatik aus dem Poetischen Trichter zu entnehmen ist: »[G]rausame Marter und Pein so die Henkerbuben verüben / werden auf den Schauplätzen nicht gesehen  / sondern von den Botten oder auch der Geplagten Angehörigen und Freunden erzehlet«.71 Außerdem sieht Harsdörffer die Grenzen der einzelnen Künste nicht nur in ihrer Medialität, sondern auch in der Begabung der Künstler, was er im Discurs mit einer Beschreibung des berühmten Schlüsselemblems aus den Zincgrefschen Emblematum ethicopoliticorum centuria (EA 1619) illustriert, dessen Inschrift, »Non omnia possumus omnes.« er zusätzlich auf Deutsch anführt, um jegliche Sprachdistanz auszuräumen: »Alles kann ein jeder nicht«.72 Mit diesem intermedialen Verweis kann er sich offenbar im Vertrauen auf das emblematische Gedächtnis seiner Adressaten weitergehende Erläuterungen seines Arguments ersparen. Im Zusammenhang mit den Grenzen der Künste ist es geboten, noch einmal auf die Formel von der Dichtung als pictura loquens und dem Bild als poema tacens zurückzukommen, darauf nämlich, dass »die Rede nicht bilden / das Bild aber nicht reden kann«.73 Denn in Aussagen wie diesen stellt Harsdörffer nicht nur eine mediale Verschiedenheit der Künste fest, sondern jeweils ein Defizit, ein Nicht-Können, das sich auch in der Wirkung bemerkbar macht: »Dem Gemähl ermangelt sonsten die Stimme / welche es begeistert und beseelet / dem Gedicht ermangelt die liebliche Figur  / welche es für die Augen stellet […]«.74 Wenn es

69 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. VII, S. 167. 70 Ebd., Bd. VII, S. 132  f. 71 Harsdörffer (Anm. 13), Zweyter Theil, S. 82. 72 Harsdörffer (Anm. 6), S. 20. 73 Harsdörffer (Anm. 13), Zweyter Theil, S. 73. 74 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 138.

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Abb. 2: Julius Wilhelm Zincgref: Non omnia possumus omnes. In: ders.: Emblemata ethico-politica. Hg. von Dieter Mertens und Theodor Verweyen. 1. Teilbd.: Text. Tübingen 1993 [1619], S. 174 (Nr. LXXX).

dementsprechend schon bei Seneca heißt, »imago res mortua est«,75 das Bild also weder schweigend noch stumm, sondern tot ist, so erscheint es nur konsequent, wenn Harsdörffer den mängelbehafteten Künsten Leben einhauchen will, indem er ihre Beseelung fordert. Dieser Beseelung, die mit Hilfe der synästhetischen Wirkung von Text und Bild erzielt werden soll, schickt Harsdörffer die Unterscheidung von mimetischen und nicht-mimetischen Bildern, gemeint sind Sinnbilder, voraus.76 In den

75 Im Zusammenhang: »Etiam si cuius in te comparebit similitudo, quem admiratio tibi altius fixerit, similem esse te volo quo modo filium, non quomode imaginem: imago res mortua est.« (L. Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. Hg. und übers. von Gerhard Fink. 2. Aufl., Düsseldorf 2011, XI, 84, 8). 76 Vgl. Italo Michele Battafarano: Harsdörffers »Frauenzimmer Gesprächsspiele«. Frühneuzeitliche Zeichen- und (Sinn-)Bildsprachen in Italien und Deutschland. In: Volker Kapp (Hg.): Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. Marburg 1990 (Ars rhetorica; 1), S. 77–89, bes.  S. 82  f.



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Gesprächspielen nennt er »wesentliche« und »erdichte« Bilder, wobei erstere als Nachahmung von »allem dem / was uns zu Gesichte kommet«77 verstanden werden, während letztere »entweder gar nicht in der Natur gefunden« würden, weil sie auf abstrakte Begriffe zurückgingen, »oder es werden solche Gemähl von den vergangenen oder zukünftigen Geschichten  / welche wir nicht vor Augen haben können  / hergenommen«.78 An anderer Stelle in den Gesprächspielen lautet die binäre Typologie: »Man kan auch das Gemähl theilen in das / welches eine verborgene Deutung hat / als da sind die Sinnbilder / Bilderschriften / Abbildungen der Gedichte und in das Gemähl / welches Geschichte vorstellet / ohne verborgenen Verstand«.79 Harsdörffers Bildverständnis geht damit über die konventionelle Nachahmung bei weitem hinaus, wenn er, je nach Verhältnis von Signifikat und Signifikant, im Falle rein mimetischer bzw. historisch-narrativer AbBilder, im Falle von Deutungsoffenheit hingegen von semantisch mehrdeutigen Sinn-Bildern spricht, die nämlich, so heißt es in Harsdörffers eigenen Worten, »mehr weisen  / als gemahlet oder geschrieben ist«.80 Vor diesem Hintergrund gibt Harsdörffer unter allen Künsten der Schauspiel- und der Sinnbildkunst den Vorzug,81 weil sich darin Text und Bild zu einer höheren Kunstform ergänzten: »Ein schönes Kunstgemähl wird durch ein liebliches Gedicht gleichsam beseelet / und die stummen Bilder deß Mahlers / machet der Poet reden; ja beede machen etwas aus dem / das nichts ist«.82 Mit diesem Verständnis der Kunstschöpfung als creatio ex nihilo macht Harsdörffer sich indes keiner Hybris verdächtig, sondern greift auf einen Topos der frühneuzeitlichen Kunsttheorie zurück.83 Wenn er empfiehlt, es sollten »der Poet und der Mahler ihre Kunst-Kinder zusammen heyrathen / welche dann eine[n] friedlichen / glücklichen Ehestand zubesitzen pflegen«,84 so gebraucht er die ebenfalls gängige Metaphorik einer Vermählung der Künste zur Charakterisierung ihrer Beziehungen.85 Das ehelich-produktive

77 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. VIII, S. 208. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 209. 80 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. IV, S. 173. 81 Vgl. Schöne (Anm. 14), S. 206  f. 82 Harsdörffer (Anm. 6), S. 16. 83 Vgl. mit weiterführenden Literaturhinweisen Michael Thimann: Weltschöpfung  – Werkschöpfung. Zur Metaphorik von Chaos und Kosmos im 16. Jahrhundert am Beispiel des Archäologen Jean Jacques Boissard. In: Bodo Guthmüller, Berndt Hamm, Andreas Tönnesmann (Hgg.): Künstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance. Wiesbaden 2006 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung; 24), S. 253–295. 84 Harsdörffer (Anm. 6), S. 17. 85 Vgl. Ulrich Pfisterer: Zeugung der Idee  – Schwangerschaft des Geistes. Sexualisierte Metaphern und Theorien zur Werkgenese in der Renaissance. In: ders., Anja Zimmermann (Hgg.):

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Zusammenspiel von Text und Bild stellt für ihn ein derart wichtiges Anliegen dar, dass er nicht nur praktisch »in wohl allen seinen Werken Bild und Text (sei es als Titelkupfer, Illustration oder Emblem) [verwendet],«86 sondern auch für die theoretische Grundlegung  – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten  – einen beachtlichen Katalog von Autoritäten aufzählt: Es sol der Mahler ein Poet / oder der Poet ein Mahler seyn / wo nicht mit dem Pinsel / jedoch mit der Feder: Stehet aber beides wol beysammen / dieses hilfft jenem / jenes diesem. Meine Meinung bestärken die Sinnreichsten und Kunsterleuchtesten Geister dieser Zeit / Saavedra, Petro Sancta, Fammianus Strada, Hessus, Becanus, Hermannus, und viel andere  / welche nicht nur ihrer Leser Gedächtniß mit beweglichen Worten anfüllen / sondern auch ihre Augen mit allerhand anmuhtiger Bilderey belustigen  / und ihnen ihre Gedanken erkenntlich beybringen.87

5 Verbinden statt Trennen – Harsdörffers ­ästhetische Animation Um Harsdöffers theoretischen Zugriff auf das Verhältnis von Text und Bild zusammenfassend einschätzen zu können, scheint es sinnvoll, sich vorab zu vergegenwärtigen, mit welcher Art von Theoriearchitektur man es zu tun hat. Wie eingangs erwähnt, verzichtet Harsdörffer bei seinen Einlassungen ebenso auf Systematik wie auf Geschlossenheit. Vielmehr werden in einer Reihe von unterschiedlichen Texten manche Aussagen als sentenzartige Belehrungen vorgetragen, andere – vor allem in den Gesprächspielen  – als concettistische Einwürfe, deren historische, systematische und logische Belastbarkeit nicht weiter verfolgt wird, und einzelnes erweist sich in der Zusammenschau sogar als widersprüchlich. Eine prima facie ähnliche Schreibweise wird, wenn sie in späteren Jahrhunderten auftritt, als Essayistik bezeichnet, während sie barocken Autoren häufig abwertend als ›Eklektizismus‹ oder ›Kompilatorik‹ angelastet wurde, obwohl sie nicht nur als barocke Wissensordnung eigenen Rechts anzusehen ist, sondern auch als Reflex einer übergeordneten Kosmologie, die den großen Heilsplan des Makrokosmos in kleinen und vordergründig disparaten Beobachtungen des Mikro­kos­ mos aufspürt.88 Die Eigenheiten der untersuchten Texte, die »verstreuten AussaAnimationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen. Berlin 2005 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte; 4), S. 41–72. 86 Becker-Cantarino (Anm. 5), S. 10 (Hervorhebung im Original). 87 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 185. 88 Vgl. bereits Wilhelm ­Schmidt-Biggemann: Topica unversalis. Eine Modellgeschichte huma-



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gen und Anekdoten zur Malerei«,89 als Symptome einer bloß kompilatorischen Oberflächlichkeit und Unkenntnis abzutun, würde der Sache auch in diesem Fall nur teilweise gerecht. Etwas zurückhaltender beobachtete Herz daher eine »Tendenz der Literarisierung des Gegenstandes«90 bei Harsdörffer, was der Tatsache Rechnung trägt, dass man es – abgesehen vom Poetischen Trichter – nicht mit akademischer Traktatliteratur, sondern mit einer nur im Sinne des allgegenwärtigen prodesse et delectare lehrhaften Konversationsliteratur für ein ästhetisch gebildetes Publikum zu tun hat.91 Es darf somit durchaus als programmatisch gelten, wenn Julia in den Gesprächspielen resümiert: »Also kan man einer Sache vielmals gedenken / aber iedesmals andere Betrachtungen darüber haben; wann sonderlich selbe so weitlaufftig ist / als die Mahlerey«.92 Dass Harsdörffer mit denkgeschichtlichen Versatzstücken arbeitet, lässt sich nicht leugnen.93 So erzählt er im Abschnitt XII seines Discurses sowie in der Ars Apophthegmatica94 Maleranekdoten aus den Künstlerviten Giorgio Vasaris,95 die er möglicherweise über die Schilderconst (1604) Karel van Manders rezipierte96 und in seinen eigenen Texten frei wiedergibt. Spätestens mit dieser Anbindung

nistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata; 1), bes.  S. 249–292; ferner Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Hans-Joachim Jakob, Hermann Korte (Hgg.): Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847–2005. Frankfurt a.  M. u.  a. 2006 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte; 10), S. 55–83; Jörg Robert: Im Silberbergwerk der Tradition. Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie. In: Keppler-Tasaki, Kocher (Anm. 61), S. 1–22, bes.  S. 21  f.; ­Schmidt (Anm. 64) sowie die Beiträge in Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit; 169). 89 Herz (Anm. 5), S. 390. 90 Herz (Anm. 5), S. 395. 91 Vgl. auch Peter-André Alt: Literarische Imagination als ars combinatoria. Zum Verhältnis von Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer. In: Keppler-Tasaki, Kocher (Anm.  61), S. 23–38, bes.  S. 33–36. 92 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. VIII, S. 207. 93 Zu Harsdörffers Verhältnis zur frühneuzeitlichen Kunsttheorie vgl. insbes. Michael Thimann: Bilddiskurse von Dürer bis Winckelmann. Eine Revision anläßlich der Edition von Harsdörffers Kunstverständigem Discurs von der edlen Mahlerey. In: ders./Zittel (Anm. 9), S. 11–38 sowie Heiko Damm: Georg Philipp Harsdörffers und Michelangelos Witz. In: ebd., S. 39–88, bes.  S. 62–72. 94 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden. Bd. I. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1655. Hg. von Georg Braungart. Frankfurt a.  M. 1990 (Texte der Frühen Neuzeit; 2), S. 81, 287 u. 506  f. 95 Vgl. Jutta Breyl: »Nichtige Äußerlichkeiten«? Zur Bedeutung und Funktion von Titelbildern aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts (Harsdörffer –»Kunstverständiger Discurs« – Lairesse). In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 24 (1997), H. 2, S. 389–422, hier S. 408. 96 Vgl. Kommentar, in: Harsdöffer (Anm. 6), S. 41.

