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German Pages 444 [448] Year 2008
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 178
Vandenhoeck & Ruprecht
Johannes Breuer
Der Mythos in den Oden des Horaz Praetexte, Formen, Funktionen
Vandenhoeck & Ruprecht
Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-25285-7 Hypomnemata ISSN 0085-1671
Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 2006/2007 Umschlagabbildung: Melisches Relief 470–460: Bellerophon bekämpft die Chimaira.
© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: c Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt Vorwort ........................................................................................................11 I. Teil: Prolegomena.....................................................................................13 1. Einführung..............................................................................................15 1.1 Relevanz des Forschungsgegenstandes.......................................15 1.2
1.3
Überblick über die neuere Forschung zum Mythos bei Horaz .....................................................................................17 1.2.1 Materialsammlungen..........................................................17 1.2.2 Darstellungen einzelner Mythenfunktionen.......................18 1.2.3 Umfassendere Studien zum Mythos bei Horaz..................20 Präzisierung der Fragestellung und methodische Überlegungen ..............................................................................22 1.3.1 Praetexte.............................................................................23 1.3.2 Formen ...............................................................................24 1.3.3 Funktionen..........................................................................24 1.3.4 Auswahl und Anordnung der zu untersuchenden Oden...................................................................................25
1.4
Zur Disposition............................................................................26
2. Der dieser Arbeit zugrundegelegte Mythosbegriff ................................27 2.1 Was ist ein Mythos? ....................................................................27 2.2
Die Spezifika des Mythos in Rom und in der römischen Literatur .....................................................................30
3. Die Frage der horazischen Religiosität ..................................................33 3.1 3.2
Methodische Überlegungen ........................................................33 Doxographischer Anhang zur Religiosität des Horaz.................40
4. Die Bedeutung der Intertextualität für Horazens Oden .........................43 4.1 Was versteht man unter »Intertextualität«? ................................43 4.2 4.3
Kann man die Intertextualitätstheorie auf die Oden applizieren? .................................................................................46 Ergebnisse und Implikationen für diese Untersuchung ..............48
6
Inhalt
5. Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern ..............................50 5.1
Hesiod .........................................................................................50
5.2
Archilochos .................................................................................56
5.3
Die lesbisch-äolische Lyrik.........................................................60 5.3.1 Alkaios ...............................................................................61 5.3.2 Sappho................................................................................64 Pindar ..........................................................................................69
5.4 5.5 5.6
Die attische Tragödie ..................................................................86 Die Komödie ...............................................................................94 5.6.1 Die altattische Komödie.....................................................94 5.6.2 Die Mittlere Komödie ........................................................98 5.6.3 Die Neue Komödie...........................................................102 5.6.4 Plautus und Terenz...........................................................105
5.7
Kallimachos...............................................................................109
5.8 5.9
Lukrez .......................................................................................117 Catull .........................................................................................126
5.10 Vergil.........................................................................................135 6. Tradition und Originalität ....................................................................146 II. Teil: Einzeluntersuchungen ...................................................................151 1. carmen 1,27..........................................................................................153 1.1 Die Ausgangssituation ..............................................................154 1.2 1.3
Zu verecundumque Bacchum (V. 3) .........................................155 Die Verse 9-12 ..........................................................................160
1.4 1.5
Zur Bedeutung von Venus (V. 14) ............................................163 Mythische Gestalten als Gradmesser ........................................166
1.6
Die Bedeutung des Bellerophonmythos im Kontext ................170
1.7
Die Funktion des Pathos ...........................................................172
1.8
Fazit...........................................................................................174
2. carmen 1,16..........................................................................................175 2.1 2.2
Die Ode im Überblick ...............................................................175 Zur Identität des Mädchens.......................................................184
2.3
Zur Frage des Verfassers der criminosi iambi ..........................187
Inhalt
7
2.4 2.5
Wer ist zornig? ..........................................................................190 Zur Bedeutung von o matre pulchra filia pulchrior .................193
2.6
Fazit...........................................................................................194
2.7
Exkurs: Zum mythischen Beispiel ............................................195
3. carmen 2,14..........................................................................................198 3.1 Die Ode im Überblick ...............................................................199 3.2 3.3 3.4
3.5
Der Verständnishorizont der zeitgenössischen Rezipienten................................................................................203 Analyse der Unterweltsbilder (V. 6-12 und 17-20) ..................204 Zur Intention der Ode................................................................211 3.4.1 Die Verse 1-4 und 21-28 ..................................................211 3.4.2 Andere Unterwelts- bzw. Todesbilder in den Oden......................................................................216 Fazit...........................................................................................223
4. carmen 2,7............................................................................................225 4.1 4.2
Die Verse 1-16 und ihre möglichen Praetexte ..........................225 Die Bilder im Kontext...............................................................230
4.3
Die Deutung der Merkurszene ..................................................233
4.4
Der Ausklang der Ode...............................................................235
4.5
Fazit...........................................................................................237
5. carmen 1,6............................................................................................238 5.1 5.2
Die Verse 1-16 im Überblick ....................................................238 Zur Bewertung der Verse 13-16................................................244
5.3 5.4
Die Funktion der Strophen 2 und 4...........................................246 Der Ausklang der Ode (V. 17-20).............................................248
5.5
Fazit...........................................................................................250
6. carmen 1,1............................................................................................251 6.1 Die Ode im Überblick ...............................................................252 6.2 6.3
Zu terrarum dominos evehit ad deos (V. 6)..............................257 Mythische Toponyme ...............................................................258
6.4 6.5
Zu sub Iove frigido (V. 25) .......................................................260 Die Verse 29-32a.......................................................................261
8
Inhalt
6.5.1 Die Funktion der Verse 29-32a innerhalb der Ode.............................................................................262 6.5.2 Der mythische Musenhain als Ausdruck von Selbstironie? ....................................................................264 6.6 6.7
Die Verse 32b-34 ......................................................................269 Fazit...........................................................................................270
7. carmen 1,2............................................................................................272 7.1
Die Ode im Überblick ...............................................................272
7.2
7.3
Zu den Versen 13-20.................................................................285 7.2.1 Ilias Verhältnis zum Tiber................................................285 7.2.2 Warum klagt Ilia?.............................................................286 7.2.3 Das Verhältnis der Verse 13-20 zum Gedichtanfang..................................................................290 7.2.4 Die Rolle des Tiber ..........................................................291 Worin besteht das zu sühnende scelus? ....................................292
7.4 7.5
Zur Deutung der Verse 21-24 ...................................................294 Zur Datierung der Ode bzw. ihres Inhaltes ...............................296
7.6 7.7
Zur Funktion der Unwetter .......................................................302 Zur Auswahl der Götter ............................................................304 7.7.1 Warum gerade Merkur? ...................................................304 7.7.2 Die Rolle der Götter in den Versen 30-40 .......................309 7.7.3 Merkur-Augustus: eine horazische Singularität?.............313
7.8
Das Finale von Vergils Georgica I als Vergleichspunkt.............314
7.9
Fazit...........................................................................................318
8. carmen 1,10..........................................................................................321 8.1 Die Ode im Überblick ...............................................................322 8.2
8.3
Mögliche Praetexte....................................................................331 8.2.1 Der homerische Hermeshymnus.......................................331 8.2.2 Der Hermeshymnus des Alkaios ......................................332 8.2.3 Weitere Überlegungen zu traditionellen Elementen ........................................................................334 Zur Intention des Hymnus.........................................................336 8.3.1 Merkur als persönlicher Schutzgott des Horaz? ..............338 8.3.2 Merkur als Symbol des Horaz oder seines Dichtertums?....................................................................342 8.3.3 Merkur als Chiffre für Augustus? ....................................344
Inhalt
8.4
9
8.3.4 Ausblick ...........................................................................346 Fazit...........................................................................................347
9. carmen 1,15..........................................................................................349 9.1 Die Ode im Überblick ...............................................................350 9.2
Mögliche Praetexte....................................................................357 9.2.1 Homers Ilias .....................................................................358 9.2.2 Alkaios, fr. 283.................................................................360 9.2.3 Bakchylides’ Kassandra ..................................................362 9.2.4 Horazens 10. Epode .........................................................363
9.3 9.4
Parodie eines Epos? ..................................................................366 Zur Intention der Ode................................................................367 9.4.1 Identische Personenkonstellation in Mythos und Zeitgeschichte? ................................................................368 9.4.2 Textimmanente Hinweise auf eine Allegorie?.................369 9.4.3 Andere Indizien für eine Allegorie?.................................372
9.5
Fazit...........................................................................................376
III. Teil: Ergebnisse....................................................................................379 1. Ergebnisse der einführenden Kapitel ...................................................381 2. Ergebnisse der Einzelinterpretationen .................................................383 3. Die zentralen Praetexte der untersuchten Oden ...................................388 4. Formen von Mythologemen in den untersuchten Oden.......................392 5. Zentrale Funktionen von Mythen in den untersuchten Oden ..............393 6. Schlußbetrachtung................................................................................396 Literatur......................................................................................................398 Indices ........................................................................................................427 a) Antike Autoren.................................................................................427 b) Namen und Sachen ..........................................................................442
Vorwort
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität im Dezember 2006 vorgelegten Dissertation. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Wilhelm Blümer, der diese Arbeit stets mit regem Interesse förderte und bei fachlichen wie menschlichen Problemen immer ein trefflicher Ratgeber war. Frau Prof. Christine Walde danke ich für die Übernahme des Korreferates und zahlreiche wichtige Hinweise. Danken möchte ich auch Frau Prof. Sabine Föllinger (Bamberg), Herrn Prof. Jochen Althoff und Herrn Prof. Jürgen Blänsdorf, deren Gutachten wertvolle Anmerkungen enthielten. Herrn Prof. Althoff gegenüber bin ich zudem zu Dank verpflichtet, weil er mir als seinem gräzistischen Assistenten gestattete, ein latinistisches Thema zu behandeln, und dennoch stets ein offenes Ohr für meine Anliegen hatte. Zahlreiche Menschen haben mich in vielfältiger Weise unterstützt, insbesondere Erhard Breuer, Rebekka Schirner, Dr. Jochen Walter und Dr. Alexander Zerfaß. Ihnen allen danke ich herzlich. Außerdem danke ich den Herausgebern, insbesondere Herrn Prof. Siegmar Döpp, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Hypomnemata« sowie Frau Dr. Ulrike Blech vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die hervorragende Betreuung. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, denen ich mehr verdanke, als ich in Worte fassen kann. Mainz, im Juli 2008
J.B.
I. Teil: Prolegomena
1. Einführung
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist der Mythos in den Oden des Horaz.1 Die Bedeutung des Mythos als eines wesentlichen Konstituens der antiken Kultur ist allseits bekannt; insbesondere die Literatur und die Bildende Kunst der Griechen ebenso wie der Römer sind maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit mythischen Themen geprägt. Dies gilt auch für die verschiedenen literarischen Gattungen angehörenden Werke des augusteischen Dichters Horaz: Immer wieder findet man in allen horazischen Genera Namen, die mit Gestalten des Mythos verbunden sind, kürzere oder ausführlichere Anspielungen auf Mythen, Erzählungen mythischer Sujets oder sonstige mythische Elemente (im Folgenden auch »Mythologumena« oder »Mythologeme« genannt).
1.1 Relevanz des Forschungsgegenstandes Innerhalb des horazischen Œuvres nehmen jedoch die Oden, die zuweilen als »das bedeutendste, das einflußreichste Corpus der abendländischen Lyrik« angesehen werden,2 eine Sonderstellung hinsichtlich des Mythos ein. Dies gilt einerseits in quantitativer Hinsicht, wie die folgende, einer einschlägigen Untersuchung des finnischen Philologen Teivas Oksala entnommene Übersicht zeigt, welche den Anteil von Versen religiösen oder mythischen Inhalts an der jeweiligen Gattung quantifiziert:3
1 Welche Definition des Begriffes »Mythos« dieser Arbeit zugrundeliegt, wird unten im I. Teil, Kap. 2 näher erläutert. 2 So z.B. Kytzler (1996) 76f. 3 Oksala (1973) 9, Anm. 1. – Daß eine Addition der Bereiche »Religion« und »Mythos/Mythologie« allerdings methodisch nicht unproblematisch ist, wird aus den Ausführungen im I. Teil, Kap. 3 ersichtlich werden. Überdies läßt sich nicht a priori ausschließen, daß der Mythos als Denk- und Erzählform auch in prima facie nicht-mythischen Aussagen zum Tragen kommen könnte, so daß derartige Passagen in einer solchen quantitativen Auswertung keine Berücksichtigung fänden.
16
I. Teil: Prolegomena Mythologie überhaupt, Namen usw.
Erzählung, Ereignis, Szene
Oden
41%
15%
Epoden
21%
9%
Satiren
11%
4%
Episteln
10%
4%
Man sieht deutlich, daß in den Oden (auch carmina genannt)4 sowohl der Anteil der Mythologumena insgesamt als auch der Anteil ausführlicher gestalteter Erzählungen, Ereignisse oder Szenen signifikant höher ist als in den anderen von Horaz gepflegten Gattungen. Mythologeme sind also ein klar erkennbarer, immer wieder auftretender Baustein der poetischen Struktur der Oden.5 Aber auch was die Qualität der Mythologumena in den Oden betrifft, so offenbaren die vier Oden-Bücher schon bei einer flüchtigen Lektüre eine immense Vielfalt an Arten, wie Horaz Mythen zu poetischen Zwecken verwendet. Diese Mannigfaltigkeit verschiedener Formen und Funktionen mythischer Elemente legt es nahe, auch nach qualitativen Kriterien gerade die carmina zum Gegenstand einer Untersuchung über den Mythos bei Horaz zu machen. Wenn nun aber die Mythologeme in den Oden sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht eine singuläre Stellung in Horazens Œuvre einnehmen, so könnte man angesichts der Literaturflut zu Horaz, die bereits besteht und immer noch beständig wächst,6 vermuten, daß auch für dieses Forschungsgebiet Terenzens bekanntes Bonmot nullumst iam dictum quod 4
Zu den Werktiteln »carmina« bzw. »Oden« vgl. z.B. Schröder (1999) 71ff. Dieser Befund fügt sich gut in das Bild ein, welches sich aus Horazens theoretischen Äußerungen ergibt. So nennt er in der ars poetica Götter und Heroen explizit als ein mögliches Thema lyrischer Dichtung (Musa dedit fidibus divos puerosque deorum […] referre, V. 83ff.). Dazu nicht im Widerspruch steht eine Passage in der Ode 3,19, wo ein Symposionsteilnehmer zurechtgewiesen wird, weil er zu einer unpassenden Gelegenheit seine mythologische Gelehrsamkeit unter Beweis stellt (quantum distet ab Inacho / Codrus pro patria non timidus mori / narras et genus Aeaci / et pugnata sacro bella sub Ilio: // quo Chium pretio cadum / mercemur, quis aquam temperet ignibus, / quo praebente domum et quota / Paelignis caream frigoribus, taces, V. 1ff.). Wenn auch nach Meinung des Sprechers nicht alle Situationen für den Vortrag von Mythologumena geeignet sind, so schmälert dies sicherlich nicht die generelle Bedeutung des Mythos für die horazische Lyrik. 6 Lesenswert, aber zum Glück humorvoll übertrieben sind die Bemerkungen von Wilkinson (1968) iv zum damaligen Stand der allgemeinen Horazforschung: »sooner or later you find that your cherished trouvaille has been catalogued for years in some more or less remote museum; whereupon […] you may curse […] with Donatus ›Pereant qui ante nos nostra dixerunt‹.« 5
1. Einführung
17
non dictum sit prius zutreffen könnte.7 Auf welchen neueren Arbeiten die vorliegende Untersuchung aufbauen kann bzw. mit welchen Ansichten sie sich auseinanderzusetzen hat, soll der folgende Überblick über die einschlägige Forschungsliteratur darlegen.
1.2 Überblick über die neuere Forschung zum Mythos bei Horaz Bei der folgenden Darstellung ist es schwierig, Entwicklungslinien hervorzuheben, da das Thema »Mythos bei Horaz« bzw. »Mythos in den Oden« nur sehr selten in seiner Gesamtheit untersucht wurde. Vielmehr griffen die einzelnen Arbeiten meist kleine Gebiete aus diesem großen Themenkomplex heraus, oder sie begnügten sich mit Stellenauflistungen, so daß dieser Überblick keinen deutlich erkennbaren Verlauf der Forschungsdiskussion nachzeichnen kann. Im Folgenden werden die vorgestellten Titel daher in drei Kategorien eingeteilt: »Materialsammlungen«, »Darstellungen einzelner Mythenfunktionen« sowie »Umfassendere Studien zum Mythos bei Horaz«. Innerhalb dieser Kategorien wiederum werden Arbeiten, die das gleiche Gebiet behandeln, zusammengefaßt, so daß es mitunter innerhalb einer Kategorie zu Abweichungen von der Chronologie kommt. 1.2.1 Materialsammlungen Da systematische Materialsammlungen eine wichtige Grundlage für eingehende Untersuchungen sind, seien sie an den Anfang dieses Forschungsüberblickes gestellt. Eine solche geordnete Materialsammlung stellt die Arbeit von Michel Psichari dar.8 Diese von Anatole France, dem französischen Literaturnobelpreisträger des Jahres 1921, im Vorwort in höchstem Maße gelobte Untersuchung bot eine Stellenübersicht über das Auftreten verschiedener Götter sowie kurze Beschreibungen einzelner Gottheiten, wobei der jeweilige Gedichtkontext keine Berücksichtigung fand. Psichari teilte die einzelnen Stellen in zwei große Kategorien ein: »Horace interprète 7 Ter. Eun. 41. – Lateinische Autoren und ihre Werke werden im Folgenden nach dem Index des ThLL (51990) zitiert, griechische nach der Übersicht im dritten Band des Neuen Pauly. Gelegentlich wird allerdings von den dortigen Zitierweisen abgewichen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Kursiviert werden Zitate antiker lateinischer Autoren; auf Latein verfaßte Forschungsliteratur jedoch wird nicht kursiviert. Antike Kommentatoren und Scholien werden zusätzlich mit Anführungszeichen zitiert. 8 Psichari (1904): »Index raisonné de la mythologie d’Horace avec une préface d’Anatole France«. – Um eine Orientierung zu erleichtern, werden im vorliegenden Forschungsüberblick die Titel der Arbeiten – anders als im Rest der Untersuchung – jeweils mitzitiert.
18
I. Teil: Prolegomena
d’autrui« und »Horace son propre interprète«, wobei dieser Einteilung ein rein äußerliches Kriterium zugrundelag (»Horace est interprète d’autrui quand il fait parler un de ses personnages; il est son propre interprète quand il parle pour lui-même«, S. 11, Anm. 1), welches schon bei damaligen Rezensenten auf Kritik stieß.9 Fast vierzig Jahre später legte Domenico Bassi eine weitere Materialsammlung vor,10 welche nun neben den Göttern auch die Heroen und die aus dem Mythos bekannten Sterblichen einschloß, wobei der Autor die horazische Darstellungskunst lobte (»Mirabile la sua abilità nel richiamare […] l’attenzione sul momento principale […] che basta a far rivivere una figura mitica«, S. 42).11 1.2.2 Darstellungen einzelner Mythenfunktionen Daneben waren aber auch die Funktionen einzelner mythischer Passagen immer wieder Gegenstand der Forschung. Wichtige Kategorien, mit denen auch die vorliegende Arbeit operieren wird (unter anderem mythische Metonymien, Exempla, Mythos und Dichtung, Mythos und Geschichte), benannte Irmgard Welsch;12 daneben bot sie einen Überblick über die auftretenden Gestalten des Mythos und deren Verteilung auf die einzelnen horazischen Gattungen. Daß verschiedene Formen von Mythologemen dieselbe Funktion erfüllen können, vermochte Arnold Bradshaw zu zeigen. Er konstatierte in seinem Aufsatz, der sich mit drei an Mädchen gerichteten Oden mit mythischen Passagen beschäftigte,13 daß das »moral teaching« dieser Oden mittels »therapeutisch« eingesetzter Mythologie geleistet werde. »Working mainly through its mythical elements the poem operates as a kind of psychological therapy«, stellte er u.a. fest (S. 164). Wegweisend war dabei, daß er drei verschiedene Formen mythischer Elemente (mythisches Beispiel, Götterhym9 Vgl. z.B. Gemoll (1904) 676f. – Zwei ältere Arbeiten tragen vielversprechende Titel; leider konnten beide nicht eingesehen werden. Der Titel der Arbeit von P. Niementowski (»Der mythologische Inhalt der Gedichte des Horaz«, 1876) legt die Vermutung nahe, daß es sich um eine Art Materialsammlung handeln könnte. Die Arbeit von G. Olivieri (»Le favole mitologiche delle odi di Orazio confrontate con le pitture di Pompei ed Ercolano«, 1903) scheint einen kunsthistorisch-archäologischen Ansatz verfolgt zu haben. 10 Bassi (1942-43): »La mitologia in Orazio«. 11 Interessant wäre sicherlich auch die Arbeit von R. Chabut (»La religion et la mythologie dans les Odes d’Horace«, 1943) gewesen. Hierbei handelt es sich aber um eine unpublizierte Abschlußarbeit, die nicht eingesehen werden konnte. 12 Welsch (1971): »Dargestellte Wirklichkeit bei Horaz. Untersuchungen zur Form und zum Aussagewert von Stilfiguren und der Stoffgebiete Fabel und Mythos«. 13 Bradshaw (1978): »Horace and the therapeutic myth: Odes 3,7; 3,11, and 3,27«.
1. Einführung
19
nus, ausgedehnte mythische Szene) nebeneinander in eine Gesamtinterpretation einbezog. Eine Vielzahl von Funktionen (Mythen im Zusammenhang mit persönlichen Urteilen, Gefühlen, Historischem, Poetologie und Politik; ferner auch Therapie und literarische Bereicherung durch Mythen) konstatierte Ewa Nowak in ihrem Beitrag;14 darüber hinaus hob sie die dem Kontext äußerst angemessene Verwendungsweise mythischer Eigenheiten bei Horaz hervor (S. 281: »notandum est hoc loco omnium argumentorum fabulosorum proprietates apud Horatium ad carminum structuram officiumque aptissime accommodari«). Vier große Gruppen von Mythenfunktionen unterschied hingegen Virginio Cremona:15 »miti a fine parenetico, miti autobiografici, mito e attualità, mito e storia.« (S. 55). Allerdings ist die von ihm vorgenommene Einordnung einzelner Beispiele in die entsprechenden Kategorien manchmal nicht ganz nachzuvollziehen: Zum Beispiel könnte man die Teukrosepisode in carm. 1,7 ebensogut zur Kategorie »mito a fine parenetico« wie zur Kategorie »mito e attualità« rechnen. Zudem verzichtete Cremona auf eine Interpretation seiner Beispiele. Viktor Pöschl wiederum konzentrierte sich in seinem Überblicksartikel in der »Enciclopedia Oraziana« auf lediglich drei Mythenfunktionen: die Allegorie, das mythische Beispiel und die Symbolik für den schöpferischen Prozeß; daneben lobte er allgemein die horazische Art des Mythengebrauchs.16 Wichtige Beobachtungen zu einer speziellen Mythenfunktion, nämlich zum mythischen Beispiel, legte Dorothee Gall vor,17 die insbesondere Auswahl und Anordnung der Beispiele untersuchte; dabei sah sie die Bedeutung der in mythischen Exempla auftretenden Heroen primär in der Darstellung ihres Leidens. Drei Oden mit mythischen Beispielen (carm. 1,7; 3,11 und 3,27) untersuchte auch Viktor Pöschl.18 Dabei gelangte er zu der Ansicht, daß die »mythischen Szenen und Erzählungen […] so etwas wie die Ideen in der platonischen Philosophie [sind, die] das Einzelne mit einem Allgemeinen [verknüpfen]« (S. 144). Guiseppina Basta Donzelli schließlich legte in ihrem Aufsatz19 eine Sammlung mythischer Beispiele aus allen horazischen Genera vor und zog das Fazit (S. 55), solche Exempla seien zur moralischen Unterweisung und in ideologisch-enkomiastischer Funktion gebraucht.
14
Nowak (1981): »De argumentorum fabulosorum in Horatii carminibus munere poetico«. Cremona (1993): »Orazio fra mito e storia«. 16 Pöschl (1997): »Art. mitologia«, hier 292: »conferisce [ai miti] un’energia vitale nuova inserendoli di volta in volta nei vari contesti delle sue composizioni.« 17 Gall (1981): »Die Bilder der horazischen Lyrik«. 18 Pöschl (1981): »Mythologisches in den Horazoden 1,7; 3,11 und 3,27«. 19 Basta Donzelli (1994): »Exempla mitici oraziani«. 15
20
I. Teil: Prolegomena
Mit der horazischen Hymnendichtung hingegen beschäftigte sich Jerzy Danielewicz.20 In der lateinischen Zusammenfassung seines polnischen Aufsatzes kam er zu dem Schluß (S. 101), Horaz habe den Aufbau älterer Hymnen genau gekannt (»poetam Romanum hymnorum antiquorum structuram penitus cognitam habuisse«), habe diese Formen aber eher auf neue Weise benutzt als nachgeahmt (»in novandis potius quam imitandis exemplis Graecis«), um sich als eigenständiger Künstler zu zeigen (»ut se sui iuris artificem praeberet«). Einen anderen bemerkenswerten Ansatz verfolgte Helmut Krasser.21 Seine These lautete, daß Horaz sich in den Oden als ein θεοφιλής, als ein den Göttern lieber, von ihnen begnadeter Mensch darstellen wolle. Diese Art von Selbstdarstellung oder »Imagepflege«, so Krasser (S. 33), die aus der späten römischen Republik bekannt gewesen sei, operiere zum Zwecke der Selbstmythisierung mit Ereignissen, wie sie aus den Biographien (wohlgemerkt nicht aus den Werken!) griechischer Dichter bekannt seien.22 Krasser, der das in einigen Oden geschilderte Eingreifen von Göttern als Bestandteil einer »lyrischen Biographie« auffaßte, behandelte im Einzelnen vor allem diejenigen Oden, in denen sich Horaz mit Bacchus auseinandersetzt. 1.2.3 Umfassendere Studien zum Mythos bei Horaz Doch der Mythos in Horazens Gedichten wurde auch unter weitergefaßten Fragestellungen untersucht. So standen die Eigenart und die Qualität des horazischen Mythosgebrauchs im Zentrum des Interesses von Margaret King Moore.23 In ihrer Zusammenfassung betonte sie, daß bei Horaz eine »simplicity of […] mythology« vorliege, deren Grund aber nicht Unkenntnis des Autors sei. Horazens ganzer Mythengebrauch sei vielmehr Teil einer »revolt against artificiality and erudition« der hellenistischen Dichtung und ihrer Anhänger in Rom (S. 38). Zum gegenteiligen Ergebnis jedoch kam R. Marache, der in seinem Aufsatz24 einen »emploi très spécial du mythe« bei Horaz konstatierte (S. 65). Gerade in den mythischen Anspielungen sah er eine Gemeinsamkeit mit den Alexandrinern. Recht allgemein fiel sein Fazit über die Intention von Horazens Mythengebrauch aus (ebd.): »[Il] cherche à évoquer un monde mythique, à ouvrir l’imagination de son lecteur sur le domaine enchanté des héros et des dieux.« 20
Danielewicz (1974): »De Horatii carminibus hymnicis«. Krasser (1995): »Horazische Denkfiguren. Theophilie und Theophanie als Medium der poetischen Selbstdarstellung des Odendichters«. 22 Vgl. zu diesem Komplex auch Champlin (2003). 23 King Moore (1930): »The Divine Mythology of Horace«. 24 Marache (1959): »Le mythe dans les Odes d’Horace«. 21
1. Einführung
21
Als Meilenstein der Horazforschung gilt noch heute die Monographie Eduard Fraenkels.25 In dieser (mitunter polemischen) Abhandlung beschäftigte sich der Autor unter Betonung der Autonomie des Einzelgedichtes mit Horazens Gesamtwerk. Obwohl Fraenkel also keine Untersuchung speziell zu den Mythen vorlegte, zog er bei seinen Interpretationen auch die mythischen Elemente heran und deutete sie meist skeptisch-zurückhaltend. Insbesondere verfocht er dabei die zu seiner Zeit noch umstrittene Ansicht, daß Aussagen des Sprechers über mythische Ereignisse oder göttliche Epiphanien nicht ohne Weiteres herangezogen werden dürften, um Aussagen über die Ansichten des historischen Horaz zu treffen. Speziell dem Mythos in den Oden widmete bald darauf Werner Nagel eine Monographie.26 Der Untertitel dieser Arbeit (»Ausdruck einer den Subjektivismus ablehnenden Haltung des Dichters«) deutete aber schon an, daß Nagel nur eine bestimmte These plausibel machen wollte, ohne eine umfassende Darstellung zu beabsichtigen. Intensiver setzte er sich lediglich mit carm. 3,27 und carm. 1,15 auseinander. Unter der Fragestellung »how Horace adapted the work of a more credulous age to the taste of his educated Roman audience« (S. 433) analysierte Francis Cairns mehrere problemreiche Oden, die er unter dem Begriff »religious odes« subsumierte;27 hierbei galt sein Interesse jedoch eher Einzelproblemen. Den allgemeinen Charakter des Mythischen in den Oden untersuchte Milena Torraca.28 Für die längeren mythischen Passagen in den Oden konstatierte sie einen »carattere demonico del mondo divino« (S. 310). Diese Auffassung erscheint aber nicht unproblematisch: So glaubte Torraca zum Beispiel (S. 311), es sei in carm. 3,4 nicht die vis consili expers, die den Giganten zum Verhängnis werde, sondern ihr Aufbegehren gegen die Götter (»l’offesa arrecata alla divinità«), obwohl Horaz in Vers 65 dieses Gedichtes durch die Wendung mole ruit sua das eigene Verschulden der Betroffenen explizit hervorhebt. Nur so konnte Torraca dann auch ein durchweg negatives Götterbild feststellen und behaupten (S. 312): »la divinità appare dunque costantemente crudele, invidiosa, indifferente verso gli uomini e pronta a servirsi di loro a suo capriccio.« Die letzte umfassende Untersuchung zum Thema »Mythos bei Horaz« legte Teivas Oksala vor nunmehr fünfunddreißig Jahren vor.29 In seiner Arbeit nahm er Stellung zur Frage der horazischen Religiosität und trug Aussagen über die großen und kleineren Gottheiten zusammen; er blickte auf die 25 26 27 28 29
Fraenkel (1957): »Horaz«. Nagel (1964): »Der Mythos in den Oden des Horaz«. Cairns (1971): »Five ›religious‹ odes of Horace«. Torraca (1973): »L’elemento mitico e demonico in Orazio Lirico«. Oksala (1973): »Religion und Mythologie bei Horaz. Eine literarhistorische Untersuchung«.
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I. Teil: Prolegomena
»grossen ideologischen Synthesen« (S. 85ff.; damit sind mythische Interpretationen der Geschichte gemeint), auf die Trojasage, den Rommythos, auf Heroengestalten, die paradigmatische Topik, die literarische Rhetorik sowie auf Vorgänger und Zeitgenossen des Horaz. Darüber hinaus ging Oksala kurz auf einige kontrovers diskutierte Gedichte ein. Aufgrund dieser Fülle behandelter Gegenstände ist Oksalas Monographie als Fundgrube für Material und als Ausgangspunkt für eine eingehendere Beschäftigung mit einigen Problemkreisen noch immer unentbehrlich. Schließlich widmete Sandra Romano Martín der Mythologie in den horazischen Satiren einen Aufsatz,30 in dem sie einige Passagen vorstellte, die auf Mythen rekurrieren, und deren Funktion thetisch formulierte. Sie gelangte zu dem Ergebnis (S. 68), daß Mythen Horaz in den Satiren zu scherzhaften Zwecken dienten (»para crear un chiste. [...] para deformar, ridiculizar, exagerar«) und zu einer »interacción intelectual« animierten, wobei Mythologumena sich gewöhnlich auf einen ganz bestimmten literarischen Referenztext bezögen.
1.3 Präzisierung der Fragestellung und methodische Überlegungen Wie der Überblick über die neuere Forschungsliteratur gezeigt hat, wurden einzelne Aspekte des Mythos in Horazens Oden durchaus eingehend analysiert; auch hat man versucht, durch das Zusammentragen von Einzelstellen den Charakter der Mythologumena insgesamt zu illustrieren. In diesen letzteren Werken wurde aber weitgehend darauf verzichtet, den Kontext der Einzelstellen zu berücksichtigen und die Eigenarten und Formen der Mythologeme sowie ihre Funktionen innerhalb der jeweiligen carmina für die Interpretation fruchtbar zu machen. Überdies ist zu verzeichnen, daß für viele Oden zwar Vorbilder bzw. Praetexte31 aus antiken Scholien bekannt sind und daß die Kommentatoren im Laufe der Jahrhunderte etliche echte oder vermeintliche Parallelen zusammengetragen haben. Dieses wertvolle Material fand jedoch im Rahmen von Untersuchungen des Mythos bei Horaz bislang nicht genügend Berücksichtigung. Es erscheint daher wünschenswert, daß eine Studie zum Mythos in den Oden des Horaz mögliche Vorbilder bzw. Praetexte mythischer Elemente ebenso in die Betrachtung miteinbezieht wie ihre Formen und Funktionen, um zu interpretatorischen Erkenntnissen zu gelangen. Zugleich wäre es lohnend, wenn auf diesem 30
Romano Martín (1996): »La mitología en la sátira romana (I): Horacio y Persio«. Ob es im Zusammenhang mit den Oden des Horaz angemessen ist, statt des herkömmlichen Begriffes »Vorbild« den aus der Intertextualitätsforschung stammenden Terminus »Praetext« zu verwenden, wird noch zu klären sein; vgl. dazu im I. Teil Kap. 4. Dennoch sei sein Gebrauch vorerst gestattet. 31
1. Einführung
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Wege ein möglichst vielfältiges Bild vom Mythosgebrauch des Horaz in den Oden gezeichnet würde. Hieraus ergeben sich Zielsetzungen und Methoden der vorliegenden Arbeit: Sie will Praetexte, Formen und Funktionen von Mythologumena in den Oden des Horaz untersuchen und für die Interpretation der jeweiligen Gedichte nutzbar machen; auf diesem Wege will sie ein facettenreiches Bild, gleichsam eine Phänomenologie32 des horazischen Mythosgebrauches entwerfen. Im Einzelnen bedeutet dies Folgendes: 1.3.1 Praetexte Mögliche Praetexte für mythische Elemente in den Oden sollen zunächst dargestellt werden. Im Anschluß daran ist zu prüfen, ob es hinreichend plausibel ist bzw. vom Autor selbst signalisiert wird, daß er bei der Abfassung einer Ode auf einen bestimmten potentiellen Praetext rekurrierte. Wenn dies der Fall ist, gilt es, Parallelen und Abweichungen zwischen Text und Praetext zu ermitteln und auf diese Weise festzustellen, wie Horaz seine eigene Darstellung akzentuiert hat. Singuläre Gestaltungen und mythische Details, die vor Horaz nicht bezeugt sind, verdienen hier besondere Beachtung, da gerade solche bewußten Abweichungen von Praetexten Hinweise auf die Intention des Autors geben könnten.33 Dennoch wird die Interpretation in der Regel vom Einzelgedicht ausgehen und zunächst versuchen, seine Einzelelemente wie seine Gesamtheit gedichtimmanent zu analysieren und zu verstehen. Der Blick auf Praetexte und Parallelen wird dann diese Erkenntnisse gegebenenfalls modifizieren und erweitern resp. ergänzen.34
32 Das Substantiv »Phänomenologie« wird hier nicht im streng terminologisch-philosophischen Sinne – etwa im Sinne Johann Heinrich Lamberts – verwendet (vgl. hierzu etwa HWPh s.v.), sondern soll ein aus möglichst vorurteilsloser Analyse und Interpretation einzelner Phänomene gewonnenes, repräsentatives Gesamtbild bezeichnen. 33 Vgl. hierzu auch die Ausführungen über die Wandelbarkeit des Mythos im I. Teil, Kap. 2. Vgl. ferner z.B. Föllinger (2003) 30: »Wenn man die Tradition einer Gestaltung kennt, kann man das Besondere einer neuen Gestaltung erst richtig beurteilen.« 34 Somit nimmt auch diese Untersuchung ihren Ausgang vom Axiom der Autarkie der einzelnen Ode, wie es u.a. postuliert wurde von Fraenkel (1957) 246f. (»Der Leser, der vergißt, daß jede Horazode ein in sich geschlossenes Ganzes ist, läuft Gefahr, von einem Irrlicht aufs Moor gelockt zu werden«) und Pöschl (1970) 155 (»Jedes Horazgedicht stellt eine lebendige Einheit dar, die zunächst aus sich selber heraus verstanden werden muß.«). Sie bleibt allerdings nicht bei diesem Axiom stehen.
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I. Teil: Prolegomena
1.3.2 Formen35 Die Untersuchungen zur Form werden zunächst den äußeren Umfang der Mythologumena zu berücksichtigen haben: Handelt es sich um eine kurze Anspielung, um eine detailliert ausgeführte Szene oder gar um eine Ode, die gänzlich aus mythischer Erzählung besteht? Dann verdient auch die Art der Verbindung eines mythischen Elementes mit dem nicht-mythischen Kontext Beachtung, ebenso die Stellung eines Mythologems innerhalb des Gedichtes; mit anderen Worten: Die gedankliche und die syntaktische Integration muß erfaßt werden. Aber auch die Ausdrucksform im allgemeinen Sinn (Bericht, Erzählung, Ausruf, Wunsch, reale oder irreale Aussage), in der ein Mythologumenon auftritt, ist zu betrachten. Überdies ist es von Bedeutung, ob mythische Elemente in einer Ode alleine oder gehäuft auftreten; im letzteren Fall ist auch ihr Verhältnis untereinander (Häufung gleicher oder unterschiedlicher Motive, eventuelle gegenseitige Affirmation oder Relativierung) zu untersuchen. Schließlich ist es auch unter formalen Gesichtspunkten aufschlußreich, ob ein Mythologem von einer Art »Quellenangabe« (fertur bzw. dicunt o.ä.) oder von einer mehr oder minder expliziten Deutungsanweisung begleitet wird. 1.3.3 Funktionen Hier sollen selbstverständlich nicht in Vorwegnahme der Ergebnisse dieser Arbeit bereits die einzelnen Funktionen verschiedener Mythologumena dargelegt werden. Vielmehr sollen diejenigen Aspekte benannt werden, die bei der Bestimmung von Funktionen prinzipiell Beachtung finden müssen. Abgesehen davon, daß eine Analyse der Funktion eines mythischen Elementes auch jeweils dessen stoffliche und formale Seite zu berücksichtigen hat, ist zu bedenken, daß man mit Funktionen auf verschiedenen Ebenen rechnen muß: Wenn der Sprecher in einer Ode eine Person mit einem Mythologem konfrontiert, so kann dieses auf die apostrophierte Person eine ganz andere Wirkung ausüben als auf die Rezipienten des Gedichtes. Gibt es innerhalb der imaginierten Sprechsituation mehrere Personen, muß man möglicherweise auch zwischen den potentiell verschiedenen Wirkungen auf die einzelnen Personen differenzieren. Nimmt man nun ferner Oden in den Blick, in denen sich Personen des Gedichtes in der Rede mythischer Elemente bedienen, und bedenkt man überdies, daß der Sprecher in einer Ode nicht
35
Welche Gesichtspunkte Untersuchungen zu Formen und Funktionen von Mythologumena generell berücksichtigen sollten, hat Reinhardt (1974) 41ff. überzeugend dargelegt.
1. Einführung
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immer mit dem Autor identisch sein muß,36 so erscheint es notwendig, auch zwischen der vom Sprecher und der vom Autor intendierten Funktion eines Mythologumenons zu unterscheiden. So könnte zum Beispiel eine Person in einer Ode ein Mythologem zu argumentativen Zwecken einsetzen, wobei sie den Mythos für ein adäquates Ausdrucksmittel hielte. Der Autor hingegen könnte ihr dieses mythische Element in den Mund legen, um einen komischen Effekt zu erzielen, gerade in dem Wissen, daß der Mythos in diesem konkreten Fall eben kein adäquates Ausdrucksmittel darstellt.37 1.3.4 Auswahl und Anordnung der zu untersuchenden Oden Angesichts der Tatsache, daß von den insgesamt einhundertdrei carmina nur sehr wenige keinerlei Mythologeme enthalten, ist, da aufgrund der zuvor beschriebenen Anforderungen jeweils Gesamtinterpretationen der besprochenen Gedichte geboten werden müssen, für eine Untersuchung aus praktischen Gründen eine exemplarische Auswahl zu treffen, so daß durch die intensive Analyse einer überschaubaren Anzahl von Gedichten möglichst aussagekräftige Ergebnisse erzielt werden können. In die vorliegende Studie wurden einerseits Oden aufgenommen, die in einem Gestaltungszusammenhang mehrere mythische Elemente aufweisen, so daß ihre Behandlung aus Gründen der Darstellungsökonomie angezeigt erschien, andererseits Gedichte, die in der Forschung äußerst kontrovers diskutiert werden, so daß der hier gewählte hermeneutische Zugang in besonderer Weise fruchtbar zu sein versprach. Genauere Erläuterungen dieser Kriterien werden am Anfang der jeweiligen Einzeluntersuchungen gegeben. Obgleich natürlich jedwede Auswahl mehr oder minder arbiträren Charakter hat,38 dürfte es möglich sein, auf der Grundlage der für diese Arbeit ausgewählten neun Oden ein facettenreiches Bild der zentralen Praetexte, Formen und Funktionen horazischer Mythologumena zu erarbeiten. Die Anordnung der zu untersuchenden Gedichte erfolgt weder nach chronologischen Gesichtspunkten noch nach der Reihenfolge ihres Auftretens in der horazischen Gedichtsammlung. Kriterium für die Anordnung ist vielmehr das vom Autor signalisierte Verhältnis der Mythologeme zum NichtMythischen: Zu Anfang werden Oden behandelt, in denen Horaz die Über36
Zum hiermit angesprochenen Problem des lyrischen Ichs vgl. im I. Teil Kap. 3.2. Zu den verschiedenen Möglichkeiten, wie Autor, Sprecher, Personen des Textes und Rezipienten in ihrem jeweiligen Verhältnis zum Text und zueinander kombiniert werden können, vgl. Weimar (1993) 139ff. 38 Trotz aller Bemühungen, Zirkelschlüsse oder Präjudizien zu vermeiden, geht die Aufnahme eines Gedichtes in die Auswahl immer mit einer »Vorvermutung« über seinen Charakter einher, was allerdings ein generelles hermeneutisches Problem darstellt. 37
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I. Teil: Prolegomena
gänge zwischen Mythischem und Nicht-Mythischem deutlich markiert; anschließend werden Gedichte in den Blick genommen, in denen diese Grenze nicht mehr klar definiert werden kann. Schließlich bilden carmina den Gegenstand der Betrachtung, in denen kaum noch Nicht-Mythisches erkennbar ist.
1.4 Zur Disposition Nachdem nun die genaue Fragestellung und die methodischen Prinzipien dieser Arbeit erläutert worden sind, soll jetzt ein Überblick über die Disposition gegeben werden: Zunächst wird erläutert, welcher Mythosbegriff dieser Arbeit zugrundeliegt und welche Spezifika des Mythos in Rom und in der römischen Literatur zu berücksichtigen sind (I. Teil, Kap. 2). Im Anschluß daran ist zu überlegen, ob auch die persönliche Religiosität des historischen Horaz in die Interpretation einzelner Oden einbezogen werden kann bzw. soll (I. Teil, Kap. 3). Überdies muß geprüft werden, ob die aus der neuphilologischen Forschung stammende Theorie der Intertextualität mitsamt ihrer Begrifflichkeit auch auf die Oden des Horaz gewinnbringend appliziert werden kann (I. Teil, Kap. 4). Da ferner die Frage nach möglichen Vorbildern bzw. Praetexten einen wichtigen Aspekt des hier zu behandelnden Themas darstellt, erscheint es geradezu unumgänglich, einige griechische und römische Dichter resp. Gattungen, mit denen Horaz wohlvertraut war, und ihren Umgang mit dem Mythos in den Blick zu nehmen (I. Teil, Kap. 5). Gewissermaßen als Korrektiv dient dann das sich anschließende Kapitel über »Tradition und Originalität« (I. Teil, Kap. 6). Hier wird der Dichter selbst zu Wort kommen und sich zur Problematik von literarischer Übersetzung, Übernahme und Transformation äußern, so daß die Untersuchung in solchen Fragen dann auf einen aus Horaz selbst gewonnenen Maßstab zurückgreifen kann. Aufbauend auf diesen Skizzen, die selbstverständlich nicht beanspruchen, jene Themen erschöpfend zu behandeln, werden dann im II. Teil die Einzeluntersuchungen der ausgewählten neun Oden vorgenommen. Den Abschluß der Arbeit soll der Versuch einer Synthese der Einzelbeobachtungen zu Praetexten, Formen und Funktionen von Mythologemen in den Oden des Horaz bilden.
2. Der dieser Arbeit zugrundegelegte Mythosbegriff
Trotz oder gerade wegen des lebhaften Interesses zahlreicher Disziplinen am Mythos (z.B. der Altertumswissenschaften, der Philosophie, der Ethnologie und der allgemeinen Kulturwissenschaft) gibt es keine allgemein akzeptierte Definition dieses Begriffes.1 Obwohl diese Feststellung bereits zur Exordialtopik von Beiträgen zum Mythos gehört, muß sie auch hier am Anfang stehen, um die Problemlage zu verdeutlichen. Ziel kann daher im Folgenden nicht sein, eine verbindliche Definition des Begriffes »Mythos« zu erarbeiten. Vielmehr soll eine weitgehend akzeptierte Deutung von »Mythos« vorgestellt und gegebenenfalls modifiziert werden; im Anschluß daran wird man die Spezifika des Mythos in Rom und in der römischen Literatur in den Blick nehmen müssen. Daraus sollte sich eine für diese Untersuchung tragfähige Konzeption von Mythos ergeben.
2.1 Was ist ein Mythos? Als Ausgangspunkt sei den folgenden Überlegungen die weithin akzeptierte Konzeption von Mythos zugrundegelegt, welche Walter Burkert vertritt:2 Mythen sind traditionelle Erzählungen, die Sinnstrukturen bilden und eine komplexe, überindividuelle Wirklichkeitserfahrung verbalisieren.
Hier gilt es zunächst, den Ausdruck »traditionelle Erzählungen« näher zu erläutern: Charakteristikum von Mythen ist, daß sie tradiert werden, daß sie innerhalb einer Gruppe, eines Clans oder einer Gesellschaft zirkulieren. Dies impliziert jedoch nicht notwendigerweise, daß Erzählungen besonders alt, ja – wie auch immer man dies versteht – ursprünglich sein müssen, um als Mythen gelten zu können.3 Entscheidend ist, daß sie tradiert werden. Diese Konzeption von »traditionell« schließt somit auch »junge« Mythen ein, Erzählungen, die von einem Literaten geschaffen und dann stetig tradiert wurden. In diesem Sinne können z.B. auch Erzählungen, die erstmals 1 Granarolo (1974) 193: »Peu de termes, dans le langage actuel, pâtissent d’une aussi fâcheuse ambivalence.« Vgl. ferner z.B. Burkert (1993) 9 und Föllinger (2003) 13. 2 Abstrahiert aus Burkert (1979) und (1993). 3 Dies ist bekanntlich eine Auffassung, die aus der Romantik stammt, inzwischen aber als obsolet gelten darf.
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I. Teil: Prolegomena
in Ovids Metamorphosen auftraten und fortan tradiert sowie rezipiert wurden, als Mythen angesehen werden.4 Auch Änderungen am Sujet eines Mythos lassen sich mit dem Adjektiv »traditionell« in Einklang bringen: Wie z.B. Fritz Graf betont, ist ein Mythos in der Regel nicht mit einem bestimmten Text oder einer bestimmten Erzählung identisch; vielmehr transzendiert der Mythos seine jeweilige konkrete Ausformung. Die jeweilige Version, das jeweilige Werk hat einen Autor, der Mythos selbst nicht5 (wenn man von Beispielen wie den oben genannten Fällen in den Metamorphosen absieht). Es ist geradezu charakteristisch für Mythen, daß sie grundsätzlich im »Modus der Variation« existieren.6 Dadurch eröffnen sich den Autoren Gestaltungsmöglichkeiten, die Sabine Föllinger folgendermaßen charakterisiert: »Gerade die Veränderungen durch den einzelnen Autor verändern auch den Aussagewert der mythischen Erzählung, so daß derselbe Mythos, oder sagen wir besser: der um dieselbe Gestalt kreisende Mythos […] je nach Gestaltung eine unterschiedliche Deutung bewirkt.«7 »Arbeit am Mythos«, um eine Formulierung Hans Blumenbergs aufzugreifen,8 ist Dichtern also durchaus gestattet. Gleichzeitig ist aber zu betonen, daß der dichterischen Formung gewisse Grenzen gesetzt sind: Einige konstitutive Elemente und Personenverhältnisse innerhalb eines Mythos können nicht modifiziert werden, ohne daß dessen Identität dadurch destruiert würde.9 Auch die Wahl des Substantivs »Erzählungen« in der Ausgangsdefinition ist bedeutsam. Ein Mythos ist primär eine Erzählung, eine narrative Sequenz. Für die Klassische Philologie bedeutet dies, daß sie Mythen nur noch in Form von Texten fassen kann. Da ihr im Gegensatz zur Ethnologie das Studium mündlicher Traditionen durch Feldforschung naturgemäß unmöglich ist, kann sie mündliche Überlieferungen höchstens rekonstruieren.
4 Hierbei ist allerdings zu bedenken, daß die zum Teil nur fragmentarische Überlieferung der antiken Literatur ein Urteil über mögliche Quellen Ovids erheblich erschwert. 5 Graf (1985) 8. 6 So Vöhler/Seidensticker/Emmerich (2005) 2. 7 Föllinger (2003) 15. – Überdies vergleiche man Arist. poet. 17, 1455 b 16-23, wo der Handlungskern der Odyssee knapp skizziert, alles Andere aber als Ausgestaltung bezeichnet wird. Aristoteles kommt dort zu folgendem Fazit (23): τὸ μὲν οὖν ἴδιον τοῦτο, τὰ δ’ ἄλλα ἐπεισόδια. 8 Blumenberg (1996). 9 Ebendies verhandelt Aristoteles in poet. 14, 1453 b 22ff.: τοὺς μὲν οὖν παρειλημμένους μύθους λύειν οὐκ ἔστιν, λέγω δὲ οἷον τὴν Κλυταιμήστραν ἀποθανοῦσαν ὑπὸ τοῦ Ὀρέστου καὶ τὴν Ἐριφύλην ὑπὸ τοῦ Ἀλκμέωνος [...]. Dies ist auch der Kern der Definition, die Blumenberg (1996) 40 formuliert: Mythen seien »Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsmöglichkeit«. Vgl. hierzu auch Vöhler/Seidensticker/Emmerich (2005) 3: »Variabilität und Identität bedingen einander wechselseitig.« – Dennoch ist zu verzeichnen, daß z.B. die griechischen Tragiker bei ihren Gestaltungen teilweise sehr weit gegangen sind und zuweilen auch zentrale Konstellationen tradierter Mythen modifiziert haben; vgl. z.B. Seidensticker (2005) 39f.
2. Der dieser Arbeit zugrundegelegte Mythosbegriff
29
Griechische und römische Mythen sind also primär in Texten greifbar.10 Freilich gibt es auch Mythenbilder; doch ohne Erläuterungen – seien sie mündlich oder schriftlich – kann ein Bild oder eine Sequenz von Bildern kaum als einer mythischen Erzählung gleichwertig angesehen werden.11 Wenn man ein Vasenbild ohne Beischriften z.B. als Darstellung des Perseusmythos identifiziert, so gelingt dies dem Betrachter nur, weil ihm die entsprechende Erzählung bereits bekannt ist, d.h. die Erläuterungen sind bereits irgendwann zuvor erfolgt. Ohne Namen aber, d.h. ohne sprachliche Fixierung, kann es keine »personnages traditionnels« geben, wie Burkert zu Recht hervorhebt.12 Die Verbindung ganz bestimmter Handlungskomplexe mit ganz konkreten Personen ist aber ein wichtiges Charakteristikum des Mythos. Auch wenn man die Frage der schriftlichen Fixierung außer Acht läßt, muß doch die sprachliche Formulierung eines Mythos seiner bildlichen Darstellung vorausgehen.13 Ferner bedarf das Substantiv »Wirklichkeitserfahrung« einer näheren Erläuterung. Mythen transzendieren die konkrete Erzählung, als die sie jeweils gestaltet sind; sie drücken eine überindividuelle Wirklichkeitserfahrung aus, welche für ein Kollektiv von Bedeutung ist. Jan Bremmer sieht wohl zu Recht die Bedeutung für das Kollektiv im gesellschaftlichen Bereich,14 und Graf betont: »Der Mythos […] gilt allein für eine in Ort und Zeit festumrissene Gemeinschaft, in deren Tradition er ausgeformt wird.«15 Zugleich ist es typisch für Mythen, daß sie Anspruch auf Verbindlichkeit erheben, daß sie Gültiges aussagen wollen.16 Was die jeweilige Bedeutung einer konkreten mythischen Erzählung ist, kann wohl nur im Einzelfall bestimmt werden: Kosmogonische und anthropogonische Mythen erläutern den Platz des Menschen und vielleicht auch seines Volkes im Weltgefüge; 10
Zum Problem der Normativität literarischer Versionen eines Mythos vgl. Föllinger (2003) 23. Neschke-Hentschke (1987) hingegen vertritt diese symbolische Auffassung, die Bild und Sprache jeweils den gleichen Symbolwert zubilligt. Ebd. auf S. 52 formuliert sie, der Mythos sei eine »représentation des personnages traditionnels au moyen de formes symboliques, qui sont ou bien des symboles figurés ou bien linguistiques voire narratives«. 12 Burkert (1993) 15. 13 So auch Föllinger (2003) 16, und auch für Graf (1985) 191 »drückt sich Mythos privilegiert in Sprache aus«. Ders. betont ebenfalls die Wichtigkeit sprachlicher Fixierung, wenn er ebd. auf S. 192 postuliert: »methodische Sorgfalt darf hier nur jene Bilder mythisch nennen, die durch Attribute oder Beischriften eindeutig gekennzeichnet sind.« – Was das Problem des Verhältnisses von Text und Bild bei der Entstehung von Sagenbildern betrifft, vgl. z.B. Mommsen (1980), Cook (1983), Shapiro (1994) und Blümer (2001a) 228ff. – Vgl. überdies Bremmer (1994a) 64f. zur Innovationsleistung Bildender Künstler bei der Auseinandersetzung mit tradierten Mythen. 14 Bremmer (1994b) 7: »traditional tales relevant to society«. Auch Wiseman (2004) 10 bezeichnet den Mythos in seiner betont unterminologischen Darstellung als »a story that matters to a community«. 15 Graf (1985) 10. 16 Vgl. ebd. 9. Burkert (1993) 19 hebt hervor: »In jedem Fall steht der Mythos, indem er begründet und erklärt, seinerseits außer Frage: Mythos ist explanans, nicht explanandum.« 11
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I. Teil: Prolegomena
aitiologische Mythen im weiteren Sinne erklären zeitgenössische Zustände; mitunter können sie auch zur Legitimierung von Besitz, Ressourcen, Machtund Herrschaftsverhältnissen dienen.17 Mythen deuten also zumeist die von Menschen erfahrene Wirklichkeit und liefern Sinnangebote.18 Nach diesen allgemeinen Überlegungen zu Formen und Funktionen von Mythen müssen noch einige weitgehend unbestrittene Punkte angesprochen werden, um dieser Arbeit eine tragfähige Definition von Mythos zugrundezulegen: Im Allgemeinen handelt es sich bei Mythen um Erzählungen über Götter oder Heroen oder über den Ursprung von Gegebenheiten, Zuständen, Lebewesen und Dingen, auch Festen.19 Ferner haben Mythen konkret benannte Handlungsträger. Diese Namen erleichtern einerseits die Abrufbarkeit eines Handlungskerns; andererseits handelt es sich bei ihnen aber auch um echte, denotative Eigennamen.20 Somit erscheint es angemessen, als Zwischenergebnis folgendes Konzept von Mythos festzuhalten: Mythen sind traditionelle Erzählungen über konkret benannte Götter oder Heroen oder Ursprünge von Gegebenheiten, Zuständen, Lebewesen und Dingen, auch Festen, die Sinnstrukturen bilden und eine komplexe, überindividuelle Wirklichkeitserfahrung verbalisieren; sie wollen verbindliche Aussagen über den Menschen und seine Lebenswelt treffen sowie Sinnangebote für das menschliche Dasein bereitstellen.
2.2 Die Spezifika des Mythos in Rom und in der römischen Literatur Hier soll nicht etwa die Frage des »genuin« römischen Mythos behandelt werden, dessen Existenz infolge eines unzureichenden Mythosbegriffes lange Zeit bestritten wurde.21 Vielmehr soll dargelegt werden, welche Voraussetzungen dem Mythos speziell in der römischen Literatur zugrundeliegen. Daß der griechische Mythos schon früh auf Rom eingewirkt hat und daß die Römer griechische Gottheiten übernahmen oder römische Götter mit griechischen identifizierten, ist allgemein bekannt. Schon im späten 6. Jh. 17 Zu derartigen Erzählungen, die im Anschluß an den Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski als »charter myths« bezeichnet werden, vgl. z.B. Kirk (1970) 254-257. 18 Daß es auch jüngere Mythen geben kann, deren Funktion damit noch nicht hinreichend beschrieben ist – z.B. wird man bei einigen von Dichtern geschaffenen Mythenerzählungen doch auch die Unterhaltung des Publikums als wichtige Funktion ansehen dürfen –, ist ein Problem, das z.B. auch Graf (2000a) 633 thematisiert. 19 An das letzte Thema könnte man die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Ritual anknüpfen, vgl. dazu z.B. Graf (1985) 43ff. sowie 54ff. 20 Vgl. Burkert (1993) 18. 21 Zur Frage des »autochthonen« römischen Mythos vgl. z.B. Bremmer/Horsfall (1987), Graf (1993) und die übrigen Beiträge im gleichen Sammelband sowie Wiseman (2004) 11f.
2. Der dieser Arbeit zugrundegelegte Mythosbegriff
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v.Chr. wurden griechische Mythen mit römischen Göttern verbunden, wie z.B. die Darstellung der Rückführung des Hephaistos auf einem schwarzfigurigen Kraterfragment vom Volcanal oder die Apotheose des Herakles, die auf dem Giebel des spätarchaischen Tempels auf dem Forum Boarium abgebildet ist, belegen.22 Andererseits hat die römische Literatur bekanntermaßen den Großteil ihrer Formen im Prozeß aneignender Transformation aus der griechischen übernommen. Die griechische Dichtung ist aber von Anfang an maßgeblich von mythischen Sujets geprägt, und ein wichtiges Thema der griechischen Prosa – in der Geschichtsschreibung ebenso wie in der Philosophie – ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos.23 Dies bedeutet, daß Rom sich zu einem Zeitpunkt literarisch produktiv mit Mythen auseinanderzusetzen begann, als das Konzept »Mythos« in der griechischen Literatur bereits heftige Kritik und vielfache Wandlungen erfahren hatte. Hiervon blieb auch die römische Rezeption von Mythen nicht unberührt: Die Griechen der Frühzeit mögen ihre Mythen für wahr gehalten haben;24 für Römer (jedenfalls der gebildeten Oberschicht) galten Mythen in spätrepublikanischer Zeit nicht als buchstäblich »wahr«,25 wie Aussagen aus der theologia tripertita26 und aus der römischen Rhetorik der spätrepublikanischen Zeit dokumentieren. So liest man in Cic. inv. 1,27: fabula est in qua nec verae nec veri similes res continentur (»Mythos ist das, worin weder wahre noch wahrscheinliche Inhalte enthalten sind«27), worauf ein Zitat aus Pacuvius’ Medea folgt, wodurch für diese Stelle die Bedeutung »Mythos« für fabula gesichert ist. Ganz ähnlich definiert der Auctor ad Herennium (1,8,13): fabula est, quae neque veras neque veri similes continet res, ut eae sunt, quae 22 Graf (2000b) 646f.; eine Abbildung des Herakles bietet z.B. Wiseman (2004) 29. Weitere archäologische und numismatische Zeugnisse findet man bei Cancik (2002) 1696. 23 Zu dieser Auseinandersetzung, die nicht so geradlinig verlief, wie es Wilhelm Nestles Schlagwort »Vom Mythos zum Logos« nahelegt, vgl. z.B. Burkert (1984) 281ff. und Föllinger (2003) 17ff. 24 Vgl. zu diesem Komplex z.B. Veyne (1983) und die Bemerkungen bei Markschies (2005) 91f. 25 Vgl. auch Graf (2003) 29. 26 Bei der wohl durch den Stoiker Panaitios (ca. 185-100 v.Chr.) vermittelten theologia tripertita handelt es sich um eine Götterlehre, die verschiedenen Bereichen verschiedene Gattungen von Göttern zuweist. Unterschieden werden das genus fabulosum (μυθικόν) der Dichter, das genus civile (πολιτικόν) der Staatsmänner und das genus naturale (φυσικόν) der Philosophen; dementsprechend wird differenziert zwischen dem poetischen Mythos, dem praktischen Staatskult und dem philosophischen Monotheismus. »Diese drei Arten, systematisch mit Göttern umzugehen, koexistierten auf unterschiedlichen Ebenen, so dass sie praktisch nie zusammenstießen und in der uns aus Geschichte, Literatur und Kult bekannten friedlichen Koexistenz lebten«, so Ehlers (2005) 53. Äußerungen des Pontifex Scaevola und des römischen Gelehrten Varro (116-27 v.Chr.) zu diesem Komplex führt Augustinus in de civitate Dei an, wo er diese Auffassung scharf kritisiert (4,27; 6,5). Eine umfassende Darstellung zur theologia tripertita hat Lieberg (1973) vorgelegt. 27 Bei den deutschen Wiedergaben in dieser Arbeit, die alle vom Verfasser stammen, wird dokumentarisch übersetzt.
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I. Teil: Prolegomena
tragoedis traditae sunt (»Mythos ist, was weder wahre noch wahrscheinliche Inhalte enthält, wie es diejenigen sind, welche durch Tragödien überliefert sind«). Detailliert äußert sich hierzu Cicero in de divinatione (2,113): num igitur me cogis etiam fabulis credere? quae delectationis habeant quantum voles, verbis sententiis numeris cantibus adiuventur; auctoritatem quidem nullam debemus nec fidem commenticiis rebus adiungere. Zwingst du mich also etwa, sogar Mythen Glauben zu schenken? Die mögen Unterhaltungswert besitzen, soviel du willst, mögen durch Worte, Sätze, Rhythmen und Gesänge unterstützt werden; Gültigkeit jedenfalls oder Glaubwürdigkeit dürfen wir den ersonnenen Inhalten nicht beimessen.28
Aufbauend auf solchen Äußerungen, formuliert Graf die römische Definition von Mythos (fabula) als fiktive, unwahrscheinliche Erzählung,29 führt aber weiter aus: »Geglaubt oder nicht: mythische Themen sind mithin auch in Rom Inhalt des öffentlichen Diskurses.«30 Angesichts der nun skizzierten Aspekte und Probleme möchte ich dieser Arbeit folgende Definition von Mythos zugrundelegen: Mythen sind traditionelle Erzählungen über konkret benannte Götter oder Heroen oder Ursprünge von Gegebenheiten, Zuständen, Lebewesen und Dingen, auch Festen, die Sinnstrukturen bilden und eine komplexe, überindividuelle Wirklichkeitserfahrung verbalisieren; sie wollen verbindliche Aussagen über den Menschen und seine Lebenswelt treffen sowie Sinnangebote für das menschliche Dasein bereitstellen. Obgleich die Rezipienten Mythen zwar nicht unbedingt als historisch wahr oder real ansehen, betrachten sie diese aber doch als wahr im Sinne eines möglichen Wirklichkeitszuganges oder einer Wirklichkeitserklärung.31
28 Dies zeigt sich auch praktisch in einem Gespräch im ersten Buch der ciceronischen Tusculanae disputationes (10f.), wo auf die Frage num te illa terrent, triceps apud inferos Cerberus, Cocyti fremitus, travectio Acherontis etc. empört geantwortet wird: adeone me delirare censes ut ista esse credam? Nein, dabei handele es sich nur um poëtarum et pictorum portenta. Auf deren Widerlegung brauche man nicht einmal philosophische Mühe zu verwenden: quis enim est tam excors quem ista moveant? – Eine informative Darstellung nebst reichlicher Materialsammlung zum Thema »Myth and Belief in late Republican Rome« bietet Gale (1994) 85ff. 29 Graf (1993) 29. Auch Cancik (2002) 1695 referiert die im römischen Sprachgebrauch gebräuchliche Unterscheidung zwischen fabula (unwahrscheinliche oder erlogene Geschichte), argumentum (wahrscheinliche Fiktion) und historia (wahrer Bericht). 30 Graf (1993) 30. Daß Mythen Inhalt des öffentlichen Diskurses waren, wird auch dadurch deutlich, daß sich prominente Personen des öfteren mythologisch stilisierten; vgl. dazu z.B. Krasser (1995) 52ff. und Champlin (2003). 31 Vgl. Föllinger (2003) 22.
3. Die Frage der horazischen Religiosität
Zuweilen sah man es als sinnvoll an, die Themen »Religion/Religiosität« und »Mythos« gemeinsam zu behandeln, wie zum Beispiel Teivas Oksalas Arbeit »Religion und Mythologie bei Horaz« zeigt, in der vor die Einzeluntersuchungen ein Kapitel mit dem Titel »Parcus deorum cultor?« gesetzt ist. Oksala hält die Frage der horazischen Religiosität für »unumgänglich« im Rahmen seiner literarhistorischen Untersuchung, da es von ihrer Beantwortung abhänge, »wie weit den reichlichen Göttermotiven unseres Dichters religiöse Bedeutung zuzusprechen ist und ein wie strenges theologisches Denken man hinter ihnen voraussetzen kann.« (S. 16). Um diese Frage zu beantworten, nennt und behandelt Oksala (S. 17ff.) einige scheinbar widersprüchliche Stellen aus verschiedenen Werken des Horaz: zwei Passagen aus den Satiren (sat. 1,5,97-103 und 1,9,70f.), die Ode 1,34 und eine Passage aus den Episteln (epist. 1,1,10-19). In seiner sechs Seiten umfassenden Behandlung dieser Stellen kommt er zu dem Ergebnis, daß »das Erzähler-Ich der Satiren und Iamben [...] wirklich die Götter vernachlässigt und abgelehnt [hatte]« (S. 17); die Ode 1,34 sei kein Bekenntnisgedicht (S. 21); die Passage epist. 1,1,10-19 spiegele das eklektizistische Weltbild wider, das Horaz gehegt habe (S. 20). Oksala zieht schließlich folgendes Fazit (S. 23): Unser Dichter schrieb am Ende einer langen Tradition; um Oden zu schreiben, musste er sich in die Welt der archaischen Dichtung – des Alkaios und Pindar – einleben, in der die Götter und die Hymnik eine sichtbare Stelle einnahmen. Es ist völlig natürlich, daß unser Dichter sich genau so an den griechischen Göttern begeisterte wie der Mensch der Renaissance an den Skulpturen der Antike, und sich anregen ließ, echt wirkende Hymnen über sie zu singen.
3.1 Methodische Überlegungen Es erhebt sich die Frage, ob es zweckmäßig und überhaupt zulässig ist, für die vorliegende Arbeit, welche Praetexte, Formen und Funktionen von Mythen in den Oden des Horaz untersuchen will, eben diese Stellen nach dem Vorbild Oksalas selbst abermals zu behandeln, aus ihnen Schlußfolgerungen über die Religiosität des Horaz zu ziehen und auf dieser Basis einzelne Oden zu analysieren. Zur Klärung dieses Problems müssen erst folgende Fragen beantwortet werden:
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I. Teil: Prolegomena
1) War Oksalas Stellenauswahl sachgerecht? War ferner die Materialgrundlage ausreichend, um zu Horazens Religiosität Stellung nehmen zu können? 2) Muß die Frage der Religiosität überhaupt vorab geklärt sein, bevor man die Funktionen von Mythen innerhalb der Oden untersuchen kann? Zu 1): Oksalas Stellenauswahl erscheint aus folgenden Gründen problematisch: Sat. 1,9,70f.1 darf nicht unreflektiert in die Diskussion über die Religiosität des Horaz einbezogen werden. Zwar kommt dort das Substantiv religio vor, das auch »Religiosität, Gottesfurcht« bedeuten kann.2 Doch an dieser Stelle der sogenannten Schwätzersatire antwortet der Sprecher auf den Einwand, man dürfe an diesem Tag keine Angelegenheiten besprechen, wenn man die Juden nicht kränken wolle. Es geht also überhaupt nicht um eine Art von Scheu vor römischen religiösen Normen, sondern um Scheu vor Verordnungen der Juden, die bei Horaz geradezu als Musterbild für Aberglauben und Leichtgläubigkeit gelten.3 Vielmehr muß religio hier also mit »abergläubische Scheu« übersetzt werden, wie es auch Kiessling/Heinze in ihrem Kommentar zur Stelle vorschlagen.4 Hinsichtlich der anderen Satiren-Stelle5 ist einzuwenden, daß es sich um die Schilderung einer Art von Naturwunder während der Reise nach Brundisium, nicht aber um ein existentielles religiöses Ereignis handelt. Man muß allerdings konstatieren, daß auf diese Schilderung unmittelbar die Nennung des epikureischen Kerngedankens von der Existenz der Götter in den Intermundien folgt, die nicht vom Himmel aus in das Leben der Menschen eingreifen. Insofern liegt hier tatsächlich eine religiös-philosophische Äußerung des Sprechers vor. In keiner Behandlung der horazischen Religiosität darf die Ode 1,34 fehlen, die sogenannte Konversionsode, in welcher der Sprecher seine frühere Ferne vom Götterkult in Form eines Oxymorons als »wahnsinnige Weisheit« (insanientis […] sapientiae, V. 2) bezeichnet und seine Rückkehr zu den verlassenen Bahnen (iterare cursus / cogor relictos, V. 4f.) verkündet. Aufgrund der Bedeutung, die ihr allgemein zugemessen wird, soll diese Ode hier kurz vorgestellt werden: 1
»nulla mihi« inquam / »religio est.« Vgl. z.B. OLD s.v. religio 6. 3 So liest man in sat. 1,5,100f.: credat Iudaeus Apella, / non ego, worauf dann das »epikureische Glaubensbekenntnis« folgt. 4 Kiessling/Heinze (1967) 154. 5 Sat. 1,5,97ff.: dein Gnatia Lymphis / iratis exstructa dedit risusque iocosque, / dum flamma sine tura liquescere limine sacro / persuadere cupit. credat Iudaeus Apella, / non ego; namque deos didici securum agere aevum, / nec si quid miri faciat natura, deos id / tristis ex alto caeli demittere tecto. 2
3. Die Frage der horazischen Religiosität
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parcus deorum cultor et infrequens insanientis dum sapientiae consultus erro, nunc retrorsum vela dare atque iterare cursus cogor relictos6. namque Diespiter igni corusco nubila dividens plerumque, per purum tonantis egit equos volucremque currum,
5
quo bruta tellus et vaga flumina, quo Styx et invisi horrida Taenari sedes Atlanteusque finis concutitur. valet ima summis
10
mutare et insignem attenuat deus obscura promens. hinc apicem rapax Fortuna cum stridore acuto sustulit, hic posuisse gaudet.
15
Während ich, der ich die Götter nur wenig und selten verehre, als Experte einer wahnsinnigen Weisheit umherirre, werde ich nun gezwungen, die Segel rückwärts zu richten und wiederaufzusuchen die zurückgelassenen Bahnen. Denn Juppiter7, der doch mit zuckendem Feuer Gewölk teilt zumeist, hat durch den klaren Himmel getrieben seine Donnerrosse und seinen fliegenden Wagen,
5
unter dem die unbewegliche Erde und die unsteten Flüsse, unter dem die Styx und des verhaßten Tainaron schreckliche Stätte und die Grenze des Atlas erbeben. Er vermag das Unterste mit dem Obersten
10
zu vertauschen, und den Ausgezeichneten schwächt der Gott, Dunkel-Unscheinbares hervorholend.8 Von hier hat die Königskrone die raubgierige Fortuna mit schrillem Zischen weggenommen, hier sie hingelegt zu haben, macht ihr Freude.
15
6
Zur Diskussion um die von Niklaas Heinsius und Richard Bentley vorgeschlagene Konjektur relectos (»wieder durchwandert« in proleptischem Sinne) vgl. Kiessling/Heinze (1955) 143 und Nisbet/Hubbard (1970) 379f. 7 Diespiter könnte man auch etymologisch mit »Vater Himmel/Tag« übersetzen; vgl. Walde/Hofmann (1938) 732, s.v. Iuppiter. 8 Diese Verse erinnern, wie schon lange gesehen wurde, an Hesiods Erga-Proömium (V. 5ff: ῥέα μὲν γὰρ βριάει, ῥέα δὲ βριάοντα χαλέπτει, / ῥεῖα δ’ ἀρίζηλον μινύθει καὶ ἄδηλον ἀέξει, / ῥεῖα δέ τ’ ἰθύνει σκολιὸν καὶ ἀγήνορα κάρφει / Ζεὺς ὑψιβρεμέτης [...]).
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I. Teil: Prolegomena
Der Sprecher, der zuvor die Götter nur spärlich verehrte, bezeichnet nun im Rückblick diese Haltung, die allgemein als epikureisch angesehen wird,9 als Fehler, als wahnsinnige Weisheit, von der er sich nun distanzieren muß. Der Grund (namque, V. 5) wird in einem mythischen Bild angegeben, das sich mit der »mythischen Normalität« nicht in Einklang bringen läßt: Während sonst Juppiter meist mit seinem Blitz Wolken teilt (igni corusco nubila dividens / plerumque, V. 6f.), fuhr er diesmal mit seinem Donnerwagen am unbewölkten Himmel (per purum, V. 7) entlang. Sieht man in diesen Versen einen mythisch-bildhaften Ausdruck meteorologischer Vorgänge, ergibt sich folgender Befund: Während sonst Blitz und Donner nur bei Bewölkung möglich sind, war der Sprecher Zeuge eines Gewitters10 aus heiterem Himmel.11 Dieses Phänomen könnte ein Argument gegen eine Lehrmeinung der Epikureer darstellen, welche unter anderem gerade aus der Tatsache, daß es bei wolkenlosem Himmel normalerweise nicht gewittern kann, folgern, daß aus Erscheinungen in der Natur nicht auf eine Intervention der Götter geschlossen werden dürfe.12 Wenn also die Epikureer in diesem Punkt irren, hat eventuell – so vielleicht der Gedankengang des Gedichtes – ihr gesamtes Lehrgebäude keinen Bestand, und so sieht sich der Sprecher gezwungen, sich der altrömischen Religion wieder zuzuwenden.13 Selbst wenn nun diese Interpretation unstrittig wäre und die Identität des Sprechers mit Horaz feststünde, wäre diese Ode wohl eher eine Momentaufnahme als ein sub specie aeternitatis vorgetragenes Glaubens9
Daß sapientia im Sprachgebrauch der horazischen Zeit die Bedeutung »Philosophie« haben kann, ist vielfach gesehen worden; Belegstellen zum Beispiel bei Syndikus (2001) I, 293, Anm. 1. 10 Während ganz überwiegend in der Forschungsliteratur die Meinung vertreten wird, es handle sich um einen Blitz, spricht Syndikus (2001) I, 293 von einem Donnerschlag. Genau genommen, kommt igni corusco nur im allgemeinen Abschnitt (plerumque) des Gedichtes vor; im speziellen Fall wird nur ein akustischer Eindruck beschrieben: per purum tonantis / egit equos [...]. 11 Belegstellen aus der antiken Literatur für solche Phänomene bieten Nisbet/Hubbard (1970) 376. – Zur Auffassung derartiger Erscheinungen im etwas späteren naturwissenschaftlichen Diskurs vgl. Sen. nat. 2,12ff. und Plin. nat. 18,81,354. 12 Zum Beispiel Lucr. 6,99.246ff.; ausführliche Polemik in 6,400ff.: denique cur numquam caelo iacit undique puro / Iuppiter in terras fulmen sonitusque profundit? / an simul ac nubes successere, ipse in eas tum / descendit, prope ut hinc teli determinet ictus? Das Beweisziel des Kontextes, in dem dieses Argument steht, ist, die Intentionslosigkeit von Blitzen darzulegen, nachdem Lukrez im fünften Buch gezeigt hatte, welche Panik Naturerscheinungen hervorrufen können (z.B. 5,1218-1225.1236-1240). Nisbet/Hubbard (1970) 377 formulieren: »To the Epicureans the phenomenon was as incredible as to modern meteorologists, and so thoroughly rejected that it could be used in a reductio ad absurdum«. – Einen umfassenden wissenschaftlichen Erklärungsversuch von Blitz, Donner und ähnlichen Phänomenen mitsamt Referat älterer Forschungsmeinungen bietet Aristot. meteor. B 9, 369 a 10ff. 13 Gelegentlich wurde in carm. 1,34 auch eine Konversion zum Stoizismus gesehen; Befürworter dieser Ansicht verzeichnet Syndikus (2001) I, 296, Anm. 23. Schwerwiegende Bedenken gegen diese These aufgrund der Fortunagestalt äußert ders. ebd. auf S. 296ff. Auch die folgenden mythischen Bilder sprechen eher gegen diese Auffassung.
3. Die Frage der horazischen Religiosität
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bekenntnis. Doch es gibt zahllose divergierende Deutungen dieser vermeintlichen Konversions- oder Bekenntnisode, die »zu den umstrittensten Gedichten des Horaz«14 gehört; die Forschung ist weit entfernt von einer konsensfähigen Auffassung dieses Gedichtes.15 Darüber hinaus stellt diese Ode den Interpreten aber auch vor ein methodisches Problem, indem sie ihn der Gefahr eines Zirkelschlusses aussetzt: In der zweiten Strophe wird im Perfekt (egit, V. 8) beschrieben, wie Juppiter, hier mit seinem archaischen Namen Diespiter (V. 5) genannt, seine donnernden Pferde und seinen fliegenden Wagen über den wolkenlosen Himmel getrieben hat, bevor in der dritten Strophe im Gegenwartsgültigkeit evozierenden Präsens (concutitur, V. 12)16 von den Auswirkungen einer solchen Fahrt gesprochen wird: Erde und Flüsse, der Unterweltsstrom Styx, das lakonische Vorgebirge Tainaron, wo man einen Eingang zur Unterwelt vermutete, und die Grenze des Atlas werden erschüttert (V. 9-12). Diese Passage ist voll von religiös-mythischen Begriffen [Diespiter, V. 5; der Donnerwagen in den Versen 7f.; die Styx in Vers 10; der Eingang zur Unterwelt, V. 10f.; auch die geographische Bezeichnung Atlanteus [...] finis (V. 11) stammt aus einem mythischem Kontext]; man könnte also auch in diesem Gedicht die Funktionen der verwendeten Mythologumena zu analy14
Syndikus (2001) I, 293. Einen Überblick über ihre Deutungen zwischen 1500 und 1800 bietet Krasser (1996); konzise und informativ ist auch Lebek (1981) 2050-2054. Bei der Interpretation dieser Ode zeigen sich drei Hauptströmungen, die in Kap. 3.2 ausführlicher dargestellt werden: biographische, literarhistorische und symbolisch-ästhetische Interpretation, zum Teil auch in Kombinationen. Exemplarisch seien folgende Positionen und Vertreter genannt: biographische Deutung: Wili (1948) 120ff., Kiessling/Heinze (1955) 141ff., die Ernsthaftigkeit in dem Gedicht, in der Himmelserscheinung aber eine poetische Fiktion sehen, Esser (1976) 67, Kytzler (1996) 36, der von »tiefste[r] innere[r] Erschütterung des Dichters« und einer »religiöse[n] Wende« spricht und ferner in carm. 1,34 ein Element einer »Hexade von Grunderfahrungen tödlicher Bedrohung« sieht; literarhistorische Deutung: Nisbet/Hubbard (1970) 377 (»Of course we must not take the recantation seriously, as many scholars have done«) unter Anführung zahlreicher ähnlicher Prodigien, Syndikus (2001) I, 293ff., der die literarische Tradition der Palinodieform betont; Griffin (2007) 192 urteilt gar: »only a simpleton would press it for autobiographical confession.«; symbolischästhetische Deutung: Pöschl (1970) 160 (»Horaz hat Ideen archaischer und hellenistischer Religiosität […] verwendet, um einer Grunderfahrung seines eigenen Zeitalters Ausdruck zu geben.«), Schmidt (2002) 203f. (»Nicht als faktisch-reales Ereignis und individuelles Erlebnis ist dies der Anlaß zur Umkehr, sondern es ist, in der grandiosen Darstellung der kosmischen und nicht realen Wirkung dieses Blitzes […], der symbolische Ausdruck für eine Erfahrung bzw. Erfahrungen und die durch sie bewirkte Umkehr selbst. Der Blitz aus heiterem Himmel ist also weder real noch allegorisch.«). – Daneben treten noch Deutungen, die im Blitzschlag eine Metapher für ein zeitgenössisches Ereignis sehen, zum Beispiel die Schlacht bei Actium, den Sturz des Cornelius Gallus, einen Wechsel auf dem Partherthron usw. [Plüss, Allen, Perret, Muth; Literatur zu und Einwände gegen diese Thesen bei Syndikus (2001) I, 302 mit Anm. 49]. – Bedenkenswerte Bemerkungen zum Aufbau des Gedichtes findet man bei Krischer (1972). 16 Gegenwartsgültigkeit besteht jedenfalls innerhalb des kulturellen Codes »Mythos«, wie es die Narratologie formulieren würde. Nisbet/Hubbard (1970) 383 hingegen sehen in concutitur lediglich ein historisches Präsens. 15
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I. Teil: Prolegomena
sieren versuchen und so vielleicht zu einer befriedigenden Deutung dieser einzelnen Ode kommen. Doch man darf das, was hier in mythischem Gewand ausgeführt ist, sicherlich nicht der Deutung aller anderen Mythen bei Horaz als Basis zugrundelegen. In carm. 1,34 liegt eine bestimmte Art literarischer Funktionalisierung von Mythen vor; dies schließt jedoch nicht aus, daß Mythen in anderen Oden ganz andere Funktionen erfüllen. Es ist also wohl geradezu kontraproduktiv, aufgrund einer (eventuell) in carm. 1,34 gewonnenen Einzeleinsicht alle anderen carmina analysieren und deuten zu wollen. Damit würden alle anderen Oden einer punktuellen Erkenntnis unterworfen; der Mythosgebrauch in ihnen würde nur von carm. 1,34 her interpretiert. Dafür aber daß Horaz dies wünschte, gibt es keinerlei Indizien: Weder gibt das Gedicht deutliche Hinweise poetologischer Natur oder »Rezeptionsund Deutungsanweisungen« noch steht es an einer prominenten Stelle der Gedichtsammlung (etwa als Eröffnungsgedicht oder als Sphragis).17 Neben diesem methodischen existiert noch ein quantitatives Problem, wenngleich es auch mit jenem ersten verbunden ist: Oksala behandelte lediglich vier Stellen aus Horazens Œuvre, um die Frage der Religiosität zu klären, bevor er dann zahlreiche Einzelstellen unter literarhistorischen Gesichtspunkten untersuchte. Gregor Maurach hingegen untersuchte im Rahmen der Religiositätsfrage den Merkurhymnus (carm. 1,10), drei Bacchusoden (carm. 1,18; 2,19; 3,25) und sowie den Hymnus an den Weinkrug (carm. 3,21) und wählte somit eine ganz andere Materialgrundlage.18 Doch darüber hinaus existieren noch weitere Gedichte, in denen der Sprecher in irgendeiner Form etwas über sein Verhältnis zu einer höheren Macht sagt, zum Beispiel carm. 3,29 (Pollux werde ihn aus Seenot erretten), carm. 1,17 (Beschreibung der Wirkung des Faunus mit der bemerkenswerten Aussage di me tuentur. dis pietas mea / et Musa cordi est in Vers 13f.)19, carm. 2,7 (Rettung aus Philippi durch Merkur, die in carm. 3,4,25f. den Musen zugeschrieben, in epist. 2,2,46ff. ohne Mythologumena dargestellt wird) so17 Anders Syndikus (2001) I, 300f., der in Erwägung zieht, in dieser Ode die Ankündigung einer neuen Art von Lyrik, nämlich Götterdichtung, zu sehen. Warum würde aber dann diese Ankündigung erst erfolgen, nachdem schon eine Reihe von Hymnen vorgelegt wurde? 18 Maurach (2001) 273ff. 19 Bei der Interpretation dieser Verse als einer generellen Aussage des Horaz über ein ständiges Leben im Schutze musischer Gottheiten wird zu wenig auf den Gedichtkontext geachtet: Der Sprecher will ein Mädchen zu sich auf sein Landgut »locken«. Ebenso wie die vermeintlich bevorstehenden Untaten eines (konkurrierenden) Jünglings drastisch geschildert werden (V. 24ff.: nec metues protervum // suspecta Cyrum, ne male dispari / incontinentis iniciat manus / et scindat haerentem coronam / crinibus immeritamque vestem), wird vielleicht auch die Atmosphäre des göttlichen Schutzes, den der Sprecher wegen seiner musischen Neigungen genießt, überzeichnet, damit auch das Mädchen sich geborgen fühlt. Überhaupt wechselt nach der im Haupttext zitierten Passage die Perspektive, und die Aussagen werden auf das Mädchen, auf die zweite Person Singular, fokussiert (V. 14f.: hinc (v.l.: hic) tibi copia / manabit; V. 18ff.: vitabis […] dices […] duces […] nec metues).
3. Die Frage der horazischen Religiosität
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wie mehrere Oden, in denen der Sprecher die Rettung vor einem umstürzenden Baum verschiedenen Göttern zuschreibt (in carm. 2,17 Faunus, in carm. 3,4 den Musen, in carm. 3,8 Liber; carm. 2,13 erwähnt keine Götter).20 Auch die Rettung des Sprechers vor Schlangen und Bären durch die Musen in seiner Kindheit, wie sie in carm. 3,4 geschildert wird, müßte Beachtung finden. Aber auch alle anderen Stellen, an denen religiöse, mythische oder philosophische Gedanken vorgetragen werden, müßten sorgfältig dargestellt und interpretiert werden, ohne daß man unbegründete Prämissen und Deutungsmaßstäbe an die Gedichte herantrüge. In die Untersuchung einbezogen werden sollten neben den mythologischen Aussagen also zum Beispiel die Parodie21 auf die stoische Philosophie sat. 2,3, die Mythosparodie sat. 2,5 und das Merkurgebet sat. 2,6, außerdem die Selbstcharakterisierung als »Schwein aus der Herde Epikurs« in epist. 1,4,16, die implizite Identifizierung von Juppiter und Tyche in epist. 1,18,111f., die Attacken gegen den Aberglauben in den Satiren und Episteln allgemein und natürlich auch das carmen saeculare, das Lied zur Säkularfeier im Jahre 17 v.Chr., mit dessen Abfassung Horaz von offizieller Seite betraut wurde.22 Auch die Aussagen in Horazens Spätwerk zur Wechselwirkung von Dichtung und Mythos (vor allem carm. 4,8.9) sowie rationalistische bzw. euhemeristische Mythosdeutungen in der ars poetica müßten Berücksichtigung finden.23 Auch die Spezifika des römischen Mythos und seine Bedeutung für das öffentliche und private Leben, die oben (I. Teil, Kap. 2.2) dargestellt wurden, müßten in die Untersuchung miteinbezogen werden. Welche Auswirkungen hat all dies auf die gestellte Frage? Es liegt Material in großer Fülle vor, das vollständig untersucht und interpretiert werden müßte, um eine wirklich fundierte Stellungnahme zur Religiosität des Horaz, soweit sie sich
20 Diese Stellen sind ohne weiteren Kommentar bei Oksala (1973) 19 und Maurach (2001) 273 aufgelistet. 21 Obwohl mir bewußt ist, daß Bezeichnungen wie »Parodie« eigentlich eine bereits erfolgte Interpretation voraussetzen, benutze ich in dieser Aufzählung dennoch derartige »Etiketten«, die die Sekundärliteratur gefunden hat, um einen Eindruck von der Verschiedenartigkeit der Passagen zu vermitteln. 22 Von der eminenten Bedeutung dieses Kultliedes zeugen folgende Inschriftenreste: sacrificioque perfecto puer(i) [X]XVII quibus denuntiatum erat patrimi et matrimi et puellae totidem carmen cecinerunt; eo[de]mque modo in capitolio. carmen composuit Q. Hor[at]ius Flaccus (CIL VI 4², 32323,147-149 = ILS 5050,147-149). 23 Um die Würde der Dichtkunst zu erweisen (V. 406f.: ne forte pudori / sit tibi Musa lyrae sollers et cantor Apollo), werden die (mythischen) Sänger Orpheus und Amphion in ars 391-396 als Kulturbringer und Zivilisationsstifter dargestellt. Erst aufgrund dieser Leistungen seien sie in mythische Kontexte eingebettet worden: silvestris homines sacer interpresque deorum / caedibus et victu foedo deterruit Orpheus, / dictus ob hoc lenire tigris rabidosque leones; / dictus et Amphion, Thebanae conditor urbis, / saxa movere sono testudinis et prece blanda / ducere quo vellet.
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I. Teil: Prolegomena
in seinen Gedichten ausdrückt, zu erlauben. Dies kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Zu 2): Wie sich schon bei der Behandlung der ersten Frage gezeigt hat, ist es für eine Untersuchung der Funktionen von Mythen gar nicht notwendig, sich vorab aus der Deutung einiger Gedichte eine Meinung über die Religiosität des Dichters zu bilden. Etwas Anderes wäre es freilich, wenn ein Zeitgenosse wie zum Beispiel Vergil sich in offensichtlich ernst gemeinter Form aufgrund persönlicher Bekanntschaft (nicht nur aufgrund der Kenntnis seiner Schriften) über Horazens Religiosität geäußert hätte, wenn man also über Informationen verfügte, die nicht aus Horazens Œuvre stammten. Dann bestünde ein Faktum, das unabhängig vom Werk des Horaz wäre und den Rezipienten möglicherweise Aufschluß über die sich in den Gedichten ausdrückende Geisteshaltung des Autors geben könnte. Da aber meines Wissens ein solcher »archimedischer Punkt« nicht existiert,24 müssen die einzelnen Gedichte jeweils für sich betrachtet werden, und zwar möglichst ohne Prämissen, was die Religiosität ihres Verfassers betrifft.
3.2 Doxographischer Anhang zur Religiosität des Horaz Die Frage, ob Horaz religiös war und welcher Art diese Religiosität gewesen sein könnte, ob, in welcher Weise und auf welcher Ebene er an die altrömischen Götter glaubte, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. Ernst Doblhofer nennt in seinem Forschungsbericht als drei umstrittene Themenkomplexe »die Religion des Dichters, sein Verhältnis zu einzelnen Göttern, die ›Konversion‹ der Ode 1.34.«25 Meinten einige, bei ihm seien Spuren altrömischer Religion und Gottesfurcht zu finden, so nahmen andere die Gegenposition ein, indem sie eine mögliche Nähe des Dichters zum herkömmlichen Volksglauben negierten und stattdessen vor allem die Elemente der stoischen Philosophie und des Epikureismus in Horazens Œuvre betonten.26 24 Unter den wenigen zeitgenössischen Notizen über Horaz sind hervorzuheben: die Säkularfeierinschrift (CIL VI 4², 32323 = ILS 5050); Ov. trist. 4,10,49f. (et tenuit nostras numerosus Horatius aures, / dum ferit Ausonia carmina culta lyra); die Horazbriefe des Augustus (50-54 F) und Maecen. carm. frg. 3 (ni te visceribus meis, Horati, / plus iam diligo etc.). Als materielles Zeugnis fügt Horsfall (1998) 40 noch hinzu: »and his villa – if it really is his villa!« 25 Doblhofer (1992) 70-73; dort findet sich auch weitere Literatur zum Folgenden. 26 Vgl. zu Horazens philosophischen Anschauungen die umsichtigen Untersuchungen von Gigon (1977), der wie andere in Horaz den »φιλοσοφώτατος aller antiken Dichter« (S. 481) sieht, und Lebek (1981), der weiterführende Literatur bietet. – Man muß allerdings mit Scheid (1997) 472 hervorheben, daß in Rom keine Antinomie von Philosophie und Religion bestand. Die römische Religion ist nicht moralisch-normativ; auf ethische Fragen antwortet die Philosophie, nicht die Religion. Wie Scheid (1997) 480 treffend formuliert, handelt es sich nicht um eine Religion
3. Die Frage der horazischen Religiosität
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Vor allem im Rahmen der biographisch-religiösen Interpretation versuchte man, aus den Werken des Horaz biographisch verwertbare Fakten zu destillieren. Die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Angaben, die so aus Horazens Gedichten gewonnen werden konnten, sollten zu einem harmonischen Bild zusammengefügt werden, indem man einander widersprechende Informationen in verschiedenen Werken durch die dazwischenliegende Zeit rechtfertigte. Auf diese Weise konnte eine innere Entwicklung des Dichters konstatiert werden: »Da ist also in der Zwischenzeit ein Wandel seiner Gesinnung eingetreten«, glaubt Richard Heinze, und auch Titel wie W. Hartkes »Der Weg des Horaz zu den Göttern« verfolgen diesen Ansatz.27 Doch diese Art der Interpretation, die letztlich einem Konzept von Erlebnislyrik verpflichtet ist, ist mit dem Problem der Identität zwischen dem lyrischen Ich und dem historischen Horaz konfrontiert. Es handelt sich dabei um die Frage, ob ein »Ich«, das heißt eine Aussage in der ersten Person Singular in einem Gedicht, als eine Aussage des Dichters über sich selbst verstanden werden darf. Dabei ist schon der Begriff selbst problematisch: In den Satiren z.B. würde man doch treffender vom »satirischen Ich« sprechen; deshalb soll im Folgenden der Ausdruck »der Sprecher« verwendet werden. Eindeutige Beispiele dafür, daß im horazischen Œuvre der Sprecher nicht automatisch mit Horaz selbst identisch ist, liefern unter anderem der (sich erst spät als solcher zu erkennen gebende) Monolog des Geldverleihers Alfius in der 2. Epode oder die Erzählung des hölzernen Priaps in sat. 1,8. Belege in den Oden finden sich z.B. in carm. 1,28 (Bitte einer verstorbenen Seele um Bestattung) oder in carm. 3,9, einem Wechselgesang zwischen (ehemals) Verliebten. Wenn aber derartige explizite Bemerkungen fehlen, kann nicht entschieden werden, ob eine Aussage in der ersten Person Singular eine autobiographische Information über den Autor darstellt oder ob Horaz sich hinter einer persona, einer Maske, verbirgt.28 des Glaubens und der Orthodoxie, sondern um eine Religion des Handelns und der Orthopraxie. Somit sind philosophische Überzeugungen im Rahmen des Kultes nur von untergeordneter Bedeutung. 27 Heinze (1939) 222; Hartke (1957). Weiterführende Literaturangaben bei Krasser (1995) 19, Anm. 27 und S. 22-24. 28 Ausführlich beschäftigt sich mit der Frage der ersten Person Singular speziell in den carmina des Horaz Horsfall (1998) 40ff. – Man kann das Problem aber noch weiter fassen: Sind vielleicht nicht nur Ich-Aussagen, sondern Aussagen aller Art durch eine persona hindurch gesprochen? Muß man also generell davon ausgehen, daß es Unterschiede zwischen dem Erzähler und dem Autor hinsichtlich Charakter, Ansichten, Lebensweise und Erlebnissen gibt? Man vergleiche Catull, c. 16,5f. (nam castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est, freilich in ironischer Brechung), Ovids ausführliche Erörterung des Themas in trist. 2,353ff. und Martial 1,4,8 (lasciva est nobis pagina, vita proba). Sicherlich nicht konsensfähig ist die Position von Fasciano (1991) 196: »L’œuvre lyrique d’Horace, c’est connu, est surtout autobiographique. Le poète se raconte.« Für Weimar (1993) 79f. hingegen sind generell alle Gedichte aller Literatu-
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I. Teil: Prolegomena
Neben dieser Deutungstendenz, gegen die sich in Anknüpfung an das Problem des Sprechers vielfach massive Kritik erhob, steht die literarhistorische Interpretation, welche die Gedichte nicht mehr auf biographisch Verwertbares hin seziert, sondern die Bedeutung der literarischen Tradition, der Gattungskonvention für bestimmte Äußerungen und so auch für das Auftreten von Göttern betont. Die Namen Oltramare, Wilkinson, Fraenkel, Syndikus, Oksala sowie Nisbet und Hubbard können stellvertretend für diese Strömung genannt werden.29 Der dritte bedeutende Ansatz ist die vor allem auf den deutschsprachigen Raum begrenzte ästhetisch-symbolische Interpretation. Deutlich distanziert von einem naiven Biographismus, richten Vertreter dieses Ansatzes wie zum Beispiel Klingner, Oppermann, Pöschl, Büchner, Fuhrmann und E.A. Schmidt ihr Augenmerk vor allem auf das poetische Geschehen und die Art der Gedankenverknüpfung in einer Ode. Dabei erkennen sie dem Künstler eine Sonderstellung, eine außergewöhnliche Verbindung zum MusischGöttlichen zu und räumen Göttern als Ausdruck einer höheren Wirklichkeit, als Symbol einer transzendenten Erfahrung – nämlich des eigenen Kunstschaffens – einen Platz in der Dichtung ein.30 Es läßt sich festhalten, daß von diesen drei Hauptströmungen bislang keine gänzlich versiegt ist und es somit keinen allgemeinen Konsens darüber gibt, vor welchem religiösen Hintergrund die Gedichte des Horaz zu lesen sind.
ren Rollengedichte; d.h. seiner Meinung nach ist jegliche Poesie durch eine persona hindurch gesprochen. – Vgl. zu dieser komplexen Frage z.B. Mauch (1986) 162ff. mit weiterer Literatur, auch unter Einbeziehung moderner Literaturtheorien, Miller (1991) 365ff., Sutherland (2002), Barchiesi (2007) 150ff. sowie Harrison (2007). 29 Unter die Kategorie »literarhistorische Interpretation« können im Übrigen auch Gotthold Ephraim Lessings Rettungen des Horaz eingeordnet werden, in denen er unter anderem den Dichter gegen den Vorwurf des »Lotterlebens« in Schutz nimmt, indem er fragt (1838, S. 18): »Muß er denn alle Gläser geleert und alle Mädgens geküßt haben, die er geleert und geküßt zu haben vorgiebt?« 30 Literaturangaben bei Krasser (1995) 26-29, der auch auf die Wurzeln dieser Deutung in der »Genieästhetik und [der] idealistische[n] Philosophie Schellingscher Prägung« aufmerksam macht. – Helmut Krasser selbst hat neben diese drei Tendenzen eine vierte, eigene Deutung gestellt. Mit seinem »Theophilie/Theophanie-Ansatz« werde ich mich bei der Behandlung von carm. 2,7 (siehe unten, II. Teil, Kap. 4.3) eingehender auseinandersetzen.
4. Die Bedeutung der Intertextualität für Horazens Oden
Der Begriff »Intertextualität« ist aus dem Diskurs der modernen Literaturwissenschaft kaum noch wegzudenken. In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem die Vertreter der Neuphilologien mit diesem Phänomen beschäftigt und versucht, es in Form von Theorien zu beschreiben und zu erklären. Aber auch Klassische Philologen haben sich mit Intertextualitätstheorien auseinandergesetzt, hauptsächlich indem sie überprüften, inwieweit sich die vor allem aus Texten der Neuphilologien gewonnenen Erkenntnisse auf antike Texte übertragen lassen. Im Folgenden soll zunächst eine kurze Definition des Begriffes »Intertextualität« versucht werden; im Anschluß daran muß überprüft werden, ob man mit dem Instrumentarium der Intertextualitätsforschung die in den Oden des Horaz vorliegenden Gegebenheiten adäquat beschreiben kann. Schließlich sollen die Ergebnisse dieser Überlegungen zusammengefaßt und die Implikationen, die sich daraus für die vorliegende Untersuchung ergeben, dargestellt werden.
4.1 Was versteht man unter »Intertextualität«?1 Intertextualitätstheorien machen Aussagen über das Verhältnis von Texten zu anderen Texten. Den Terminus »Intertextualität« selbst hat die bulgarische Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva in Auseinandersetzung mit der Dialogizitätstheorie des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin geprägt. Der Kern ihrer auf einer strukturalistischen Basis errichteten sprachphilosophischen Theorie ist die im Jahre 1969 erhobene Forderung, man müsse jeden Text als ein »mosaïque de citations« verstehen.2 Jede menschliche Äußerung setze sich aus bereits vorausgegangenen Äußerungen zusammen. Die gesamte Literatur, ja sogar jede sprachliche Aussage sei ein Zusammenspiel verschiedener Diskurse und werde einerseits bestimmt durch die Verbindung von Text und Rezipient, andererseits durch die Verbindung des Textes mit ihm vorausgehenden bzw. ihn umgebenden Äußerungen oder literarischen Texten. Es gebe eigentlich keine Kommunikation zwischen Subjekten, sondern nur eine 1 Dem folgenden Versuch einer Definition liegen vor allem Pfister (1985) 1ff., Schmitz (2002) 91ff. und Aczel (2004) 299ff. zugrunde. 2 Kristeva (1969) 85.
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I. Teil: Prolegomena
Kommunikation zwischen Texten. An die Stelle der Intersubjektivität trete die Intertextualität.3 Thomas A. Schmitz formuliert pointiert in seinem Referat dieser Theorie: »Jeder von uns ist nichts weiter als eine Schnittmenge von präexistenten Diskursen«.4 Die Literaturwissenschaft hat allerdings nicht diese extreme, universale Ausformung der Intertextualitätstheorie mitsamt ihrem »total entgrenzte[n] Textbegriff«5 übernommen.6 Vielmehr interessieren sich Wissenschaftler dafür, wie sich das Zusammenspiel verschiedener früherer Äußerungen auf konkrete Texte auswirkt. Einen wichtigen Beitrag zur Systematisierung der Begrifflichkeit hat dabei der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette geleistet.7 Seinem Verständnis nach beziehen sich jeweils konkrete Texte auf konkrete andere Texte. Aufgrund dieser Eigenschaft, die Genette »Transtextualität« nennt, stellen Texte »Literatur auf zweiter Stufe« dar; sie weisen »Palimpsestcharakter« auf. Von den fünf von ihm unterschiedenen Typen der Transtextualität sind drei hier besonders hervorzuheben: –
Genette spricht von »Intertextualität«, wenn ein Text in einem anderen Text vorkommt, z.B. in Form eines Zitates oder einer Wiederaufnahme.
–
Mit »Hypertextualität« bezeichnet Genette die Transformation eines vorliegenden Textes (= Hypotext, Praetext, Referenztext) in einen anderen Text, ohne daß der neue Text einen Kommentar des alten darstelle. Als Beispiele solcher Transformationen könne man Vergils Aeneis oder James Joyces Ulysses nennen; der Hypotext/Praetext/Referenztext beider Werke sei Homers Odyssee.
–
»Architextualität« schließlich bezeichnet in Genettes Terminologie das System einer Gattung und die Stellung eines Textes in diesem Gattungssystem.
Nun könnte man einwenden, daß gerade Klassische Philologen »alten Wein in neue Schläuche« einfüllten, wenn sie sich mit den Phänomenen Intertextualität und Hypertextualität beschäftigten: Jeder wissenschaftliche Kommentar bemüht sich, Vorbilder zu ermitteln, an denen sich ein antiker Autor bei der Abfassung seiner Werke orientiert haben könnte. Und ist nicht der Vergleich von Parallelstellen gewissermaßen »Tagesgeschäft« des Klassischen Philologen? Insbesondere könnte dies den Latinisten vorgehalten 3
Kristeva (1969) 85: »A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertex-
tualité«. 4
Schmitz (2002) 92. So Pfister (1985) 7. 6 Vgl. Fowler (1997) 13: »An observer from outside the classical field [...] might well be surprised at how tamed and domesticated the concept appears compared to its usage elsewhere.« 7 Genette (1993). 5
4. Die Bedeutung der Intertextualität für Horazens Oden
45
werden, da die lateinische Literatur ja bekanntlich den überwiegenden Teil ihrer Gattungen auf dem Wege aneignender Transformation aus der griechischen übernommen hat und sich römische Autoren gleichsam ständig im Prozeß der imitatio und aemulatio gegenüber ihren griechischen Vorbildern befinden. Graecia capta ferum victorem cepit et artes / intulit agresti Latio, bekundet Horaz in epist. 2,1,156f., und kaum eine Literaturgeschichte enthält ihren Lesern dieses bekannte Diktum vor. Die lateinische Literatur stellt also schon aufgrund ihrer Genese eine »Literatur auf zweiter Stufe« dar, und dementsprechend hat sich auch ihre Methodik entwickelt. Obwohl diese Einwände zum Teil nicht ganz unberechtigt sind,8 bereicherte die Intertextualitätsforschung dennoch auch das Studium der antiken Texte.9 Während lange Zeit das Hauptaugenmerk der Frage galt, welche Quellen und Vorlagen ein bestimmter Autor mit welchen Mitteln verarbeitete, wandte sich das Interesse nun auch den Rezipienten zu: Welche Prozesse durchlaufen sie bei der Lektüre eines Textes? Wie nehmen sie die verarbeiteten Texte von Vorgängern wahr? Wie vollziehen sie den Vergleich zwischen einem oder mehreren Praetexten und dem neuen, transformierten Text? Welche Auswirkungen hat also die »Anspielungskunst«, die römische Autoren intensiv pflegen?10 Dieser Wechsel der Perspektive bringt einige Veränderungen für die Klassifizierung und Bewertung von »Parallelen« bzw. »Abweichungen« mit sich. Don Fowler hat die wichtigsten Unterschiede zwischen einer Bewertung vom herkömmlichen Standpunkt aus und einer Bewertung, die von intertextuellen Ansätzen ausgeht, übersichtlich tabellarisch dargestellt:11
8
Pfister (1985) 1 konzediert: »Der Terminus ›Intertextualität‹ ist jünger als die verschiedenen traditionellen Begriffe für den Bezug von Texten auf Texte, die er neu und pointiert zusammenfassend umschreibt, und wesentlich jünger als die Sache selbst«. 9 Das Verhältnis der Intertextualitätstheorien speziell zur Klassischen Philologie behandeln u.a. Conte/Barchiesi (1989) 81ff., Fowler (1997) 13ff., Edmunds (2001) und Schmitz (2002) 91ff. 10 »Anspielungskunst« ist die gebräuchliche deutsche Übersetzung des von Giorgio Pasquali schon 1942 geprägten Begriffes »arte allusiva«; vgl. Pasquali (1994) 275ff. 11 Fowler (1997) 15.
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I. Teil: Prolegomena Allusion
Intertextuality
In the author’s mind
In the (system of) the text(s)
Private
Public
Single
Multiple
Additional extra
Inescapable element
Special feature of »literature«
General feature of language and other semiotic systems
Difference from model significant
Difference and similarity (»traces«) significant
Extratextual act (pays homage etc.)
Intratextual act (creates meaning)
Nach Fowlers Intertextualitätsverständnis kann man also von einem Bezug auf einen Praetext/Referenztext nur dann sprechen, wenn auch die Rezipienten diesen Bezug erkennen. Solche Bezüge auf Referenztexte können vielfältig sein und einander überlagern, wobei Abweichungen und Übereinstimmungen gleichermaßen wichtig sind. Derartige Bezüge stellen im intertextuellen Verständnis kein beliebiges Akzidens dar, kein Element, dessen Fehlen oder Vorhandensein für den Gesamtsinn letztlich unerheblich ist. Vielmehr sind sie ein unverzichtbarer, ja sogar sinnstiftender Bestandteil eines literarischen Textes.
4.2 Kann man die Intertextualitätstheorie auf die Oden applizieren? Nach den oben vorgetragenen Überlegungen lassen sich die Instrumente der Intertextualitätsforschung zur Analyse aller (literarischen) Texte verwenden. Überdies ist die lateinische Literatur – wie gesagt – schon aufgrund ihrer Genese eine »Literatur auf zweiter Stufe« par excellence. Dies gilt für Horaz im Speziellen in noch viel höherem Maße. Immer wieder rühmt er sich, Werke oder Gattungen der griechischen Dichtung ins Lateinische übertragen zu haben oder die noch nicht ausgefeilten Formen früherer römischer Dichter verfeinert zu haben.12 Abgesehen von diesen eher theoretischen Äußerungen lassen sich mehrfach am Anfang von Oden Übersetzun12
Übertragung griechischer Dichtung: z.B. carm. 3,30,13f. (princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos) und epist. 1,19,23-25.32f. (Archilochos und Alkaios); Kritik an mangelnder formaler Qualität älterer römischer Dichter: z.B. in sat. 1,4,8ff. und 1,10,56ff. an Lucilius, in epist. 2,1,64ff. an den veteres poetae insgesamt.
4. Die Bedeutung der Intertextualität für Horazens Oden
47
gen bzw. Übertragungen griechischer Verse finden, sogenannte Motti.13 Überdies weisen die Scholien zu einigen Gedichten auf griechische »Modelle« hin.14 Horaz macht also überaus deutlich, daß er sich auf andere Texte bezieht und daß er mit Rezipienten rechnet, welche diese Texte ebenfalls kennen und die horazischen Werke vor ihrem Hintergrund beurteilen. Ferner ist speziell im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung darauf hinzuweisen, daß – gemäß den oben in Kap. 2 vorgetragenen Überlegungen – Schriftsteller Mythen zwangsläufig im (affirmativen oder korrigierenden) Rekurs auf die Tradition bzw. bestimmte Vorgänger verarbeiten und formen; literarisierter Mythos ist mithin immer ein intertextuelles Erzeugnis. Welches Bild aber bietet sich auf der Seite der Rezipienten? Kann man davon ausgehen, daß Horazens Hörer bzw. Leser mit der griechischen und römischen Literatur so vertraut waren, daß sie Verweise auf Praetexte bemerken und goutieren konnten? Zunächst muß man von einem heterogenen Publikum ausgehen, für das diese Frage nicht generell beantwortet werden kann. Horaz selbst prophezeit ja im Sphragisgedicht 2,20, man werde ihn auch in entlegenen Teilen der Welt kennen (V. 13-20), und in carm. 4,3,1315 berichtet der Dichter, daß ihn die Jugend Roms (ohne nähere Spezifikation) schätze. Richtet man aber den Blick auf die zeitgenössische Vortragsform, so ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild: Üblicherweise trugen Dichter ihre Werke vor der Veröffentlichung in literarischen Zirkeln vor,15 und man kann davon ausgehen, daß zumindest einige Mitglieder solcher Zirkel über intime Kenntnis der griechischen und römischen Literatur verfügten. Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wenn man bedenkt, daß Horaz in vielen Gedichten hochgestellte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und insbesondere Literaten oder Kunstkenner apostrophiert,16 deren Belesenheit unstrittig sein dürfte. Obgleich damit nicht alle potentiellen zeitgenössischen Rezipienten erfaßt sind, läßt sich doch konstatieren, daß man
13 Als Motto wird z.B. der Anfangsvers von carm. 1,18 bezeichnet: nullam, Vare, sacra vite prius severis arborem. Er stellt offensichtlich eine das Metrum wahrende Übertragung des Alkaiosverses μηδὲν ἄλλο φυτεύσης πρότερον δένδρεον ἀμπέλω dar (fr. 342). Zu den horazischen Motti vgl. z.B. Cavarzere (1996) sowie Paolucci (1999). 14 So nennen Scholien z.B. für carm. 1,10 den Hermeshymnus des Alkaios, für carm. 1,15 ein Gedicht des Bakchylides als »Modell« der jeweiligen horazischen Ode. 15 Auch Horaz berichtet (zum Teil in komischer Brechung) von solchen Zirkeln oder Lesungen, z.B. in sat. 1,4,23-25.73ff.; 1,10,81ff.; epist. 1,19,39f.; 2,2,91ff. Vgl. auch Schmidt (2003) 819ff. 16 Um nur einige zu nennen (Belegstellen in Auswahl): Augustus (epist. 2,1), Maecenas (sat. 1,1; carm. 1,1; epist. 1,1), Asinius Pollio (sat. 1,10,85; carm. 2,1) und Tibull (carm. 1,33; epist. 1,4). Innige Freundschaften und regen Austausch des Horaz mit anderen Poeten belegen überdies z.B. sat. 1,5,39ff. und 1,10,81ff.
48
I. Teil: Prolegomena
von einer Art »Kernpublikum« ausgehen darf, welches Beziehungen eines Textes auf andere Texte erfassen und würdigen kann. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Dorothea Gall sogar für ein weit größeres Publikum: Die gängige Schulpraxis, größere Passagen der Literatur auswendig zu lernen, [...] garantierte zugleich in der an Anspielungen und Zitaten reichen Literatur das intellektuelle Vergnügen des Wiedererkennens.17
Auch auf der Seite der Rezipienten sind somit alle Voraussetzungen dafür erfüllt, daß man Intertextualitätsphänomene in den Oden erwarten kann.
4.3 Ergebnisse und Implikationen für diese Untersuchung Angesichts der bisherigen Erwägungen erscheint es angemessen, auch bei der Untersuchung der horazischen Oden Intertextualitätsphänomene zu berücksichtigen. Deshalb werde ich anstelle von herkömmlichen Bezeichnungen wie »Quelle« oder »Vorbild« im Folgenden Termini der Intertextualitätsforschung wie »Praetext« oder (synonym damit) »Referenztext« verwenden. Damit eine praktische Arbeit an konkreten Texten aber überhaupt möglich wird, muß definiert werden, was als Praetext gelten kann. Manfred Pfister z.B. referiert eine extreme Position: »Prätext jedes einzelnen Textes ist damit nicht nur das Gesamt aller Texte (im weitesten Sinn), sondern darüber hinaus das Gesamt aller diesen Texten zugrundeliegenden Codes und Sinnsysteme.«18 Er relativiert jedoch: Selbst Kritiker, die [...] nachdrücklich vom textontologischen Axiom eines globalen Intertextes ausgehen, verengen ihre Perspektive, sobald sie sich der konkreten Analyse von Intertextualität zuwenden. Das überrascht auch nicht, denn ein Konzept, das so universal ist, daß zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischem Potential für die Analyse und Interpretation.19
Man wird also festhalten dürfen, daß man im Sinne der praktischen Analyse nur dann von einem Praetext oder einem Referenztext sprechen kann, wenn 17 Gall (2006) 24; dies. skizziert ebd., welche Autoren im Schulbetrieb der augusteischen Zeit intensiv behandelt wurden. – Man denke auch an den Lektürekanon, den Ovid in ars 3,329ff. den Frauen empfiehlt. 18 Pfister (1985) 13. – Einige Theoretiker halten auch unbewußte oder zufällige Bezüge auf Texte für Erscheinungsformen von Intertextualität, vgl. Aczel (2004) 300. Umfassend ist auch der Ansatz von Hinds (1998) 26: »There is no discursive element in a Roman poem, no matter how unremarkable in itself, and no matter how frequently repeated in the tradition, that cannot in some imaginable circumstance mobilize a specific allusion.« 19 Pfister (1985) 15. Ähnlich auch Aczel (2004) 300.
4. Die Bedeutung der Intertextualität für Horazens Oden
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ein »in irgendeiner Weise konkret greifbare[r] Bezu[g]« in einem Text auf einen speziellen anderen Text oder eine Gruppe von Texten vorliegt.20 Deshalb werde ich im Folgenden die Termini »Praetext« oder »Referenztext« nur in diesem Sinne verwenden.
20
So Pfister (1985) 15; ders. wiederholt ebd. auf S. 17, daß es sich um »spezifische und prägnante Bezüge« handeln muß, damit man von Intertextualität oder von Systemreferenz – so bezeichnen einige den Bezug eines Textes auf Gruppen von Texten oder Textsysteme – sprechen kann.
5. Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern
Wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, handelt es sich bei den Oden des Horaz in besonderem Maße um »Literatur auf zweiter Stufe« im Sinne Gérard Genettes, d.h. um Texte, die von stetigen Hinweisen bzw. Rückgriffen auf Praetexte geprägt sind. Deshalb ist es für eine Analyse des horazischen Mythosgebrauches geradezu unerläßlich, zu wissen, wie griechische oder römische Dichter vor Horaz Mythen literarisch funktionalisiert haben. Da sich, wie die Intertextualitätsforschung zeigt, Texte nicht nur auf einzelne Praetexte, sondern auch auf Textgruppen beziehen können,1 ist es sinnvoll, den Mythosgebrauch einiger Dichter zusammenhängend zu skizzieren. Erst vor diesem Hintergrund können Traditionslinien oder -brüche, Adaptionen, Verfeinerungen, Gegenentwürfe oder sonstige Modifikationen in Horazens Umgang mit Mythen erkannt und angemessen beurteilt werden. Vor der jeweiligen Darstellung soll im Folgenden kurz erläutert werden, warum gerade der betreffende Autor bzw. die betreffende Gruppe von Texten in die Auswahl aufgenommen wurde.
5.1 Hesiod Hesiod aus Askra in Böotien2 wird bei Horaz nicht explizit erwähnt, obgleich in carm. 1,34,12ff. Vorstellungen aus Hesiods Erga anklingen3 und carm. 4,3,1f. eine Theogonie-Stelle evoziert.4 Es sprechen jedoch (mindestens) zwei Gründe dafür, Hesiod in diesem Rahmen zu behandeln: Einerseits ist Hesiod für die Ausgestaltung des komplexen und hochdifferenzierten Gesamtgebäudes des griechischen Mythos von so entscheidender Bedeutung, daß er in keiner Überblicksdarstellung zu diesem Thema über1
Wie im vorherigen Kapitel schon dargelegt wurde, sprechen einige beim Bezug eines Textes auf eine Gruppe von Texten nicht von Intertextualität, sondern von Systemreferenz. 2 Die communis opinio datiert Hesiod um die Jahrhundertwende zum 7. Jh v.Chr., die Entstehung der homerischen Gedichte in der uns vorliegenden Form dagegen in die zweite Hälfte des 8. Jh.s. Eine Datierung der homerischen Gedichte auf ca. 660 v.Chr. schlagen jedoch z.B. Burkert (1976) und West (1995) vor; für die Priorität Hesiods gegenüber Homer treten u.a. West (1966) 46f. und Blümer (2001a) 222.226 ein. 3 Vgl. dazu im I. Teil Kap. 3.1, S. 35, Anm. 8. 4 Hor. carm. 4,3,1f.: quem tu, Melpomene, semel / nascentem placido lumine videris; Hes. theog. 81f.: ὅντινα τιμήσουσιν ∆ιὸς κοῦραι μεγάλοιο / γεινόμενόν τ’ ἐσίδωσι κτλ.
5.1 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Hesiod
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gangen werden darf.5 Andererseits ist Hesiod gerade in augusteischer Zeit ein zentrales Thema des poetologischen Diskurses: Vergil stellt sich mit seinem Lehrgedicht Georgica in die Tradition der Erga und bekennt sich offen zu seinem Vorgänger aus Askra, der in den Eklogen gleichsam auf eine Stufe mit den mythischen Sängern der Vorzeit gestellt wird.6 Teilweise charakterisiert auch Properz sein eigenes Schaffen durch den Kontrast zum Böoter und dessen Nachfolgern; vereinzelt gibt sich aber auch dieser Elegiker in gewisser Weise ein hesiodeisches Kolorit.7 Angesichts dieser Umstände dürfte ein Blick auf den Mythos in Hesiods Theogonie und Erga auch für die Analyse des Mythos bei Horaz lohnend sein. Wie Hesiod im Proömium der Theogonie schildert, begann sein Dichtertum dadurch, daß die Musen ihn am Helikon die καλὴ ἀοιδή lehrten und ihm einen Lorbeerzweig schenkten, nachdem sie die dort lagernden Hirten schroff angefahren hatten.8 Sie diktierten ihm auch das »Programm« der Theogonie, wie die Verse 31ff. zeigen: ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν θέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα, καί με κέλονθ’ ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων, σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν. Sie aber haben mir göttlichen Gesang eingehaucht, damit ich rühme das Kommende und das Gewesene, und sie hießen mich, zu rühmen der ewig lebenden seligen Götter Geschlecht, sie selbst aber am Anfang und am Ende immer zu besingen.
Hesiods Theogonie, die Künftiges und Vergangenes zu rühmen weiß, ist in erster Linie eine Darstellung des griechischen Pantheons und anderer Mächte, welche das menschliche Leben tangieren. Den Hauptstrang der Erzählung bildet die Abfolge der drei Göttergenerationen, die sich um Uranos, Kronos und Zeus gruppieren, wobei der Wechsel jeweils gewaltsam erfolgt. Bei diesem Sukzessionsmythos handelt es sich um eine konsequent auf Zeus gerichtete Entwicklung; in ihm erfüllt sich eine große, für alle Zeiten
5 Vgl. Herodots Bewertung (2,53,2): οὗτοι [sc. Ἡσίοδος καὶ Ὅμηρος] δέ εἰσιν οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι καὶ τοῖσι θεοῖσι τὰς ἐπωνυμίας δόντες καὶ τιμάς τε καὶ τέχνας διελόντες καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες. 6 Verg. georg. 2,176: Ascraeumque cano Romana per oppida carmen; ecl. 6,69ff.: hos tibi dant calamos (en accipe) Musae, / Ascraeo quos ante seni, quibus ille solebat / cantando rigidas deducere montibus ornos. 7 Kontrast: Prop. 2,34,77 (zu Vergil): tu canis Ascraei veteris praecepta poetae, 2,10,25: nondum etiam Ascraeos norunt mea carmina fontis; hesiodeisches Kolorit: 2,13a,4: [Amor me] iussit et Ascraeum sic habitare nemus etc. 8 Ergänzend zum Theogonie-Proömium ist auch erg. 658f. heranzuziehen, wo Hesiod abermals auf seine Berufung durch die Musen zu sprechen kommt.
52
I. Teil: Prolegomena
festgelegte Ordnung.9 Bevor diese Ordnung jedoch dauerhaft gefestigt ist, muß Zeus in großen Kämpfen und Schlachten Ungeheuer und konkurrierende Göttersippen bezwingen. Diese zu Zeus führende Entwicklung stellt Hesiod dadurch dar, daß er neben der Entstehung der Welt und des Eros eine Reihe von Zeugungen und Geburten schildert. Fast alle Gottheiten und Mächte ordnet er dabei in drei Stammbäume ein: Stammmutter der ersten Linie ist die Nacht, während die zweite Gruppe von Uranos und Gaia abstammt; der dritte Stammbaum schließlich geht vom Meer aus. Einige Verortungen von Wesen in der Genealogie sind eher äußerlich; andere hingegen erscheinen völlig plausibel, so zum Beispiel, wenn Eris als Mutter von Qual, Vergessen, Hunger und Schmerzen genannt wird.10 Zur Darstellung der Götter in der Theogonie aber bemerkt Albin Lesky treffend: Uranos und Gaia sind Gottheiten, die planen und handeln, und die wir uns also nach Menschenart und in Menschengestalt vorstellen. Zu gleicher Zeit bedeuten sie aber Himmel und Erde als Teile der Welt [...] Dieses völlige Verfließen der Grenzen zwischen der konkreten Erscheinung in der Natur und der anthropomorphen Gottesvorstellung eignet dem griechischen Weltbild der älteren Zeit und in besonderem Maße Hesiod. Im Bereich der sogenannten niederen Mythologie, bei Fluß und Flußgott etwa [...] hat sich derartiges lange erhalten.11
In diese mythische Genealogie sind mehrere zusammenhängende Erzählungen eingefügt, die den ansonsten katalogartig reihenden Stil variieren. Neben der Titanenschlacht (V. 617ff.) und dem Kampf des Zeus gegen Typhoeus (V. 820ff.) ist besonders der Prometheusmythos (V. 535ff.) hervorzuheben. Wilhelm Blümer konstatiert nach seiner detaillierten Interpretation des Prometheusmythos in der Theogonie: Die Macht des Zeus, der nach Bezwingung seines Vaters Kronos in der Auseinandersetzung mit den Japetiden offenkundig eine erste Bewährungsprobe abzulegen hat, wird in dem knappen Bericht über die Besiegung der drei Japetossöhne klar vor Augen geführt. Im Mittelpunkt der eigentlichen […] Prometheusgeschichte steht eindeutig die Demonstration seiner stets obsiegenden Klugheit, die in absichtsvollem Kontrast zur verschlagenen, aber kurzsichtigen Torheit des Kronos vorgeführt wird, wie besonders die Gestaltung des Opferbetrugs mit ihrer Betonung der bewußten Inkaufnahme von Nachteilen durch den Göttervater zeigt. Diesem Zweck ist die ganze Darstellung untergeordnet und angemessen. [... Prometheus] ist ein würdiger Gegenspieler des Zeus, der Sieg über ihn umso höher zu beurteilen. Der Mythos ist das erste Glied in einer Kette von Bewährungsproben des Zeus; die Bezwingung der verschie9
Vgl. auch Lesky (1993) 118. Vgl. ebd. 120. 11 Ebd. 118. Man sieht allerdings deutlich, daß Lesky hier dem Konzept einer »primitiven« archaischen Epoche verpflichtet ist, die seiner Meinung nach erst langsam überwunden werden muß. 10
5.1 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Hesiod
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denartigen Gegner […] wiederum ist die Voraussetzung für die Schaffung einer neuen, gerechten Weltordnung, die unter anderem auch durch die anschließenden Heiraten des Zeus […] mythologisch abgebildet wird.12
Die Erga hingegen nehmen ihren Ausgang von der Belehrung des Perses durch seinen Bruder Hesiod. Nach einer unerfreulichen gerichtlichen Auseinandersetzung mit seinem Bruder ergreift Hesiod die Gelegenheit, um in einem beinahe allumfassenden Gedicht einerseits Ratschläge für den Landbau zu geben, andererseits aber auch die in der Welt wirkenden Kräfte zu erklären. Auf den Musenanruf folgt sogleich ein Hymnus13 auf deren Vater Zeus, der als Spender von Glück und Unglück dargestellt wird. Nach einer Art von »Aufgabenteilung« zwischen Zeus und dem Dichter – Zeus soll über das Recht wachen, Hesiod will seinen Bruder belehren (V. 9f.: κλῦθι ἰδὼν ἀιών τε, δίκῃ δ’ ἴθυνε θέμιστας / τύνη· ἐγὼ δέ κε Πέρσῃ ἐτήτυμα μυθησαίμην) – wird erklärt, daß es zwei Arten von Eris gebe, eine gute und eine schlechte, deren unterschiedliche Auswirkungen geschildert werden. Die gute Eris, die redliche und eifrige Bemühung, welche für Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität sorge, wird Perses nachdrücklich empfohlen. Die sich anschließenden Verse 42ff. geben mit Hilfe des Prometheusund des Pandoramythos eine Erklärung (γὰρ als überleitende Partikel in V. 42), warum das Leben überhaupt mühevoll ist und sich die Menschen ihren Lebensunterhalt »im Schweiße ihres Angesichts« verdienen müssen: Es handelt sich dabei um eine Strafe des Zeus, dessen Ratschluß niemand entgeht, wie Vers 105 konstatiert: οὕτως οὔ τί πη ἔστι ∆ιὸς νόον ἐξαλέασθαι. Hesiod schließt an diesen Komplex aber noch eine andere Erklärung der in seiner Gegenwart herrschenden Zustände an: Die Verse 109ff. berichten von der Abfolge von fünf meist mit Metallen verknüpften Zeitaltern, bei denen – abgesehen vom vierten, dem Heroenzeitalter – eine deutliche moralische und ethische Depravation zu beobachten ist. Den Tiefpunkt stellt das fünfte, das eiserne Zeitalter dar, in dem Hesiod selbst lebt; in ihm herrschen beinahe völliger Sittenverfall, Unheil und Rechtlosigkeit. Hesiod betrachtet also seine eigene Gegenwart als Endpunkt einer Entwicklung, die im Mythos ihren Ausgang genommen hat. Andererseits stellt die Dike, das sowohl genealogisch als auch im übertragenen Sinne direkt von Zeus stammende Recht, einen Gegenpol zu dieser Lage dar. Gerade das Recht als höchstes von Zeus stammendes Gut trennt die Menschen von den Tieren, und Zeus selbst wacht über die Einhaltung des Rechtes (V. 276ff.).
12
Blümer (2001b) 133f. – Diese Deutung ist weitgehend unabhängig von der Akzeptanz der Athetesen, welche Blümer innerhalb des Prometheusmythos vornimmt (Übersicht ebd. 121, Anm. 185). 13 Bedenken gegen den Terminus »Hymnus« äußert Blümer (2001b) 25.
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I. Teil: Prolegomena
Nach dieser Inhaltsskizze des ersten Erga-Drittels sollen nun die wichtigsten Differenzen zur Theogonie benannt werden. Schon anfangs (V. 11ff.) modifiziert Hesiod eine Aussage aus der Theogonie in signifikanter Weise: In der Theogonie (V. 411ff.) hatte Hesiod die Göttin Hekate als diejenige dargestellt, von der Glück und Unglück des Einzelnen abhängen. In den Erga jedoch erfüllt Zeus im Proömium genau diejenigen Funktionen, welche Hekate in der Theogonie ausübte, wobei zwischen beiden Stellen deutliche Übereinstimmungen im Wortmaterial festzustellen sind. Hekate, die Züge einer irrationalen, zufällig waltenden Macht trägt, ist durch Zeus, den Garanten des Rechtes, ersetzt. Dieser Austausch ist für Hesiods Intention unverzichtbar: In einem didaktischen, protreptischen Kontext, in dem gezeigt werden soll, daß Arbeit sinnvoll und lohnend ist, konnte unmöglich – wie im Hekatehymnus der Theogonie – behauptet werden, daß Erfolg eine Sache des Zufalls sei. Hesiod korrigiert also an dieser Stelle der Erga seine eigene, früher vorgetragene Deutung einer mythischen Macht.14 Eine weitere offensichtliche Korrektur einer früheren eigenen Aussage liegt in der sogenannten Erisdihärese vor: Während Hesiod in der Theogonie nur von einer einzigen Eris gesprochen hatte, die den Ursprung vieler menschlicher Übel darstelle, betont er am Anfang der Erga (V. 11ff.) ausdrücklich, daß es zwei Erides unterschiedlicher Art gebe: οὐκ ἄρα μοῦνον ἔην Ἐρίδων γένος, ἀλλ’ ἐπὶ γαῖαν / εἰσὶ δύω· τὴν μέν κεν ἐπαινήσειε νοήσας, / ἣ δ’ ἐπιμωμητή. Auch diese Umformung des früheren Mythologems läßt sich aus der paränetisch-protreptischen Gesamtanlage der Erga erklären: Es muß auch eine positive, förderliche Art des Wetteiferns geben, wenn Mühen sinnvoll sein sollen.15 Schließlich sei noch die Neubehandlung des Prometheusmythos in den Erga angesprochen.16 Tatsächlich sind die von Hesiod offensichtlich bewußt vorgenommenen inhaltlichen Änderungen zwischen der TheogonieDarstellung und der Schilderung in den Erga so tiefgreifend, daß man weniger von einer »Version« als von einer »Neuerzählung« sprechen muß. Während in der Theogonie Prometheus’ Opfertrug in Mekone und sein Feuerdiebstahl breiten Raum eingenommen hatten, werden diese Geschehnisse in den Erga denkbar knapp abgehandelt. In der Theogonie schickt Zeus die Urfrau zu den Menschen, und von ihr stammen alle Frauen ab (V. 590: ἐκ τῆς γὰρ γένος ἐστὶ γυναικῶν θηλυτεράων). Die Menschen tragen allerdings an dieser Entwicklung keine Schuld; sie ist eher eine Kon14
Vgl. Blümer (2001b) 32: »[Hesiod] nimmt eine wichtige Aussage der Theogonie in aller Deutlichkeit zurück; im Hinblick auf die Zielsetzung des neuen Gedichts konnte er auch kaum anders handeln.« 15 Vgl. z.B. Lesky (1993) 124, der darin »ein schönes Zeugnis seiner unverdrossenen Gedankenarbeit in den Formen des Mythos« sieht. 16 Die folgende Übersicht basiert weitgehend auf Blümer (2001b) 137-200.
5.1 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Hesiod
55
sequenz des »Schlauheits-ἀγών« zwischen Zeus und Prometheus, von dem sie im Rahmen dieser Auseinandersetzung zeitweise begünstigt wurden. Die Menschen hatten ferner keine Möglichkeit, dieser von Zeus gesandten »Plage« zu entgehen, und auch zu Hesiods Zeit gilt noch: Auch wer nicht heiratet, erleidet ein schlimmes Schicksal (V. 602ff.); an Zeus’ Plan kommt niemand vorbei (V. 613: ὣς οὐκ ἔστι ∆ιὸς κλέψαι νόον οὐδὲ παρελθεῖν). In den Erga hingegen stellen sich die Verhältnisse ganz anders dar: Pandora ist offenkundig nicht die Urfrau, von der alle Frauen abstammen, sondern die Personifikation der Bosheit. Epimetheus, welcher offensichtlich der menschlichen Sphäre angehört, nimmt trotz der Warnungen des Prometheus das Böse bewußt in sein Haus auf, mit allen für ihn selbst schlimmen Konsequenzen, deren er sich aber erst im Nachhinein bewußt wird. Blümer gelingt es zu zeigen, daß »Epimetheus Züge trägt, die auf den Bruder Hesiods passen, daß die Darstellung des Mythos auf die zuvor geschilderte aktuelle Situation Bezug nimmt.«17 Vor dem Hintergrund des Prometheusmythos erhält auch das auf den ersten Blick paradoxe Diktum vom Halben, das mehr als das Ganze sei (V. 40: οὐδὲ ἴσασιν, ὅσῳ πλέον ἥμισυ παντὸς), seinen guten Sinn: Die Menschen hatten zwar anfangs aufgrund des Prometheus’schen Opfertruges einen Vorteil und bekamen »das Ganze«; im weiteren Verlauf der Erzählung wird aber deutlich, daß dieser kurzfristige Gewinn für sie – längerfristig gesehen – große Nachteile mit sich brachte. Die zur Zeit Hesiods lebenden »geschenkefressenden Männer bzw. Könige« (Erga 220f.263f.) aber sind nicht fähig, aus diesem Mythos die richtigen Konsequenzen für ihr eigenes Verhalten zu ziehen; gerade deshalb sind sie νήπιοι (V. 40). Abschließend bleibt festzuhalten, daß in den Erga »die mythologische Darstellung nach dem aktuellen Hintergrund gestaltet wurde«, daß sie aber »zugleich den konkreten Anlaß in allgemeingültige Dimensionen transponiert«. Eindringlich und logisch nachvollziehbar stellt Hesiod »im mythologischen Bild die kausalen Zusammenhänge zwischen menschlichem Verhalten und dem von Zeus verhängten menschlichen Schicksal« dar.18 Hesiods Werk ist demnach durch seine thematische Weite und die Vielfalt der Mythenfunktionen in besonderer Weise dazu geeignet, als Praetext oder als Bezugspunkt für Systemreferenz zu fungieren.
17 18
Ebd. 177. Ebd. 225f.
5.2 Archilochos Es steht außer Frage, daß Horaz den frühgriechischen Dichter Archilochos von Paros (ca. 680-630 v.Chr.)1 und sein Werk hoch geschätzt hat: Mit seinem Buch der Epoden ordnet sich Horaz in die von Archilochos maßgeblich geprägte iambische Tradition ein. Wie er selbst stolz verkündet, war er es, der Latium bzw. der römischen Welt als erster parische Iamben gezeigt hat, wobei er sich allerdings eine gewisse Freiheit im Umgang mit der Dichtung des Archilochos zugestand.2 An einer Stelle der Epoden parallelisiert der Sprecher sogar sein eigenes Handeln völlig mit dem des Pariers.3 Auch an anderen Stellen wird deutlich, daß sich Horaz mit Archilochos intensiv auseinandergesetzt hat,4 so daß ein Blick auf den Mythos bei Archilochos innerhalb dieser Untersuchung unumgänglich erscheint. Aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes der Werke des Archilochos ist es schwierig, generelle Aussagen über den Mythos in seinem Œuvre zu treffen. Dennoch ist Albin Leskys These, bei Archilochos bleibe »der Mythos völlig im Hintergrunde«,5 sicherlich nicht haltbar. So betet der Sprecher6 in fr. 26 zu Apollon und erfleht die Bestrafung von Schuldigen: 5
ὦναξ Ἄπολλον, καὶ σὺ τοὺς μὲν αἰτίους πήμαινε καί σφας ὄλλυ’ ὥσπερ ὀλλύεις, ἡμέας δὲ [
1 Herodot weist in 1,12,2 darauf hin, daß Archilochos ein Zeitgenosse des wohl 652 v.Chr. verstorbenen Lyderkönigs Gyges war; zur Datierung vgl. z.B. Bowie (1996) 994. 2 Epist. 1,19,23-25: Parios ego primus iambos / ostendi Latio, numeros animosque secutus / Archilochi, non res et agentia verba Lycamben. – Vgl. zu Horazens Methode der »Übertragung« im I. Teil Kap. 6. 3 Epod. 6,11-13.: cave, cave: namque in malos asperrimus / parata tollo cornua, / qualis Lycambae spretus infido gener [...]. Den Hintergrund dieser Drohung bildet die Zurückweisung des Archilochos durch seinen (Beinahe-)Schwiegervater Lykambes, für die sich jener durch üble Invektiven rächte – sofern man der biographischen Tradition Glauben schenkt. 4 Sat. 2,3,11f.: Archilochos als Reise- und Freizeitlektüre; ars 79: Archilochos als Iambiker par excellence. – Zum Verhältnis Archilochos/Horaz vgl. ferner u.a. Leo (1900), Wistrand (1964), Degani (1993), Hutchinson (2007) sowie Watson (2007). 5 Lesky (1993) 138. Fränkel (1927) 573 behauptet sogar, der Mythos fehle in den Fragmenten des Archilochos komplett. Vorsichtiger formuliert Nickel (2003) 313: »das Mythologische spielt keine besondere Rolle bei Archilochos«. 6 Ältere Darstellungen der griechischen Literaturgeschichte deuten jedes »Ich« in einem Archilochosgedicht als Ausdruck der erwachenden Individualität, als Anzeichen eines Selbstbewußtseins, das es in den homerischen Epen noch nicht gegeben habe, welches sich nun aber in der Lyrik erstmals manifestiere. In letzter Zeit ist man in dieser Hinsicht allerdings weit zurückhaltender, da man nicht mehr a priori den Sprecher mit dem Autor identifiziert. Vgl. dazu z.B. Bowie (1996) 995, der das Auftreten des »Ich« als Spezifikum der Gattung ansieht. – Vgl. zu dieser Frage auch im I. Teil Kap. 3.2.
5.2 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Archilochos
57
Gebieter Apollon, füge auch du den Schuldigen Leid zu und vernichte sie, wie du [auch sonst] vernichtest, uns aber
5
Vielleicht ist dieses Gebet vor dem Hintergrund von Mythen zu sehen, in denen Apollon als Rächer auftritt, wie z.B. als er den Griechen vor Troja die Pest sendet oder als er die Söhne der Niobe tötet.7 In homerischer Weise schildert Archilochos in fr. 94,1ff. das Eingreifen Athenes in einer Schlacht: τῶν δ’ Ἀθηναίη μάχηι ἵλαος παρασταθεῖσα παῖς ἐρικτύπου ∆ιὸς καρδίην ὤρινεν †αὐτῆς τῆς πολυκλαύτου λεώ Deren Mut aber hat Athene in der Schlacht, indem sie ihnen gütig an die Seite trat, das Kind des laut donnernden Zeus, angestachelt, † [den Mut] eben des vielbeweinten Kriegsvolkes8
Überdies lassen sich neben eher beiläufigen Erwähnungen von Gestalten des Mythos9 auch Reste bzw. Zeugnisse eines Hymnus auf Herakles finden. Das Fragment 324,1ff. apostrophiert den Heros folgendermaßen: τήνελλα καλλίνικε χαῖρε ἄναξ Ἡράκλεις, αὐτός τε καἰόλαος, αἰχμητὰ δύω.10 Hurra, du prächtig Siegender, sei gegrüßt, Gebieter Herakles, du selbst und auch Jolaos, ihr beiden Lanzenkämpfer!
Aus anderen Zeugnissen geht indirekt hervor, daß Archilochos den Heraklesmythos in seinem Œuvre thematisiert hat. Dion Chrysostomos berichtet, daß einige die Darstellung des Archilochos in manchen Punkten kritisierten: Kannst du mir dieses Problem lösen, ob die einen zu Recht Archilochos Vorwürfe machen, die anderen Sophokles hinsichtlich der Ereignisse um Nessos und Deianira, oder nicht? Die einen behaupten nämlich, Archilochos sei schwatzhaft, weil er Deianira, während ihr von dem Kentauren Gewalt angetan werde, Herakles ansingen lasse, 7
Pest: Hom. Il. 1,43ff.; Tötung der Söhne Niobes: Hom. Il. 24,605f.; Ov. met. 6,146ff. Ähnliches scheint auch in fr. 98 vorzuliegen: Innerhalb der Beschreibung von Kampfhandlungen sind dort Athene und Zeus genannt. Allerdings läßt sich aufgrund des Erhaltungszustandes des Gedichtes nicht mehr eindeutig bestimmen, in welchem Verhältnis diese beiden Namen zum Rest stehen. – In fr. 108 jedoch wird Hephaistos eindeutig um Hilfe angerufen: κλῦθ’ ἄναξ Ἥφαιστε, καί μοι σύμμαχος γουνουμένωι / ἵλαος γενέο, χαρίζεο δ’ οἷά περ χαρίζεαι. 9 So ist in fr. 12 von den ἀνιηρὰ Ποσειδάωνος ἄνακτος / δῶρα die Rede, in fr. 18 vom παῖδ’ Ἄρεω μιηφόνου. Schwer zu deuten ist die Aussage in fr. 91,14f.: μηδ’ ὁ Ταντάλου λίθος / τῆσδ’ ὑπὲρ νήσου κρεμάσθω κτλ. 10 Die Echtheit dieses Fragments ist allerdings umstritten; Martin L. West führt es in seiner Ausgabe unter den spuria auf; vgl. dort auch die entsprechenden Testimonien. 8
58
I. Teil: Prolegomena
indem sie an das Werben des Acheloos und die damaligen Geschehnisse erinnere, so daß Nessos viel Zeit gehabt habe, auszuführen, was er wollte.11
Ferner belegen auch andere Zeugnisse, daß sich Archilochos in seinen Werken eingehend mit Herakles auseinandergesetzt hat,12 so daß die anfangs angeführte These Leskys, der Mythos bleibe bei Archilochos völlig im Hintergrund, als widerlegt betrachtet werden darf. Zum Abschluß soll noch auf eine ganz besondere Art der »mythischen Dichtung« bei Archilochos eingegangen werden, auf die vor allem Bernd Seidensticker aufmerksam gemacht hat.13 Immer wieder lassen sich Parallelen zwischen Homers Odyssee und Aussagen des Sprechers in Archilochos’ Werk finden. In einer seiner großen Lügenreden, einem Apologos, erzählt Odysseus dem Schweinehirten Eumaios eine erfundene Biographie (Odyssee 14,191ff.): Er, ein Kreter, sei der uneheliche Sohn eines reichen Mannes. Obwohl er nach dem Tod seines Vaters bei der Verteilung der Erbschaft übervorteilt worden sei, sei es ihm dennoch gelungen, eine reiche Frau zu heiraten. Schiffe und Kämpfe seien seine Welt, und durch zahlreiche Raubzüge habe er schon vor den Ereignissen in Troja ansehnlichen Besitz zusammengetragen. Später aber habe er bei einem Raubzug in Ägypten während des Kampfes seine Rüstung, seinen Schild und seinen Speer weggeworfen. Die Parallelen zur vermeintlichen Archilochosbiographie, die aus den Fragmenten rekonstruiert wurde, sind zahlreich und auffällig.14 Auch an anderen Stellen kann man intertextuelle Verbindungen zwischen diesen beiden Autoren vermuten. Archilochos sagt in fr. 1,1ff. wohl von sich selbst: εἰμὶ δ’ ἐγὼ θεράπων μὲν Ἐνυαλίοιο ἄνακτος καὶ Μουσέων ἐρατὸν δῶρον ἐπιστάμενος, Ich bin ein Diener des Ares Enyalios, des Gebieters, der sich auch auf der Musen liebliches Geschenk versteht, 11 Fr. 286: ἔχεις μοι λῦσαι ταύτην τὴν ἀπορίαν, πότερον δικαίως ἐγκαλοῦσιν οἱ μὲν τῷ Ἀρχιλόχῳ, οἱ δὲ τῷ Σοφοκλεῖ, περὶ τῶν κατὰ τὸν Νέσσον καὶ τὴν ∆ηιάνειραν, ἢ οὔ; φασὶ γὰρ οἱ μὲν τὸν Ἀρχίλοχον ληρεῖν ποιοῦντα τὴν ∆ηιάνειραν ἐν τῷ βιάζεσθαι ὑπὸ τοῦ Κενταύρου πρὸς τὸν Ἡρακλέα ῥαψῳδοῦσαν, ἀναμιμνήσκουσαν τῆς τοῦ Ἀχελῴου μνηστείας καὶ τῶν τότε γενομένων, ὥστε πολλὴν σχολὴν εἶναι τῷ Νέσσῳ ὅτι ἐβούλετο πρᾶξαι [...]. 12 Fr. 287: ἐντεῦθεν ὁρμηθέντες τὸν Ἀχελῷον ἐταύρωσαν Ἡρακλεῖ ἀγωνιζόμενον. Ἀρχίλοχος μὲν οὐκ ἐτόλμησεν Ἀχελῷον ὡς ποταμὸν Ἡρακλεῖ συμβαλεῖν, ἀλλ’ ὡς ταῦρον [...]; fr. 288: [Ἡρακλῆς] φεύγων οὖν τὸν φόνον καὶ σὺν τῇ γαμετῇ στελλόμενος ἀνεῖλεν ἐν Εὐήνῳ ποταμῷ Νέσσον Κένταυρον, ὡς καὶ Ἀρχίλοχος ἱστορεῖ; fr. 289: καίτοι τῶν παλαιῶν καὶ λογίων ἀνδρῶν οὐχ Ὅμηρος, οὐχ Ἡσίοδος, οὐκ Ἀρχίλοχος [...] Αἰγυπτίου ἔσχον λόγον Ἡρακλέους ἢ Φοίνικος, ἀλλ’ ἕνα τοῦτον ἴσασιν πάντες Ἡρακλέα τὸν Βοιώτιον ὁμοῦ καὶ Ἀργεῖον. 13 Seidensticker (1978) 5ff.; auf diese Arbeit stützt sich auch die folgende Darstellung weitgehend. 14 Vgl. dazu im Einzelnen Seidensticker (1978), der auch ältere Literatur anführt.
5.2 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Archilochos
59
Odysseus wiederum ist zwar eher ein Krieger als ein Sänger; aber nachdem er am Hof des Alkinoos von seiner Nekyia erzählt hat, lobt ihn der Phäakenkönig und spricht ihm das Kompliment aus, er habe die Geschichte wie ein Aöde vorgetragen.15 Somit kann man auch Odysseus als θεράπων μὲν Ἐνυαλίοιο ἄνακτος καὶ Μουσέων ἐρατὸν δῶρον ἐπιστάμενος betrachten. Überdies stimmen der Sprecher bei Archilochos und der homerische Odysseus in ihrer Weltsicht mehrfach überein.16 Somit zieht Seidensticker wohl zu Recht folgendes Fazit:17 (1) Latte has observed the striking similarity between the »life« of the pseudoOdysseus in the Cretan tale […] and the life of Archilochus as it appears; (2) Archilochus as he presents himself in his poems shares the central character traits and attitudes of both the true and the false Odysseus, endurance and resourcefulness; and (3) the poet reveals an unmistakable liking for this one epic hero. […] It appears then quite likely that Archilochus felt (and followed) a congenial spirit in Odysseus, the πολύτλας and πολυμήχανος, the heroic soldier, curious adventurer and pseudo-poet, the »untypical hero«.
Archilochos’ Mythengebrauch ist also vielfältig und facettenreich; somit bot er Horaz zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten.
15
Hom. Od. 11,367-369: σοὶ δ’ ἔπι μὲν μορφὴ ἐπέων, ἔνι δὲ φρένες ἐσθλαί, / μῦθον δ’ ὡς ὅτ’ ἀοιδὸς ἐπισταμένως κατέλεξας, / πάντων Ἀργείων σέο τ’ αὐτοῦ κήδεα λυγρά. 16 Beispiele bei Seidensticker (1978) 16ff. 17 Ebd. 19.
5.3 Die lesbisch-äolische Lyrik Die Bedeutung der frühgriechischen Lyrik für Horaz ist allgemein bekannt. Insbesondere die Werke der lesbisch-äolischen Lyriker Alkaios und Sappho (um 600 v.Chr.) prägen die horazische Oden-Dichtung in entscheidender Weise, was umso bemerkenswerter ist, als eine Hinwendung zu den frühgriechischen Lyrikern zwangsläufig eine Abkehr vom Verhalten der Vorgängergeneration bedeutete, die wie zum Beispiel die Neoteriker ihre Vorbilder vor allem in der hellenistischen Dichtung fand.1 Diese Prägung manifestiert sich in mindestens dreifacher Weise:2 Erstens rühmt sich Horaz selbst – zu Recht, wie die zahlreichen Gedichte in sapphischen und alkäischen Strophen zeigen –, er habe als erster die Versmaße der lesbisch-äolischen Lyrik (also die des Alkaios und der Sappho) in die römische Dichtung eingeführt;3 er verkündet also mit Stolz seine (zumindest metrische) »Verwandtschaft« mit diesen Dichtern. Zweitens weisen die sogenannten Mottogedichte, in denen eine Übersetzung aus einem Stück frühgriechischer Dichtung am Anfang steht,4 auf die enge Verbindung zwischen Horaz und den frühgriechischen Lyrikern hin. Drittens erwähnt Horaz mehrmals Alkaios und Sappho lobend.5 Es erscheint demnach notwendig, den Mythengebrauch dieser beiden Dichter hier kurz zu skizzieren.
1
Vgl. hierzu auch Kytzler (1996) 44. Dennoch kennt Horaz freilich auch die Raffinessen der hellenistischen Dichtung und weiß sich ihrer zu bedienen. Vgl. dazu im I. Teil Kap. 5.7. 2 Zu diesem Komplex seien aus der Fülle von Untersuchungen Pasquali (1920) 1-140, Fraenkel (1957) 183-212 und Hutchinson (2007) genannt. – Hinsichtlich der Unterschiede in Lebenssituation und Ethos beider Dichter bemerkt Miller (1991) 371 paradox, aber treffend: »Alcaeus thus becomes Horace’s ideal predecessor only by not being Alcaeus.« 3 So in carm. 3,30,10-14: dicar [...] princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos. Zwar hatte auch Catull Metra der frühgriechischen Lyrik verwendet, doch nicht in so großem Umfang wie dann später Horaz. 4 Vgl. dazu im I. Teil, Kap. 4.2, S. 46f. Vgl. aber auch die Einschränkung bei von Albrecht (2003) 573: »Solche Zitate wollen weniger eine stoffliche Beziehung zum Vorgänger herstellen als vielmehr eine Stimmung oder ein Stilniveau evozieren; der Text nimmt denn auch meist einen anderen Fortgang als sein Vorbild.« Unberührt davon bleibt das Faktum, daß Horaz die betreffenden Gedichte gut gekannt haben muß. 5 Alkaios allein wird in carm. 1,32,5-12 als Lesbi[us] civi[s] erwähnt, wobei seine persönlichen Qualitäten (ferox bello, V. 6) und die Themen seiner Dichtung (V. 9-12) genannt werden. Zusammen treten Sappho und Alkaios in der »Beinahe-Katabasis« der Ode 2,13 auf. Dabei wird Sappho nur beschrieben, Alkaios aber wird apostrophiert (te [...] Alcaee, V. 26f.), und Themen der beiden Dichter klingen dort an. – Fraenkel (1957) 198 behauptet rigoros in der Nachfolge Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs, daß Horaz Sappho niemals nachgeahmt habe. Ders. fügt jedoch ebd. (auf S. 198f.) hinzu, daß Horaz Sappho »so gut verstand und so sehr bewunderte.«
5.3 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: lesbisch-äolische Lyrik 61
5.3.1 Alkaios Bei Alkaios begegnen Mythen zunächst in Hymnen und Gebeten. In den zumindest teilweise erhaltenen Hymnen, unter denen auch ein Hymnus auf Hermes existiert (fr. 3086), finden sich gattungstypische Bauelemente wie die Nennung der Abkunft des gepriesenen Gottes oder seiner Taten und Leistungen im Mythos. Dabei bemüht sich Alkaios, wie Herbert Eisenberger gezeigt hat, »stets um die Wiedergabe nicht rein konventioneller, sondern zugleich persönlicher Bilder«.7 Solche »mythischen« Hymnen sind zum Beispiel das an Eros gerichtete Gedicht oder jenes an den Fluß Ebros.8 Daneben lassen sich auch »politische« Hymnen finden, in denen für eine aktuelle politische Situation göttliche Hilfe erfleht wird, wie z.B. fr. 34 A. Dort werden anscheinend innerhalb einer Allegorie, die eine politische Krise mit Seenot vergleicht, die als Nothelfer der Seeleute bekannten Dioskuren angerufen. Von ihrer Stätte aus, der Insel der Seligen, sollen Kastor und Pollux kommen – offenbar um beim Kampf gegen Feinde zu helfen. Ferner liegt allem Anschein nach in fr. 129 ein Gebet vor, bei dem Götter, deren Kultaitiologie vorgetragen wird, um die Bestrafung des politischen Gegners gebeten werden.9 Aber auch sympotische Gedichte enthalten zuweilen mythische Elemente: In fr. 346 erfährt man, daß es Dionysos war, der den Menschen den Wein geschenkt hat und sie dadurch (noch immer) ihre Sorgen vergessen läßt. Zechen ist also aitiologisch legitimiert, da es sich beim Wein um ein göttliches Geschenk handelt: Πώνωμεν· [...] [...] οἶνον γὰρ Σεμέλας καὶ ∆ίος υἶος λαθικάδεα ἀνθρώποισιν ἔδωκ’. ἔγχεε κέρναις ἔνα καὶ δύο πλήαις κὰκ κεφάλας, δ’ ἀτέρα τὰν ἀτέραν κύλιξ ὠθήτω
3 5
Wir wollen trinken! [...] [...] Den Wein nämlich, der Sorgen vergessen läßt, hat Semeles und Zeus’ Sohn den Menschen gegeben. Schenk’ ein und misch’ eins zu zwei,
3
6
Dieser Hymnus wird unten (II. Teil, Kap. 8.2.2) eingehender behandelt. Eisenberger (1956) 45. Alkaios’ Intention bei dieser Darstellungsweise sei es gewesen, »den einzelnen Gott den Hörern näher [zu] bringen, ihn in seinem Wesen und seiner Einzigartigkeit verstehen [zu] lassen«, wie ders. ebd. (auf S. 47) weiter ausführt. 8 An Eros: fr. 327; das Ebrosgedicht: fr. 45. 9 Vgl. dazu Tsomis (2001) 50. Ders. schränkt aber ebd. auf S. 268 ein: »Die Fragmente lassen keinen Bezug auf aktuelle politische Angelegenheiten erkennen«, wobei der Akzent wohl auf »aktuelle« liegt. 7
62 5
I. Teil: Prolegomena mach’ voll bis zum Rand! Ein10 Becher aber soll den anderen stoßen!
Im Melanipposgedicht (fr. 38a) wird durch den Sisyphosmythos die Unwiderruflichkeit des Todes dargestellt; der Mythos ist hierbei wiederum Teil eines Trinkliedes:11
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Πῶνε[...] Μελάνιππ’ ἄμ’ ἔμοι. [...] [...] καὶ γὰρ Σίσυφος Αἰολίδαις βασίλευς [ ἄνδρων πλεῖστα νοησάμενος [...] ἀλλὰ γὰρ πολύιδρις ἔων ὐπὰ κᾶρι [δὶς διννάεντ’ Ἀχέροντα ἐπέραισε, [...] α]ὔτω μόχθον ἔχην Κρονίδαις βα[σίλευς μελαίνας χθόνος. ἀλλ’ ἄγι μὴ [...] Trink, [...] Melanippos, mit mir! [...] Denn auch der König Sisyphos, des Aiolos Sohn, der unter den Menschen am meisten verstand [...] Aber obwohl er klug war tief im Herzen, hat er doch [zweimal den wirbelnden Acheron durchquert, [...] Ihm [gab] Qual zu erdulden der Kronossohn, der König der schwarzen Erde. Also los, nicht [...]!