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an den frühneuzeitlichen paragone-Diskurs wird erkennbar, dass Harsdörffer sich in den traditionellen Wettstreit der Künste einschreibt, wenngleich er aus den beobachteten Defiziten der Einzelkünste keine Hierarchie ableitet, sondern vielmehr die Gemeinsamkeiten von Poesie und Malerei herausstellt. Neben der Fähigkeit zur Nachahmung, Täuschung und Fiktion betont er dabei die Verankerung in der Rhetorik, deren erster Arbeitsschritt der inventio bzw. des disegno die intellektuelle Qualität beider Künste garantiert. Die Rhetorisierung der bildenden Künste wurde bereits seit dem 15.  Jahrhundert immer wieder zu deren Aufwertung bemüht,97 standen sie doch als praktische artes mechanicae in geringerem Ansehen als die geistigen artes liberales, zu denen die Poesie insofern zählt, als sie taxonomisch als oratio ligata der Rhetorik untergeordnet ist.98 Wenn Harsdörffer nun als Autor des 17. Jahrhunderts nicht den in den bildenden Künsten der Renaissance beheimateten Begriff des disegno für den kreativen Anteil der künstlerischen Tätigkeit verwendet, sondern den der ›Erfindung‹, also der inventio, so ist dies der zeitgenössischen Vorliebe für eine »strengere regelgeleitete Rationalität« geschuldet, wie sie das System der rhetorischen doctrinae bietet.99 Indes geht Harsdörffer über die traditionellen Topoi des paragone hinaus, denn er bietet Ansätze zu einer komparativen Medienästhetik, wie sie später von Lessing vorgestellt wurde. So räumt Harsdörffer der Malerei und der Poesie nicht nur die Fähigkeit zu täuschen ein, sondern auch diejenige, die Einbildungskraft durch eben diese Täuschungen zu vergnügen – eine genauere theoretische Modellierung einer Einbildungskraft, die nicht nur die produktionsseitige Schöpfungsleistung hervorbringt, sondern mindestens ebenso sehr auch die rezep­ tions­seitige Wahrnehmung des Kunstschönen prägt, wurde zu Recht als wichtigste Leistung des Laokoon (1766) hervorgehoben.100 Dort liest man: »Beide […] stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor;

97 Vgl. Achermann (Anm. 42), S. 184. 98 Vgl. Jutta Bacher: Artes mechanicae. In: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 35–49. 99 Vgl. Andreas Herz: »Es dichten ja zugleich  / der Mahler und Poet«. Georg Philipp Harsdörffer und Joachim von Sandrart. In: Susanne Meurer, Anna Schreurs-Morét, Lucia Simonato (Hgg.): Aus aller Herren Länder. Die Künstler der Teutschen Academie von Joachim von Sandrart. Turnhout 2015 [recte: Juli 2016] (Théorie de l’art 1400–1800/Art Theory 1400–1800), S. 414–431, S. 423–425, das Zitat S. 424. 100 Vgl. z.  B. David E. Wellbery: Lessing’s ›Laocoon‹. Semiotics and Aesthetics in the Age of ­Reason. Cambridge 1984, S.  218; sowie Inka Mülder-Bach: Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 1–30, bes.  S. 29.



Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 

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beide täuschen, und beider Täuschung gefällt«.101 Während sowohl Lessing als auch Harsdörffer jeweils unterschiedlich gelagerte Stärken bzw. Defizite im Darstellungsvermögen von Text- und Bildkunst beobachten, ziehen sie doch unterschiedliche Konsequenzen. Lessing empfiehlt bekanntlich eine Auswahl der Gegenstände nach Maßgabe der medialen Ausdrucksmöglichkeiten: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.102

Harsdörffer hingegen tritt dafür ein, die Zuständigkeiten der Künste nicht zu trennen, sondern sie zu verbinden. Wenn es um die Frage nach Text und Bild bei Harsdörffer geht, liegt es deshalb nahe, auch als letztes noch einmal an die Em­ble­ma­tik zu denken.103 Idealtypisch charakterisiert Harsdörffer die Sinnbildkunst durch eine untrennbare semantische Verzahnung von Text und Bild: »Die besten Sinnbilder sind also geartet / daß man das Bild ohne die Obschrifft / und die Obschrifft ohne das Bild nicht verstehen kan«.104 Darüber hinaus kommt es Harsdörffer immer wieder auf die eigentümliche synästhetische Wirkung der Sinnbildkunst an. Sie übertreffe bei weitem den ästhetischen Effekt, den Bild oder Text allein erzielen könnten, weil es ihr gelinge, »mit dem Gemäld das Gesicht / mit desselben Obschrift das Gehör / mit beiden aber die Ein- und Vorbildung / (von denen in den Gedanken schwebenden Bildern also genennet /) den Verstand und das Gedächtnis mächtiglich zu beherrschen«.105 Bei den geistigen Vermögen, die Harsdörffer hier ins Feld führt, handelt es sich nicht nur um ratio und memoria, sondern abermals um die Einbildungskraft des Rezipienten, die freilich hier eher noch als reproduktives denn als produktives Vermögen begriffen wird. Jedenfalls, so viel kann festgehalten werden, fordert Harsdörffer angesichts medial bedingter Defizite beider Künste eine wechselseitige Ergänzung von Text und Bild, um durch die Wirkung auf Auge, Ohr und Einbildungskraft eine ›Beseelung‹ des Werks, also eine synästhetische Animation zu erzielen.

101 Ebd., S. 9. 102 Ebd., S. 102–103. 103 Vgl. auch den Beitrag von Seraina Plotke in diesem Band. 104 Harsdörffer, Vorrede. Bestehend in 50. Lehrsätzen, S. 6. 105 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. IV, S. 168.

Seraina Plotke

Bildgestalt aus den Lettern – Die Intermedialität der visuellen Poesie im 17. Jahrhundert Visuelle Poesie als besondere Spielart der Lyrik ist heute in erster Linie in ihren Ausprägungen des 20.  Jahrhunderts bekannt. Avantgardistische Künstlerbewegungen wie der Dadaismus oder der Futurismus, literarische Strömungen wie die Konkrete Poesie, Autoren wie Guillaume Apollinaire und Ernst Jandl, sie alle haben Textgebilde hervorgebracht, die die graphische Anordnung von Wörtern und Buchstaben auf der Blattfläche nutzen, um dadurch Sinn zu erzeugen.1 Präsentiert werden Schrift-Bilder, in denen von der konventionellen Gebrauchsweise des Alphabets abgewichen wird, das gemeinhin (nur) darauf ausgerichtet ist, dass die einzelnen Zeichen digital entschlüsselt werden und die besondere Stellung der Wörter auf dem Blatt oder auch die genaue Ausformung des einzelnen Buchstabens keine signifikante Rolle spielen.2 Für sogenannt visuelle Texte jedweder Art und Epoche gilt hingegen, dass die Schriftzeichen sowohl digital als auch analog zu rezipieren sind und erst aus dem Zusammenspiel der beiden Wahrnehmungsvarianten die vollständige Bedeutung des Textgebildes zu erschließen ist.3 Oder anders gesagt: Visuelle Texte verwenden sowohl bildnerisch-graphische als 1 Siehe mit einführendem Charakter: Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poe­sie von der Antike bis zur Moderne. Katalog der Ausstellung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Weinheim 1987, S. 212–318; Klaus Peter Dencker: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin 2011, S. 312–430; Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 59–77. 2 Die Buchstaben des lateinischen Alphabets zeichnen sich gemäß Nelson Goodman dadurch aus, dass sie »differenziert« und »disjunkt« sind – Goodman benutzt dafür auch den Ausdruck »digital« (vgl. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1968, dt.: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. von Bernd Philippi. Frankfurt a.  M. 1995, S. 154–157). Das heißt, dass die alphabetische Schrift im Zuge der Decodierung grundsätzlich Ja-Nein-Entscheidungen nötig macht: Das a im Wort ›Band‹ ist entweder ein a oder kein a (im letzteren Fall handelt es sich u.  U. um das Wort ›Bund‹); ob das betreffende Wort in Antiqua oder kursiv gesetzt, gemalt oder gedruckt, gar vertikal (etwa in einer Leuchtreklame) ausgerichtet ist, spielt für diese Frage keine Rolle (vgl. Sabine Gross: Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks. In: Georg Christoph Tholen, Michael O. Scholl (Hgg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990 (VCH Acta humaniora), S. 231–246, hier S. 242). 3 Zur Differenzierung digitaler und analoger Zeichen mit Blick auf die Spezifik der visuellen Poesie siehe Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert, München 2009, S. 41–43. DOI 10.1515/9783110521788-018