Die allgemeine Funktion solcher mythischer Beispiele bei Alkaios faßt Georgios Tsomis wohl treffend so zusammen: In anderen Gedichten zeigt er mythische Beispiele der Verletzung oder der Erfüllung sittlicher und religiöser Normen des Adels und der Folgen des Handelns, um seinen Zuhörern in Anbetracht des gegenwärtigen Umbruchs die Gültigkeit und die Notwendigkeit unbeirrbarer Respektierung dieser alten Normen einzuschärfen, aber auch, um sie in ihrem Haß und ihrer Lust zum Kampf gegen den politischen Feind, der mit mythischen Übeltätern verglichen wird oder verglichen werden soll, zu bestärken.12
Daneben sind aber auch Fragmente mythischer Erzählungen überliefert, bei denen aufgrund ihres Erhaltungszustandes nicht entschieden werden kann, ob sie ursprünglich in einem nicht-mythischen Kontext standen. Als Beispiele könnte man das Fragment 283 nennen, in dem Helena und Paris erscheinen,13 oder die Erzählung von Peleus, Thetis, Achill und Helena, von deren Erzählstil der folgende Auszug einen Eindruck vermitteln soll (fr. 42,5-16): 10 Bei der deutschen Übersetzung wird hier und im Folgenden auf eine durchgehende Bezeichnung der textkritischen Probleme verzichtet. 11 Vgl. dazu auch im II. Teil Kap. 3.3, S. 209f. 12 Tsomis (2001) 268. – Zum mythischen Beispiel vgl. auch im II. Teil Kap. 2.7. 13 Vgl. dazu im II. Teil Kap. 9.2.2.
5.3 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: lesbisch-äolische Lyrik 63 5
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οὐ τεαύταν Αἰακίδαι[ς πάντας ἐς γάμον μάκ[αρας καλέσσαις ἄγετ’ ἐκ Νή[ρ]ηος ἔλων [μελάθρων πάρθενον ἄβραν ἐς δόμον Χέρρωνος· ἔλ[υσε δ’ ζῶμα παρθένω· φιλο[ Πήλεος καὶ Νηρεΐδων ἀρίστ[ας. ἐς δ’ ἐνίαυτον παῖδα γέννατ’ αἰμιθέων [ ὄλβιον ξάνθαν ἐλάτη[ρα πώλων, οἰ δ’ ἀπώλοντ’ ἀμφ’ Ἐ[λέναι καὶ πόλις αὔτων. Nicht als eine solche hat der Aiakossohn, als er alle seligen Götter zur Hochzeit einlud, aus Nereus’ Palast genommen die zarte Jungfrau und sie geführt ins Hause Chirons. Er lös[te aber den Gürtel der Jungfrau; Lieb[e des Peleus und der Besten der Nereiden [entbrannte (o.ä.). Nach einem Jahr aber gebar sie einen Sohn, der Halbgötter [Besten (o.ä.), einen glücklichen, Lenker der falben Fohlen; die aber gingen [im Kampf] um Helena zugrunde, und auch ihre Stadt.
Hier werden mehrere Generationen mythischer Personen miteinander verglichen: Paris und Helena stehen Peleus und Thetis gegenüber, welche eine Generation älter sind. Von Helena her (ἐκ σέθεν, im hier nicht aufgeführten Vers 3) brach das Unglück über Troja herein. Um Thetis hingegen war es ganz anders bestellt (οὐ τεαύταν, V. 5): Nach einer prächtigen Hochzeit gebar sie den strahlenden Halbgott Achill. In den Ereignissen vor Troja treffen sich die Schicksale beider Frauen: Im Kampf um Helena fällt Thetis’ Sohn Achill. Thetis erscheint in diesem Zusammenhang durchweg in positivem Kontext; Helena wird zwar nicht explizit verurteilt, doch ist sie der Ursprung des Unheils.14 14 Vgl. zu diesem Fragment auch Tsomis (2001) 264ff., der hier zeitkritische Tendenzen vermutet: »Der große Achill war die Frucht der ehelichen Verbindung der jungfräulichen Thetis mit Peleus, die Vernichtung der Troer und ihrer Stadt die Folge der ehebrecherischen Liaison Helenas […] mit Paris. [Hier] zeigt sich die konservative Einstellung des Dichters zu den überkommenen Normen, Werten und Institutionen des Adels: Mit den beiden gegensätzlichen Paradeigmata wendet er sich gegen Libertinage von Adligen und setzt sich für Ehe und Familie ein, von denen der Bestand des Adelsgeschlechtes abhängt.«
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I. Teil: Prolegomena
In seinem Fazit betont Eisenberger demnach zu Recht die selbständige und eigenwillige Art, wie Alkaios Mythen gestaltet, den dramatischen Aufbau der Mythenerzählungen und die kontrastive Gegenüberstellung von mehreren mythischen Gestalten. Alkaios stelle Geschehen vorzugsweise in einem ethisch bestimmten Sinn dar; durch die Mythologumena wolle er in paränetisch-erzieherischer Absicht zur Anerkennung einer höheren Ordnung führen.15 5.3.2 Sappho Für Sappho sind mythische oder politische Hymnen nicht bezeugt,16 sondern nur An- und Herbeirufungen von Göttern (ὕμνοι κλητικοί), vor allem an Aphrodite gerichtete Bitten, die durchaus persönliche Anliegen transportieren. Dies läßt sich zum Beispiel an dem berühmten Aphroditehymnus zeigen. In die Beschreibung der Vorzüge und Leistungen der Liebesgöttin sind persönliche Wünsche eingeflochten; Aphrodite soll eine Verbündete im »Liebeskampf« der Sprecherin werden (fr. 1): »ποικιλόθρον’ ἀθανάτ’ Ἀφρόδιτα, παῖ ∆ίος δολόπλοκε, λίσσομαί σε, μή μ’ ἄσαισι μηδ’ ὀνίαισι δάμνα, πότνια, θῦμον, ἀλλὰ τυίδ’ ἔλθ’, αἴ ποτα κἀτέρωτα τὰς ἔμας αὔδας ἀίοισα πήλοι ἔκλυες, πάτρος δὲ δόμον λίποισα χρύσιον ἦλθες [...]«
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[...] »τίς σ’, ὦ
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Ψάπφ’, ἀδίκησι;
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καὶ γὰρ αἰ φεύγει, ταχέως διώξει, αἰ δὲ δῶρα μὴ δέκετ’, ἀλλὰ δώσει, αἰ δὲ μὴ φίλει, τάχεως φιλήσει κωὐκ ἐθέλοισα.« »ἔλθε μοι καὶ νῦν, χαλέπαν δὲ λῦσον ἐκ μερίμναν, ὄσσα δέ μοι τέλεσσαι θῦμος ἰμέρρει, τέλεσον, σὺ δ’ αὔτα σύμμαχος ἔσσο.«
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Eisenberger (1956) 51.70ff. Lediglich in fr. 17 sieht Eisenberger (1956) 84 einen kultaitiologischen Mythos und damit ein Indiz für einen mythischen Hymnus. 16
5.3 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: lesbisch-äolische Lyrik 65
»Buntthronende unsterbliche Aphrodite, listenflechtendes Kind des Zeus, ich flehe dich an, bezwinge mir nicht mit Kummer oder Qualen, Herrin, den Sinn, sondern komm’ hierher, wenn du schon ein andermal meine Stimme vernahmst in der Ferne und mich erhörtest, des Vaters goldenes Haus verließest und kamst [...]«
5
[...]
»Wer tut dir,
19
Sappho, Unrecht?
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Denn auch wenn sie [jetzt] flieht, wird sie dich rasch verfolgen; wenn sie aber keine Geschenke annimmt, so wird sie doch welche geben; wenn sie aber nicht liebt, wird sie rasch lieben, auch gegen ihren Willen.«
»Komm’ zu mir auch nun und befreie mich von schlimmen Sorgen; was mir aber das Herz zu vollenden wünscht, das vollende; du aber selbst sei meine Verbündete!«
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Indem Sappho ihre Bitte in Hymnenform kleidet, verortet sie ihr eigenes Anliegen in einem größeren Rahmen: Einerseits bedient sie sich der traditionellen, rituellen Gebetsform, andererseits stellt sie sich selbst auch in einen sozialen Kontext, sofern man von einem Vortrag des Hymnus in ihrem Mädchenkreis ausgehen darf.17 Die Funktion dieses Hymnus charakterisiert Tsomis wohl zu Recht folgendermaßen: Die Ode 1 V. ist an Aphrodite gerichtet, war aber nicht nur für sie bestimmt: Die Dichterin sang sie nicht in der Einsamkeit, sondern im Kreis ihrer Mädchen. […] Sappho will m.E. in ihren Zuhörerinnen, vor allem in der einen[, in die sie verliebt ist,] nicht nur den Eindruck großen Liebeskummers und starken Liebesverlangens, sondern auch den Glauben erzeugen, daß Aphrodite ihr jetzt wieder so wie früher erscheinen und beistehen werde. […] So sollen, wie mir scheint, Aphrodite und Sappho gemeinsam durch dieses Gedicht die bisher Abweisende dazu bewegen, daß sie ihren Widerstand aufgibt.18
Auffällig an fr. 1,21-24 ist, daß auch Aphrodite sich in magisch-beschwörend anmutender Weise ausdrückt, indem sie kurze, parallele, z. T. anaphorische Kola bildet: Der Stil Aphrodites gleicht sich demjenigen der Betenden an. Die preisende Einflechtung mythischer Motive von Seiten der Sprecherin dient bei solchen persönlichen Bitten der Verstärkung des Anrufs; 17 18
Vgl. auch Segal (1996) 63f. Tsomis (2001) 43.
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I. Teil: Prolegomena
Eisenberger sieht in ihnen einen intimen Ausdruck von Frömmigkeit und Gottesverehrung.19 Ferner kann man auch bei Sappho mythische Exempla finden: So führt die Dichterin in einem Gedicht, das die Relativität des Schönsten darlegen soll, Helena als mythisches Beispiel für die Natur des Menschen an, ohne daß ihr Verhalten ethisch gedeutet würde (fr. 16)20: ο]ἰ μὲν ἰππήων στρότον, οἰ δὲ πέσδων, οἰ δὲ νάων φαῖσ’ ἐπ[ὶ] γᾶν μέλαι[ν]αν ἔ]μμεναι κάλλιστον, ἔγω δὲ κῆν’ ὄττω τις ἔραται· πά]γχυ δ’ εὔμαρες σύνετον πόησαι π]άντι τ[ο]ῦτ’, ἀ γὰρ πόλυ περσκέθοισα κάλλος [ἀνθ]ρώπων Ἐλένα [τὸ]ν ἄνδρα τὸν [ αρ]ιστον
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καλλ[ίποι]σ’ ἔβα ’ς Τροΐαν πλέοι[σα κωὐδ[ὲ πα]ῖδος οὐδὲ φίλων το[κ]ήων πά[μπαν] ἐμνάσθ κτλ.
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Ein Reiterheer, so sagen die einen, Fußvolk, so die anderen, eine Flotte, so wieder andere, sei auf der schwarzen Erde das Schönste; ich aber sage, daß das am schönsten ist, wonach einer sich sehnt. Und es ist ganz einfach, dies jedem verständlich zu machen: Denn Helena, die bei weitem an Schönheit die Menschen übertraf, hat ihren Mann, den besten
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zurückgelassen und ist nach Troja gesegelt, und an ihr Kind oder ihre Eltern dachte sie überhaupt nicht usw.21
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Tithonos wiederum, der unsterbliche, aber nicht ewig jugendliche Gemahl der Eos, tritt in einem anderen Gedicht (fr. 58) auf, um das schmerzvolle Bewußtsein des körperlichen Alters auszudrücken.22 Die Dichterin resp. Sprecherin deutet also mythische Ereignisse und Komplexe subjektiv gemäß ihrem eigenen Empfinden. 19
Vgl. Eisenberger (1956) 88. Zur Struktur und zur Argumentationsstrategie dieses Gedichtes vgl. z.B. Schmid (1982) 74ff. und DuBois (1996) 79ff. 21 Falls man mit Merkelbach (1957) 14ff. in diesem Fragment ein Hochzeitslied sieht, ergibt sich eine Parallele zwischen Helena, die das Haus ihres Ehemanns verläßt, und der Braut, die das Haus ihrer Eltern verläßt. 22 Zu diesem Gedicht vgl. z.B. Tsomis (2001) 247ff. 20
5.3 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: lesbisch-äolische Lyrik 67
Unter den zahlreichen Fragmenten mythischen Inhalts erzählt das in seiner Echtheit umstrittene Fragment 44 von der Hochzeit Hektors mit Andromache. Den Erzählstil des umfangreichen Fragments mögen folgende Verse verdeutlichen: 2 5
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2 5
10
32
κᾶρυξ ἦλθε [καὶ εἶπε·] [...] »Ἔκτωρ καὶ συνέταιρ[ο]ι ἄγοισ’ ἐλικώπιδα Θήβας ἐξ ἰέρας Πλακίας τ’ ἀπ’ [ἀϊ]νάω ἄβραν Ἀνδρομάχαν ἐνὶ ναῦσιν ἐπ’ ἄλμυρον πόντον· πόλλα δ’ [ἐλί]γματα χρύσια κἄμματα πορφύρ[α] καταΰτ[με]να, ποίκιλ’ ἀθύρματα, ἀργύρα τ’ ἀνάριθμα ποτήρια κἀλέφαις.« ὢς εἶπ’· ὀτραλέως δ’ ἀνόρουσε πάτ[η]ρ φίλος· [...] πάντες δ’ ἄνδρες ἐπήρατον ἴαχον ὄρθιον πάον’ ὀνκαλέοντες Ἐκάβολον εὐλύραν ὔμνην δ’ Ἔκτορα κ’ Ἀνδρομάχαν θεοικέλο[ις. Ein Bote kam [und sagte:] [...] »Hektor und seine Gefährten führen die glanzäugige, zarte Andromache aus der heiligen Theba und von der immerfließenden Plakia auf Schiffen über das salzige Meer, und es gibt viele goldene Armreifen und duftende Gewänder aus Purpur, bunte schöne Dinge und unzählige Becher aus Silber und Elfenbein.« So sprach er; schnell aber sprang der liebe Vater auf. [...] Alle Männer aber ließen einen lieblichen, hell klingenden Päan ertönen, indem sie den Fernhintreffer, den leierbegabten, anriefen, zu rühmen aber Hektor und Andromache, die göttergleichen.
Hierbei handelt es sich wohl um ein Hochzeitslied,23 das ein mythisches Gegenbild zu einer realen Hochzeit darstellt und diese dadurch mythisch erhöht. Am Ende des Gedichtes beginnen Figuren der Handlung zu singen (V. 32ff.); dies könnte darauf hindeuten, daß es sich um ein Prozessionslied handelt, welches immer wieder von neuem angestimmt wird. In diesem Fall würden Mythos und Realität engste Parallelen zeigen, da auch die im Lied Besungenen im Rahmen einer Hochzeit singen.24 Allerdings erlaubt es der
23 So Eisenberger (1956) 102; ähnlich Merkelbach (1957) 17. Zur Diskussion um die Gattung des Textes vgl. Tsomis (2001) 243. 24 Vgl. Snell (1975) 96: »Solcher Mythos gibt dem irdischen Geschehen Glanz und Bedeutung, und da das Bewußtsein: wir feiern hier wie einst Hektor, Festigkeit und Hochgefühl verleiht, fördert der Mythos die gegenwärtige Wirklichkeit.«
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I. Teil: Prolegomena
fragmentarische Erhaltungszustand nicht, über den Kontext Aussagen zu machen oder das Gedicht als rein mythisch zu bezeichnen. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß Sappho zahlreiche Mythologumena verwendet. Wenn mythische Elemente in Hymnen oder in Beispielen auftreten, dienen sie meist dazu, persönliche, intime Anliegen und Anschauungen der Dichterin bzw. Sprecherin zu illustrieren oder sie argumentativ zu unterstützen. Bei den Hochzeitsliedern wiederum spiegelt der Mythos die allgemeine frohe Stimmung; dort dient er – vom individuellen Erleben losgelöst – dazu, die Zeremonie, in deren Verlauf das Hochzeitslied gesungen wird, mythisch zu überhöhen und sie auf eine überindividuelle sowie überzeitliche Ebene zu heben. Auch die Werke des Alkaios und der Sappho zeigen also zahlreiche Möglichkeiten der literarischen Funktionalisierung von Mythen, auf die Horaz rekurrieren konnte.
5.4 Pindar Mit der Dichtung des thebanischen Chorlyrikers Pindar (um 520-442 v.Chr.) setzt sich Horaz im Rahmen einer Ansprache an Jullus Antonius1 in carm. 4,22 auseinander. Aus dieser Ode sollen zunächst die Strophen 2-5 behandelt werden, in denen Horaz seine Ansicht vom Wesen und von den Inhalten der pindarischen Dichtung darlegt, bevor die schwierigen Strophen betrachtet werden, in denen der Autor sein Verhältnis zu Pindar darstellt. 5
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monte decurrens velut amnis, imbres quem super notas aluere ripas, fervet immensusque ruit profundo Pindarus ore, laurea donandus Apollinari, seu per audacis nova dithyrambos verba devolvit numerisque fertur lege solutis, seu deos regesve canit, deorum sanguinem, per quos cecidere iusta morte Centauri, cecidit tremendae flamma Chimaerae, sive, quos Elea domum reducit palma caelestis, pugilemve equumve dicit et centum potiore signis munere donat, flebili sponsae iuvenemve raptum plorat et viris animumque moresque aureos educit in astra nigroque invidet Orco.
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Wie ein von einem Berg herabströmender Fluß, den Regengüsse über die gewohnten Ufer haben anschwellen lassen, braust und stürzt unermeßlich hervor Pindar mit unergründlich tiefem Munde,
1 Jullus Antonius ist der 44 oder 43 v.Chr. geborene Sohn des Triumvirn Marcus Antonius; er bekleidete unter anderem die Prätur und das Konsulat. Im Jahre 16, dem vermuteten Abfassungsjahr von carm. 4,2, war er vermutlich Ädil [so Kiessling/Heinze (1955) im Vorspann zu carm. 4,2]; vgl. PIR² A 800. 2 Untersucht wurde diese Ode in letzter Zeit u.a. von Calboli (1997), der reiche Literaturangaben bietet, Günther (1999) mit neuerer Literatur und unter Berücksichtigung des kallimacheischen Einflusses, Syndikus (2001) II, 280ff. und Maurach (2001) 410ff.
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I. Teil: Prolegomena er, der mit dem Lorbeer Apollons beschenkt werden muß, sei es, daß er durch kühne Dithyramben neue Worte herabwälzt und mit Versmaßen einherströmt, die von der Regel gelöst sind,
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sei es, daß er Götter oder Könige besingt, der Götter Geblüt, durch welche fielen in gerechtem Tod die Kentauren, fiel der schrecklichen Chimaira Flamme,
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oder sei es, daß er die, welche nach Hause zurückführt die Siegespalme von Elea als Himmelsgötter, Faustkämpfer oder Pferd, preist und mit einer Gabe beschenkt, die vorzüglicher als hundert Statuen ist,
20
oder wenn er den jungen Mann, der der weinenden Braut geraubt wurde, unter Tränen beklagt und dessen Kräfte, Mut und Charakter golden emporhebt zu den Sternen und ihn dem schwarzen Orkus vorenthält.
Die Verse 5-12 beschreiben Stilqualitäten der Dichtung Pindars: In der zweiten Strophe vergleicht Horaz die pindarische Dichterkraft mit einem Gebirgsfluß (monte decurrens velut amnis, V. 5), der durch Regenfälle größere Ausmaße als normal angenommen hat (imbres / quem super notas aluere ripas, V. 5f.). Bei diesem Flußvergleich ist, wie u.a. Kiessling/Heinze gesehen haben,3 das tertium comparationis kaum die Unaufhaltsamkeit des Redeflusses oder die rasche Massenproduktion, Phänomene, die Horaz andernorts durchgehend negativ bewertet.4 Vielmehr charakterisiert er die Dichtung des Böoters dadurch als in ihrer Wirkung auf die Rezipienten mitreißend und gewaltig. Zwar wird in Vers 5 durch velut ein Vergleich eingeleitet, doch in Vers 7 ist Horaz schon zur Metapher übergegangen; der akustische (fervet, V. 7) und der optische (immensus, V. 7) Eindruck des Sturzbaches wird auf den Dichter übertragen. Bild- und Realebene vermischen sich im Ablativ profundo […] ore (V. 7f.): Sieht man hierin eine Fortführung der Flußmetaphorik5, so kann man ore als »Quelle« und den Aus3
Kiessling/Heinze (1955) 392f. Diese beiden Anwendungsmöglichkeiten des Flußvergleichs hatte Horaz in den Satiren genutzt. Über den reichen Geschäftsmann Persius war in sat. 1,7,26f. gesagt worden: ruebat / flumen ut hibernum fertur quo rara securis; Vielschreiberei ist Thema in sat. 1,10,59ff.: si quis […] amet scripsisse ducentos / ante cibum versus, totidem cenatus, Etrusci / quale fuit Cassi rapido ferventius amni / ingenium [...]. 5 Beziehungen zur Wassermetaphorik bei Kallimachos dokumentiert Günther (1999) 153 mit Anm. 43. Ders. zeigt ebd., daß »das Instrumentarium dieser [kallimacheischen] Apologetik eben auf Pindar zurückgeht« (mit weiterer Literatur in Anm. 44). Auf S. 156 sind allerdings weitere Stellen aufgeführt, die über Kallimachos hinausgehen und eine »Tradition […] rhetorischer Terminologie« skizzieren, »in der das flumen orationis zur abgegriffenen Metapher für rednerische copia wird.« Gesehen wurde diese Traditionslinie jedoch auch schon früher, zum Beispiel 4
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
71
druck als Ablativus separationis verstehen (»stürzt hervor aus tiefer Quelle«). Da Dichtung aber mit dem Mund vorgetragen wird, kann man ore auch in seiner Grundbedeutung »Mund« verstehen und den Ausdruck als Ablativus qualitatis deuten (»Pindar, der einen unergründlich tiefen Mund besitzt«). Bei der letzteren Auffassung hat das Adjektiv profundo allerdings übertragenen Sinn, indem »unergründlich tief« die Bedeutung »von unerschöpflicher Gedanken- und Ausdrucksfülle« annimmt. Bernhard Kytzler versucht, beide Auffassungen zu verbinden, indem er »stürzt hervor aus tiefgründigem Quellmunde« übersetzt.6 Diese Art zu dichten verdient nach Horazens Ansicht großes Lob, hält er es doch für notwendig, daß Pindar mit dem Lorbeer Apollons, dem Ehrenzeichen der Dichter,7 beschenkt wird (V. 9: laurea donandus Apollinari). Diese hohe Auszeichnung wird Pindar für mehrere Gattungen gleichermaßen zugesprochen, wie die Aufgliederung durch die disjunktiven Partikeln seu – seu – sive – -ve (V. 10.13.17.21) zeigt. Während Horaz beginnt, einzelne der von Pindar gepflegten Gattungen zu beschreiben, flicht er in die erste Beschreibung – die des Dithyrambos (per audacis […] dithyrambos, V. 10) – noch weitere Aussagen über den Stil Pindars ein: Dieser wälze neue, unerhörte Wörter herab (nova […] verba devolvit8, V. 10f.) und ströme einher mit Versmaßen, die von der Regel gelöst seien (numerisque fertur / lege solutis, V. 11f.). Wie auch immer man die letztere Aussage versteht:9 Horaz charakterisiert den pindarischen Stil als gewaltig, unwiderstehlich, tiefgründig und höchster Ehren würdig. Was aber sind die Inhalte, die Horaz als pindarisch anführt, und welchen Gattungen lassen sie sich zuordnen? Abgesehen von den schon genannten »kühnen Dithyramben« (per audacis […] dithyrambos, V. 10) nennt Horaz in den Versen 13-16 Götter oder Könige, »der Götter Geblüt«, womit offensichtlich keine zeitgenössischen Herrscher, sondern die Heroen und Könige
von Commager (1962) 60f. Belegstellen für pindarische Wasser- bzw. Flußmetaphorik finden sich bei Nünlist (1998) 189ff. und Syndikus (2001) II, 284, Anm. 25. 6 Kytzler (2000) 189. 7 Horaz selbst wünscht sich am Ende der ersten Oden-Sammlung (carm. 3,30,15f.), mit Lorbeer bekränzt zu werden: mihi Delphica / lauro cinge volens, Melpomene, comam. – Zur ehrenden Funktion des Lorbeers im Allgemeinen vgl. z.B. Hünemörder (1999) 441. 8 Devolvere ist immer noch Flußmetaphorik (vgl. ThLL s.v. devolvo I A 1 b); ebenso zeichnet per audacis dithyrambos das Flußbett nach, wie Fraenkel (1933) 3, Anm. 2 gesehen hat. 9 Das Kolon numerisque fertur / lege solutis wurde vornehmlich auf zwei Arten gedeutet: Einige sahen darin die Feststellung, daß Pindars Dithyramben überwiegend keine Responsion aufweisen, also nicht antistrophisch gebaut sind [so z.B. Kiessling/Heinze (1955) 393; sehr zurückhaltend Fraenkel (1933) 4]; die heutige communis opinio allerdings [vertreten u.a. von Günther (1999) 157] sieht in diesem Ausdruck eine Anspielung auf die komplizierte Metrik der pindarischen Lyrik, die vielfach als Regellosigkeit aufgefaßt wurde.
72
I. Teil: Prolegomena
des Mythos gemeint sind.10 Zwei Themen werden exemplarisch angeführt, die Tötung der Kentauren und der Chimaira (V. 14-16), wobei die Lapithen und Bellerophon, die jeweiligen Bezwinger dieser Wesen, keine Erwähnung finden. Horaz könnte in dieser Strophe ebenso Hymnen und Päane wie mythische Partien der Epinikien vor Augen gehabt haben.11 Eben diese Epinikien sind das Thema der Verse 17-20. Horaz greift sich zur Beschreibung dieser Gattung aus den vier Epinikien-Sammlungen das erste Buch heraus, die Olympien (Elea [= Olympiaca] palma, V. 17f.), und wählt Lieder auf Sieger im Faustkampf und im Wagenrennen aus (pugilemve equumve, V. 18), um den Wert dieser Gedichte zu beschreiben: Pindar mache den Siegern – durch sein Lied, so ist zu ergänzen – ein Geschenk, das wertvoller als hundert Statuen sei (centum potiore signis / munere donat, V. 19f.). Das Gewicht dieser Aussage wird in vollem Ausmaß verständlich, wenn man bedenkt, daß Horaz im vierten Oden-Buch immer wieder, vor allem in den Oden 8 und 9, den Gedanken entwickelt, daß Dichtung Unsterblichkeit verleihe und daß auch die Gestalten des Mythos ohne die Dichtung längst in Vergessenheit geraten wären.12 Eben diese Qualität, den Besungenen für die Nachwelt unsterblich zu machen, attestiert Horaz hier den Epinikien Pindars. Als letztes poetisches Thema wird in den Versen 21-24 die Klage um einen vom Tod dahingerafften jungen Mann genannt (flebili sponsae iuvenemve raptum / plorat, V. 21f.), dessen Wesen und Charakter Pindar durch sein Lied ewigen Nachruhm verleiht, wie Horaz in zwei Bildern zeigt: Pindar hebt den Charakter des iuvenis als golden zu den Sternen empor (moresque / aureos educit in astra, V. 22f.) und enthält ihn der finsteren Unterwelt vor (nigroque / invidet Orco, V. 23f.), wobei Horaz eine bemerkenswerte Farbantithese erzeugt (aureos – nigro). Hierbei handelt es sich wohl um das von Pindar gepflegte Genos des Klageliedes, des Threnos.13 Auch in dieser literarischen Gattung vermag es Pindars dichterische Kraft nach Horazens Urteil, Unsterblichkeit zu verleihen. Diese Einschätzung ist 10 Rex in dieser Bedeutung auch in sat. 1,10,42f. (Pollio regum / facta canit pede ter percusso, also mythische Dichtung in iambischen Trimetern), epist. 1,2,14 (quidquid delirant reges, plectuntur Achivi im Zusammenhang mit den Ereignissen vor Troja); im selben Kontext auch in ars 73f. (res gestae regumque ducumque et tristia bella / quo scribi possent numero, monstravit Homerus). 11 Spuren dieser Themen könnten vorliegen in fr. 166 (Lapithen und Kentauren) und 317 (Bellerophon?). Vgl. auch O. 13,90 (Χίμαιραν πῦρ πνέοισαν [...] ἔπεφνεν). 12 So in carm. 4,8,11ff. und carm. 4,9,1-30a. – Der Gedanke, daß ein Lied als Garant des Ruhmes einer Siegerstatue überlegen sei, wird von Pindar selbst in N. 5,1ff. geäußert. Dort sieht Pindar aber den Vorteil eines Liedes gegenüber einer Statue weniger in dessen länger währender Existenz als vielmehr in der Tatsache, daß ein Lied nicht an einen Ort gebunden ist. Vgl. auch Maurach (2001) 411, Anm. 13. 13 Maurach (2001) 411 hingegen sieht in dem durch et viris eingeleiteten Kolon eine Zusammenfassung aller Gattungen; Syndikus (2001) II, 284 vermutet darin eine Anspielung auf ein Enkomion.
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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aber keine bloße Variation des in den Versen 19f. Gesagten, sondern eine deutliche Steigerung: Dem pindarischen Threnos gelingt es, den bereits verstorbenen iuvenis der Nachwelt plastisch vor Augen zu stellen, so daß hier physischer Tod und literarisches Fortleben in starker Antithese nebeneinander stehen. Pindars Dichtung kann sich also höchster Wertschätzung von Seiten des Horaz gewiß sein.14 Bei der Betrachtung der einzelnen aufgezählten Stilqualitäten und Dichtungsinhalte darf man jedoch nicht die Gesamtheit dieser zwanzig Verse aus dem Blick verlieren. In einer einzigen ungewöhnlich langen Periode hat Horaz, über fünf Strophen hin ausgedehnt, Pindars Œuvre charakterisiert. Auffällig ist, daß in der letzten Strophe dieser Periode zwischen dem zweiten und dem dritten sapphischen Elfsilbler Synaloephe auftritt (moresque / aureos, V. 22f.), ebenso zwischen dem dritten sapphischen Elfsilbler und dem Adoneus (nigroque / invidet, V. 23f.). Diese Erscheinungen treten in den Oden schon jeweils alleine sehr selten auf,15 zusammen jedoch sonst nie. Daß sie hier beide zugleich begegnen, wird kaum ein Zufall sein. Vielleicht illustriert die ungewöhnliche Metrik die in Vers 11f. gegebene Charakterisierung Pindars numerisque fertur / lege solutis.16 Ferner wird einerseits durch diese metrische Lizenz, welche die Verse gewissermaßen »verlängert«, indem sie sie ineinander übergehen läßt, nachgezeichnet, daß Pindar den Nachruhm des toten iuvenis, sein »literarisches Überleben« verlängert. Zugleich wird durch die Synaloephen eine »Klammer« erzielt, die die Farbantithese »golden – schwarz« noch schärfer hervortreten läßt. Andererseits entsteht durch die beiden Synaloephen der Eindruck eines raschen Sprechens ohne Atempause, als ob der Sprecher
14 Dieses Bild wird bestätigt durch einen Blick auf carm. 4,9,5ff., wo unter anderem die Pindaricae Camenae als Beispiel für die Zeit überdauernde Dichtung angeführt werden. – Freilich behandelt Horaz die Dichtung Pindars selektiv: Zu den von Pindar laut der vita Ambrosiana, welche die Werkeinteilung aus hellenistischer Zeit widerspiegelt, ebenfalls gepflegten Gattungen Enkomion (Preislied), Prosodion (Prozessionslied), Hyporchema (mit Waffentänzen in Verbindung stehende Chorlyrik) und Partheneion (lyrisches Gedicht kultischen Charakters für Chöre junger Frauen) äußert er sich nicht. Günther (1999) 157 sieht allerdings zu Recht schon in den aufgezählten Gattungen »ein Bewußtsein für die Variationsbreite in Pindars Dichtung, die vom Erhabensten zum eher Privaten reicht.« – Auch ist zu bedenken, wie Syndikus (2001) II, 285 betont, daß Horaz hier gar kein objektives Bild schaffen will, sondern im Gesamtduktus der Argumentation die Gegensätze zwischen Pindar und ihm selbst hervorhebt. 15 Synaloephe zwischen dem zweiten und dem dritten Sapphicus findet sich in den sonstigen fünfundzwanzig Horazgedichten in sapphischen Strophen nur noch zweimal (carm. 2,2,18f. und 2,16,34f.); Synaloephe zwischen dem dritten Sapphicus und dem Adoneus tritt sonst nur noch ein einziges Mal auf (carm. saec. 47f.). Vgl. hierzu den metrischen Anhang in der Ausgabe von Shackleton Bailey (2001). 16 Vgl. Mørland (1966) 112.
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I. Teil: Prolegomena
endlich seine Periode zu Ende bringen möchte.17 Insgesamt weist die umfangreiche Satzkonstruktion pindarisches Kolorit auf.18 Doch wie schätzt Horaz explizit die Erfolgsaussichten einer Nachahmung des großen Chorlyrikers ein? Dazu äußert er sich gleich am Beginn der Ode (V. 1-4): Pindarum quisquis studet aemulari, Iulle, ceratis ope Daedalea nititur pennis vitreo daturus nomina ponto. Wer auch immer mit Pindar in Wettstreit zu treten sich bemüht, Jullus, strebt empor auf Schwingen, die durch des Daedalus Kunst wachsgefügt sind, im Begriff, dem schillernden Meer zu verleihen den Namen.
Deutlich spielt Horaz hier auf den Mythos von Daedalus und Ikarus an,19 wobei er diesen Mythos als Metapher für das Mißlingen eines dichterischen Projektes verwendet: Wie Ikarus ins Meer gestürzt ist, so wird auch ein ambitionierter Dichter »abstürzen«, also sein Ziel nicht erreichen,20 wenn er Oden pindarischen Zuschnittes dichten und zu dem Meister dieser Gattung in Konkurrenz treten will.21 Diese Schilderung des Abstürzens läßt sich in gewisser Weise vergleichen mit dem abschließenden Spoudogeloion der ars poetica, in dem Horaz den vesanus poeta in eine Grube stürzen läßt, um dessen dichterische Mißgriffe in eine bildliche Form zu bringen.22 Mehrfach wurde jedoch gegen diese rein negative Deutung der ersten Strophe als Argument angeführt, daß Ikarus aber doch gerade durch seinen Sturz Ruhm 17 In anderem Zusammenhang sieht Günther (1999) 156 in der entsprechenden Passage »nicht dem Sinn und dem Atem des Sprechers angepaßt[e] Perioden« angedeutet. 18 So auch Maurach (2001) 411. Kiessling/Heinze (1955) 393 jedoch sehen einen deutlichen Abstand zu Pindar gewahrt. 19 Bekanntlich kommt Ikarus während der Flucht von der Insel Kreta mit Hilfe selbst verfertigter, von Wachs zusammengehaltener Schwingen (ceratis ope Daedalea / nititur pennis, V. 2f.) der Sonne zu nahe, woraufhin sich das Wachs der Flügel löst und Ikarus ins Meer und in den Tod stürzt. Dieses Meer trägt seither den Namen des Verunglückten und heißt Ikarisches Meer. – Vgl. auch später Ov. met. 8,235. Ovid bedient sich ferner in trist. 1,1,89f. desselben Namensaitions: dum petit infirmis nimium sublimia pinnis / Icarus, Icariis (v.l.: aequoreis) nomina fecit aquis. 20 Wenn man das Bild so auflöst, erscheint die Bemerkung von Fraenkel (1957) 509 zu weitgehend: »Das Element der Übertreibung, das jedem Akt der εἰρωνεία innewohnt, ist in der Antwort des Horaz an Iullus zu fast phantastischen Ausmaßen gesteigert.« 21 Um die genaue Bedeutung des Verbs aemulari an dieser Stelle ist viel gestritten worden. Deutungsversuche finden sich unter anderem bei Fraenkel (1933) 23, der aemulari wohl zu aggressiv deutet, und Becker (1963) 129, Anm. 12, ferner bei Steinmetz (1964) 10, der die Aussage nur auf die Metrik bezieht. Zu imitatio und aemulatio allgemein vgl. z.B. Pasquali (1920) 120ff. und Reiff (1959); ders. äußert sich ebd. auf den Seiten 54ff. zur vorliegenden Stelle und führt in Anm. 79 ältere Literatur zu dieser Frage auf. 22 Ars 457ff.
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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bei der Nachwelt erlangt habe, daß also eine Pindarnachahmung zwar Gefahren in sich trage, aber doch zumindest ruhmreich sei.23 Dem ist, wie es Jacques Perret getan hat, entgegenzuhalten, daß Ikarus zwar tatsächlich durch seinen Tod Berühmtheit erlangt hat, daß Horaz aber doch unmöglich meinen kann, jeder Beliebige (quisquis, V. 1) könne, ungeachtet seiner poetischen Fähigkeiten, durch eine auch noch so mißlungene Pindarnachahmung Ansehen erringen.24 Offensichtlich weist die erste Strophe doch ganz überwiegend apotropäischen Charakter auf.25 Wie beurteilt aber Horaz nun sein eigenes Verhältnis zu Pindar? Darauf geben die Verse 25-32 Antwort.26 Sie lauten: multa Dircaeum levat aura cycnum, tendit, Antoni, quotiens in altos nubium tractus: ego apis Matinae more modoque
25
grata carpentis thyma per laborem plurimum circa nemus uvidique Tiburis ripas operosa parvus carmina fingo.
30
23
Archeget dieser Deutung war Fraenkel (1933) 16f., wiederholt in ders. (1957) 510, Anm. 4; ihm folgten unter anderem Harms (1936) 59 und Becker (1963) 128, Anm. 9; zurückhaltend Calboli (1997) 87, Anm. 4. Vielfach wurde von Vertretern dieser Auslegung auf das Erscheinen des Ikarus in carm. 2,20 verwiesen, wo jedoch ein ganz anderer Kontext vorliegt (vgl. S. 77). – Kaum beachtet worden ist in der Diskussion allerdings carm. 1,3,34f.: expertus vacuum Daedalus aëra / pennis non homini datis; kurz darauf expliziert Horaz den Inhalt dieses Mythologems und wendet ihn auf sich und seine Zeitgenossen an: caelum ipsum petimus stultitia (V. 38). Hier ist des Daedalus Tat also durchaus nicht positiv konnotiert. 24 Perret (1959) 173f.: »il nous paraît assuré qu’Horace envisage ici, non pas la gloire de l’entreprise […] qui ne saurait être promise à tous […] mais bien la catastrophe inévitable, et cette fois bien promise à tous, des entreprises présomptueuses.« 25 Ob das Attribut vitreo (V. 3) für die Interpretation eine entscheidende Rolle spielt, läßt sich nicht leicht beurteilen. Hat es hier neutral die Bedeutung »gläsern, schillernd«, oder soll die übertragene Bedeutung »gleißend, trügerisch« mitvernommen werden, bei der man an eine Parallele zwischen dem trügerischen Glanz des Meeres und der trügerischen Verlockung einer Pindaraemulatio denken könnte? Die Verbindung des Adjektivs vitreus mit Gewässern ist nicht gerade selten (z.B. Verg. georg. 4,350 und Aen. 7,759; Ov. am. 1,6,55; met. 5,48 und später öfter; vgl. Forcellini s.v.); vitreus wird aber von Horaz mindestens einmal in der Bedeutung »trügerisch« verwendet (sat. 2,3,222: vitrea fama), wohl auch in carm. 1,17,20 im Sinne von »gleißend schön« (Penelopen vitreamque Circen). – Calboli (1997) 87, Anm. 3 hingegen spricht sich für die Bedeutung »bunt« aus. 26 Daß Horaz die erste sowie die siebte und achte Strophe als für die Argumentation eng zusammengehörig komponiert hat, scheint dadurch nahegelegt zu sein, daß er in beiden Abschnitten Jullus Antonius apostrophiert (V. 2: Iulle; V. 26: Antoni), als ob er für die poetologischen, programmatischen Passagen um besondere Aufmerksamkeit bäte. Auch wird durch den Vokativ Antoni, wie Fraenkel (1957) 512 gesehen hat, zu dem in der zweiten Person Singular stehenden Prädikat concines (V. 33) übergeleitet.
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I. Teil: Prolegomena Ein starker Luftstrom erhebt den dirkäischen Schwan, sooft er strebt, Antonius, zu den hohen Wolkenräumen: Ich [hingegen] verfertige nach Art und Weise der matinischen Biene,
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die lieblichen Thymian pflückt unter überaus vielen Mühen rings um den Hain und des feuchten Tibur Ufer, ich, ein Geringer, mühe- und kunstvolle Gedichte.
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Dies ist ein kontrastreicher Passus: Pindar als Dichterschwan von der thebanischen Quelle Dirke, den ein Lufthauch kraftvoll in Wolkenhöhen trägt;27 demgegenüber stellt sich Horaz – pointiert durch das Personalpronomen ego (V. 27) hervorgehoben, allerdings nicht durch adversative Partikeln abgetrennt28 – als Biene vom apulischen Berg Matinus29 dar. Auf den ersten Blick könnte der Unterschied größer nicht sein: Schwan und Biene befinden sich auf der Größenskala fliegender Tiere an entgegengesetzten Enden; ihr jeweiliger Luftraum ist ganz verschieden.30 Auch die geographischen Angaben (Dircaeum, V. 25 – Matinae, V. 27; Tiburis, V. 31) weisen beide völlig unterschiedlichen Bereichen zu. Doch auch wenn Horaz sich als parvus (V. 31) bezeichnet,31 will er dadurch keineswegs seine eigene Dichtung herabsetzen,32 nicht einmal im Sinne einer wie auch immer gearteten recusatio.33 Zahlreiche Stellen sind schon von Gelehrten angeführt worden, welche die Hochschätzung der Biene in der Antike allgemein und ihre 27
Hierin liegt, wie Becker (1963) 128 gesehen hat, ein Gegensatz zwischen dem Fliegen aus eigener Kraft (»Pindarschwan«) und dem unnatürlichen Flugversuch mit daedalischen Hilfsmitteln. 28 Freilich fehlen sinnanzeigende Konnektoren in der Dichtung sehr häufig, vgl. u.a. die Textbeispiele bei Blänsdorf (2003). 29 Zu den Schwierigkeiten, diesen Berg zu lokalisieren, vgl. Kiessling/Heinze (1955) 122. 30 Noch drastischer formuliert Esser (1976) 100: Biene und Schwan hätten nur die Gattung »Tier« gemeinsam; ebenso verbinde Horaz und Pindar nur die Bezeichnung »Dichter«. 31 Zu den möglichen terminologischen Implikationen von parvus bzw. tenuis im Kontext neoterischer Kunstauffassung vgl. im II. Teil Kap. 5. 32 Vgl. zum Beispiel Günther (1999) 152, der sowohl im Verhältnis Horaz/Pindar als auch im Verhältnis Horaz/Jullus »eine ganze Menge Ironie und […] understatement« sieht. 33 Zur Diskussion um die Art der vorliegenden recusatio gibt Syndikus (2001) II, 281, Anm. 7 einen Überblick. Kiessling/Heinze (1955) 391f. gehen davon aus, daß Jullus Horaz in amtlicher Funktion als Ädil zu einem Triumphlied aufgefordert habe. Ähnlich Fraenkel (1957) 507 mit Anm. 3, Perret (1959) 174, Troxler-Keller (1964) 151 und Lefèvre (1993) 277; vorsichtig spricht Syndikus (2001) II, 280 von »ausgesprochenen Erwartungen« des Jullus; er lehnt aber (ebd. 281, Anm. 7) eine Entscheidung über Realität oder Fiktionalität der Situation ab. Becker (1963) 134 jedoch spricht sich gegen die Annahme äußerer Einflüsse auf Horaz aus, und für Günther (1999) 147 geht »ein großer Teil der Mißverständnisse auf die unbegründete Annahme zurück, dieses Gedicht stelle Horazens Antwort auf eine tatsächliche Aufforderung dar, die kriegerischen Heldentaten des Princeps in einer pindarischen Ode zu verherrlichen.« Ferner finden sich ebd. wichtige Ausführungen über die recusatio bei Kallimachos und ihre Adaption durch die Augusteer. – Zur recusatio bei Horaz vgl. auch die Ausführungen im II. Teil, Kap. 5.
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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Stellung als poetologisches Symbol im Speziellen zu zeigen vermochten.34 Bemerkenswert an unserer Stelle ist, daß das tertium comparationis zwischen Biene und Dichter hier nicht die Süße, sondern der mühevolle Entstehungsprozeß des Produktes ist. Vor allem aber wird durch die Tierbilder klargemacht, daß beide Dichter völlig verschiedenen Gattungs- und auch Literatursphären angehören, ohne daß ihre Qualität in eine Rangordnung gepreßt würde.35 Dieser Befund wird etwas dadurch »verunklärt«, daß Horaz an anderen Stellen ähnliche Tierbilder in anderen Kontexten verwendet.36 Die Sphragis des zweiten Buches, carm. 2,20, schildert die Verwandlung des Dichters in einen Schwan.37 In dieser Gestalt, als biformis [...] vates (V. 2f.), wird sich Horaz über den Neid erheben, und bekannter als der Daedalussohn Ikarus (Daedaleo notior Icaro, V. 13) wird er in der ganzen Welt Verbreitung finden (V. 14-20).38 Während sich Horaz also in carm. 4,2 vom Dichterschwan Pindar deutlich abgrenzt, indem er sein Schaffen mit dem der matinischen Biene vergleicht, sagt er hier sich selbst eine Verwandlung in einen Schwan in einer Mischung aus Vision und Prophezeiung vorher.39 Ferner dient das Bild des Thymiansammelns im Flug nach Bienenart durchaus nicht nur zur Beschreibung horazischer Dichtungsart: In epist. 1,3,21 erkundigt sich Horaz bei dem Dichter Julius Florus nach dessen literarischen Projekten, indem er ihn fragt: quae circumvolitas agilis thyma? Die einzel34
Stellensammlungen z.B. bei Troxler-Keller (1964) 153, Anm. 8-10 (dort auch Diskussion möglicher horazischer Praetexte) und 157, Anm. 20, Nünlist (1998) 60ff. und Syndikus (2001) II, 287, Anm. 38f. Wili (1948) 257 bemerkt: »Das Tierchen war also nur für die Nichtwissenden klein, für den Dichter war es liebliches signum musischer Begabung«. Zu Mäßigung in der Deutung ruft Maurach (2001) 414, Anm. 24 auf: »nötig ist es nicht, das Bild gleich wieder mit einem literaturtheoretischen Dunst zu überziehen. […] Lassen wir es doch beim Schauen der Bilder.« 35 Anderer Meinung ist Reiff (1959) 54: Die recusatio werde »weniger durch einen Unterschied der Gattung als des Grades begründet.« – Paulus Schede (1539-1602), ein Schüler der Pléiade, der sich auch Melissus nannte, rezipierte sowohl Pindar als auch Horaz. Er verfertigte ein Gedicht, das carm. 4,2 nachahmt und eine Aufhebung der dort gesetzten Antithese Pindar/Horaz bietet [vgl. Lefèvre (1993) 281f.]. 36 Zu den Tierbildern bei Horaz allgemein vgl. Warmuth (1992), der carm. 4,2 auf den Seiten 89-93 behandelt. 37 Hierbei wird diese Verwandlung in den Versen 9-12 detailliert geschildert: iam iam residunt cruribus asperae / pelles et album mutor in alitem / superne, nascunturque leves / per digitos umerosque plumae. Daß Horaz dieses Schwanenbild in carm. 4,2 wieder aufnimmt, erklärt Günther (1999) 160 als »heimliche Ironie des alten Dichters sich selbst wie seinem jungen Kollegen gegenüber«. – Belegstellen für den Schwan als Symbol des »göttlich begeisterten Sängers und Dichters« bietet Troxler-Keller (1964) 152, Anm. 6. 38 Es fällt ins Auge, daß auch hier das Schwanenmotiv mit dem Ikarusmotiv verbunden auftritt. Hier ist allerdings eindeutig Ikarus’ Bekanntheitsgrad der Grund seiner Erwähnung; der eigentliche Inhalt des Mythos spielt kaum eine Rolle. 39 Zu eventuellen humoristischen Zügen der Metamorphose vgl. Connor (1987) 2ff. – Überdies wird in carm. 1,6,2 auch Varius als Schwan bezeichnet (Maeonii carminis alite). Dazu siehe im II. Teil Kap. 5, S. 239.
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I. Teil: Prolegomena
nen Bilder dürfen also für eine Gesamtdeutung des Verhältnisses der beiden Dichter nicht verabsolutiert werden. Noch schwieriger aber wird es, die Gesamtintention von carm. 4,2 zu erfassen, wenn man die restlichen Strophen dieses Gedichtes in die Betrachtungen miteinbezieht und sich nun einer Dichtertrias (Pindar, Horaz, Jullus Antonius40) gegenüber sieht. Hier sei kurz der Rest des Gedichtes referiert: Horaz wendet sich in den Versen 29-44 an Antonius. Nachdem er ihm attestiert hat, dieser werde als Dichter von größerer Sangesweise Oktavian41 preisen (concines42 maiore poeta plectro / Caesarem, V. 33f.), skizziert er mustergültig den Inhalt eines passenden Preisliedes, das Größe und Verdienste des Kaisers behandelt. Horaz wird nur als Teil der Gemeinschaft43 beim Triumph über die Sugambrer in Preislieder einstimmen (V. 45f.: meae […] vocis accedet bona pars), und auch das nur, wenn er denn überhaupt etwas Hörenswertes zu sagen hat [V. 45: si quid loquor (v.l.: loquar) audiendum]. Den Abschluß des Gedichtes bildet eine Kontrastierung der Opfer: Während Antonius zwanzig Stiere und ebenso viele Kühe opfern wird, wird Horaz nur einen einzigen tener vitulus opfern, dessen detaillierte Beschreibung über sieben Verse hin das Gedicht abschließt. Wie aber sind diese Worte an Jullus Antonius zu deuten? Soll man sie etwa so verstehen, als behaupte Horaz im Ernst, er sei zwar für eine Pindaraemulatio zu unbegabt, Antonius aber dürfe sich eine solche ohne Weiteres zutrauen? Diese Deutung scheint angesichts der allumfassenden Aussage der ersten Strophe (quisquis, V. 1) unhaltbar.44 Könnte man jedoch annehmen, Horaz verstelle sich in schalkhafter bis bösartiger Absicht und ermuntere einen aufgeblasenen Schwätzer zu einem literarischen Projekt,
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Über Jullus Antonius wissen die pseudacronischen Scholien zu V. 33 zu berichten, er habe neben einiger Prosa ein herausragendes Epos Diomedie in zwölf Büchern verfaßt (»heroico metro Diomedias duodecim libros scripsit egregios, praeterea et prosa aliquanta«). Diese Nachricht erscheint umso glaubwürdiger, als ihr Inhalt unmöglich aus dem vorliegenden Gedicht extrapoliert sein kann. 41 Obwohl sich Kaiser Augustus bzw. C. Octavius bekanntlich selbst nicht Oktavian nannte [vgl. etwa Elvers (2000) 1097], wird auch dieser Name hier und im Folgenden aufgrund seiner Geläufigkeit im allgemeinen Sprachgebrauch und in der Forschungsliteratur verwendet, zuweilen auch bei der Diskussion von Ereignissen resp. Sachverhalten, die nicht klar vor das Jahr 27 v.Chr. datiert werden können. 42 Karl Lachmanns Konjektur concinet, schon von Fraenkel (1933) 9ff. überzeugend zurückgewiesen, wird hier außer Acht gelassen. 43 V. 50ff.: dicemus […] civitas omnis dabimusque divis / tura benignis. Auf die gewandelte Rolle des Dichters im vierten Oden-Buch (Teil der Gemeinschaft, nicht mehr ihr herausragender Vertreter und Fürsprecher) wurde vielfach hingewiesen, z.B. von Fraenkel (1933) 25f. und (1957) 515, Schmidt (1985) 133f., Günther (1999) 159f. und Syndikus (2001) II, 282.291f. 44 Auf diese Strophe beziehen sich in ihren Ausführungen offenbar auch Quintilian (inst. 10,1,61: Horatius eum [= Pindarum] merito nemini credit imitabilem) und Macrobius (Sat. 5,17,7: Pindarum, quem Flaccus imitationi inaccessum fatetur).
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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bei dem sich dieser unweigerlich blamieren muß?45 Verfechter dieser Ansicht müßten dem Einwand begegnen, daß doch die erste Strophe ausdrücklich vor einem solchen Unterfangen warnt. Wie kann Horaz dann aber vor einer Gefahr warnen und zugleich boshaft in sie hineinlocken?46 Der Schlüssel zum Verständnis liegt wohl in der Verschiedenheit der literarischen Gattungen: Jullus, ein epischer47 Dichter, wird kein pindarisierendes Gedicht für Augustus’ Rückkehr verfassen, auch kein lyrisches operosum carmen horazischer Art, sondern ein episches Gedicht.48 Mit Pindar, Horaz und Jullus Antonius werden also drei Dichter präsentiert, die – zumindest in Horazens Darstellung – völlig unterschiedlich sind. Pindar ist dabei für Horaz ein sprach- und bildgewaltiger Meister, aber kein Vorbild, zu dem er in Konkurrenz treten will.49 Fügt sich aber die aus carm. 4,2 gewonnene Anschauung nahtlos in das Bild ein, welches sich aus dem übrigen horazischen Œuvre ergibt? Mehrfach finden sich in den Oden Anklänge und Anspielungen an bzw. auf Pindar in Form von »Motti«; zuweilen begegnen gar Übertragungen pindarischer Motive. Man vergleiche zum Beispiel Horazens carm. 1,12,1ff. mit dem Beginn von Pindars zweitem olympischen Epinikion:
45 So vertreten von Wilamowitz-Moellendorff (1913) 318 (»klingt es nur wie Hohn, und viel anders kann es nicht gemeint sein«) und 319, Anm. 1 (»einen hochnäsigen Dummkopf mit Schmeichelei zu verhöhnen steht ihm gut«), der darin letztlich auf Bemerkungen in der Erstausgabe des Kiessling’schen Kommentars von 1884 zurückgeht, wie Fraenkel (1933) 10 gezeigt hat. Explizit gegen Wilamowitz-Moellendorffs Ansicht sprachen sich u.a. Kiessling/Heinze (1955) 395 und auch Lefèvre (1993) 281 aus. 46 Dies wäre höchstens denkbar, wenn Antonius ein »Unverbesserlicher« wäre wie der Dichter, der am Ende der ars poetica in eine Grube fällt. Dessen Rettung sabotiert der Sprecher durch die Frage qui scis an prudens huc se proiecerit atque / servari nolit? (V. 462f.) und die lapidare Bemerkung sit ius liceatque perire poetis (V. 466), wobei Sturz und Zugrundegehen Umschreibungen für den dichterischen Mißerfolg sind. 47 Vgl. Anm. 40. 48 Diese Deutung wurde aufgebracht von Buecheler (1889) 318f.; ihm folgten unter anderem Highbarger (1935) 241, Anm. 102, Kiessling/Heinze (1955) 395 und Perret (1959) 173f., ebenso Lefèvre (1993) 281, tendenziell auch Syndikus (2001) II, 289. Fraenkel (1933) 12ff. hingegen schließt alles außer einem lyrischen Epinikion aus. Eine vermittelnde Position nimmt Maurach (2001) 414 ein mit seiner Deutung, »[den Preis des Augustus] müsse ein Dichter anstimmen, der sich näher zu Pindars Höhen (ohne mit ihm gleich in einen Wettstreit einzutreten) hinaufwagt«; auch schließt er sich ebd. einer von Becker (1963) 130 vorgetragenen Ansicht an: »Nicht daß Jullus ein neuer Pindar ist (oder es sein will), wohl aber, daß das Geschehene so ist, wie Pindar es besingen könnte, soll heraustreten«. – Günther (1999) 149 sieht keine Notwendigkeit, diese Frage zu entscheiden: »Es wird weder gesagt, daß Iullus eine pindarische Ode schreiben wird, noch daß er Epiker ist. An eine konkrete Situation ist überhaupt nicht gedacht.« 49 Daß einige Zeitgenossen des Horaz jedoch pindarisierende Dichtungen wagten, geht hervor aus Stellen wie epist. 1,3,9ff.: quid Titius […] Pindarici fontis qui non expalluit haustus […]? fidibusne Latinis / Thebanos aptare modos studet auspice Musa […]?
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I. Teil: Prolegomena quem virum aut heroa lyra vel acri tibia sumis celebrare, Clio? quem deum? ἀναξιφόρμιγγες ὕμνοι, τίνα θεόν, τίν’ ἥρωα, τίνα δ’ ἄνδρα κελαδήσομεν;
oder Horazens carm. 3,4,61-64 mit Vers 39 der ersten Pythie Pindars: qui rore puro Castaliae lavit crinis solutos, qui Lyciae tenet dumeta natalemque silvam Delius et Patareus Apollo. Λύκιε καὶ ∆άλοι’ ἀνάσσων Φοῖβε Παρνασσοῦ τε κράναν Κασταλίαν φιλέων50
Solche Motiv- und Strukturähnlichkeiten finden sich des öfteren.51 Man darf allerdings nicht übersehen, daß Anklänge, Anspielungen und Übertragungen pindarischer Motive weit entfernt sind von einer imitatio/aemulatio, wie sie in der ersten Strophe von carm. 4,2 thematisiert wird. Zu beachten ist auch die dort in Vers 29 angesprochene Sammeltätigkeit der Biene (grata carpentis thyma): Horaz sammelt »Honig« – warum nicht auch von den Blüten Pindars?52 Die bislang erarbeiteten Ergebnisse in dieser komplexen Frage, die hier nur skizzenhaft umrissen werden konnte, lassen es unum50 Überdies werden in beiden Gedichten Typhoeus und seine Niederlage gegen die Olympier erwähnt (Pind. P. 1,15ff.; Hor. carm. 3,4,53ff., wo Typhoeus allerdings gegen die griechische Tradition als Titan bezeichnet wird). 51 Zum Beispiel weist das carmen saeculare pindarische Strukturen auf, und besonders im vierten Oden-Buch (vor allem in carm. 4,4 und 4,14) sind viele pindarische Elemente und Gedanken zu finden. Nach Wili (1948) 260 übte Pindar »stärkste Wirkung auf Horaz aus«. Fraenkel (1957) 508 spricht von »nicht zu übersehende[n] Anzeichen für sein eingehendes Pindarstudium« und nennt Horaz ebd. (auf S. 509) »völlig vertraut mit dem Werk Pindars«; ähnlich Broźek (1971) 103 und Günther (1999) 144f., der auf S. 158 Pindars Bedeutung vor allem für Horazens Spätwerk aufgrund biographischer Entwicklungen vielleicht jedoch zu stark hervorhebt (»Rahmen nicht nur von Horazens Herrscherpanegyrik, sondern seiner Deutung römischer Vergangenheit, Geschichte und Gegenwart überhaupt«). – Ausführlichere Untersuchungen zum Verhältnis Pindar/Horaz haben u.a. Rummel (1892), Highbarger (1935), Harms (1936), die resümiert, Horaz sei nie sklavisch abhängig, sondern lasse sich anregen von Pindar, Waszink (1966), der betont, daß Horaz dort auf Pindar zurückgreife, wo er auf das Überpersönliche und Allgemeingültige abziele, und Kennedy (1975) vorgelegt. – Broźek (1971) skizziert in seinem Beitrag die Pindarnutzung römischer Dichter von frührepublikanischer Zeit bis in die Spätantike. Darin kann er auch zeigen, daß Horaz nicht der erste Römer ist, der Pindar studierte, wie Wilkinson (1968) 89 behauptet hatte; auch Cicero z.B. zitiert in seinen Briefen des öfteren den Thebaner [Belegstellen bei Broźek (1971) 102, Anm. 4]. 52 Vgl. Reiff (1959) 55: »Horaz weist nicht schlechthin jede Nachahmung oder Entlehnung pindarischer Einzelzüge zurück, sondern lediglich den Versuch einer allseitigen Nachahmung.« – Zur langen Tradition des Bienenbildes als eines Sinnbildes kritischen Auswählens vgl. Gnilka (1984) 102ff.
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gänglich erscheinen, sich nun Pindar selbst und seiner Verwendung von Mythologemen zuzuwenden. Pindarische Epinikien weisen, wenn sie voll ausgeführt sind, regelmäßig die folgenden fünf Formbestandteile auf:53 (1) prosopographische Angaben zum Sieger (wie Name, Patronymikon, Familie, Heimatstadt, Festort, Disziplin, in welcher der Sieg errungen wurde, frühere Siege auch anderer Familienmitglieder), (2) Reflexionen über die Muse und Pindars eigene Dichtung, (3) Sentenzen und Aphorismen (γνῶμαι), (4) hymnische Elemente, die sowohl die olympischen Götter als auch kleinere Gottheiten oder deifizierte Abstrakta rühmen,54 und schließlich (5) Mythologeme, die meist einen beachtlichen Anteil eines Siegesliedes ausmachen.55 Der Mythos kann sich dabei in verschiedener Weise an den Rest des Gedichtes anschließen: Es kann eine Verbindung zur Heimat des gefeierten Siegers bestehen; auch die Lebensumstände des Siegers können im Mythos erkennbar sein bzw. sich in einer Einzelheit im Leben eines Heros wiederfinden;56 ferner kann eine – an eine Einzelperson oder ein Kollektiv gerichtete – Spruchweisheit durch einen Mythos exemplifiziert werden. Ein einziges Epinikion kann auch mehrere Mythen enthalten, wie zum Beispiel Pythie 9 oder die Olympien 7 und 9 zeigen. Innerhalb dieser mythologischen Passagen muß nicht linear erzählt werden; vielmehr können verschiedene Perspektiven eingenommen werden. Emmet Robbins betont: »Die Mythen sind mit unvergleichlicher Brillanz und großer Ökonomie erzählt, eher in kurzen Vignetten als in ausführlicher Behandlung«.57 Pindars Erzähltechnik kann mit den Adjektiven »lyrisch«, »allusiv« und »nicht-episch« charakterisiert werden.58 Freilich muß man bei diesen Beobachtungen auch die ursprünglichen Rezeptionsbedingungen be53 Vgl. zu diesen allgemeinen Charakteristika z.B. Lesky (1993) 233ff. und Robbins (2000) 1033f. – Einen Forschungsbericht und eine Bibliographie zu Pindar, die die Literatur bis 1987 aufarbeiten, hat Gerber (1989-90) vorgelegt; einführende Literatur auch bei Robbins (2000) 1036. 54 Eine ausführliche Beispielsammlung findet sich bei Robbins (2000) 1033f. 55 Über Umfang und Anlage aller Mythenerzählungen bei Pindar informiert Fehr (1936), der seine Darstellung nach den einzelnen Sagenkreisen gliedert; einen kurzen Überblick über die jeweilige Relation zwischen Gedichtlänge und Mythosanteil findet man bei Bowra (1964) 281f. Dieser kommt ebd. auf S. 282 zu folgendem Fazit: »There seem to have been no rules or precedents to guide either the place of a myth in a poem or the proportion of space allotted to it. [Pindar] allows himself considerable freedom both in place and in scale.« 56 Zu Recht warnt allerdings Bowra (1964) 292f. davor, in zu vielen Details um jeden Preis Entsprechungen finden zu wollen. Ders. ebd. auf S. 294: »They are not allegories which stand in a one-one relation of their parts to a series or concatenation of actual events.« 57 Robbins (2000) 1034. Dies läßt sich auch aus Pindars eigenen Äußerungen belegen wie z.B. in N. 4,33: τὰ μακρὰ δ’ ἐξενέπειν ἐρύκει με τεθμός oder ebd. 71f.: ἄπορα γὰρ λόγον Αἰακοῦ / παίδων τὸν ἅπαντά μοι διελθεῖν. Eine Sonderstellung nimmt dabei die ungewöhnlich lange Schilderung des Argonautenmythos in Pythie 4 ein. 58 So Günther (1999) 154.
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I. Teil: Prolegomena
rücksichtigen: Einerseits waren den Zuhörern die mythischen Zusammenhänge in gewissem Maße präsent, andererseits mußte angesichts der limitierten Zeit, die für den Vortrag zur Verfügung stand, eine Selektion des mythischen Materials vorgenommen werden.59 Nach Albin Lesky geht es Pindar um die »rahmende Herausarbeitung dessen, was ihm an der Geschichte als wesentlich erscheint und als abgeschlossenes Bild vor die Seele tritt.«60 Deutlich weiter noch geht Cecil M. Bowra in seiner Funktionsbeschreibung pindarischer Mythen: Pindar’s myths may indeed be suggested by something that has just happened, but in this he finds something else of much wider relevance and universal significance. The myth stands for much more than an actual event; it reaches beyond and behind it to metaphysical issues.61
Doch Lesky bringt auch die geradezu topische Kritik an Pindar vor: Seine Epinikien seien eine »kaleidoskopische Mischung verschiedener Elemente«, zu deren Verbindung es oft nur »willkürliche Übergänge« gebe.62 Gegen diese Beurteilung Pindars erhob Adolf Köhnken Einspruch:63 Indem er sich mit der Frage auseinandersetzte, ob es sich bei den Mythen um funktionslose Digressionen oder um aus sich selbst heraus verständliche Elemente handele, konnte er zeigen, daß es eben »keine grundlos-abrupten Übergänge, keine irrelevanten Digressionen« bei Pindar gibt. Im Rahmen dieser Untersuchungen arbeitete er Besonderheiten des pindarischen Mythengebrauches und dessen Funktionen heraus. Dabei fand er zwischen Mythos und Gedichtanlaß Parallelen wie z.B. »heute wie damals«, stellte Entsprechungen im Schicksal der Heroen und der Besungenen fest, spürte Bindeglieder zwischen der Familiengeschichte des Sieger und dem jeweiligen mythischen Beispiel auf.64 Das Besondere, so Köhnken, wird durch den Mythos zu allgemeiner Bedeutung erweitert und erhöht.65 Auch die Betonung scheinbar untergeordneter Details durch Pindar erlangte in Köhnkens Interpreta59 Vgl. auch Bowra (1964) 287f.; ders. formuliert ebd. auf S. 288: »Pindar takes advantage of his audience’s acquaintance with myths to concentrate his effects and not to waste time on superfluous explanations.« 60 Lesky (1993) 234. 61 Bowra (1964) 293. 62 Lesky (1993) 235. Eine ähnliche Bewertung findet sich auch zum Beispiel bei Kennedy (1975) 24 (»naive digressions«). Freilich leistet Pindar selbst derartigen Deutungen Vorschub durch Aussagen wie P. 10,53f.: ἐγκωμίων γὰρ ἄωτος ὕμνων / ἐπ’ ἄλλοτ’ ἄλλον ὥτε μέλισσα θύνει λόγον. – Jede Möglichkeit eines kohärenten, logisch durchdachten Aufbaus leugnet in einem Zirkelschluß Fehr (1936) 7: »Dazu kommt, daß ein Dichter ›vorlogischer‹, archaischer Zeit überhaupt nicht logisch faßbar sein kann«. 63 Köhnken (1971). 64 Ebd. 228f. (keine Digressionen); 59 (»heute wie damals«); 85 (Entsprechungen im Schicksal); 102 (Bindeglieder). 65 Ebd. 227.
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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tion Bedeutung für das jeweilige Gedicht, indem er es sich zur methodischen Voraussetzung machte, »die Epinikien von den mythischen Partien und ihren besonderen Nuancen her zu erklären und diese im Vergleich mit parallelen Darstellungen desselben Stoffes herauszuarbeiten«.66 Köhnken konnte Pindar also von der »Anklage« der abrupten und nur assoziativ verstehbaren Gedankensprünge freisprechen, indem er feststellte, »mit welcher Sorgfalt der Dichter bei seiner Darstellung vorgeht und wie sehr er auf die besondere Situation des Adressaten und seiner Familie achtet«. Es konnte gezeigt werden, daß Pindar Mythen mit Bedacht aussucht und sie jeweils für das spezielle Gedicht gestaltet.67 Oftmals wurde in letzter Zeit durch Analysen herausgearbeitet, »wie geschickt Pindar mit Hilfe eines Mythos den Kern seines Lobgesangs zu treffen versteht«.68 Vielfach wählt Pindar Mythen mit Blick auf den zu rühmenden Sieger und dessen Leistungen aus, variiert den Mythos, adelt dann aber das menschliche Geschehen durch Anpassung an das heroische.69 Durch die vom Dichter geschaffene Verbindung geht der Glanz der mythischen Gestalten auf die Sieger über, manchmal auch auf deren Herkunftsort oder auf den Agon; zugleich gewinnt die so idealisierende Dichtung auch einen pädagogischen Aspekt und wirkt dadurch protreptisch oder apotropäisch.70 Diese Intention kann auch expliziert werden, wie in Olympie 1,64, wo aus dem Tantalosmythos folgendes Fazit gezogen wird: εἰ δὲ θεὸν ἀνήρ τις ἔλπεταί λαθέμεν ἔρδων, ἁμαρτάνει. Neben der Art, wie Pindar Mythen in seine Gedichte einfügt, muß aber auch seine Tätigkeit als Mythenschöpfer und Mythenkritiker erwähnt werden: Es ist bekannt, daß man bei Pindar seltene oder vorher sonst gar nicht
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Ebd. 225. Ebd. 226f. Mit Einschränkungen so auch schon Fehr (1936) 154 (»immer stehen [die Mythen] in einer besonderen Beziehung zu der wirklichen oder fingierten Situation des einzelnen Liedes«), was sich aber nicht mit seiner Ausgangsthese vom alogischen Dichter (vgl. Anm. 62) in Einklang bringen läßt. 68 Erbse (2003) 241; ähnlich schon Bowra (1964) 288: »All this proves that Pindar attaches importance both to the choice of a myth and to the actual treatment of it and that he thinks of it as much more than mere decoration«. 69 Vgl. (auch für das Folgende) Erbse (2003) 251.256ff., wo die heutige communis opinio zur Funktion des Mythos bei Pindar zusammengefaßt wird, und Fehr (1936) 154f. – Ähnlich auch Bowra (1964) 294: »[The myths] may glorify men by showing their harmony with the gods and even their likeness to them.« 70 So werden zum Beispiel in der 3. Nemeie dem Pankrationsieger Aristokleides die Leistungen des jungen Achill als Ansporn vor Augen gestellt; in der 11. Pythie hingegen werden erst die Grausamkeiten des Atridenhauses erzählt; danach folgt der Aufruf zur Mäßigung und zu Gemeinschaftsleistungen (V. 54: ξυναῖσι δ’ ἀμφ’ ἀρεταῖς τέταμαι). »That Pindar intends to convey lessons by his myths is clear«, konstatiert auch Bowra (1964) 290, der dies mit lehrhaften, im Zusammenhang mit Mythen stehenden Sentenzen belegt. – Fehr (1936) 158 jedoch konstatiert zwar eine »Ethisierung der Motive«, lehnt es aber ab, von einem lehrhaften Zug zu sprechen. 67
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I. Teil: Prolegomena
bezeugte Versionen eines Mythos finden kann.71 Ein charakteristisches Beispiel dafür stellt eine Passage aus der 3. Nemeie dar (V. 32-36):
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παλαιαῖσι δ’ ἐν ἀρεταῖς γέγαθε Πηλεὺς ἄναξ, ὑπέραλλον αἰχμὰν ταμών· ὃς καὶ Ἰαολκὸν εἷλε μόνος ἄνευ στρατιᾶς, καὶ ποντίαν Θέτιν κατέμαρψεν ἐγκονητί. An altehrwürdigen Heldentaten aber erfreut sich Peleus, der Gebieter, der eine gigantische Lanze sich geschnitten hatte; dieser hat auch Jolkos genommen, allein ohne Heer, und die Meeresgöttin Thetis hat er ergriffen rasch.
Wie Bowra gezeigt hat,72 weicht Pindar hier in gleich drei Punkten von den sonstigen Versionen des Mythos ab: Erstens erhält Peleus sonst die Lanze als Geschenk von Chiron (hier: αἰχμὰν ταμών), zweitens erobert er Jolkos gewöhnlich zusammen mit Jason und den Tyndareossöhnen (hier: εἷλε μόνος ἄνευ στρατιᾶς), und drittens erhält er sonst Thetis als göttliches Ehrengeschenk (hier: κατέμαρψεν / ἐγκονητί). Ferner zeigt das mehrfache Auftreten eben des Mythos von Peleus und Thetis, unter wie verschiedenen Aspekten Pindar ein und denselben Mythos behandeln kann: Die vier erhaltenen Darstellungen verfolgen jeweils andere Intentionen.73 Mitunter führt Pindar seine eigene mythische Erzählung auch explizit als Berichtigung anderer kursierender Versionen ein. So kündigt er beispielsweise in seinem ersten olympischen Epinikion an (Verse 36-38): υἱὲ Ταντάλου, σὲ δ’ ἀντία προτέρων φθέγξομαι, / ὁπότ’ ἐκάλεσε πατὴρ τὸν εὐνομώτατον / ἐς ἔρανον κτλ. Entgegen den Früheren will Pindar also den Pelopsmythos erzählen, und dieses Ziel erreicht er u.a. durch die Verwendung des Adjektivs εὐνομώτατον (V. 37): Es war ein äußerst ordnungsgemäßes Mahl, das Tantalos in Sipylos veranstaltete; keineswegs wurde Pelops von seinem eigenen Vater geschlachtet und den Göttern vorgesetzt. Das behauptete nur einer der neidischen Nachbarn (V. 47: ἔννεπε κρυφᾷ τις αὐτίκα φθονερῶν γειτόνων); Pindar hingegen wendet sich von solchen Deutungen ab (V. 52: ἀφίσταμαι):74 Tatsächlich nämlich raubte Poseidon den Tantaliden 71 Bowra (1964) 285 sieht dafür unter anderem in »the tastes of his patrons« einen Erklärungsansatz. 72 Bowra (1964) 286, der ebd. als Kontrastfolie Belege der traditionellen Versionen aufführt. 73 Die betreffenden Stellen sind N. 3,32ff.; 4,62-65; 5,25ff. und I. 8,36ff. Eine vergleichende Kurzinterpretation bietet Bowra (1964) 308. 74 Diese Haltung erklärt der Autor im vorliegenden Gedicht religiös: ἔστι δ’ ἀνδρὶ φάμεν ἐοικὸς ἀμφὶ δαιμόνων καλά· μείων γὰρ αἰτία (V. 35) sowie ἐμοὶ δ’ ἄπορα γαστρίμαργον μακάρων τιν’ εἰπεῖν· [...] ἀκέρδεια λέλογχεν θαμινὰ κακαγόρους (V. 52f.).
5.4 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Pindar
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aus Liebesverlangen. Nach Einschätzung des Dichters bzw. Sprechers kommen solche unwahren Erzählungen nicht ganz selten vor (V. 28ff.: ἦ θαύματα πολλά, καί πού τι καὶ βροτῶν / φάτις ὑπὲρ τὸν ἀλαθῆ λόγον / δεδαιδαλμένοι ψεύδεσι ποικίλοις ἐξαπατῶντι μῦθοι).75 An Olympie 1 läßt sich überdies zeigen, daß Pindar Mythen auch implizit korrigiert: Während die mythische Tradition berichtet, Pelops habe im Wagenrennen durch Manipulation der Radnaben über Oinomaos gesiegt und danach seinen Komplizen Myrtilos ermordet, schenkt ihm Poseidon in der pindarischen Darstellung einen goldenen Wagen mit geflügelten Pferden, so daß er das Rennen auf moralisch unanstößige Weise gewinnt (V. 86bff.). Hier ersetzt Pindar die geläufigen Zusammenhänge kommentarlos durch seine eigene Version.76 Eveline Krummen hat am Beispiel von Olympie 1 ausführlich dargelegt, wie Pindar einige mythische Fakten, die er für »richtig« hält und aus denen er ihm unglaubwürdig erscheinende Aspekte entfernt hat, neu anordnet und in neue Themen integriert:77 »Pindars Mythenkritik ist eine argumentierende Reinterpretation der Überlieferung unter einem Gesichtspunkt, den ihm seine eigene Zeit eröffnet«.78 Demnach ist Pindars Œuvre, welches sich u.a. durch thematische Weite und mannigfaltige Erscheinungsformen des Mythos auszeichnet, in besonderer Weise dazu geeignet, als Praetext oder als Bezugspunkt für Systemreferenz zu fungieren.
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Eine Korrektur kündigt Pindar überdies z.B. in O. 7,20f. explizit an: ἐθελήσω τοῖσιν ἐξ ἀρχᾶς ἀπὸ Τλαπολέμου / ξυνὸν ἀγγέλλων διορθῶσαι λόγον; vorsichtiger werden Bedenken geäußert in N. 7,20f.: ἐγὼ δὲ πλέον’ ἔλπομαι / λόγον Ὀδυσσέος ἢ πάθαν διὰ τὸν ἁδυεπῆ γενέσθ’ Ὅμηρον [...]. – Daß andererseits die πρότεροι aber auch als Autorität herangezogen werden können, zeigt z.B. N. 3,52f.: λεγόμενον δὲ τοῦτο προτέρων / ἔπος ἔχω [...]. 76 Eine Auflistung weiterer pindarischer Mythenkorrekturen sowie einen Literaturüberblick hierzu bietet Vöhler (2005) 34 mit Anm. 37. 77 Krummen (1990) 155-216. Vgl. zu Mythenkorrekturen in Olympie 1 auch Vöhler (2005), der in Anm. 11 weitere Literatur zu diesem Epinikion anführt. 78 So Krummen (1990) 206f.
5.5 Die attische Tragödie Die attische Tragödie ist eine wichtige Station im Entwicklungsgang des antiken Mythos, die ihm entscheidende Impulse für seine weitere Ausformung gab. Deshalb muß sie zweifellos in diesem Überblick über vorhorazische Arten der literarischen Funktionalisierung von Mythen Erwähnung finden. Überdies ist Horazens Interesse an der griechischen (und auch römischen) Tragödie evident: Abgesehen davon, daß er mehrfach auf tragische Praetexte rekurriert,1 setzt sich Horaz vor allem in seinem Spätwerk mit der Tragödie auseinander, wobei er meist Thespis, Aischylos und Sophokles nennt.2 Im Rahmen dieser Arbeit ist es jedoch lediglich möglich, eine ganz knappe Skizze zu geben, welche nur einige zentrale Punkte ansprechen kann, viele aber notwendigerweise übergehen muß. Dennoch soll die Bedeutung des Mythos für die attische Tragödie hier umrissen werden, wobei die Darstellung aus praktischen Gründen auf den erhaltenen Werken der klassischen Tragikertrias des 5. Jhs. v.Chr., Aischylos, Sophokles und Euripides, basiert. Die Tragödie ist stofflich auf engste mit dem Mythos verbunden.3 Abgesehen von einigen »Experimenten«, in denen Zeitgeschichte als Stoff dient,4 weisen Tragödien durchgängig Mythen als Sujet auf. Gegenüber der epischen und chorlyrischen Mythenerzählung kommt es allerdings in den Tragödien gewissermaßen zu einem Medienwechsel: Mythen werden nicht mehr erzählt. Vielmehr werden sie im Theater vorgespielt; Erzählung wird durch konkrete Aktion ersetzt.5 Durch die Inszenierung wird ein Mythos für eine bestimmte Zeitspanne gegenwärtig und sinnlich erfahrbar. 1 Vgl. z.B. Citroni Marchetti (1980), Jacobson (1995), López-Cañete Quiles (2001) und Thévenaz (2003). 2 Epist. 2,1,161ff.: serus enim [sc. Romanus] Graecis admovit acumina chartis / et post Punica bella quietus quaerere coepit, / quid Sophocles et Thespis et Aeschylus utile ferrent. Ferner ars 275ff. – Überdies behandelt die ars poetica passim die Tragödie im Allgemeinen. 3 Sehr anschaulich formuliert Burian (1997) 208: »tragedy was inextricably wedded to myth«. 4 Tragödien mit zeitgeschichtlichem Inhalt sind für Phrynichos bezeugt (Einnahme Milets und Phönizierinnen); Aischylos’ Perser sind erhalten. Zu diesem Drama bemerkt Burian (1997) 186: »It is fascinating, among other things, for the degree to which it has been accomodated to what we might call the mythic mode«. – Ferner berichtet Aristoteles von der Tragödie Antheus oder Anthos des Agathon (zweite Hälfte des 5. Jh.s), in der die Personen und Ereignisse erfunden seien (poet. 9, 1451 b 21-23: ἐν ἐνίαις δὲ οὐθέν [ἐστι τῶν γνωρίμων ὀνομάτων], οἷον ἐν τῷ Ἀγάθωνος ᾿Ανθεῖ· ὁμοίως γὰρ ἐν τούτῳ τά τε πράγματα καὶ τὰ ὀνόματα πεποίηται, καὶ οὐδὲν ἧττον εὐφραίνει). 5 Freilich gibt es auch in Tragödien erzählende Passagen, z.B. in Prologen oder in Botenberichten. Dennoch werden auch diese Erzählungen nicht von auktorialen Instanzen vorgetragen, sondern von Figuren, die in irgendeiner Weise am Geschehen beteiligt sind.
5.5 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die attische Tragödie 87
Was die Tragödienhandlung und damit die Stoffauswahl innerhalb eines Mythos angeht, ist es eher die Ausnahme, daß ein Gott der Protagonist ist, wie zum Beispiel in Aischylos’ Prometheus-Trilogie oder in seinen Eumeniden.6 Auch das Faktum, daß Dionysos, mit dessen Kult die Tragödienaufführungen doch in engem Zusammenhang stehen, kaum als zentrale Figur auftritt, ist bemerkenswert.7 In den meisten Tragödien steht das Geschehen um Heroen oder um aus dem Mythos bekannte, sozial hochgestellte Menschen im Mittelpunkt. Dies begründet Fritz Graf wohl zu Recht folgendermaßen: [Diese Gestalten], verstanden als große Tote einer irgendwie historischen Vergangenheit, haben jene Größe über unser Maß hinaus, das sie zu exemplarischen Gestalten macht. [Sie] sind auch Gestalten des Kults und so mit einer Verbindlichkeit ausgestattet, die erfundene Personen oder solche der jüngsten Vergangenheit selten haben.8
Es liegt im Wesen der Tragödie, daß sich die Tragiker wenig für die strahlenden Siege und die hehren Momente im Leben eines Heros interessierten.9 So wird in Tragödien zum Beispiel nicht Agamemnons Sieg über Troja in den Fokus gerückt, sondern seine Ermordung durch die Hand seiner eigenen Ehefrau. Nicht Herakles’ Siege über Ungeheuer werden thematisiert, sondern die Zeit, als er im Wahn seine Frau Megara und seine mit ihr gezeugten Kinder tötet, oder sein Ende, als er durch Hinterlist überwältigt dahinsiecht. Aias tritt nicht als strahlender Held auf, sondern wird im Moment seiner tiefsten (Selbst-)Erniedrigung gezeigt, als er einsehen muß, daß er sich nicht an den Atriden, sondern an einer Schafherde brutal gerächt hat. Beinahe immer greift die Tragödie eine entscheidende Phase im Leben eines Heros auf, in der sich dieser in einem Konflikt befindet.10 Oft ist dieser Konflikt mit einem Widerstreit verschiedener Ansprüche verbunden, die alle ein gewisses Recht für sich geltend machen können und die gegeneinander abgewogen werden müssen: In Aischylos’ Hiketiden beispielsweise muß Pelasgos, der König von Argos, abwägen, welches Prinzip höher zu 6
them«.
Brown (1983) 127 verweist zur Erklärung auf die »obvious practical problems of staging
7 Diese Abwesenheit bezeugt auch das Sprichwort οὐδὲν πρὸς τὸν ∆ιόνυσον [Fundstellen und Literatur bei Lesky (1972) 42, Anm. 105]. Zu in tieferen Schichten dennoch vorhandenen dionysischen Elementen in der Tragödie vgl. Zimmermann (2002) 737 mit weiterer Literatur. – Deutlich stärker ist das dionysische Element hingegen in den Satyrspielen vorhanden, in denen die Satyrn, Dionysos’ halbtierisches Gefolge, auftreten. Zur Integration von Satyrn in Mythen, in welchen diese ursprünglich nicht vorkamen, vgl. u.a. Snell (1975) 98f. 8 Graf (1985) 138. 9 Ähnlich Brown (1983) 127: »it is striking how often the conquest of Troy, the defeat of the Seven against Thebes [etc.] lie in the background of a play’s action, forming a glorious past which contrasts painfully with the harsher realities of the present.« 10 Vgl. z.B. Burian (1997) 181ff., der den Konflikt als übergeordnete Handlungskategorie der Tragödie darstellt.
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I. Teil: Prolegomena
bewerten ist: Soll er die Töchter des Danaos beschützen, indem er ihnen in seiner Stadt Zuflucht gewährt, und so einen Krieg mit den Söhnen des Aigyptos riskieren? Damit brächte er seine Stadt in höchste Gefahr. Oder soll er, um seine Stadt zu schützen und einen Krieg zu vermeiden, die Danaiden abweisen? Dann bräche er das heilige Gastrecht. Auch Antigone befindet sich in einer schwierigen Situation: Soll/darf sie trotz des Bestattungsverbotes ihren im Kampf gegen seine Vaterstadt gefallenen Bruder Polyneikes begraben? Soll/muß sie den weltlichen Gesetzen eher Folge leisten als den göttlichen Satzungen? Wie soll sich schließlich Orestes verhalten? Soll er, wie es ihm Apollon befiehlt, seine Mutter töten, um Rache für seinen von ihr ermordeten Vater zu nehmen? Soll er also zum Muttermörder werden, der von den Erinyen geplagt werden wird? Oder muß die Scheu vor der eigenen Mutter höher geachtet werden? Diese wenigen Beispiele verdeutlichen bereits, daß die meisten Tragödien von einem Konflikt dominiert sind, der in den Bereichen Krieg und/oder Familie anzusiedeln ist.11 In diesen Konflikten geht es um die Folgen von Handlungen. Bruno Snell beschreibt treffend, was hierbei genau mit »Handlung« gemeint ist: Handeln heißt hier nicht lediglich, auf etwas Vorhergehendes reagieren, sondern auf eine Zukunft hin sich festlegen. Entscheidung, Recht, Verhängnis, alle diese Vorstellungen [...] drängen sich dem Menschen am reinsten und klarsten auf, wenn er vor dem Handeln steht: die Schwere der Verantwortung spürt er nur vor dem Handeln.12
Auffällig ist, daß die Tragödie – soweit sie uns überliefert ist – ihre Stoffe aus einer sehr überschaubaren Menge an Sagenkreisen schöpft: vor allem aus den Ereignissen im Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg sowie aus dem thebanischen und dem argivischen Sagenkreis; gelegentlich werden auch attische oder korinthische Sagen verarbeitet. Somit kommt es notwendigerweise dazu, daß mehrere Tragödien denselben Stoff behandeln;13 11 Auf den Bereich der Familie konzentriert sich Snell (1975) 106: »Ja, lebt nicht die ganze Tragödie von solchen outrierten Situationen, von Vatermord, Kindermord, Brudermord, Inzest?« 12 Ebd. 106f. 13 Vgl. Burian (1997) 184: »Of the close to six hundred works attributed by title to all the known tragic poets, there are a dozen different plays entitled Oedipus [...], eight plays named Thyestes [...]. All in all, more than one hundred of the titles appear twice or more, and nearly half of the attested plays have repeated titles.« Ders. fügt diesem Zahlenmaterial ebd. in Anm. 14 notwendige methodische Überlegungen hinzu. – Andererseits führte dies dazu, daß die Tragödieninhalte zumindest in ihren Grundzügen jedem Zuschauer bestens bekannt waren. Deshalb kann Antiphanes, ein Komödiendichter des 4. Jh.s v.Chr., in seiner Komödie Ποίησις sinnieren (fr. 189,1ff.): μακάριόν ἐστιν ἡ τραγῳδία / ποιήμα κατὰ πάντ’, εἴ γε πρῶτον οἱ λόγοι / ὑπὸ τῶν θεατῶν εἰσιν ἐγνωρισμένοι, / πρὶν καί τιν’ εἰπεῖν· ὥσθ’ ὑπομνῆσαι μόνον / δεῖ τὸν ποιητήν. Οἰδίπουν γὰρ † φῶ / τὰ δ’ ἄλλα πάντ’ ἴσασιν κτλ.; vgl dazu Reinhardt (1974) 101ff. – Umso mehr erstaunt es, daß Aristoteles in poet. 9, 1451 b 25f. behauptet: καὶ τὰ γνώριμα ὀλίγοις γνώριμά ἐστιν, ἀλλ’ ὅμως εὐφραίνει πάντας.
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dies ist zum Beispiel bei Aischylos’ Choephoren, Sophokles’ Elektra und Euripides’ Elektra der Fall. Allerdings stellte dies kein Problem dar; vielmehr paßte das Nebeneinander verschiedener (konkurrierender) Versionen bestens zum agonalen Rahmen der Tragödienaufführungen. Eine denkbare Erklärung für diese weitgehende Beschränkung auf wenige Sagenkreise wäre, daß diese in besonderer Weise von den oben genannten Konfliktbereichen Krieg und/oder Familie dominiert werden und deshalb besonders gut geeignet schienen, um die Intentionen der Tragiker hervortreten zu lassen.14 Der Tragödiendichter kann mit seinem Stoff aber weitgehend frei umgehen und ihn nach seinen Absichten gestalten, indem er zum Beispiel bestimmte Aspekte hervorhebt, Szenenfolgen verändert, neue Figuren einführt oder sogar tiefergehende Änderungen am Sujet vornimmt.15 An mythische Ereignisse können auch neue Erzählungen angeknüpft werden: In Euripides’ Orestes erfährt man, wie der eponyme Protagonist nach der Ermordung seiner Mutter Klytaimestra bei Menelaos Zuflucht sucht, abgewiesen wird und dann gemeinsam mit seiner Schwester Elektra und seinem Freund Pylades ein Mordkomplott schmiedet. Zu Recht bezeichnet Peter Burian das Sujet dieser Tragödie als ein »almost novelistic fleshing out of the received mythical tradition«.16 Ein Tragiker kann also auf eine stoffliche Basis zurückgreifen; aber es ist erst sein Gestaltungswille, der aus dem Stoff eine Tragödie macht.17 Wie oben schon angedeutet wurde, bedienen sich die Tragiker der Heroen, jener übermenschlichen Gestalten, die im Guten wie im Schlechten exemplarischen Charakter aufweisen, unter anderem deshalb, um die condition humaine, die Lage des Menschen innerhalb der Welt und sein Verhältnis zu den Göttern, im großen Maßstab und in reiner Form darzustellen. 14
So Graf (1985) 150f. Das Argument ließe sich aber auch umkehren: Die Konzentration auf derartige Konflikte könnte auch das Ergebnis der Konzentration auf die oben genannten Sagenkreise darstellen. – Allerdings wird vielleicht auch das Prestige Homers bei der Auswahl der Themen eine Rolle gespielt haben. Man denke an Aischylos’ Ausspruch, seine Tragödien seien Scheiben vom großen Mahle Homers (Athen. 8,347e: τὰς αὑτοῦ τραγῳδίας τεμάχη εἶναι ἔλεγεν τῶν Ὁμήρου μεγάλων δείπνων). – Nach Aristoteles wiederum ist die geringe Zahl der Themen das Ergebnis einer Entwicklung (poet. 13, 1453 a 17-19): πρῶτον (v.l.: πρὸ τοῦ) μὲν γὰρ οἱ ποιηταὶ τοὺς τυχόντας μύθους ἀπηρίθμουν, νῦν δὲ περὶ ὀλίγας οἰκίας αἱ κάλλισται τραγῳδίαι συντίθενται [...]. 15 Vgl. z.B. Burian (1997) 184f.: »poets were the mythmakers of Greece. At any rate, there was no mythological ›orthodoxy‹ in fifth-century Athens. [...] As regards the actual structures and details of plot, there are few tragedies that retell a familiar story in a familiar way.« Vgl. ferner Seidensticker (2005). – Die Existenz mehrerer Tragödien mit demselben Sujet hat schon antike Philologen zur vergleichenden Betrachtung herausgefordert, vgl. z.B. Dion Chrysostomos’ 52. Rede, in der er die drei Philoktettragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides behandelt. 16 Burian (1997) 185. Vgl. auch Brown (1983) 130: »To Eur. Or., indeed, [...] the existing myth is almost irrelevant, being little more than a conventional starting point for a freely invented plot.« 17 Zur Umgestaltung traditioneller Stoffe durch die Tragiker vgl. u.a. Vickers (1973) 295343, Stephanopoulos (1980) und Föllinger (2003).
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I. Teil: Prolegomena
Partiell werden Mythen aber auch zu anderen Zwecken verwendet. Mehrfach erklären Mythen in Tragödien, warum bestimmte Gegebenheiten, Sitten oder Institutionen der Gegenwart so sind, wie die Rezipienten sie kennen. Aus Aischylos’ Eumeniden zum Beispiel erfahren die Zuschauer, warum in Athen der Areopag existiert: Er ist von Athene im Streit der Parteien Orestes/Apollon und der Erinyen als Gerichtshof eingesetzt worden. Besonders häufig begegnen bei Euripides Aitien am Ende einer Tragödie; meist handelt es sich dabei um Kultaitiologien.18 Mit aitiologischen Elementen lassen sich aber auch im weitesten Sinne politische Aussagen verknüpfen. Dies können abermals Aischylos’ Eumeniden illustrieren, in denen sich zwei deutliche Bezüge auf recht aktuelle politische Ereignisse finden: Wenn Aischylos in dieser Tragödie aus dem Jahr 458 die Einrichtung des Areopags als Handlung der Athene darstellt, scheint dies in Zusammenhang mit der Ephialtesreform eben des Areopags im Jahr 462 zu stehen, durch welche die Kompetenzen dieses Rates beschnitten wurden.19 Im selben Drama schwört Orestes nach seinem Freispruch, er werde für alle Zeiten darüber wachen, daß kein Verderben bzw. Heer aus Argos nach Athen komme.20 Diese Aussage befindet sich im Einklang mit der im Jahre 458 aktuellen außenpolitischen Situation Athens: Man ist mit Argos verbündet.21 Überdies findet sich auch die Technik, daß in den Mythos anachronistische Begriffe aus dem zeitgenössischen politischen Geschehen eingeblendet werden. So hofft der Chor in Aischylos’ Eumeniden, daß Athen nie von einer στάσις heimgesucht werde; in Sophokles’ Antigone wird der oligarchisch gefärbte Terminus πειθαρχία verwendet, und in Euripides’ Orestes spielt der Begriff der ἑταῖροι bzw. ἑταιρία eine wichtige Rolle.22 Innerhalb einer Tragödie können auch Mythen auftreten, welche mit dem eigentlichen Sujet nicht in offensichtlicher Verbindung stehen. Der Chor zeigt in seinen Stasima gelegentlich mythische Parallelen oder Kontraste zur Haupthandlung auf; manchmal bedienen sich auch die agierenden Figuren mythischer Beispiele.23 Während in der Antigone des Sophokles die 18
Zum Beispiel Eur. Med. 1381-1383; Hipp. 1423-1430; El. 1268-1275. Zimmermann (2002) 737 hingegen nimmt an, daß durch die Mythisierung politische Ereignisse der aktuellen Diskussion entzogen werden. 20 Aischyl. Eum. 762ff.: ἐγὼ δὲ χώραι τῆιδε καὶ τῶι σῶι στρατῶι / τὸ λοιπὸν εἰς ἅπαντα πλειστήρη χρόνον / ὁρκωμοτήσας νῦν ἄπειμι πρὸς δόμους, / μήτοί τιν’ ἄρη δεῦρο πρυμνήτην χθονὸς / ἐλθόντ’ ἐποίσειν εὖ κεκασμένον δορί. 21 In diese Diskussion darf man aber wohl nicht die Aussage des Aristoteles in poet. 6, 1450 b 7f. einbeziehen (οἱ μὲν γὰρ ἀρχαῖοι πολιτικῶς ἐποίουν λέγοντας, οἱ δὲ νῦν ῥητορικῶς). Hier äußert sich Aristoteles wohl über die Form, nicht über den Inhalt tragischer Aussagen. 22 Aischyl. Eum. 978; Soph. Ant. 676; Eur. Or. 804.1072.1079. Vgl. hierzu auch Zimmermann (2002) 737f. 23 Eine Übersicht bietet Oehler (1925) 78-111. – Zum mythischen Beispiel vgl. auch im II. Teil Kap. 2.7. 19
5.5 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die attische Tragödie 91
gleichnamige Protagonistin eingemauert wird, erinnert der Chor im vierten Stasimon an drei andere mythische Schicksale: Danae wurde eingesperrt, damit sie nicht schwanger werde; tatsächlich näherte sich ihr aber Zeus als Goldregen. Lykurgos, ein thrakischer König, wurde durch Haft zur Vernunft gebracht. Kleopatra aber, die Tochter des Boreas, mußte in entlegenen Höhlen aufgezogen werden, weil ihre Stiefmutter sie haßte.24 Überdies vergleicht der Chor in Euripides’ Iphigenie in Aulis im dritten Stasimon die angebliche Hochzeit der Iphigenie, die in Wirklichkeit geopfert werden soll, mit der Hochzeit von Peleus und Thetis. Wenn der Chor dann den Haarschmuck der Iphigenie mit dem eines Opfertieres vergleicht,25 birgt dies einen makaberen Doppelsinn in sich. Hier zeigt sich deutlich, daß man die Wirkung, die ein mythischer Vergleich auf Figuren der Handlung ausübt, unterscheiden muß von seiner Wirkung auf die Zuschauer.26 In Tragödien wird aber auch Kritik an Details des Mythos (und somit bisweilen auch an den literarischen Gestaltungen der Vorgänger) geübt: So äußert der Chor in Euripides’ Iphigenie in Aulis Zweifel, ob Zeus sich Leda wirklich in Form eines Schwanes genähert habe, und in der Elektra des Euripides betont der Chor, daß er es für sehr unwahrscheinlich halte, daß die Sonne nach dem Atreusmahl wirklich ihre Bahn verändert habe.27 Besonders augenfällig korrigiert Euripides in seiner Elektra die Anagnorisisszene aus den aischyleischen Choephoren, indem er Elektra alle Erkennungszeichen, die in Aischylos’ Tragödie für die Wiedererkennung ausschlaggebend waren, als ungenügend zurückweisen läßt (V. 520-546). Zum Teil gewinnt die Kritik am Mythos und an den anthropomorphen Gottesvorstellungen in Tragödien eine Schärfe, wie sie sich auch bei Xenophanes von Kolophon, einem Philosophen des 5. Jh.s v.Chr., findet: Im Euripidesfragment 286b,7 z.B. heißt es: εἰ θεοί τι δρῶσι φαῦλον, οὔκ εἰσιν θεοί, und im Herakles desselben Autors behauptet der eponyme Heros in Vers 1341ff.: ἐγὼ δὲ τοὺς θεοὺς οὔτε λέκτρ’ ἃ μὴ θέμις / στέργειν νομίζω [...] ἀοιδῶν οἵδε δύστηνοι λόγοι.28 Doch die bloße Existenz des Halbgottes, 24
Soph. Ant. 944-987. Eur. Iph. A. 1080ff. 26 Vgl. dazu auch im I. Teil Kap. 1.3.3. 27 Eur. Iph. A. 793ff.: διὰ σέ, τὰν κύκνου δολιχαύχενος γόνον, / εἰ δὴ φάτις ἔτυμος ὡς / ἔτυχεν, [Λήδα] ὄρνιθι πταμένῳ / ∆ιὸς ὅτ’ ἠλλάχθη δέμας κτλ.; ähnlich Helena in Eur. Hel. 16ff.: ἡμῖν [...] πατὴρ δὲ Τυνδάρεως· ἔστιν δὲ δὴ / λόγος τις ὡς Ζεὺς μητέρ’ ἔπτατ’ εἰς ἐμὴν / Λήδαν κύκνου μορφώματ’ ὄρνιθος λαβών κτλ. Zweifel an der astronomischen Anomalie: Eur. El. 737ff.: λέγεται, τὰν δὲ πί- / στιν σμικρὰν παρ’ ἔμοιγ’ ἔχει, / στρέψαι θερμὰν ἀέλιον / χρυσωπὸν ἕδραν ἀλλά- / ξαντα δυστυχίᾳ βροτεί- / ῳ θνατᾶς ἕνεκεν δίκας. Zu weiteren mythischen Berichtigungen bei Euripides vgl. z.B. Seidensticker (2005) 44ff. 28 Vergleichbare Äußerungen bei Xenophanes: 21 B 11 D./K.: πάντα θεοῖσ’ ἀνέθηκαν Ὅμηρος θ’ Ἡσίοδός τε, / ὅσσα παρ’ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, / κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν; 21 B 12 D./K.: ὡς πλεῖστ(α) ἐφθέγξαντο θεῶν ἀθεμίστια ἔργα, / κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν. Vgl. zu diesem Komplex auch Lesky (1972) 514ff. 25
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der bekanntlich einem Seitensprung des Zeus mit Alkmene entstammt, erschüttert die Gültigkeit dieser Aussage. Wohl zu Recht bilanziert Bernd Effe: Das dramatische Geschehen führt die Reflexion des Herakles ad absurdum. Mag die aufklärerische Vernunft zu recht an dem anthropomorphen Götterbild des Mythos und der Dichtung Kritik üben, so greift sie doch viel zu kurz, wenn sie mit ihrer gereinigten Gottesvorstellung die Wirklichkeit des Lebens erklären will. Hier darf die Welt des Mythos eine tiefere Wahrheit für sich in Anspruch nehmen [...].29
Schließlich wird bei Euripides mehrfach die Frage aufgeworfen, ob Menschen im Handeln der Götter überhaupt einen Sinn erkennen können. In der Helena vertritt der Chor einen agnostizistischen Standpunkt: Was Gott, was nicht Gott, was dazwischen ist, wer könne das sagen? Das Göttliche nämlich sei unstet und unberechenbar. Und im Hippolytos desselben Dichters bringen Diener zum Ausdruck, daß die Sorge der Götter ihnen zwar den Kummer nehme, daß sie aber keinerlei Einsicht in die Schicksale und Werke der Sterblichen gewinnen könnten, da alles im ständigen Wechsel sei.30 Dabei ist jedoch immer zu bedenken, daß derartige Kritik von Figuren bzw. dem Chor ausgesprochen wird, daß sie also nicht ohne Weiteres als Äußerung des Autors angesehen werden kann.31 Die euripideische Tragödie problematisiert also die condition humaine mit Hilfe des Mythos und regt zur Reflexion über sie an, ohne selbst eindeutige Antworten zu geben.32 Hieran knüpfen Meinungen wie die von Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie vorgetragene an, Euripides habe die Tragödie getötet, indem er ihr das Gift sokratischer Philosophie und Dialektik beigegeben habe; ähnliche Ansichten vertritt schon – in komischer Brechung – der Chor in Ari-
29 Effe (1990) 66. Ders. hebt in seinem Beitrag durchgängig hervor, wie sehr sich das positive Bild, welches die Menschen in Euripides’ Tragödien von den Göttern haben, von dem tatsächlichen negativen und selbstsüchtigen Verhalten unterscheidet, das die Götter – z.B. in Prologen – an den Tag legen. 30 Eur. Hel. 1137ff.: ὅ τι θεὸς ἢ μὴ θεὸς ἢ τὸ μέσον, / τίς φησ’ ἐρευνήσας βροτῶν / μακρότατον πέρας εὑρεῖν / ὃς τὰ θεῶν ἐσορᾷ / δεῦρο καὶ αὖθις ἐκεῖσε / καὶ πάλιν ἀντιλόγοις / πηδῶντ’ ἀνελπίστοις τύχαις, Eur. Hipp. 1102ff.: ἦ μέγα μοι τὰ θεῶν μελεδήμαθ’, ὅταν φρένας ἔλθῃ, / λύπας παραιρεῖ· ξύνεσιν δέ τιν’ ἐλπίδι κεύθων / λείπομαι ἔν τε τύχαις θνατῶν καὶ ἐν ἔργμασι λεύσσων· / ἄλλα γὰρ ἄλλοθεν ἀμείβεται, μετὰ δ’ ἵσταται ἀνδράσιν αἰὼν / πολυπλάνητος αἰεί. 31 Dies betont u.a. Graf (1985) 162. Auch Effe (1990) 58 wendet sich gegen die »methodisch sehr fragwürdig[e] Tendenz [...], bestimmte Aussagen Euripideischer Figuren aus ihrem Kontext zu isolieren und für den Dichter selbst in Anspruch zu nehmen.« 32 Vgl. Graf (1985) 165: »die Göttermythen werden bloß noch zum Beleg unserer Verständnisschwierigkeiten, die Tragödie zur Darstellung der absoluten Unvereinbarkeit und Kommunikationslosigkeit zwischen göttlicher und menschlicher Welt«; ders. ferner ebd. auf S. 167: »So entweichen bei Euripides die Götter sozusagen nach oben, in völlige Unbegreiflichkeit, die Heroen nach unten, in allzu krasse Menschlichkeit, in der jede exemplarische Größe verschwindet.«
5.5 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die attische Tragödie 93
stophanes’ Fröschen.33 Daß solche Auffassungen jedoch zu kurz greifen, wurde bereits oben angedeutet. Insgesamt zeigt sich, daß Horaz bei den griechischen Tragikern inhaltlich wie formal vielfältige Anregungen für seinen eigenen Umgang mit Mythologemen finden konnte.
33 Aristoph. Ran. 1491ff.: χαρίεν οὖν μὴ Σωκράτει / παρακαθήμενον λαλεῖν, / ἀποβαλόντα μουσικὴν / τά τε μέγιστα παραλιπόντα / τῆς τραγῳδικῆς τέχνης, ein Anwurf gegen Euripides, der gerade im Unterweltsagon seinem Rivalen Aischylos unterlegen ist. – In Aristoph. Thesm. 445ff. wird Euripides gar als Gottesleugner bezeichnet, allerdings von einer Kranzverkäuferin, die sich über den nachlassenden Absatz ihrer Produkte beklagt.
5.6 Die Komödie Mit der griechischen wie der lateinischen Komödie war Horaz wohlvertraut, wie seine Erwähnung von Dichtern der altattischen Komödie und Menanders sowie seine Auseinandersetzung mit Plautus und Terenz bezeugen.1 Auch in der ars poetica beschäftigt sich Horaz ausführlich mit der Komödie,2 so daß es angemessen erscheint, im Rahmen dieser Untersuchung auch den Mythos in der Komödie in den Blick zu nehmen, wobei die Darstellung der Chronologie entsprechend die altattische, die Mittlere und die Neuere Komödie, sodann die Werke von Plautus und Terenz berücksichtigen wird. Generell ist dabei zu unterscheiden zwischen Komödien mit mythischem Sujet und solchen, die nur einzelne mythische Elemente aufweisen. 5.6.1 Die altattische Komödie Aus der altattischen Komödie sind keine Stücke mit mythischem Sujet komplett erhalten; doch einige Fragmente und zahlreiche Werktitel bezeugen Komödien, die mythische Themen dramatisierten. Otto Moessner hat plausibel dargestellt, daß Kratinos’ Ὀδυσσῆς das erste derartige Stück auf der attischen Bühne gewesen sind;3 von Aristophanes (ca. 450-380 v.Chr.) sind u.a. Werktitel wie ∆αίδαλος, ∆αναίδες, Λήμνιαι und Φοίνισσαι bezeugt, wobei die letzten beiden Komödien Parodien der gleichnamigen Stücke des Sophokles bzw. des Euripides darstellen könnten.4 Die Frage nach der Eigenart dieser Stücke sei noch etwas aufgeschoben; man wird sie am 1 Dichter der altattischen Komödie: sat. 1,4,1ff. (Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae / atque alii, quorum comoedia prisca virorum est etc.); 2,3,11f. (quorsum pertinuit stipare […] Eupolin Archilocho, comites educere tantos?); epist. 1,19,1 (prisco si credis, Maecenas docte, Cratino etc.). Menander: sat. 2,3,11 (quorsum pertinuit stipare Platona Menandro […]?); epist. 2,1,57 (dicitur Afrani toga convenisse Menandro). Plautus: epist. 2,1,57f. (dicitur […] Plautus ad exemplar Siculi properare Epicharmi); 2,1,170-176 (Plautus habe wegen seiner Geldgier allzu hastig und deshalb fehlerhaft gedichtet); ars 53-55 (Plautus habe Wörter aus dem fons Graecus geschöpft); 270ff. (die Plautini numeri et sales würden zu Unrecht bewundert). Terenz: sat. 1,2,20ff. (der pater im Hautontimorumenos des Terenz als Vergleichspunkt); epist. 2,1,57ff. (dicitur […] vincere […] Terentius arte). Zum Einfluß der griechisch-römischen Komödie speziell auf Horazens Satiren vgl. Delignon (2006). 2 Ars 53ff.80ff.89.93f.153ff.237f.270ff.281, wohl auch in 114ff. 3 Moessner (1907) 49ff. Eine Rekonstruktion des Inhaltes versucht u.a. Nesselrath (1990) 237f. Vgl. zu dieser Komödie auch Casolari (2003) 61ff. 4 Eine Übersicht über die zahlreichen auf Mythisches hinweisenden Komödientitel aus der Epoche der ἀρχαία bieten Moessner (1907) 57ff. und Nesselrath (1990) 204.
5.6 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die Komödie
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besten durch einen Vergleich mit den mythischen Dramen der Mittleren Komödie beantworten können (s.u. S. 101f.). Aber auch innerhalb von Komödien, die stofflich (zumindest prima facie) keine Affinität zum Mythos aufweisen, finden sich zahlreiche mythische Elemente:5 In der Lysistrata des Aristophanes z.B. planen attische und spartanische Frauen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, ihre Männer durch sexuelle Verweigerung zum Friedensschluß zu zwingen (ἡμεῖς δὲ μὴ προσίοιμεν ἀλλ’ ἀπεχοίμεθα, / σπονδὰς ποιήσαιντ’ ἂν ταχέως, εὖ οἶδ’ ὅτι, V. 153f.). Von der Wirksamkeit dieser Maßnahme zeigt sich die Vertreterin der Spartanerinnen überzeugt; denn auch Menelaos habe das Schwert weggeworfen, als er die Brüste der nackten Helena gesehen habe (ὁ γῶν Μενέλαος τᾶς Ἑλένας τὰ μᾶλά πᾳ / γυμνᾶς παραϊδὼν ἐξέβαλ’, οἰῶ, τὸ ξίφος, V. 155f.). Mit diesem mythischen Beispiel6 stellt also eine zeitgenössische Spartanerin eine Parallele zwischen ihrer eigenen Situation und derjenigen zweier mythischer Personen her, die ebenfalls aus Sparta stammen, und zieht daraus Schlüsse für die Gegenwart bzw. Zukunft.7 Mythische Exempla können auch antithetisch verwendet werden, so daß sie einander schwächen oder zumindest relativieren: Im Agon der aristophanischen Wolken, wo der δίκαιος λόγος und der ἄδικος λόγος ein Rededuell über den Wert der Moral bestreiten, verweist ersterer auf Peleus, der als Belohnung für sein σωφρονεῖν ein Schwert erhalten und später Thetis geheiratet habe.8 Der ἄδικος λόγος hingegen verweist auf Zeus’ Neigung zum Ehebruch, welche gleichsam a maiore Seitensprünge eines sterblichen Mannes legitimiere.9 5
Dabei ist allerdings zu bedenken, daß durch das Mittel des παρατραγῳδεῖν beinahe von jeder Situation aus schnell Brücken zum Mythos geschlagen werden können. Man denke nur daran, wie Dikaiopolis in den Acharnern des Aristophanes einen Kohlenkorb »kidnappt«, um seiner Sache Nachdruck bei den Köhlern zu verschaffen (V. 326ff.): Dies stellt eine Parodie auf den Telephos des Aischylos bzw. Euripides dar, wo Telephos den kleinen Orestes bedroht, um sich bei den Griechen Gehör zu verschaffen. Zahlreiche derartige Passagen führt Moessner (1907) 103ff. auf. – Ein herausragendes Beispiel für Homerparodie ist die Szene in Aristophanes’ Wespen, in der Philokleon, den sein Sohn wegen seiner Prozeßsucht im Hause eingesperrt hat, am Bauch eines Esels hängend entkommen will (V. 173ff.): Odysseus’ Flucht aus der Höhle des Polyphem (Od. 9) ist leicht als Praetext zu erkennen. 6 Vgl. zum mythischen Beispiel auch die Ausführungen im II. Teil, Kap. 2.7. 7 Daß die beiden Situationen allerdings recht verschieden sind, ist evident: Menelaos hat das Schwert nicht in der Hand, weil er Krieg führte, sondern weil er sich (nach der Eroberung Trojas) an Helena rächen will; Helena bleibt nicht deshalb verschont, weil sie sich Menelaos verweigerte, sondern aufgrund ihrer Attraktivität und Beredsamkeit: Das mythische Beispiel, das für die Figuren der Komödie plausibel klingt, stellt also für die Zuschauer eine gelungene Pointe dar. 8 Aristoph. Nub. 1063.1067: ὁ γοῦν Πηλεὺς ἔλαβε διὰ τοῦτο [sc. τὸ σωφρονεῖν] τὴν μάχαιραν. [...] καὶ τὴν Θέτιν γ’ ἔγημε διὰ τὸ σωφρονεῖν ὁ Πηλεύς. 9 Aristoph. Nub. 1079ff. – Auf einer anderen Ebene bewegt sich die Argumentation des ἄδικος λόγος hinsichtlich Nestors (εἰ γὰρ πονηρὸν [sc. τὸ ἐν ἀγορᾷ διατρίβειν] ἦν, Ὅμηρος οὐδέποτ’ ἂν ἐποίει / τὸν Νέστορ’ ἀγορητὴν ἂν οὐδὲ τοὺς σοφοὺς ἅπαντας, V. 1056f.): Hier bezieht
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Außerhalb der dramatischen Fiktion steht eine mythische Parallele in der Parabase der Wolken, wo der Chor im Namen des Dichters spricht. Hier wird die Suche der gerade inszenierten Komödie nach klugen Zuschauern mit der Suche Elektras nach ihrem Bruder Orestes verglichen: νῦν οὖν Ἠλέκτραν κατ’ ἐκείνην ἥδ’ ἡ κωμῳδία / ζητοῦσ’ ἦλθ’, ἤν που ᾿πιτύχῃ θεαταῖς οὕτω σοφοῖς· / γνώσεται γάρ, ἤνπερ ἴδῃ, τἀδελφοῦ τὸν βόστρυχον (V. 534ff.). Εbenfalls außerhalb der dramatischen Fiktion spricht der Chor in der Parabase der Wespen über Aristophanes. Dieser habe schon am Anfang seiner Laufbahn nicht die normalen Leute angreifen wollen, sondern habe mit einer Art von Heraklesmut die führenden Männer attackiert (οὐδ’ ὅτε πρῶτόν γ’ ἦρξε διδάσκειν, ἀνθρώποις φήσ’ ἐπιθέσθαι, / ἀλλ’ Ἡρακλέους ὀργήν τιν’ ἔχων τοῖσι μεγίστοις ἐπιχειρεῖν, / θρασέως ξυστὰς εὐθὺς ἀπ’ ἀρχῆς αὐτῷ τῷ καρχαρόδοντι, V. 1029ff.).10 Der Dichter ist also – zumindest nach Aussage des Chores – hinsichtlich seiner ὀργή mit Herakles vergleichbar; eine Gestalt des Mythos dient demnach hier dazu, indirekt die Ausprägung bzw. den Grad einer Charaktereigenschaft zu illustrieren.11 Eine Mischform aus mythischem Hintergrund und nicht-mythischer Handlung stellen Aristophanes’ Vögel dar. Vorab sei kurz der Inhalt dieser Komödie zusammengefaßt: Zwei Athener, Pisthetairos12 und Euelpides, sind der Umtriebigkeit und Prozeßsucht ihrer Mitbürger überdrüssig. Deshalb beschließen sie, den in einen Wiedehopf verwandelten König Tereus aufzusuchen, damit dieser ihnen sage, in welcher Stadt man am ungestörtesten wohnen könne. Nach der Unterhaltung mit Tereus möchten die beiden Athener gerne bei den Vögeln bleiben, was diese aber anfangs ablehnen. Als sie jedoch erfahren, welchen Nutzen sie davon haben könnten, gestatten sie den beiden Athenern den weiteren Aufenthalt. Sodann wird eine Stadt in den Wolken (ein Wolkenkuckucksheim: Νεφελοκοκκυγί[α], V. 819) gegründet, die den Vögeln zur Weltherrschaft verhelfen soll: Da aufgrund sich der ἄδικος λόγος nicht mehr auf den Mythos im Allgemeinen, sondern auf eine konkrete literarische Fixierung, nämlich auf die Darstellung Nestors in Homers Ilias. Dabei entsteht ein komischer Effekt dadurch, daß der ἄδικος λόγος das Substantiv ἀγορά in nicht ganz zulässiger Weise mit dem Substantiv ἀγορητής verbindet. – Explizit angekündigt wird der Mythos des misogynen Melanion, den der Chor der Männer in der Lysistrata vorträgt (V. 781f.): μῦθον βούλομαι λέξαι τιν’ ὑμῖν, ὅν ποτ’ ἤκουσ’ / αὐτὸς ἔτι παῖς ὤν. 10 Sehr ähnlich äußert sich auch der Chor im Frieden. Dort heißt es abermals in der Parabase vom Dichter (V. 752): ἀλλ’ Ἡρακλέους ὀργήν τιν’ ἔχων τοῖσι μεγίστοις ἐπεχείρει [...]. 11 Zur Gradmesserfunktion mythischer Gestalten vgl. im II. Teil Kap. 1.5. Allerdings vollzieht Aristophanes hier keine Identifikation mit einer mythischen Figur; er behauptet nicht von sich, er sei Herakles. – Auch innerhalb der dramatischen Fiktion lassen sich Mythologumena mit Gradmesserfunktion finden: In den Acharnern rät der Chor dem Athener Dikaiopolis, sich Listen nach Art des Sisyphos zuzuwenden (ἀλλ’ ἐξάνοιγε μηχανὰς τὰς Σισύφου, V. 391), d.h. besonders raffinierten Tricks, und in den Ekklesiazusen ist in V. 1029 von einer ἀνάγκη [...] ∆ιομήδειά γε die Rede, d.h. von einem Zwang, dem man nicht entkommen kann. 12 Daneben findet sich auch die Namensform Peisetairos.
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dieser Stadt zwischen Erde und Himmel der Opferduft nicht mehr zu den Göttern durchdringen könne, verlören diese ihre Machtbasis und könnten von den Vögeln abgelöst werden. Nach mehreren sogenannten Abfertigungsszenen tritt die Götterbotin Iris auf, die beim Durchfliegen des Luftraumes festgenommen worden ist; sie soll nun Zeus von der neuen Sachlage unterrichten. Im Anschluß an weitere Abfertigungsszenen kommt ein Überläufer ins Vogelreich: Prometheus erscheint und informiert Pisthetairos über die aktuelle Notlage der Götter. Aufgrund dieses Wissens kann jener der nun eintreffenden Göttergesandtschaft, welche aus Poseidon, dem hungrigen Herakles13 und dem Triballer (einem Barbarengott) besteht, forsch entgegentreten. Am Ende der Verhandlungen wird vereinbart, daß Zeus Basileia, die personifizierte Weltherrschaft, an Pisthetairos abtreten muß; die Komödie endet mit der Hochzeitsfeier von Pisthetairos und Basileia. Durch eben diese Kombination einer nicht-mythischen Handlung mit einem mythischen Hintergrund14 erhalten mythische Elemente eine Prägung eigener Art, auch wenn sie vom Grundcharakter her mit den oben dargestellten vergleichbar sind. So wird zum Beispiel das Mythologem, daß Apollon einst bei Admet als Knecht dienen mußte bzw. daß er mit Poseidon zusammen die Stadtmauern Trojas für Laomedon errichtete, für einen Scherz genutzt, der den Gott (innerhalb der dramatischen Fiktion) verächtlich macht: Nachdem die Vögel Tiere attackiert hätten, solle Apollon, so Pisthetairos, einmal seine Heilkunst zeigen; schließlich sei er ja Lohnarbeiter.15 Hier wird ein mythisches Faktum gegen den Gott gewendet, mit dem es verknüpft ist. Ähnlich geht Pisthetairos vor, als er mit der Götterbotin Iris spricht und droht, er könne Zeus’ Palast niederbrennen:16 Er werde mehr als sechshundert Hühner (πορφυρίωνας) zum Himmel schicken, und dabei habe doch
13 Zur Darstellung des Herakles in der altattischen und der Mittleren Komödie vgl. Casolari (2003) 249ff. 14 Vgl. dazu die ausführliche Analyse von Hofman (1976). Er sieht die Handlung von zwei großen Mythenkomplexen dominiert: einerseits vom Tereusmythos (v.a. in der Version des Sophokles, vgl. Aristoph. Av. 100f.), andererseits von einer Art Gigantomachie, verbunden mit der Thematik der Sukzession. Überdies gelingt es ihm zu zeigen (ebd. 161ff.), daß Aristophanes in den Vögeln neue, mythenartige Geschichten vorbringt, die er zwar selbst erfunden hat, deren Kenntnis aber von den handelnden Personen innerhalb der Komödie als selbstverständlich vorausgesetzt wird, so daß sich auch hieraus ein komischer Effekt ergibt. Vgl. hierzu auch Moessner (1907) 98ff. 15 Aristoph. Av. 582ff.: οἱ δ’ αὖ κόρακες τῶν ζευγαρίων, οἷσιν τὴν γῆν καταροῦσιν, / καὶ τῶν προβάτων τοὺς ὀφθαλμοὺς ἐκκοψάντων ἐπὶ πείρᾳ· / εἶθ’ ὅ γ’ Ἀπόλλων ἰατρός ὢν ἰάσθω· μισθοφορεῖ δέ. – Man kann allerdings das Prädikat μισθοφορεῖ auch als Anspielung auf die öffentliche Besoldung von Ärzten zur Zeit des Aristophanes verstehen, wie es einige Kommentatoren vorschlagen. Dann würden die Opfer für Apollon scherzhaft als staatliches Honorar gedeutet. 16 Aristoph. Av. 1246ff.: ἆρ’ οἶσθ’ ὅτι Ζεὺς εἴ με λυπήσει πέρα, / μέλαθρα μὲν αὐτοῦ καὶ δόμους Ἀμφίονος / καταιθαλώσω [...];
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schon ein einziger Πορφυρίων Zeus Schwierigkeiten bereitet.17 Auch in dieser mythischen Drohung, die sich nach Art eines Kalauers die Homophonie zweier Substantive zunutze macht, wird ein Faktum aus dem Mythos nicht herangezogen, um etwas außerhalb des Mythos Liegendes zu beweisen, sondern um eine Gestalt eben des herangezogenen Mythos zu attackieren. Die Götter und Heroen sind in den Vögeln von den Handlungen der Protagonisten betroffen und somit in das dramatische Geschehen involviert; sie sind nicht auf einer prinzipiell anderen Ebene situiert. Deshalb müssen in diesem Zusammenhang aus dem Mythos geschöpfte Argumente einen anderen Charakter haben als in Kontexten, innerhalb deren die menschliche Ebene von der mythischen klar getrennt ist.18 5.6.2 Die Mittlere Komödie Aufgrund der Überlieferungslage ist es generell schwierig, Aussagen über die Mittlere Komödie (= Mese) zu treffen. »Tout est problème au sujet de la Comédie Moyenne, jusqu’ à son existence même«, klagte Jacques Denis im Jahre 1886, und noch mehr als hundert Jahre später stimmt Heinz-Günther Nesselrath dieser Feststellung uneingeschränkt zu.19 Dennoch kann man mit einiger Sicherheit die Epoche der Mittleren Komödie (ca. 400-350 v.Chr.) als Blütezeit der Mythentravestie ansehen.20 Grundsätzlich gibt es für einen Komödiendichter zwei Methoden, eine Mythenkomödie zu verfassen: Einerseits kann er einen mythischen Stoff auswählen, der bereits komische Elemente (vielleicht auch nur latent) in sich trägt; diese wird er in seiner Gestaltung stärker akzentuieren oder gar übersteigern. Andererseits kann ein Dichter aber auch eine Travestie auf eine bereits bestehende Tragödie ausarbeiten. In diesem Fall muß jedoch die meist leidvolle Tragödienhandlung gewissermaßen »entschärft« wer-
17 Aristoph. Av. 1249ff.: πέμψω δὲ πορφυρίωνας ἐς τὸν οὐρανὸν / ὄρνις ἐπ’ αὐτὸν παρδαλᾶς ἐνημμένους / πλεῖν ἑξακοσίους τὸν ἀριθμόν. καὶ δή ποτε / εἷς Πορφυρίων αὐτῷ παρέσχε πράγματα. 18 Dies gilt auch für weniger polemische mythische Argumente in dieser Komödie. Als Pisthetairos beweisen will, daß die Vögel eigentlich schon immer Könige waren, legt er dar (V. 508ff.): ἦρχον δ’ οὕτω σφόδρα τὴν ἀρχήν, ὥστ’ εἴ τις καὶ βασιλεύοι / ἐν ταῖς πόλεσιν τῶν Ἑλλήνων Ἀγαμέμνων ἢ Μενέλαος, / ἐπὶ τῶν σκήπτρων ἐκάθητ’ ὄρνις μετέχων ὅ τι δωροδοκοίη. Als ferner der Chor der Vögel wissen will, ob die Menschen die Vögel trotz ihrer Flügel für Götter halten werden, weist Pisthetairos diese Bedenken als haltlos zurück (V. 572ff.): καὶ νὴ ∆ί’ ὅ γ’ Ἑρμῆς / πέτεται θεὸς ὢν πτέρυγάς τε φορεῖ, κἄλλοι γε θεοὶ πάνυ πολλοί. / αὐτίκα Νίκη πέτεται πτερύγοιν χρυσαῖν καὶ νὴ ∆ί’ Ἔρως γε· / Ἥρην δέ γ’ Ὅμηρος ἔφασκ’ ἰκέλην εἶναι τρήρωνι πελείῃ. 19 Nesselrath (1990) 1; ebd. das Zitat von Denis. 20 Wie Nesselrath (1990) 188ff. gezeigt hat, unterscheiden sich die Mythentravestien der altattischen und der Neuen Komödie quantitativ und qualitativ deutlich von denen der Mese.
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den; sie muß so umgestaltet werden, daß etwas »Harmlos-Lustiges« entsteht. Beide Methoden sollen im Folgenden kurz illustriert werden. Der Linos des Alexis nimmt seinen Ausgang von einer (zumindest latent) komischen Konstellation: Im Mythos ist Linos der Musiklehrer des jungen Herakles. Der Heros ist auch in jungen Jahren schon übermenschlich stark; Fingerfertigkeit und Geduld hingegen sind nicht seine herausragenden Eigenschaften, so daß ihm das Kitharaspiel nicht leichtfällt und es zu einigen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem feinsinnigen Lehrer und seinem ungeschlachten Schüler kommt.21 In der Gestaltung des Alexis jedoch ist der Bildungsauftrag des Linos umfassender und schließt wohl auch die Literatur mit ein:22 Linos fordert Herakles auf, sich ein Buch aus seiner umfangreichen Privatbibliothek auszuwählen, welche einen deutlichen Hinweis auf die Verhältnisse im Athen des 4. Jh.s darstellt. Herakles greift beherzt zu, und aus der prächtigen Bibliothek, die u.a. Orpheus, Hesiod, Tragödien, Choirilos und Homer enthält, nimmt er sich – ein Kochbuch (fr. 140,5ff.). Statt sich nun über Literatur zu unterhalten, beginnen Linos und Herakles eine Diskussion über den Appetit des Alkmeniden: βούλιμός ἐσθ’ ἅνθρωπος, bemerkt Linos erstaunt (V. 17), und Herakles bestätigt: ὅ τι βούλει λέγε·/ πεινῶ γάρ, εὖ τοῦτ’ ἴσθι (V. 17f.). Über den weiteren Verlauf der Handlung läßt sich aufgrund der Überlieferungslage leider nur spekulieren; die Betonung der komischen, unheroischen, menschlichen Züge ist aber auch aus den erhaltenen Fragmenten bereits klar ersichtlich. Dieser Ansatz ist auch in Alexis’ Hesione zu erkennen: Dort ist dem sonst unermüdlichen Herakles aufgrund der Anstrengung bei der Rettung der Titelheldin anscheinend schwarz vor Augen geworden (fr. 88). Man wird also festhalten, daß die Herabstufung mythischer Figuren auf ein menschliches Maß und die Hervorhebung ihrer Schwächen als für die Mese typisch angesehen werden können. Nun aber soll betrachtet werden, wie Dichter eine Mythenkomödie durch Umarbeitung einer Tragödienhandlung gestalten können. Ein schwieriges Unterfangen dürfte dies z.B. im Falle des Protesilaosstoffes gewesen sein. In geläufigen Versionen dieses Mythos (z.B. in Euripides’ Protesilaos) fällt der Held, der gerade erst Laodamia geheiratet hat, als erster der Griechen vor Troja. Er darf allerdings aus der Unterwelt kurz ins Leben zurückkehren, um seine Frau noch einmal zu sehen; diese folgt ihm sodann aus Liebe in den Tod. Wie Alexandrides in seinem Protesilaos daraus eine Komödie gemacht hat, ist schwer zu beurteilen. Plausibel erscheint Nesselraths Ver21 Daß Herakles im Jähzorn seinen Lehrer erschlägt, wie z.B. Apollodor (2,63) berichtet, ist für eine Komödienhandlung weniger geeignet. Diese Tötung im Affekt könnte in der Komödie abgemildert als Rauferei auftreten; vgl. dazu auch Nesselrath (1990) 229 und Casolari (2003) 262, Anm. 125. 22 Vgl. zum Folgenden auch Nesselrath (1990) 228f.
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mutung, daß Protesilaos in dieser Komödie vielleicht nur fälschlich für tot gehalten wurde, dann aber als vermeintlicher Geist zurückkehrte.23 Eine ähnliche Fehleinschätzung der Lage könnte auch Antiphanes’ Aiolos zugrundegelegen haben. Die gleichnamige Tragödie des Euripides behandelte die inzestuöse Liebe zwischen Aiolos’ jüngstem Sohn Makareus und dessen Schwester Kanake, eine Liaison, die mit dem Selbstmord des Mädchens, der Aussetzung des aus dieser Verbindung stammenden Kindes und wohl auch mit dem Tod des Makareus endete. Wie Antiphanes diesen Stoff zu einer Komödie umgearbeitet hat, muß Spekulation bleiben; vielleicht waren Makareus und Kanake gar keine leiblichen Geschwister, so daß ihre Verbindung sich letzlich doch als unproblematisch herausstellte.24 Etwas genauer kann man die Methode der Umformung im Falle von Anaxandrides’ Tereus erkennen. Dieser wohl Sophokles’ Tereus travestierenden Komödie (und wohl auch den gleichnamigen Stücken der Komödiendichter Kantharos und Philetairos) liegt ein Sujet zugrunde, das eigentlich keinerlei Komik in sich birgt:25 Der Thraker Tereus vergewaltigt Philomela, die Schwester seiner Frau Prokne, und schneidet ihr die Zunge heraus, um sein Verbrechen geheimzuhalten. Philomela stellt die Untat aber am Webstuhl bildlich (bzw. nach Apollodor durch γράμματα) dar, woraufhin Prokne als Rache ihren kleinen Sohn Itys tötet. Als sich Tereus seinerseits an den beiden Frauen rächen will, werden alle drei in Vögel verwandelt. Bei Anaxandrides jedoch stellt sich die Sachlage anders dar. Gleich im ersten Vers des Fragments 46 ist die Lösung enthalten: ὄρνις κεκλήσηι, sagt jemand zu Tereus. Dieser ist also gar nicht wirklich in einen Vogel verwandelt worden; »Vogel« wird nur künftig sein (recht unangenehmer) Spitzname sein. Mit diesem Namen wird er gebrandmarkt sein, ὅτι / ἄρρην ὑπὸ θηλειῶν κατεκόπης (V. 3f.). Somit wird das tragische Thema letztlich dadurch einer komischen Behandlung zugänglich gemacht, daß man es rationalisiert und an den normalen Erfahrungsbereich der Zuschauer annähert. Tereus ist »hier nicht mehr der grausam-lüsterne Barbarenfürst [...], sondern eher ein harmloser athenischer Ehemann, der vielleicht ein zu großes Interesse an der Schwester seiner Frau bekundet hatte, für diese Verirrung dann aber bei beiden Damen in Ungnade fiel«, resümiert Nesselrath.26 Solche Vermenschlichungen, aber auch »Attisierungen« lassen sich in der Mese allenthalben finden; die Verhältnisse des 4. Jh.s schimmern u.a. bei den Darstellungen
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Nesselrath (1990) 215. So Nesselrath (1990) 208. Damit wäre ein gängiges Motiv der Neuen Komödie bereits vorweggenommen. 25 Vgl. z.B. Apollod. 3,193-195. 26 Nesselrath (1990) 217. Zur Erläuterung des Spottnamens ὄρνις vgl. denselben ebd. 216, Anm. 110. 24
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von Banketten, Spielen und Hetären deutlich durch die mythische Oberfläche hindurch. Treffend konstatiert Nesselrath: [Der] Mythos wurde dabei fast zu einer Art Gefäß, das nunmehr in starkem Maße Zeitgenössisches aller Art (Eß- und Trinksitten, gesellschaftliche Gepflogenheiten und Zeitvertreibe, »moderne« bürgerliche Charaktere und neben all dem auch Politisches) aus dem 4. Jh. in sich aufzunehmen hatte. Die einstigen mythischen Gestalten wurden auf diese Weise immer mehr zu bloßen Namen, unter denen immer deutlicher Typen und Charaktere der athenischen Gesellschaft agierten.27
Kehren wir kurz zur altattischen Mythoskomödie zurück, von der schon oben (S. 95) die Rede war. Durch einen Vergleich mit den gerade dargelegten Eigenheiten der Mythoskomödie zur Zeit der Mese tritt der Charakter der altattischen Mythoskomödie umso deutlicher hervor. Nimmt man zum Beispiel die Ὀδυσσῆς des Kratinos in den Blick, so zeigt sich, daß dort bei der Darstellung der Szenerie und des Kyklopen kaum Rationalisierung, Verharmlosung oder Vermenschlichung zu finden ist. Polyphem ist immer noch das abscheuliche und gefährliche Ungeheuer, als das ihn Homer im neunten Buch der Odyssee gezeichnet hat.28 Auch gibt es keinerlei attisches Ambiente. Einen anderen Typus der altattischen Mythoskomödie stellt der Dionysalexandros des Kratinos dar.29 In dieser Komödie raubt der als Paris-Alexandros verkleidete Gott Dionysos Helena; als das Heer der Griechen vor Troja aufmarschiert, überläßt er es jedoch dem echten Paris, mit der Situation fertig zu werden. Soweit man aus der auf Papyrus gefundenen Hypothesis zu dieser Komödie schließen kann, scheint sich am Ende herausgestellt zu haben, daß es sich bei Dionysos um einen verkleideten Perikles handelte, dem so seine Schuld am Peloponnesischen Krieg vorgehalten wurde. Bei den altattischen Komödien dieses Typus wurden also politische Allegorien in ein mythisches Gewand gekleidet.30 In der Mese hingegen finden sich zwar auch Anspielungen auf zeitgenössische Personen; diese sind aber primär zu komischen Zwecken eingefügt und liefern keinen wesentlichen Beitrag zur eigentlichen Handlung. 27
Ebd. 240. Casolari (2003) 149 macht zwar darauf aufmerksam, daß Polyphem in dieser Komödie »Züge eines erfahrenen Weinkenners und raffinierten Koches erkennen« lasse; sie sieht aber ebd. immer noch deutliche Anklänge »an den homerischen Menschenfresser«. – Dies. bietet ebd. 127ff. einen Überblick über diejenigen Mythentravestien der Mittleren Komödie, die sich mit dem Kyklopen befassen. 29 Vgl. zu dieser Komödie Casolari (2003) 98ff. 30 Vgl. z.B. auch die Szene in Aristophanes’ (eigentlich unmythischem) Frieden, in der Trygaios beobachtet, wie Polemos, der personifizierte Krieg, die Städte Griechenlands in einem Mörser zerstampfen will; dies gelingt ihm nur deshalb nicht, weil die beiden »Kriegstreiber« Kleon und Brasidas kurz zuvor gestorben sind und nicht mehr als »Mörserkeulen« zur Verfügung stehen (V. 228ff.). 28
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I. Teil: Prolegomena
Zurück zur Mese! Nun sollen noch einige bemerkenswerte Mythologumena aus der Mittleren Komödie kurz dargestellt werden.31 In der Neottis des Anaxilas wird die Hetäre Plangon hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit mit der feuerspeienden Chimaira verglichen (fr. 22); dieses mythische Ungeheuer erfüllt in diesem Zusammenhang die Funktion eines Gradmessers.32 In der Komödie Auletris oder Didymai des Antiphanes wiederum begegnet eine absurde Gegenüberstellung (fr. 50): Menelaos habe mit den Troern zehn Jahre lang wegen einer schönen Frau Krieg geführt; Phoinikides aber mit Taureas wegen eines Aals. Aus der Chrysilla des Eubulos schließlich ist ein Fragment erhalten, das misogyne Tendenzen zeigt und diese durch den Mythos rechtfertigt: Der Sprecher möchte eigentlich nichts Schlechtes über Frauen sagen; denn dem Negativbeispiel Medea könne man als positives Beispiel Penelope gegenüberstellen, und gegen Klytaimestra ließe sich ja Alkestis anführen. Wenn nun aber einer noch auf Phaidra verwiese, nun, dann könne er keine weitere positive Frauengestalt aus dem Mythos mehr nennen: ταχέως γέ μ’ αἱ χρησταὶ γυναῖκες ἐπέλιπον, / τῶν δ’ αὖ πονηρῶν ἔτι λέγειν πολλὰς ἔχω (fr. 115,14f.). 5.6.3 Die Neue Komödie Während in der Epoche der Neuen Komödie (= Nea, ab ca. 350 v.Chr.) das Genre der Mythentravestie nur noch selten gepflegt wird,33 finden sich Mythologumena in nicht-mythischen Kontexten jedoch auch in der Nea in ansehnlicher Zahl.34 So begegnet im Schiedsgericht Menanders ein breit ausgeführtes mythisches Beispiel. Der Hirt Daos und der Köhler Syriskos haben γνωρίσματα (Erkennungszeichen) bei einem ausgesetzten Kleinkind gefunden und sind darüber in Streit geraten. Sie machen Smikrines, einen scheinbar unbeteiligten Passanten, der jedoch – ohne es selbst zu wissen – in Wahrheit der Großvater eben dieses Findelkindes ist, zum Schiedsrichter und tragen ihm ihre Positionen vor (V. 223ff.). Syriskos spricht sich dafür 31 Eine Übersicht über alle in den Fragmenten der Mese enthaltenen Mythologumena bietet Reinhardt (1974) 200ff. 32 Vgl. dazu im II. Teil Kap. 1.5, insbesondere S. 169, wo dieses Anaxilasfragment besprochen wird. 33 Nesselrath (1990) 202 stellt für die drei Hauptvertreter der Nea (Philemon, Diphilos und Menander) folgende Zahlen zusammen: Von den 62 namentlich bekannten Komödien Philemons sind 4 oder nur eine einzige Mythenkomödien; bei Diphilos sind es 9 oder 5 von 59; bei Menander 5 oder keine einzige von 95. – Allerdings sind für einige Stücke Menanders Auftritte von Göttern in den Prologen zu verzeichnen (z.B. des Pan im Dyskolos); diese führen gleichsam von einer überlegenen Warte aus in die oftmals komplizierte Handlung ein. 34 Die Mythologeme in den Philemon- und Diphilosfragmenten listet Reinhardt (1974) 203f. auf; eine Übersicht für Menander findet sich ebd. 209f.
5.6 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die Komödie
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aus, die γνωρίσματα nicht zu verkaufen, sondern sie dem Kind zu lassen, wobei er dieses Vorgehen mit Hilfe des Tyromythos plausibel machen will (V. 325ff.): Auch Neleus und Pelias, die Kinder der Tyro, seien von einem Hirten gefunden worden. Dieser Hirt habe die Erkennungszeichen für die Kinder aufbewahrt, und als Erwachsene seien sie aufgrund eben dieser γνωρίσματα Könige geworden. Komik wird im Folgenden u.a. dadurch erzeugt, daß Syriskos nun die mythische und die gegenwärtige Ebene vermischt: Wenn Daos damals die γνωρίσματα verkauft hätte, hätten die beiden niemals ihre wahre Bestimmung erkannt. Das Handeln des Hirten im Mythos erscheint also zumindest Syriskos vorbildlich, und deshalb sollte in der gegenwärtigen Situation ebenso gehandelt werden. Seine Argumente setzen sich durch: Smikrines entscheidet anschließend im Sinne des Syriskos. Äußert interessant und zugleich komisch ist auch ein Mythologumenon in Menanders Dyskolos. Der griesgrämige Knemon, Titelfigur der Komödie, preist den mythischen Heros Perseus glücklich, weil dieser fliegen konnte und das Medusenhaupt besaß. Nach Meinung des Misanthropen sind diese beiden Gaben nützlich, weil man einerseits, wenn man fliegt, niemandem am Boden begegnen muß; andererseits ist ein Medusenhaupt praktisch, weil man damit alle, die einen belästigen, versteinern kann. Deshalb würde auch Knemon gerne über solche Gaben verfügen.35 Knemon deutet den Mythos hier ganz subjektiv gemäß seinen eigenen Wünschen und zeigt dabei sein Naturell. Zu Recht also hebt Udo Reinhardt hervor, daß Menander seinen Figuren der Ethopoiie wegen sorgfältig ausgewählte Mythologumena in den Mund legt, so daß diese »unabsichtlich« durch die Heranziehung bestimmter Mythen viel über ihren eigenen Charakter verraten. Dabei werden diese Mythologeme in der gegenwärtigen Reflexion subjektiv ausgedeutet und oftmals auf Einzelzüge verengt; Komik kann auch dadurch entstehen, daß die Zuschauer den mythischen Stoff für der Situation unangemessen halten, während der Sprecher von dessen Adäquatheit überzeugt ist.36 Wie in der Mese, so findet man auch in der Nea absurde, weil völlig hyperbolische mythische Vergleiche. Zum Beispiel erzeugt Diphilos im Emporos dadurch Komik, daß die Fischpreise mit den Summen verglichen werden, die Priamos für die Auslösung der Leiche Hektors zahlen mußte.37 Auch die in Stücken der Mese begegnende rationalistische Mythendeutung setzt sich fort: So wird in einem Philemonfragment die vermeintliche Versteinerung der Niobe psychologisch bzw. metaphorisch gedeutet: In Wahr35 Men. Dysk. 153ff.: εἶτ’ οὐ μακάριος ἦν ὁ Περσεὺς κατὰ δύο / τρόπους ἐκεῖνος, ὅτι πετηνὸς ἐγένετο / κοὐδενὶ συνήντα τῶν βαδιζόντων χαμαί, / εἶθ’ ὅτι τοιοῦτο κτῆμ’ ἐκέκτηθ’ ὧι λίθους / ἅπαντας ἐπόει τοὺς ἐνοχλοῦντας; ὅπερ ἐμοὶ / νυνὶ γένοιτ’ [...]. 36 Reinhardt (1974) 81.212. 37 Diph. fr. 32.
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I. Teil: Prolegomena
heit sei Niobe aus Kummer sprachlos geworden; deshalb habe man sie »Stein« genannt.38 Ein Spiel mit einem stilistischen Charakteristikum der Gattung Komödie, dem paratragodischen Sprechen, stellt schließlich eine Passage in Menanders Schiedsgericht dar: Nachdem Sophrone zwei Tragödienverse vorgetragen hat, protestiert Smikrines. Daraufhin droht Sophrone, sie werde die ganze Rhesis aus der Auge rezitieren, falls Smikrines jetzt nicht endlich achtgebe.39 Schließlich muß noch kurz auf die Bedeutung des Prometheusmythos in der Nea hingewiesen werden.40 In einem Menanderfragment deutet der Sprecher den Mythos von der Bestrafung dieses Titanen komisch um: Zu Recht malten Künstler, wie Prometheus an Felsen angeschmiedet sei – hier wird also auf die Malerei als Medium des Mythos hingewiesen. Der Grund für diese Bestrafung sei jedoch weder der Opfertrug noch der Feuerdiebstahl, nein, die Götter haßten Prometheus, weil er die Frauen geschaffen habe.41 Ähnlich misogyn ist eine menandrische Sentenz, die in den Monostichoi überliefert ist: Alle Frauen habe Prometheus als schlechte bzw. böse erschaffen.42 Hinzuzufügen ist ferner ein aus ägyptischen Ostraka geborgenes Fragment aus einer unbekannten Komödie: Als Prometheus die Lebewesen formte, habe er keine Art geschaffen, die schädlicher sei als die Frauen.43 Die Erschaffung der Menschen durch Prometheus wird aber auch in weniger tendenziösen Kontexten erwähnt: In einem Philemonfragment wundert sich der Sprecher, daß Prometheus zwar im Bereich der Tiere allen Exemplaren einer Art die gleichen Eigenschaften zugeteilt habe, daß sich aber die Menschen jeweils sehr voneinander unterschieden.44 Die Erschaffung der Menschen durch Prometheus stellt mithin ein Mythologem dar, welches in der Nea häufig zu argumentativen Zwecken verwendet wird. 38 Philemon, fr. 102: ἐγὼ λίθον μὲν τὴν Νιόβην, μὰ τοὺς θεούς, / οὐδέποτ’ ἐπείσθην, οὐδὲ νῦν πεισθήσομαι / ὡς τοῦτ’ ἐγένετ’ ἄνθρωπος· ὑπὸ δὲ τῶν κακῶν / τῶν συμπεσόντων τοῦ τε συμβάντος πάθους / οὐδὲν λαλῆσαι δυναμένη πρὸς οὐδένα / προσηγορεύθη διὰ τὸ μὴ φωνεῖν λίθος. 39 Men. Epitr. 1123ff.: »ἡ φύσις ἐβούλεθ’, ἧι νόμων οὐδὲν μέλει· / γυνὴ δ’ ἐπ’ αὐτῶι τῶιδ’ ἔφυ.« [...] τραγικὴν ἐρῶ σοι ῥῆσιν ἐξ Αὔγης ὅλην / ἂν μή ποτ’ αἴσθηι, Σμικρίνη. 40 Vgl. auch Reinhardt (1974) 73ff. 41 Men. fr. 508: εἶτ’ οὐ δικαίως προσπεπατταλευμένον / γράφουσιν τὸν Προμηθέα πρὸς ταῖς πέτραις, [...] ὃ μισεῖν οἶμ’ ἅπαντας τοὺς θεούς, / γυναῖκας ἔπλασεν. ὦ πολυτίμητοι θεοί, / ἔθνους μιαροῦ. κτλ. Zusätzliche Komik entsteht in den hier ausgesparten Versen 3f. noch durch den Gegenwartsbezug, der durch einen Verweis auf das attische Fest der Promethien erzeugt wird. 42 Men. monost. 664: πάσας Προμηθεὺς τὰς γυναῖκας ἔπλασεν / κακάς. Im Übrigen ist dies das einzige in den Monostichoi enthaltene Mythologumenon. 43 Adespota, fr. 1047, zitiert mit den Ergänzungen bei Reinhardt (1974) 79: πλάττων ὁ Προμηθεὺς τ[ἆ]λ[λ]α θηρίων γένη / οὐθὲν γυναικῶν 44 Philemon, fr. 93,1ff.: τί ποθ’ ὁ Προμηθεύς, ὃν λέγουσ’ ἡμᾶς πλάσαι / καὶ τἆλλα πάντα ζῶια, τοῖς μὲν θηρίοις / ἔδωχ’ ἑκάστωι κατὰ γένη φύσιν μίαν; / ἅπαντες οἱ λέοντές εἰσιν ἄλκιμοι [...] ἡμῶν δ’ ὅσα καὶ τὰ σώματ’ ἐστὶ τὸν ἀριθμὸν / καθ’ ἑνός, τοσούτους ἔστι καὶ τρόπους ἰδεῖν.
5.6 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Die Komödie
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5.6.4 Plautus und Terenz45 Sucht man nach Mythischem in den Komödien des Plautus (ca. 250-184 v.Chr.), so könnte man zuerst an den Amphitruo denken, eine Mythoskomödie, der ein reiches Fortleben im europäischen Drama vergönnt war – hier seien nur die Adaptionen Molières, Heinrich von Kleists und Jean Giraudouxs genannt. Zum Inhalt: Juppiter begehrt Alcumena/Alkmene. Um sich ihr nähern zu können, nimmt er die Gestalt ihres Mannes Amphitruo an, welcher gerade außer Landes ist. Dabei wird der Göttervater von Merkur begleitet, der sich seinerseits in die Gestalt des Sosia verwandelt hat, des Sklaven Amphitruos. Die Rückkehr des wirklichen Amphitruo und des wirklichen Sosia bringt allerlei Verwirrungen, Verwechselungen und Streitereien mit sich, bis Juppiter in den Versen 1131ff. alles aufklärt und auf den künftigen Ruhm des Herakles vorausweist. Auch in anderen, nicht-mythischen Komödien des Plautus treten Götter auf: Durch ihre Allwissenheit sind sie geradezu prädestiniert, um in Prologen die oftmals komplizierte Handlung zu exponieren, so daß das folgende Geschehen für die Zuschauer verständlich wird. Abgesehen vom Prolog Merkurs im bereits angesprochenen Amphitruo sind hier die Einführungen durch den Lar familiaris in der Aulularia und durch Arcturus im Rudens zu nennen. In nicht-mythischen Kontexten entsteht häufig dadurch Komik, daß Figuren der Handlung sich oder andere mit mythischen Gestalten identifizieren. So droht in den Bacchides der adulescens Pistoclerus dem paedagogus Lydus, er werde gleich Herakles, Lydus aber werde Linos werden, womit er dem paedagogus (scherzhaft) Schlimmes androht (zum mythischen Hintergrund vgl. oben, S. 99). Dieser jedoch kontert: Es sei eher zu befürchten, daß er (Lydus) Phoinix sei und den Tod des Achill bzw. des Pistoclerus dessen Vater melden müsse.46 In derselben Komödie identifiziert sich auch der Sklave Chrysalus mit einer Gestalt des Mythos: Als der senex Nicobulus ihn wegen der mitgebrachten tabellae fesseln lassen will, sieht er in sich selbst einen Bellerophon.47 Doch die Strafe trifft keinen Unschuldigen: Zuvor hatte Chrysalus angekündigt, er werde den alten Nicobulus zum Widder des Phrixos machen und ihm dann das goldene Vlies bis auf die Haut ab45
Im Folgenden ist nur eine Beschreibung der in den Komödien von Plautus bzw. Terenz vorliegenden Verhältnisse intendiert; die Frage nach der Rolle griechischer Vorbilder für einzelne Passagen kann hier nicht behandelt werden. 46 Plaut. Bacch. 155ff.: PI: fiam, ut ego opinor, Hercules, tu autem Linus. / LY: pol metuo magi’ ne Phoenix tuis factis fuam / teque ad patrem esse mortuom renuntiem. 47 Plaut. Bacch. 808ff.: NI: hae tabellae te arguont, / quas attulisti. em hae te vinciri iubent. / CH: aha, Bellerophantam tuo’ me fecit filius: / egomet tabellas tetuli ut vincirer. – Zur Gradmesserfunktion des Bellerophon vgl. auch im II. Teil Kap. 1.5 und 1.6.
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scheren;48 dieser wiederum hatte kurz darauf mit einer weiteren Identifikation gejammert (V. 275): deceptus sum, Autolyco hospiti aurum credidi. Die Komik erfährt noch eine Steigerung, wenn eine Figur der Handlung sich mit einer Gestalt des Mythos nicht identifiziert, sondern sich ihr in hyperbolischer Weise sogar überlegen fühlt. So vergleicht sich im Stichus der puer Pinacium mit dem Götterboten Merkur; dieser habe jedoch seinem Vater nie eine gleichermaßen angenehme Nachricht gebracht, wie er sie jetzt seiner Herrin überbringen werde.49 Komische Übertreibung liegt auch vor, wenn der adulescens Charinus sich im Mercator aufgrund seiner inneren Zerrissenheit mit Pentheus vergleicht; als dieser von den Bacchen zerrissen wurde, sei das im Vergleich zu Charinus’ eigener Situation nur eine Kleinigkeit gewesen.50 Ferner findet man bei Plautus einige Stellen, an denen mit Hilfe von Mythologumena Dinge als völlig unmöglich erwiesen werden sollen. Als der Sklave Tyndarus in den Captivi entschieden bestreiten will, eine Person zu kennen, behauptet er, die mythischen Gestalten Alkmaion, Orestes und Lykurgos seien ebenso seine sodales wie jener Mann.51 In gewisser Weise damit vergleichbar ist eine Passage im Mercator: Auf die Frage, woher man Geld beschaffen könne, antwortet Charinus beim zweiten Mal denkbar allgemein (invenietur, exquiretur, aliquid fiet, V. 493); beim ersten Mal jedoch hatte er, um seine Verlegenheit mit einem Scherz zu überspielen, behauptet, er werde Achill um das Lösegeld Hektors bitten.52 Das Mythologem ersetzt an dieser Stelle also eine akzeptable, verständliche Antwort.53 Erwähnung verdient abschließend die Trojamonodie des Chrysalus in den Bacchides (V. 925-978). In dieser »Arie« parallelisiert Chrysalus in einem breit ausgeführten Vergleich die Eroberung Trojas mit der expugnatio seines Herrn, wobei er vielfältige Identifikationen vornimmt: Der Brief, durch den die List gelingen soll, sei das trojanische Pferd; Pistoclerus, von dem der Brief stammt, vergleicht er mit Epeios, dem Konstrukteur jenes Pferdes. Ferner sei Mnesilochus als Sinon zurückgelassen worden; er selbst 48 Plaut. Bacch. 240ff.: opus est chryso Chrysalo. / adibo hunc, quem quidem ego hodie faciam hic arietem / Phrixi, itaque tondebo auro usque ad vivam cutem. 49 Plaut. Stich. 274f.: Mercurius, Iovi’ qui nuntius perhibetur, numquam aeque patri / suo nuntium lepidum attulit quam ego nunc meae erae nuntiabo [...]. 50 Plaut. Merc. 469f.: Pentheum diripuisse aiiunt Bacchas: nugas maxumas / fuisse credo, praeut quo pacto ego divorsus distrahor. – Zu hyperbolischen mythischen Vergleichen siehe auch im II. Teil Kap. 1.5. 51 Plaut. Capt. 562f.: et quidem Alcumeus atque Orestes et Lycurgus postea / una opera mihi sunt sodales qua iste. Einer ähnlichen Strategie bedient sich Menaechmus II in den Menaechmi (V. 745ff.), um die Bekanntschaft einer Frau (diesmal wahrheitsgemäß) zu bestreiten: ego te simitu novi cum Porthaone; auch ihren Vater behauptet er nicht zu kennen: novi cum Calcha simul [...]. 52 Plaut. Merc. 488: Acchillem orabo aurum [ut] mihi det Hector qui expensus fuit. 53 Zu dieser »kaschierenden« Funktion des Mythos vgl. im II. Teil Kap. 4.3.