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auch verbal-diskursive Mittel, um Sinn zu stiften, und zwar – im Unterschied zu anderen intermedialen Gattungen – indem sie diese in eins setzen, gleichsam verschränken. Visuelle Poesie ist demnach grundsätzlich ein Hybrid- oder auch Kipp-Phänomen. Sie zeichnet sich genretypisch dadurch aus, dass ein und dasselbe Zeichenmaterial, in der Regel die Tinte oder die Druckerschwärze auf dem Blatt, in unterschiedlichen Signifikationsmodi registriert und dechiffriert, also einerseits als diskursiver Text gelesen, andererseits als Bild oder Graphik betrachtet werden kann.4 Diese Hybridisierung der Zeichen hat wesentliche Konsequenzen für den Rezeptionsprozess und trägt dazu bei, dass visuelle Texte Bedeutungsschichten in sich zu tragen vermögen, die überhaupt erst aus der Synthetisierung der je spezifischen Wahrnehmungsweisen erwachsen und die sich von denen anderer intermedialer Formen strukturell unterscheiden. Da insbesondere der Leseweg nicht von vornherein vorgegeben ist wie bei konventionellen Texten, nutzen viele visuelle Gedichte auch diese Dimension, indem sie die Leserichtung oder den Ablauf des Aneignungsprozesses des Gebildes zum Instrument der Sinngebung machen und in dessen Bedeutungshorizont mit einbauen. Tatsächlich handelt es sich bei der visuellen Poesie nicht um eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern um ein literarisches Genre, das allein in Europa eine lange Tradition besitzt, die sich bis in die Zeit des Hellenismus zurückverfolgen lässt.5 Dass das humanistische Interesse mit der Wiederentdeckung der griechischen Antike in der Renaissance auch auf die hellenistischen Technopaegnien fiel, wie die ältesten Beispiele visueller Poesie in der Forschungsgeschichte oft bezeichnet wurden,6 ist wenig verwunderlich. In den Bukolikerhandschriften und in der Anthologia Graeca sind insgesamt sechs griechische Epigramme überliefert, die aufgrund unterschiedlicher Verslängen bestimmte Umrisse abbilden: ein Flügelpaar, ein Ei, ein Beil, eine Hirtenflöte und zwei Altäre. In den einzelnen Überlieferungsträgern wurden diese Figurengedichte häufig alle dem hellenistischen Dichter Theokrit zugeschrieben, der deshalb noch bis ins späte

4 Vgl. Gross (Anm. 2). 5 Siehe jüngst Ulrich Ernst (Hg.): Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse. Bd. 1: Von der Antike bis zum Barock. Berlin 2012; Dencker (Anm. 1). Grundlegend: Adler, Ernst (Anm. 1). Des Weiteren auch: Julika Funk, Karola Mono (Hgg.): Den Buchstaben ein optisches Gefäß geben: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Katalog zu einer Ausstellung der Bibliothek der Universität Konstanz vom 5. Juli bis 15. August 1988. Konstanz 1988; Dick Higgins: Pattern poetry. Guide to an unknown literature. Albany 1987; Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Ravensburg 1970. 6 Der Begriff stammt vom spätantiken Dichter Ausonius (opusc. 16,1 Prete), der damit allerdings nicht Figurengedichte bezeichnet, sondern unspezifisch spielerische Phänomene der Dichtkunst.

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17. Jahrhundert als doppelter Gründervater der Bukolik und der visuellen Poesie galt (vgl. Abb. 1).7 Richtungsweisend für die frühneuzeitliche produktive Auseinandersetzung mit dem durch die griechischen Archegeten autorisierten Gedichttypus war dessen Aufnahme in die Poetices libri septem von Julius Caesar Scaliger, die 1561 postum erschienen und als Beispiele zur Nachahmung zwei Ei-Gedichte präsentieren.8 Während der italienische Humanist damit (noch) auf eine der aus der Antike überlieferten Konturen rekurriert, wurde das kreative Potenzial, das in der Gattung steckt, im 17. Jahrhundert produktiv entfaltet, indem Gedichte entstanden, die denkbar vielseitige Formen und Figuren wiedergeben. Als besonders beliebte Sujets kristallisierten sich die Pokal-, die Kreuz- und die Pyramidengestalt heraus,9 daneben finden sich aber auch Gedichte, die Herzen, Bäume, Äpfel, Kerzen, Bahren oder Sanduhren und vieles mehr abbilden (vgl. Abb. 2, 3 u. 4).10

7 Vgl. ausführlich Silvia Strodel: Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen Technopaignien. Frankfurt a.  M. 2002 (Studien zur klassischen Philologie; 132). Drei der sechs überlieferten hellenistischen Figurengedichte  – die Gedichte in Ei-, in Beil- und in Flügelform – stammen vom alexandrinischen Dichter Simias von Rhodos; die ›Panflöte‹ wird Theokrit zugeschrieben. Als Verfasser der beiden Altar-Gedichte gelten der wenig bekannte Dosiadas von Kreta sowie ein nicht weiter zu identifizierender Dichter Besantinos. Siehe auch: Seraina Plotke: Selbstreferentialität im Zeichen der Bimedialität oder die Geburt einer Gattung. Visuelle Poesie aus hellenistischer Zeit. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 40 (2005), S. 139–152; Irmgard Männlein-Robert: Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der hellenistischen Dichtung. Heidelberg 2007 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N.  F. Reihe 2; 119), S. 140–153. 8 Das 25. Kapitel des 2. Buchs der Poetices libri septem ist dem Umrissgedicht gewidmet (vgl. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. von Luc Deitz. Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1994, S. 555  f.). Neben dem auf die hellenistischen Vorbilder zurückgehenden Typus des Umrissgedichts existieren andere Macharten wie das Gittergedicht oder das Imago-Gedicht, die in der Spätantike und im Mittelalter entwickelt wurden und ebenfalls der Gattung der visuellen Poesie zugerechnet werden (dazu umfassend: Ulrich Ernst: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln, Weimar, Wien 1991). 9 Siehe Ulrich Ernst: Europäische Figurengedichte in Pyramidenform aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Konstruktionsmodelle und Sinnbildfunktionen. Ansätze zu einer Typologie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 76 (1982), S. 295–360 [wieder abgedruckt in: Ulrich Ernst: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften; 4), S.  91–153]; Ulrich Ernst: Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen Figurengedichtes in Kreuzform. Präliminarien zur Geschichte eines textgraphischen Modells. In: Peter Wapnewski (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Stuttgart 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 360), S. 177–233 [wieder abgedruckt in: Ernst: Intermedialität (Anm. 9), S. 181–223]. 10 Das reiche Formenspektrum demonstrieren Adler, Ernst (Anm. 1), S. 44–194.



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Abb. 1: […] Theocriti Idyllia sex et triginta, cum scholijs in octodecim priora Zachariae Calliergi perquam utilius: et in fistulam, Ioannis Pediasmini: Annotatiunculisque in reliqua, Guilielmi Xylandri. Eiusdem Theocriti Epigrammata, Bipennis, et Ala. Per Petrum Brubachium, Francoforti [1558], S. 356 [Universitätsbibliothek Basel: Bc V 225:1]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 7), S. 148–152.

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Abb. 2: Johann Geuder, Der Fried-seligen IRENEN Lustgarten, s. l. 1672, S. 250 ­[Universitätsbibliothek Basel: Am VI 58]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 3), S. 105–109.



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Abb. 3: Theodor Kornfeld, Selbst-Lehrende Alt-Neue Poesie Oder Vers-Kunst der Edlen Teutschen-Helden-Sprache, Bremen 1685, S. 83 [Universitätsbibliothek Rostock: Db-3030]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 3), S. 154–159.

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Abb. 4: Georg Weber, Sieben Theile Wohlriechender Lebens-Früchte, Danzig 1649, S. 58 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: TI 297]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 3), S. 231–235.



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Gerade im 17. Jahrhundert erlebte die Gattung eine erstaunliche Blüte, was mit einer Reihe von Faktoren in Zusammenhang zu bringen ist.11 So spielen mediengeschichtliche Gesichtspunkte eine Rolle, Aspekte des höfischen (und auf das Bürgertum ausgreifenden) Repräsentationswesens, im deutschsprachigen Bereich aber insbesondere auch Fragen der Etablierung des Deutschen als den klassischen Sprachen ebenbürtige Dichtersprache. Hand in Hand mit diesen kulturpragmatischen Faktoren beeinflussten spezifische vormoderne Denkmuster wie etwa die erst mit der Aufklärung modifizierte Vorstellung vom ›Buch der Natur‹12 den Stellenwert der Gattung der Figurengedichte, die sich als Ausgangspunkt für die häusliche Frömmigkeit ähnlich gut eignete wie die im 17. Jahrhundert in viele Lebensbereiche vorgedrungene Emblematik (vgl. Abb. 5 u. 6). Was die medientechnische Situierung der Gattung innerhalb der frühneuzeitlichen Druckkultur angeht, so ist grundsätzlich festzuhalten, dass dem Zusammenspiel von Text und Bild gerade im frühen Buchdruck ein besonders hoher Stellenwert zukam. Quasi von Anfang an wurde die Methode des mechanischen Gebrauchs beweglicher Lettern mit verschiedenen Verfahren des Bilddrucks kombiniert. Bereits die Vorform des Blockbuchs verknüpfte xylographisch Text und Bild und bot die Möglichkeit, reich illustrierte Bücher, wie sie im Spätmittelalter zunehmend an Bedeutung gewannen, in effizienterer Herstellung zu produzieren. In den auf die Gutenberg-Erfindung folgenden Dekaden führte der Einbezug von Holzschnitten oder Metallstichen in die Textausgaben dazu, dass sich mit Bildern illuminierte Drucke nicht nur für praktisch alle Textsorten finden, sondern aus der Verbindung des Letterndrucks mit Verfahren der Bildvervielfältigung insbesondere auch neue, spezifisch intermediale Gattungen – wie die Impresenkunst oder die schon genannte Emblematik – entstanden. Dass das skizzierte reiche Spektrum an gedruckten Text-Bild-Konfigu­ ra­ tio­ nen einen fruchtbaren Nährboden für die wiederentdeckte hellenistische Gedichtform der Technopaegnien bildete, liegt auf der Hand. Im Gefolge der Experimentierfreudigkeit des prosperierenden Buchdrucks, der sich auf dem Feld publizistischer Neuschöpfungen wie dem Flugblatt besonders kreativ in Text und Bild ausdrückte, hatte auch eine Gattung wie die visuelle Poesie ihren Platz. Sie stellte, satztechnisch betrachtet, besonders hohe Ansprüche an die Offizinen, da ihre pikturale Komponente nicht – wie etwa bei den Emblemen – aus dem Einbezug bearbeiteter Holzblöcke oder gravierter Platten erfolgte, sondern durch die

11 Siehe weiterführend Plotke (Anm. 3). 12 Wie sich das auf das augustinische Gleichnis zurückgehende Vorstellungsbild des liber ­naturae über die Jahrhunderte veränderte, analysiert Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.  M. 1979.

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Abb. 5: Georg Weber, Sieben Theile Wohlriechender Lebens-Früchte, Danzig 1649, S. 376 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: TI 297]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 3), S. 250–257.



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Abb. 6: Gabriel Rollenhagen, Nucleus emblematum selectissimorum, Utrecht 1611, S. 65 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: A: 21.2 Eth. (1)].

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figurative Anordnung der Einzellettern selbst, was dem Drucker entsprechende handwerkliche Fertigkeiten abverlangte. Im Dialog mit den vielgestaltigen intermedialen Erscheinungsformen der damaligen Druckkultur unterbreiten zeitgenössische Traktate, Poetiken, Vor­reden zu Emblembüchern usw. auch ausführliche kunsttheoretische Überlegungen, die Dichter wie bildende Künstler über das Verhältnis von Text und Bild anstellten.13 Programmatisch wird dabei die Vergleichbarkeit der beiden Ausdrucks­ arten behauptet, in der Regel im Rekurs auf die ut pictura poesis-Formel des Horaz oder das Diktum des Simonides von Keos, Malerei sei schweigende Dichtung und Dichtung beredte Malerei.14 Im 17.  Jahrhundert thematisieren gerade auch die deutschsprachigen Poetiken den Gedanken der Verwandtschaft der beiden Künste immer wieder, setzen diesen in Beziehung zur allegorischen Bildlichkeit, zur Gattung der Emblematik oder auch zur visuellen Poesie, wie beispielsweise Johann Christoph Männling in seiner 1685 erschienenen Poetik Der Europaeische Parnassus. Männling greift den Vergleich der Dichtkunst mit der Malerei im Zusammenhang seiner Charakterisierung der Figurengedichte auf, die er – wie in den deutschen Lehrschriften der Zeit üblich – als Bilder-Reime bezeichnet: Bilder-Reime / so die Frantzosen Accolade nennen / welche recht die Mahlerey der Poeten können heissen / sind diejenigen / welche der Natur nachgehen / und eine Sache gleichsam lebendig / oder wie sie beschaffen ist / vorstellen. Unter die Bilder-Reime werden gerechnet: Ein Hertze / Ey / Creutz / Becher / Blumkrug / Spiegel / Stern / Rose / Tulipan / Narcisse / Baum / Pyramide / Apffel / und dergleichen / welche Sachen alle durch die Verße also müssen abgemahlet werden  / daß sie eben daßjenige praesentieren was man will haben […].15

Männling modifiziert den Topos von der Ähnlichkeit der beiden Künste in der Weise, dass er nicht, wie üblich, allegorische Bildlichkeit oder rhetorisches ›VorAugen-Stellen‹ als »die Mahlerey der Poeten« bezeichnet, sondern die der visuellen Poesie eigene figurative Anordnung der Wörter.

13 Siehe etwa Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989; Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften; 3), S. 43–230. 14 Rhetorica ad Herennium, IV, 39: Poema loquens pictura, pictura tacitum poema debet esse (zitiert nach der Ausgabe: Rhetorica ad C. Herennium. De Ratione Dicendi. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Theodor Nüßlein. Darmstadt 1994). Vgl. dazu Plotke (Anm. 3), S. 111–125. 15 Johann Christoph Männling: Europaeische Parnassus, Oder Kurtze und deutliche Anweisung zu der Deutschen Dicht-Kunst […]. Wittenberg 1685, S. 84 (im Kapitel »Von den Arten der Verße«, unter dem Punkt »Die 13. Art. Bilder-Reime«).



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Dass Johann Christoph Männling den Figurengedichten im E ­ uropaeischen Parnassus einen eigenen Paragraphen einräumt, ist charakteristisch für die poetologischen Lehrschriften seiner Zeit. Nachdem Philipp von Zesen die Gattung 1640 in seinen Deutschen Helicon aufgenommen hatte,16 fehlten die Bilder-Reime oder Bild-Gebände, wie sie auch genannt wurden, in kaum einer der normativen Poetiken der folgenden Dekaden.17 Zwar gab es, insbesondere gegen Ende des Jahrhunderts, auch kritische Stimmen, die das Genre als simple Spielerei abtaten, doch wurde die visuelle Poesie in bestimmten Literatenzirkeln gerade speziell geschätzt, so etwa im Umkreis der Pegnitz-Schäfer in Nürnberg, für die die Gattung aufgrund ihrer hellenistischen Ursprünge unmittelbar mit der Bukolik verknüpft war.18 Durch die komplexe verstechnische Struktur waren die Figurengedichte besonders geeignet, die Befähigung des Deutschen zur Dichtersprache nach antikem Muster zu demonstrieren. Ihre weitaus größte Ausbreitung erlebte die visuelle Poesie im 17. Jahrhundert allerdings im Bereich der Casuallyrik. Nicht nur im Rahmen der höfischen Festkultur, sondern auch anlässlich bürgerlicher Hochzeiten und Todesfälle wurden Bilder-Reime mit Glückwünschen oder Kondolenzbekundungen dediziert.19 Dass die Verknüpfung von visueller Poesie und Gelegenheitsdichtung sich als äußerst fruchtbar erwies, spiegelt sich in der Quantität der überlieferten Texte, vor allem aber in den Poetiken wider. So beschreibt Johann Heinrich Hadewig im Kapitel »Von Hochzeit- und anderen Ehren- und Glückwünschungs-Getichten« seiner 1650 veröffentlichten Lehrschrift Kurtze und richtige Anleitung / Wie in unser Teutschen Muttersprache Ein Teutsches Getichte zierlich und ohne Fehler könne verfertiget werden das mögliche Anwendungsfeld der Figurengedichte wie folgt: Weil man auf Hochzeiten mit Trinkgeschirren ümgehet / und zwischen Braut und Bräutigam eine hertzbrünstige Liebe erspüret wird: würde es nicht übel stehen / wan ein Pocal oder Hertze in gewisse Verse verfasset und getichtet würde.20

16 Vgl. Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Unter Mitw. von Ulrich Maché und Volker Meid. Berlin, New York 1971–2003. Bd. 9 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 25), S. 335, 341–344. 17 Siehe Plotke (Anm. 3), S. 20–28; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 73–86. 18 Vgl. Adler, Ernst (Anm. 1), S. 154–167; Jeremy Adler: Pastoral Typography. Sigmund von Birken and the ›Picture-Rhymes‹ of Johann Helwig. In: Visible Language 10/1 (1986), S.  121–135; Plotke (Anm. 3), S. 94–109. 19 Vgl. Plotke (Anm. 3), S. 183–202; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 183––194. 20 Johann Heinrich Hadewig: Kurtze und richtige Anleitung / Wie in unser Teutschen Muttersprache Ein Teutsches Getichte zierlich und ohne Fehler könne verfertiget werden […]. Rinteln 1650, S. 163  f.

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Aufgrund ihrer aufwändigen Machart waren Figurengedichte besonders gut geeignet, um der im Zentrum der Feierlichkeiten stehenden Person die Ehre zu erweisen. Dazu kam, dass sich über das gewählte pikturale Motiv bereits ein thematischer Bezug zum betreffenden Festakt herstellen ließ, wie Hadewig in seiner Poetik gerade hervorhebt. Das spielerische Moment, das den Figurengedichten aufgrund der Sistierung konventioneller Lesevorgänge genretypisch anhaftete und das den Gebilden mitunter den Charakter eines Rätsels verlieh, diente bei heiteren Anlässen der Unterhaltung der Festgesellschaft. Derartige Rätsel-Gedichte machten sich denn auch zu Nutze, was bei der Rezeption von Figurengedichten generell gilt: Der gewohnheitsmäßige Leseprozess ist aufgehoben, da die Bild-Gestalt der Verse für einen ersten Blickfang sorgt, so dass erst in einem zweiten Schritt mit der Lektüre des diskursiven Texts begonnen werden kann. Weil in der visuellen Poesie Literalität und Pikturalität in eins gesetzt sind, streng genommen also dasselbe Zeichen in verschiedenen Zeichenfunktionen oder eben Signifikationsmodi decodiert werden muss, ist die Rezeption in ihrem Verlauf durch ein ständiges Oszillieren zwischen Bild-Sehen und Text-Lesen geprägt. Allein dadurch ergibt sich eine Retardation und Entautomatisierung des Lesevorgangs, was sich in unterschiedlichen Kontexten je anders nutzbar machen ließ: Während die Bilder-Reime bei festlichen Gesellschaften als knifflige Leseaufgaben zum Amusement der Anwesenden beizutragen vermochten, ging die Verlangsamung des Lektüreakts bei Figurengedichten mit erbau­ lichem Gehalt, die für die häusliche Andacht konzipiert waren, Hand in Hand mit der gewünschten kontemplativen Haltung und der meditativen Versenkung in das Textgebilde.21 Zur gattungskonstitutiven Aufhebung etablierter Lesekonventionen, die zu einem freien Hin und Her zwischen differenten Wahrnehmungsarten zwingt, kommt in vielen Bilder-Reimen die Suche nach der sinnvollen Reihenfolge der Verse dazu, die nicht zwangsläufig der üblichen von oben nach unten entspricht, sondern gerade umgekehrt sein kann, so dass die Lektüre eine aufsteigende Bewegung oder auch eine Art Bauprozess vollzieht; in einigen Fällen wird sogar erfordert, dass das Blatt zur Entzifferung des Sinngehalts mehrfach gedreht und rotiert wird. Die oft komplexe Struktur der Figurierung führt dazu, dass im Sinne

21 Diesen Fokus auf die Gattung wählt beispielsweise Sigmund von Birken in seiner Poetik Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, indem er ein Gedicht in Kreuzform als Beispielgedicht präsentiert und dazu folgenden Aufruf an die Rezipienten formuliert: »Wer seinen Jesum recht kennet und liebet / wird neben-stehendem Creuz noch viele nachmachen / auch dergleichen mit der DornKrone der Geisel-Seule / und andrem unsers theuren Heilands Passion-Zeug / ersinnen können« (Siegmund von Birken: Deutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679. Hildesheim, New York 1973, S. 144).



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eines trial-and-error-Verfahrens allererst eruiert werden muss, wo mit der Lektüre des diskursiven Texts zu beginnen ist. Der hermeneutische Zirkel zeichnet sich in den Bilder-Reimen denn auch meist dadurch aus, dass bereits die Figurierung der Verse einen ersten Sinnentwurf ermöglicht, von dem aus über die Mehrfachlektüre der einzelnen Zeilenpassagen tiefer in die Bedeutung der Text-Bild-Konfiguration als Ganzer eingedrungen wird, indem der Worttext des Gedichts immer wieder von neuem in ein Verhältnis zur Bildebene gesetzt wird. Dabei wird nicht nur der mittels der pikturalen Decodierung gewonnene semantische Erstbefund revidiert und modifiziert, sondern es erhält bisweilen auch die Dynamik des Rezeptionsprozesses eine signifikationsstiftende Funktion; so bekommen sogar einzelne Wörter aufgrund ihres Platzes innerhalb der Figur einen spezifischen Gehalt. Um die Mechanismen, wie sie sich im intermedialen Spiel frühneuzeit­licher visueller Poesie ergeben, zu beleuchten, seien im Folgenden zwei Figurengedichte des Frankfurter Dichters Johann Rudolf Karst genauer betrachtet, die dieser 1667 in seinem Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schau-Platz veröffentlichte. Der Band besteht aus fünf thematisch geordneten Sammlungen von Gelegenheitsgedichten, die Karst im Verlauf der vorausgegangenen Jahre für adlige und bürgerliche Widmungsträger verfasst hatte.22 Dass Casualcarmina allgemein zur dichterischen Praxis der damaligen Epoche gehörten,23 belegt neben der schieren Masse an Gelegenheitsgedichten aus dem 17. Jahrhundert auch die Existenz von Poetiken, die sich ausschließlich dem Thema der Casuallyrik widmen.24 Selbst in 22 Der vollständige Titel des Bands lautet: Johann Rudolf Karstens Deutscher Dicht-Kunst Lustund Schau-Platz. Darinnen zu finden I. Etliche sonderbahre / hohen Stands-Personen zu tieffschuldigsten Ehren  / verfertigte Freuden- und Glükkwünschungs-Gedichte. II. Der weltberuffenen Statt Frankkfurt am Meyn neugebundener Lorbeer-Krantz. III. Zwey Dutzet anmüthige / mit feinen Kunst-Stükken und artig-gefügten Bilder-Reimen beschlossene Neu-Jahrs-Gedichte. IV. Allerhand lustige Hochzeit- und Freuden-Gedichte / wobey gleichfalls einige zuvor in Teutscher Spraach nie gesehene Kunst-Stükk zu beobachten  / sampt nützlicher Einführung feiner geist- und weltlicher Rätsel / wie nicht weniger underschiedliche Klag-Schallmeyen und TrauerZimbeln. V. Fünffzehen schöner Ehrenbinde / in welchen etlicher vornehmer Heiligen Christlichgeführter Handel und Wandel / Leben und Todt in lieblicher Zierde besungen und vorgestellet wird. Frankkfurt am Mayn / Jn Verlegung Wilhelm Serlins. Jm Jahr MDCLXVII. 23 Grundlegend zur Casuallyrik Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. 24 Zum Beispiel: Balthasar Kindermann: Der Deutsche Poet / Darinnen gantz deutlich und ausführlich gelehret wird / welcher gestalt ein zierliches Gedicht / auf allerley Begebenheiten / […] kan wol erfunden und ausgeputzet werden / […]. Wittenberg 1664. Reprint Hildesheim, New York 1973. Häufig wurden die Gelegenheitsgedichte in den Poetiken auch typenweise besprochen. Magnus Daniel Omeis beispielsweise handelt in seiner Gründlichen Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst die folgenden Gedichttypen einzeln ab: »Geburts-Gedichte«,