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aber sei Odysseus (und zugleich Agamemnon, wie er später hinzufügt). Ein erster Höhepunkt ist erreicht, als die Buchstaben, die sich in dem Brief befinden, mit den Soldaten im Bauch des Pferdes verglichen werden; diese Pointe wird noch durch ein Wortspiel unterstützt (V. 943): atque hic equos non in arcem, verum in arcam faciet impetum [...]. Die zahlreichen übrigen, äußert phantasievoll erdachten Parallelen können hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden; dennoch ergibt sich – mit gewissen Einschränkungen – ein ähnlicher Gesamteindruck, wie ihn schon Eduard Fraenkel für die plautinischen Mythologumena formuliert: mit Hilfe der Gegenüberstellung eines außerordentlichen und wunderbaren Geschehens oder einer erlauchten Sagengestalt [wird] die gegenwärtige Situation in der Komödie oder die Person des Sprechenden auf eine höhere Stufe gehoben, ihre Unvergleichlichkeit gepriesen. [...] Unverkennbar ist die Freude an den absonderlichen Begebenheiten und die naive Lust bei jeder, auch der unpassenden Gelegenheit in den Schatz der alten Geschichten hineinzugreifen, deutlich auch das Bestreben, einer recht alltäglichen und bürgerlichen Handlung mit Hilfe jener glänzenden Gestalten den Reiz des Ungewöhnlichen und gesteigerte Größenverhältnisse zu verleihen.54
Im Œuvre des Terenz (ca. 185-158 v.Chr.) ist die Bedeutung des Mythischen vergleichsweise gering: Drei seiner sechs Komödien enthalten keinerlei Mythologumena.55 Dennoch verdienen einige mythische Elemente Beachtung. Im Eunuchus findet man ein besonders raffiniert eingefügtes mythisches Beispiel: Chaerea erzählt seinem Freund Antipho von einer Liebeslist. Chaerea hatte sich – als Eunuch verkleidet – ins Haus seiner Angebeteten »eingeschmuggelt«. Dort vertraut man das Mädchen gerade seiner Obhut an, so daß er beobachten kann, wie es ein Bild betrachtet – abermals ist also der Mythos im Medium der Malerei präsent. Auf diesem Bild ist zu sehen, wie sich Juppiter in Form eines Goldregens Danae nähert, d.h. er zeigt sich ebensowenig in seiner wahren Gestalt wie Chaerea. Nachdem dieser die Macht Juppiters noch durch ein feierliches Zitat aus einer Tragödie des Ennius in für die Zuschauer komischer Weise untermauert hat (V. 590), schließt er ein argumentum a maiore an: »Der mächtige Juppiter konnte nicht anders handeln – und da hätte ich armes Menschlein der Versuchung widerstehen sollen?«56 Ähnlich argumentiert der Offizier Thraso
54
Fraenkel (1922) 10.98. – Eine Übersicht über alle Mythologumena bei Plautus bietet Reinhardt (1974a) 469ff. 55 Vgl. die Übersicht bei Reinhardt (1974) 198. 56 Ter. Eun. 583ff.: adhortor properent. dum adparatur, virgo in conclavi sedet / suspectans tabulam quandam pictam: ibi inerat pictura haec, Iovem / quo pacto Danaae misisse aiunt quondam in gremium imbrem aureum. / egomet quoque id spectare coepi, et quia consimilem luserat / iam olim ille ludum, inpendio magis animu’ gaudebat mihi, / deum sese in hominem convortisse atque in alienas tegulas / venisse clanculum per inpluvium fucum factum mulieri. / at quem deum!
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gegenüber dem Parasiten Gnatho im gleichen Drama. Thraso will sich der Hetäre Thais nun völlig unterwerfen, wie ja auch Herakles der lydischen Königin Omphale gedient habe. Gnatho scheint das Exemplum zu akzeptieren, hebt aber bei sich selbst die negativen Aspekte dieses Mythologems hervor: Omphale habe dem Heros den Kopf mit einer Sandale mürbe geklopft.57 Treffend beschreibt Reinhardt die Wirkung dieser Szene: [Gnatho deckt] die tiefere Wahrheit in Thrasos Herakles-Exemplum auf, kehrt die falsche Heroisierung des Blamablen ins Gegenteil um, entlarvt den Versuch, mit dem großen Namen den kläglichen Ausgang der »Weibergeschichte« zu vertuschen. [...] So blamiert sich der miles nicht nur durch seine Kapitulation, sondern außerdem noch durch deren fadenscheinige »Beschönigung«.58
Kleinere Anspielungen auf Mythen findet man bei Terenz ab und an, u.a. in der Andria. In den Versen 191ff. unterhält sich der alte Simo mit dem Sklaven Davus. Beide drücken sich angesichts der pikanten amourösen Konstellation, die der Handlung zugrundeliegt, vorsichtig, beinahe enigmatisch aus. Doch dann hat der Sklave genug: Er verstehe nicht, denn er heiße schließlich Davus, nicht Ödipus, womit er auf das von jenem Thebaner gelöste schwierige Rätsel der Sphinx anspielt.59 Ödipus fungiert demnach hier als mythischer Gradmesser im negativen Sinne: Davus ist eben hinsichtlich der Deutung verrätselter Worte nicht so scharfsinnig wie Ödipus.60 Schließlich sei noch auf Eunuchus, Vers 732 verwiesen. Als sprichwörtliche Wendung (verbum hercle hoc verum erit) führt Chaerea dort das Mythologumenon sine Cerere et Libero friget Venus an. Hierbei handelt es sich um eine mythische Metonymie, bei der Begriffe durch die für sie »zuständige« Gottheit ersetzt werden (Ceres = Brot; Liber = Wein; Venus = Liebe).61 Auch in der Komödie fand Horaz also inhaltlich und formal vielfältige Anknüpfungspunkte für seinen eigenen Umgang mit dem Mythos.
»qui templa caeli summa sonitu concutit.« [= Enn. scaen. CLXI] / ego homuncio hoc non facerem? ego illud vero ita feci – ac lubens. 57 Ter. Eun. 1026ff.: TH: egone? ut Thaidi me dedam et faciam quod iubeat. GN: quid est? / TH: qui minu’ quam Hercules servivit Omphalae? GN: exemplum placet. / (utinam tibi conmitigari videam sandalio caput!). 58 Reinhardt (1974) 186. 59 Ter. Andr. 194f.: DA: non hercle intellego. SI: non? hem. DA: non: Davo’ sum, non Oedipus. / SI: nempe ergo aperte vis quae restant me loqui? DA: sane quidem. – In Plaut. Poen. 443f. gibt es einen ähnlichen Scherz; dort wird er allerdings erklärt: nam isti quidem hercle orationi Oedipo / opust coniectore, qui Sphingi interpres fuit. 60 Zum Mythos in Gradmesserfunktion vgl. im II. Teil Kap. 1.5. 61 Zur mythischen Metonymie vgl. im II. Teil Kap. 1.2 und 1.4.
5.7 Kallimachos Kallimachos von Kyrene, dessen Werk manchem als »Höhe der alexandrinischen Dichtung« gilt,1 ist eine zentrale und wirkmächtige Persönlichkeit der hellenistischen Poesie. Geboren ca. 320 v.Chr.,2 wurde er während der Regierungszeit Ptolemaios’ II. (285-247 v.Chr.) mit der Aufgabe betraut, die Bestände der Bibliothek von Alexandria zu katalogisieren. Neben dieser umfangreichen philologischen Arbeit, deren Frucht einhundertzwanzig Bücher Pinakes und zahlreiche Spezialuntersuchungen waren,3 dichtete Kallimachos in verschiedenen Gattungen (u.a. Hymnen, Epigramme, Iamben, die Aitien, lyrische Gedichte und das Epyllion Hekale) und entwarf dabei ein eigenes poetologisches Programm, welches sein Ideal in der Perfektionierung der »kleinen«, von Kennern geschätzten Formen sah.4 In den meisten modernen Darstellungen wird Kallimachos mit einer Wendung charakterisiert, die Strabon für Philitas von Kos geprägt hat: Er sei ποιητὴς ἅμα καὶ κριτικός gewesen.5 Daß Horaz das Werk und das poetologische Programm des Kallimachos gekannt hat, steht außer Frage. Dies ergibt sich schon daraus, daß er mit der Gruppe der Neoteriker, die in Kallimachos ihr poetologisches Vorbild und ihren Maßstab sahen, in seiner Jugend in Kontakt gekommen war, u.a. durch seine Freundschaft zu Asinius Pollio, der den Neoterikern zumindest nahestand.6 Daß sogar weite Teile der gebildeten römischen Oberschicht Kallimachos’ Œuvre kannten, impliziert der Rat, den Ovid in ars 3,329f. den Frauen erteilt: sit tibi Callimachi, sit Coi nota poetae, / sit quoque vinosi Teïa Musa senis [...]. Horaz nennt den Kyrenäer nur einmal namentlich: In der Florusepistel berichtet er, wie sich die zeitgenössischen Dichter bei Lesungen gegenseitig 1
So Lesky (1993) 789. Die genauen Lebensdaten sind unbekannt. Aufschluß über sein Leben gibt vor allem die Suda s.v. Eine informative biographische Skizze entwirft Asper (2004) 3ff. 3 Einen umfangreichen Überblick über die zahlreichen, thematisch weit gefaßten Prosaschriften des Kallimachos gibt Lesky (1993) 791f. 4 Belegstellen finden sich unten in Anm. 11, wo ihnen Aussagen des Horaz an die Seite gestellt werden. 5 Strab. 14,2,19 C 657. 6 Das enge Verhältnis des Horaz zu Asinius Pollio belegen sat. 1,10,84f. [te dicere possum, / Pollio (»Dich kann ich nennen, Pollio« sc. als Sachverständigen und Freund, wie V. 87 zeigt)] sowie die lobenden Ausführungen in carm. 2,1. Pollios Verhältnis zu den Neoterikern wiederum wird beleuchtet durch ein Gedicht des Catull. Dieser apostrophiert in c. 12 – es geht um die Rückgabe eines gestohlenen Mundtuches – den Bruder des Asinius Pollio (Marrucine Asini, V. 1). Dieser solle seinem Bruder Pollio glauben (crede Pollioni / fratri, V. 6f.), denn jener sei ein leporum / differtus [conj. Passerat: dis(s)ertus Cod.] puer ac facetiarum (V. 8f.). 2
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»totlangweilen« (unter Verwendung drastischer Kampfmetaphorik: caedimur et totidem plagis consumimus hostem, V. 97) und sich darüber hinaus in lächerlich übertriebener Weise gegenseitig ihre poetische Qualität bescheinigen, indem sie einander die Namen griechischer Dichter geben. Wie Horaz dabei den Titel »Alkaios« davonträgt, so erhält einer der an diesen Vorgängen Beteiligten den Ehrennamen »Kallimachos« (epist. 2,2,99f.: discedo Alcaeus puncto illius: ille meo quis? / quis nisi Callimachus?). Die einzige explizite Nennung des Kallimachos in den horazischen Gedichten erfolgt also in komischer Brechung.7 Dennoch macht sich Horaz, wie u.a. Fritz Wehrli gezeigt hat,8 an einigen Stellen poetologisch-programmatische Aussagen und Forderungen des Kallimachos zu eigen. Eine solche Adaption läßt sich einerseits an horazischen Produktionsprinzipien erkennen, andererseits an Ausdrucksweisen und Bildern, die Horaz von Kallimachos übernommen hat. Beispiele für identische Produktionsprinzipien sind unter anderem die Orientierung am Urteil weniger Sachverständiger – von Wehrli mit dem Schlagwort »Exklusivität« gekennzeichnet9 – und die über Neid erhabene Haltung,10 ferner das sorgfältige, langwierige Feilen, das Streben nach der formalen Perfektion, eine Haltung, die mit Vielschreiberei nicht zu vereinbaren ist, sondern vielmehr notwendigerweise zu dem Bekenntnis führt, ein ὀλιγόστιχος zu sein.11 Eine Übernahme kallimacheischer Ausdrucksweisen und Bilder liegt unter anderem vor in der Verwendung der Flußmetapher12, der Bienenmetapher13 und in der Betonung des Feinen, des λεπταλέον/λεπτόν beziehungsweise des tenue.14
7 Ganz anders äußert sich bekanntlich Properz, der in 3,1,1f. auf Kallimachos und Philitas Bezug nimmt (Callimachi Manes et Coi sacra Philitae, / in vestrum, quaeso, me sinite ire nemus!) und sich selbst in 4,1,64 als römischer Kallimachos bezeichnet (Umbria Romani patria Callimachi). 8 Wehrli (1944) 69-76. Aus der Flut anderer Arbeiten, die Horaz und Kallimachos vergleichen, seien genannt: Pasquali (1920) 141 (zu Horazens hellenistischen Quellen insgesamt), Klingner (1951) 18-29, Wimmel (1960), Cody (1976), Bornmann (1993) 27ff., Coffta (2001) sowie Thomas (2007). – Die ältere Forschungsliteratur, welche Horazens Verhältnis zu den Alexandrinern untersucht, wird von McDermott (1981) 1650-1654 aufgearbeitet. 9 Wehrli (1944) 70. 10 Ausgewählte Stellen: Kall. fr. 1,17 und h. 2,105ff.; Hor. sat. 1,10,78ff.; carm. 2,16,39f.; 2,20,4; 3,1,1; 4,3,16; epist. 1,19,35ff.; 1,20,4. 11 Kall. fr. 1,9; Horaz tadelt Vielschreiber in sat. 1,4,8ff.; 1,4,21ff.; 1,9,23f.; 1,10,59ff.; er fordert auf zum beständigen Feilen in sat. 1,10,67ff.; 1,10,72ff.; epist. 2,1,167; ars 289ff. 12 Kall. h. 2,107ff.; Hor. sat. 1,4,11; 1,10,50f.; 1,10,59ff. 13 Kall. h. 2,110ff.; Hor. carm. 4,2,27ff., bei Horaz allerdings schon mit Akzentverschiebung, vgl. S. 76 und S. 11115. 14 Kall. fr. 1,11 (hier ist κατὰ λεπτόν nach Schol. Lond. 11 ergänzt), fr. 1,24, h. 3,243; epigr. 27,3; Hor. carm. 1,6,9; 2,16,38. – Weitere programmatische Berührungspunkte verzeichnet Curley (2003) 280-283, der in Hor. carm. 3,13,1 Parallelen zur Flußmetapher und zu dem Epyllion Hekale sieht, aber wohl übers Ziel hinausschießt, wenn er behauptet (ebd. 283, Anm. 16): »I demon-
5.7 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Kallimachos
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Aber auch Transformationen mit Bezugnahme auf den Urheber finden sich.15 Nun seien noch einige evidente Beispiele horazischer Kallimachosrezeption hier vorgeführt: Apollon hatte dem Dichter im Aitien-Prolog folgende Anweisung gegeben (fr. 1,23f.): ἀοιδέ, τὸ μὲν θύος ὅττι πάχιστον / [θρέψαι, τὴ]ν Μοῦσαν δ’ ὠγαθὲ λεπταλέην, und Horaz betet in sat. 2,6,14f. zu Merkur: pingue pecus domino facias et cetera praeter / ingenium [...]. Beide Dichter schätzen auch die Beständigkeit des Musischen ähnlich ein: Wenn Horaz in carm. 4,3,1f. formuliert: quem tu, Melpomene, semel / nascentem placido lumine videris, so erinnert dies deutlich an Kallimachos’ Aitien-Prolog (fr. 1,37f.): Μοῦσαι γὰρ ὅσους ἴδον ὄθματι παῖδας / μὴ λοξῷ, πολιοὺς οὐκ ἀπέθεντο φίλους.16 Geradezu eine Übertragung des 31. Epigramms des Kallimachos läßt sich in der horazischen Satire 1,2,105-108 sehen:
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ὡγρευτής, Ἐπίκυδες, ἐν οὔρεσι πάντα λαγωόν διφᾷ καὶ πάσης ἴχνια δορκαλίδος στίβῃ καὶ νιφετῷ κεχρημένος· ἢν δέ τις εἴπῃ »τῆ, τόδε βέβληται θηρίον«, οὐκ ἔλαβεν. χοὐμὸς ἔρως τοιόσδε· τὰ μὲν φεύγοντα διώκειν οἶδε, τὰ δ’ ἐν μέσσῳ κείμενα παρπέταται. »leporem venator ut alta in nive sectetur, positum sic tangere nolit« cantat et adponit: »meus est amor huic similis; nam transvolat in medio posita et fugientia captat.«
Überdies finden sich auffällige strukturelle Parallelen zwischen den Iamben beider Autoren: Mag man bei der gleichen Anzahl (jeweils siebzehn) noch an einen Zufall denken,17 so ist es doch erstaunlich, welche Parallelen sich strate that the haedus represents the poetics of Alcaeus, whose sacrifice transforms the Callimachean fons into something grander and more apt for the Augustan age.« 15 Eine solche Umgestaltung liegt, wie Wehrli (1944) 73ff. gesehen hat, in der Anwendung der Flußmetapher auf Pindar vor. In carm. 4,2,5ff. drückt Horaz durch sie nicht mehr Unreinheit, sondern gewaltige, mitreißende Kraft der Dichtung aus (vgl. auch im I. Teil Kap. 5.4, S. 70f.). Mitreißende Wirkung und perfekte Form schließen einander nicht aus, wie aus epist. 2,2,120f. hervorgeht (vehemens et liquidus puroque simillimus amni / fundet opes Latiumque beabit divite lingua). Freilich ließe sich einwenden, daß in carm. 4,2 die Abhängigkeit von Kallimachos nicht zwingend beweisbar sei, gerade weil das tertium comparationis ein ganz anderes als bei Kallimachos ist. – Eine Akzentverschiebung gegenüber Kall. h. 2,110ff. läßt sich mit Wehrli (1944) 72f. auch bei der Bienenmetapher in carm. 4,2 feststellen: Die eigene Form der Dichtung wird mit einer anderen Form kontrastiert, ohne daß der anderen Form ihre Qualität und ihre prinzipiell mögliche Perfektion abgesprochen würde. 16 Praetext für Kallimachos wiederum und auch (in Form einer »window reference«) für Horaz dürfte Hes. theog. 81f. sein (ὅντινα τιμήσουσιν ∆ιὸς κοῦραι μεγάλοιο / γεινόμενόν τ’ ἐσίδωσι κτλ). Vgl. dazu auch im I. Teil Kap. 5.1. 17 Vgl. Bornmann (1993) 35: »è più probabile che si tratti di una semplice coincidenza di numeri e che gli ultimi quattro componimenti non rientrino nella raccolta.«
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I. Teil: Prolegomena
in der Abfolge der metrischen Formen und der verschiedenen Inhalte beider Sammlungen feststellen lassen.18 Angesichts der hier dokumentierten Bezüge zwischen den beiden Autoren ist ein Blick auf den Mythos bei Kallimachos im Rahmen dieser Untersuchung unumgänglich. Kallimachos’ sehr großes Interesse an Aitiologien, welches auch in den Iamben und Hymnen deutlich erkennbar ist, spielt eine beherrschende Rolle in den Aitien, einer vier Bücher umfassenden Sammlung von Erklärungen auffallender, aber entlegener Riten. Im berühmten Aitien-Prolog ist es Apollon selbst, der Kallimachos resp. dem Sprecher sein poetisches Programm diktiert (fr. 1,21ff.):
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καὶ γὰρ ὅτε πρώτιστον ἐμοῖς ἐπὶ δέλτον ἔθηκα γούνασιν, Ἀπ[όλ]λων εἶπεν ὅ μοι Λύκιος· »...] ἀοιδέ, τὸ μὲν θύος ὅττι πάχιστον θρέψαι, τὴ]ν Μοῦσαν δ’ ὠγαθὲ λεπταλέην· πρὸς δέ σε] καὶ τόδ’ ἄνωγα, τὰ μὴ πατέουσιν ἅμαξαι τὰ στείβειν, ἑτέρων ἴχνια μὴ καθ’ ὁμά δίφρον ἐλ]ᾶν μηδ’ οἷμον ἀνὰ πλατύν, ἀλλὰ κελεύθους ἀτρίπτο]υς, εἰ καὶ στεινοτέρην ἐλάσεις.« τῷ πιθόμη]ν·
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Denn als ich zum ersten Mal die Schreibtafel legte auf meine Knie, da sagte Apollon Lykios zu mir: »... Sänger, das Opfer möglichst fett nähren, die Muse aber, mein Bester, dünn! Zusätzlich aber befehle ich dir auch dies: Was Wagen nicht befahren, das sollst du betreten, und nicht in den Spuren anderer gemeinsam den Wagen steuern und nicht über den breiten Weg hin, sondern auf unberührten Pfaden, wenn du auch einen engeren Weg fährst.« Dem gehorchte ich.
Neben die Betonung des Feinen und Kleinen tritt die Bedeutung des Neuen, des noch ungegangenen Weges. Nach Auffassung des Kallimachos kann sich nur derjenige gegenüber der gleichsam überwältigenden literarischen Tradition behaupten, der sich von ihr abwendet und neues Terrain betritt.19 Somit ist es verständlich, daß Kallimachos sich gerade abgelegenen, noch nicht erschöpfend behandelten Themen zuwendet. Die Erzähltechnik in den Aitien ist dabei raffiniert: »Strukturell war jede einzelne dieser Geschichten offenbar auf größtmögliche Unberechenbarkeit ausgelegt«, summiert Markus Asper.20 Immer wieder lassen sich in den Aitien auch Bezüge auf die 18 Vgl. dazu Bornmann (1993) 34ff., der ebd. auf S. 34 konstatiert: »Ma esiste un’opera di Callimaco veramente congeniale a Orazio che dimostra di averla avuta presente non solo nella ripresa di singoli spunti, ma anche nella struttura complessiva: il libro dei Giambi.« 19 Vgl. Asper (2004) 13. 20 Ebd. 24.
5.7 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Kallimachos
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zeitgenössische Politik und das Herrscherhaus der Ptolemäer finden.21 Dies ist zum Beispiel der Fall in den Darstellungen des Herakles (fr. 22-25), der in die Genealogie der Ptolemäer integriert ist,22 oder auch bei der Erzählung von Akontios und Kydippe, in der die Insel Keos erwähnt wird (fr. 75,50ff.), welche zur Abfassungszeit einen »Fokus ptolemäischer Expansionspolitik« darstellte.23 Derartige Anspielungen goutierte das Primärpublikum, das sich wohl um den ptolemäischen Hof, das Museion und die Bibliothek von Alexandria gruppierte. Uns heutigen Rezipienten entgehen sicherlich viele Raffinessen, und Asper betont zu Recht: »Das ist nur die Spitze eines Eisberges von Referenzen an die Gegenwart, die sich für den Leserkreis des Kallimachos an die erwähnten Orte und Heroen geknüpft haben werden.«24 Auch das Epyllion Hekale (fr. 230-377) stellt im Grunde ein gigantisches, strukturell raffiniert erzähltes Aition dar, welches die Einrichtung des gleichnamigen attischen Demos erklärt. Auch in diesem Werk richtet Kallimachos sein Augenmerk auf ein Detail von zuvor geringer Bedeutung:25 Theseus, der ausgezogen ist, um den marathonischen Stier zu bezwingen, kehrt während eines Unwetters bei der Greisin Hekale im Hügelland des Erechtheus ein. Wie Theseus von der alten Frau empfangen und bewirtet wird, ist mit Liebe zum Detail ausgemalt; Hekale erhält ferner Gelegenheit, ihre Lebensgeschichte ausführlich zu schildern. Nachdem Theseus später seine Heldentat vollbracht und den Stier besiegt hat, was bei Kallimachos wohl nur sehr knapp dargestellt wurde, muß er feststellen, daß seine Gastgeberin inzwischen gestorben ist. Ihr zu Ehren richtet er den Demos Hekale in Attika ein; ferner gründet er ein Heiligtum des Zeus Hekaleios. Die Verschiebung der gewohnten Akzente in der Erzählung charakterisiert Asper folgendermaßen: »die bekanntesten Taten [werden] praktisch übergangen […] zugunsten einer Fiktion, die eine ländlich-ärmliche Gegenwelt zum Heroenmythos skizziert.«26 Überdies läßt sich in der Hekale zumindest implizit ein Gegenwartsbezug finden: Ptolemaios II. war mit den Athenern gegen den makedonischen Diadochen Antigonos Gonatas verbündet, und eine attische Inschrift 21 Zur Rezeption von Zeitgeschichte in der hellenistischen Dichtung allgemein und auch speziell bei Kallimachos vgl. Weber (1993). 22 Vgl. dazu Huttner (1997) 124ff. 23 So Asper (2004) 30, dort auch weitere Literatur. 24 Ebd. 30. Zu den Iamben, die hier nicht gesondert behandelt werden können, zieht er ein ähnliches Fazit (ebd. 36): »[Man muß] überall mit überraschenden Zeitbezügen [rechnen], die auch aus den kunstvollsten und entlegensten aitiologischen Konstruktionen jederzeit die ptolemäische Gegenwart, die des Autors und seiner Leser, hervorblitzen lassen.« 25 Einen ausführlichen Überblick über die vorkallimacheischen Versionen und über mögliche Praetexte bietet Ambühl (2005) 31ff. 26 Asper (2004) 37.
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von 248/7 dokumentiert, daß Kallimachos großzügig für ein attisches Verteidigungsprojekt gespendet hatte.27 Angesichts dieser Fakten wird man das Interesse der Erzählung an lokalen und antiquarischen Details aus Attika doch wieder mindestens partiell als politisch begründet ansehen dürfen. Abschließend soll noch ein Blick auf die kallimacheischen Hymnen geworfen werden.28 Die Hälfte der sechs Hymnen ist narrativ (1., 3. und 4. Hymnus); in ihnen begegnet man einer meist ironisch distanzierten Erzählerfigur.29 Die anderen drei Hymnen (2., 5. und 6.) sind mimetisch: In ihnen ist der Erzähler keine auktoriale Instanz; vielmehr nimmt er am (fiktiven) Ritual des betreffenden Gottes teil, wobei die vorgetragenen Erzählungen dazu dienen, den Gläubigen die Zeit bis zur Epiphanie des Gottes zu verkürzen, welche dann mit dem Ende des Hymnus zusammenfällt.30 Im Apollonhymnus wird wiederum (wie am Ende des Aitien-Prologs) durch den Mund des Gottes ein poetologisches Programm verkündet (V. 107ff.): τὸν Φθόνον ὡπόλλων ποδί τ’ ἤλασεν ὧδέ τ’ ἔειπεν· »᾿Ασσυρίου ποταμοῖο μέγας ῥόος, ἀλλὰ τὰ πολλά λύματα γῆς καὶ πολλὸν ἐφ’ ὕδατι συρφετὸν ἕλκει. ∆ηοῖ δ’ οὐκ ἀπὸ παντὸς ὕδωρ φορέουσι μέλισσαι, ἀλλ’ ἥτις καθαρή τε καὶ ἀχράαντος ἀνέρπει πίδακος ἐξ ἱερῆς ὀλίγη λιβὰς ἄκρον ἄωτον.«
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Den Neid vertrieb Apollon mit dem Fuß, und er sprach so: »Des assyrischen Flusses Strömung ist groß, aber größtenteils schleppt sie Erddreck und viel Abfall auf dem Wasser mit. Der Demeter aber bringen nicht von überall Wasser die Bienen, sondern nur das, welches rein und unbefleckt emporspringt aus einer heiligen Quelle, ein kleiner Tropfen nur, das Allerfeinste.«
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Auch in den Hymnen lassen sich zwei Tendenzen weiterverfolgen, die schon aufgezeigt wurden: einerseits die Neigung zu weniger behandelten Sujets, die auch komisch gefärbt sein können, und andererseits die Herr27
Oliver (2002) 6-8. Zu ihnen vgl. z.B. Hunter/Fuhrer (2002). 29 Dabei handelt es sich jedoch um eine ganz besondere Art von Ironie, wie Asper (2004) 53 betont: »[Ironie], die aber das Vorgetragene nie entwertet, sondern mit einer weiteren Sinnebene versieht«. Bemerkenswert sind z.B. die Verse 170-182 des Artemishymnus: Anfangs wird dort geschildert, wie die Nymphen mit Artemis zusammen Reigen tanzen. Dann aber hofft der Erzähler, der offensichtlich Rinder vermietet, daß seine Rinder nicht gerade dann für einen anderen pflügen. Die unerwartete Erklärung folgt sogleich: Der Sonnengott Helios geht an solchen Reigentänzen nie einfach vorbei; vielmehr betrachtet er sie und hält dazu seinen Wagen an, so daß sich die Tage verlängern. Wenn aber die Tage länger sind, werden auch die vermieteten Rinder des Erzählers stärker beansprucht. 30 Zu den mimetischen bzw. »dramatischen« Hymnen des Kallimachos vgl. z.B. Pretagostini (1993). 28
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scherpanegyrik. Die erste Tendenz zeigt sich in Themen wie »Hermes als verrußter Kinderschreck« (Artemishymnus, V. 66ff.) oder in den humorvoll gestalteten Berichten über den stets hungrigen Herakles im Olymp.31 Dieser empfängt Artemis schon in den olympischen Vorhallen, wenn sie von der Jagd kommt, und nimmt ihr ihre Beute ab; dabei fordert er sie – durchaus mit kulinarischen Hintergedanken – dazu auf, doch lieber große »schlimme Wildtiere« wie Schweine und Rinder zu erlegen als Hasen und Rehe. Schlimmer, doch genauso lustig dargestellt ist das Schicksal des Erysichthon, der von Demeter und Dionysos mit unstillbarem Hunger und Durst bestraft wurde: Zwanzig Männer bereiten ihm Mahlzeiten zu, und zwölf kümmern sich um seinen Wein. Seine Eltern können ihn aus Scham nicht mehr aus dem Haus lassen, und seine Mutter muß ständig neue Ausreden erfinden, warum ihr Sohn seinen gesellschaftlichen Pflichten nicht mehr nachkommen könne.32 In den Zeushymnus hingegen ist geschickt ein Lob auf den Ptolemäerherrscher eingeflochten: Zwar hat Zeus allen Königen Überfluß und Reichtum geschenkt; der Ptolemäerkönig aber ist den anderen weit voraus und verwirklicht die bedeutendsten Dinge atemberaubend schnell (1,79ff.). Einen Höhepunkt erreicht die Panegyrik schließlich im Hymnus auf Delos. Als sich Leto/Latona auf der Suche nach einem Ort, wo sie ihre Zwillinge zur Welt bringen kann, der Insel Kos nähert, spricht sie der noch ungeborene [!] Apollon folgendermaßen an (V. 162ff.): »μὴ σύ γε, μῆτερ, τῇ με τέκοις. οὔτ’ οὖν ἐπιμέμφομαι οὐδὲ μεγαίρω νῆσον, ἐπεὶ λιπαρή τε καὶ εὔβοτος, εἴ νύ τις ἄλλη· ἀλλά οἱ ἐκ Μοιρέων τις ὀφειλόμενος θεὸς ἄλλος ἐστί, Σαωτήρων ὕπατον γένος [...].«
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»Gebäre du, Mutter, mich nicht hier! Ich habe der Insel nun nichts vorzuwerfen, noch hege ich Groll gegen sie, weil sie ja üppig ist und gute Weiden hat, wenn nur eine andere. Aber ihr wird von den Moiren ein anderer Gott geschuldet, der rettenden Götter erhabenster Sproß [...].«33
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Dieses Thema findet man allerdings auch schon in der Komödie angedeutet, vgl. im I. Teil Kap. 5.6. 32 Herakles: h. 3,144ff.; Erysichthon: h. 6,65ff. Über vorkallimacheische Versionen und über mögliche Praetexte informiert Ambühl (2005) 160ff. 33 Vgl. dazu die Erklärung bei Asper (2004) 427, Anm. 22: »Ptolemaios I. Soter und Berenike wurden unter dem Titel der θεοὶ σωτῆρες () von Ptolemaios II. Philadelphos divinisiert, der 308 AC auf Kos geboren wurde.« – Asper spricht ebd. auf S. 45 von »zwanglose[r] Vermischung des alten Götterhymnus mit der neuen Herrscherpanegyrik« und bemerkt zur Genese
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Schließlich zeigt sich Kallimachos humorvoll als Kritiker früherer Mythenversionen bzw. der Aöden, wenn er im Zeushymnus (V. 60ff.) den Maßstab des Plausiblen bzw. Überzeugenden anlegt: 60
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δηναιοὶ δ’ οὐ πάμπαν ἀληθέες ἦσαν ἀοιδοί· φάντο πάλον Κρονίδῃσι διάτριχα δώματα νεῖμαι· τίς δ’ κ’ ἐπ’ Οὐλύμπῳ τε καὶ Ἄϊδι κλῆρον ἐρύσσαι, ὅς μάλα μὴ νενίηλος; ἐπ’ ἰσαίῃ γὰρ ἔοικε πήλασθαι· τὰ δὲ τόσσον ὅσον διὰ πλεῖστον ἔχουσι. ψευδοίμην, ἀίοντος ἃ κεν πεπίθοιεν ἀκουήν. Die alten Sänger aber sagten überhaupt nicht die Wahrheit: Sie behaupteten, daß das Los den Kronossöhnen drei verschiedene Häuser zugeteilt habe. Wer aber würde wohl um den Olymp und den Hades das Los ziehen, der nicht total verrückt ist? Auf gleicher Basis nämlich scheint es richtig, zu losen. Diese Bereiche aber unterscheiden sich so sehr, wie es nur möglich ist. Ich möchte Lügen erzählen, die eines Zuhörers Ohr wohl überzeugen.
Auch den Werken des Kallimachos gebührt demnach besondere Aufmerksamkeit bei der Suche nach horazischen Praetexten.
dieses neuen Typs ebd.: »Man könnte sich sogar fragen, ob das Interesse an neuen Götterhymnen nicht durch die Nähe zu neuen ›Göttern‹, eben dem Herrscherhaus, ausgelöst worden ist.«
5.8 Lukrez Horaz spricht in seinen Werken nicht von Lukrez (ca. 97-53 v.Chr.), der in seinem Lehrgedicht de rerum natura den Römern eine zeitgenössische Version der Philosophie Epikurs eindrucksvoll vor Augen gestellt hat. Dennoch läßt es sich schon aufgrund von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen vermuten, daß Horaz das Werk des Lukrez gekannt hat: Einerseits legt es Horazens Interesse für den Epikureismus nahe, daß er sich mit einer gedichteten Ausformung dieses philosophischen Systems beschäftigt hat. Andererseits kann man z.B. aus Vergils Georgica erschließen, daß Lukrezens Werk recht weite Verbreitung gefunden hatte und auch zu literarischer Auseinandersetzung aufforderte. Sonst hätte Vergil in den Georgica nicht in Form einer bloßen Andeutung ohne Namensnennung auf Lukrez anspielen können.1 Man braucht jedoch nicht bei derartigen Vermutungen stehenzubleiben. Denn es lassen sich vielfältige Verbindungslinien von Lukrez zu Horaz verfolgen, von denen hier einige im Anschluß an Walburga Rehmanns Untersuchung2 skizziert werden sollen: Neben zahlreichen motivischen Anklängen oder gemeinsamen Haltungen gesellschaftlichen Phänomenen gegenüber lassen sich grammatische, metrische und lexikalische Spezifika des Lukrez bei Horaz finden. Wendungen und Vokabeln, die bei Lukrez oft auftreten und fast schon Formelcharakter haben (wie z.B. fateare necesse est; nonne vides; adde; at contra; cetera de genere hoc; denique), verwendet auch Horaz, jedoch mit sparsamer Zurückhaltung, so daß sie jeweils eine besondere Wirkung erzielen.3 Auch lukrezische Junkturen wie cana pruina, rabidi leones, frontibus adversis begegnen in Horazens Œuvre.4 Sogar gleichoder sehr ähnlich lautende Versschlüsse lassen sich aufspüren,5 so daß
1
Verg. georg. 2,490ff.: felix qui potuit rerum cognoscere causas etc. Rehmann (1969). 3 Im Folgenden wird nur jeweils eine Belegstelle herausgegriffen: fateare necesse est: Lucr. 2,1064; Hor. sat. 1,3,111; nonne vides: Lucr. 5,382; Hor. sat. 1,4,109; adde: Lucr. 1,712; Hor. carm. 2,8,17; at contra: Lucr. 2,713; Hor. sat. 1,3,27 (at tibi contra); cetera de genere hoc: Lucr. 5,164; Hor. sat. 1,1,13; denique: Lucr. 2,515; Hor. epist. 2,2,58. 4 Cana pruina: Lucr. 3,20f. (pruina / cana); Hor. carm. 1,4,4 (canis [...] pruinis); rabidi leones: Lucr. 4,712 (rabidi [...] leones); Hor. ars 393 (rabidosque leones); frontibus adversis: Lucr. 6,117; Hor. sat. 1,1,103. 5 So zum Beispiel longe longeque remotos (Hor. sat. 1,6,18) und longe longeque remosse (Lucr. 3,69), cum multa laude coronam (Hor. sat. 1,10,49) und cum laude coronam (Lucr. 6,95), perferre patique (Hor. epist. 1,15,17) und perferre patique bzw. ferre patique (Lucr. 5,314 bzw. 2,291), tristisque recedo (Hor. epist. 1,16,35) und tristisque recedit (Lucr. 3,997) sowie schließlich cecidere cadentque (Hor. ars 70 und Lucr. 3,969). Weitere Beispiele sind gesammelt bei Rehmann (1969) 98ff. 2
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Walter Wimmel die Vermutung äußern konnte, daß »vielleicht Lucrez der von Horaz am meisten benutzte römische Autor war«.6 Von sprachlichen zu sachlichen Ähnlichkeiten führt Horazens Aussage im Zusammenhang mit dem Flammenwunder von Gnatia (sat. 1,5,101): namque deos didici securum agere aevum. Deutlich nimmt er hier Bezug auf Lucr. 5,82 (= 6,58): nam bene qui didicere deos securum agere aevum [...]. Hat dieses Zitat auch, wie Rehmann betont,7 ironischen Charakter, so zeigt Horaz hier doch – trotz des gänzlich anderen Kontextes – genaue sachliche wie sprachliche Kenntnis der Lukrezpassage. Abschließend seien noch die Verse 99ff. der horazischen Satire 1,3 genannt. In knapper Form gibt Horaz hier im Rahmen einer Diskussion über die Natur des Rechtes eine Darstellung der Genese von Kultur und Recht. Dem Satirenstil gemäß wird diese Darstellung zwar in parodistischer Auseinandersetzung mit Lukrezens Kulturentstehungslehre im fünften Buch entwickelt; der utilitas-Charakter des Rechtes aber, den Horaz vertritt, ist eindeutig epikureisch. Durch den lukrezischen Ausdruck fateare necesse est im Fazit des Verses 111 gibt Horaz ferner deutlich zu erkennen, mit wessen Ansicht er seine eigene Skizze verglichen sehen möchte; die von Rehmann aufgezeigten Ähnlichkeiten/Entsprechungen im Wortmaterial beider Texte verstärken diesen Eindruck noch.8 Angesichts dieses nicht unbedeutenden Einflusses des lukrezischen Werkes auf Horaz erscheint ein kurzer Abriß zum Thema »Lukrez und der Mythos« für die vorliegende Untersuchung durchaus sinnvoll. Lukrez will den Römern die Lehre Epikurs vorstellen, sie vom Aberglauben, als welcher ihm die religio gilt, befreien und ihnen dadurch die Angst nehmen: einerseits die Angst vor Naturerscheinungen, denen er kein intentionales, gottgewolltes Moment zugesteht, andererseits ganz besonders die Furcht vor dem Tod. Dieses Ziel verfolgt er aber – anders als sein Meister Epikur9 – nicht in einer Prosadarstellung, sondern in Form eines Sach- bzw. Lehrgedichtes. Die Begründung dafür gibt Lukrez selbst im berühmten Honigbechergleichnis (1,936ff.; 4,11ff.): Wie Ärzte, die Kindern bittere Medizin verabreichen müssen, diese Medizin dadurch angenehmer machen, daß sie den Rand des Trinkgefäßes mit Honig bestreichen, so will auch Lukrez
6 Wimmel (1953) 333. Vgl. Rehmann (1969) 234f.: »wie nah Lukrez der horazischen Sprache und Geisteswelt steht[, …] zeigt sich rein äußerlich an der Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Horaz auf Lukrez zurückgreift. Die vielen Lukrezreminiszenzen machen deutlich, wie vertraut ihm dessen Werk gewesen ist und wie er sich stets mit ihm auseinandergesetzt hat.« 7 Ebd. 173f. 8 Ebd. 163ff. 9 Stellen zu Epikurs Haltung zur Dichtung und zum Mythos sind gesammelt bei Gale (1994) 47, Anm. 169; eine differenzierte diachrone Betrachtung der einschlägigen epikureischen Testimonien mit weiterführender Literatur bietet Rumpf (2003) 24ff.
5.8 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Lukrez
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seine Lehre, die den noch nicht Eingeweihten meist unangenehm erscheint, dadurch angenehmer machen, daß er sie in poetischer Form darbietet.10 Aus dieser Doppelrolle als Philosoph und Dichter lassen sich einige Facetten der lukrezischen Darstellungsweise erklären. So ist es verständlich, wenn Lukrez – der Tradition und den Gesetzen des literarischen Genos entsprechend – den Gebrauch von Metonymien oder Antonomasien wie Neptunus/mare erlaubt, sogleich aber eine wichtige Einschränkung hinzufügt [2,655-660 (= 680)]: 655
660 655
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hic siquis mare Neptunum Cereremque vocare constituet fruges et Bacchi nomine abuti mavult quam laticis proprium proferre vocamen, concedamus ut hic terrarum dictitet orbem esse deum matrem, dum vera re tamen ipse religione animum turpi contingere parcat. Wenn hier jemand das Meer »Neptun« und »Ceres« die Feldfrüchte zu nennen beschließt und lieber den Namen »Bacchus« uneigentlich gebraucht, als die der Flüssigkeit eigene Benennung hervorzuholen, wollen wir erlauben, daß dieser immer wieder sagt, der Erdkreis sei die Göttermutter, wenn er nur in Wirklichkeit dennoch selbst sich davor hütet, mit schändlichem Aberglauben seinen Geist zu beflecken.
Es ist also nach Lukrez eine bestimmte Geisteshaltung, aus der heraus solche (mythischen) Metonymien verwendet werden müssen: Nichts spricht dagegen, sich dieser Stilfigur zu bedienen, die einen gleichsam unverzichtbaren Bestandteil der griechischen wie der römischen Dichtersprache darstellt, wenn man sich nur stets der Tatsache bewußt ist, daß es sich lediglich um ein poetisches Mittel handelt, während sich die wahren Gegebenheiten ganz anders darstellen.11 10 Die Kernpassagen des Vergleichs lauten: sed (bzw. nam) veluti pueris absinthia taetra medentes / cum dare conantur, prius oras pocula circum / contingunt mellis dulci flavoque liquore, / […] sic ego nunc, quoniam haec ratio plerumque videtur / tristior esse quibus non est tractata […] volui tibi suaviloquenti / carmine Pierio rationem exponere nostram / et quasi musaeo dulci contingere melle etc. Rumpf (2003) 111ff. warnt jedoch davor, das Honigbechergleichnis als eine »letztgültige, unhinterfragbare Selbstaussage des Lukrez« zu betrachten. – Nicht unproblematisch erscheint die Gleichsetzung von Mythos und Poesie, von der Gale (1994) 46 ausgeht: »myth was closely associated with poetry in the ancient world. [...] we can justifiably use the poet’s statements about musaeum mel and musaeus lepos to illuminate his attitude towards both.« 11 Vgl. hierzu auch Gale (1994) 30f. – Seinem eigenen Programm entsprechend, verwendet Lukrez solche Metonymien zum Beispiel in 2,472 (Neptuni corpus acerbum für das Meer); 3,221 (Bacchi [...] flos für das Bouquet des Weines); 5,1304 (Martis [...] catervas für Kriegerscharen); 6,1076 (Neptuni fluctu abermals für das Meer). Ackermann (1979) 35 summiert: »Lukrez selbst steht […] noch nicht in dem geistesgeschichtlichen Stadium, alles mit Mythologischem in der Dichtung zu verbrämen; zwischen Ennius und den Augusteern nimmt er eine Mittelstellung im Gebrauch des Mythos in der dichterischen Konvention ein.«
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I. Teil: Prolegomena
Daß Lukrez und seinen (gebildeten) Zeitgenossen der Mythos, für den der Autor kein terminologisch eindeutiges Wort in seinem Œuvre benutzt,12 nicht als buchstäblich wahr galt, ist communis opinio und deckt sich mit den Bemerkungen im I. Teil, Kapitel 2.2. Bereits der Versuch einer rationalen Naturerklärung an sich stellt eine indirekte Ablehnung des Mythos dar, wie Erich Ackermann hervorhebt.13 Ganz entschieden jedoch setzt sich Lukrez gegen eine bestimmte Art des Mythosverständnisses ab, nämlich gegen die besonders von den Stoikern betriebene Allegorese.14 Im zweiten Buch behandelt er in einem langen Exkurs [V. 600-660 (= 680)] eine allegorische Deutung des Mythos der Magna Mater, wobei als dessen Urheber die veteres Graium docti [...] poetae (V. 600) genannt werden. Nachdem Lukrez in den Versen 600-643 eine detaillierte allegorische Deutung vorgeführt hat,15 weist er diese Auslegung als zwar wohlgeordnet, aber doch weit von der Wahrheit entfernt zurück16 und stellt seinen eigenen Bericht von der wahren Natur der Gottheit und der Erde dagegen (V. 646-654). Dieselbe Methode wendet Lukrez auch im fünften Buch an: Nach einem Bericht über den Kampf der Elemente gibt er in den Versen 396ff. den Phaetonmythos wieder, wobei er dessen Herkunft sogleich durch den Zusatz scilicet ut veteres Graium cecinere poetae (V. 405) erläutert. Doch auch diesen Mythos und seine allegorische Deutung lehnt Lukrez kategorisch ab (V. 406: quod procul a vera nimis est ratione repulsum), worauf er seine eigene Erklärung für den »Kampf der Elemente« vorträgt.17 Wie aber konnten Mythen überhaupt entstehen? Lukrez scheint eine eigene Theorie über die Genese von Mythen vertreten zu haben, die sich an mehreren Stellen seines Werkes zeigt.18 Zum einen trägt Lukrez in den Versen 5,1161ff. seine Anschauung darüber vor, weshalb sich Gottesvor12 Wie Gale (1994) 26, Anm. 94 zeigt, kommt das Substantiv fabula bei Lukrez überhaupt nicht vor, während Wörter wie monstrum, portentum oder somnium zwar manchmal, aber nicht durchgängig in der Bedeutung »mythisches Wesen« gebraucht werden. 13 Ackermann (1979) 36. 14 Zur Geschichte der allegorischen Mythosdeutung vgl. z.B. Gale (1994) 19ff. 15 Gale (1994) 27 bemerkt dazu: »It could indeed almost be described as a parody of the ingenuity of the allegorists.« 16 2,644f.: quae bene et eximie quamvis disposta ferantur, / longe sunt tamen a vera ratione repulsa. 17 Als weiteren Beleg führt Gale (1994) 32 die Passage 1,641f. an. Innerhalb einer Kritik an Heraklit heißt es dort: omnia enim stolidi magis admirantur amantque, / inversis quae sub verbis latitantia cernunt [...]. Auf allegorische Deutungen kann diese Stelle deshalb bezogen werden, weil nach Quintilian (inst. 8,6,44) inversio das lateinische Pendant zu ἀλληγορία ist. Freilich kann man im Zusammenhang mit Heraklit inversis [...] verbis auch als Bezeichnung seiner sprichwörtlich dunklen Ausdrucksweise auffassen. – Zur Deutung des Endes von Buch 3 und des Proömiums von Buch 5 als Kritik an der Allegorese vgl. Gale (1994) 34ff. 18 Vgl. hierzu auch Gale (1994) 130ff.
5.8 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Lukrez
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stellungen und -dienste allgemein verbreitet haben (V. 1161f.: quae causa deum per magnas numina gentis / pervulgarit et ararum compleverit urbis): Die Menschen der Vorzeit hätten zwar in einigen ihrer Ansichten recht gehabt; in anderen Dingen aber seien sie unfähig gewesen, die wirklichen Kausalzusammenhänge zu erkennen (V. 1185: nec poterant quibus id fieret cognoscere causis; V. 1211: temptat enim dubiam mentem rationis egestas), so daß sie allem Geschehen eine göttliche Motivation zugeschrieben hätten (V. 1186f.: ergo perfugium sibi habebant omnia divis / tradere et illorum nutu facere omnia flecti). Monica Gale zieht hieraus folgendes Resümee: If we assume that stories about the gods are included in the facta of 1195, Lucretius’ theory of myth can be paraphrased as follows: myths which attribute activities incompatible with ataraxia to the gods cannot be literally true, nor can they have arisen from nowhere. They actually result from failed attempts to answer questions about the universe. [...] early man took refuge in mythological explanations, erroneously combining his observations of the natural world with his awareness of the existence of the gods.19
Zum anderen wird diese Theorie über die Entstehung von Mythen noch durch eine Passage im vierten Buch ergänzt. Nach der Behandlung des Echos kommt Lukrez auf Nymphen, Faune und Satyrn zu sprechen, die angeblich Orte bewohnten, an welchen ein besonderes Echo zu bewundern sei (V. 580ff.). Dabei handele es sich freilich um erfundene Geschichten (finitimi fingunt, V. 581), und der Grund für solches Fabulieren lasse sich leicht angeben: Die Bewohner wollten ihrem Land dadurch etwas Reiz verleihen (ne loca deserta ab divis quoque forte putentur / sola tenere, V. 591f.), und außerdem seien ja alle Menschen ganz versessen darauf, die Ohren ihrer Zuhörer einzunehmen (ut omne / humanum genus est avidum nimis auricularum, V. 593f.).20 Neben dieser expliziten Auseinandersetzung mit Mythen läßt sich eine Reihe von Passagen anführen, die implizit mit mythischen Vorstellungen befaßt sind oder ihren Ausgang von Mythen nehmen.21 Besonders eindrucksvoll ist dabei die Schilderung Epikurs und der Epikureer als siegreiche Giganten, wie Gale zeigen kann.22 In 5,110ff. wird dem Adressaten des Lehrgedichts Folgendes mitgeteilt: Er solle nicht aus Scheu vor den Göttern (religione refrenatus, V. 114) etwa glauben, daß diejenigen, die mit ihrer 19
Ebd. 132. Die Passage, auf die Gale sich bezieht, lautet: o genus infelix humanum, talia divis / cum tribuit facta atque iras adiunxit acerbas! (5,1194f.). 20 Ferner stellt Lukrez in 4,35ff. eine Verbindung zwischen der mythischen Unterwelt und dem Träumen dar. Zum Traum bei Lukrez vgl. Walde (2001) 203ff. 21 Solche Fälle bespricht Gale (1994) 156ff. als »latent myth«. 22 Ebd. 43ff.
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I. Teil: Prolegomena
Vernunft die Mauern des Weltalls erschütterten, zu Recht nach Art der Giganten bestraft würden (ne forte rearis […] ritu par esse Gigantum / pendere eos poenas immani pro scelere omnis / qui ratione sua disturbent moenia mundi, V. 114ff.). Schon in 1,62ff. aber war Epikurs Kampf gegen die religio in mythischen Bildern dargestellt worden, wobei man in den Versen 68f. eine Anspielung auf die Gigantomachie sehen kann: quem neque fama deum nec fulmina nec minitanti / murmure compressit caelum [...]. Evident wird die Parallele zu 5,119 (disturbent moenia mundi) jedoch in 1,72-75: ergo vivida vis animi [sc. Epicuri] pervicit, et extra / processit longe flammantia moenia mundi / atque omne immensum peragravit mente animoque, / unde refert nobis victor etc.23 Epikur wird also kunstvoll durch intratextuelle Bezüge mit den Giganten in Verbindung gebracht; doch bei Lukrez unterliegen die Olympier und die religio dem anstürmenden »Giganten« Epikur.24 Auch mythologische Anspielungen bei Ortsnamen oder Dingen versagt sich Lukrez nicht,25 ebensowenig wie dunkle Bilder aus der Unterwelt, die allerdings als ins Jenseits übertragene Projektionen diesseitiger Ängste gedeutet und deshalb abgelehnt werden.26 Mehrfach wird das Dasein mythischer Ungeheuer negiert, indem rationale Argumente gegen ihre Existenz vorgebracht werden (zum Beispiel in den Versen 2,700ff.; 4,732-748; 5,878-924). Andererseits gilt ihre Nichtexistenz als so offenkundig (manifestum in 2,707), daß sie einer Argumentation als Ausgangspunkt zugrundegelegt werden kann.27 Den Trojanischen Krieg jedoch, der in epischem Stil in 1,473-477 komprimiert dargestellt wird, wählt Lukrez als Beispiel für die Möglichkeit von Geschehnissen im Raum aus,28 wobei er aber eine göttliche Motivierung dieser Geschehnisse beiseite läßt; ebenso fehlt hierbei eine persönliche Stellungnahme des Dichters. Ferner dient die Opferung der Iphigenie als 23 Vgl. auch 3,14ff. (apostrophiert wird Epikur): nam simul ac ratio tua coepit vociferari / naturam rerum, divina mente coorta, / diffugiunt animi terrores, moenia mundi / discedunt etc. 24 Vgl. auch Ackermann (1979) 141ff. 25 So heißen z.B. in 5,948f. die Wälder silvestria templa [...] nympharum; in 1,722 ist Sizilien die Wohnung der vasta Charybdis, und nach Athen führt Lukrez den Leser durch die Wendung finibus in Cecropis (6,1139). Der Lorbeerbaum wird in 6,154 als Phoebi Delphica laurus bezeichnet, und in 2,505f. vertreten Phoebea [...] daedala chordis / carmina den Klang der Lyra. 26 Vgl. vor allem 3,1018ff.: at mens sibi conscia factis / praemetuens adhibet stimulos torretque flagellis […] atque eadem metuit magis haec ne in morte gravescant. Vgl. hierzu auch Ackermann (1979) 33ff. mit weiteren Stellenangaben sowie Gale (1994) 37f.93f.184f. 27 Das Gleiche gilt auch für Gestalten des Mythos wie die Giganten sowie Nestor oder Tithonos. Deren Nichtexistenz bildet die Basis der Argumentation in 1,199-204: cur homines tantos natura parare / non potuit, pedibus qui pontum per vada possent / transire et magnos manibus divellere montis / multaque vivendo vitalia vincere saecla [...]? 28 Gründe hierfür nennt Ackermann (1979) 45. Gale (1994) 95 (mit Anm. 49) betont zu Recht, daß dem Trojanischen Krieg meist historischer Charakter zugebilligt wurde.
5.8 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Lukrez
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Beispiel für die üblen Folgen der religio (V. 1,80-101). Im Rahmen dieser Argumentation hat Lukrez aus der mythischen Tradition gerade die für seine Intention wirkungsvollste Version ausgewählt, wie Erich Ackermann gezeigt hat.29 In den Enkomien auf Epikur (3,1ff. und 5,1ff.) wiederum hebt Lukrez seinen »Meister« durch den Vergleich mit den mythischen Wohltätern der Menschheit in (im euhemeristischen Sinne) mythische Höhen. »Here again, Lucretius temporarily accepts the ›rhetorical truth‹ of myth, challenging accepted morality by attacking the mythological exempla which are elsewhere used in its support«, formuliert Gale.30 Interpretatorische Probleme wirft u.a. das Proömium des Lehrgedichts auf, der wohl meistdiskutierte Teil des Werkes: Hier wird Venus nach einer langen Aretalogie angerufen, das Gedicht mit ewig währender Anmut zu beschenken (aeternum da dictis, diva, leporem, V. 28) und Rom Frieden zu gewähren, indem sie – deutlich anthropomorph – den Kriegsgott Mars beschäftigen und beschwichtigen möge (V. 31-40). Wie läßt sich dies vereinbaren mit der epikureischen Lehrmeinung, die Götter hielten sich teilnahmslos in den Intermundien auf? Wen oder was genau bezeichnet Lukrez mit Venus, falls dieses Substantiv als Symbol für etwas aufgefaßt werden soll?31 Stellt der Hymnus eventuell in erster Linie einen literarischen Rekurs auf Empedokles dar?32 Wenn auch die Ansichten in dieser Frage deutlich divergieren, lassen sich zumindest einige Erklärungsansätze für diese Gestaltung des Proömiums anführen: Da Epikur die Existenz der Götter nicht negiert, ist die Darstellung einer Göttin nicht a priori ausgeschlossen. Ferner ist auch die Tradition des Epos bzw. Lehrgedichtes zu berücksichtigen: Wer zum ersten Mal Lukrezens Werk zur Hand nahm, rechnete damit, ein Proömium traditioneller Art vorzufinden, zu dem auch eine Art von Musenoder Götteranruf gehörte. Man könnte also im Venusproömium eine capta29 Ackermann (1979) 155ff. – Aufschlußreich ist, wie Gale (1994) 96 betont, daß der Iphigeniemythos sonst in der Rhetorik gerne als Beispiel einer heroischen Selbstaufopferung herangezogen wurde (vgl. Cic. Tusc. 1,116). »As usual, Lucretius uses his opponents’ weapons against them, by showing that mythological/historical exempla can be used to overturn traditional morality as well as to reinforce it«, konstatiert Gale ebd. 30 Ebd. 97. 31 Vorgeschlagen wurden unter anderem voluptas, Dichtung, katastematisches Vergnügen und vieles andere. Nach Ackermann (1979) 185ff. sieht Lukrez in Venus die lebensspendende Kraft an sich; beeinflußt von vorsokratischem Denken (Mars-Venus ≈ νεῖκος-φιλία), schaffe Lukrez einen eigenen Mythos der Natur, der allerdings keine intentionalen Momente enthalte. Viel allgemeiner betrachtet Gale (1994) 223 Venus als »symbol for all that is positive, creative and attractive in the natural world and in man«. – Einen Überblick über die Deutungsgeschichte des Proömiums findet man bei Rumpf (2003) 15ff., der seinerseits ebd. auf S. 92 von einer »Skala von Lustformen [...] vom Akt der genitalen Vereinigung bis hin zur ästhetischen Kontemplation des Naturschönen« spricht, die Lukrez innerhalb des Proömiums auslote. 32 So Sedley (1998) 1ff.
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I. Teil: Prolegomena
tio benevolentiae sehen, ein bewußtes, strategisches Zugeständnis an Gattungskonventionen und die aus ihnen erwachsenden Erwartungen der Rezipienten.33 Solche beinahe apologetischen Reflexionen setzen allerdings voraus, daß alle Elemente des lukrezischen Werkes didaktische Intentionen verfolgen, eine Annahme, die jedoch zunächst zu beweisen wäre.34 Überdies hat das Verständnis des Echomythos (4,572-594) Schwierigkeiten bereitet: Warum malt der Dichter ihn schön und bezaubernd aus, um ihm später die vera ratio dieses akustischen Phänomens entgegenzustellen? Quellen dem Dichter Lukrez wirklich Bilder aus der Brust, die er dann als Philosoph widerlegen muß?35 Dieses Problem versucht Ackermann folgendermaßen einer Lösung zuzuführen: Der Genoszwang werde der epikureischen Lehre entsprechend ausgenutzt; die Faszination des Mythos könne psychagogisch verwendet werden, weil Lukrez selbst noch ein wenig dafür empfänglich sei, ohne daß man aber eine persönliche, existentielle Grundantinomie Dichter vs. Philosoph beim Autor konstatieren müsse.36 Nüchterner formuliert Gale: »By using mythological images in a demythologizing context, Lucretius has the best of both worlds. He retains the attractive qualities of myth while challenging its status as a vehicle for conveying truth.«37 Lukrez billigt also den Gebrauch von Dichtung und damit verbunden von Mythologie als psychagogisch-rhetorisches Mittel der »Bekehrung«, indem er per falsa ad vera führt. »He can permit himself to use its attractive powers to draw the reader to his exposition of Epicurean doctrine, provided
33
Damit gut vereinbar ist eine Beobachtung, die Gale (1994) 211f. vorträgt: »Lucretius sends us back again and again to his opening picture of Venus as beneficent controller of birth and life, by reusing the language and imagery of the hymn in different contexts. Venus is not so much eclipsed as redefined, or fragmented. Her attributes are gradually stripped from her, and given instead to the blind forces of inanimate nature.« 34 Vgl. hierzu auch Rumpf (2003) 16.72ff. 35 Diese Ansicht, im philosophischen Lukrez finde sich gewissermaßen auch ein poetischer Anti-Lukrez, geht vor allem zurück auf einen Aufsatz Marcel Patins aus dem Jahre 1868, der den programmatischen Titel »L’anti-Lucrèce chez Lucrèce« trägt und in dem Patin auf S. 127 formuliert: »On ne peut lire Lucrèce sans penser quelquefois que, par une fatale méprise, il a été détourné de sa veritable voie, qu’il était naturellement appelé vers un autre ordre de doctrines.« [zitiert u.a. bei Gale (1994) 1]. Patin rekurriert im Titel dieses Aufsatzes seinerseits auf den Begriff des »Anti-Lucretius«, den Kardinal Melchior de Polignac im 18. Jh. prägte. – Die Gegenposition zu dieser Ansicht nimmt u.a. Gale (1994) ein, indem sie die folgende These vertritt (S. 5): »The mythological passages are the product of a carefully reasoned response to the traditions of philosophical criticism and defence of myth and poetry. It can be argued that, far from exemplifying the conflict of philosophy and poetry, such passages constitute Lucretius’ most triumphant reconciliation of those old enemies.« 36 Ackermann (1979) 121. Die Forschungsgeschichte dieses Komplexes und seiner (vermeintlichen) biographischen »Verortbarkeit« dokumentiert Rumpf (2003) 23f. mit Anm. 58. 37 Gale (1994) 190f.
5.8 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Lukrez
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that he does not allow him to be deceived.«38 Kritik am Mythos übt er jedoch durch dessen Kontrastierung mit der vera ratio, durch diffidentia-Formeln wie ut famast (z.B. in 3,981) sowie durch Verweise auf die Grai poetae als Gewährsmänner. Lukrez »succeeds in rejecting myth while at the same time appropriating mythological imagery to invest his argument and the person of Epicurus with its attractive and impressive qualities«, summiert Gale treffend.39 Die komplexe, schillernde und vielfältige Haltung des Lukrez gegenüber dem Mythos läßt sich mithin unter anderem daraus erklären, daß er zwar auf den Erwartungshorizont seiner Rezipienten Rücksicht nimmt, diese aber auch mit ganz ungewohnten Ansichten konfrontiert. Demnach wird es aufschlußreich sein, Horazens Mythosgebrauch vor diesem Hintergrund zu betrachten.
38 39
Ebd. 230. Ebd. 231.
5.9 Catull Catull (ca. 84-54 v.Chr.1) findet in den Werken des Horaz nur einmal explizit Erwähnung: In sat. 1,10 wird sehr abschätzig von einem Mann als Affen gesprochen (simius iste, V. 18), der nichts gelernt habe, als die Gedichte des Calvus und des Catull abzusingen (nil praeter Calvum et doctus cantare Catullum, V. 19).2 Diese Aussage stellt aber noch kein Verdikt über Catull dar, weil man ja auch konstatieren könnte, daß etwa Gedichte Friedrich Schillers in der Schule »heruntergeleiert« werden, ohne daß man damit etwas über deren Qualität aussagte. Daß Horaz die Dichtung des etwa zwanzig Jahre älteren Neoterikers gekannt hat,3 legen schon bloße Wahrscheinlichkeitsüberlegungen nahe.4 Horaz ist ebenso wie Catull u.a. ein lyrischer Dichter; er steht also gewissermaßen in der gleichen Gattungstradition.5 Ein Zusammenhang wird aber noch deutlicher, wenn man z.B. Horazens Ode 1,21 (Dianam tenerae dicite virgines etc.) betrachtet, welche offensichtlich von Catulls Dianahymnus (c. 34: Dianae sumus in fide etc.) beeinflußt ist.6 Auch dadurch, daß Horaz den langen und mühsamen, da »handwerklich« anspruchsvollen Produktionsweg für Gedichte empfiehlt, schließt er sich partiell der neoterischen Tradition an.7 Deshalb dürfte ein Blick auf Catulls Mythengebrauch im Rahmen dieser Untersuchung aufschlußreich sein.
1 Die genauen Lebensdaten sind bekanntlich umstritten; hierauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. dazu aber z.B. Schmidt (1985) 53ff. 2 Wehrli (1944) 71.73 spricht von »böse[n] Worten über Nachäffer« und sieht demnach hierin die Verspottung epigonaler Neoteriker. 3 Shackleton Bailey (1982) 46 trennt korrekt die Frage der Wertschätzung von der Frage der Kenntnis: »Catullus, with whose work Horace was certainly well acquainted, however much or little he admired it«. 4 Vgl. auch im I. Teil, Kap. 5.7, Anm. 6 auf S. 109. 5 Allerdings artikuliert Horaz in carm. 3,30 den Anspruch, als erster äolische Versmaße in die lateinische Literatur übertragen zu haben (V. 10ff.: dicar [...] princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos). 6 Vgl. z.B. Nisbet/Hubbard (1970) 254 und Oksala (1973) 32f. – Weitere Untersuchungen zum Verhältnis Catull/Horaz haben unter anderem Gilbert (1937), Ferguson (1956), Crowther (1978), McDermott (1981, mit einem Überblick über die ältere Forschungsdebatte), Putnam (2006) und Tarrant (2007) 69-71 vorgelegt. 7 Hor. ars 388: [carmen] nonumque prematur in annum; Catull hatte in c. 95,1ff. verkündet: Zmyrna mei Cinnae nonam post denique messem / quam coepta est nonamque edita post hiemem [...].
5.9 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Catull
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Typische Bauformen antiker Hymnen weist das eben schon angesprochene c. 34, ein Chorlied für Diana, auf, wie die folgenden Ausschnitte zeigen: Dianae sumus in fide puellae et pueri integri:
puellaeque canamus. 5
13 15 22
o Latonia, maximi magna progenies Iovis, quam mater prope Deliam deposivit olivam, [...] tu Lucina dolentibus Iuno dicta puerperis, tu potens Trivia [...] Romulique, antique ut solita es, bona sospites ope gentem. In Dianas Schutz sind wir unberührten Mädchen und Jungen:
und Mädchen besingen!
5
13 15 22
Tochter der Latona, des Juppiter Maximus bedeutendes Kind, das die Mutter beim delischen Ölbaum gebar, [...] du bist Juno Lucina von den Gebärenden im Schmerz genannt worden, du [bist] mächtige Trivia [genannt worden ...] und des Romulus’ Volk mögest du, wie du es seit alters her gewohnt warst, mit guter Hilfe behüten!
Mädchen und Jungen, die sich im Schutze (fide, V. 1) der Diana wähnen, rufen die Göttin – dem Schema der πολυωνυμία entsprechend – unter Verwendung verschiedener Periphrasen an, in denen ihre Genealogie und ihre Geburtsgeschichte zum Ausdruck kommen (V. 5ff.). Zugleich werden mehrere Machtbereiche Dianas thematisiert, in denen sie unter verschiedenen Namen wirkt (V. 9 ff.). Hierbei konstituieren anaphorische Du-Prädikationen ein Nahverhältnis der Sprecher zur Göttin. Das Gedicht schließt unter
128
I. Teil: Prolegomena
Verweis auf das bisherige segensreiche Verhalten Dianas (antique ut solita es, V. 23) mit der Bitte, das römische Volk zu behüten. Über den Gestaltungswillen, der hinter diesem mit traditionellen griechischen, aber auch mit unkonventionellen Zügen geformten8 Gedicht steht, ist kontrovers diskutiert worden, ebenso über den Rahmen seiner Darbietung: Handelt es sich um einen »Gebrauchstext«, den Catull für die kultische Praxis verfaßt hat, so daß eine Manifestation echter römischer Religiosität vorläge?9 Andere Forscher betonten primär die Literarizität des Hymnus, indem sie unter anderem darauf verwiesen, daß auch der frühgriechische Lyriker Anakreon einen im selben Versmaß abgefaßten Hymnus auf Artemis gedichtet hatte (fr. 3/348).10 Ferner ist bei der Interpretation zu bedenken, daß Catull in mehreren Gedichten hymnische resp. sakrale Elemente in ironischer Brechung verwendet.11 Das berühmteste mythologische Gedicht Catulls ist das Epyllion (c. 64), in welchem in den Rahmen der Hochzeit von Peleus und Thetis der Mythos von Theseus und Ariadne sowie deren Rettung durch Bacchus in Form der Ekphrasis einer Decke eingefügt ist. Da dieses Gedicht wohl zu den meistkommentierten und zugleich umstrittensten Texten der antiken Literatur gehört, können im Folgenden nur einige zentrale, für die vorliegende Fragestellung besonders bedeutsame Aspekte angesprochen werden. Carmen 64 beginnt mit einer knappen Skizze von Anlaß und Beginn der Argonautenfahrt (V. 1-18), um schnell zu dem für die Handlung des Epyllions entscheidenden Punkt vorzustoßen: Peleus verliebt sich in die Nereide Thetis (V. 19-21; diese Verse sind durch die Anapher von tum und das Polyptoton von Thetis eng miteinander verzahnt). Hieran schließt sich eine preisende Apostrophe an die Heroen der Vorzeit an, die der Sprecher als wesentliches Thema seines Werkes anredet (vos ego saepe, meo vos carmine compellabo, V. 24).12 Mit Vers 31 beginnt die Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten von Peleus und Thetis. Unter den vielen Preziosen im Palast sticht eine reich verzierte Decke besonders hervor, welche die heroum [...] virtutes mit 8
Vgl. dazu z.B. Syndikus (1984) 194-199. Granarolo (1967) 69f. hebt den »vieux fond religieux romain« des Gedichtes hervor; Befürworter der Situierung im Kult verzeichnet Syndikus (1984) 199, Anm. 37, der sich jedoch gegen eine solche Annahme wendet. Auch Della Corte (1977) 263 und Fordyce (1990) 171 lehnen die »Kultthese« mangels innerer und äußerer Belege ab. Weitere Literatur (mit Referat der jeweiligen Argumente) bietet Thomson (1997) 290ff. 10 So z.B. Syndikus (1984) 194.198f. 11 Vgl. hierzu z.B. Németh (1976) 38 und Munzi (1993). Zum Hymnus bei Catull generell vgl. La Bua (1999) 116ff. 12 Apostrophen verwendet der Sprecher in c. 64 mehrfach, um ein Nahverhältnis zu Figuren der Handlung zu schaffen, so z.B. in V. 25ff. (Peleus), 69 (Theseus), 71 (Ariadne), 95ff. (Amor und Venus), 253 (Ariadne) sowie 299 (Apollon), worin Syndikus (1990) 102 einen hellenistischen Zug sieht. 9
5.9 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Catull
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wundersamer Kunstfertigkeit darstellt (V. 51f.). In Form einer Ekphrasis werden nun Ereignisse aus dem Mythos von Theseus und Ariadne geschildert (V. 52-264), wobei die Darstellung, die nicht der »natürlichen« Chronologie folgt, auch akustische Phänomene wie Reden und Musik miteinbezieht und somit den Rahmen des imaginierten Mediums (bildliche Darstellung) transzendiert. Vers 265 führt wieder zurück nach Thessalien in den Palast des Peleus, den die Menschen nun verlassen, bevor die unsterblichen Hochzeitsgäste eintreffen. Unter diesen befinden sich auch die Parzen, deren Epithalamium Peleus Eheglück verheißt und ihm die Taten seines noch ungeborenen Sohnes Achill vor Augen stellt (V. 323-381). An zwei das Lied beschließende resümierende Verse ist ein Epilog angefügt, welcher die Verhältnisse zur Heroenzeit mit den Gegebenheiten zur Zeit des Sprechers kontrastiert: 385
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praesentes namque ante domos invisere castas heroum, et sese mortali ostendere coetu, caelicolae nondum spreta pietate solebant. saepe pater divum […] [...] conspexit terra centum procumbere tauros. [...] sed postquam tellus scelere est imbuta nefando iustitiamque omnes cupida de mente fugarunt, perfudere manus fraterno sanguine fratres, [...] omnia fanda nefanda malo permixta furore iustificam nobis mentem avertere deorum. quare nec talis dignantur visere coetus, nec se contingi patiuntur lumine claro. Persönlich nämlich besuchten zuvor gewöhnlich die Himmelsbewohner die unbescholtenen Häuser der Heroen, und sie zeigten sich häufig sterblicher Zusammenkunft, als Frömmigkeit noch nicht verachtet war. Oft hat der Vater der Götter [...] [...] gesehen, daß hundert Stiere auf die Erde niederfielen. [...] Aber nachdem die Erde mit unsäglichem Verbrechen getränkt worden war und alle die Gerechtigkeit aus ihrem gierigen Sinn vertrieben hatten, übergossen ihre Hände mit Brüderblut Brüder, [...] Daß alles Recht und Unrecht in schlimmer Raserei vermischt worden ist, hat den Gerechtigkeit liebenden Sinn der Götter von uns abgewandt.
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I. Teil: Prolegomena Deshalb geruhen sie nicht [mehr], solche Zusammenkünfte zu besuchen, und sie dulden es nicht [mehr], im hellen Licht13 berührt zu werden.
An die Erzählung mythischer Ereignisse schließt sich hier eine präsentische Aussage an, für die der Sprecher offenbar Gegenwartsgültigkeit beansprucht und in die er sich selbst und wohl auch die Rezipienten (nobis, V. 406) miteinbezieht: Seine eigene Zeit ist – im Gegensatz zum Heroenzeitalter – maßgeblich von Verbrechen, Unrecht und furor geprägt.14 Zentrale Themen der Forschungsdiskussion sind mithin die persona des Sprechers,15 die Darstellung des Heroenzeitalters,16 der Zusammenhang des Schlusses mit dem Gedichtganzen, Abweichungen vom traditionellen Mythos17 und die hinter diesem Epyllion stehende Intention des Autors.18 Das Gedicht 63 schließt nach der kunstvollen, auf mythische Elemente nicht verzichtenden Erzählung19 vom grausamen Schicksal des Attis mit
13 Denkbar wäre auch die Auffassung von lumine als »Augenlicht«; vgl. zu dieser Frage Lossau (1996). 14 Offenkundig ist die Darstellung einer Deszendenzvorstellung verpflichtet, wie sie auch Hesiod in seinem Weltaltermythos (Erga 106-201) und in hellenistischer Zeit Arat (96ff., allerdings ohne Heroenzeitalter) vertreten. Vgl. dazu Luck (1976), der zusätzlich auf vergleichbare Stellen in den Ehoien verweist, Fabre-Serris (1998) 28f. sowie Marinčič (2001) mit weiterer Literatur. 15 Holzberg (2002) 133 vermutet einen »epischen Erzähler«, der »mit Zügen einer ›männlichen Sappho‹ ausgestattet« sei; ebd. auf S. 147 spricht er gar von einer »komische[n], ja skurrile[n] Erzählerfigur«. 16 Stoevesandt (1994-95) 167ff. untersucht verschiedene Passagen der Ilias, die Catull wohl als Referenztexte dienten, und kommt zu dem Schluß, daß auch das in der Forschung meist uneingeschränkt positiv beurteilte Heroenzeitalter in c. 64 ambivalent dargestellt wird. Eine sehr differenzierte Beurteilung des Heroenzeitalters erarbeitet Schmitz (2006) 93ff. 17 Hervorzuheben ist u.a., daß bei Catull Thetis sich nicht wie sonst gegen die Vermählung wehrt (tum Thetis humanos non despexit hymenaeos, V. 20; anders z.B. in Hom. Il. 18,434: πολλὰ μάλ’ οὐκ ἐθέλουσα), sowie Apollons und Dianas Absenz bei der Hochzeit (vgl. dagegen z.B. Hom. Il. 24,55ff.). Vgl. hierzu z.B. Forsyth (1976) 563f. sowie Thomson (1997) 389. Syndikus (1990) 114ff. vermutet für einige catullische Mythenvarianten verlorene griechische Quellen. 18 Im Kontrast zu Auffassungen v.a. des 19. Jh.s, welche c. 64 Unpersönlichkeit bzw. artifiziellen Charakter vorwerfen, sieht Klingner (1956) 210f. in der Hochzeit von Peleus und Thetis »ein mythisches Gleichnis seiner [= Catulls] Liebe, göttliche Erfüllung, im Sagenbild über eigener Lust und eigenem Leid aufgerichtet«; Forsyth (1976) 562 hingegen beobachtet im Verhältnis Theseus/Ariadne einen Reflex der Beziehung zwischen Lesbia und Catull. Granarolo (1967) 153 sieht in c. 64 insgesamt »non seulement un hommage à l’amour idéal [...], mais encore un hommage à la fides idéale«. Holzberg (2002) 147f. wiederum vertritt die Ansicht, der Sprecher habe an Achill Züge hervorgehoben, die auch Lesbia eigen seien, und so habe Catull vor allem einen komischen Effekt erzielen wollen. Schmidt (1985) 77 formuliert aporetisch: »wir verstehen c.64 nicht«. 19 So wird z.B. der Tagesanbruch in mythischer Form geschildert: sed ubi oris aurei Sol radiantibus oculis / lustravit aethera album, sola dura, mare ferum, / pepulitque noctis umbras vegetis sonipedibus (V. 39-41), ebenso das Entweichen des Schlafes (V. 42f.). Zur Gestaltung der Erzählung im Einzelnen vgl. Syndikus (1990) 80ff.
5.9 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Catull
131
einem Gebet an die Magna Mater, in dem der Sprecher20 einen persönlichen Wunsch formuliert (V. 91-93): dea, magna dea, Cybebe, dea domina Dindymi, procul a mea tuos sit furor omnis, era, domo: alios age incitatos, alios age rapidos. Göttin, große Göttin, Kybebe, Göttin, Herrin von Dindymos, weit enfernt von meinem Hause sei all dein Rasen, Gebieterin: Andere treibe umher in Aufregung, andere treibe umher in Raserei!
In Form einer »Epipompe« fleht der Sprecher in feierlichem, von asyndetischer Namensreihung, Anaphern und Alliterationen geprägtem Ton darum, daß die Göttin, die er demütig als »Gebieterin« bezeichnet, ihn selbst nicht in ihr ekstatisches Treiben einbeziehe. Obgleich verschiedene Interpretationsansätze denkbar sind,21 erscheint es jedoch, wie z.B. Hans Peter Syndikus gezeigt hat, problematisch, im Schicksal des Attis ein allegorisches Abbild autobiographischer Ereignisse Catulls zu sehen.22 Abgesehen von den bereits dargestellten Formen, verwendet Catull Mythen vor allem, um Erfahrungen aus seiner eigenen Lebenswelt (vorsichtiger formuliert: aus der Lebenswelt des Sprechers) auszudrücken.23 In der Alliuselegie wird zwischen Lesbia, der Geliebten Catulls, und Laodamia, der Gattin des Protesilaos,24 eine deutliche Parallele konstruiert,25 die ein hohes Lob für Lesbia darstellt (c. 68,70-76.131-134): 70
75
quo mea se molli candida diva pede intulit et trito fulgentem in limine plantam innixa arguta constituit solea, coniugis ut quondam flagrans advenit amore Protesilaeam Laudamia domum inceptam frustra, nondum cum sanguine sacro hostia caelestis pacificasset eros. […]
20 Ob der Dichter hier in eigener Person spricht, wie Syndikus (1990) 95 glaubt, bleibe dahingestellt. 21 Für Holzberg (2002) 130f. z.B. sind Erzählung und Schlußgebet deutlich von komischen Elementen geprägt, während Thomson (1997) 385 von »deep passion« innerhalb einer »instance of Alexandrian technique« spricht. Forsyth (1976) 557f. wiederum vertritt die Ansicht, Attis sei »in his mental state« und seiner »psychological experience of his mind« mit Catull gleichzusetzen. 22 Syndikus (1990) 98f.; ebd. findet man auch bibliographische Angaben zu Vertretern dieser Ansicht. 23 Vgl. dazu z.B. Schäfer (1966) 68-72. 24 Nach Schäfer (1966) 68 die »leidenschaftlichst liebend[e] Frau des antiken Mythos«. Lieberg (1962) 231 differenziert: »Laodamia ist aber für Catull nicht nur die große Liebende, sie ist auch die große Frevlerin gegen göttliche Satzungen, indem sie das Hochzeitsopfer unterläßt.«; hierin sieht ders. einen spezifisch römischen Zug der Gestaltung (ebd. 238). 25 Ausführlich hierzu Lieberg (1962) 218ff. und Syndikus (1990) 275ff.