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den weniger spezifischen Lehrschriften verwendeten viele Poetologen zur Exemplifizierung einer bestimmten dichterischen Form Beispiele, die sie ursprünglich anlassgebunden verfasst hatten.25 Darüber hinaus waren Sammelausgaben von Casuallyrik wie diejenige Karsts, in denen einzelne Literaten ihre zu unterschiedlichen Ereignissen geschaffenen Gelegenheitsgedichte im Verbund publizierten, gut etabliert und sehr beliebt. Karsts Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schau-Platz präsentiert die vereinigten Gedichte im Wesentlichen nach Anlässen gegliedert, darunter Neujahrs-, Hochzeit- und Trauergedichte. Der Band zeichnet sich dadurch aus, dass er insgesamt über dreißig Figurengedichte enthält. Diese finden sich in allen fünf Teilen der Sammlung, auch wenn es im dritten eine Ballung gibt, wie schon die Inhaltsangabe im Untertitel des Werks verdeutlicht, indem sie ankündigt: III. Zwey Dutzet anmüthige / mit feinen Kunst-Stükken und artig-gefügten Bilder-Reimen beschlossene Neu-Jahrs-Gedichte. Bemerkenswert hinsichtlich der Einschätzung der visuellen Poesie im 17. Jahrhundert ist die diesen dritten Teil einleitende, an den »Deutschliebende[n]  / hochgeneigte[n]  / klug-sinnige[n] Leser« gerichtete Vorrede des Dichters.26 Mit Blick auf die »Kunst-gefügten Reimen-Bilder[]« erklärt Karst hier, er habe diese »nicht zu [s]einer  / sondern zuforderst zu deß allein weisen und unsterblichen Himmels-Königs  / und dann zu unsers lieben Vatterlandes und der deutschen Sprach Ehre verfertiget«.27 Der Dichter legt damit nicht nur klar, dass er seine Figurengedichte in den Kontext christlicher Erbauung stellt, sondern macht auch den Gedanken stark, die aufwändige Machart der

»Namens-Tag-Gedichte«, »Lob-Gedichte«, »Dank-Gedichte«, »Hochzeit-Gedichte«, »Sieg-Glückwünschung«, »Leich-Gedichte« (vgl. Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst. Nürnberg 21712, S. 151–180). 25 Mit Blick auf die visuelle Poesie ist die Poetik Theodor Kornfelds ein markantes Beispiel hierfür: Zur Exemplifizierung der Gattung der Figurengedichte führt Kornfeld fünfzehn Musterstücke an, darunter sieben Casualcarmina, die er nach eigenen Angaben zu früheren Zeiten anlässlich entsprechender Gelegenheiten (Hochzeiten, Siegerehrungen etc.) verfasst hatte und in seiner Poetik erneut zum Druck brachte (vgl. Theodor Kornfeld: Selbst-Lehrende Alt-Neue Poe­ sie Oder Vers-Kunst der Edlen Teutschen-Helden-Sprache. Bremen 1685, S. 69–83). Auch andere Poetologen haben ehemals produzierte Gelegenheitsgedichte genommen, um sie als Beispiele für die Bilder-Reime in ihre Poetiken zu setzen, so etwa Albrecht Christian Rotth, Johann Hoffmann oder Johann Christoph Männling (Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie 1688. Hg. von Rosmarie Zeller. 1.  Teilbd. Tübingen 2000 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock; 41), S. 119; Johann Hoffmann: Lehr-mässige Anweisung zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst. Nürnberg 1702, T. III, S. 106; Männling (Anm. 15), S. 85). 26 Karst (Anm. 22), S. 28. 27 Ebd.



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Texte, die dem Verfasser einiges verskünstlerische Geschick abverlangt, adele die deutsche Sprache als Dichtersprache. Das erste der beiden Gedichte, die ich nun eingehender betrachten möchte, ist Johann Georg Fabricius, Pfarrer zu Oberwiddersheim, sowie dessen Gattin gewidmet und auf das Jahr 1663 datiert. Es gehört in die Sammlung der Neujahrsgedichte und wird eingeleitet durch rund sechzig Alexandriner, die in die Thematik des Jahreswechsels einführen und zugleich die Dedikanden als »Freunde Paar« apostrophieren.28 Das Figurengedicht selbst trägt den Titel (Abb. 7): »Der wahren Freundschafft Ehren-Seul. Syrach. 6.«29 Nicht nur aufgrund dieser Überschrift, sondern auch durch die markante Figurierung der Verse lässt sich der dargestellte Umriss bereits beim ersten Augenschein als Säule interpretieren und erinnert damit an die Triumphsäulen, die schon im alten Rom zu Ehren siegreicher Feldherren aufgestellt wurden. Als Prototyp antiker Siegessäulen darf die mit einem Reliefband verzierte Trajanssäule gelten, die – wie die ungeschmückten Ehrensäulen und die Triumphbögen auch – eigentlich als Sockel für die Statue des betreffenden Heerführers diente. Über die aktuelle Glorifizierung des Feldherrn hinaus dienten derartige Siegessäulen als Erinnerungsmal: Das Monument verherrlicht die Taten des Heerführers zum einen in der Festsituation des Triumphzugs, zeigt diese zum anderen aber auch späteren Generationen an. Der Leser des 17. Jahrhunderts kannte die antike Sitte, erfolgreichen Generälen Ehrensäulen oder Triumphbögen zu errichten, nicht nur aus der Literatur, von Skizzen oder Kupferstichen:30 Die Gepflo28 Ebd., S. 68. 29 Ebd., S. 70. 30 Heute noch erhaltene Skizzen der Trajanssäule beispielsweise von Giovannantonio Dosio (1569, Federzeichnung), Etienne du Pérac (1575, Mischtechnik), Gillis van Valckenborch (1590, Mischtechnik), der Säule des Marc Aurel von Dosio (um 1580, Federzeichnung); Abbildungen in: Hermann Egger (Hg.): Römische Veluten. Handzeichnungen aus dem XV. bis XVIII. Jahrhundert zur Topographie der Stadt Rom. 2. Bd. Wien 1931, Tafeln 45 und 76; James E. Packer: The Forum of Trajan in Rome. A Study of the Monuments. Bd. 1. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1997 (California studies in the history of art; 31), S. 26  f. Die antiken Monumente konnten zudem auch von Ita­lien­ rei­sen­den vor Ort bewundert werden. Neben den Pilgern, wie sie zu allen Zeiten Rom aufsuchten, müssen hier die englischen, französischen und deutschen Studenten genannt werden, die sich gern an italienischen Universitäten einschrieben. Des Weiteren begannen bereits im 17. Jahrhundert die Söhne aus gutem Hause Bildungsreisen in die Ewige Stadt zu unternehmen (vgl. etwa Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die »Grand Tour«. Berlin 1997 (Wagenbachs Taschenbuch; 274), S. 14–17). Zahlreiche Reisebeschreibungen belegen die rege Reisetätigkeit jener Zeit (Beispiele aus dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert präsentiert Dorothea Kuhn: Auch ich in Arcadien. Kunstreisen nach Italien 1600–1900. Stuttgart 1966 (Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums; 16), S. 10–36; Lucia Tresoldi: Viaggiatori Tedeschi In Italia 1452–1870. Bd. 1. Rom 1975, S. 11–40).

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Abb. 7: Johann Rudolf Karst, Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schau-Platz, Frankfurt a.  M. 1667, S. 70 [Bayerische Staatsbibliothek: P.o.germ. 707 k].



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genheit wurde in der italienischen Renaissance wieder aufgenommen31 und entwickelte sich insofern weiter, als temporär aufgebaute Säulen und Bögen zu zentralen Elementen der barocken Festarchitektur avancierten.32 Darüber hinaus wurde Säulenmonumenten gerade in der Kunst der frühen Neuzeit ein reicher Symbolgehalt zuerkannt: Gemäß den verbreiteten Allegoriewörterbüchern ist die Säule Sinnbild für Festigkeit und Beständigkeit, verkörpert Hoffnung, Tapferkeit und Stärke.33 Was die visuelle Poesie der Zeit angeht, war das Säulenmotiv, wohl nicht zuletzt wegen dieses Sinngehalts, ein beliebtes Sujet.34 Die meisten der genannten Bedeutungsaspekte wird die damalige Rezipien35 tin der Gedicht-Säule schon bei der ersten Wahrnehmung zugeordnet haben. Bereits die vorausgehenden Alexandriner sowie die Gedichtüberschrift lenken diesen Sinnhorizont jedoch in eine spezifische Richtung. So ist es nicht ein siegreicher Feldherr, dem hier ein Ehren- und Erinnerungsmal errichtet ist, sondern die Freundschaft, die aufgrund des Symbolgehalts der Figur in ihrer Festigkeit und Stärke ausgezeichnet wird.36 Die Freundschaft ist es, der die Säule aus Versen gewidmet ist, sie steht an der Spitze des Monuments – ein Sinnentwurf, der sich mit den ersten Worten des Verstexts vollends bestätigt: Zuoberst und mittig auf der Säule platziert sind nämlich die Wörter »Ein Freund«. Der Freund, quasi als Personifikation der Freundschaft, prangt damit – wie die Statue des sieghaften Heerführers – über dem Säulenschaft. Er und sein »Hertz«, wie es in der dritten

31 Vgl. Werner Haftmann: Das italienische Säulenmonument. Versuch zur Geschichte einer antiken Form des Denkmals und Kultmonuments und ihrer Wirksamkeit für die Antikenvorstellung des Mittelalters und für die Ausbildung des öffentlichen Denkmals in der Frührenaissance. Leipzig, Berlin 1939 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance; 55), S. 151. 32 In der Festarchitektur fiel der Aspekt des materiellen Erinnerungsmals aufgrund der Ephe­ me­ ri­ tät des Festakts allerdings weg. Die erinnerungsstiftende Funktion übernahmen hier die Festberichte, die solche Ehrensäulen häufig in Kupferstichen zeigen (siehe zu den Funktionen der Festberichte Thomas Rahn: Fortsetzung des Festes mit anderen Mitteln. Gattungs­ beobachtungen zu hessischen Hochzeitsberichten. In: Jörg Jochen Berns, Detlef Ignasiak (Hgg.): Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thüringen. Erlangen, Jena 1993 (Jenaer Studien; 1), S. 233–248). 33 Siehe beispielsweise Hieronymus Lauretus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae. Barcelona 1570. Fotomechanischer Nachdruck der zehnten Ausgabe Köln 1681. Hg. von Friedrich Ohly. München 1971, S. 257. 34 Vgl. Plotke (Anm. 3), S. 176–183; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 87–101. 35 Nicht nur um der politischen Korrektheit willen, sondern auch, weil im 17. Jahrhundert der Anteil des weiblichen Lesepublikums eine markante Größe darstellte, verwende ich im Folgenden abwechselnd weibliche und männliche Formen. 36 Auch der Zusatz »Syrach.6. « weist dezidiert auf das Thema der Freundschaft hin: Im Buch Jesus Sirach, Kapitel 6, geht es um wahre und falsche Freundschaft.

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Zeile heißt, werden in der gerundeten Gestalt der Verse im Oszillieren zwischen dem pikturalen und dem diskursiven Signifikationsmodus sichtbar. Mit der voranschreitenden Lektüre des Säulen-Gedichts eröffnen sich dem Leser weitere Charakteristika wahrer Freundschaft, indem die Verse benennen, was einen Freund als solchen auszeichnet: Dieser ist in jeder Lebenssituation »Ein treuer Raht«, er ist »Willfertig« und »Getreu«. Es folgen Sprachbilder, die das Wesen eines Freundes in überhöhender Weise veranschaulichen, wobei die Aufhäufung von Edelstein-Metaphern, die das wertvolle Strahlen betonen, heraussticht. So wird über die Bestimmungen des Freundes als »Augenstein«, »Diamant« und »Amethist« die besondere Kostbarkeit und Seltenheit echter Freundschaft hervorgehoben. Geradezu analog zu den Reliefbändern antiker Siegessäulen, die die militärischen Leistungen des geehrten Feldherrn entlang des Säulenschafts abbilden, illustrieren hier die metaphorischen Charakterisierungen die ›Heldenhaftigkeit‹ wahrer Freundschaft. Aufgrund der Positionierung der betreffenden Wörter als Bauteile der Schafttrommel werden die Merkmale und Qualitäten eines Freundes gleichzeitig aber auch zu funkelnden Steinen des Schmucks an der Ehren-Säule. Der Verstext endet in der Säulenbasis mit der maximenartigen Erkenntnis, dass der  – gerade nicht mit Gold aufzuwiegende  – Schatz eines »solchen Gönner[s]« für denjenigen, der ihn »findet / | Und sich mit ihm in Lieb verbindet«, echtes Himmelsglück bedeutet. Im Lob des Freundschaftssegens steckt hier auch die Aufforderung, sich selbst einen entsprechenden Verbündeten zu suchen. Es wird nicht zuletzt an dieser Stelle deutlich, dass das Säulen-Gedicht im Grunde genommen eine emblematische Struktur besitzt. Gemäß Albrecht Schöne korrespondiert mit dem meist dreiteiligen Aufbau eines Emblems die »Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens oder des Darstellens und Deutens«, wobei die Pictura auch der Ausdeutung dienen kann, Motto und Subscriptio auch an der Abbildung teilhaben können.37 Zudem zeichnen sich Embleme dadurch aus, dass mit der Ausdeutung der res significans der Aufruf zur Befolgung bestimmter Verhaltensmaximen verknüpft ist.38 Auch Karsts Figurengedicht besitzt Motto, Pictura und Subscriptio, wobei sich die Pictura nicht allein durch den Umriss der Verse konstituiert, sondern in ihren Einzelheiten erst während des Re­zep­tions­ prozesses im Flottieren zwischen bildlicher und textueller Wahrnehmung des Gebildes sichtbar wird. Als Motto fungiert die Überschrift des Gedichts, die über den Verweis auf das Alte Testament Aspekte des Freundschaftsthemas implizit

37 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 31993, S. 21. 38 Schöne spricht vom »imperativische[n] Maximencharakter emblematischer Texte« (ebd., S. 45).



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anzitiert – eine Verfahrensweise, wie sie in den Lemmata von Emblemen aus dem 17. Jahrhundert häufig zur Anwendung kommt. Über die Säulengestalt und dem mit dieser verbundenen Symbolgehalt wird in Karsts Figurengedicht nicht nur die Beständigkeit und hoffnungsfrohe Stärke wahrer Freundschaft ausgewiesen, sondern darüber hinaus dem Freund, quasi als Institution, ein Denkmal gesetzt. Das Baumaterial der Wörter ist so eingesetzt, dass einzelne metaphorische Beschreibungen, aufgrund der für die vi­suelle Poesie charakteristischen Verschmelzung von Text und Bild, zu eigentlichen stofflichen Säulenkomponenten werden: Die verwendeten Sprachbilder avancieren zu pikturalen resp. materialen Bestandteilen der Ehren-Säule, sobald sich im Lektüreprozess die Vorstellung des reliefgeschmückten Schafts nach dem Vorbild antiker Siegessäulen einstellt. Nicht zuletzt die emblematische Struktur des Gebildes führt dazu, dass dieses Figurengedicht über die spezifische casuallyrische Funktion hinaus das Wesen der Freundschaft im Allgemeinen und auch den aus diesem resultierende Aufforderungscharakter, eine Freundschaft einzugehen, buchstäblich vor Augen stellt. Mit der Säulenform ist ein gut etablierter Umriss gegeben, der in der frühneuzeitlichen visuellen Poesie weit verbreitet war und satztechnisch betrachtet nicht durch figurale Komplexität hervorsticht. Karsts Gedichtsammlung bietet aber auch Wort-Bild-Konstellationen, die das intermediale Spiel eher unkonventionell und erfindungsreich gestalten und in ihrem graphischen Arrangement geradezu modern anmuten. Um eine solche handelt es sich beim Figurengedicht für Wolffgang Dietherich Badern, das sich ebenfalls in der Sammlung der Neujahrscarmina befindet. Der Adressat ist Doktor beider Rechte und »Hochgräffliche[r] Ysenburgische[r] fürnehme[r] Rath«39, die einleitenden Alexandriner sind nicht mit einem expliziten Datum versehen, nennen die Thematik des Jahreswechsels aber bereits zum Auftakt: »Seht! wie das alte Jahr nun gantz und gar verschwunden!«40 Die insgesamt 56 Widmungsverse, die der Text-Bild-Konfiguration vorangestellt sind, gehen vor allem auf die Vergänglichkeit des Irdischen ein, die mit dem Neujahrstag besonders ins Bewusstsein rückt, überbringen des Weiteren gute Wünsche an den Dedikanden und kündigen zum Schluss das Figurengedicht als besondere Gabe wie folgt an: »Hiemit gehabt Euch wohl / und lebet stäts mit Freuden | Und nemt zum neuen Jahr diß Hertzgen  / so das Leiden | Den Prast / die Last und Pein der Frommen bildet ab / | Dieweil ich eurer Gunst sonst nichts zu schencken hab.«41

39 Karst (Anm. 22), S. 44. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 45.

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Das auf der nachstehenden Seite präsentierte Figurengedicht stellt denn auch, wie unschwer zu erkennen ist, ein Herz dar, das von einem Pfeil durchbohrt wird, wobei außerdem ein leicht geschlängeltes Etwas aus dem Herz nach oben entweicht (Abb. 8). Darüber hinaus besitzt die Text-Bild-Kombination eine Art Zuschrift, die sich auch als Sockel des Figurengedichts interpretieren lässt. Die Herzform als solche ist in der visuellen Poesie des 17. Jahrhunderts gang und gäbe, die geradezu perspektivische Kombination mit dem durchspießenden Pfeil hingegen ähnlich ausgefallen wie andere Figurengedichte Karsts, beispielsweise diejenigen in Bett- oder Wiegengestalt.42 Mit der abgebildeten Objektkonstellation liegt als erster Gedanke derjenige an Amor nahe, an weltliche Liebe und Verliebtheit. Tatsächlich ist das Herz aber auch ein Symbol, das gerade in der Emblematik und der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts immer wieder als Zeichen der spirituellen Liebe zwischen dem Gläubigen und Jesus Christus gebraucht wurde. Zu nennen ist hier einerseits die sogenannte Herzemblematik, die sich vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einiger Beliebtheit erfreute. Das Herz als Sitz des religiösen Gefühls und als Metonymie für die menschliche Seele bot ein wunderbar vielseitiges und anpassungsfähiges Motiv, das sich in den Picturae beinahe beliebig in Szene setzen ließ: Ganze Emblembücher zeigen Dutzende von Herzabbildungen in mannigfaltigen Kontextualisierungen.43 Andererseits sind emblematische Erbauungsbücher wie beispielsweise die 1624 erstmals gedruckten Pia desideria des flämischen Jesuiten Herman Hugo zu erwähnen, die die Amorette als Bildsujet aus der weltlichen Liebesemblematik übernommen und auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott übertragen haben: Die Pictura veranschaulicht in diesen Emblembüchern meist eine Szene mit zwei Figuren, die Amor divinus als Putto mit Nimbus und Anima abbilden, wobei das Verhältnis zwischen Anima, der menschlichen Seele, die weiblich gedacht wird, und der männlich vorgestellten göttlichen Liebe, die Züge von Christus trägt, auf der Vorstellungswelt der Brautmystik basiert.44 Herz- und Amorettenmotiv finden sich auch in Verknüpfung

42 Vgl. ebd., S. 121, 143, 206. 43 Ein frühes Beispiel sind die Emblemes, Ou Devises Chrestiennes der Hugenottin Georgette de Montenay, im Jahr 1571 erstmals in Lyon veröffentlicht, in denen das Herzmotiv allerdings nur sporadisch vorkommt. Vollständig dem Herzmotiv gewidmet sind die Emblemata Sacra des lutherischen Theologen Daniel Cramer, die 1624 in zwei Teilen erschienen sind. Siehe weiterführend: Sabine Mödersheim: »Domini Dctrina Coronat«. Die geistliche Emblematik Daniel Cramers (1568–1637). Frankfurt a.  M. 1994 (Mikrokosmos; 38). 44 Bei Herman Hugos Pia desideria handelt es sich um eines der erfolgreichsten Emblembücher überhaupt. Das Werk fand sofort starken Anklang, so dass es in den folgenden 200 Jahren allein auf lateinisch über 50 Ausgaben erhielt. Dazu kamen Übersetzungen und Adaptationen in



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Abb. 8: Johann Rudolf Karst, Deutscher Dicht-Kunst Lust- und Schau-Platz, ­Frankfurt a.  M. 1667, S. 46 [Bayerische Staatsbibliothek: P.o.germ. 707 k].