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I. Teil: Prolegomena
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aut nihil aut paulo cui tum concedere digna lux mea se nostrum contulit in gremium, quam circumcursans hinc illinc saepe Cupido fulgebat crocina candidus in tunica.
70
Dorthin begab sich meine strahlend weiße Göttin mit zartem Fuß, und sie setzte auf die abgenutze Schwelle ihre glänzende Fußsohle, gestützt auf die knarrende Sandale, wie einst lodernd vor Liebe zum Gatten Laodamia kam zum Haus des Protesilaos, dessen Bau vergeblich begonnen worden war, weil noch nicht mit heiligem Blut das Opfertier die himmlischen Herren besänftigt hatte. [...] Entweder gar nicht oder nur ein wenig dieser nachzustehen würdig, begab meine Geliebte – mein Licht – sich damals auf unseren Schoß; während hier und dort oft Cupido um sie herumlief,26 glänzte er, strahlend weiß in einer gelben Tunika.
75
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»Catull hebt hier das Erlebnis seiner Liebe in die absolute Sphäre der Dichtung und des Mythos«, formuliert Eckart Schäfer;27 noch weiter geht Ernst August Schmidt: »Der Mythos als Paradigma dient als Mittel, die eigene Welt zu deuten.«28 In den Vergleich Lesbias mit Laodamia ist eine weitere Parallelisierung von persönlichem Schicksal und Mythos eingelegt: Auch Catulls Bruder starb in Troja, an dem Ort, an welchem viele mythische Kämpfer im Trojanischen Krieg den Tod fanden.29 Darüber hinaus ist ein mythisches Aition in die Passage eingefügt: Laodamia sei im Wirbel der Liebe (vertice amoris, V. 107) in einen jähen Abgrund (in abruptum [...] barathrum, V. 108) gerissen worden, der an einen Kanal in Arkadien erinnere, welchen Herakles im Laufe seiner ἆθλα angelegt habe (V. 107ff.). Catull versäumt es nicht, bei dieser Gelegenheit auch Herakles’ Kampf gegen die stymphalischen 26 Durch diese Ausdrucksweise wird Lesbia gleichsam mit Venus identifiziert, da Cupido eigentlich der Begleiter der Liebesgöttin ist; so z.B. auch Lieberg (1962) 246ff., der zusätzlich (ebd. 249f.) in der Farbe der Tunika (crocina [...] in tunica, V. 134) einen Hinweis auf den Hochzeitsgott Hymenaeus vermutet. 27 Schäfer (1966) 68. 28 Schmidt (1985) 100; ähnlich schon Lieberg (1962) 226: »Die Gestalt Laodamias und ihr Schicksal sollen dem Dichter dazu verhelfen, die Grunderlebnisse seines eigenen Lebens dadurch zu verstehen, daß sie der alles menschliche Geschehen archetypisch begründenden Bilderwelt des Mythos zugeordnet werden.« – Whitacker (1983) 59ff. führt neben den explizit genannten Vergleichspunkten noch weitere auf, u.a. auch Parallelen zwischen Catull und Laodamia. Vgl. ferner Cairns (2003) 167-176, der die Verknüpfung mythischer, historischer und literarischer Motive in c. 68 untersucht. 29 Nam tum Helenae raptu primores Argivorum / coeperat ad sese Troia ciere viros, / Troia (nefas!) commune sepulcrum Asiae Europaeque, / Troia virum et virtutum omnium acerba cinis, / quaene etiam nostro letum miserabile fratri / attulit (V. 87ff.).
5.9 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Catull
133
Vögel und seine spätere Ehe mit der Göttin Hebe zu erwähnen (V. 113116). Allerdings ruft sich der Sprecher noch im gleichen Gedicht wieder selbst zur Ordnung: Es sei nicht recht, Götter mit Menschen zu vergleichen (atqui nec divis homines componier aequum est, V. 141), was jedoch keine Maxime ist, der Catull durchgängig folgte.30 Somit ergibt sich ein komplexes Geflecht aus persönlichen Erlebnissen des Sprechers und verschiedenen mythischen Ereignissen. Außerhalb der carmina maiora werden Mythologeme von Catull sparsam dosiert eingesetzt; wenn sie auftreten, beziehen sie sich fast immer auf des Sprechers eigene Situation. So identifiziert er sich in c. 58b humorvoll mit schnellen, zum Teil flugfähigen mythischen Wesen, in c. 102 jedoch mit (H)arpokrates, dem ägyptischen Gott des Schweigens. Auffällig ist, daß sich Catull vor allem mit weiblichen Gestalten vergleicht:31 bezüglich seiner Nachsichtigkeit mit Juno, hinsichtlich seiner Freude mit Atalante, bezüglich seiner Trauer mit Prokne beziehungsweise der Schwalbe.32 Von anderer Art wiederum ist der indirekte Vergleich, den der Sprecher in c. 70 referiert: nulli se dicit mulier mea nubere malle / quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat (V. 1f.). Dieser Ausspruch der mulier stellt ein hohes Lob für ihren Geliebten dar, kommt ihm doch in ihren Augen nicht einmal Juppiter gleich.33 Einen Sonderfall stellt c. 88 dar, das einzige Gedicht innerhalb der Epigramme, das ein ausgedehnteres Mythologumenon aufweist. Hier wird Gellius, Ziel catullischen Spottes auch in anderen Gedichten, des sexuellen Verkehrs mit seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Tante bezichtigt (V. 1-3). Im Folgenden wird die Ungeheuerlichkeit dieser Taten in hohem Pathos geschildert: Es handle sich um ein Verbrechen, quantum non ultima Tethys / nec genitor Nympharum abluit Oceanus (V. 5f.). Daß eine Befleckung durch Verbrechen auch durch große Wassermassen nicht abgewa30
Weitere mythische Elemente in c. 68 hebt Granarolo (1974) 206ff. hervor. Schäfer (1966) 70 präzisiert: »[Catull vergleicht sich] nicht eigentlich mit Frauen [...], sondern mit der seelischen Haltung, für die sie stehen. Sie alle sind Liebende«. Ders. sieht sich allerdings ebd. genötigt, den Dichter in Schutz zu nehmen: »Man darf diese wenigen, Tiefstes aussagenden Vergleiche nicht als Zeichen einer Abnormität deuten«. Überdies führt ders. ebd. auf den Seiten 70f. zahlreiche Stellen aus der antiken Dichtung an, in denen Männer mit mythischen Frauen verglichen werden. 32 Juno: c. 68,137-140: ne nimium simus stultorum more molesti. / saepe etiam Iuno, maxima caelicolum, / coniugis in culpa flagrantem concoquit iram, / noscens omnivoli plurima furta Iovis, vgl. hierzu Lieberg (1962) 259f. – Atalante: c. 2b: tam gratum est mihi quam ferunt puellae / pernici aureolum fuisse malum, / quod zonam solvit diu ligatam, vgl. hierzu Lieberg (1962) 99ff. und Johnson (2003-04). – Prokne: c. 65,12-14: semper maesta tua carmina morte canam, / qualia sub densis ramorum concinit umbris / Daulias, absumpti fata gemens Ityli. 33 Daß dieser hyperbolische Vergleich (vgl. hierzu im II. Teil Kap. 1.5) jedoch nicht ernst zu nehmen ist, heben die beiden folgenden Verse hervor. Vielleicht liegt eine Pointe auch darin, daß Juppiter sich im Mythos durchaus auch für verheiratete Frauen interessiert, daß die Aussage der mulier mithin vielleicht nicht so ausschließlich ist, wie es zunächst den Anschein hat. 31
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I. Teil: Prolegomena
schen werden kann, ist, wie viele Kommentatoren gezeigt haben, ein geläufiger Topos. Stephen Harrison jedoch hat darauf aufmerksam gemacht, worin die Pointe dieser hyperbolischen, mit anthropomorphen Meeresgöttern operierenden Feststellung besteht: Okeanos und Thetys haben gemeinsam viele Nachkommen (genitor Nympharum, V. 6; vgl. Hes. theog. 337ff.), sind aber beide Kinder des Uranos und der Gaia (vgl. Hes. theog. 133.136), so daß sie ebenfalls ein inzestuöses Paar darstellen,34 was unter anthropomorphen Göttern allerdings bekanntlich nicht allzu selten vorkommt. Innerhalb der mythischen Passagen legt Catull keinen Wert auf eine vollständige lineare Erzählung.35 Vielmehr werden einzelne Aspekte des Mythos betont, die der Sprecher aus seiner persönlichen Situation heraus deutet. Auch erlaubt er es sich, einzelne Punkte des Mythos umzudeuten und sie so seiner eigenen Lage anzupassen: Zum Beispiel duldet Juno in Catulls Darstellung Juppiters Seitensprünge – wie Catull die Lesbias. Durch die Modifizierung traditioneller Details des Mythos erzielt Catull gar völlige Übereinstimmung zwischen seiner eigenen Situation und der Lage von Hippomenes und Atalante.36 Mit Jean Granarolo läßt sich demnach »l’acclimatation du mythe à la réalité intérieure« als einer der entscheidenden Aspekte des catullischen Mythengebrauchs namhaft machen.37 Catull gibt der Entwicklung des Mythos in der römischen Literatur also wichtige Impulse, so daß seine Werke bei der Suche nach möglichen Praetexten für Horazens Mythologumena besondere Berücksichtigung verdienen.
34 Harrison (1996). – Zugleich ist darauf hinzuweisen, daß Catull hier den mythischen Eigennamen Oceanus zugleich metonymisch als Bezeichnung für das Meer in concreto verwendet. Vgl. hierzu im II. Teil Kap. 1.2 und 1.4. 35 Dies zeigt sich sehr deutlich z.B. im Peleusepyllion (c. 64), vgl. dazu oben S 128ff. 36 Vgl. Schäfer (1966) 69: »In all diesen Beispielen wird der Mythos, bisweilen nicht ohne Eingriffe, vom persönlichen Anliegen aus gedeutet und diesem angepaßt.« 37 Granarolo (1967) 108ff.
5.10 Vergil Vergil (70-19 v.Chr.), der neben Horaz wohl bedeutendste augusteische Dichter, darf in diesem Überblick nicht fehlen, obwohl man in Anlehnung an Sallust sicherlich auch formulieren könnte: de Vergilio silere melius puto quam parum dicere.1 Beide Dichter gehörten zum Kreise des Maecenas und waren durch eine enge Freundschaft miteinander verbunden, wie zum Beispiel carm. 1,3 bezeugt, wo Horaz ein Schiff um sicheren Transport des Vergil bittet, welchen er als animae dimidium meae bezeichnet (V. 8).2 Auch zahlreiche andere Stellen des horazischen Œuvres zeigen, wie eng die Verbindung zwischen den beiden Dichtern war.3 Abgesehen von diesen expliziten Verweisen auf die Person Vergils zeigen einige Horazpassagen deutliche Berührungspunkte mit vergilischen Konzepten. Als hervorragende Beispiele seien Horazens 16. Epode und Vergils 4. Ekloge genannt, deren Prioritätsverhältnis noch immer heftig diskutiert wird, oder Horazens carm. 1,2, das Anklänge an das Finale des ersten vergilischen Georgica-Buches aufweist.4 Ein Blick auf den Mythos bei Vergil erscheint demnach im Rahmen dieser Untersuchung unumgänglich. In den Eklogen bilden Mythen teilweise den Inhalt von Hirtengesängen. So singen zum Beispiel in der 5. Ekloge die Hirten Menalcas und Mopsus vom Tode des übermenschlichen Hirten Daphnis, eines Hermessohnes.5 In der 6. Ekloge wird eine ganze Reihe von mythischen Themen dargestellt, die Silen besingt, nachdem er von Chromis und Mnasyllos in eine mißliche Lage gebracht worden ist. Nach einer kosmogonischen Einleitung singt er, wie der Sprecher referiert, von Pyrrha, Prometheus und von Herakles’ Freund Hylas, von Pasiphae und Atalante ebenso wie von den Töchtern Phaetons und von Philomela. In dieser Reihe mythischer Figuren findet sich auch der römische Elegiker Cornelius Gallus, der zu seiner Dichterweihe geführt wird (ecl. 6,64ff.): 1
Sall. Iug. 19,2: nam de Carthagine silere melius puto quam parum dicere [...]. Unklar ist, ob der in carm. 4,12,13 genannte Vergil mit dem Dichter identisch ist. Es scheint sich bei diesem Vergil aber eher um einen Kaufmann zu handeln (vgl. V. 21f.: cum tua / velox merce veni!). 3 Zum Beispiel sat. 1,5,39ff.48; 1,6,54f. (optimus olim / Vergilius); 1,10,44f.81ff.; carm. 1,24,10; epist. 2,1,247; ars 53ff. 4 Diese Anklänge werden detaillierter im II. Teil, Kap. 7.8 untersucht. – Zum Verhältnis Vergil/Horaz vgl. z.B. Buchheit (1985,1988, 2001, 2001a), Della Corte (1987), Setaioli (2006) sowie Tarrant (2007) 72-74. 5 Zu diesem Gedicht vgl. z.B. Klingner (1967) 90ff., Leach (1974) 182ff. sowie von Albrecht (2006) 25f. Zur Frage, ob Daphnis eine historische Person symbolisiert, vgl. z.B. Baudy (1993) 311ff. mit weiterer Literatur. 2
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I. Teil: Prolegomena
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tum canit, errantem Permessi ad flumina Gallum Aonas in montis ut duxerit una sororum, utque viro Phoebi chorus adsurrexerit omnis;
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Dann singt er davon, wie den Gallus, als er an den Fluten des Permessos entlang irrte, in die aonischen Berge eine der [Musen-]Schwestern führte, und wie sich vor dem Mann Phoebus’ ganzer Reigen erhob;
Der Sprecher macht hier keinen Unterschied zwischen mythischer und zeitgenössischer Welt; Gallus ist offenbar in der Welt des Mythos kein Fremdkörper.6 Ein ähnlicher Eindruck entsteht in der 10. Ekloge, einem »Dialog zwischen der Bukolik und der Elegie«.7 Hier ist es wiederum Gallus, der von Apollon, Silvanus und Pan besucht wird, wobei der Sprecher bei letzterem betont, er selbst habe ihn gesehen (V. 26f.: Pan deus Arcadiae venit, quem vidimus ipsi / sanguineis ebuli bacis minioque rubentem). Die drei Götter kommen zu Gallus, um ihn in seinem Liebeskummer zu trösten, was abermals dessen Bedeutung für die Welt des (imaginierten) Mythos unterstreicht. So entsteht in den Eklogen eine eigentümliche Atmosphäre, die Vicente Cristóbal López als »inestricabile mescolarsi di realtà e invenzione poetica« charakterisiert.8 Vergils Neigung zu aitiologischen Angaben, die auch schon in den Eklogen sichtbar ist,9 tritt in seinem Gedicht vom Landbau, den Georgica, noch deutlicher hervor. Dies zeigt sich schon im Proömium des Werkes, wo verschiedene Götter im Zusammenhang mit ihren für den Landbau wichtigen Erfindungen bzw. kulturellen Errungenschaften apostrophiert werden (georg. 1,7ff.): 7
12
Liber et alma Ceres, vestro si munere tellus Chaoniam pingui glandem mutavit arista, poculaque inventis Acheloia miscuit uvis; [...] tuque o, cui prima frementem fudit equum magno tellus percussa tridenti, Neptune; etc.
6 Zur Auswahl der besungenen Themen (vielleicht Stoffe des Cornelius Gallus?) vgl. z.B. Klingner (1967) 106ff. und von Albrecht (2006) 27f. Zusammenhänge zwischen den mythischen und den wissenschaftlichen Passagen der 6. Ekloge erhellt Paschalis (2001). 7 Vgl. z.B. Leach (1974) 158ff.; eine umfassende Analyse dieses Gedichtes hat Rumpf (1996) vorgelegt. 8 Cristóbal López (1987) 549. – Vgl. dazu auch im II. Teil Kap. 6.5. 9 So kommt z.B. Corydon, ein verliebter Hirt, in seinem Monolog in der 2. Ekloge darauf zu sprechen, daß die Hirtenflöte von Pan erfunden wurde (V. 32f.): Pan primum calamos cera coniungere pluris / instituit [...]. – In ecl. 10,17f. wird eine Tätigkeit in der (imaginierten) Gegenwart durch den Verweis auf mythische Vorgänger legitimiert: nec te paeniteat pecoris, divine poeta: / et formosus ovis ad flumina pavit Adonis.
5.10 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Vergil
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Liber und du, gnädige Ceres, wenn durch euer Geschenk die Erde die chaonische Eichel mit der üppigen Ähre vertauscht hat und acheloische Becher mit den entdeckten Trauben vermischt hat; [...] und du, Neptun, für den als erste das schnaubende Pferd hervorbrachte die Erde, vom großen Dreizack durchbohrt, etc.
7
12
Zivilisatorische Fortschritte werden also ganz bestimmten Göttern zugeschrieben, wobei das Konzept des πρῶτος εὑρετής im Hintergrund steht.10 Aber auch Unannehmlichkeiten des menschlichen Lebens wie Mühe und Arbeit erscheinen in Vergils Darstellung als mythisch motiviert und deshalb als sinnvoll und richtig. Juppiter selbst hat die Verhältnisse so eingerichtet, wie sie sich in der Gegenwart zeigen (georg. 1,121ff.): pater ipse colendi haud facilem esse viam voluit, primusque per artem movit agros, curis acuens mortalia corda nec torpere gravi passus sua regna veterno. ante Iovem nulli subigebant arva coloni: [...] ille malum virus serpentibus addidit atris praedarique lupos iussit pontumque moveri, [...] ut varias usus meditando extunderet artis paulatim, [...] [...] tum variae venere artes. labor omnia vicit improbus et duris urgens in rebus egestas.
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Der Göttervater selbst wollte, daß der Weg des Landbaus nicht leicht sei, und er ließ als erster durch Kunst die Felder aufpflügen, indem er durch Sorgen die Herzen der Sterblichen anstachelte und nicht zuließ, daß sein Reich in schwerer Trägheit erstarrte. Vor Juppiter brauchten keine Bauern die Fluren zu unterwerfen: [...] Jener [= Juppiter] gab das üble Gift den schwarzen Schlangen hinzu und befahl den Wölfen, Beute zu machen, und dem Meer, sich heftig zu bewegen, [...] damit das Bedürfnis die verschiedenen Künste durch Nachdenken allmählich herausbildete, [...]. [...]
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133
10
Zu den möglichen Quellen und Praetexten, auf die Vergil für seine Versionen zurückgreift, vgl. Frentz (1967) 6ff.
138 145
I. Teil: Prolegomena Dann erst kamen die verschiedenen Künste. Rastlose Mühe hat alles besiegt und Armut, drückend in beschwerlicher Lage.
Diese Passage,11 in der Vergil eine aitiologische »Theodizee der Arbeit« formuliert, macht es verständlich, warum der Mensch überhaupt seinen Lebensunterhalt mit Mühe und harter Arbeit (labor improbus)12 verdienen muß: Erst das Bedürfnis, der usus, hat dazu geführt, daß artes (im gleichen weiten Sinne wie griech. τέχναι) ersonnen wurden, und dieser erzwungene Forscherdrang hat dem veternus, der dumpfen Lethargie, entgegengewirkt. Ein mythisches Ereignis der Vergangenheit hat also die gegenwärtigen Verhältnisse verursacht.13 Wie sich diese Konzeption mit Vergils Vorstellung vom Goldenen Zeitalter vereinbaren läßt, wird am Ende dieses Kapitels zu zeigen sein. In den Georgica finden sich aber auch viele mythische Anspielungen oder Umschreibungen, die zwar auch aitiologischen Charakter aufweisen, aber kaum zur Vertiefung oder Untermauerung des Hauptgedankens beitragen. Diese gelehrten Allusionen begegnen bei Ortsangaben und Pflanzen ebenso wie bei Tieren und Sternen; sie stellen sich gewissermaßen als Assoziationen ein.14 Die Bewertung solcher Anspielungen kann nur von Einzelfall zu Einzelfall erfolgen; generell kann man aber wohl annehmen, daß derartige mythische Elemente in den Georgica teils vertiefenden, teils unterhaltenden Charakter haben.15 Gelegentlich untermauert Vergil in diesem Werk seine für die Gegenwart ausgesprochenen Gedanken durch Hinweise auf den Mythos.16 Neben einer 11 Zu ihrer Motivik und ihren Einzelzügen sei auf Erren (2003) 79ff. verwiesen; Gale (1995) 40ff. stellt intertextuelle Bezüge zu Hesiod und Lukrez dar. Dies. zeigt ebd., daß Vergil in den Georgica mehrfach Passagen aus Lukrez einer »remythologization« unterzieht. Ob seine Intention dabei aber »to blur and problematize the clear and certain contours of the Epicurean universe« (ebd. 45) ist, sei dahingestellt. 12 Zu dieser schwierigen Junktur vgl. z.B. Erren (2003) 101 zur Stelle mit weiterer Literatur; die Bedeutung des labor in der Aeneis hat Bruck (1993) analysiert. 13 Zur (scherzhaften) Aitiologie bei Horaz vgl. im II. Teil Kap. 2, S. 177ff. 14 So wird z.B. im Zusammenhang mit sportlichen Wettkämpfen das Tal von Nemea in georg. 3,19 durch lucosque Molorchi umschrieben. Diese raffinierte Periphrase versteht nur, wer weiß, daß Herakles auf der Jagd nach dem Nemeischen Löwen bei einem Tagelöhner namens Molorchos einkehrte. Nach geglückter Löwenjagd wurde Zeus dem Retter ein Dankopfer dargebracht, und zur Erinnerung daran wurden die Nemeischen Spiele eingerichtet. Ähnlich schwierig ist die Umschreibung der Silberpappel als Herculeaeque arbos umbrosa coronae in georg. 2,66. Durch diese Formulierung wird darauf angespielt, daß Herakles bei seinem Abstieg in die Unterwelt am Acheron die Silberpappel entdeckte und sie von dort zu den Menschen brachte. Frentz (1967) 73 überträgt deshalb den Ausdruck folgendermaßen: »Der schattige Baum, aus dessen Laub Herakles sich einen Kranz wand, als er den Kerberos aus dem Hades holte«. 15 Vgl. zum letzteren Aspekt Cristóbal López (1987) 549f.: »Qui [il mito] ha una funzione distensiva necessaria dopo una lunga serie di avvertenze e insegnamenti, deviando l’esposizione dallo iussivo al narrativo.« 16 Zu derartigen mythischen Beispielen vgl. auch im II. Teil Kap. 2.7.
5.10 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Vergil
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Einlage in georg. 3,258-263, in der anscheinend das Motiv von Hero und Leander dazu dient, die Unwiderstehlichkeit des Liebesverlangens darzustellen, ist der Kampf der Lapithen und Kentauren in georg. 2,455ff. hervorzuheben, welcher die negativen Folgen (culpam in V. 455) übermäßigen Weingenusses illustriert. Auch die Tatsache, daß sich an die Beschreibung des nach Meinung des Sprechers idealen Pferdes ein Vergleich mit Rossen aus dem Mythos anschließt,17 verdient Beachtung. Im Proömium des dritten Georgica-Buches wiederum mischen sich Poetologie und Herrscherpanegyrik (V. 3ff.):18 cetera, quae vacuas tenuissent carmine mentes, omnia iam vulgata: quis aut Eurysthea durum aut inlaudati nescit Busiridis aras? cui non dictus Hylas puer et Latonia Delos Hippodameque umeroque Pelops insignis eburno, acer equis? temptanda via est, qua me quoque possim tollere humo victorque virum volitare per ora.
5
Das Übrige, was müßige Gemüter im Lied hätte fesseln können, ist alles schon allgemein verbreitet: Wer kennt nicht den harten Eurystheus oder den Altar des schändlichen Busiris? Von wem ist der Knabe Hylas nicht besungen worden und Delos, die Insel Latonas, und Hippodameia und Pelops, hervorstechend durch seine Schulter aus Elfenbein, schneidig mit seinen Pferden? Ich muß einen Weg versuchen, auf dem auch ich mich vom Boden erheben und als Sieger von Mund zu Mund fliegen kann.
5
Beliebte mythische Sujets, die im Hellenismus oftmals dichterisch behandelt wurden, lehnt Vergil klar ab, weil sie ohnehin schon jeder kenne. Er selbst aber sucht einen Weg, um Bedeutung zu erlangen und in ennianische Sphären vorzustoßen, wie der Enniusanklang in V. 9 deutlich macht.19 Im Anschluß daran skizziert Vergil seinen Plan für ein historisches Epos (V. 12ff.), das er zu schreiben gedenkt, eine Art Augusteis mit eingeblendeten Rückblicken auf die trojanische Vorzeit.20 Dadurch wird Oktavian, der in dieser Passage als Caesar bezeichnet ist, in seiner Bedeutung neben die
17
Verg. georg. 3,89ff.: talis Amyclaei domitus Pollucis habenis / Cyllarus et, quorum Grai meminere poetae, / Martis equi biiuges et magni currus Achilli. / talis et ipse iubam cervice effundit equina / coniugis adventu pernix Saturnus, et altum / Pelion hinnitu fugiens implevit acuto. 18 Vgl. hierzu z.B. Klingner (1967) 278ff. und Erren (2003) 553ff. 19 Vgl. Ennius’ Grabepigramm (in Cic. Tusc. 1,34 = Ennius, frg. var. 17): nemo me lacrimis . cur? volito vivos per ora virum. 20 An welches Epos hier zu denken ist, stellt ein vieldiskutiertes Problem dar; vgl. z.B. Glei (1991) 101-106 und Erren (2003) zur Stelle.
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I. Teil: Prolegomena
anfangs genannten mythischen Figuren gestellt; er und seine militärischen Erfolge erfahren dadurch höchstes Lob und größte Anerkennung.21 Noch deutlicher wird das Herrscherlob in den Versen 24ff. des Proömiums des ersten Buches, wo neben verschiedenen für die Landwirtschaft wichtigen Göttern auch Oktavian angerufen wird. Es sei zwar noch nicht sicher, welcher Göttergemeinschaft der Princeps bald angehören werde (V. 24f.: tuque adeo, quem mox quae sint habitura deorum / concilia incertum est etc.); dennoch solle auch er Vergils Georgica fördern (V. 40: da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis). Diese Prophezeiung der baldigen Apotheose stellt eine unerhörte Ehrung für Oktavian dar.22 Die größte zusammenhängende mythische Erzählung in den Georgica aber liegt in dem Aristaios und Orpheus thematisierenden Epyllion vor, welches das vierte Buch abschließt.23 Als Aition der Bienenentstehung eingeführt (vgl. V. 315: quis deus hanc, Musae, quis nobis extudit artem?), weitet sich die Schilderung zu einer umfassenden Darstellung von Schuld, Liebe und Tod aus. Unter Verwendung alexandrinisch-neoterischer Erzählund Einschachtelungstechniken verbindet Vergil hier vier Themen bzw. Gestalten, die in der literarischen Tradition zuvor – unserer Kenntnis nach – unverbunden waren: Bugonie (d.h. Bienenentstehung), Aristaios, Proteus und Orpheus.24 Sicherlich bildet dieses Epyllion den Höhepunkt der Georgica, da es die Gattungsgrenzen endgültig transzendiert und das Werk auf eine neue Ebene transponiert, wobei es gleichzeitig durch eine Vielzahl von Querverbindungen und Bezügen mit dem Rest des Gedichtes verknüpft ist. Hinsichtlich des Mythos in der Aeneis ist zu bedenken, daß die antike Epik insgesamt primär Themen aus dem Mythos behandelt und sich dabei ausgiebig des Götterapparates bedient,25 daß aber andererseits die Thematisierung historisch-nationaler Stoffe in der Nachfolge von Naevius und Ennius die gängige Form römischer republikanischer Epik darstellt. Vergil hat nun in seiner Aeneis die mythische Vergangenheit, nämlich die Fahrt des Aeneas nach Italien und seinen Überlebenskampf in Latium, eng mit seiner eigenen Gegenwart durch aitiologische Bezüge verbunden.26 Die 21
Ähnlich verfährt Horaz in carm. 1,6; vgl. dazu im II. Teil Kap. 5. Das Finale des ersten Georgica-Buches, in dem Oktavian als übermenschlicher iuvenis dargestellt wird, der Rom rettet, wird im II. Teil, Kap. 7.8 behandelt. 23 Ältere Literatur hierzu führt Suerbaum (1980a) 476ff. auf; einen detaillierten Kommentar bietet Erren (2003) 905ff. 24 Vgl. auch Schönberger (1994) 180. 25 Hier ist »Götterapparat« – wie allgemein üblich – als Beifügung zum Geschehen auf der menschlichen Ebene zu verstehen: Zusätzlich zum Planen und Handeln der Menschen wird das der Götter geschildert. 26 Cristóbal López (1987) 550 behauptet sogar pointiert: »In effeti, l’Eneide è l’aition della gens Iulia e di Roma«. – Dieses aitiologische Verhältnis findet sich im achten Buch sogar »in umgekehrter Richtung«: Dort führt der Arkaderkönig Euander Aeneas durch das Gebiet, das später 22
5.10 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Vergil
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Vergangenheit ist dabei in der Aeneis zum Teil auch teleologisch mit der Gegenwart und der Zukunft des epischen Erzählers resp. Autors und seines Publikums verknüpft, wie schon im letzten Vers des Proömiums (Aen. 1,33) expliziert wird: tantae molis erat Romanam condere gentem.27 Vier Stellen sollen hier kurz angeführt werden, an denen ausdrücklich aus der mythischen Vergangenheit in die historische römische Zeit (in Form von vaticinia ex eventu) vorausgeblendet wird: Im ersten Buch versucht Venus von Juppiter zu erfahren, welche Qualen ihr Sohn Aeneas denn noch erleiden müsse.28 Der Göttervater aber eröffnet ihr einen ermutigenden Blick in die eigentlich geheime Zukunft und sichert den Römern ein imperium sine fine zu (V. 279). Die göttliche Legitimation der römischen Weltherrschaft wird hier ebenso deutlich wie in der bekannten Anchisesrede im sechsten Buch der Aeneis, wo Anchises den imperialistischen und zugleich zivilisatorischen Auftrag der künftigen Römer (nicht etwa nur der Aeneaden) formuliert.29 Auf einen konkreten historischen Komplex weist die Prophezeiung der sterbenden Dido im vierten Buch hin. Der historische Konflikt zwischen Rom und Karthago wird als Erbfeindschaft dargestellt, die aus dem unglücklichen Ende der Beziehung von Dido und Aeneas resultiert. Die karthagische Königin ist sich sicher, daß zwischen Rom und Karthago kein Friede bestehen könne, sondern daß ihr dereinst ein Rächer (gemeint: Hannibal) Genugtuung verschaffen werde.30 Auf die von Vergil und seinen Zeitgenossen selbst miterlebte Zeit wird innerhalb der Schildbeschreibung im achten Buch verwiesen. Auf dem prächtigen Schild, den Vulkan für Venus’ Sohn Aeneas geschmiedet hat, ist neben vielen anderen Episoden der römischen Geschichte an zentraler Stelle (in medio, V. 675) auch die Schlacht von Actium abgebildet, das entscheidende Ereignis im Bürgerkrieg zwischen Oktavian und Marcus Antonius. Die Darstellung der Götter, die auf den jeweiligen Seiten eingreifen, einmal Rom sein wird. Euander aber erzählt von einer Episode, die weit vor der Zeit der Haupthandlung liegt, nämlich von Herakles’ Sieg über Cacus (Aen. 8,185ff.). 27 Vgl. Binder (1990) 145: Vergil habe sich »eine Palette poetischer Techniken geschaffen, die ihm einen höchst variablen Einsatz von Mythos in einer stark gegenwartsbezogenen Dichtung ermöglichten.« 28 Zu dieser Szene vgl. z.B. Wlosok (1967) 11ff. und Kühn (1971) 19ff. 29 Diese Rede gipfelt bekanntlich in folgendem Auftrag (V. 851ff.): tu regere imperio populos, Romane, memento / (hae tibi erunt artes), pacique imponere morem, / parcere subiectis et debellare superbos. Die Bedeutung dieses Diktums für das römische Selbstverständnis in augusteischer Zeit kann kaum überschätzt werden. 30 In Aen. 4,624ff. bekräftigt sie: nullus amor populis nec foedera sunto. / exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor / qui face Dardanios ferroque sequare colonos, / nunc, olim, quocumque dabunt se tempore vires. […] pugnent ipsique nepotesque. Und auch ihre abweisende Haltung bei der Begegnung mit Aeneas in der Unterwelt (Aen. 6,450ff.) läßt keinen Zweifel daran, daß die Feindschaft unversöhnlich sein wird.
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I. Teil: Prolegomena
zeigt sehr deutlich, daß Oktavian die Heimat und Italien gerettet hat, während Antonius sie dem »dekadenten Osten« preisgegeben hätte. Wenn auch Aeneas selbst nichts von dem Dargestellten begreift (V. 730: rerumque ignarus), so ist die vergilische Schildbeschreibung doch ein hochpolitisches zeitgenössisches Bekenntnis zum herrschenden Princeps Augustus. Generell ist zu betonen, daß Vergil die Aeneassage, welche seit dem 6. Jh. in Etrurien und Latium bekannt war und einen Ursprungsmythos des gesamten römischen Volkes darstellte,31 stark auf die gens Iulia konzentriert hat.32 In der Juppiterprophezeiung des ersten Buches wird ein ganz bestimmter julischer Nachkomme der Aeneaden, Oktavian, als Ziel- und Höhepunkt der römischen Geschichte dargestellt;33 auch in Anchises’ Offenbarungsrede und in der Ekphrasis des Aeneasschildes nimmt Oktavian jeweils eine zentrale Position ein.34 Dadurch wird unmißverständlich signalisiert, daß Oktavian/Augustus in Vergils Konzeption durch eine direkte genealogische bzw. Traditionslinie mit Aeneas verbunden ist. Wie dieser Konnex allerdings genauer zu charakterisieren ist (als allegorisch, symbolisch oder typologisch) und wie enge Parallelen zwischen Aeneas und Augustus gezeichnet sind bzw. wie weit aus der vergilischen Aeneasdarstellung eine (positive oder negative) Bewertung des Princeps abgelesen werden kann, sind in der Forschung heftig umstrittene Fragen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.35 Treffend erscheint jedoch die folgende Einschätzung Uwe Walters: Aeneas – Rom – Augustus: Universalgründer, Universalreich und Universalherrscher waren in dieser wuchtigen Reformulierung eines zuvor sehr vielgestaltigen Mythos zur Deckung gebracht worden.36
Besondere Aufmerksamkeit widmete die Forschung auch dem anthropomorphen, weitgehend hierarchisch gegliederten Pantheon, das Vergil in der Aeneis entwirft, und der Interaktion der Götter mit den Menschen.37 Die Gottheiten, deren äußeres Erscheinungsbild meist nicht anschaulich ausge31 Vgl. hierzu Horsfall (1987); die ältere Literatur zur römischen Trojasage verzeichnet Suerbaum (1967) 176, Anm. 2. 32 Vgl. hierzu z.B. Binder (1990) 152f. 33 Verg. Aen. 1,286ff.: nascetur pulchra Troianus origine Caesar, / imperium Oceano, famam qui terminet astris, / Iulius, a magno demissum nomen Iulo. Zur Diskussion um die Identität des Caesar vgl. jedoch z.B. Austin (1971) 109f. 34 Aen. 6,789ff.; 8,675ff. 35 Vgl. hierzu z.B. Binder (1971), Wlosok (1990), Tarrant (1997) 178f. sowie Radke (2003). 36 Walter (2006) 103. Vgl. auch Ehlers (2005) 61: »Augustus wurde bei Vergil ungeachtet seiner leiblichen Existenz zum Bestandteil des Mythos.« 37 Einen umfangreichen Überblick über die ältere Literatur zu diesem Thema bietet Suerbaum (1980) 163ff. Aus der Fülle der Untersuchungen seien exemplarisch hervorgehoben Wlosok (1967), die die Gestalt der Venus analysiert, und die von Kühn (1971) vorgelegte Interpretation der Götterszenen.
5.10 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Vergil
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führt wird, verfolgen persönliche, psychologisch nachvollziehbare Interessen, müssen sich dabei aber – wenn auch zum Teil widerstrebend – dem fatum fügen.38 Man wird mit Werner Kühn konstatieren dürfen, daß in der Aeneis entscheidende Momente des epischen Geschehens durch Götterszenen betont und gesteigert werden, indem die begrenzte menschliche Perspektive ausgeweitet oder sogar überwunden wird, so daß die eigentlichen Zusammenhänge erst evident werden.39 Hierbei greifen die Götter weder »schroff« determinierend in das menschliche Geschehen ein noch zwingen sie die Protagonisten zu ihrem Wesen unangemessenen Taten; vielmehr verstärken sie bereits (zumindest latent) vorhandene Regungen, Wünsche und Einsichten.40 Durchaus mit dieser Auffassung vereinbar sind Positionen wie die Viktor Pöschls, die Götter stellten in der Aeneis Symbole verschiedener Emotionen und Wirkmächte dar.41 Hervorzuheben ist überdies, daß in der Aeneis mehrfach Mythen im Medium des Bildes auftreten. Neben dem Relief des Junotempels in Karthago, auf dem Szenen aus dem Trojanischen Krieg abgebildet sind (Aen. 1,456ff.), ist das Werk des Daedalus am Apollontempel in Cumae zu nennen (Aen. 6,20ff.), in dem dieser Szenen aus dem attisch-kretischen Sagenkreis gestaltet hat. Selbstreferenzialität ist diesen beiden Darstellungen insofern zu eigen, als im ersten Fall Aeneas auch sich selbst erkennt (1,488: se quoque principibus permixtum agnovit Achivis), Daedalus im zweiten Fall Ereignisse dargestellt hat, an denen er selbst teilhatte (6,29: Daedalus ipse etc.). Die Motive dieser Kunstwerke sind in vielfacher Weise auf verschiedenen Verweisebenen mit dem zentralen Sujet des Epos – unter anderem durch Spiegelung oder Kontrast – verbunden.42 Die Ekphrasis eines weiteren Mythenbildes findet sich an einem entscheidenden Wendepunkt des Handlungs-
38 So konstatiert Juppiter schon im ersten Buch (V. 257f.): manent immota tuorum / fata [...], und in der Götterversammlung im zehnten Buch bekräftigt er: fata viam invenient (V. 113). Daher kann Juno in 7,313ff. ihre Einflußmöglichkeiten nur so definieren: non dabitur regnis, esto, prohibere Latinis, / atque immota manet fatis Lavinia coniunx: / at trahere atque moras tantis licet addere rebus [...]. Weitergehende Literatur zum vergilischen Fatumsbegriff bietet Horsfall (1995) 139f.; ders. sieht in den oben aufgeführten Stellen jedoch keine letztgültigen Aussagen, sondern bezeichnet z.B. Juppiters Diktum fata viam invenient aufgrund von »significant rhetorical purpose and context« als »not doctrine but bluff« (ebd. 143). 39 Kühn (1971) 171. 40 Ähnlich Kühn (1971) 172f.: »An dem Punkt, wo aus dem Streben des Menschen die geschichtliche Tat hervorgeht, wirken die Götter, tritt zum Psychologischen das Metaphysische. Niemals wirkt beides gegeneinander [...] Die Freiheit des Menschen und die Freiheit des Gottes ist jeweils eine Freiheit [...] vor den fata.« 41 Pöschl (1950), z.B. S. 30ff. 42 Vgl. hierzu z.B. Putnam (1987) mit umfangreichen Literaturangaben, der in der Daedalusepisode überdies ein »paradigm of the Virgilian career« (ebd. 183) sieht, sowie Erdmann (1998).
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I. Teil: Prolegomena
ganges:43 Im zehnten Buch der Aeneis wird das Wehrgehenk des gefallenen Pallas beschrieben, auf dem das Verbrechen der Danaiden abgebildet ist.44 Ferner müssen noch die Aitiologien bzw. Etymologien von Toponymen angesprochen werden: An drei Stellen der Aeneis erfährt man, daß Orte in Italien nach verstorbenen Begleitern des Aeneas benannt sind. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Misenum, eine Stadt und ein Vorgebirge in Kampanien, die nach Aeneas’ Signaltrompeter Misenus benannt sind, ferner um Kap Palinurus, ein Vorgebirge mit Hafen an der Westküste Lukaniens, das nach dem Steuermann des Aeneas benannt ist, und schließlich um Caieta, eine Stadt und ein Hafen an der Grenze von Latium und Kampanien, die ihren Namen von Aeneas’ Amme haben.45 Offensichtlich bestand in augusteischer Zeit ein gewisses Interesse an solchen Aitiologien bzw. Etymologien.46 Abschließend sei noch auf die große Variationsbreite hingewiesen, die Vergil bei der Behandlung des Weltaltermythos in den verschiedenen Genera zeigt:47 Abgesehen von der 6. Ekloge, wo die Saturnia regna (V. 41) ein Thema neben vielen anderen im Gesang des Silen sind, wird der Weltaltermythos an sechs Stellen von Vergil verwendet: In der 4. Ekloge und in Aen. 6,792ff. dient die Vorstellung vom Goldenen Zeitalter dazu, eine bessere, recht nahe bevorstehende Zukunft in Aussicht zu stellen.48 In zwei Passagen des zweiten Buches der Georgica hingegen wird das altitalische Bauernleben glorifiziert, indem es mit dem mythischen Goldenen, saturnischen Zeitalter identifiziert wird.49 Mit anderer Akzentuierung wird die saturnische Zeit 43 Daß ein solcher vorliegt, beweist der unmittelbar darauf folgende emphatische auktoriale Kommentar des Erzählers: nescia mens hominum fati sortisque futurae / et servare modum rebus sublata secundis! etc. (10,501ff.). 44 Aen. 10,496ff.: immania pondera baltei / impressumque nefas: una sub nocte iugali / caesa manus iuvenum foede thalamique cruenti [...]. – Die Schildbeschreibung im achten Buch wird hier nicht besprochen, da nach römischem Verständnis Themen wie »Romulus und Remus« eher unter Geschichte als unter Mythos zu subsumieren sind. 45 Aen. 6,234f.: monte sub aërio, qui nunc Misenus ab illo / dicitur aeternumque tenet per saecula nomen. Aen. 6,381ff.: aeternumque locus Palinuri nomen habebit. […] gaudet cognomine terra. Aen. 7,1ff.: tu quoque litoribus nostris, Aeneia nutrix, / aeternam moriens famam, Caieta, dedisti; / et nunc servat honos sedem tuus, ossaque nomen / Hesperia in magna, si qua est ea gloria, signat. Zu Vergils Umgang mit Etymologien vgl. auch Paschalis (1997) und die Übersicht über die ältere Literatur bei Suerbaum (1980) 192f. 46 Zur Bedeutung der Etymologie von Toponymen vgl. auch im II. Teil Kap. 6.3. 47 Zum Goldenen Zeitalter bei Vergil vgl. z.B. Tar (1983) und Smolenaars (1987). Zur aurea aetas in der augusteischen Literatur und den damit verbundenen sozialen Implikationen vgl. Wallace-Hadrill (1982) 19ff. und Fabre-Serris (1998) 27ff.; einen diachronen Überblick über diesen Mythos bieten Gatz (1967) und Kubusch (1986). 48 Ecl. 4,6: iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna; Aen. 6,792ff.: Augustus Caesar, divi genus, aurea condet / saecula qui rursus Latio regnata per arva / Saturno quondam [...]. 49 Georg. 2,473f.: extrema per illos / Iustitia excedens terris vestigia fecit (auf dem Land währte also das Goldene Zeitalter noch länger als in den übrigen Gebieten); georg. 2,536ff.: ante etiam sceptrum Dictaei regis et ante / impia quam caesis gens est epulata iuvencis, / aureus hanc vitam in terris Saturnus agebat [...].
5.10 Funktionen des Mythos bei ausgewählten Dichtern: Vergil
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im achten Buch der Aeneis thematisiert: In seiner Rolle als »Fremdenführer« erläutert Euander, der Romanae conditor arcis (8,313), die frühe Siedlungsgeschichte und Etymologie Latiums: Saturn habe friedlich in Latium geherrscht; danach aber seien die Menschen allmählich entartet und Übeln wie Krieg und Habgier anheimgefallen. Hier dient das Goldene Zeitalter als positive Kontrastfolie für eine depravierte Folgezeit.50 Schon angesprochen wurde oben (S. 137f.) die in georg. 1,121ff. vorliegende Konzeption, nach welcher Juppiter der glücklichen, aber dumpfen Existenzform der Menschen des Goldenen Zeitalters ein Ende setzte und sie durch Unannehmlichkeiten zu zivilisatorischem Fortschritt zwang. An dieser Stelle wird das Goldene Zeitalter also nicht uneingeschränkt positiv bewertet. Es bleibt festzuhalten, daß Vergil je nach Intention ein und demselben Mythologem ganz unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten abzugewinnen versteht. Vergils Mythologumena bieten also formal und stofflich vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten; als potentiellen Praetexten für Horaz gebührt ihnen daher besondere Aufmerksamkeit.
50 Aen. 8,324ff.: aurea quae perhibent illo sub rege fuere / saecula: sic placida populos in pace regebat, / deterior donec paulatim ac decolor aetas / et belli rabies et amor successit habendi.
6. Tradition und Originalität
Für die gesamte römische Literatur, die bekanntlich den Großteil ihrer Formen und Gattungen im Prozeß aneignender Transformation aus der griechischen Literatur übernommen hat,1 ist die Frage nach Tradition und Originalität, nach griechischem Erbe und römischem Geist, nach Normen des Genos und Kreativität des Künstlers, der in der Haltung der imitatio und der aemulatio seine Vorgänger übertreffen will,2 von entscheidender Bedeutung. Neben dieses Interesse im Allgemeinen tritt aber für die vorliegende Untersuchung die zwingende Notwendigkeit, das Zusammenspiel von Traditionellem und Originärem bei Horaz in den Blick zu nehmen. Obwohl diese Frage hier freilich nicht erschöpfend behandelt werden kann, seien die für die folgenden Einzeluntersuchungen zentralen Punkte genannt. Immer wieder wird man in Scholien oder Kommentaren Hinweise auf Vorbilder3 einzelner horazischer Motive finden. Wenn nun die dort genannten Texte noch faßbar sind, wann darf man es dann als hinreichend wahrscheinlich ansehen, daß Horaz auf sie als Praetexte rekurriert? Wieviel Selbständigkeit darf man von Horaz beim Rekurs auf Praetexte resp. bei ihrer Transformation erwarten? In der Begrifflichkeit der Intertextualitätsforschung formuliert: Welche Markierung von Intertextualität darf man erwarten?4 Diese Fragen wird am besten ein Blick auf einige programmatische Aussagen des Dichters zu eben diesen Themen klären. Im Folgenden sollen drei theoretische Aussagen und ein praktisches Beispiel vorgestellt werden. In epist. 1,19 wendet sich Horaz, nachdem er einige Beispiele sinnloser, rein äußerlicher Imitation angeführt hat,5 scharf gegen Nachahmer (V. 19f.):
1 Vgl. allerdings Hor. ars 285ff.: nil intemptatum nostri liquere poetae, / nec minimum meruere decus vestigia Graeca / ausi deserere [...]. 2 Eine knappe Beschreibung des imitatio-Prinzips bietet von Albrecht (2003) 11-13. Ausführlich setzt sich Reiff (1959) mit den Begriffen interpretatio, imitatio und aemulatio in der lateinischen Literatur auseinander; Gaillard (1993) untersucht Horazens imitatio und aemulatio. 3 In Abweichung von der sonst in dieser Arbeit angewandten Terminologie wird hier das Substantiv »Vorbild« verwendet, da die genannten Werke ihrerseits nicht mit dem Konzept der Intertextualität operieren. 4 Vgl. zu diesem Komplex im Allgemeinen Broich (1985) und Helbig (1996). 5 Epist. 1,19,12ff.: Nachahmung der mores Catonis durch entsprechende Kleidung; V. 15f.: Tod des Jarbita bei der Nachahmung des Timagenes, V. 17f.: Erzeugung des »Dichterteints« durch die Einnahme von Kümmel.
6. Tradition und Originalität
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o imitatores, servum pecus, ut mihi saepe bilem, saepe iocum vestri movere tumultus!
20
Ihr Nachahmer, ihr Sklavenvieh, wie oft hat mir euer lärmendes Treiben6 die Galle hochkommen lassen, wie oft hat es mich zum Spotten veranlaßt!
20
Dieser polemische Angriff, von Bernhard Kytzler als »das künstlerische Credo des Horaz« bezeichnet,7 degradiert die zeitgenössischen Nachahmer, die auch als »Nachäffer« bezeichnet werden könnten, zu einer knechtischen Viehherde, für die Horaz nur Zorn oder verächtliches Spotten übrig hat.8 Exemplarisch stellt Horaz in derselben Epistel sein eigenes Vorgehen anhand seines Umgangs mit Archilochos dar und setzt sich damit deutlich von der ersten Gruppe ab (V. 23-25):
25
Parios ego primus iambos ostendi Latio, numeros animosque secutus Archilochi, non res et agentia verba Lycamben.
25
Parische Iamben habe ich als erster Latium gezeigt, den Metren und Stimmungen des Archilochos folgend, nicht dem Stoff und den Worten, die Lykambes jagten.
Hier weist Horaz darauf hin, daß er einige Elemente (Metra, Grundhaltung) der archilochischen Dichtung übernommen hat, als er sie in die römische Literatur übertrug,9 daß er aber bei der Gestaltung des Stoffes und der Wortwahl eigene Wege gegangen ist. Im Anschluß daran wird dieses Verfahren der eklektizistischen Nutzung eines literarischen Vorbilds durch den Verweis auf die frühgriechischen Lyriker Sappho und Alkaios legitimiert, die ebenso verfuhren.10 Eine dritte theoretische Äußerung findet man in der ars poetica (V. 133135):
6
Zu den möglichen poetologischen Implikationen von tumultus vgl. z.B. Préaux (1968) 206f. Kytzler (1996) 41. Ähnlich nennt Mayer (1994) 50 die kurz darauf folgenden Verse 22f. (qui sibi fidet, / dux reget examen) »a credo both artistic and moral«. 8 Daß diese Passage im Ton mit einigen Satiren vergleichbar ist, obwohl die Gegner nicht namentlich genannt werden, ist schon lange erkannt worden; vgl. z.B. Brink (1963) 179f. 9 Vgl. die Paraphrase bei Mayer (1994) 263: »[Horace’s] poetic activity widens the empire of Latin literature, adding new provinces from the Greek world«. – In der Sphragis der ersten Oden-Sammlung (carm. 3,30) hingegen richtet Horaz seinen Blick auf die äolisch-lesbische Dichtung und verkündet stolz: dicar [...] princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos (V. 10ff.). 10 Epist. 1,19,28f.: temperat Archilochi Musam pede mascula Sappho, / temperat Alcaeus, sed rebus et ordine dispar etc. So ergibt sich dann für Horaz zwanglos die Gelegenheit, in V. 32f. darauf hinzuweisen, daß er als Latinus fidicen auch Alkaios bekanntgemacht habe. – Brink (1963) 181 bemerkt treffend: »the claim of originality is based on a family tree of literary affiliations«. 7
148
I. Teil: Prolegomena nec verbo verbum curabis reddere fidus interpres, nec desilies imitator in artum, unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex.
135
Und du wirst nicht darauf bedacht sein, Wort für Wort als zuverlässiger Übersetzer wiederzugeben, und du wirst nicht als Nachahmer dich in die Enge verrennen11, von wo sich herauszuwagen die Scham oder des Werkes Norm verbietet.
135
In Form eines negierten Futurs mit imperativischem Sinn rät Horaz hier, eine Vorlage nicht Wort für Wort wiederzugeben, da dies eben die Aufgabe eines Übersetzers (fidus / interpres, V. 133f.) sei, nicht die eines Dichters.12 Auch soll sich ein ambitionierter Dichter gerade nicht durch eine Betätigung als imitator in eine Sackgasse (artum, V. 134) verrennen, aus der ihn scheue Ängstlichkeit gegenüber dem Original (pudor, V. 135) oder die Norm des Werkes (operis lex, V. 135)13 nicht mehr entkommen lassen. Ein solcher Dichter wäre geradezu das Gegenbild des in epist. 1,19,22f. Geschilderten, von dem es dort heißt: »Wer auf sich selbst vertraut, wird als Anführer den Schwarm lenken« (qui sibi fidet, / dux reget examen). Horaz gesteht demnach in theoretischen Äußerungen Dichtern und somit auch sich selbst nicht nur eine gewisse Eigenständigkeit zu, sondern fordert sie sogar nachdrücklich. Horazens eigene Praxis soll an einem Beispiel aus der ars poetica aufgezeigt werden, wo der Ausgangstext und die Bezugnahme auf ihn klar erkennbar sind. In der ars poetica (V. 140ff.) wird der Anfang der Odyssee als Musterbeispiel für ein gelungenes Proömium angeführt. Im Folgenden wird der griechischen Vorlage (Homer, Odyssee 1,1-3) Horazens lateinische Übertragung (ars 141f.) gegenübergestellt: ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε· πολλῶν δ’ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω Den Mann singe mir, Muse, den vielgewandten, der sehr viel verschlagen wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstört hatte; vieler Menschen Städte aber sah er, und ihren Sinn lernte er kennen
11
Wörtlich: »hinabspringen«. Brink (1971) 211 vergleicht diese Formulierung mit Ausdrucksweisen der Fabel. 12 Ähnlich äußert sich schon Cicero in opt. gen. 14: nec converti ut interpres, sed ut orator, [...] non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi. Vgl. dazu auch Brink (1971) 210f. – Bemerkenswert ist die sinnverzerrende Nutzung der Horazstelle in Hieronymus’ Brief ad Pammachium de optimo genere interpretandi (57,5,5). – Zur Geschichte der Formel verbum pro verbo vgl. Marti (1974) 64ff. 13 Zur speziellen Bedeutung von lex an dieser Stelle vgl. Brink (1971) 211f.
6. Tradition und Originalität
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»dic mihi, Musa, virum, captae post tempora Troiae qui mores hominum multorum vidit et urbis.«14
»Singe mir, Muse, den Mann, der nach der Zeit der Eroberung Trojas die Sitten vieler Menschen sah und ihre Städte.«
Horaz läßt in seiner Übertragung das Adjektiv πολύτροπος (V. 1) und den Relativsatz ὃς μάλα πολλὰ κτλ. (V. 1f.) aus. Der homerische Temporalsatz ἐπεὶ Τροίης κτλ. (V. 2) wird bei Horaz zu dem präpositionalen Ausdruck captae post tempora Troiae. Der dritte Vers der Odyssee, ein unabhängiger Satz, wird in der Übertragung zu einem Relativsatz, in welchem die Reihenfolge von ἄστεα und νόον vertauscht ist; ferner werden die Prädikate ἴδεν und ἔγνω zusammenfassend durch vidit wiedergegeben. Insgesamt macht Horaz aus drei Homerversen zwei eigene. Bei dieser Übertragung in eine andere Sprache, aber ins gleiche Versmaß nimmt er also eine Reihe von Veränderungen gegenüber seiner Vorlage vor, wobei diese aber weiterhin klar erkennbar bleibt.15 Schon mit dieser Skizze ist wohl gezeigt, welchen aus Horaz selbst gewonnenen Maßstab man bei der Frage nach »Tradition und Originalität« anlegen darf: Bereits bei der Übersetzung/Übertragung eines griechischen Textes ins Lateinische scheut sich Horaz nicht vor Umstellungen, Auslassungen oder sonstigen Veränderungen. Wenn er sich solche Lizenzen aber schon für Übertragungen gestattet, muß man sie bei freieren Nachgestaltungen bzw. Transformationen in noch viel höherem Maße erwarten. Daß Horaz sich an einer bestimmten Stelle nicht auf einen bestimmten Praetext bezieht, wird man also nicht allein deshalb annehmen dürfen, weil Übereinstimmungen in einzelnen Wörtern fehlen. Umgekehrt dürfte wohl die Übereinstimmung einzelner Wörter oder Wendungen alleine noch keinen hinreichenden Beweis für die Bezugnahme auf einen bestimmten Praetext darstellen. Ob Horaz in einem Gedicht auf einen konkreten Referenztext rekurriert, kann jeweils nur sorgfältige Einzelanalyse erweisen.
14 Hier sollen weder die Varianten des griechischen Textes (πολύκροτον, V. 1; νόμον, V. 3) noch die des lateinischen Textes (moenia, V. 141) in die Diskussion einbezogen werden. 15 Vgl. auch die Bewertung bei Rudd (1989) 174: »[Horace] has not offered a translation, but an abridgement sufficient to make his point«. – Eine deutlich freiere Übertragung des OdysseeProömiums liegt in epist. 1,2,18ff. vor: Ulixen, / qui domitor Troiae multorum providus urbis / et mores hominum inspexit latumque per aequor, / dum sibi, dum sociis reditum parat, aspera multa / pertulit, adversis rerum immersabilis undis.
II. Teil: Einzeluntersuchungen
1. carmen 1,271
Mit der Ode 1,27, die in symposialem Rahmen angesiedelt ist, hat Horaz einen deutlichen Kontrapost zur vorangehenden Ode 1,26, welche sich mit seinem Dasein als Musis amicus beschäftigt,2 und auch zur folgenden, vom Thema »Tod« dominierten Archytasode 1,28 geschaffen. Dieses Gedicht, das stofflich auf den drei Pfeilern »Rauferei«, »Trinkgelage« und »Reden über Geliebte« ruht,3 wurde in der Forschung bislang eher wenig beachtet; wenn es Gegenstand von Untersuchungen war, wurde zumeist analysiert, mit welchen Mitteln und welchem Erfolg Horaz griechische Elemente in ein römisches Gewand kleidete.4 Dieser Aspekt kann und soll auch hier nicht außer Acht gelassen werden; das Hauptinteresse aber gilt der Frage, mit welchen Techniken und Absichten Horaz in diesem Gedicht Mythologeme verwendet hat.5
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Wie im I. Teil, Kap. 1.3.4 dargelegt, fungiert als Kriterium für die Anordnung der in dieser Arbeit zu untersuchenden Oden das vom Autor jeweils signalisierte Verhältnis der Mythologumena zum Nicht-Mythischen. Da die folgende Analyse zeigen wird, daß das in dieser Ode beschriebene Geschehen offenkundig in einer »imaginierten Realität« angesiedelt ist und daß Übergänge zum Mythischen klar abgegrenzt werden können, steht dieses carmen am Anfang der Einzeluntersuchungen. 2 Ich schließe mich also nicht der von Kilpatrick (1969) 215ff. aufgestellten und von Santirocco (1986) 60ff. geteilten These an, carm. 1,26 sei eine Art Proömium zu carm. 1,27. Die Aufforderungen apricos necte flores, / necte meo Lamiae coronam und hunc fidibus novis, / hunc Lesbio sacrare plectro / teque tuasque decet sorores (carm. 1,26,7f.10-12) sind bereits eben durch das Gedicht an Lamia erfüllt. 3 Cairns (1977) 122 sieht im Rahmen seiner Analyse der »generic composition« in carm. 1,27 eine »specialized form of erotodidaxis or praecepta amoris. […] it concentrates on the speaker’s assessment of the beloved, which is strongly protreptic or apotreptic.« Für die vorliegende Untersuchung aber ist eine Entscheidung über das Genos nicht notwendig. 4 Stellvertretend sei Harrison (1979) genannt, der seine Untersuchung mit folgenden Worten einleitet (S. 271): »One particular type of ode is interesting because of the light it sheds on Horace’s art. This is an ode that begins with a strong echo of a Greek model, which Horace then transforms into terms thoroughly Roman.« Er schließt mit den Worten (ebd. 274): »Because of his Romanness, he found himself in an artistically challenging situation. It is a proof of his genius that he could surmount the difficulties, but still we need recognize the literary problems it posed to Horace, and the problems it still poses to his modern readers«; dementsprechend konstatiert er auch mehrmals »abruptness« in der Struktur der Ode. Uneingeschränkt positiv äußern sich Nisbet/Hubbard (1970) 311: »Our ode is one of the cleverest that Horace ever wrote. […] this amusing and original poem is completely successful.« 5 Brinkmann (1936) 198f. kommt nicht über allgemeine Beobachtungen hinaus, wenn er feststellt, »daß dadurch Bilder und ganze Geschichten heraufgerufen werden, die den bewußten
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
1.1 Die Ausgangssituation Horaz führt die Rezipienten gleich am Anfang der Ode mitten hinein ins turbulente Geschehen: Ein Trinkgelage6 ist in vollem Gange und droht aus dem Ruder zu laufen, als der Sprecher das Wort ergreift:7 natis in usum laetitiae scyphis pugnare Thracum est. tollite barbarum morem verecundumque Bacchum sanguineis prohibete rixis! 5
vino et lucernis Medus acinaces immane quantum discrepat. impium lenite clamorem, sodales, et cubito remanete presso! Mit Bechern, die zum Gebrauch der Fröhlichkeit bestimmt sind, zu kämpfen, ist Thrakerart. Hört auf mit der Barbarensitte und haltet den scheuen Bacchus fern von blutigen Streitereien!
5
Zu Wein und Öllampen paßt der persische Dolch ganz ungeheuer schlecht. Dämpft euer gottloses Geschrei, Zechbrüder, und bleibt mit aufgestütztem Ellbogen liegen!
Zwei Strophen füllt der Versuch des Sprechers, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Diese beiden Strophen sind auffällig parallel gebaut,8 so daß fast der Eindruck entsteht, der Sprecher brauche zwei »Anläufe«, um sein Ziel zu erreichen: Jeweils folgen auf eine allgemeine Sentenz von ungefähr gleiVorstellungsinhalt bereichern und die Phantasie beschäftigen« und daß Horaz dadurch dem »Stoff seines Gedichtes eine gewisse Feierlichkeit« gibt. 6 Zur symposialen Dichtung des Horaz generell vgl. Davis (2007), der auf S. 219f. weiterführende Literatur verzeichnet. – Einen Überblick über die Gepflogenheiten bei antiken Symposien nebst Materialübersichten bieten unter anderem Mau (1901), Hug (1931), Korzeniewski (1974), Binder (1998) und Stein-Hölkeskamp (2005). Zur antiken Symposionliteratur vgl. Hug (1932); Symposionszenen in der antiken Epik untersucht Bettenworth (2004). 7 Über die Ausgangssituation des Gedichtes ist man sich nicht ganz einig. Für die hier zu behandelnden Fragen ist es allerdings unerheblich, ob der Sprecher erst zum Gelage hinzustößt [so z.B. Pasquali (1920) 504, Brinkmann (1936) 194, Kiessling/Heinze (1955) 116, Fraenkel (1957) 213] oder schon anfangs daran teilnimmt [so Cairns (1977) 123]. Zu Spekulationen selbst über die Sitzordnung versteigt sich Brinkmann (1936) 191f. – Ebenso sind Fragen nach den Realien (»Hing ein Medus acinaces an der Wand eines römischen Zimmers oder brachte ihn ein Gast mit?« u.ä.) für den Gesamtverlauf des Gedichtes nicht ausschlaggebend, wie Nisbet/Hubbard (1970) 313 gesehen haben: »Such seriousness about Realien mistakes Horace’s purpose.« 8 Dies haben auch Marouzeau (1936) 5, Quinn (1985) 173, Albert (1988) 128 und Syndikus (2001) I, 253 hervorgehoben; parallel ist auch der Anfang der dritten und vierten Strophe: Auf eine Frage folgt dort jeweils eine Willensäußerung des Sprechers.
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1. carmen 1,27
cher Länge (V. 1-2a: natis […] est und V. 5-6a: vino […] discrepat) zwei Imperative (tollite […] prohibete und lenite […] remanete), von denen jeweils der erste (tollite und lenite) dem Bedeutungsfeld »Beseitigen9/Verringern« angehört. Zwischen den Sentenzen lassen sich in Gedankenführung und Anordnung der Wortblöcke weitgehende Entsprechungen finden, wie die folgende Übersicht verdeutlicht: »Symposionzubehör«
Kampfvokabular
allgemeines Statement
V. 1-2a
natis in usum laetitiae10 scyphis /
pugnare11
Thracum est.
V. 5-6a
vino et lucernis
Medus acinaces /
immane quantum12 discrepat.
In den dann folgenden Aufforderungen hingegen fällt die chiastische Anordnung der Wortarten auf, die wohl Ausdruck eines Strebens nach Variation ist: tollite barbarum / morem (A-B-C), aber impium / lenite clamorem (B-A-C); sanguineis prohibete rixis (B-A-C), aber cubito remanete presso (C-A-B). Auffällig ist in diesen Passagen, daß der Vokativ sodales (V. 7) vorher weder eine chiastische noch eine parallele Entsprechung hat; an der korrespondierenden Stelle steht in der ersten Strophe die Wendung verecundumque Bacchum.
1.2 Zu verecundumque Bacchum (V. 3) In den ersten beiden Strophen hat Horaz einigen Substantiven gewählte Attribute beigegeben,13 so daß die Junktur verecundumque Bacchum in 9 Daß Cairns (1977) 127 tollite mit »do not let something occur« übersetzt, erscheint aufgrund des sonstigen lexikalischen Befundes von tollere nicht gerechtfertigt. 10 Laetitia hier wie das griechische ἐυφροσύνη (vgl. Hom. Od. 9,6); insgesamt herrscht in der Eröffnungsgnome ein feierlicher Ton vor. 11 Obwohl der Kampf mit »Humpen« einer gewissen Komik nicht entbehrt, kann er dennoch gefährlich sein, wie die bei Nisbet/Hubbard (1970) 312 gesammelten Stellen belegen. 12 Immane quantum ist eine ganz außergewöhnliche Wendung; zuvor ist sie nur bei Sallust (hist. fr. 2,44: inmane quantum animi exarsere) bezeugt. Diese Verbindung muß also hier ungewöhnlich feierlich-pathetisch geklungen haben. – Nisbet/Hubbard (1970) 313 akzentuieren anders und halten sie für »comic hyperbole«. Vermittelnd spricht Quinn (1985) 172 von einer »note of good-humoured solemnity which might easily collapse into mock-heroic if it did not have the elegant metrical and rhetorical structure to sustain it.« 13 Natis in usum laetitiae scyphis; barbarum / morem verecundumque Bacchum / sanguineis [...] rixis; Medus acinaces; impium [...] clamorem; cubito [...] presso. Syndikus (2001) I, 252 folgert: »die Situation wird durch zahlreiche Einzelheiten viel konkreter, ja fast drastisch ausgestaltet.« Selbst schon poetisch formuliert Brinkmann (1936) 199: »Aus dem in sich geschlossenen Kunstwerk blicken wir bald hier, bald dort wie durch ein Fenster in die weite Welt.« – Diesen
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
beiden Bestandteilen besondere Aufmerksamkeit verdient. Handelt es sich hierbei um eine Schöpfung des Horaz oder um eine Übersetzung/Übertragung eines griechischen Mottos? Auf der Suche nach einem möglichen griechischen Praetext des Oden-Anfangs ist der Horazkommentator Pomponius Porphyrio ein guter Wegweiser.14 Er bemerkt zu diesem Gedicht: »cuius sensus sumptus est ab Anacreonte ex libro tertio« (»dessen Idee [oder Stimmung?] von Anakreon genommen wurde, und zwar aus dem dritten Buch«). Wenn man dieser Angabe Glauben schenkt und in den erhaltenen Fragmenten des Anakreon nach einem möglichen Referenztext sucht, erscheint Fragment 11 b/356 am geeignetsten:15
5
ἄγε δηὖτε μηκέτ’ οὕτω πατάγωι τε κἀλαλητῶι Σκυθικὴν πόσιν παρ’ οἴνωι μελετῶμεν, ἀλλὰ καλοῖς ὑποπίνοντες ἐν ὕμνοις.
5
Auf nun also, wir wollen nicht mehr so mit Lärm und Geschrei Skythentrinkweise16 beim Wein pflegen, sondern bei schönen Hymnen ein wenig trinken!
Zunächst ist festzuhalten, daß Horaz sich trotz der stofflichen Anlehnung Freiheit im Metrum bewahrt hat: Er hat kein anakreontisches, sondern ein lesbisches Maß für sein Gedicht gewählt. Die Grundzüge der bei Anakreon imaginierten Situation hingegen sind mit denen der horazischen vergleichbar: Auch bei dem frühgriechischen Lyriker ist die Zechgesellschaft in Aufruhr geraten, und der Sprecher versucht zu beschwichtigen. Im Einzelnen kann man einerseits in clamorem einen Widerhall von πατάγωι τε κἀλαλητῶι sehen; andererseits erinnert der Völkername Thracum hinsichtlich der Wildheit, die seine Nennung evoziert, an die »wilden« und trinkfesten Anfang läßt Esser (1976) außer Acht, wenn er den intim-persönlichen Bereich erst durch die Charybdis in V. 19 gesprengt sieht und er ferner behauptet (ebd. 110), daß erst »mit Charybdis [...] das Fremde in die horazische Ode« eindringe. 14 Nach der communis opinio ist der Horazkommentar des Porphyrio wohl in der ersten Hälfte des 3. Jh.s n.Chr. entstanden. Über die philologischen und pädagogischen Absichten seines Verfassers informiert umfassend Diederich (1999); Kalinina (2007) stellt die Terminologie und Textgeschichte dieses Kommentares dar. 15 Zu Recht macht Cairns (1977) 131 darauf aufmerksam, daß Anakreon noch andere derartige, uns nicht überlieferte Gedichte geschaffen haben kann. Weil aber Gemeinsamkeiten zwischen diesem Anakreonfragment und carm. 1,27 deutlich erkennbar sind, lohnt sich ein kurzer Vergleich auf jeden Fall. – Von der Mühll (1940) 422 weist auf die Lekythos des Gales hin, auf welcher Anakreon in einer sympotischen Szene abgebildet ist. 16 Bei Athenaios, der das Fragment überliefert (10,427a), wird dem Abschnitt folgende Erklärung vorgeschaltet: τὴν ἀκρατοποσίαν Σκυθικὴν καλεῖ πόσιν [...].
1. carmen 1,27
157
Skythen, nach denen die Σκυθικὴ πόσις benannt ist.17 Doch damit sind die Parallelen erschöpft. Die erhaltenen Anakreonverse standen nicht am Gedichtanfang;18 ferner gibt der Sprecher bei dem griechischen Lyriker keinen Befehl wie bei Horaz. Vielmehr formuliert er eine Aufforderung, in die er sich selbst einschließt (μελετῶμεν). Diese Aufforderung wird anders als im Horazgedicht nicht mit Argumenten begründet. Darüber hinaus herrscht zwar auch bei Anakreon Tumult, aber eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt steht noch nicht unmittelbar bevor.19 Des weiteren schließt das Anakreonfragment mit einem neuen Gedanken, nämlich dem Singen schöner Hymnen, während bei Horaz am Ende der zweiten Strophe ein Ruhepunkt erreicht ist: Die Zecher werden aufgefordert, mit aufgestütztem Ellbogen liegenzubleiben; wenn sie dieser Aufforderung Folge leisten, kommt auch die Handlung zum Erliegen.20 Um aber zur Ausgangsfrage zurückzukehren, die im Hinblick auf die Junktur verecundumque Bacchum formuliert worden ist: Bei Anakreon ist nur schlicht von παρ’ οἴνωι die Rede; es gibt kein erkennbares Vorbild für die Formulierung, die Horaz verwendet hat. Wie soll man diese also deuten? Als bloße Metonymie oder Antonomasie, bei der vinum durch Bacchum substituiert wurde?21 Oder ist doch an den »echten« Dionysos/Bacchus, den Gott des Weines und der Ekstase, gedacht, oder liegt eine Mischform vor? Und was ergibt sich daraus für die Übersetzung des Adjektivs verecundum, das zunächst mit »scheu« wiedergegeben wurde? 17 Skythen und Thraker stehen, was ihre Trinkgewohnheiten betrifft, bei Platon, Nomoi I 637 E 2ff. nebeneinander. Bedenkenswert ist eine Bemerkung bei Syndikus (2001) I, 254, Anm. 18: Horaz wähle die Thraker, »weil damals die Skythen als Beispiel eines unverdorbenen Naturvolkes als positives Exempel galten.« So schon vorher Pasquali (1920) 512. 18 Dies ist ersichtlich aus der Weise, wie bei Athenaios dieses Fragment an das vorhergehende angeschlossen ist: Die verbindenden Worte (10,427a: καὶ προελθὼν τὴν ἀκρατοποσίαν Σκυθικὴν καλεῖ πόσιν) zeugen deutlich von einem Voranschreiten im gleichen Gedicht. Gegen diese Auffassung wendet sich von der Mühll (1940) 423f., dessen Argumentation allerdings von Fraenkel (1957) 212, Anm. 4 entkräftet wird. 19 Bei Horaz ist dies zumindest der Fiktion nach der Fall, wenn auch die meisten Interpreten den Anfang von absichtlicher Übertreibung geprägt sehen, wie zum Beispiel Pasqali (1920) 512 (»una massima grave almeno in apparenza«), Fraenkel (1957) 217 (»der Dichter [spricht] mit einem schalkhaften Lächeln«), Cairns (1977) 126f. (»the fighting with wine-cups (1f.) is on the same fantasy level as the stabbing (5f.) […] In these imperative clauses there is a graduated approach to reality«) und 127 (»a mixed effect of shock and humour«), West (1995) 126 (»mock solemnity«) sowie Syndikus (2001) I, 252 (»Horaz übertreibt«) und 255 (»Gerade die Überzeichnung der vermutlich nicht allzu dramatischen Situation […] ist geeignet, die Teilnehmer zur Besinnung und Ernüchterung zurückzuführen«), wohingegen Commager (1962) 74 glaubt: »The battles [...] are actual ones, if we may judge from the alarmed imperatives which follow«. 20 Zu Anakreon als einem möglichen Praetext der Ode vgl. auch Martin (2002) 103ff., der auch noch andere mögliche »Modelle« nennt, ohne aber einen Rekurs des Horaz auf diese Texte plausibel machen zu können. 21 Dies ist z.B. der Fall in carm. 3,16,34f.: nec Laestrygonia Bacchus in amphora / languescit mihi [...].