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miteinander, etwa im ebenfalls sehr beliebten Emblembuch Schola cordis von Benedict van Haeften.45 Es ist davon auszugehen, dass der zeitgenössische Leser von Karsts Herz­ gedicht die erwähnten Emblemtraditionen kannte, da sie zu den populärsten Intermedialitätsphänomenen seiner Gegenwart gehörten. Eine Deutung der abgebildeten Herzkonstellation im Sinne der aktuellen Frömmigkeitsdiskurse legen zudem die  – oben zitierten  – Alexandriner nahe, die das Figurengedicht ankündigen. Auf der Basis der genannten Bildtraditionen wird die damalige Rezipientin auch die dochtartige Linie, die aus dem Herz herauswächst, bereits vor der verbalen Lektüre als Flamme interpretiert haben, die für die entzündete Liebe zu Gott steht (vgl. Abb. 5 u. 6). Wendet sich der Leser nach dem ersten Augenschein der literalen Seite des Figurengedichts zu, sieht er sich einer doppelten Herausforderung gegenüber: Nicht nur ist in diesem Gedicht die traditionelle Leserichtung aufgegeben zugunsten einer komplexen Linienführung, die die Objekte sichtbar macht – so dass der Buchstabentext nur dann vollständig entziffert werden kann, wenn das Buch mehrfach gedreht und hin und her bewegt wird  –, sondern es gibt auch keinen Anhaltspunkt, wo überhaupt mit der Lektüre begonnen werden soll. Aufgrund der Verknüpfung mehrerer miteinander verbundener Gegenstände ist bei diesem Gebilde nicht von vornherein klar, welche Versabfolge die sinnreichste ist, so dass erst die Mehrfachlektüre der einzelnen Objektbahnen und die damit verbundene Vertiefung in das Figurengedicht die Bedeutung der Gesamtkonstellation aufschließen kann. Da für die Entzifferung der Herz-Verse das Blatt zunächst nicht gedreht zu werden braucht, ist ein Einstieg mit diesen Zeilen erleichtert, was durch das doppelte deiktische »Hier«, das den wandernden Blick gleichsam einfängt, zudem nahegelegt wird. Allerdings kann der lineare Leseakt auch bei dieser Figur nicht uneingeschränkt vollzogen werden, da Herz, Pfeil und Flamme derart miteindie meisten europäischen Sprachen wie französisch, englisch, holländisch, dänisch, polnisch, russisch, spanisch oder portugiesisch. Auf Deutsch beispielsweise gibt es über ein Dutzend unterschiedliche Übersetzungen und Bearbeitungen, sowohl katholische wie auch protestantische. Siehe weiterführend etwa: Gabriele Dorothea Rödter: Via piae animae. Grundlagenuntersuchung zur emblematischen Verknüpfung von Bild und Wort in den »Pia desideria« (1624) des Herman Hugo S.  J. (1588–1629). Frankfurt a.  M. 1992 (Mikrokosmos; 32). 45 Die Schola cordis des belgischen Benediktiners Benedict van Haeften ist 1629 in Antwerpen erstmals ediert worden und hat zahlreiche Auflagen und Übersetzungen erfahren. In Haeftens Erbauungsbuch wird jede der 55 lectiones durch einen Kupferstich eingeleitet, der eine Szene mit einem Herz zeigt, um das sich der geflügelte Amor divinus und die weiblich dargestellte Anima in irgendeiner Weise bemühen oder sich an ihm zu schaffen machen. Das Motto nimmt immer auf das Herz Bezug, das im Titel des Werks prominent genannt ist.



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ander verwoben sind, dass einzelne Buchstaben an der Abbildung von jeweils zwei Gegenständen teilhaben, was einerseits zur Folge hat, dass das Gebilde drei­ dimensionale Plastizität erhält, andererseits aber auch dazu führt, dass die Buchseite (oder der Kopf der Rezipientin) auch schon bei der verbalen Decodierung des Herz-Textes gedreht werden muss. Die über den pikturalen Wahrnehmungsmodus als Herz identifizierte Figur wird mit dem Beginn der Verslektüre mit »manch ErlIche[m] Hertz« gleichgesetzt, womit offensichtlich – im Sinne der zeitgenössischen Erbauungsliteratur – die frommen Christen gemeint sind. Beschrieben wird, passend zu den vorausgegangenen Alexandrinern, die irdische Lebenssituation des Gläubigen, die durch »Plag Jammer unnd Schmertz | Angst  / Elend unnd Grämen« geprägt ist. Die Unwegsamkeiten des Diesseits führen aber laut Verstext auch dazu, dass sie die flammende Liebe zu Gott entfachen: sie »entzünden die Glut«. Die seufzenden Verse, die den Pfeil illustrieren, greifen dieses Thema auf und betonen ihrerseits, welch Qual und Elend das Erdenleben ausmacht – wobei die graphische Pointe hier darin besteht, dass die den Pfeilschaft abbildenden Wörter drei Mal den ersten Halbvers konstituieren und also lesend zu wiederholen sind, während sich die jeweils zweiten Vershälften mit differentem Wortlaut in die Befiederung verlaufen. Als Kontrapunkt formuliert hingegen die Flamme: »Im Himmel ists gut.« Dabei zeichnet sie das nach oben hin trachtende Streben der göttlich entzündeten menschlichen Seele mittels der Laufrichtung der Buchstaben gerade nach. Mit der Lektüre des verbalen Texts wird das abgebildete Herz also zum frommen Gläubigen, der auf Erden leidet, aber gleichzeitig in Gottesliebe entflammt ist und sich nach dem Himmel sehnt. Der durch das Herz gestoßene Pfeil erhält dabei eine ambivalente Deutung, die die christliche Dichotomie von Diesseits und Jenseits, von hiesigem Jammertal und dortiger göttlicher Vereinigung aufgreift: So ist der Pfeil einerseits Marterwerkzeug, das die christliche Seele »ritzet«, wie es in den Herz-Versen heißt – womit der Bezug zum Leidensweg Christi hergestellt ist, zu dem sich der Rezipient, lesend und betrachtend, in ein Verhältnis setzt. »Heilands Passion-Zeug« in Figurengedichten abzubilden, um dadurch Frömmigkeit zu beweisen, dies rät Sigmund von Birken in seiner Poetik Deutsche Redebind- und Dicht-Kunst einige Jahre später.46 Andererseits ist der Pfeil aber auch Zeichen der flammenden Liebe und der Verbindung des Menschen mit Gott (oder wie es die Herzfigur nennt: »hitzet«). Der das Herz durchdringende Pfeil und die Flamme stehen beide für die Liebesglut, die der Gläubige zu Christus empfindet und die er, während er sich meditativ in das Figurengedicht versenkt, zu spüren vermag. Beide markieren sie schließlich die Beschwerlichkeit des Erdenlebens –

46 Siehe Anm. 21.

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was sich wiederum in der aufwändigen und mühevollen Rezeption der Text-BildKonfiguration spiegelt, die der Leserin immer wieder abverlangt, den ›geraden‹ (Lektüre-)Weg zu verlassen und Hindernisse zu bewältigen. Die fromme Ernsthaftigkeit, die in diesem Figurengedicht steckt, wird durch die in spielerischer Leichtigkeit formulierten Zusatzverse etwas zurückgenommen, die auf derselben Blattseite abgedruckt sind (und zum festlichen sowie nach vorne gerichteten Akt des Jahreswechsels zurückführen). Diese sprechen, auf den Flammen-Vers der Text-Bild-Konstellation rekurrierend, die hoffnungsfrohe Botschaft des Paradieses aus, die dank Jesu Kreuzestod für die Menschen eröffnet worden ist und die das irdische Dasein unter dem Himmelszelt – »In dem blau-gewölbten Saal« – erträglicher macht. Alles in allem ist das als Neujahrsdedikation konzipierte Figurengedicht für Wolffgang Dietherich Badern durchdrungen von allgemeinen Gedanken re­li­giö­ ser Erbauung, wie sie in der zeitgenössischen Emblematik omnipräsent sind. Karst bestätigt damit, was er bereits im Vorwort der Sammlung ankündigt, dass nämlich die Carmina zu allererst für den frommen Dienst an Gott formuliert sind. Häusliche Andacht und anlassgebundene Widmung gehen hier Hand in Hand – auch dies eine in der Lyrik des 17. Jahrhunderts weit verbreitete Praxis. Bemerkenswert ist an diesem Gedicht der kreative Umgang mit dem Buchstabenmaterial, der in seiner spielerischen Art aus heutiger Sicht gar nicht so richtig zum frommen Thema passen will und an die visuelle Poesie der Moderne erinnert, etwa an die Calligrammes von Guillaume Apollinaire. Doch zeigt das vielseitige intermediale Spiel figuraler Gedichte in der frühen Neuzeit und der verbreitete Einbezug derartiger Elemente in die damalige Erbauungsliteratur, dass sich religiöser Ernst und dichterische Kombinatorik im 17. Jahrhundert nicht ausschließen, im Gegenteil.47

47 Siehe dazu auch die grundlegende Untersuchung: Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Neu hg. von Walter Pape. Berlin 1992 (Repr. d. Ausg. Berlin 1963).

Register  Register Addison, Joseph 100 Albert, Heinrich 279, 284 Alberti, Leon Batista 14 Albinus, Johann Georg 27 Albinus, Michael 25 Alciatus, Andreas 192 Aler, Paul 22 Alighieri, Dante 265, 271 Alkibiades 214 Ammon, Hieronymus 330 Amor 86–88, 183, 203  f., 280, 282, 284, 386, 388 Anulus, Bartholomaeus 204  f. Apelles 194, 210 Apoll 214, 246, 255, 258  f., 264–266, 269  f., 270, 273, 283, 327  f., 351 Apuleius 204, 214 Aretino, Pietro 204, 206 Aristoteles 13, 46  f., 61, 121, 126, 216, 344 Arktinos von Milet (Arktinos Milesios) 313 Athanadoros 197 August der Jüngere von BraunschweigWolfenbüttel 227 Baglione, Giovanni 180–187, 191 Balde, Jakob 351  f. Bardi, Ainolfo, Conte di Vernio 183 Barth, Caspar von 326–329 Bartoli, Pietro Santo 318 Bebel, Heinrich 241 Bergmann, Johann 241 Bernegger, Matthias 325  f. Bernhard, Christoph 270 Binet, Étienne 353 Birken, Sigmund von 24  f., 125, 264, 284, 300  f., 303  f., 348, 377  f., 389 Böckler, Andreas 348 Bodmer, Johannes Jacob 343  f. Boldrini, Leonardo 320 Bosse, Abraham 280, 282, 284, 348 Brant, Sebastian 16, 237, 239–252, 254–259 Brecht, Bertolt 310

Brehme, Christian 128–132 Breitinger, Johann Jakob 310 Brieg, Johann Christian von 323 Brosamer, Hans 307 Brülow, Caspar 33 Bruno, Giordano 155–157 Buffon, Georges 159  f. Burbage, Richard 55  f., 58  f., 71–73, 75 Burgkmair, Hans d. Ä. 328  f. Cahusac, Louis de 104, 114 Calderini, Domizio 243 Callenbach, Franz 29 Camus, Albert 320 Carracci, Annibale 181 Cartaro, Mario 208 Cassirer, Ernst 216  f. Cats, Jacob 266 Cavaliere d’Arpino (Cesari, Giuseppe) 181 Celtis, Konrad 246, 269, 329 Charles I., Herzog von Savoyen 225 Christus 25, 30, 38, 159, 171, 198, 211, 222  f., 264, 296, 386, 389 Cicero, Marcus Tullius 47, 54, 57  f., 66, 68, 239, 287, Clovio, Giulio 225 Corneille, Pierre 98, 101  f. Dach, Simon 271, 273 Darboven, Hanne 232  f. Dedekind, Constantin Christian 131, 133, 264, 269–271, 273  f., 283  f. Dido 71, 315 Dionysos 214 Diotima 44, 214 Donat (Aelius Donatus) 243, 251 Dryden, John 13, 58, 313, 335 Dupré, Jean 226  f. Dürer, Albrecht 11, 206, 330–333, 342, 352, 363 Dusch, Johann Jakob 314 Eckermann, Johann Peter 214 El Greco (Domínikos Theotokópoulos) 320

392 

 Register

Erasmus von Rotterdam, Desiderius 210, 331, 333 Eros 214 Farnese, Alessandro 225 Finckelthaus, Gottfried 133, 271  f. Fleming, Paul 127, 270, 272  f. Fontenelle, Bernard de Bovier de 122  f. Franklin, Benjamin 219 Fredis, Felice de 306 Friedrich II. (Kaiser) 227 Funcke, Christian 22, 30 Fürst, Paul 330 Furttenbach, Joseph 100, 114 Gabriel 200, 208, 211 Galli-Bibiena, Fernando 111  f. Garrick, David 56, 74 Geiler von Kayersberg, Johann(es) 241 Gentileschi, Orazio 180–183, 186 Gerhard Graf von Dönhoff 323 Gerhard, Paul 338 Gilio, Giovanni Andrea 200 Giorgione (Giorgio da Castelfranco)  194 Giunta, Lucantonio 226 Giustiniani, Benedetto (Kardinal) 183 Gläser, Enoch 264, 270, 274  f., 277, 283 Goethe, Johann Wolfgang 116–120, 122, 126, 128, 130, 134–137, 214, 307–310, 312  f., 315, 317  f., 320  f. Gomringer, Eugen 230  f. Göring, Johann Christoph 270 Gottsched, Johann Christoph 122–124, 128, 134, 325 Greflinger, Georg 283 Gregor der Große 248 Grüninger, Johannes 237, 240–243, 245–248, 251, 256  f., 259 Gryphius, Andreas 26, 31, 322, 324 Guth, Christian 266 Hagesandros 197 Hahn, Ulla 117  f., 128 Haller, Albrecht von 139, 314 Hallmann, Johann Christian 31  f. Händel, Georg Friedrich 15, 100

Harsdörffer, Georg Philipp 7, 15, 22–24, 33, 164, 260, 275–279, 288, 301  f., 304, 335, 347–365 Haslinger, Gotthard 29 Heidenreich, Elias 32  f. Heine, Heinrich 320 Heinse, Wilhelm 309 Heinsius, Daniel 126 Held, Heinrich 271, 273 Henning, Aegidius 260  f. Herder, Johann Gottfried 121  f., 124, 357 Hervieu, Dominique 104 Heyden, Jacob van der 325–327, 330  f. Higgins, Dick 155, 168, 367 Hilliard, Nicholas 44 Hirt, Alois 307  f. Hochreither, Joseph Balthasar 30 Hoefnagel, Joris (Giorgio Tedesco) 181 Homburg, Ernst Christoph 270, 284 Homer 11, 59, 69, 209  f., 265 Höpfner, Wilhelm 320 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 39, 54, 60, 62, 126  f., 242  f., 245, 262, 328, 339  f., 342, 350, 352, 376 Huygens, Christiaan 36, 170 Jaucourt, Louis de 97 Jean, Duc de Berry (Herzog von Berry) 225, 228 Johann Georg II. (Sachsen) 271 Kant, Immanuel 140, 144 Karl Hannibal von Dohna 322 Kindermann, Balthasar 379 Kindermann, Johann Erasmus 264, 279–284 Kircher, Athanasius 36, 170, 280, 284 Knorr von Rosenroth, Christian 264 Kormart, Christoph 37 Kues, Nikolaus von 157  f., 171 Lair, Sigismondo (Gismondo Tedesco) 181 Landino, Cristoforo 243, 251, 257 Lang, Franz 28 Laokoon 4  f., 12  f., 16, 59, 62, 140, 154, 165, 179, 197  f., 200, 204, 206, 208, 210, 214, 306–321, 342, 358, 364 Leeu, Gerard 226

Register 

Leopold IV. (Herzog von Österreich) 227 Leroi-Gourhan, André 217, 233 Lessing, Gotthold Ephraim 4, 13, 15  f., 140, 187, 306  f., 310–317, 321, 332, 337, 342, 358, 364  f. Liesfelt, Adriaen van 226 Limburg, Herman 225 Limburg, Johan 225 Limburg, Paul 225 Lippi, Filippo 200  f., 210–212 Lomazzo, Giovanni Paolo 198 Longhi, Onorio 180, 182, 185 Lope de Vega Carpio, Félix 266 Ludwig IV. (Kaiser HRR) 227 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 60, 340 Lully, Jean-Baptiste 96, 99  f. Lundelius, Benjamin 121 Luther, Martin 14, 128, 278, 292  f., 338, 386 Lykophron 307 Machiavelli, Niccolò 196 Maher, Miranda 234 Malutzki, Peter 230  f. Manasser, David 262 Mancinelli, Antonio 243, 245–247 Mander, Karel van 342, 363 Marais, Marin 100 Maria 208, 210, 222  f., 226, 292, 352 Marmontel, Jean-François 101 Martial, Marcus Valerius 192, 194, 214  Masen, Jacobus 28, 32 Masereel, Frans 229, 231 Mastelletta (Donducci, Giovanni Andrea) 181 Mattheson, Johann 38, 101 Maximilian I. (Kaiser HRR) 227, 256 McKillop, Sarah 234 McLuhan, Marshall 5, 10, 12, 332 Meier, Peter 226 Mercier, Louis-Sébastien 174 Merisi da Caravaggio, Michelangelo 180, 182  f., 185, 187–189, 191, 207  f., 210, 214, 363 Mettrie, Julien Offray de la 311 Michelangelo (Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni) 207  f. Minitti, Mario 193 Misler, Johann Hartmann 26

 393

Mitchell, William J. Thomas 215 Mitternacht, Johann Sebastian 31 Montaigne, Michel de 340 Montalvo, José 104  f., 106 Monte, Francesco Maria del (Kardinal del Monte) 188, 193, 213 Monteverdi, Claudio 89, 91 Moos, Carl Joseph 35 Moritz, Karl Philipp 137, 308, 319 Muling, Johannes Adelphus 241  f. Murner, Thomas 241, 256  f. Nauwach, Johann 263 Nicolai, Philipp 25 Nietzsche, Friedrich 140, 214 Nikander 317 Ogilby, John 313 Opitz, Martin 24, 117, 124–128, 130–135, 263  f., 266, 268–270, 272–274, 279  f., 322–328, 330–342, 344, 346 Orpheus 279–281, 283 Orsi, Prospero 181 Ovid, Publius (Publius Ovidius Naso) 50, 58, 202, 270, 336, 352 Palma il Vecchio, Jacopo (Jacopo Negretti) 202 Pauli, Johannes 241 Pauson 313  f. Perrier, François 306 Perrière, Guillaume de la 209  f. Petrarca, Francesco 80, 82–85, 87, 89  f., 92  f., 126, 237, 245, 265  f. Petronius Arbiter, Titus (Petron) 214 Philostrat der Ältere (Flavius Philostratos) 59, 62–64, 69–72 Pigouchet, Philippe 227 Pino, Marco 208 Piombo, Sebastiano del (eigentlich Luciani) 194, 196 Plantin, Christoph 227 Platon 44, 46  f., 88, 133, 214, 300, 333 Plinius d. Ä. 248, 306, 350 Plutarch 59–63, 334, 350 Polydoros 197 Polygnotus 314

394 

 Register

Pomarancio (Roncalli, Cristoforo) 181 Pozzo, Andrea 110, 112 Praxiteles 191 Psyche 203  f. Puttenham, George 46  f. Quinault, Philippe 99, 103, 113 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 59, 61  f., 64–68, 73, 249, 287, 295 Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 62, 194, 210, 265 Rameau, Philippe 100, 104–106, 109, 111, 114 Reimarus, Hermann Samuel 311  f. Rettenpacher, Simon 22 Reusner, Nikolaus 327 Rilke, Rainer Maria 136, 229, 231–233 Ringmann, Matthias 241  f. Ripa, Cesare 199  f., 321 Rist, Johann 23, 27, 34  f., 264–266, 268  f., 271, 273, 282–284, 290 Robida, Albert 176–178 Ronsard, Pierre de 125, 266 Roos, Johann Melchior 314 Roscius (Quintus Roscius Gallus) 72  f., 75 Rose, Christian 25  f. Rosner, Ferdinand 30 Rotolanti, Gregorio 182 Rousseau, Jean-Jacques 98, 103  f., 108 Rubert, Johann Martin 282  f. Sadoleto, Jacopo 316 Saint-Mard, Rémond de 96 Salini, Tommaso 180, 182, 184–186 Salomon, Bernard 205 Sandrart, Joachim von 14, 306, 348, 364 Scaliger, Julius Caesar 126, 278, 368 Schiller, Friedrich 56, 116, 318–320, 381 Schirmer, David 130–134, 271, 273 Schöfferlin, Bernhard 258 Schubert, Franz 135 Schütz, Heinrich 269 Seneca 296, 360 Servius (Maurus Servius Honoratus) 243, 255 Shakespeare, William 39–53, 55  f., 58  f., 67–71, 74

Sidney, Sir Philip 40–42, 46  f., 49, 260 Sieber, Justus 273 Simonides von Keos 155, 376 Sokrates 44, 214 Sombart, Werner 219 Sopher, Gervasius 241 Sorel, Charles 355 Spieß, Christoph Paul 21 Staden, Johann 279 Staden, Sigmund Theophil 23, 330 Stieler, Kaspar 34 Stolle, Philipp 131  f. Stranitzky, Joseph Anton 34 Strobel, Bartholomäus d. J. 322–325, 332, 334–338, 341–343, 345  f., Stubbs, George 314 Sulzer, Johann Georg 27  f. Tempesta, Antonio 181 Terenz (Publius Terentius Afer) 242, 245, 247–249, 256 Themistokles 70 Thourneyser, Johann Jakob 306 Tieck, Ludwig 135  f., 138 Tizian (Tiziano Vecellio) 194  f., 320 Tonnis, Jan 29 Trisegni, Filippo 180, 182  f., 185 Troschel, Peter 269, 274 Tscherning, Andreas 271, 273 Uccello, Paolo 159 Unger, Johann Friedrich 116 Vasari, Giorgio 14, 208, 210, 363 Venus 27, 34, 204, 283  f. Vérard, Antoine 227 Vergil (Publius Vergilius Maro) 71, 130, 242–252, 254–259, 307, 312  f., 315–319, 321 Viau, Théophile de 266 Vinci, Leonardo da 14, 191  Volpato, Giovanni 320 Voltaire (François-Marie Arouet) 103 Vondel, Joost van den 266 Vos, Jan 22  f., 86

Register 

Walgenstein, Thomas Rasmussen 36 Warburg, Aby (eig. Abraham Moritz) 62, 206 Weibel, Peter 163 Weissenbach, Johann Caspar 22 Wieland, Christoph Martin 15, 214 Wimpfeling, Jakob 241 Winckelmann, Johann Joachim 318, 363 Władisław IV. 323 Wolf, Hugo 135 Wolf, Jakob 25, 32

 395

Xenophon 63, 214 Zeidler, Christian 38 Zeuxis von Herakleia 317, 348, 350 Zincgref, Julius Wilhelm 293  f., 296–298, 305, 359  f. Zuccari, Federico 181, 183 Zucchi, Jacopo 203  f.