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Daß die Bezeichnung einer Sache durch den Namen des für sie »zuständigen« Gottes ersetzt wird, mit anderen Worten die Verwendung von Metonymie oder Antonomasie, ist für die römische Dichtung geradezu charakteristisch.22 Der locus classicus für diese Erscheinung, welcher zugleich die sehr frühe Verwendung dieses Tropus in der römischen Dichtung belegt, ist ein Fragment des Naevius (2. Hälfte des 3. Jh.s): cocus edit Neptunum Cererem et Venerem expertam Vulcanom Liberumque absorbuit pariter.23 Der Koch aß Neptun, Ceres und Venus, die Vulkan kennengelernt hatten,24 und Liber schluckte er ebenso hinab.25
Doch liegt hier eine solche einfache Metonymie vor? Das Adjektiv verecundum (V. 3) spricht dagegen: Die Bedeutungen »schlicht, einfach, scheu, rücksichtsvoll, schamhaft o.ä.« passen schlecht zum Wein selbst, so daß die Annahme einer bloßen Metonymie wohl abzulehnen ist. Ist mit Bacchus also der »leibhaftige« Dionysos/Bacchus gemeint? Kiessling/Heinze erklären, daß Bacchus dort zugegen sei, wo man seine Gabe genieße. Er liebe Zurückhaltung (das sei mit verecundum gemeint), und wüster Lärm beleidige ihn; deshalb solle der gottlose Lärm gedämpft werden (impium / lenite clamorem, sodales, V. 6f.).26 Karl Numberger ver22
Vgl. dazu Lausberg (1990) § 568, 1b, wo diese Erscheinung als »mythologische Metonymie« behandelt wird, und Maurach (1995) 138, der sie in der Untergruppe »Bewirkendes und Bewirktes« der Metonymie bespricht. Auch Gross (1911) hat eine detaillierte Untersuchung zu diesem Komplex vorgelegt, in der viel Material verarbeitet ist und die Entwicklung dieser Stilfigur chronologisch nachgezeichnet wird. 23 Fr. 30a-c. – Zur mythischen Metonymie in der Komödie vgl. auch im I. Teil Kap. 5.6.4. – Daß Lukrez diese Stilfigur für sein epikureisches Lehrgedicht trotz seiner philosophisch begründeten Ablehnung des Mythos billigt, ist im I. Teil, Kap. 5.8 bereits gezeigt worden. – Aber auch außerhalb der dichterischen Konvention findet dieses Stilmittel als psychagogisch-rhetorisches Element Verwendung, vgl. z.B. Cic. de orat. 3,167f.: Cererem pro frugibus, Liberum appellare pro vino, Neptunum pro mari […] videtis profecto genus hoc totum, cum inflexo immutatoque verbo res eadem enuntiatur ornatius [...]. 24 Sinngemäß muß das grammatisch zu Venerem gehörige Partizip expertam sich auf alle vorangehenden Akkusative beziehen. 25 Es bedeuten hier: Neptunus = Fische, Ceres = Brot, Venus = Gemüse, Vulcanus = Feuer, Liber = Wein. Besonders gelungen ist die Formulierung Venerem expertam Vulcanom: Die Göttin Venus hat ihren Ehemann Vulcanus sehr wohl kennengelernt. – Die ungewöhnliche Bedeutung »Gemüse« für Venus bestätigt Paulus Diaconus in einem Exzerpt aus Sextus Pompeius Festus (in der Warmingtonausgabe zu fr. 30a-c mitaufgeführt): significat per Cererem panem, per Neptunum pisces, per Venerem holera. 26 Kiessling/Heinze (1955) 116f. Schon Plessis (1924) 76 deutet: »ces cris, ce tumulte et ce désordre offensent un dieu«; Quinn (1985) 173 expliziert: »Because [it is] an offence against Bacchus.« Die Verwendung von impium in diesem Kontext hebt Pasquali (1920) 513 besonders
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weist zur Erklärung des Adjektivs auf carm. 1,18,7 (modici […] munera Liberi),27 obwohl verecundus und modicus nicht synonym sind, sondern nur dadurch ein Zusammenhang zwischen den beiden Stellen besteht, daß in beiden Oden das Substantiv Bacchus auftritt. Er deutet verecundum sodann proleptisch und bietet als (deutlich divergierende) Übersetzungsmöglichkeiten an: »so daß er schüchtern bleibt« oder »der das Maß (Selbstbeherrschung) liebt (wünscht)«.28 In carm. 1,18,7ff.29 ist die Aussageabsicht evident: Die Gaben des Liber sind mit Maß zu genießen (modici könnte als Enallage zu munera aufgefaßt werden); überschreitet man dieses Maß durch zügelloses Trinken, drohen Streitereien und Gewalttaten »im Rausch«. Wollte man also modici aus carm. 1,18 zur Erklärung von verecundum in carm. 1,27 heranziehen, müßte man sich bei der Übersetzung für »quantitativ maßvoll« oder Ähnliches entscheiden. Doch die Ausdrucksweise im ganzen Satz ist mehrdeutig: Ist mit Bacchum / sanguineis prohibete rixis (V. 3f.) gemeint, man solle den Gott Bacchus nicht mit so etwas Profanem wie blutigen Händeln konfrontieren (prohibere also im positiven Sinne von »bewahren, behüten vor«),30 oder ist gemeint, daß man den Umfang des Weingenusses von dem Punkt entfernt halten soll, an dem es zu Raufereien unter den Zechern kommt? Wird also dadurch zu maßvollem Trinken aufgerufen?31 Horaz ist es offensichtlich gehervor: »rimane assai audace: nulla meglio di queste audacie di espressione mostra quanto vigorosa sia la personalità stilistica di Orazio proprio là dove ›imita‹«. 27 Numberger (1972) 102; diese Parallele wurde u.a. schon herangezogen von Plessis (1924) 75 und Kiessling/Heinze (1955) 117. 28 Numberger (1972) 102. 29 Die hier entscheidende Passage (V. 7ff.) lautet: ac ne quis modici transiliat munera Liberi / Centaurea monet cum Lapithis rixa super mero / debellata, monet Sithoniis non levis Euhius [...]. 30 Bereits Porphyrio, der verecundum als »verecun[dum]de tractandum« erklärt [ähnlich die pseudacronischen Scholien (»verecunde eo uti deceat«), die jedoch auch noch »quod virgineo ore fingatur« als Erklärung anbieten], verweist auf Verg. Aen. 8,73, wo arcere zweifelsfrei in diesem positiven Sinne vorliegt. Auch Bentley (1869) 65 erklärt: »Defendite Bacchum a rixis, qui, nisi per nos steterit, verecundus erit.« So auch Pasquali (1920) 505 (»il combattere a mensa è un sacrilegio contro Dioniso«) und 513. In diese Richtung weisen ferner Plessis (1924) 75 (»tenir quelqu’un écarté d’un mal«), Kiessling/Heinze (1955) 117 (»bewahren vor«), ebenso Nisbet/Hubbard (1970) 312 (»defend from«), Quinn (1985) 173 (»protect Bacchus, whom such behaviour shames, from brawls and bloodshed«) und Connor (1987) 175 (»Bacchus, shy and dainty, who has to be protected from this furious brawling«). Ein ähnliches Bacchusbild findet sich auch in einem von Nisbet/Hubbard (1970) 312 zum Vergleich herangezogenen Fragment des Komödiendichters Alexis (fr. 285,2f.): ὁ γὰρ διμάτωρ Βρόμιος οὐ χαίρει συνὼν / ἀνδράσι πονηροῖς οὐδ’ ἀπαιδεύτωι βίωι. – Dieses Konzept eines friedliebenden Bacchus [vgl. auch Commager (1957) 68: »a figure fostering peace and harmony«] läßt sich freilich schwer vereinbaren mit seiner Darstellung als Kämpfer und medius belli in carm. 2,19,28. Allerdings läßt Horaz dort in den Versen 25-27 erkennen, daß man Bacchus bislang anders eingeschätzt hatte: quamquam choreis aptior et iocis / ludoque dictus non sat idoneus / pugnae ferebaris [...]. 31 Dieser Deutung müßte, wie oben skizziert, zuneigen, wer carm. 1,18 zur Erklärung heranzieht. Zu ihr tendiert wohl Numberger (1972) 102 (»so daß er schüchtern bleibt«); Cairns (1977)
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
lungen, beide Verständnisebenen resp. -möglichkeiten – erstens »Bacchus, der keine Raufereien mag« und zweitens »scheuer (im Sinne von: maßvoller) Weingenuß« – in der Junktur verecundumque Bacchum zu vereinigen. Somit vermengen sich hier eigentlicher und metonymischer Gebrauch des Namens Bacchus. Doch damit sind noch nicht alle Verwendungsmöglichkeiten dieses Tropus in der vorliegenden Ode ausgeschöpft, wie sich unten (Kap. 1.4) zeigen wird.
1.3 Die Verse 9-12 Wie bei der Behandlung der zweiten Strophe ersichtlich wurde, ist nach Vers 8 ein Einschnitt erreicht. Auf welche Weise gelingt es Horaz nun, dem Gedicht neue Dynamik zu verleihen und einen Fortgang zu schaffen, den Steele Commager für eine »genial scene«32 hält? 10
10
vultis severi33 me quoque sumere partem Falerni? dicat Opuntiae frater Megyllae quo beatus vulnere, qua pereat sagitta! Ihr wollt, daß auch ich vom herben Falerner meinen Anteil nehme? Es soll der opuntischen Megylla Bruder sagen, an welcher Wunde glücklich, an welchem Pfeil er zugrundegeht!
Die Sprechsituation hat sich gegenüber den ersten beiden Strophen erheblich verändert:34 Der Sprecher erteilt keine Befehle mehr; vielmehr eröffnet 127 deutet prohibete ähnlich: »prevent from happening what might happen but is not yet happening«. – Ausführlich diskutiert Bentley (1869) 65 in einer Alternativdeutung die Lesart inverecundumque Bacchum; daraus sowie aus allgemeinen Überlegungen folgert er: »Profecto, nisi valde fallor, et simplicius et Bacchi naturae convenientius videtur, ut potius dixerit noster, Prohibete Bacchum, ne in rixas incurrat, quam Prohibete rixas, ne in Bacchum incurrant.« Dies ist umso beachtenswerter, als in epod. 11,13 Bacchus tatsächlich inverecundus deus genannt wird, weil Weingenuß zum Ausplaudern von Geheimnissen verleite (vgl. auch carm. 1,18,16: arcanique Fides prodiga, perlucidior vitro). 32 Commager (1962) 74. 33 Ich entscheide mich also gegen Archibald Y. Campbells Konjektur severum und lese mit den Handschriften severi. – Es liegt kein zwingender Grund dafür vor, in severi mit Pasquali (1920) 505 und Quinn (1985) 173 einen Nominativ Plural zu sehen. Zwar verweist Campbell auf epist. 1,19,9 (adimam cantare severis), wo mit den severi eine Personengruppe gemeint ist. Wie Nisbet/Hubbard (1970) 313f. aber zeigen, liegt die Pointe an unserer Stelle darin, daß dem herben Falerner ein Attribut beigegeben ist, das zwar zu ihm paßt, sonst aber (vgl. etwa Catull, c. 27,5ff.) den Wassertrinkern zukommt. 34 Trotz dieser Veränderung aber erscheint es übertrieben, wenn Harrison (1979) 272 behauptet: »Here, at line 10, is where the ode first begins«, ganz abgesehen davon, daß sich der
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er einen Interaktionsprozeß mit den anderen Gästen.35 Deutlich erkennbar ist, daß sich das Gedicht nun in eine andere Richtung entwickelt, als es der Anfang erwarten ließ. Einige Kommentatoren sehen in der dann folgenden Aufforderung (dicat etc.) eine bewußte Ablenkung vom Sprecher, der sich so dem Trinkkomment entziehen wolle. Da aber das folgende Prädikat bibam (V. 13) doch gerade wieder ans Trinken erinnert, sollte man weniger ein Umgehen des Trinkkomments als vielmehr eine Veränderung der ganzen Stimmung hin zum friedlichen Scherzen als Intention dieser Strophe ansehen.36 Aus der Aufforderung des Sprechers in V. 8 darf nicht unbedingt geschlossen werden, daß die erhitzten Zuhörer ihr auch umgehend Folge leisten. Erst mit der dritten Strophe gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit endgültig an sich zu binden: Die »erotische Neugier« besiegt die Gewaltbereitschaft. Zwar ist aufgrund des Fehlens einer Fragepartikel nicht zweifelsfrei zu entscheiden, ob es sich bei vultis […] Falerni um eine Aussage oder eine Frage handelt. Aber der Sprecher muß eine aufmunternde Antwort erhalten haben, bevor er die Verse 10b-12 aussprechen konnte. Das Trinken wird an eine Bedingung geknüpft; einer der Symposiasten muß erst etwas tun, bevor der Sprecher einen Schluck Falerner nimmt. Hier zeigt sich besonders klar, daß in carm. 1,27 eine sich entwickelnde Handlung dargestellt wird, allerdings nicht durch explizite »Regieanweisungen« oder durch auktoriale Kommentare.37 Der Handlungsfortschritt wird allein aus den Äußerungen des Sprechers deutlich, während die Antworten und Reaktionen der apostrophierten Gesellschaft ungenannt bleiben.38 Der Bruder der Megylla aus Opus – sozusagen durch einen »SchweEinschnitt offensichtlich vor Vers 9 befindet. – Nicht nachvollziehbar ist die folgende Behauptung ebd. 272f.: vultis […] Falerni »parallels in Roman terms what verses 1-6 have already said«. 35 Auch hier ist eine Entscheidung über die Frage, ob sich der Sprecher erst zum magister convivii aufwirft [so Brinkmann (1936) 192, Kiessling/Heinze (1955) 117, Nisbet/Hubbard (1970) 314] oder ob er diese Funktion schon anfangs ausübt [so Cairns (1977) 125f.], weder möglich noch notwendig. 36 So auch Plessis (1924) 75 (»pour les en [= de leurs disputes] distraire«); ähnlich urteilt Cairns (1977) 128: »Horace is inverting the commonplace that love is spurred on to violence by wine. Instead he is employing love as an antidote and disincentive to drunkenness and violence«, wenn er auch vorher (S. 124) eine Ablenkung des »pressure to drink from himself to the frater« konstatiert. Beide Ansichten kombiniert Kilpatrick (1969) 228. – Commager (1962), der die Ode durch eine »opposition of bella and bella amoris« geprägt sieht (S. 72), konstatiert auf S. 74 für die Strophen 3ff.: »the only battles, injuries, or conquests which remain are metaphorical ones.« 37 Diese ließen sich freilich leicht ergänzen; vgl. die Vorschläge von Wheeler (1934) 204f. und Fraenkel (1957) 213ff. Die mimetischen Elemente der Ode untersucht Albert (1988) 127ff. ausführlich. 38 Beispiele dieser Technik aus der hellenistischen und römischen Poesie führen Nisbet/Hubbard (1970) 310 mitsamt einer Charakterisierung auf [»we seem to be looking at a oneman act or overhearing a telephone conversation«; schon Brinkmann (1936) 198 hatte zum Vergleich ein Telefongespräch herangezogen]; weitere Stellen bei Syndikus (2001) I, 253, Anm. 12. Eine Überblicksdarstellung zum mimetischen Gedicht in der Antike hat Albert (1988) vorgelegt. –
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sternamen« apostrophiert – soll verraten, in wen er verliebt ist, wobei das Verliebtsein in elegischer Ausdrucksweise umschrieben wird (V. 11f.: quo beatus / vulnere, qua pereat sagitta).39 Die umschreibende Namensangabe, nach E.H. Sturtevant eine »tantalizing phrase«,40 hat zu einigen Spekulationen Anlaß gegeben;41 der Eigenname kommt ebenso wie das toponymische Adjektiv bei Horaz ausschließlich in dieser Ode vor. Vielleicht dient diese Periphrase dazu, durch griechisches Kolorit ein Gegengewicht zum einzigen römischen Zug des Gedichtes zu schaffen, zum kurz vorher genannten Falerner.42 Abschließend erscheint es noch lohnend, eine von Francis Cairns aufgestellte These zu dieser Namensperiphrase einer kurzen Prüfung zu unterzieBei Horaz findet sich die gleiche Technik zum Beispiel in epod. 5.7.9.16 und carm. 2,11; 3,19.27.28. Fraenkel (1957) 215 und Syndikus (2001) I, 254 heben allerdings als wichtigen Unterschied zur Mehrzahl der genannten Gedichte hervor, daß der Sprecher in carm. 1,27 kein neutraler Beobachter, sondern ein Hauptakteur ist. – Ob in dem oben behandelten Anakreonfragment ebenfalls ein Handlungsfortschritt verzeichnet werden kann, ist umstritten: Dieser Auffassung sind z.B. Pasquali (1920) 508 und Nisbet/Hubbard (1970) 309; dagegen sprechen sich von der Mühll (1940) und Syndikus (2001) I, 252, Anm. 2 aus. 39 Zu diesen Ausdrucksformen der Elegie (auch im Folgenden) vgl. Pichon (1966) unter den entsprechenden Lemmata. 40 Sturtevant (1912) 122. 41 Brinkmann (1936) 193 sieht den Namen einerseits aus euphonischen Gründen gewählt, andererseits vermutet er: »Wenn Megilla statt des Bruders genannt wird, dann muß sie allerdings dem Horaz wichtiger sein als der – scheinbare – Held der Geschichte. […] natürlich ist Horaz in sie verliebt, und dies ist es, worauf es hier ankommt.« Kiessling/Heinze (1955) 117: »natürlich ist die schöne Megilla anwesend und der Dichter sichert sich einen guten Empfang, indem er ihren Bruder den ersten Toast ausbringen heißt, und zwar eben als ihren Bruder.« Nisbet/Hubbard (1970) 314: »But though natural in Hellenistic literature, the specification here removes the characters from the real world of Roman society. Moreover, in the context of the symposion Megylla must be an hetaera, and an elegant young Roman would not care to know her brother.« Quinn (1985) 173: »the implication is that Megylla is better known to H.’s audience than her brother […] and herself present«; Syndikus (2001) I, 255: »Schon die scherzhafte Anrede [...] führt in die galante Welt jugendlicher Liebschaften: Die Erwähnung der Schwester ist eine Verbeugung vor einer natürlich allen Gefährten bekannten Schönheit, die wohl auch beim Symposion anwesend ist«. – Scharfsinnig ist eine Vermutung von Kilpatrick (1969) 225f.: Er sieht im Namen Megilla eine Anspielung auf den Lakedämonier Megillos, der in Platons Nomoi auftritt. In den ersten zwei Büchern dieses platonischen Alterswerkes werden auch die Themen »Weingenuß« und »Symposion« verhandelt; zudem finden auch Thraker dort Erwähnung (vgl. Anm. 17). Gegen einen allzu engen Zusammenhang ist aber einzuwenden, daß bei Horaz eben von einer Megylla (nicht: Megilla) die Rede ist, welche überdies keine Lakedämonierin ist, sondern aus Opus stammt. Wenn Horaz überhaupt diese Möglichkeit der Allusion/Assoziation bedacht hat, wollte er wohl höchstens ein schwaches Echo erzeugen. 42 Diesen hat Brinkmann (1936) 193, Anm. 1 offensichtlich übersehen, wenn er behauptet: »es findet sich – äußerlich – kein römischer Zug im ganzen Gedicht.« Betont wurde dagegen dieses römische Detail z.B. von Kilpatrick (1969) 218.228 und Harrison (1979) 272, Anm. 7. – Die Atmosphäre der Ode insgesamt wurde völlig unterschiedlich gedeutet: Während Kilpatrick (1969) 218 urteilte: »the whole poem is Greek with the exception of one detail, Falerni«, bemerkt Connor (1987) 175 zu Thracum: »This gives a Greek atmosphere to the scene and yet the situation and the people are clearly Roman«.
1. carmen 1,27
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hen: Cairns vermutet, daß Horaz den Namen des frater nicht ausspreche, um ihn für einen Trinkspruch zurückzuhalten. Unter diesem Vorwand fordere er auch den Bruder auf, seine Geliebte zu nennen, damit Horaz beide in einem gemeinsamen Toast feiern könne.43 Abgesehen davon, daß diese Intention aus dem Gedicht nicht deutlich wird,44 spricht Folgendes dagegen: Durch seine umfassenden Zusicherungen in den sich anschließenden Versen und vor allem durch die Betonung seiner tutae aures schafft der Sprecher nicht den Rahmen für ein offenes Verkünden dieser Intimität, wie es bei einem Toast der Fall wäre.45 Besonders aber durch die Aussage non alia bibam / mercede (V. 13f.) wird doch klargemacht, daß die (diskrete und leise) Nennung des Namens eine Leistung ist, die der frater im Rahmen einer Art von Spiel erbringen möge. Daß der Name danach noch zu weiteren Zwecken dienen soll, wird nicht deutlich.
1.4 Zur Bedeutung von Venus (V. 14) Am Anfang der vierten Strophe gerät die Handlung abermals in Stocken; der Sprecher muß seine Frage durch umfassende Zusicherungen flankieren (V. 13-18a): cessat voluntas? non alia bibam v.l.: voluptas mercede. quae te cumque domat Venus, non erubescendis adurit ignibus, ingenuoque semper
15
amore peccas. quidquid habes, age, depone tutis auribus! Zögert der Wille? Für keinen anderen Lohn will ich trinken. Welche Venus dich auch immer bezwingt, sie versengt dich mit Liebesgluten, deren man sich nicht zu schämen braucht, und in anständiger Liebe immer
15
vergehst du dich. Was auch immer du hast, los, vertrau’ es verläßlichen Ohren an!
43
Cairns (1977) 124. Auch Syndikus (2001) I, 256, Anm. 2 hält Cairns entgegen: »Aber hätte Horaz diese Absicht nicht deutlicher machen müssen?« 45 Schon Pasquali (1920) 507 hatte gegen eine »Toastthese« bei Kiessling/Heinze argumentiert: »Chi dice subito quidquid habes, age, depones [sic!] tutis auribus non esige dall’inamorato che dia il suo segreto in pascolo a tutta un’assemblea di briachi, ma si contenta che quello sussurri il nome al suo orecchio sotto il suggello del segreto.« Kiessling/Heinze (1955) 117 glauben allerdings, Horaz fordere den frater auf, selbst einen Trinkspruch vorzutragen. 44
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Weil Megyllas Bruder nicht mit dem gewünschten Elan reagiert hat,46 muß der Sprecher auf seiner Forderung insistieren (non alia bibam / mercede). Er macht aber diese Aufforderung dadurch annehmbarer, daß er sich selbst als vertrauenswürdig darstellt (V. 18: tutis auribus)47 und dem Angesprochenen durch die Verwendung verallgemeinernder Ausdrucksformen (quae [...] cumque, semper48, quidquid) suggeriert, daß jede erdenkliche Antwort unproblematisch sein werde.49 Bemerkenswert ist dabei die Verwendungsweise des Substantivs Venus (V. 14): Hierin lassen sich – als Steigerung gegenüber der Verwendung von Bacchum in Vers 3 – drei Bedeutungsnuancen resp. -ebenen erkennen: (1) Die Verwendung des Verbs domare evoziert den Gedanken an ein mächtiges Wesen, das ein anderes mit überlegener Gewalt unter seinen Willen zwingt; domat weist also auf die Göttin Venus hin.50 Dieser mythische Gebrauch von Venus war schon in den Versen 11f. vorbereitet worden, als der Sprecher Megyllas Bruder in Form eines Oxymorons gefragt hatte, 46 Ich sehe also hier mit Plessis (1924) 76, Fraenkel (1957) 214, Nisbet/Hubbard (1970) 314, Quinn (1985) 173, Connor (1987) 175 und Albert (1988) 131 die voluntas des frater angesprochen. Daß die anderen Gäste sich für solche Fragen interessierten und in ihrer Neugier nicht nachließen, erscheint selbstverständlich. Anders Kiessling/Heinze (1955) 118, die darauf hinweisen, daß der frater ja noch gar keine voluntas gezeigt habe. Porphyrio, der voluptas liest, bietet noch eine weitere, aber nicht überzeugende Deutung: Der Sprecher habe gleich keine Lust mehr zu trinken, wenn man ihm nicht antworte. Eindeutig jedoch die pseudacronischen Scholien zu V. 13: »voluntas: hoc est confessionis«. – Die Stilhöhe des gesamten Ausdrucks beurteilen Nisbet/Hubbard (1970) 314 wie folgt: »The phrase is pretentious and stylized; such words did not pass human lips at a real symposium«. 47 Andere denken an alle Anwesenden: so Plessis (1925) 77 (»les convives seront discrets«), Quinn (1985) 174 (»The safe ears are those of the young man’s friends: they won’t tell others – but they won’t hesitate to tease Megylla’s brother themselves«) und Albert (1988) 132, Anm. 390. Diese Auffassung überzeugt jedoch nicht, zumal Quinn selbst ebd. relativieren muß: »though the young man may have been led to suppose his secret was safe with H.« Für Porphyrio (zu V. 18f.) steht fest: »intellegendum hic illum in aurem Horatio amorem suum confessum«, ganz ähnlich auch die pseudacronischen Scholien zur Stelle: »ostendit illum quasi in aurem sibi esse confessum«. 48 Nisbet/Hubbard (1970) 315 sehen in semper statt »immer« eher »at all events« ausgedrückt, was der sonstige lexikalische Befund für semper aber nicht stützt. 49 Vergleichbar ist Catull, c. 6,15f.: quare, quidquid habes boni malique, / dic nobis. Dort ist man aber schon vorher ungefähr orientiert, da in V. 4f. konstatiert wurde: verum nescio quid febriculosi / scorti diligis: hoc pudet fateri. 50 Vgl. zur Macht der Aphrodite/Venus Hom. Il. 14,198f. (Hera zu Aphrodite: δός νύν μοι φιλότητα καὶ ἵμερον, ὧι τε συ πάντας / δάμναι ἀθανάτους ἠδὲ θνητοὺς ἀνθρώπους), Sappho fr. 102,2: πόθωι δάμεισα παῖδος βραδίναν δι’ Ἀφροδίταν. Bei Horaz selbst: carm. 1,33,10ff.: sic visum Veneri, cui placet imparis / formas atque animos sub iuga aenea / saevo mittere cum ioco; carm. 3,9,17f.: quid si prisca redit Venus / diductosque iugo cogit aeneo [...]? Zur Gestalt der Venus bei Horaz insgesamt vgl. Oksala (1973) 52-60 und die Ergänzungen in der Rezension von Syndikus (1975) 759, der die strahlende Seite der Liebe stärker betont. – Seltener wird domare allerdings auch verwendet, wenn ein Mädchen Subjekt ist; vgl. Prop. 1,9,6: quos iuvenes quaeque puella domet.
1. carmen 1,27
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an welcher Wunde glücklich, an welchem Pfeil er zugrundegehe (quo beatus / vulnere, qua pereat sagitta). Schon an dieser Stelle hatte der Sprecher den Gedanken an Cupido, den Sohn der Venus, geweckt, dessen Pfeile den jeweils Getroffenen in Liebesqualen stürzen. (2) Andererseits ist es aber doch das selbst erlebte Gefühl der Liebe, welches den Geist bezwingt und bändigt; also stellt Venus hier auch eine Metonymie für amor dar.51 Kiessling/Heinze ziehen zur Erklärung dieser Stelle – ähnlich wie zu Bacchus in Vers 3 – eine Art von Epiphanie heran: Die Vorstellung der persönlichen Gottheit fehle nicht ganz; die Göttin Venus manifestiere sich in jeder Liebe.52 (3) Das in Tmesis auftretende verallgemeinernde Relativpronomen quae […] cumque deutet auf eine große Auswahl hin, um welche Venus es sich handeln könnte. Auch die folgenden Verse weisen durch ihren allgemeinen Charakter (semper, V. 16; quidquid, V. 17) auf eine größere Gruppe hin, als deren Bestandteil die jetzige Venus anzusehen ist. Mit Venus muß daher wohl auch »Liebreiz eines Mädchens«, »geliebtes Mädchen« gemeint sein, zumal ja gerade nach dem Namen der Geliebten eindringlich gefragt wird.53 Es liegen also zugleich eigentlicher Gebrauch (Venus als Liebesgöttin) und zweifache Metonymie (Venus = amor und Venus = puella amata) vor. Anscheinend »spielt« Horaz auch hier mit der poetischen Konvention: Dichter verwenden seit langer Zeit Metonymien des Typs mare/Neptunus. Daß es Horaz aber gelingt, mehrere Nuancen bzw. Verständnisebenen durch den Kontext und durch die dem Gedicht insgesamt zugrundeliegende Konzeption zu kreieren, dokumentiert seine Originalität und sein Vergnügen am Spiel mit Tradiertem.
51 So auch Gross (1911) 400f., Plessis (1925) 76 (»un amour, une passion«) und Kiessling/Heinze (1955) 118 (»sei es Liebesempfinden oder Liebesgenuß«). – Das Substantiv amor selbst wiederum ist in Vers 17 wohl ebenfalls metonymisch gebraucht, da das hinzutretende Adjektiv ingenuus in seiner Grundbedeutung (»freigeboren«) eher eine Person als ein Abstraktum beschreibt und erst übertragen »eines Freien würdig, anständig« bedeutet. Somit meint ingenuoque semper amore peccas wohl eigentlich: »Immer vergehst du dich mit einer freigeborenen Geliebten.« – Daß aber auch die Liebe zu einer ancilla keine Schande ist, wird in carm. 2,4 durch den Verweis auf mythische ancillae gezeigt. 52 Kiessling/Heinze (1955) 118. 53 Dies lehnen Kiessling/Heinze (1955) 118 ohne weitere Erklärung ab (»nicht eine persönliche ›Schönheit‹«). – Zur Geliebten (»lady-love«) tendieren mit einem vorsichtigen »perhaps« Nisbet/Hubbard (1970) 314f. (»a reference to the girl seems more direct and natural«), Quinn (1985) 174 und Syndikus (2001) I, 253, Anm. 11 (»Liebschaft«). Zwei Möglichkeiten sehen die pseudacronischen Scholien zur Stelle: »aut amor aut amica«.
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1.5 Mythische Gestalten als Gradmesser Nachdem der Sprecher endlich den Namen der Geliebten erfahren hat, ruft er voller Entsetzen (V. 18b-20):
20
a miser! quanta laboras in54 Charybdi, digne puer meliore flamma!
20
Ach Elender! In welch’ großer Charybdis leidest du, Junge, der du eine bessere Flamme verdient hättest!
Zwar handelt es sich bei der Charybdis nicht um ein mythisches Ungeheuer im engeren Sinne, sondern um eine Klippe mit einem gefährlichen Strudel;55 aber ihre fast schon sprichwörtliche Verbindung mit dem Meeresungeheuer Skylla, die auf die Erzählung des Odysseus in Buch 12 der Odyssee zurückgeht, erlaubt es wohl, sie zur Kategorie »Mythos« zu rechnen.56 Die Freundin des jungen Mannes, der nun dem Sprecher als miser gilt – 54 Die Überlieferung ist an dieser Stelle uneinheitlich: Neben dieser von Bentley (1869) 66 nachdrücklich und überzeugend verteidigten Lesart, welche die unter ς subsumierten codices deteriores bieten, gibt es auch die Variante laboras mit Omission von in, die von E und δ geboten und von Porphyrio bezeugt wird, sowie die Lesart laborabas, welche die Übrigen und V überliefern. Die Variante laboras wäre metrisch anomal, und es gibt keinen Grund, sie zu befürworten. Wer das Imperfekt laborabas verteidigt, für das sich viele Editoren entschieden haben, muß erklären, warum ein noch andauernder (und, wie die letzte Strophe zeigen wird, kaum beendbarer) Zustand mit einem Vergangenheitstempus geschildert wird. Versuche dazu finden sich bei Fraenkel (1957) 382, Anm. 2, Kiessling/Heinze (1955) 118 sowie bei Nisbet/Hubbard (1970) 315 und (1986) 230, indem auf Einflüsse der griechischen Syntax hingewiesen wird (Fraenkel hat dabei aber selbst Zweifel), oder bei Numberger (1972) 104, der Attraktion an ein in Vers 20 hinzuzudenkendes Imperfekt vorschlägt. Diese Lesart könnte man mit Syndikus (2001) I, 256, Anm. 23 zumindest als »seltsam« ansehen. Denkbar wäre auch, daß Horaz diese ungewöhnliche Ausdrucksweise in Kauf nahm, um eine Alliteration mit dem b in Charybdi zu erzielen. Damit würde man sich jedoch wahrlich für eine lectio difficillima entscheiden. Auch wäre es möglich, in Anbetracht der folgenden Futura eine Konjektur laborabis vorzuschlagen (wie es Weber getan hat). Doch erscheint das von den sogenannten schlechteren Codices überlieferte laboras in am einleuchtendsten, wofür auch Brink (1969) 3 plädiert; vor allem wenn man bedenkt, daß der von der »wahren« Charybdis bedrohte Seefahrer eben mitten in einem Strudel in Bedrängnis kommt und daß somit die örtliche Vorstellung in das übertragene Bild mitgenommen zu sein scheint. Bei syntaktischen Bedenken vergleiche man Hor. carm. 1,17,19 (laborantis in uno). Letzte Sicherheit läßt sich hier – wie des öfteren in textkritischen Fragen – wohl nicht gewinnen. Ältere Forschungsmeinungen verzeichnen Havet (1912) und Rasi (1913); weitere Literatur zu dieser Frage findet man bei Syndikus (2001) I, 256, Anm. 23. 55 Vgl. allerdings die Ausführungen des Servius zu Aen. 3,420: Charybdis sei eine äußerst gefräßige Frau gewesen, die von Zeus als Bestrafung für den Diebstahl der Heraklesrinder mit einem Blitz niedergeschmettert und ins Meer geworfen worden sei. 56 Daß für Horaz die Charybdis eindeutig der Sphäre des Mythos angehört, wird aus ars 144f. deutlich, wo die Charybdis ein miraculum unter anderen ist: speciosa dehinc miracula promat, / Antiphaten, Scyllamque et cum Cyclope Charybdin.
1. carmen 1,27
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welch ein Kontrast zum vorhergehenden beatus (V. 11)! –, wird also mit dem Meeresstrudel Charybdis identifiziert, wobei mehrere Vergleichspunkte gegeben sind: Einerseits behauptet der Sprecher dadurch in stark übertreibender Form, daß diese Frau für Megyllas Bruder so gefährlich sei wie die Charybdis für Seeleute allgemein oder für Odysseus im Speziellen.57 Abgesehen von diesen allgemeinen Gefahr für Leib und Leben, muß man aber auch an die Eigenart eines Strudels denken, alles mit gewaltiger Kraft zu verschlingen. Überträgt man diesen Punkt auf die Realebene, so wird der Frau dadurch Habgier und Verschwendungssucht unterstellt; sie verschlingt Hab und Gut des Mannes wie ein Strudel ein Schiff.58 Diese Frau wird also eindeutig negativ dargestellt; sie ist das Gegenbild einer melior flamma (vgl. V. 20). In diesem Kontext dient mithin ein Element des Mythos dazu, bei einem Menschen den Grad einer Charaktereigenschaft zu illustrieren; das Mythologem erfüllt folglich hier die Funktion eines Gradmessers. Horaz ist freilich nicht der erste, der Mythisches in dieser Funktion verwendet. Bei dem griechischen Komödiendichter Anaxilas (Mitte des 4. Jh.s v.Chr.) liest man in einem Fragment der Komödie Neottis: 18
ἡ δὲ Φρύνη τὴν Χάρυβδιν οὐχὶ πόρρω που ποιεῖ, τόν τε ναύκληρον λαβοῦσα καταπέπωκ’ αὐτῶι σκάφει;59
18
Läßt aber Phryne die Charybdis nicht irgendwie weit zurück, und hat sie den Kapitän ergriffen und hinabgeschlungen mitsamt dem Boot?
Eine ähnliche Ausdrucksweise findet sich auch in Plautus’ Bacchides (V. 470f.): 470
470
LY: meretricem indigne deperit. MN: non tu taces? LY: atque acerrume aestuosam: apsorbet ubi quemque attigit.60 LY: »Vor Liebe zu einer Dirne vergeht er schändlich.« MN: »Bist du nicht ruhig?« LY: »Und zwar zu einer, die auf hitzigste Weise brandet: Sie verschluckt jeden, sobald sie ihn berührt hat.«
57 Die (fiktionale) Dramatik der Szene wird noch dadurch erhöht, daß die sonst bei Horaz sehr seltene Interjektion a hinzugefügt ist (sonst nur noch in epod. 5,71 aus dem Munde der Hexe Canidia und in carm. 2,17,5 gegenüber dem von Todesgedanken gequälten Maecenas geäußert). 58 Ganz anders Minadeo (1982) 91, für den die Charybdis »a symbol which signifies absorbtion into the vagina« darstellt. 59 Fr. 22,18f. –Vergleichbare Stellen und Literatur hierzu verzeichnen Nisbet/Hubbard (1970) 315f. 60 Bei den Dialogpartnern handelt es sich um den paedagogus Lydus und den adulescens Mnesilochus.
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Auch in der Prosa wird die Charybdis gelegentlich in diesem Sinn verwendet. Cicero etwa hat zwar gewisse Einwände gegen die Figur Charybdis bonorum,61 bezeugt aber gerade dadurch deren Verwendung. Die Verbindung dieses Strudels mit einer üblen Dame ist also keine seltene Redefigur. Nachdem nun dem Unglücklichen die Diagnose gestellt ist, wird über denkbare Heilmittel räsoniert: »Welche Hexe, welcher Magier wird dich von den thessalischen Zaubermitteln befreien können, welcher Gott?«, schreit der Sprecher in einem Trikoloncrescendo auf (V. 21f.: quae saga, quis te solvere Thessalis / magus venenis, quis poterit deus?). Diese klimaktische Reihe findet in deus (V. 22) ihren Höhepunkt,62 worin man gegen Kiessling/Heinze keinen vom magus beschworenen Gott sehen sollte.63 Vielmehr stellt deus eine Macht dar, die noch größer als die der irdischen Zauberer ist, wobei der Sprecher aber nicht genau weiß, welcher Gott für eine solche Aufgabe geeignet sein könnte. Die Ode klingt aus mit einem Bild, das nochmals die Hoffnungslosigkeit der Situation unterstreicht (V. 23f.): vix illigatum te triformi Pegasus expediet Chimaera. Kaum wird dich, der du von der dreigestaltigen Chimaira umschlungen bist, Pegasos von ihr losmachen können.
Hier sind zwei Mythologumena in übertragener Funktion verwendet: Diesmal wird die Freundin des jungen Mannes mit der Chimaira gleichgesetzt, dem bekannten mythischen Ungeheuer, das u.a. Homer in der Ilias schildert.64 Darin läßt sich noch eine Steigerung gegenüber der Gleichsetzung der Frau mit der Charybdis erkennen. Abermals dient ein mythisches Element dazu, einen Charakterzug eines Menschen in seiner Ausprägung anschaulich vor Augen zu führen; auch die Chimaera, mit der das Gedicht endet,65 erfüllt die Funktion eines Gradmessers: Die Freundin des frater ist
61
De orat. 3,163. Esser (1976) 110 vermischt verschiedene Ebenen, wenn er eine Klimax in »Charybdis«, »Zauberin und Magier« und »Chimaera« sieht. 63 Kiessling/Heinze (1955) 119. 64 Hom. Il. 6,180ff.: ἣ δ’ ἄρ’ ἔην θεῖον γένος, οὐδ’ ἀνθρώπων, / πρόσθε λέων, ὄπιθεν δὲ δράκων, μέσση δὲ χίμαιρα, / δεινὸν ἀποπνείουσα πυρὸς μένος αἰθομένοιο. Vgl. auch Lucr. 5,905f. (prima leo, postrema draco, media ipsa, Chimaera / ore foras acrem flaret de corpore flammam), der die traditionelle Ansicht jedoch nur darstellt, um sie zu verwerfen. – Eine etwas andere Beschreibung gibt Hesiod, der dieses Ungeheuer zusätzlich als dreiköpfig schildert (theog. 321: τῆς [δ’] ἦν τρεῖς κεφαλαί). 65 Mit Esser (1976) 110 ist zu betonen, daß durch die Endstellung der Symbolgehalt dieses Namens voll ausgeschöpft wird. 62
1. carmen 1,27
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ein schreckliches Ungeheuer,66 das den jungen Mann umgarnt hat und ihn nun nicht mehr aus seinen Fängen entkommen läßt.67 Auch für den Vergleich bzw. die Identifikation einer Frau mit der Chimaira findet man einen möglichen Referenztext. Es ist wiederum die Komödie Neottis des Anaxilas, in der es von der Hetäre Plangon heißt: 8
τὴν Πλαγγόνα, ἥτις ὥσπερ ἡ Χίμαιρα πυρπολεῖ τοὺς βαρβάρους.68
8
die Plangon, welche genau wie die Chimaira die Barbaren verbrennt.
Interessanterweise kommen also auch bei Anaxilas beide Vergleichselemente (Charybdis und Chimaira) zusammen vor.69 Daraus könnte man entweder schließen, daß Horaz genau diese Stelle als Praetext vor Augen hatte oder daß das gemeinsame Auftreten beider Elemente schon Eingang in den Sprichwortschatz gefunden hatte und daß Horaz von dort Kenntnis davon erlangt hat. Für eine endgültige Entscheidung reichen die Hinweise wohl nicht aus. Das Bild der Chimaira aber wird bei Horaz nun dadurch weiter ausgeführt, daß noch Pegasos miteinbezogen wird, das mythische Wunderroß, welches Bellerophon im Kampf gegen die Chimaira half.70 Horaz bleibt dadurch beim selben Mythos, überbietet ihn aber noch dadurch, daß in der imaginierten Situation eben selbst das Wunderpferd Pegasos kaum Rettung 66
Daß die Chimaira bei Horaz als schreckliches Ungeheuer par excellence fungiert, sieht man in carm. 4,2,15f. (cecidit tremendae / flamma Chimaerae), vor allem aber an der Beteuerung gegenüber Maecenas in carm. 2,17,13ff.: me nec Chimaerae spiritus igneae / [a te] divellet umquam. 67 Ausdrucksweisen wie »umstricken« und »freimachen« in Liebesdingen finden sich ohne mythischen Kontext beispielsweise bei Ter. Hec. 297: vix me illi abstraxi atque inpeditum in ea expedivi animum meum [...]. 68 Fr. 22,8f. Vgl. dazu auch im I. Teil Kap. 5.6.2. – Eine knappe Auflistung von Stellen der griechischen Literatur, an denen femmes fatales mit (zum Teil mythologischen) gefährlichen Tieren verglichen werden, bietet Borthwick (1967). – Geistesgeschichtlich höchst interessant ist, daß die Komödiendichter, wie Pasquali (1920) 518f. zeigt, zu der Zeit begannen, Hetären mit homerischen Monstern zu vergleichen, als man in den homerischen Gedichten verstärkt ὑπόνοιαι suchte (vgl. z.B. Platon, rep. II 378 D 7f.). Pasquali (1920) beschreibt das Vorgehen der Komödiendichter treffend folgendermaßen (S. 519): »certo servendosi a fini scherzosi di metodi che la scienza prendeva sul serio.« 69 Zum Mythos in der Komödie allgemein vgl. im I. Teil Kap. 5.6; speziell zur Mittleren Komödie vgl. ebd. Kap. 5.6.2. 70 Wenn West (1995) 128 behauptet: »That never was the function of the horse«, ist dies falsch. Hesiod betont ausdrücklich die Teilnahme des Pegasos am Kampf gegen die Chimaira (theog. 325): τὴν μὲν Πήγασος εἷλε καὶ ἐσθλὸς Βελλεροφόντης; vgl. ferner Pind. O. 13,86ff. – Im Übrigen erzählt Horaz einen anderen Teil dieses Mythos in carm. 4,11,26ff. als vor überzogenen Erwartungen warnendes Beispiel: exemplum grave praebet ales / Pegasus terrenum equitem gravatus / Bellerophontem, // semper ut te digna sequare [...].
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gegen solch ein Ungeheuer bringen kann: ein hyperbolischer Vergleich; der Mythos bleibt – innerhalb der Fiktion – hinter der im Gedicht geschilderten Situation zurück.71 Somit kann Dorothee Galls Annahme, bei Horaz werde der Mythos nicht durch den Bereich des Erfahrbaren übertrumpft,72 als widerlegt gelten. Solche hyperbolischen Vergleiche des Typs »Selbst ein Gott oder eine mythische Gestalt erreicht etwas oder jemanden nicht/ist machtlos/bleibt zurück hinter jemandem« sind, wie Helen H. Law zeigen konnte, in der antiken Literatur recht weit verbreitet.73 Horaz ist also nicht der πρῶτος εὑρετής solcher Ausdrucksweisen, doch er setzt sie mit großem Geschick ein.
1.6 Die Bedeutung des Bellerophonmythos im Kontext Die Kunstfertigkeit, mit der Horaz gerade den Bellerophonmythos für dieses Gedicht ausgewählt hat, wurde in der Forschung bislang kaum gewür71 In gewisser Weise erinnert diese Stelle an carm. 1,24,13ff. (quid si Threicio blandius Orpheo / auditam moderere arboribus fidem? / num vanae redeat sanguis imagini [...]?), wo ebenfalls – freilich in ganz anderem Kontext und ganz anderer Stimmung – in einem Gedankenspiel musikalische Fähigkeiten anhand des mythischen Gradmessers Orpheus in hyperbolischer Form dargestellt werden. Dann aber folgt wie an der oben behandelten Stelle eine negative Beurteilung der Erfolgsaussichten, eine Gegenposition zu derjenigen Darstellung dieses Mythos, die Vergil, welcher in eben diesem Gedicht apostrophiert wird, in georg. 4,467ff. bietet. Darin kann man mit Oksala (1973) 171 eine Korrektur des Mythos nach der Wirklichkeit sehen (»angesichts des Todes ist der Mythos als Mythos zu nehmen«). So auch Syndikus (2001) I, 236 (»ein schönes Märchen, das mit den unerbittlichen Gesetzen der Wirklichkeit nichts zu tun hat«), wohingegen Kiessling/Heinze (1955) 108 argumentieren, Horaz betrachte den Ausgang der Katabasis des Orpheus (also den selbstverschuldeten Verlust Eurydikes) und betone deshalb die Sinnlosigkeit. Zu hyperbolischen Vergleichen in der Komödie siehe auch im I. Teil Kap. 5.6. – Eine ähnliche »Korrektur« eines Mythologems läßt sich auch in carm. 1,28,7f. bei Tithonos feststellen. Gegen die gängige Version, in der Tithonos’ Leid ja gerade darin besteht, daß er uralt ist, aber nicht sterben kann (zum Beispiel in Hom. h. 5,218ff.), ist er bei Horaz gestorben (occidit, V. 7). Horaz wandelt also sogar den Handlungskern von Mythen z.T. so um, daß sie sich besser für sein Argumentationsziel einsetzen lassen. 72 Gall (1981) 83. 73 Law (1926) bietet aufschlußreiche Ausführungen zum Wesen und zur literarischen Tradition solcher Vergleiche. Da Vergleiche, bei denen ein Sterblicher an die Götter nur heranreiche, schon durch die Tradition abgenutzt seien (ebd. 361), sei die Form des hyperbolischen Vergleichs in der griechischen Literatur mehr oder weniger gängig (ebd. 366). Besonders häufig aber begegneten solche Vergleiche bei Euripides, in der hellenistischen Literatur und in der Anthologia Palatina. Auch für die lateinische Literatur lasse sich eine große Zahl solcher »hyperbolic comparisons« anführen: Bei Plautus dienten sie der Komik (ebd. 370), bei Vergil (vor allem in der Appendix) und Horaz würden sie mit Maß gebraucht [für Horaz werden carm. 1,24,13 (quid si Threicio blandius Orpheo); 2,20,13 (iam Daedaleo notior Icaro); 3,9,8 (Romana vigui clarior Ilia) und 3,12,8 (eques ipso melior Bellerophonte) genannt, gerade carm. 1,27 wird jedoch nicht berücksichtigt]. Ihr Extrem finde die Verwendung solcher hyperbolischer Vergleiche bei Properz (ebd. 366-368).
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digt. Denn unter der Oberfläche einer scheinbar zwanglosen Plauderei beim Gelage läßt sich folgende Verbindung aufspüren: In eine Ode, die mindestens zum Teil erotischen Inhalt aufweist, hat Horaz gerade den Bellerophonmythos integriert, der seinen Ausgang ebenfalls von einem erotischen πάθημα nimmt:74 Bellerophon lebte eine Zeitlang bei Proitos, dem König von Argos. Dessen Gemahlin Anteia (nach anderen: Stheneboia) näherte sich Bellerophon, konnte ihn aber nicht verführen und verleumdete ihn aus Rache bei ihrem Gatten Proitos (Phaidra- bzw. Potipharmotiv75). Daraufhin sandte Proitos den keuschen Bellerophon mitsamt einem verhängnisvollen Brief zum lykischen König Jobates, der ihn aus dem Weg räumen sollte. Daher wurde Bellerophon zum eigentlich aussichtslosen Kampf gegen die Chimaira ausgeschickt. Im herkömmlichen Mythos wird demnach Bellerophon, der ἀγαθὰ φρονέων, der δαΐφρων,76 letztlich wegen seiner Zurückhaltung und Keuschheit (nimis / casto in carm. 3,7,14f.) dem Ungeheuer Chimaira ausgeliefert. Bei Horaz jedoch ist es die offenbar fehlgeleitete Liebe, das peccare, welches den Bruder Megyllas in die Fänge eines »Monsters« getrieben hat. Eine weitere Pointe der Formulierungskunst, die mindestens assoziativ spürbar ist, liegt darin, daß der junge Mann, der eine melior flamma verdiente und angeblich durch non erubescendis [...] ignibus versengt wird, sich nun in der Gewalt eines Ungeheuers befindet, das Feuer speit!77 Somit läßt Horaz eine verbreitete Ausdrucksweise der Elegie (»Liebesglut«) durch einen neuen Kontext in einem ungewöhnlichen Licht erscheinen. Aus der Fülle der Möglichkeiten, welche die bei Anaxilas gebotenen Beispiele zeigen,78 hat Horaz gerade die für diesen Kontext am passendsten erscheinende ausgewählt, statt durch eine lange Aufzählung vieler verschiedener Ungeheuer den Effekt zu »überreizen«.
74 Vgl. die Erzählung in Hom. Il. 6,152ff. Horaz selbst läßt in carm. 3,7,13ff. einen Liebeswerber diesen Mythos erzählen: ut Proetum mulier perfida credulum / falsis impulerit criminibus nimis / casto Bellerophontae / maturare necem, refert; dabei handele es sich (V. 19f.) um eine peccare docen[s ...] histori[a]. 75 Vgl. hierzu z.B. Frenzel (1992) 160ff. 76 Vgl. Hom. Il. 6,162. 77 Il. 6,182: δεινὸν ἀποπνείουσα πυρὸς μένος αἰθομένοιο; ore foras acrem flaret de corpore flammam bei Lukrez (5,906). – Bellerophon spielt als Identifikations- bzw. »Gradmesserfigur« im Übrigen auch in der Komödie eine Rolle, vgl. im I. Teil Kap. 5.6.4, S. 105. 78 In dem einunddreißig Verse umfassenden Fragment 22 zählt Anaxilas innerhalb von drei Versen neun Ungeheuer auf, um zu zeigen, daß keines schlimmer sei als das κατάπτυστον γένος der Frauen. Nachdem dann einzelne Damen mit Ungeheuern verglichen worden sind, kommt der Sprecher in V. 30f. zu dem Ergebnis, daß wirklich kein einziges Monster schlimmer als eine Hetäre sei (συντεμόντι δ’ οὐδὲ ἓν / ἔσθ’ ἑταίρας ὅσα πέρ εστιν θηρί’ ἐξωλέστερον).
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
1.7 Die Funktion des Pathos Was aber ist die Funktion dieses sich in mythischen Bildern ergehenden Pathosausbruchs? Er erfüllt zwei Funktionen zugleich, je nachdem, welchen Adressaten man ins Auge faßt.79 Durch das übersteigerte Pathos und durch die hyperbolischen mythischen Vergleiche wird der Ton so dramatisch, daß er für die innerlich unbeteiligt zuhörenden Gäste schon wieder ins Lächerliche umkippt. Und genau dies ist die eine Funktion dieser Stelle. »Das Pathos überschlägt sich – und fordert zum Lachen heraus«, formuliert Hans Peter Syndikus.80 Die komische Atmosphäre am Ende und das Lachen, welches sie herausfordert, stellen ein Gegenbild zur gereizten, kampfeslustigen Stimmung am Anfang des Gedichtes dar.81 Einen Aspekt hat Porphyrio demnach richtig benannt, wenn er im »Vorspann« zum Einzelkommentar davon spricht, diese Szenen seien hinwendend zur Heiterkeit eingesetzt (»protreptice ode est haec ad hilaritatem«). Durch mythische Vergleiche bzw. Identifikationen läßt Horaz also den Sprecher die durch die Beschäftigung mit erotischer Thematik bereits entstandene Atmosphäre des Scherzhaften intensivieren; damit verändert sich im Verlauf des Gedichts die Stimmung der sodales von Aggressivität zu gelöster Heiterkeit.82 Die Rezipienten der Ode wiederum dürften sich über die Mythologumena ebenso amüsieren wie die sodales. Andererseits ist der Einwand von Nisbet/Hubbard, es handle sich bei Porphyrios Bemerkung »protreptice […] ad hilaritatem« um »an odd remark«,83 ebenfalls in gewisser Weise berechtigt: Der junge Mann kann nicht 79 Vgl. dazu im I. Teil Kap. 1.3.3, wo die unterschiedliche Wirkung von Mythologumena auf verschiedene Personen in einem Gedicht thematisiert wird. 80 Syndikus (2001) I, 256. So lautet die communis opinio; geäußert z.B. auch bei Fraenkel (1957) 217: »Und was das Finale des Horaz betrifft, so scheint es in Großartigkeit zu schwelgen; seine schwer daherrollenden Klänge und seine furchteinflößenden Bilder bringen das Spöttische des Gedankens zu noch reizvollerer Geltung«; zurückhaltender Pasquali (1920) 507, der von »il compianto mezzo ironico sulla sorte dell’infelice invischiato nelli reti di una maliarda« spricht; ferner Santirocco (1986) 64 (»mock commiseration«) und Connor (1987) 175 (»mock horror [...] to embarrass the youth for the delectation of the others present [...] and of the reader also of course.«). 81 Richtig gesehen z.B. von Syndikus (2001) I, 254 (»das völlige Gegenteil des wütenden Geschreis und Streitens am Beginn«). – Die Bedeutung von vix übersieht Commager (1962) 75, wenn er folgende Parallele zieht: Wie nur Pegasos den Jungen befreien könne, so könne nur der Dichter die Gäste von der »union of dissimilars in which they are enmeshed« befreien. Doch der Sprecher hat deutlich mehr Erfolg als Pegasos! 82 Zu stark assoziativ erscheint die These, die Commager (1962) 74f. vorbringt: Die Chimaira (als ein Mischwesen, so muß man ergänzen) symbolisiere die Gegensätze, die schon vorher im Gedicht antizipiert worden seien, wie den »contrast of water and fire«, die »unnatural union of joy and savagery, wine and swords«. Selbst wenn man diesen Gedanken verfolgen wollte, heißt die Chimaira hier doch gerade triformis, was mit einer Gegenüberstellung von zwei Extremen nicht gut harmoniert. 83 Nisbet/Hubbard (1970) 309. Auch Cairns (1977) 122 beobachtet: »Horace’s words to the frater might well appear unpleasant rather than conducive to general enjoyment«.
1. carmen 1,27
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besonders erheitert sein; seine Gemütslage würde eher mit »peinlich berührt« treffend beschrieben. Seine puella stellt ein ernstes Problem dar, und dies hat ihm der Sprecher drastisch vor Augen geführt.84 Also rüttelt der Sprecher den frater durch diese Mythologumena wach; gleichzeitig ist das mythische Ungeheuer schon wieder so schrecklich, daß Megyllas Bruder diesen Tadel gerade wegen des Abstandes zur Realität vielleicht besser hinnehmen kann als konkrete moralisierende Vorwürfe gegen seine flamma. Eine dritte Deutung, unter anderem von Otto Brinkmann und Francis Cairns vertreten, scheint in die falsche Richtung zu führen. Diese Interpreten glauben, daß Horaz, mit dem der Sprecher identisch sei, in den letzten Versen deshalb so stark reagiere, weil er selbst sich in einer ähnlichen Situation wie der frater befinde. Horaz führe eine Art Doppelleben und sei selbst verliebt, glaubt Brinkmann.85 Cairns hingegen betont stärker die Liebesqualen des Horaz: »the note of anxiety and pain which appear in his condemnation of the girl hint that Horace himself is suffering the pangs of love.«86 Doch wo sind die Ansatzpunkte für eine solche Deutung? Die Behandlung der Ode hat mehrfach gezeigt, daß sich der Sprecher87 gegenüber den sodales abgrenzt, indem er sie durch Gnomen belehrt, ihnen Anordnungen erteilt oder den frater, der in deutlicher Distanzierung in Vers 20 als puer angesprochen wird, durch gönnerhaft-joviale Zusicherungen zum Sprechen bringt. Über Liebschaften oder eine innere Verzweiflung des Sprechers oder gar des historischen Horaz gibt carm. 1,27 sicherlich keinen Aufschluß.88 84 Diese Kritik kann der Sprecher durchaus üben, ohne daß man in ihm einen irrisor amoris sehen muß. Mit solchen Personen, die über Liebe und Verliebte spotten, hat sich Jacoby (1914) auseinandergesetzt; Cairns (1977) überprüft die Anwendbarkeit dieser Typisierung auf carm. 1,27 und kommt auf S. 128 zu folgendem Ergebnis: »There is no need to think of Horace as an irrisor amoris, for all his attacks on the girl. [He] uses his formal status in the poem to step for a moment outside his normal lover’s persona.« Auf ähnliche Kategorien geht auch die Feststellung bei West (1995) 129 zurück, Horaz nehme die persona eines praeceptor amoris an. 85 Brinkmann (1936) 195: »Denn im Glück seiner heimlichen Liebe erschüttert der Fehlgriff seines Freundes ihn mehr als alle anderen und bringt ihn aus der sonst so sicher bewahrten Fassung. […] Beides aber, des Freundes und sein eigenes Mißgeschick und ihrer beider Schwäche ist in einer Weise halb ernsthaft, halb neckisch und ironisch behandelt, die für den Dichter bezeichnend ist«. 86 Cairns (1977) 130. 87 Von Horaz selbst ist nirgends die Rede, wenn auch zum Beispiel Santirocco (1986) 63 bedenkenlos behauptet, »the poet speaks in propria persona«. Auch hier zeigt sich wieder der starke Einfluß einer eher naiv-biographischen Deutungstradition, wenn z.B. Brinkmann (1936) 197 von einem »nur ganz versteckt angedeuteten Roman des Dichters« und »feine[r] Selbstverspottung im Hintergrund« spricht. – Die Gegenposition hatte – vielleicht zu entschieden – schon Wilamowitz-Moellendorff (1913) 307 eingenommen, der unter anderem über dieses Gedicht gesagt hatte: »Individuelles, Erlebtes ist nichts in diesen Oden«. 88 Solche Deutungen sind wohl beeinflußt von einem Epigramm des Kallimachos (epigr. 43), in dem der Sprecher das Liebesleid eines andern erkennt, weil er selbst verliebt ist (V. 5f.): οὐκ ἀπὸ ῥυσμοῦ / εἰκάζω, φωρὸς δ’ ἴχνια φὼρ ἔμαθον. Vgl. dazu auch Buchmann (1974) 91ff. – Zum Ende sei noch auf ein Kuriosum der Rezeptionsgeschichte dieser Ode hingewiesen: Ihres ur-
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
1.8 Fazit Carmen 1,27 weist verschiedene Mythologumena auf, wobei das in der Ode geschilderte Geschehen aber offenkundig in einer »imaginierten Realität« angesiedelt ist, d.h. in einem prinzipiell nicht-mythischen Rahmen. Für die Junktur verecundumque Bacchum in Vers 3 konnte plausibel gemacht werden, daß es sich um eine Mischform mythischer Metonymie handelt. Aufgrund des Kontextes evoziert diese Verbindung einerseits den Gedanken an den Gott Dionysos; andererseits wird aber auch die übertragene Vorstellung Bacchus = vinum hervorgerufen. Noch eine weitere Ebene des Verständnisses ist bei dem Substantiv Venus in Vers 14 möglich: Neben die eigentliche Auffassung als Liebesgöttin treten die beiden Metonymien Venus = amor sowie Venus = puella amata. Diese Redefigur wird also von Horaz in diesem Gedicht raffiniert so eingesetzt, daß sie trotz ihrer weiten Verbreitung in der antiken Literatur besondere Aufmerksamkeit erregt. Die Identifikation der Geliebten mit der Charybdis dient dazu, die Ausprägung eines Charakterzuges des Mädchens mittels eines mythischen Gradmessers zu illustrieren. Diese Technik wird auch bei der Identifikation des Mädchens mit der Chimaira angewendet; dieses Mythologumenon stellt jedoch dadurch eine Steigerung gegenüber dem Vorhergehenden dar, daß in ihm der Mythos sogar überboten wird: Gegen diese Chimaira kann wohl selbst Bellerophon mit dem Wunderpferd Pegasos nichts ausrichten. Was die mythischen Stoffe und ihre Verwendungsweisen angeht, so konnte gezeigt werden, daß deutliche Parallelen zwischen Komödienpassagen und carm. 1,27 bestehen. Ob man die betreffenden Stellen jedoch als Referenztexte ansehen darf, ist schwer zu beurteilen, da derartige Ausdrucksweisen in der Literatur allgemein und auch in Sprichwörtern recht weit verbreitet sind. Hervorzuheben ist aber, daß Horaz aus der Vielzahl der in Frage kommenden mythischen Ungeheuer gerade dasjenige ausgewählt hat, mit dem sich der (zumindest für die Rezipienten und die unbeteiligten Symposiasten) komischste Effekt ergibt: In Horazens Ode, die keinen Aufschluß über sein persönliches Befinden gibt, ist die Konfrontation mit der Chimaira anders als im Bellerophonmythos das Ergebnis fehlgeleiteter Verliebtheit, nicht etwa standhafter Keuschheit. Überdies erlangen allmählich verblassende Ausdrucksweisen der Elegie (ignes für »Liebesgluten«, flamma für »Geliebte«) dadurch neue Kraft, daß durch die Kontextualisierung mit einem feuerspeienden Ungeheuer auf ihre ursprüngliche, eigentliche Bedeutung verwiesen wird. sprünglichen Inhaltes völlig entblößt, wurde sie von dem elsässischen Jesuiten Jakob Balde (16041668) in ein christliches Lied umgedichtet, das nun mit folgenden Worten begann: o nate in usum laetitiae Puer.
2. carmen 1,16
Die Ode 1,16 – für Nisbet/Hubbard »one of the most agreeable poems in the collection«1 – beinhaltet mehrere bemerkenswerte mythische Elemente und empfiehlt sich daher zu einer eingehenden Betrachtung. Die Bedeutung einzelner Passagen ist jedoch ebenso wie die Ausgangskonstellation der Ode insgesamt hochumstritten. Vielleicht kann eine Analyse der Mythologumena zur Klärung dieser Fragen beitragen.
2.1 Die Ode im Überblick o matre pulchra filia pulchrior, quem criminosis cumque voles modum pones iambis, sive flamma sive mari libet Hadriano. Tochter, schöner als die schöne Mutter, setz’2 ein Ende den gehässigen Iamben, welches auch immer du willst, sei es, daß es durch das Feuer, oder sei es, daß es durch die Adria beliebt.
Lobend ihre Schönheit erwähnend, bittet der Sprecher eine junge Frau, bösartigen Spottversen ein Ende zu setzen, indem sie das diese Verse enthaltende Buch verbrenne oder in die Adria werfe.3 Wer der Verfasser dieser Schmähschriften ist, wird nicht klar. Die zweite Strophe vergleicht die Auswirkungen des Zorns auf die Psyche mit den Auswirkungen der sinnbetörenden, ekstatischen Kulte sogenannter θεοὶ ἐκμαίνοντες (V. 5-9):
1
Nisbet/Hubbard (1970) 204. Das Futur I im Lateinischen ist hier im Sinne eines (höflichen) Imperativs gebraucht. 3 Syndikus (2001) I, 180 sieht in der Nennung der Adria eine Hyperbel für »mit Wasser auslöschen« und glaubt deshalb, schon hier manifestiere sich der Grundzug des Gedichtes zur Übertreibung. Connor (1987) 80 formuliert neutraler: »The girl’s actions are removed from everyday burning or tossing into the sea.« Genausogut kann man aber auch an ein wirkliches Ins-MeerWerfen denken. – Die Verbindung »Feuer/Wasser« als Vernichtungsmittel für ein Buch erscheint auch bei Tibull 1,9,48ff.: me nunc nostri Pieridumque pudet. / illa velim rapida Vulcanus carmina flamma / torreat et liquida deleat amnis aqua; später auch bei Martial 5,53 und öfter. 2
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II. Teil: Einzeluntersuchungen non Dindymene, non adytis quatit mentem sacerdotum incola Pythius4 non Liber aeque, non acuta sic geminant Corybantes aera,
5
tristes ut irae, Nicht erschüttern die Kybele von Dindyma, nicht im innersten Heiligtum der pythische Bewohner den Geist der Priester, nicht Liber in gleicher Weise, nicht schlagen die schrillen Schellen so zusammen die Korybanten,
5
wie grimmiger Zorn,
Weder Kybele, hier nach ihrem Kultort in Phrygien Dindymene genannt und in Vers 8 durch ihre Priester, die Korybanten, nochmals indirekt angeführt, noch der pythische Apollon, noch auch Dionysos5 erschüttern den Geist so sehr wie gräßliche Zornesregungen. Die Schilderung der Korybanten jedoch wandelt die Beschreibung ab, indem nun nicht mehr direkt gezeigt wird, wie höhere Mächte auf die mens einwirken. Nein, die Korybanten, Subjekt dieses Kolons, sind selbst von der θεία μανία ergriffen;6 in ihrer Ekstase machen sie mit ihren acuta aera ohrenbetäubenden Lärm. Durch die vierfache Anapher von non (non […] non […] non […] non […] sic […], tristes ut irae, V. 5-9) werden verschiedene Phänomene ekstatischer Verzückung eng miteinander verbunden, zugleich aber auch von den irae abgesetzt.7 Daran schließt sich eine klimaktische Darstellung der Unbeirrbarkeit des Zorns an: tristes ut irae, quas neque Noricus deterret ensis nec mare naufragum nec saevus ignis nec tremendo Iuppiter ipse ruens tumultu.
10
wie grimmiger Zorn, den weder das Langschwert aus Noricum abschreckt noch das Meer, das Schiffe zerbrechende, noch wütendes Feuer noch Juppiter selbst, wenn er im schrecklichen Aufruhr [der Elemente] dahinstürmt.8
10
4
A. Palmers Konjektur Pythiis, von David R. Shackleton Bailey übernommen, erscheint nicht zwingend notwendig. 5 Freilich könnte man hier auch konkret an Weingenuß denken und Liber als (mythische) Metonymie auffassen; vgl. dazu im II. Teil Kap. 1.2. Damit würde aber der Rahmen ekstatischer Kulte verlassen. 6 Anders Nisbet/Hubbard (1970) 206. 7 Teuber (1897) 799 negiert diesen Abstand, wenn er paraphrasiert: »wie häßlich ist es für ein schönes, junges Mädchen, einer Besessenen zu gleichen«; ähnlich – bei anderer Personenkonstellation – Sturtevant (1912) 120: »My anger was as unreasoning as religious ecstasy«. Allerdings kann man hier auch mit Nisbet/Hubbard (1970) 205 eine »rhetorical hyperbole« sehen.
2. carmen 1,16
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Weder Schwert noch Meer – durch das Adjektiv naufragum tritt die zerstörerische Macht des Meeres deutlich hervor –, weder wütendes Feuer – saevus ebenfalls als intensivierendes Adjektiv – noch Juppiter selbst, der in furchtbarem Unwetter dahinstürmt,9 können den grimmigen Zorn, der hier personifiziert dargestellt wird,10 von seinem Wüten abschrecken.11 Indem der Sprecher Juppiter zum letzten Glied der Klimax macht, leitet er geschickt zum Bereich des Mythos über:
15
fertur Prometheus addere principi limo coactus12 particulam undique desectam et insani leonis vim stomacho apposuisse nostro. Es soll Prometheus, gezwungen, dem Urschlamm von überall her abgeschnittene Teilchen13 beizugeben,
8 Mit einer gewissen Berechtigung bezeichnet Commager (1962) 137 diese Passage als »virtually a hymn to ira«; Nisbet/Hubbard (1970) 203 sprechen von einem »little discourse de ira«. – Daß Horaz hier auf Stoffsammlungen philosophischer Traktate zurückgreift, ist gut möglich. Nisbet/Hubbard (1970) 204 und Connor (1987) 80 sehen sogar eine Parodie solcher Schriften vorliegen. Wie verbreitet derartige Werke waren, ist ersichtlich aus Cic. ad. Q. fr. 1,1,37: illud non suscipiam, ut quae de iracundia dici solent a doctissimis hominibus ea nunc tibi exponam, cum et nimis longus esse nolim et ex multorum scriptis ea facile possis cognoscere [...]. 9 Ob Horaz hier an den Juppiter καταιβάτης, den vom Himmel in Form von Blitzen herabsteigenden Gott, gedacht hat, wie Magariños (1952) 93 und Nisbet/Hubbard (1970) 208 glauben, ist schwer zu entscheiden. Plessis (1924) 53 jedoch ist sich sicher: »il s’agit de la foudre, non de la chute du ciel«. 10 Kiessling/Heinze (1955) 82 weisen darauf hin, daß ira auch »zornige Person« bedeuten kann (zum Beispiel in Prop. 3,22,22 und Liv. 1,13,1f.). Diese Auffassung paßt gut zur dritten Strophe; mit der zweiten läßt sie sich weniger gut vereinbaren, weil Kybele, Apollon und Dionysos Verursacher, nicht Betroffene der θεία μανία sind. Ebenso muß ira dann auch die Emotion selbst, nicht der von ihr Betroffene sein. 11 In anderer Reihenfolge treten ähnliche (eigentlich abschreckende) Kräfte in sat. 1,1,38ff. auf: cum te neque fervidus aestus / demoveat lucro neque hiems, ignis, mare, ferrum, / nil obstet tibi [...]. 12 Ich lese hier also mit der Überlieferung coactus gegen Richard Bentleys und David R. Shackleton Baileys Konjektur coactam (wohlgemerkt bietet Bentley diese Konjektur nur im Apparat; im Text steht bei ihm coactus). Wer auf den durch die Konjektur entstehenden Parallelismus von coactam particulam zu desectam vim verweist, muß den »harten« Bezug von desectam auf vim akzeptieren. Andererseits könnte man, wie es Julius Scaliger getan hat, fragen, warum Prometheus zu etwas gezwungen gewesen sein sollte. Nisbet/Hubbard (1970) 209 und Williams (1980) 2 jedoch verweisen auf Mythenversionen, in denen Prometheus und seinem Bruder Epimetheus die »Schöpfungsrohstoffe« ausgingen und er deshalb tatsächlich gezwungen war, auf Tierelemente zurückzugreifen (zum Beispiel Plat. Prot. 321 B 7f.: ὁ Ἐπιμηθεὺς ἔλαθεν αὑτὸν καταναλώσας τὰς δυνάμεις εἰς τὰ ἄλογα). Ferner führen Nisbet/Hubbard (1970) 210 Versionen an, nach denen Prometheus doch auf höhere Anweisung hin handelte (Aisop. 228: κατὰ πρόσταξιν ∆ιός; Plat. Prot. 320 D 4f.: [θεοὶ] προσέταξαν Προμηθεῖ καὶ Ἐπιμηθεῖ κοσμῆσαί τε νεῖμαι δυνάμεις ἑκάστοις ὡς πρέπει). 13 Particulam wird also als kollektiver Singular aufgefaßt.
178 15
II. Teil: Einzeluntersuchungen auch des rasenden Löwen Kraft unserem Magen hinzugesetzt haben.
Mit einer gewissen Distanz, die sich in der Verwendung von fertur (»man sagt; es heißt, daß«) ausdrückt, blendet der Sprecher hier einen Schöpfungsmythos des Menschen ein. Dieser Mythos, den Platon ausführlich im Protagoras (320 C 8ff.) erzählt, wird allerdings nur skizzenhaft angedeutet, so daß zum vollständigen Verständnis einige Hinzufügungen (im Folgenden kursiv) notwendig wären, die der Strophe dann folgende Gestalt verleihen würden: »Es soll Prometheus, gezwungen, dem Urschlamm, aus dem dann der Mensch geschaffen wurde, von überall her abgeschnittene Teilchen beizugeben, auch des rasenden Löwen wütende Kraft unserem Magen hinzugesetzt haben.« Durch die Verwendung des Possessivpronomens nostro impliziert der Sprecher, daß die während der damaligen Schöpfung erlangte Beschaffenheit auch noch den Menschen seiner Zeit zu eigen ist; er gibt also gewissermaßen eine Aitiologie des menschlichen Zorns auf phylogenetischer Basis. Weil Prometheus die Kraft eines (oder kollektiv: des) rasenden/wütenden Löwen14 dem menschlichen Magen15 beigab, kann es gar nicht anders sein, als daß auch der Mensch zuweilen in unmäßige, fast tierische Wut gerät; es liegt – anachronistisch-biologisch gesprochen – in seinen Genen. Dieses Aition, das, wie Hans Peter Syndikus hervorhebt, an Fabeln des Äsop erinnert,16 erklärt also einerseits, warum Menschen in Zorn geraten (ein Resultat ihrer Phylogenese), andererseits, warum der Zorn zuweilen die in den Strophen 2 und 3 geschilderte Heftigkeit und Unbeirrbarkeit aufweist (ein Erbe des insanus leo). Zugleich darf man aber nicht vergessen, daß dieses Erbe animalischen Ursprunges ist. Dieser Charakterzug ist mithin zwar dem Menschen eigen; dennoch muß man ihn unter Kontrolle halten.17 14 Die Attributierung durch insani in Vers 15 erhöht noch die Gefährlichkeit dieser Anlage. Beispiele für den Löwen als »animal type of anger« findet man bei Nisbet/Hubbard (1970) 210f. 15 Das Substantiv stomachus kann auch die Bedeutung »Zorn, Groll« haben, wie carm. 1,6,5f. in Bezug auf die μῆνις Πηληϊάδεω zeigt: nec gravem / Pelidae stomachum cedere nescii [...]. 16 Aisop. 108.228; vgl. Syndikus (2001) I, 182. – In ganz anderem Ton gehalten, aber dennoch den gleichen logischen Prinzipien verpflichtet ist Vergils Aitiologie der Mühe und Arbeit im ersten Buch der Georgica, vgl. dazu im I. Teil Kap. 5.10. 17 Eine vergleichbare »genetische« Erklärung/Apologie liegt in sat. 2,1,34ff. vor: Nach der Vertreibung der Sabeller seien römische Siedler in die colonia Venusia ausgeschickt worden, um eventuell anstürmende Feinde abzuwehren. Dieser Abwehrkampf gegen die Stämme der Apulier und Lukaner, beides wilde und brutale Völker, habe die dortigen Siedler zu tapferen Kämpfern gemacht. Horaz nun, der aus Venusia stammt und nicht genau weiß, ob er Lukaner oder Apulier ist, sieht sich offensichtlich von diesen seinen Vorfahren geprägt: Sobald ihn einer gereizt hat und sich seinen Zorn zugezogen hat, wird er diesen unerbittlich attackieren und ihn zum Gespött der ganzen Stadt machen, bis dieser nur noch weinen kann. Offensichtlich legitimiert Horaz durch diese Verse seine Art der Satiren-Dichtung, die einige scharf kritisierten. Seine Neigung weise ihm die Literatur als Betätigungsfeld und Waffe zu; die harte und notgedrungen kämpferische
2. carmen 1,16
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Diese Aitiologie ist aber sicher nicht völlig ernst vorgetragen worden, wie sich schon an der Mischung von hohem Pathos und Alltagswortschatz erkennen läßt.18 Ferner ist zu bedenken, daß die Erschaffung des Menschen durch Prometheus ein in der Neuen Komödie beliebtes Mythologumenon ist, wie oben (I. Teil, Kap. 5.6.3) gezeigt wurde. Innerhalb dieser Passage läßt sich eine bemerkenswerte mythographische Beobachtung machen: Zwar ist die Vorstellung von Prometheus als Menschenschöpfer in der Antike sehr verbreitet;19 doch die hier von Horaz geschilderte Version, daß Prometheus dem Menschen die insani leonis vis beigab, ist singulär.20 Wenn man nun nicht annehmen will, Horaz habe eine solche Version gekannt, diese sei dann aber im Laufe der Überlieferung für uns verlorengegangen,21 muß man den Schluß ziehen, daß Horaz dieses Detail selbst erfunden und an dieser Stelle eingefügt hat.22 Er hätte somit einen insgesamt bekannten Mythos (Prometheus als Menschenschöpfer) um das Detail der insani leonis vis erweitert und ihn dadurch für seine spezielle Absicht an dieser Stelle nutzbar gemacht. Überhaupt scheint Horaz mit der Gestalt des Prometheus sehr frei verfahren zu sein: Abgesehen von dem soeben besprochenen Detail läßt sich verzeichnen, daß Prometheus bei Horaz in der Unterwelt büßt (carm. 2,13,37), nicht – wie sonst üblich – am Kaukasus; überdies versucht er nach carm. 2,18,34-36, Charon zu bestechen, was andernorts nicht bezeugt ist.23
Lebensweise seiner Vorfahren aber beeinflusse seine eigene Wehrhaftigkeit und die Heftigkeit seiner Verteidigung. Horaz weist also gewissermaßen eine (genetische) Prädisposition zu eben solcher Satiren-Dichtung auf, wie er zumindest Trebatius und seine Rezipienten glauben machen will. 18 Die Stildifferenzen innerhalb dieser Strophe betont Syndikus (2001) I, 183, Anm. 33. Zum Problem der poetischen und unpoetischen Wörter überhaupt sei verwiesen auf Axelson (1945) und auf Leumann (1947), der methodische Kritik an Axelsons Untersuchung äußert. 19 Eine Stellenauswahl bietet z.B. Pfeiffer (1949) 366. – Als zeitnahe Parallele zu Horaz ist Properz 3,5,7f. hervorzuheben: o prima infelix fingenti terra Prometheo! / ille parum caute pectoris egit opus. 20 Vgl. die von Bapp (1902-09) vorgelegte akribische Darstellung in Wilhelm Roschers Ausführlichem Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, insbesondere Sp. 3073. 21 Dies hält Plessis (1924) 53 für möglich (»il n’a pas du l’inventer«). Daß Horaz hier dem Prometheus des Maecenas, den Seneca in epist. 19,9 bezeugt, gefolgt sei, wie es Kiessling/Heinze (1955) 83 für möglich halten, erscheint wenig wahrscheinlich: Mit dem Zufall, daß Maecenas eine derartige, sonst völlig unbekannte Version dieses Mythos geschaffen hätte, die dann Horaz zur Stütze seiner Argumentation sehr gelegen gekommen wäre, sollte man wohl nicht rechnen. – Zu Maecenas als Dichter vgl. André (1983) 1765ff. 22 So ist auch Porphyrios lobende Bemerkung zu V. 15 zu deuten: »belle de fabula sensus praesenti intentioni necessarius conceptus est.« (»Hübsch ist aus dem Mythos derjenige Sinn formuliert worden, der für die gegenwärtige Aussageabsicht notwendig ist«). Wenn Syndikus (2001) I, 183 von »Pseudomythos« spricht, wird dies der künstlerischen Leistung des Horaz nicht gerecht. 23 Vgl. Bapp (1902-09) 3073.
180
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Nachdem bislang von der Heftigkeit und der Genese des menschlichen Zorns die Rede war, wird in den Versen 17ff. von den Folgen dieser Emotion gesprochen: irae Thyesten exitio gravi stravere et altis urbibus ultimae stetere causae cur perirent funditus imprimeretque muris
20
hostile aratrum exercitus insolens. compesce mentem! Zornesgefühle streckten Thyestes in schlimmem Untergang nieder und standen für hohe Städte als letzte Gründe da, warum sie gänzlich zugrunde gingen und warum auf die Mauern drückte
20
ein Heer übermütig den feindlichen Pflug. Bändige deinen Sinn!
In diesen Versen werden die existentiellen Konsequenzen des Zorns anhand zweier Beispiele vor Augen geführt. Das erste Beispiel ist dem Schicksal des Thyestes, einer Figur des mykenischen Sagenkreises, entnommen, wobei hier eine Distanzformel wie fertur o.ä. im Gegensatz zu V. 13 fehlt. Um dieses Beispiel verstehen zu können, muß man über folgende Informationen verfügen:24 Thyestes und sein älterer Bruder Atreus, von ihrem Vater Pelops verstoßen, kamen nach Mykene. Im Streit um die dortige Königsherrschaft raubte Thyestes einen goldwolligen Widder, dessen Besitz die Herrschaft über Mykene sicherte, wobei er sich der Hilfe der Aërope bediente, Atreus’ Frau, die er verführt hatte. Er gelangte für kurze Zeit an die Macht, wurde dann aber vertrieben. In der Verbannung stiftete Thyestes aus Zorn und Rachsucht Pleisthenes, einen Sohn des Atreus, an, seinen Vater zu ermorden. Atreus tötete daraufhin seinen eigenen Sohn Pleisthenes; er heuchelte aber Vergebung gegenüber seinem Bruder Thyestes und setzte diesem dann nach der Rückkehr an den Hof dessen zwei Kinder vor, die er hatte schlachten lassen. In diesem Mythos, der als Schulbeispiel für die Folgen der ira diente, wie unter anderem aus Cicero ersichtlich ist,25 erleidet also der Zürnende 24
Zu den Quellen und selteneren Varianten des Mythos vgl. zum Beispiel Ilberg (1916-24) 912-914 und Maharam (2002) 519f. 25 Vgl. Cic. Tusc. 4,77, wo Zitate aus dem Atreus des Accius aufgeführt werden. – Nisbet/Hubbard (1970) 211f. und Williams (1980) 3 sehen ein Problem darin, daß in carm. 1,16 Thyestes als Beispiel gewählt wurde und nicht wie gewöhnlich Atreus; Campbell (1953) 20 hält den Text sogar für »seriously corrupt«. An der genannten Cicerostelle soll Atreus aber illustrieren, zu welchen Untaten sich Zornige hinreißen lassen. In carm. 1,16 dagegen, wo die Folgen für den Zornigen selbst aufgezeigt werden sollen, konnte Horaz nur Thyestes wählen, weil Atreus kein
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über mehrere Zwischenstationen ein gräßliches Schicksal, indem er unwissentlich seine eigenen Kinder verzehrt. Auffällig ist, wie skizzenhaft auf den Mythos hingewiesen wird; das einzige nicht unbedingt zum Verständnis nötige Wort ist das Adjektiv gravi, das in diesem knappen Kontext umso stärker die Härte des thyesteischen Schicksals unterstreicht.26 Doch nicht nur das persönliche Schicksal des Thyestes wird herangezogen; vielmehr kommen durch den Blick auf das Schicksal ganzer Städte Politik und Geschichte mit in die Argumentation hinein:27 Durch eine deutliche Antithese (altis urbibus – perirent funditus, V. 18-20) wird der Unterschied zwischen ehemaliger Pracht und Erhabenheit auf der einen sowie kompletter Vernichtung auf der anderen Seite akzentuiert. Der Zorn war der »Katalysator«, der aus prächtigen Städten Äcker machte, wie hostile aratrum (V. 21) andeutet. Ob Horaz dabei an konkrete Fälle aus der römischen Geschichte (z.B. an Karthago) oder an myth-historische Zusammenhänge dachte, wird aus dem Text selbst nicht klar.28 Nachdem also die vierte Strophe den Zorn »phylogenetisch« erklärt, aber auch problematisiert hatte, ist das Ziel der Verse 17-21 offensichtlich ein anderes. Da sich in Vers 22 mit dem Imperativ compesce ein Appell an die zweite Person Singular anschließt, scheint es richtig, auch die vorhergehende Strophe als an sie adressiert zu betrachten.29 Dadurch formuliert der Sprecher folgende Warnung an sein Gegenüber: »Du siehst anhand dieser Beispiele, welche existentiellen Folgen der Zorn haben kann.30 Lerne aus allgemein bekanntes exitium grave erlitten hat. – Man braucht also nicht unbedingt wie Nisbet/Hubbard (1970) 211 und West (1995) 79 den Thyestes des Varius als möglichen Praetext heranzuziehen. 26 Mit exitium ist doch wohl der Tod seiner Kinder gemeint, nicht sein eigenes Ende, wie Campbell (1953) 20 (der sich aber aufgrund dieser Deutung einem textkritischen Problem gegenübersieht, vgl. oben Anm. 25) und Collinge (1961) 18, Anm. 2 meinen. 27 Eine solche Verbindung von Individuum und Stadt/Staat ist nicht selten, wie die Stellensammlung bei Nisbet/Hubbard (1970) 212 zeigt. – Zur Verbindung des mythischen mit dem historischen Beispiel vergleiche man folgende (wohl zu generelle) Feststellung bei Pöschl (1997) 291: »Tocchiamo in ciò un aspetto centrale per la comprensione della m[itologia] oraziana: non esistono delimitazioni tra mito e realtà né tra mito e storia. Confini che noi consideriamo naturali sono assenti nella poesia di H.« 28 Syndikus (2001) I, 183 bietet zur Stützung der historischen Auffassung Catull. c. 51,15f. und Sen. dial. 5,2,2 (= de ira 3,2,2) an. – Nach Properz 3,9,41f. erlitt Troja das oben geschilderte Schicksal: moenia cum Graio Neptunia pressit aratro / victor Palladiae ligneus artis equus. Vgl. auch die Rede der Juno in Hor. carm. 3,3,40ff.: dum Priami Paridisque busto // insultet armentum et catulos ferae / celent inultae [...]. 29 Anders Sturtevant (1912) 120 in seiner Paraphrase: »[My anger was] as disastrous as the passions of Pelop’s line«. 30 Teuber (1897) 799 verengt den Blickwinkel zu sehr, wenn er in dieser Strophe eine Drohung des Dichters sieht, der dem Mädchen klarmachen wolle, daß er sie mit Leichtigkeit »für alle Zeiten unmöglich« machen könne (nämlich durch neue Spottverse); er parallelisiert also Zerstörung mit Blamage. Ähnlich Dyson (1968) 176f., Williams (1980) 4, Murgatroyd (1982) 239 (»the obvious inference is that if she does not give up her anger he will write more lampoons«) und
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diesen Beispielen und bändige daher deinen Sinn/Zorn (compesce mentem, V. 22)!« Hier soll also das angesprochene Mädchen mit Hilfe eines Beispiels aus dem Mythos zu einem Überdenken seines Verhaltens angehalten und damit zu einer Verhaltensänderung bewogen werden.31 Der Mythos des Thyestes erfüllt an dieser Stelle demnach eine apotropäische, dehortative Funktion, wobei dieser Art des Mythosgebrauchs unausgesprochene Voraussetzungen zugrundeliegen: Abgesehen davon, daß Sprecher und Adressat beide mit der hingeworfenen Mythosskizze dieselbe Geschichte oder mindestens denselben Handlungskern assoziieren müssen, ist es auch unabdingbar, daß beide – zumindest innerhalb der poetischen Fiktion – den Mythos als gültiges Bezugssystem für das eigene Leben akzeptieren. Auf die Erzählung der Erlebnisse des Thyestes darf nicht mit »quid ad me?« geantwortet werden, sondern Sprecher und Adressat müssen beide voraussetzen, daß die im Mythos geltenden Kausalzusammenhänge sich auf das eigene Leben übertragen lassen.32 Wenn der Zorn der mythischen Figur Thyestes geschadet hat, schadet er auch der jetzt angesprochenen Person. Beide Bereiche, so Dorothee Gall, sind verbunden durch »Partizipation an einem gemeinsamen Prinzip«.33 Daß Horaz diese mythische Argumentation nicht todernst vorträgt, scheint klar zu sein;34 andererseits ist es aber wenig plausibel, daß der mitschwingende Humor vor allem den Unterschied zwischen den beiden Ebenen betonen soll.35 Connor (1987) 80 (»scarcely veiled threat […] otherwise he will exact a vengeance which will crush her«). 31 Theoretische Äußerungen über mythische Exempla sowie vergleichbare horazische Stellen bietet der Exkurs in Kap. 2.7. 32 Vgl. aber Hor. sat. 1,1,69f., wo im Anschluß an das Tantalosmythologumenon expliziert wird: quid rides? mutato nomine de te / fabula narratur. Hierzu siehe z.B. Romano Martín (1996) 67. – Zur Illustration des oben Gesagten mag auf die Verhältnisse in der frühchristlichen Literatur verwiesen werden: In den frühen, an Heiden gerichteten apologetischen Schriften finden sich nur wenige Bibelzitate. Der Diskussionspartner hätte ein Argument aus der Heiligen Schrift nicht akzeptiert, da er diese insgesamt nicht als gültiges Bezugssystem anerkannte. 33 Gall (1981) 74. 34 Collinge (1961) 18, Anm. 2 spricht von »irony«, Commager (1962) 137 konstatiert eine »mock-heroic technique« und sieht hier die Parodie als »a kind of mitigating medium« (S. 139); präzisierend fügt er hinzu (S. 137): »the solemn citations are not intended to ridicule mythology, […] Mock-heroic mocks not the heroic but the illusion of the heroic«; Dyson (1968) 170.177 (»humorous exaggeration« / »The ode is predominantly light-hearted«), Nisbet/Hubbard (1970) 202 (»hyperbolical and mock-heroic development«), West (1995) 78 (»clearly a burlesque«), Syndikus (2001) I, 182 (»nicht ernst gemeint«) sowie Maurach (2001) 181 (»launig übertreibend«) und 182. – Connor (1987) 81 spricht sich trotz der erkannten Nähe der Ode zur Parodie gegen jede Spur von Humor aus: »a new kind of Horace full of unbendable sharpness, […] it is certainly not light-hearted and it is not humorous either.« 35 So Commager (1962) 138: »Horace grafts domestic skirmish onto the stable dimension of myth in order that we may measure the gap between them«, Wilkinson (1968) 60: »He adopts […] a mock-heroic treatment which makes the offence seem absurdly trivial«, Dyson (1968) 170 (»the
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Die Verse 22-28 lenken den Blick wieder auf den Sprecher und die Adressatin des Gedichtes zurück: compesce mentem! me quoque pectoris temptavit in dulci iuventa fervor et in celeres iambos 25
misit furentem: nunc ego mitibus mutare quaero tristia, dum mihi fias recantatis amica opprobriis animumque reddas. Bändige deinen Sinn! Auch mich hat des Herzens feurige Leidenschaft befallen in süßer36 Jugend und hat mich zu übereilten Iamben
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fortgerissen, rasend; nun such’ ich für Mildes aufzugeben37 Grimmiges, wenn du mir nur gewogen wirst und mir wieder deine Zuneigung schenkst, nachdem die Beleidigungen widerrufen sind.
Auch der Sprecher war in seiner Jugend durch pectoris [...] fervor dazu verleitet worden, unbedachte38 Spottverse zu verfassen; damals war er aber poet may be implying that the insults were not so important after all«), West (1995) 80 und Syndikus (2001) I, 182 (»Mißverhältnis […] erweckt einen komischen Eindruck«). 36 Die genaue Bedeutung des Adjektivs dulcis an dieser Stelle ist umstritten: Teuber (1897) 799 und Quinn (1985) 157 sehen in dem Adjektiv eine Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten ausgedrückt; Dyson (1968) 176 vermutet darin ein Kompliment an das Mädchen und zugleich einen Ausdruck von Sehnsucht; Sturtevant (1912) 120 hingegen glaubt, der Dichter gebe hier wegen der Jugend des Mädchens der Jugend allgemein das Epitheton dulcis. Nicht überzeugend Nisbet/Hubbard (1970) 214: »what Horace enjoyed about youth was its turbulent ferocity«. – Hahn (1939) 222 argumentiert, Horaz konstatiere in epod. 17,21 an sich selbst das Verschwinden der Jugend aufgrund von Canidias Zaubermitteln (fugit iuventas); wenn er dann aber bemerke, daß seine Jugend doch noch nicht zerstört ist, könne er sie zu Recht als dulcis bezeichnen. Dies überzeugt nicht, zumal der Zusammenhang zwischen epod. 17 und carm. 1,16 nur postuliert, nicht dargelegt wird. – Bemerkenswert ist jedenfalls, daß die Junktur auch für Maecenas bezeugt ist, und zwar bei Servius auctus zu Aen. 8,310: [vinum] dulcis iuventae reducit bona. – Man darf aber auch nicht vergessen, daß jeder alternde Mensch sich nach seiner Jugend sehnt, weil sie ihm dulcis erscheint. Zur Bewertung der verschiedenen Lebensalter in Antike und Christentum vgl. Gnilka (1983), der zahlreiche Stellen und weiterführende Literatur bietet. 37 Diese Übersetzung erscheint hier angemessen; vgl. auch OLD s.v. mutare 3 b; vgl. ferner z.B. Hor. carm. 1,29,14f. (libros Panaeti Socraticam et domum / mutare loricis Hiberis) oder epist. 1,7,35f. (nec / otia divitiis Arabum liberrima muto). 38 Diese Bedeutung von celer, die in LSLD s.v. unter II B mit weiteren Belegstellen verzeichnet ist, erscheint hier am passendsten (vgl. auch Hor. epist. 1,20,25: irasci celerem); der Hinweis auf ars 251f. (iambus, / pes citus) bei Kiessling/Heinze (1955) 84 geht an der Sache vorbei, weil dort von der Metrik gesprochen wird, wie auch Plessis (1924) 54 betont. Beide Aspekte sehen Nisbet/Hubbard (1970) 214 vorliegen. – Unhaltbar erscheint die Behauptung von Dyson (1968) 174, celeres sei im Gegensatz zu criminosi und opprobria die einzige »neutral qualification«.
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nicht bei klarem Verstand, sondern furens. Nun versucht er, Grimmiges39 für Mildes aufzugeben, wenn ihm das Mädchen nur wieder freundlich zugetan ist. Die folgende Subjunktion dum leitet einen restringierend konditionalen Wunschsatz im Sinne eines dummodo ein;40 dieser Nebensatz drückt also einen dringenden Wunsch aus.41 Wer die opprobria widerrufen soll, bleibt durch die passive Formulierung im Ablativus absolutus unklar. Jedenfalls läßt der Oden-Abschluß ein versöhnliches, freundliches Ende erwarten.42 Nach diesem Überblick über die Ode müssen nun die anfangs thematisierten Probleme der Gedichtsituation behandelt werden, wobei mit Hilfe der mythischen Elemente die plausibelste Ausgangssituation rekonstruiert werden soll.
2.2 Zur Identität des Mädchens Vielfach glaubten Interpreten, aus den die Ode umgebenden Gedichten Rückschlüsse auf die Identität des in carm. 1,16 apostrophierten Mädchens ziehen zu können. In carm. 1,15 wird Helena genannt; in carm. 1,17 wird eine Tyndaris apostrophiert, so argumentierte man,43 und Tyndaris sei doch der »ganz geläufig[e] patronymisch[e] Beiname der Helena«44 als einer Tochter 39
Tristia in V. 26 erinnert an tristes [...] irae in V. 9; ferner denke man an sat. 2,1,21: tristi laedere versu. Es liegt hier nahe, an literarische Produkte zu denken, zumal kurz zuvor von iambi die Rede war. Dyson (1968) 177 und Quinn (1985) 157 jedoch denken an die Beziehung zu dem Mädchen im Allgemeinen. 40 Vgl. hierzu Kühner/Stegmann (1976) § 222. 41 Diesen verkennt MacKay (1962) 299, wenn er mit »until« übersetzt. – Stark betonen den Wunschaspekt diejenigen, die in dum eine Drohung enthalten sehen, wie zum Beispiel Cairns (1978) 550 (»gentle blackmail of dum«). Vielleicht ist aber wirklich eine leise Drohung in diesen Worten enthalten: Der Sprecher sucht, Grimmiges für Mildes aufzugeben; er könnte aber vielleicht auch wieder zur alten Haltung zurückkehren. 42 Ebenso positiv bewertet auch Maurach (2001) 181 das Ende: »mit schönem, heiteren Einverständnis«. Wenn Connor (1987) 80f. die abschließenden Äußerungen des Sprechers als eher hartherzig denn versöhnlich ansieht, kann man dies nicht recht nachvollziehen. 43 Der Ansatz, die 16. und die 17. Ode in enger Verbindung zu sehen, findet sich schon bei Porphyrio zu V. 1, der in carm. 1,16 die Ankündigung von carm. 1,17 sah (»hac ode παλινωδίαν repromittit ei, in quam probrosum carmen scripserat, Tyndaridae cuidam amicae suae, id est recantaturum ea, quae dixerat, dicitque se iracundia motum haec scripsisse.«). Entsprechend betiteln einige Handschriften carm. 1,16 mit »ad Tyndariden« oder Ähnlichem [vgl. dazu den ausführlichen Apparat von Keller/Holder (1899) 46]. Zur Problematik späterer Überschriften für antike Gedichte überhaupt vgl. z.B. Fraenkel (1957) 247 und Schröder (1999) 161ff. Dennoch folgten dieser Auffassung u.a. Kiessling/Heinze (1955) 81, MacKay (1962), Wimmel (1962) 119 u.ö. mit vorsichtiger Zustimmung sowie Commager (1962) 136. Santirocco (1986) 49 bemerkt zu Helena: »her presence is at least hinted at in C. 1.16«. West (1995) 81 zeigt sich fasziniert von dieser Möglichkeit, betont letztlich aber: »That is speculation.« 44 Kiessling/Heinze (1955) 81.
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des Tyndareos. Weiterhin apostrophiere in carm. 1,16 der Sprecher einer schönen Mutter noch schönere Tochter, was doch genau auf Leda und ihre Tochter Helena zutreffe.45 Also handele es sich bei der namenlosen Schönen in carm. 1,16 um niemand anderen als um Helena. Glaubt man dies erst einmal festgestellt zu haben, drängt sich ein Praetext zu dieser Ode gleichsam auf: Der griechische Chorlyriker Stesichoros (um 600 v.Chr.) hatte eine Παλινῳδία auf Helena verfaßt, nachdem er – so will es die Legende – aufgrund eines für Helena ungünstigen Liedes mit Blindheit geschlagen worden war.46 Diese Argumentation steht aber auf tönernen Füßen: In carm. 1,15 wird Helena tatsächlich in Vers 2 einmal namentlich genannt; zweimal wird indirekt an sie erinnert (V. 6: quam multo repetet Graecia milite; V. 32: non hoc pollicitus tuae). Dennoch steht dort eindeutig Paris im Zentrum des Interesses; er ist in der Rahmenerzählung die handelnde Person (V. 1: pastor cum traheret), an ihn ist die Prophezeiung des Nereus gerichtet. Zieht man zum Vergleich carm. 3,3,18ff. heran,47 so sieht man, daß Helenas Rolle in carm. 1,15 bewußt gering gehalten wird. Ferner hat die in carm. 1,17 angesprochene Tyndaris zwar einen schönen Namen; die mythologische Genealogie des Namens muß dabei aber genausowenig mitschwingen wie bei den anderen Trägern mythologischer Namen in Horazens Œuvre.48 Daß Tyndaris eine geläufige Bezeichnung für Helena war, ist richtig; ebenso war es aber auch eine Bezeichnung für Klytaimestra; verwandte Adjektive bezeichnen darüber hinaus auch die Dioskuren.49 45
Tatsächlich nennt Ovid Helena in epist. 16,85f. pulchrae filia Ledae [...] pulchrior. Vgl. Stesichoros fr. 192f. Horaz selbst berichtet in epod. 17,42-44 davon: infamis Helenae Castor offensus vicem / fraterque magni Castoris victi prece / adempta vati [sc. Stesichoro] reddidere lumina. Allein das Faktum aber, daß Horaz diese Erzählung bekannt ist, läßt keine Rückschlüsse auf carm. 1,16 zu, und die Notiz in den pseudacronischen Scholien zu V. 1, Horaz ahme Stesichoros nach, ist nicht mehr als eine Meinung. Kategorisch Fraenkel (1957) 248: »Aber die Ode O matre pulchra hat Stesichorus nichts zu verdanken, ausgenommen, daß an ihrem Schluß von einer Palinodie die Rede ist«; ähnlich betonen Plessis (1924) 52 und Commager (1962) 137 die Eigenständigkeit der Ode gegenüber möglichen Praetexten. Nicht ausschließen wollen einen Zusammenhang Nisbet/Hubbard (1970) 202, die aber insgesamt in der Ode keine Palinodie sehen, und Maurach (2001) 182, Anm. 35. – Dyson (1968) 169 spricht dem Gedicht palinodischen Charakter generell ab; Cairns (1978) 546ff. hingegen rekonstruiert unter anderem aus dieser Ode ein »outline of the generic formula« (S. 547) der Gattung Palinodie. 47 Carm. 3,3,18ff. (Beginn der Junorede): Ilion, Ilion / fatalis incestusque iudex / et mulier peregrina vertit / in pulverem etc. 48 Beispielsweise heißt in carm. 3,7,5 ein Mann Gyges, wie der myth-historische Günstling des Lyderkönigs Kandaules; Telephus, der in carm. 3,19,26 und 4,11,21 genannte Mädchenschwarm, trägt den gleichen Namen wie der vor Troja von Achills Speer verwundete Sohn des Herakles und der Auge (vgl. epod. 17,8; ars 96.104); ferner ist in epist. 1,18,19 mit Castor nicht etwa einer der beiden Dioskuren, sondern ein Gladiator gemeint. 49 Klytaimestra: Hor. sat. 1,1,100 (fortissima Tyndaridarum); Ov. ars 2,408 (et male peccantem Tyndaris ulta virum) und trist. 2,396 (Aegisthi crimen Tyndaridosque legis); Dioskuren: Hor. 46
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Somit dürften die jeweils für sich schwachen Indizien auch in der Summe nicht ausreichen, um schlüssig zu beweisen, daß in carm. 1,16 Helena die Angesprochene ist.50 Doch nicht nur eine Identifizierung des Mädchens mit Helena wurde versucht. Mehrfach wurde auch vorgeschlagen, in der filia die Tochter Canidias zu sehen, der Zauberin, die Horaz in den Epoden und Satiren mehrfach in ihren schrecklichen Ritualen porträtiert, zuweilen auch verspottet.51 E. Adelaide Hahn verteidigt diese Hypothese dadurch, daß sie ein Beziehungsgeflecht zwischen der 5. und 17. Epode sowie carm. 1,16 und 1,17 nachzuweisen versucht; sie konzediert aber am Ende ihres Aufsatzes selbst: »I am well aware that some of the points that I have adduced above may seem […] far-fetched and fanciful.«52 Die Problematik dieses Ansatzes wird jedoch schon bei seinem Ausgangspunkt evident: Im Hexenstück epod. 5, in dem ein puer für einen Liebeszauber geopfert werden soll, ist der Knabe, der anfangs um sein Leben fleht, später die Hexen verwünscht, nach Hahns Meinung zugleich Horaz selbst, der einmal in Canidia verliebt gewesen sei.53 Ein zusätzliches Problem stellt sich den Verfechtern dieser Ansicht darin, daß es mindestens zweifelhaft ist, ob Canidia Kinder hatte.54 In epod. 5,5f. fleht der Junge sie carm. 4,8,31 (clarum Tyndaridae sidus). – Zur Bedeutung von Helena und Stesichoros in diesem Kontext vgl. auch Kap. 2.5. 50 Treffend zu diesem Komplex Wickham (1912) 41: »There was the temptation to connect the two odes [carm. 1,16 und 1,17], to make the invitation of that the complement of the reconciliation in this; and the connection of the name of Helen on the one side with the name of Tyndaris, and on the other with the original ›palinode‹, would easily suggest to ingenious scholiasts the desired link«; polemischer Fraenkel (1957) 246f., der sich auch auf Arbeiten von Philipp Buttmann (1808, bibliograph. Angaben bei Fraenkel ebd.) stützt: »[Die Angaben im Text genügten Horaz,] nicht aber den Rätselfreunden unter seinen Kommentatoren. [...] Wenn Tyndaris irgend etwas mit dieser Ode zu tun hatte, wie soll, so möchte man fragen, der Leser das herausbekommen? [...] Der Leser, der vergißt, daß jede Horazode ein in sich geschlossenes Ganzes ist, läuft Gefahr, von einem Irrlicht aufs Moor gelockt zu werden.« 51 Canidia wird in epod. 3,7f., sat. 2,1,48 und 2,8,95 als Giftmischerin genannt; epod. 5 und sat. 1,8 zeigen sie bei düsteren Ritualen; in epod. 17 ist sie die Adressatin einer (unaufrichtigen) Palinodie. – Bezugnahme unseres Gedichtes auf Canidias Tochter vertreten Sturtevant (1912) 120 und Hahn (1939), die beide der filia zugleich den Namen Tyndaris geben. – Der Commentator Cruquianus (eine Sammlung alter Scholien aus heute zerstörten Handschriften, die der belgische Philologe Jacob Cruquius im 16. Jh. erstellt hat) bringt – wie einige Handschriften [vgl. Keller/Holder (1899) 46] – carm. 1,16 mit Gratidia in Verbindung, welche nach Porphyrio (zu sat. 1,8,23f.) die hinter dem Pseudonym »Canidia« stehende Person gewesen sein soll. Diesen gesamten Ansatz bewerten Kiessling/Heinze (1955) 81 als »ganz töricht«; ähnlich ablehnend Fraenkel (1957) 246 mit Anm. 2. – Zu den horazischen Personennamen und ihrer literarischen und epigraphischen Bezeugung vgl. Gruner (1920). 52 Hahn (1939) 230. 53 Ebd. 216ff. 54 Auch Sturtevant (1912) 120f. und Hahn (1939) 229 sind sich dieser Problematik sehr wohl bewußt.
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an: per liberos te, si vocata partubus / Lucina veris affuit, und in epod. 17,50ff. komplettiert der Sprecher einen offensichtlichen Lügenkatalog mit den Worten: tuusque venter Pactumeius et tuo / cruore rubros obstetrix pannos lavit, / utcumque fortis exsilis puerpera. Wenn Hahn dieses Problem dadurch als gelöst betrachtet, daß Horaz gerade durch die Worte o matre pulchra die in epod. 5 und 17 bestrittene Mutterschaft palinodisch bestätige,55 unterläuft ihr ein Zirkelschluß, da ja die Mutterschaft der Canidia die Voraussetzung dafür war, eine Verbindung zwischen carm. 1,16 und eben diesen Epoden herstellen zu können. Ähnliches gilt für E.H. Sturtevant, der die Epoden-Äußerungen für eine »hyperbole common to anger« hält und durch folgende Überlegung das Problem gelöst sieht: »Horace is no longer in a mood to dispute her claims: if the girl cares to be called Canidia’s daughter, he can easily indulge the whim«.56 Man wird daher zu dem Schluß kommen, daß die Identität der filia pulchrior weder mit der mythischen Helena noch mit einem Mädchen namens Tyndaris noch mit der Tochter der Hexe Canidia beweisbar ist. Derartige Identifizierungsversuche bleiben fruchtlos, sollen es wohl auch nach Absicht des Dichters bleiben;57 ihr Scheitern tut dem Gedichtverständnis aber keinerlei Abbruch. Ein eigener Deutungsversuch der Worte o matre pulchra filia pulchrior soll unten (Kap. 2.5) vorgetragen werden.
2.3 Zur Frage des Verfassers der criminosi iambi Wer die criminosi iambi verfaßt hat, ist ein vieldiskutiertes Problem. Natürlich liegt es nahe, ihren Verfasser im Sprecher bzw. in Horaz selbst zu sehen,58 der ja ein anerkannter Iambendichter war und sich auch selbst als Iambiker par excellence betrachtete.59 Einige Forscher wiederum hielten 55
Hahn (1939) 230. Sturtevant (1912) 120f. 57 Ähnlich Fraenkel (1957) 246 (»sehr darum bemüht, den Schleier der Anonymität nicht zu lüften«), Nisbet/Hubbard (1970) 203 (»We need not pursue [these biographical extravagances] in multiplying fantasies on things the ode itself shows to be irrelevant«) und Maurach (2001) 182 (»wir sollen uns an der Heiterkeit dieses [Gedichtes ...] freuen, ohne mehr wissen zu wollen, als was die Zeilen bieten«). Sturtevant (1912) 119 hingegen sieht im Verschweigen des Namens einen Hinweis auf die Realität der Situation. – Jedenfalls sollte man nicht einen Systemzwang zum Argument machen, wie es Hahn (1939) 224 tut: »Besides, if the heroine of 1.16 is not Tyndaris, she is left nameless, and this is quite contrary to Horace’s practice in the Odes.« 58 So unter anderem Sturtevant (1912) 119, Plessis (1924) 52, Wilkinson (1946) 60, Kiessling/Heinze (1955) 80, Commager (1962) 136, Wimmel (1962) 119, Nisbet/Hubbard (1970) 201ff., Murgatroyd (1982) 238f., Quinn (1985) 155f., Santirocco (1986) 50, Arkins (1993) 118, West (1995) 78, Syndikus (2001) I, 177 sowie Maurach (2001) 181. 59 Epist. 1,19,23f.: Parios ego primus iambos / ostendi Latio [...]. Horaz selbst nennt seine Epoden immer iambi: epod. 14,7 (inceptos olim, promissum carmen, iambos); epist. 1,19,23 56
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zwar den Sprecher für den Autor der Schmähverse, sahen deren Ziel aber nicht im angesprochenen Mädchen, sondern in dessen Mutter.60 Andere Interpreten jedoch hielten das Mädchen für die Autorin der iambi.61 Welche Konstellation erscheint am plausibelsten, wenn man die Ode unvoreingenommen analysiert? Das z.B. von L.A. MacKay angeführte Argument, das Mädchen könne die Verse im Falle der Autorschaft des Sprechers nur dann beseitigen, wenn es nur ein einziges Exemplar gebe, das sich dazu noch im Besitz des Mädchens befinden müsse,62 ist nicht zwingend: Geht man davon aus, daß die bewußten Verse bereits kursierten, wie es MacKay ja tut,63 erscheint es unabhängig vom Autor unmöglich, sie auszumerzen: delere licebit / quod non edideris; nescit vox missa reverti, warnt Horaz selbst andernorts.64 Nicht überzeugend ist auch der Ansatz August Teubers, der durch eine Konjektur in V. 26ff. (mutare quaero tristia. tu mihi / fias recantatis amica / opprobriis animumque reddas) »für das Gedicht mit einem Schlage Klarheit geschaffen« zu haben glaubt.65 Er stellt sich die Gedichtsituation folgendermaßen vor: Aus den letzten Worten erfahren wir endlich, was die junge Dame so in Harnisch versetzt hat. Der an Jahren weit ältere kleine Herr mit dem Schmerbauch und dem frühzeitig ergrauten Haar hat sich um das schöne Mädchen beworben, das von jüngeren Verehrern umschwärmt sein will. Für Horaz gab es auf ihrer Seite nur Hohn und Spott und in den criminosi iambi hat sie ihn lächerlich gemacht. Animumque reddas schließt der Dichter, sc. mihi: mach’ mir neuen Mut! nimm mich guten Kerl, trotz meiner Glatze, zu Gnaden an!66
(Parios ego primus iambos); 2,2,59 (hic delectatur iambis, Gegensätze: carmen und sermones). Auch Archilochos’ Epoden werden in ars 79 iambi genannt (Archilochum proprio rabies armavit iambo). – Daß ein entsprechender Iambus in der Epoden-Sammlung nicht enthalten ist – gegen Wickham (1912) 41, Sturtevant (1912) 120 und Hahn (1939) 221, die in epod. 5 und 17 die entsprechenden Iamben sehen –, spräche freilich nicht gegen Horaz als möglichen Autor. 60 So schon Gotthold Ephraim Lessing; ihm folgten Sturtevant (1912) 120, Hahn (1939) 230 und Jenkyns (1982) 148ff., der diese These auf der Beobachtung aufbaut, daß die Ode mit den Worten o matre pulchra beginnt und daß der Sprecher ferner in V. 23 von seiner Jugend in der Vergangenheit berichtet; der Sprecher stehe altersmäßig also eher der Mutter nahe. – Connor (1987) 78 glaubt ebenfalls, daß die Mutter des Mädchens einmal vom Sprecher attackiert wurde, jedoch nicht in den bewußten iambi. 61 Zum Beispiel Teuber (1897), MacKay (1962), Dyson (1968) und Connor (1987) 80. 62 MacKay (1962) 299. 63 Dyson (1968) 172 hingegen meint, daß es sich um »insults that are fresh from the pen, perhaps still being produced« handele, wofür es aber innerhalb des Gedichtes keinen Beweis gibt. 64 Ars 389f. 65 Teuber (1897) 798. 66 Ebd. 799.
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Diese Deutung ist anschaulich, aber zu phantasievoll.67 Auch die Konjektur tu (statt dum) läßt die Ausgangssituation der Ode keineswegs völlig eindeutig erscheinen; wer die opprobria widerrufen soll, wird durch sie nicht klarer. Seine Übersetzung von animumque reddas durch »Mach’ mir neuen Mut!« jedoch stellt eine diskutable Alternative dar zu »Gib mir deine Zuneigung wieder!«68 Ferner wurden Versuche vorgetragen, über die genaue Bedeutung der Junktur modum ponere zur Ausgangslage des Gedichtes vorzudringen. Einige Interpreten – Verfechter der Autorschaft des Mädchens – vermuteten, modum ponere bezeichne vor allem eine Beschränkung eigener Tätigkeiten;69 so übersetzt zum Beispiel Teuber »mit dieser Art von Poesie […] aufzuhören«.70 Zur Stützung dieser Auffassung ließe sich darauf hinweisen, daß Dichter wie z.B. Tibull durchaus die Vernichtung eigener Werke wegen kompromittierenden Inhaltes in Erwägung ziehen,71 so daß eine Aufforderung zur Vernichtung von Gedichten nicht unbedingt ein negatives Qualitätsurteil darstellt. Modum ponere und Ähnliches wird jedoch nicht nur gebraucht, um eine Beschränkung eigener Tätigkeiten auszudrücken (so zum Beispiel Hor. carm. 3,15,2: tandem nequitiae fige modum tuae), sondern auch, um eine Beschränkung von Fremdem zu bezeichnen, wie Hor. sat. 1,2,111 (nonne cupidinibus statuat Natura modum quem) und ähnliche Formulierungen zeigen.72 Ein gewichtiges Argument für die Verfasserschaft des Mädchens kann aber aus den Versen 22ff. gewonnen werden. In dem freimütigen Bekenntnis me quoque pectoris / temptavit in dulci iuventa / fervor et in celeres iambos // misit furentem ist die Zuordnung von me quoque nicht ganz eindeutig. Soll man die in quoque liegende Gleichsetzung in Verbindung mit 67 Ebenfalls spekulativ ist die Annahme von Williams (1980) 2, der Sprecher habe die bewußten Verse verfaßt, weil das Mädchen ihm einen anderen Liebhaber vorgezogen habe. 68 Ähnlich Maurach (2001) 182 mit Verweis auf Ter. Andr. 333 (reddidisti animum). Andere legen animum tuum [sc. quem a me abalienaveras] zugrunde, wie Kiessling/Heinze (1955) 84; so auch unter anderem Plessis (1924) 54 (»que tu me rendes ton coeur«) und Nisbet/Hubbard (1970) 214. Animus findet sich in der Bedeutung »Zuneigung« bei Horaz jedoch auch in carm. 4,1,30: spes animi credula mutui; in carm. 1,19,4 sogar mit reddere verbunden: finitis animum reddere amoribus. Einen historischen Überblick über diese beiden Deutungsrichtungen bietet Wimmel (1962) 122f., welcher an dieser Stelle absichtliche Unklarheit/Ambiguität vermutet. Wie verträgt sich damit aber Horazens literarischer »Arbeitsschritt« parum claris lucem dare (ars 448)? – Cairns (1978) 549 jedenfalls engt die Bedeutung zu sehr ein, wenn er von »granting him her sexual favours« spricht. 69 So u.a. MacKay (1962) 299 und Dyson (1968) 172. 70 Teuber (1897) 799. 71 Tib. 1,9,48ff.: at me nunc nostri Pieridumque pudet. / illa velim rapida Vulcanus carmina flamma / torreat et liquida deleat amnis aqua. 72 Ferner könnte man anführen Verg. Aen. 7,128f. (fames [...] exitiis positura modum), Lucan. 1,81f. (laetis hunc numina rebus / crescendi posuere modum) und Tac. ann. 11,10,2 (ibi modus rebus secundis positus).
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
den mythisch-historischen Beispielen oder in Verbindung mit der in compesce mentem angesprochenen Person sehen?73 Im ersten Fall hätte diese Aussage entschuldigenden Charakter: »So wie der Zorn in diesen Beispielen wütete, so hat er auch mich versucht usw.«, so daß der Sprecher als Autor der criminosi iambi erscheinen könnte. Dadurch würde dieser Satz aber noch eng mit dem exemplum zusammenhängen; das exemplum ist jedoch, wie oben festgestellt wurde, wohl an das Mädchen gerichtet.74 Wenn man aber quoque auf die Handlungen des Mädchens bezieht, müßte die Parallele darin gesehen werden, daß auch das Mädchen celeres iambi verfaßt hat,75 und diese Auffassung ist diejenige, welche bei unvoreingenommener Betrachtung am plausibelsten erscheint. Dann müßte man die filia auch als logisches Subjekt des Ablativus absolutus recantatis [...] opprobriis ansehen.
2.4 Wer ist zornig? Wenn die oben vorgetragenen Überlegungen zur Autorschaft des Mädchens richtig sind, liegt es nahe, auch den Zorn als Emotion des Mädchens zu betrachten.76 Unter diesem Aspekt sollen die verschiedenen Elemente der Ode nun noch einmal geprüft werden. Wie oben besprochen, schildern die zweite und die dritte Strophe katalogartig und mit großem Nachdruck, wie heftig der Zorn77 den Geist packt und wie unbeirrbar durch äußere Einflüsse er ist. Zugleich möchte der Sprecher aber die Zuneigung des Mädchens zurückgewinnen, wie die letzte Strophe zeigt. Man könnte nun einwenden, es 73
Eine dritte, wohl weniger wahrscheinliche Erklärung bietet Plessis (1924) 54: »me quoque moi aussi, comme tout autre«; ähnlich schon Wickham (1912) 43: »me quoque, as well as the rest of the world, as it may you.« 74 Zwar paraphrasiert Sturtevant (1912) 120: »[My anger was] as disastrous as the passions of Pelop’s line«, aber Dyson (1968) 174 weist zu Recht darauf hin, daß sich me quoque schlecht auf Thyestes beziehen könne, weil ja dieser ein exitium grave erlitten, der Sprecher aber die Zornesanwandlungen offensichtlich gut überstanden habe. 75 So Teuber (1897) 799, MacKay (1962) 298ff. und Dyson (1968) 173f.: »The obvious force of me quoque is to compare Horace’s youthful behaviour with the present behaviour of the woman.«, ferner Connor (1987) 80. 76 So auch Teuber (1897), MacKay (1962), Dyson (1968) und Connor (1987) 80, welche glauben, die iambi seien Ausdruck des Zornes des Mädchens. Commager (1962) 138, Nisbet/Hubbard (1970) 202f., Jenkyns (1982), Arkins (1993) 118 und Maurach (2001) 181 hingegen nehmen an, daß das Mädchen nach der Lektüre der vom Sprecher verfaßten iambi zornig ist. – Als Emotion des Sprechers betrachteten die irae u.a. Sturtevant (1912), Plessis (1924) 52 und Kiessling/Heinze (1955) 80 (vgl. aber das Folgende). Zu der Auffassung schließlich, daß beide zornig sind, tendieren Kiessling/Heinze (1955) 80.83, Williams (1980) 2ff., Santirocco (1986) 50 und Syndikus (2001) I, 180; in Ansätzen auch Murgatroyd (1982) 238. 77 Genauer: tristes irae, eine mit einem Adjektivattribut versehene, intensivierende Pluralbildung zu einem emotionalen Abstraktum, die im Deutschen nur unvollständig nachgeahmt werden kann (»grimmige Zornesgefühle« o.ä.).
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sei doch geradezu absurd, in einer Bitte um Versöhnung dem Gegenüber vor Augen zu stellen, daß dessen Ärger sich durch nichts beeindrucken, geschweige denn beschwichtigen lasse. Würde der Adressatin damit nicht ein Freibrief für andauernden Groll ausgestellt? Müßte man die Ausführungen über den Zorn deshalb nicht vielmehr als eine Art Entschuldigung des Sprechers für eigene Verfehlungen auffassen?78 Nein! Der Schlüssel zum Verständnis liegt meines Erachtens in dem Adjektiv tristes. Die beschriebene Intensität und Unbeirrbarkeit sind Charakteristika der tristes irae. Angesichts der geschilderten Heftigkeit solchen Zornes muß man den Katalog vielmehr als Warnung an die Adresse des Mädchens auffassen. Die filia sollte sich davor hüten, in derartige tristes irae zu verfallen, weil ihr dann niemand mehr helfen kann.79 Die tristes irae wären demnach nicht der bereits vorliegende emotionale Zustand, sondern eine erst noch drohende Stufe der Eskalation. In der aktuellen Situation ist hinsichtlich des Mädchens nur von mens die Rede (compesce mentem, V. 22), von plötzlich aufkommendem Unmut.80 Ferner deutet eben diese Wortwahl darauf hin, daß es um den Zorn des Mädchens geht: Das Kolon quatit / mentem (V. 5f.) enthält das gleiche Substantiv wie compesce mentem (V. 22), wo eindeutig das Mädchen angesprochen ist. Wo aber der Blick auf den Zorn des Sprechers gerichtet ist, wird fervor verwendet, ein Substantiv, welches den aufwallenden, jäh aufbrausenden Zorn (bzw. die Leidenschaft) bezeichnet und somit nicht mit tristes irae synonym ist. Was kann das Prometheusaition in der vierten Strophe zur Klärung dieser Frage beitragen? Wie oben gezeigt, erklärt der Sprecher die Charaktereigenschaft Zorn durch eine nur hier bezeugte Version des Menschenschöpfungsmythos; dadurch macht er sie nachvollziehbar und in gewissem Maße verzeihlich.81 Daß dieser Charakterfehler entschuldbar wird, läge zwar auch im Interesse des Sprechers, falls dieser zornig wäre. Zugleich aber wird der Zorn als tierisches Element im Menschen dargestellt, sogar als Teil des 78 Vgl. Murgatroyd (1982) 238: »one naturally imagines that 5-21 are part of the apology, particularly since it is hardly usual or politic when making an apology for attacks on a person to deliver a lengthy lecture to that person on his/her reaction to those attacks.« 79 Vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 202: »Then comes the locus de ira, which if read without prejudice is seen to be directed at the lady, the only person of whose anger we are aware.« – Diese Deutung wird auch durch den Blick auf das Corpus der erhaltenen derartigen Schriften (von Philodemos, Seneca, Plutarch und Libanios) gestützt. Vgl. dazu Nisbet/Hubbard (1970) 203: »All [of the extant treatises de ira] describe the violence of anger; they never consider that violence as an excuse for bad temper, but use it as an argument for restraint«. 80 Vgl. epist. 1,2,60: infectum volet esse dolor quod suaserit et mens [...]. 81 Dieser Effekt wird noch durch die Distanzformel fertur verstärkt: »Nicht etwa ich habe diese Geschichte erfunden«, so der Sprecher, »sondern sie ist ganz geläufig und allgemein anerkannt.« Angesichts der Singularität dieser Version wohl ein subtiler Scherz.
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insanus leo. Als solcher ist der Zorn sicherlich kein Charakterzug, auf den man stolz sein könnte; vielmehr gilt es, dieses animalische, unmenschliche Erbe zu kontrollieren.82 Diese Auffassung des Aitions läßt es plausibler erscheinen, die Prometheusstrophe als Warnung an die filia zu verstehen. Dadurch, daß sich der Sprecher durch die Verwendung des Possessivpronomens nostro miteinschließt, macht er die Warnung für das Mädchen psychologisch geschickt annehmbarer.83 Dieser Eindruck bestätigt sich bei erneuter Betrachtung der Thyestesstrophe. Wie schon beim Überblick über die Ode ersichtlich wurde, zeigen diese Verse der filia die dramatischen Folgen der irae und schließen mit einer expliziten Aufforderung an sie: compesce mentem! Aus der Personenkonstellation des Thyestesmythos ist aber noch mehr zu gewinnen: Gerade bei Thyestes muß ira eine ganz spezielle Bedeutung haben, nicht die des plötzlich aufflammenden Zornes, sondern die der lange anhaltenden Rachsucht.84 Thyestes konnte nicht verzeihen, sondern sann auf Rache und erlitt deshalb ein exitium grave. Gleichzeitig ist aber auch sein Bruder Atreus, dessen Rolle hier zwar nicht explizit ausgesprochen wird, aber hinzugedacht werden muß,85 nicht ohne Makel; auch er hat sich schuldig gemacht. Ebenso stehen wohl Sprecher und Adressatin beide nicht ohne Verfehlung da. Durch die Auswahl eben dieses Mythos, aber auch durch seine nur skizzenhafte Präsentation beweist Horaz großes gestalterisches Geschick, aber auch Sensibilität: Hätte er zum Beispiel den Rachemythos von Prokne, Philomela und Itys hier verwendet, welcher in carm. 4,12,5-8 in anderem Zusammenhang erscheint, so hätte man den Sprecher mit dem Vergewaltiger Tereus in Verbindung bringen können; ferner wäre die Verbindung der filia mit der Kindermörderin Prokne, die in carm. 4,12,6f. als Cecropiae domus / aeternum opprobrium bezeichnet wird, zu plakativ gewesen.
82 Nisbet/Hubbard (1970) 209 ist also zuzustimmen, wenn sie im Zorn »something θηριῶδες« sehen. Es handelt sich aber nicht um eine »mythological parallel to dignify advice to a contemporary«, sondern um ein Aition. – Mit anderer Akzentuierung betont Connor (1987) 80: »Horace understands that it [= ira] belongs to human nature, so it can and must be controlled.« 83 Vgl. auch Cairns (1978) 550, der von einer »general tendency of human nature towards this vice« spricht. – Wie im I. Teil, Kap. 5.6.3 gezeigt wurde, wird in der Neuen Komödie jedoch der Prometheusmythos des öfteren mit misogyner Tendenz verwendet. 84 So auch Nisbet/Hubbard (1970) 211: »The anger of Thyestes is specifically ›thirst of revenge‹«. – Daß Horaz in epist. 1,2,62 definiert: ira furor brevis est, tut der vorgetragenen Ansicht keinen Abbruch. Auch dort wird zur Mäßigung der ira aufgerufen. Darüber hinaus bezeichnet ira in sat. 1,7,13 und epist 1,2,13 sogar den bekanntlich lange währenden Groll des Achill. 85 Diese Technik beschreibt Williams (1980) 4 treffend: »using only part of a myth and requiring the reader to construct the relationship of the unspoken part of that myth to the thematic movement of the poem as whole.«
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Der Sprecher warnt also das Mädchen davor, in eine ganz bestimmte Art von Zorn, nämlich in tristes irae, zu verfallen.86 Faßt man die Gedichtsituation so auf, ist compesce mentem nicht mehr »unbearably bald and abrupt«, und me quoque stellt keine »most odd and illogical progression« mehr dar.87
2.5 Zur Bedeutung von o matre pulchra filia pulchrior Es bleibt noch die Frage zu klären, was Horaz mit dem Gedichtbeginn o matre pulchra filia pulchrior zum Ausdruck bringen will, nachdem man – wie oben in Kap. 2.2 gezeigt – in diesen Worten keine verrätselte Namensangabe sehen sollte. Für Nisbet/Hubbard scheinen die Anfangsworte ein typisches Motto zu sein, das Horaz aus der an Helena gerichteten Palinodie des Stesichoros genommen haben könnte.88 Darüber läßt sich aufgrund der Überlieferungslage nichts Sicheres aussagen; zu bedenken ist allerdings, daß Stesichoros in den uns erhaltenen Fragmenten seiner Palinodie Punkt für Punkt frühere Behauptungen widerruft.89 Eine Aussage wie »Du bist schöner als deine schöne Mutter« müßte demnach eine frühere Schmähung wie »Du bist häßlicher als deine häßliche Mutter« revidieren; ein solcher Vorwurf aber kann doch nicht ernsthaft gegen Helena, die schönste Frau des Altertums, erhoben worden sein. Überdies ist zu berücksichtigen, daß die Forschung trifftige Gründe für die Auffassung angeführt hat, daß Stesi86
Williams (1980) 2ff., Santirocco (1986) 50 und Syndikus (2001) I, 180 hingegen sehen die verschiedenen Strophen teils auf den Sprecher, teils auf die filia bezogen; eine klare Abgrenzung der Funktionen einzelner Strophen fehlt aber bei ihnen ebenso wie bei Kiessling/Heinze (1955) 83 (»[V. 22 lehrt,] daß bei der Schilderung von den Gefahren des Zorns auch an die schöne Gegnerin gedacht war […] man glaubte, der Dichter spreche nur von sich selbst«); vgl. auch ebd. auf S. 80: »locus communis contra iram halb als Entschuldigung [des Sprechers], halb als Warnung [an das Mädchen]«; unklar Quinn (1985), der auf S. 155 Mitte die Verse 5-21 insgesamt an beide adressiert sieht, aber einige Zeilen weiter unten betont, es sei doch nur das Mädchen gemeint. – Zu anderen Ergebnissen kommt Murgatroyd (1982), der auf S. 238 »anger on his part« erkennt, dann aber kurz darauf (S. 239) aus der Stellung von compesce mentem folgert, der Leser sei bewußt in die Irre geführt worden; es sei doch ausschließlich das Mädchen, das zornig sei, so daß er die ganze Passage V. 5-21 als »tease« betrachtet. 87 Diese Kritik findet sich bei Murgatroyd (1982) 239 gegen die Ansicht, die Verse 5-21 handelten vom Zorn des Sprechers. Ähnlich Nisbet/Hubbard (1970) 203: »the abruptness of compesce mentem […] is surely intolerable«. 88 Nisbet/Hubbard (1970) 204 in Nachfolge eines älteren Vorschlags von Franciscus Ritter; so auch unter anderem Cairns (1978) 546, der aber betont, daß die Worte zugleich auf die Adressatin zutreffen können, und Santirocco (1986) 49. Vgl. dazu auch Kap. 2.2. 89 So in der im platonischen Phaidros zitierten Passage (243 A 8ff. = Stesichoros fr. 192): οὐκ ἔστ’ ἔτυμος λόγος οὗτος, / οὐδ’ ἔβας ἐν νηυσὶν εὐσσέλμοις [ἐϋσσέλμοις in der Fragmentsammlung] / οὐδ’ ἵκεο Πέργαμα Τροίας, die wohl auch so weiterging (Plat. Phaidr. 243 B 2: καὶ ποιήσας δὴ πᾶσαν τὴν καλουμένην Παλινῳδίαν). Zur Problematik der zweiten Palinodie, welche fr. 193 bezeugt, vgl. z.B. Kannicht (1969) 38ff.
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choros in der Palinodie nicht eigene frühere Ausführungen widerruft, sondern vielmehr die traditionelle epische Darstellung Helenas revidiert bzw. korrigiert.90 Weitaus plausibler wäre es daher, in jenem Kompliment ein Beispiel derjenigen Haltung zu sehen, die der Sprecher später mit mitibus / mutare quaero tristia beschreibt. Ein schmeichelndes Kompliment würde in diesem Fall die Ode eröffnen und die versöhnliche Haltung des Sprechers sogleich signalisieren.
2.6 Fazit Aufgrund der vorgetragenen Überlegungen erscheint folgende Ausgangssituation in carm. 1,16 am plausibelsten: Ein Mädchen – einer schönen Mutter noch schönere Tochter, bei der es sich wohl weder um Helena noch um die Tochter der Hexe Canidia handelt – hat in seinem Zorn Spottverse geschrieben. Der Sprecher bittet um die Vernichtung dieser Verse und um den Widerruf der darin geäußerten Schmähungen. Legt man diese Konstellation der Ode zugrunde, fügen sich die einzelnen Elemente harmonisch zusammen: Die Abhandlung über die tristes irae, welche die Heftigkeit und Unbeirrbarkeit dieser Emotion schildert, warnt das Mädchen davor, seinen Zorn zu tristes irae werden zu lassen; dann nämlich könne ihm niemand mehr helfen. Das sich anschließende Aition, welches Prometheus als Menschenschöpfer zeigt – ein in der Neuen Komödie beliebtes Thema, dort z.T. mit misogyner Tendenz verwendet – und dabei mit der insani leonis vis diesem Mythos ein zuvor nicht bezeugtes Detail hinzufügt, schildert in der Art einer Äsopfabel den Grund für den heftigen Zorn des Menschen. Der Zorn ist also ein tierisches Erbe, das man unter Kontrolle halten muß. Darin, so konnte gezeigt werden, liegt eine deutliche apotropäische Aufforderung an das Mädchen. Neben diese mythische Aitiologie tritt ferner ein mythisches Beispiel: Thyestes wurde seine anhaltende Rachsucht zum Verhängnis; er erlitt ein schreckliches Schicksal. Dadurch und ebenso durch den Verweis auf untergegangene Städte soll das Mädchen davon überzeugt werden, daß auch ihm tristes irae nur schaden können. Daß gerade der Mythos von Thyestes und Atreus ausgewählt wurde, ist dabei, wie gezeigt werden konnte, psychologisch klug, da sich dadurch beide Streitparteien im Mythos wiederfinden können. Schließlich parallelisiert sich der Sprecher selbst mit der filia: Auch er habe früher einmal iambi verfaßt; jetzt aber versuche er, dieses Genre zugunsten von
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Vgl. z.B. Kannicht (1969) 26ff. und Schmid (1982) 114ff.
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mitia aufzugeben. Deshalb solle auch das Mädchen seine mens bändigen und die opprobria widerrufen. Auf die an Helena gerichtete Palinodie des Stesichoros rekurriert Horaz allem Anschein nach nicht als Praetext. Er bzw. der Sprecher hat keine opprobria ausgesprochen, die man widerrufen müßte, und auch die Adressatin ist wohl eben nicht Helena. Das Kolon o matre pulchra filia pulchrior scheint kein aus Stesichoros genommenes Motto zu sein; vielmehr stellt es wohl ein Beispiel für die vom Sprecher angekündigten mitia dar. Obgleich für die Argumentation auf die mythische Schöpfung des Menschen durch Prometheus zurückgegriffen wird, ist die Gedichtsituation doch erkennbar im Nicht-Mythischen angesiedelt, und auch wenn ein mythisches Beispiel herangezogen wird, bleiben die Bereiche »Mythos« und »imaginierte Situation« doch deutlich voneinander getrennt.
2.7 Exkurs: Zum mythischen Beispiel Horaz hat in carm. 1,16 ein mythisches Beispiel91 in seine Argumentation integriert. Diese Art der literarischen Funktionalisierung von Mythologemen ist, wie schon beim Überblick über den Mythosgebrauch vorhorazischer Dichter (I. Teil, Kap. 5) ersichtlich wurde, sehr gebräuchlich. Robert Oehler etwa hat in seiner Monographie die Verwendung mythischer Beispiele in der älteren griechischen Dichtung untersucht und ihre weite Verbreitung dargelegt.92 Ein wertvolles, nach Themen geordnetes Repertorium für solche exempla in der griechischen und römischen Poesie hat H.J. Canter schon 1933 vorgelegt.93 Auch die antike theoretische rhetorische Literatur äußert sich ausgiebig zum exemplum. So beschreibt beispielsweise der Auctor ad Herennium dessen Wirkung folgendermaßen (4,49,62):
91 Sehr umfangreiche Definitionen des Beispiels allgemein und des mythischen Beispiels im Speziellen finden sich bei Reinhardt (1974) 1-15, der auch viele Zeugnisse aus theoretisch-rhetorischen Werken anführt. Eine knappe Definition gibt Oehler (1925) 2: »Mythologische Exempla […] nennen wir diesen zu bestimmtem Zwecke in den Dichtungen geformten mythologischen Stoff.« Diese Definition betont durch den Präpositionalausdruck »zu bestimmtem Zwecke« den intentionalen Charakter eines mythischen Beispiels. Dennoch erscheint diese Definition zu allgemein: Mythologischer Stoff ist in jeder Dichtung geformt. Man müßte diese Definition zumindest um die folgenden kursiven Teile erweitern: »Mythologische Exempla […] nennen wir diesen zu bestimmtem, argumentativem Zwecke in den Dichtungen geformten mythologischen Stoff, der eine scheinbare oder tatsächliche Entsprechung zur jeweiligen Situation aufweist.« – Zum exemplum allgemein vgl. Lausberg (1990) §§ 410-426 und Klein (1996) 60-70. 92 Oehler (1925). 93 Canter (1933).
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[exemplum] rem ornatiorem facit, cum nullius rei nisi dignitatis causa sumitur; apertiorem, cum id, quod sit obscurius, magis dilucidum reddit; probabiliorem, cum magis veri similem facit; ante oculos ponit, cum exprimit omnia perspicue [...]. Ein Beispiel macht eine Sache schmuckvoller, wenn es nur der würdevollen Pracht wegen erwähnt wird; offenkundiger, wenn es das, was recht dunkel ist, deutlicher macht; glaubhafter, wenn es die Sache wahrscheinlicher macht; es stellt sie vor Augen, indem es alles klar ausdrückt [...].
Als Effekte und Funktionen des exemplum werden also Schmuck (ornatiorem), Deutlichkeit (apertiorem) und Annehmbarkeit (probabiliorem) genannt. Cicero wiederum beschreibt die psychologische Wirkung dieser Art der Argumentation folgendermaßen (inv. 1,51): inductio est oratio quae rebus non dubiis captat assensionem eius quicum instituta est; quibus assensionibus facit ut illi dubia quaedam res propter similitudinem earum rerum quibus assensit probetur. »Induktion« ist eine Redeweise, die durch unzweifelhafte Dinge nach der Zustimmung dessen hascht, mit dem sie unternommen ist; durch diese Akte der Zustimmung bewirkt sie, daß jenem eine bestimmte zweifelhafte Sache wegen der Ähnlichkeit mit denjenigen Sachverhalten, denen er zugestimmt hat, annehmbar gemacht wird.
Nun mag aber der Kenner der antiken Rhetorik fragen, was diese Ausführungen hier zu suchen haben. Immerhin, so könnte er einwenden, verwenden Redner keine mythischen, sondern historische exempla, und vielfach wird in rhetorischen Schriften sogar explizit davor gewarnt, mythische exempla heranzuziehen.94 Gegen diesen Einwand lassen sich jedoch einerseits Passagen aus Cicero und Quintilian anführen, welche die Beschäftigung mit Mythen für Redner weniger strikt verboten erscheinen lassen.95 Andererseits sind die logischen Prozesse, die die Rezipienten vollziehen müssen, bei mythischen Beispielen dieselben wie bei historischen: In beiden Fällen muß zwischen dem Beispiel und der aktuellen Lage eine Verbindung hergestellt werden, ein Vorgang, der als Induktion (inductio, ἐπαγωγή) bezeichnet wird. Somit haben die Theoretiker der Rhetorik ihre Ausführungen selbst zwar nur für das historische Beispiel formuliert; doch ihre Aussagen haben auch Gültigkeit für das mythische Paradigma. Daß speziell Horaz mythische und (myth-)historische Beispiele problemlos nebeneinander und dadurch auch in ähnlicher Absicht verwenden kann, wird u.a. aus carm. 1,16 deutlich (das exitium des Thyestes neben dem Untergang 94
Belegstellen und Textauszüge finden sich bei Reinhardt (1974) 11. Cic. part. 40: fabula etiam non numquam, etsi sit incredibilis, tamen homines commovet. Deshalb kann Cicero auch in Mil. 8 auf den Muttermord des Orestes und den Freispruch durch Athene anspielen. – Quint. inst. 12,4,1: abundare debet orator exemplorum copia […] verum ne ea quidem quae sunt a clarioribus poetis ficta neglegere. 95
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der altae urbes).96 Aufschlußreich sind auch Dorothee Galls Ausführungen über die besondere Affinität des Mythos zum exemplarischen Gebrauch: Der höhere Ton und die Verankerung in der dichterischen Tradition machen den Mythos zu einem dem lyrischen Stil adaequaten Ausdrucksmittel; sein Bekanntheitsgrad und die ihm gewöhnlich zugestandene Autorität, die auch in einer gewissen Distanz zum Alltagsleben gründet, sichern seine poetische Kraft und exemplarische Wirkung. […] Gegenüber dem historischen besitzt das mythische Exemplum den Vorteil der Allgültigkeit. […] Das mythische Exemplum steht nicht wie das historische Paradigma im Parteienstreit […] Es ist keinem geschichtlichen Wandel unterworfen […] Solange ein Mythologem geglaubt wird oder doch zumindest nicht außer Kraft gesetzt worden ist, bewahren die aus ihm geschöpften Paradigmen ihre Gültigkeit.97
Die mythischen Beispiele bei Horaz zeigen eine große Variationsbreite. Dieses Thema kann hier allerdings nur exemplarisch angesprochen, jedoch nicht erschöpfend behandelt werden. Ein exemplum kann vom Sprecher/Erzähler, aber auch von einer Figur der Dichtung (so in carm. 3,7,13ff.) eingeführt werden; der Umfang reicht von kurzen Skizzen wie im Falle von carm. 1,16 bis zu ausgedehnten Schilderungen [etwa in carm. 3,4, wo noch durch Formeln eingeleitet wird: scimus ut (V. 42) und testis mearum centimanus Gyges / sententiarum (V. 69f.)]. Es gibt apotropäisch-dehortative mythische Beispiele (u.a. carm. 4,11,25-28), protreptisch-adhortative exempla (etwa carm. 2,4) sowie neutral-deskriptive Paradigmata (z.B. carm. 1,28). Die Themen sind vielfältig; neben anderen finden sich Lebensgenuß, Unentrinnbarkeit des Todes, audacia, Zorn, Feigheit, das Thema des Wechsels und des non semper, die Macht des Geldes, Notwendigkeit von consilium, unerschütterliches Verhalten sowie die Liebe zu einer Sklavin. Bemerkenswert sind dabei – neben anderen Aspekten – die von Gall beobachteten Variationen in der Kombination mythischer Figuren, obwohl dieselbe Aussageabsicht verfolgt wird, und die Feststellung, daß Heroen meist in untypischen Situationen gezeigt werden, ferner daß ihr paradigmatischer Charakter in der Regel aus ihren Leiden und ihrer Geisteshaltung, nicht aus ihrem Tun abgeleitet ist. Dadurch sieht Gall »den Abstand zwischen mythischer und historischer Welt in gewisser Weise verkürzt«.98
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Auch sonst finden sich bei Horaz in Reihen mythische neben historischen Figuren, wie zum Beispiel in carm. 1,12, oder mythische neben historischen Stoffen (carm. 2,12,1-12). 97 Gall (1981) 81-83. 98 Ebd. 85 (Variationen in der Kombination).109 (Heroen meist in untypischen Situationen, ebd. auch das Zitat). – Zum mythischen Beispiel bei Horaz vgl. auch Oksala (1973) 188.194-196, Gall (1981) 64-71.81-117, Welsch (1971) 114-131.154-158 sowie Basta Donzelli (1994).
3. carmen 2,14
»Ach wehe, flüchtig, Postumus, Postumus, gleiten dahin die Jahre« ist der Beginn von carm. 2,14, Verse, die zu den bekanntesten des Horaz überhaupt gehören.1 Diese Klage gegenüber Postumus2 leitet Reflexionen über die Unausweichlichkeit des Todes und den Verlust irdischer Güter ein; sie wird von einer Strophe abgeschlossen, die auf die nächste Generation, welche sich am Wein des Erblassers gütlich tun wird, vorausblickt. Durchgängig herrscht ein hochpathetischer Ton, der sich in der Interjektion eheu (V. 1) und in der bei Horaz singulären Anadiplosis einer Anrede (Postume, Postume, V. 1) schon am Beginn des Gedichtes manifestiert.3 Was aber ist
1 Armstrong (1989) 92 lobt die bleibende Frische der Anfangsverse: »[They] are as impressive the hundreth time one reads these lines as they were the first.« Plessis (1924) 141 nennt die Ode »une des plus justement célèbres«, Castorina (1965) 119 »una delle più belle e meritamente celebri [odi]«; für Musurillo/Callahan (1966-67) 367 ist sie »one of the most moving pieces in all Latin literature« bzw. (ebd. 369) »one of the most poignant lyric poems ever written«, vgl. ferner Nisbet/Hubbard (1978) 225: »a masterpiece of construction«; West (1998) 96f.: »it is clearly a great poem.« – Eher abschätzig dagegen Collinge (1961) 87, der beinahe »a cento of Horatian commonplaces« vorliegen sieht. Demgegenüber bemerkt jedoch Williams (1968) 586: »[The artistic composition] makes superficial the criticism that it is a series of commonplaces strung together.« 2 Zur Person des Postumus: Bücheler (1882) 234 vermutet in ihm keine historische Person; gezeichnet sei »der reiche Durchschnittsmensch«. Kiessling/Heinze (1955) 216 nehmen einen agnostizistischen Standpunkt hinsichtlich seiner Identität ein; sie sehen aber doch eine reale Person und keinen Typus in Postumus; ebenso Woodman (1967) 382 und Quinn (1985) 225 (»seems unidentifiable«). Syndikus (2001) I, 424, Anm. 9 bemerkt ebenfalls: »sonst nicht bekannt«. Plessis (1924) 141 ist überzeugt: »Il n’y a aucune raison de croire que Postumus [...] ne soit pas un personnage réel.« Oppermann (1953) 71 denkt an einen unbekannten Freund des Horaz oder eine Fiktion. Nisbet/Hubbard (1978) 223f. tendieren vorsichtig zu einer Identifizierung mit dem bei Properz 3,12 genannten Postumus, worin ihnen West (1998) 102 folgt. Anders White (1995) 151ff., der ihn mit Curtius Postumus identifiziert. Prosopographisches und weitere Literatur bei Nisbet/Hubbard (1978) 223f. – Jedenfalls hat Woodman (1967) 379 recht, wenn er feststellt: »The very name ›Postumus‹ inevitably evokes mortal thoughts«; ähnlich schon Commager (1962) 285 und später Santirocco (1986) 98 (»ostentatiously significant name«), Heuzé (1991-92) 17 (»Personnifié, il devient l’allegorie de l’Echeance«) und Anderson (1999) 153 (»no doubt carefully chosen name«). Paschalis (1994-95) 181ff. untersucht noch andere derartige Namen bei Horaz. – Martial wird später eine ähnliche Frage in seinem Werk bewußt offenlassen (2,23,1f.: non dicam, licet usque me rogetis, / qui sit Postumus in meo libello). 3 Nisbet/Hubbard (1978) 227: »a sad and serious tone«. Einschränkend allerdings West (1998) 99: »The repetition conveys intensity of emotion but does not reveal what emotion is being felt.« – Sonstige Anadiploseis sind bei Horaz ebenfalls selten; sie erscheinen in den Oden nur in carm. 2,17,10 (ibimus, ibimus); 3,3,18 (Ilion, Ilion) und 4,4,70 (occidit, occidit).
3. carmen 2,14
199
die Intention dieses Gedichtes, und welchem Zweck dienen die ausführlichen Unterweltsbilder, die in diese Ode integriert sind?
3.1 Die Ode im Überblick eheu fugaces, Postume, Postume, labuntur anni, nec pietas moram rugis et instanti senectae afferet indomitaeque morti, Ach wehe, flüchtig, Postumus, Postumus, gleiten dahin die Jahre, und auch Frömmigkeit wird keinen Aufschub bringen den Falten und dem drohenden Greisenalter und dem unbezwingbaren Tod,
Die Jahre vergehen (eigentlich: verfließen4) schnell, und auch pietas kann Falten (rugis, V. 3), das Greisenalter (instanti senectae, betont am Ende von Vers 3) und – als Endpunkt des klimaktischen Trikolons – den Tod nicht aufhalten,5 der – ebenfalls ans Versende gestellt – in Verdoppelung des Gedankens als indomitae (V. 4) bezeichnet wird. Durch die Doppelbedeutung »von keinem bezwungen/(generell) unbezwingbar« wird das persönliche Leid in einen allgemeinen, für alle gültigen Rahmen eingegliedert, wie es zum Inventar von Trostreden gehört.6 5
non si trecenis quotquot eunt dies, amice, places illacrimabilem Plutona tauris, qui ter amplum Geryonen Tityonque tristi
4 Sowohl fugaces als auch labuntur sind Wörter, die mit Flüssen assoziiert werden können (carm. 2,3,12: lympha fugax trepidare rivo; labi in Verbindung mit Wasser: epod. 2,25; carm. 1,2,19f.; epist. 1,2,42f.). Daß »liquid imagery« ein einigendes Grundelement dieser Ode darstellt, zeigt bereits Dahl (1953) 240: »everything liquid or fluid has repellent connotations of danger or transiency«. Auch Musurillo/Callahan (1966-67) 368 betonen: »The central, dominant image of the poem is that of flowing water, blood, wine«; dabei sehen sie jedoch nicht nur Negatives im Flüssigen verkörpert (z.B. S. 368: »it is almost as though life is the wine«). Neutral Rudd (1960) 379 (»This unity is found in the notion of wetness«), der sich aber ebd. gegen eine »naive oversimplification« wendet und zu den einzelnen Stellen lediglich bemerkt: »they are all related at a level below their surface meanings«. In ihren Einzelerklärungen spüren Nisbet/Hubbard (1978) 226 noch weitere Nuancen im Vokabular auf, die mit dem Wortfeld »Flüssigkeit/Wasser« zusammenhängen, manchmal jedoch kaum wahrnehmbar sind. 5 Pietas auf der Seite der Hinterbliebenen wird in carm. 1,24,11f. thematisiert: tu frustra pius, heu, non ita creditum / poscis Quintilium deos. 6 Vgl. Kiessling/Heinze (1955) 216. Wie sich aber noch zeigen wird, weist diese Ode sonst keine für die Konsolationsliteratur typischen Züge oder Argumente auf. – Zur Konsolationsliteratur allgemein vgl. z.B. Kierdorf (1999).
200 10
5
10
II. Teil: Einzeluntersuchungen compescit unda, scilicet omnibus quicumque terrae munere vescimur enaviganda, sive reges sive inopes erimus coloni.
[auch] nicht, wenn du mit dreihundert Stieren, wie viele Tage dahingehen, Freund, den zu Tränen nicht fähigen Pluton zu besänftigen suchtest,7 der den dreifach gewaltigen Geryones und Tityos mit der schrecklichen Welle bändigt, [der Welle,] die nun einmal wir alle, die wir uns von der Erde Gabe ernähren, durchfahren müssen, ob wir nun Könige oder mittellose Bauern8 sein werden.
In den Versen 5-9a wird nun expliziert, an welche Art von pietas vorher gedacht war: Auch mit drei Hekatomben pro Tag (trecenis […] tauris, V. 5-7) – was für eine astronomische Zahl!9 – kann man den Unterweltsgott Pluton nicht besänftigen. Ähnlich wie in der ersten Strophe wird der Gedanke dadurch intensiviert, daß diese Unmöglichkeit durch eine Eigenschaft Plutons (illacrimabilem: »nicht zu Tränen fähig«, V. 6) erläutert wird. Hier wird der allgemeine Begriff des Todes, wie er in Vers 4 aufgetreten war, in der Gestalt des Unterweltsgottes personifiziert, dessen Wirken in einem Relativsatz bildlich geschildert wird. Die »Welle«, mit der Pluton Unterweltsbüßer in Schach hält, leitet über zum nächsten Gedanken,10 der in den Versen 9-12 entwickelt wird: Alle Menschen müssen einmal diese Grenze zur Unterwelt überqueren – unabhängig von ihrem sozialen Status (sive reges / sive inopes erimus coloni, V. 11f.).
7 Der von Woodmann (1967) 381f. vorgeschlagenen Auffassung, non […] places als Hauptsatz zu verstehen, wodurch si trecenis elliptisch würde, folge ich nicht. 8 Ich folge also nicht der von Roberts (1991) 372f. vorgetragenen Ansicht, man solle inopes substantivisch auffassen und in coloni eine Apposition zu reges und inopes im Sinne von »Erdenbewohner« sehen. Auch in der entsprechenden Bemerkung in den pseudacronischen Scholien zu V. 12 (»colonos autem optime posuit quasi nihil proprium habentes, sed temporales terrae cultores«) bedeutet colonos wohl »Pächter«. 9 Einen Eindruck von der Größenordnung bekommt man, wenn man sich vor Augen hält, daß eine dreifache Hekatombe nach Liv. 22,10,7 bei einem Staatsopfer für Juppiter nach der Katastrophe am Trasumenischen See (217 v.Chr.) dargebracht wurde. Allerdings bemerkt schon Plessis (1924) 142: »trecenis fréquent en poésie, comme sescenti l’est en prose«. 10 Syndikus (2001) I, 424, der von »nicht enden wollenden, überbordenden Sätzen« spricht, bemerkt treffend zum ganzen Gedicht: »Immer wieder meint man, ein Satz habe sein natürliches Ende gefunden, aber dann fügt der Dichter unerwartet ein weiteres Glied hinzu.« Ähnlich auch Roberts (1991) 371: »Such unexpected additions to what is already a complete syntactical unit are characteristic of Horace.« Eher assoziativ behaupten Nisbet/Hubbard (1978) 228: »The rolling period suits the passage of the years and in particular the image of a river«.
3. carmen 2,14
201
frustra cruento Marte carebimus fractisque rauci fluctibus Hadriae, frustra per autumnos nocentem corporibus metuemus Austrum:
15
visendus ater flumine languido Cocytos errans et Danai genus infame damnatusque longi Sisyphus Aeolides laboris.
20
Vergeblich werden wir vom blutigen [Krieg des] Mars fernbleiben und von den brandenden Fluten der dumpf tosenden Adria, vergeblich werden wir die Herbste hindurch den Auster fürchten, der unseren Körpern schadet:
15
Ansehen muß man den schwarzen Kokytos, der in trägem Strom sich schlängelt, und des Danaos Geschlecht, das verrufene, und Sisyphos, den Sohn des Aiolos, verurteilt zu langer Mühe.
20
Auch nützt es nichts, wie die Verse 13-16 zeigen, Gefahrenquellen zu vermeiden: Man muß trotzdem dereinst die Unterwelt besuchen, die in den Versen 17-20 mittels dreier viele Assoziationen weckender Begriffe (Kokytos, Danaiden, Sisyphos) skizziert wird. linquenda tellus et domus et placens uxor, neque harum quas colis arborum te praeter invisas cupressos ulla brevem dominum sequetur. absumet heres Caecuba dignior servata centum clavibus et mero tinget pavimentum superbo11, pontificum potiore cenis.
25
Verlassen muß man die Erde, das Haus und die liebenswerte Gattin, und von diesen Bäumen hier, die du hegst, wird dir keiner außer den verhaßten Zypressen folgen, dir, dem kurzlebigen Besitzer. Verbrauchen wird der würdigere Erbe den Caecuberwein, den mit hundert Riegeln verwahrten, und mit unvermischtem prächtigem Wein wird er den Boden benetzen, Wein, der den Speisen der Pontifices12 vorzuziehen ist.
25
11
Wie die Überlieferung oftmals gerade an inhaltlich schwierigen Stellen gespalten ist und somit »Heilungsversuche« dokumentiert, gibt es auch zu diesem Adjektiv mehrere Varianten beziehungsweise Konjekturen: Vgl. den ausführlichen Apparat von Keller/Holder (1899) 127 sowie Nisbet/Hubbard (1978) 240 und Syndikus (2001) I, 426, Anm. 27 mit weiterer Literatur.
202
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Verlassen – linquenda steht betont am Anfang der sechsten Strophe wie das damit kontrastierende visendus am Anfang der vorhergehenden Strophe – muß man also die Welt und das, was einem dort lieb ist (V. 21-24). Das Gedicht schließt mit einem Ausblick auf die Zukunft (V. 25-28): Ein würdigerer Erbe wird sich des vielfach gesicherten, hervorragenden Weines bedienen. Es ergeben sich also als größere Gliederungseinheiten zwei Triaden und die letzte, alleinstehende Strophe.13 Zwischen den beiden Triaden lassen sich weitgehende Übereinstimmungen finden: Die Strophen 1 und 4 thematisieren die Unmöglichkeit, den Tod hinauszuschieben oder ihm gar ganz zu entgehen, 2 und 5 malen Unterweltsbilder, 3 und 6 berichten vom Verlassen dieser Welt und von der Reise in die Unterwelt.14 Hinsichtlich der Syntax ist hervorzuheben, daß die erste Triade von einem einzigen Satz gebildet wird, während in der zweiten Triade jeweils das Strophenende mit dem Satzende zusammenfällt. Es erhebt sich die Frage, welche Intention Horaz mit der Abfassung dieser Ode verfolgte: Brach verzweifelter Fatalismus aus ihm heraus, lamentierte er über die Unausweichlichkeit des Todes? Oder wollte Horaz in diesem Gedicht etwas gänzlich Anderes zum Ausdruck bringen? Ist es überhaupt angemessen, im Sprecher Horaz zu sehen? Oder stellt die Ode etwa den Monolog eines Gastes bei einem Symposion dar, der in seiner »Nichtigkeit« nur wiedergegeben wird, um diese Person zu karikieren oder gar zu desavouieren?15 Diese Probleme können vielleicht durch eine Analyse der mythischen Szenen und ihrer Funktionen erhellt werden.16 12 Denkbar wäre auch die Auffassung als comparatio compendiaria, woraus sich ergäbe: »Wein, der dem Wein bei den Speisen der Pontifices vorzuziehen ist«. Einen epikureischen Hinweis auf die Sinnlosigkeit der Religion aber, wie ihn Musurillo/Callahan (1966-67) 368 zu sehen glauben, ergibt auch diese Übersetzung nicht. 13 Zu dieser allgemein akzeptierten Gliederung vgl. auch Syndikus (2001) I, 425. Ders. verweist ebd. in Anm. 19 auch auf einen 4-3-Vorschlag von Collinge (1961) 87f., führt aber zugleich Gegenargumente an. Abzulehnen ist ferner der Vorschlag von Esser (1976) 115f., der eine 3-2-2Einteilung befürwortet. 14 Zu Recht also bemerken Nisbet/Hubbard (1978) 225, daß in den Strophen 4-6 »to some extent the same movement« wie in den ersten drei Strophen zu finden ist. 15 Dies ist die Ausgangsthese von Quinn (1963) 105: »The whole ode, in other words, is woven out of the conventional talk of men at parties«. Ihr schließt sich u.a. Connor (1970) 756ff. an, der dieser These eine breitere Materialbasis verschaffen will. Kenneth Quinn sieht im Sprecher der Ode demnach einen Vorläufer des petronischen Trimalchio dargestellt; Peter J. Connor (ebd. 760) hält es auch für möglich, daß der Sprecher zwar Horaz sei, daß dieser aber absichtlich eine für ihn nachteilige persona trage. Ähnlich Armstrong (1989), der auf S. 92 in carm. 2,14 eine gewisse Geschwätzigkeit des Horaz konstatiert, welcher zu viel getrunken habe. – Scharfe Kritik an Quinns »legerem« Umgang mit Originaltexten erhebt Woodmann (1967) 390; auch Anderson (1968) 46ff. sowie (1999) 153ff. trägt detaillierte Kritik an Quinns These vor. – Ganz allgemein äußern schon Kiessling/Heinze (1955) 216 einen ähnlichen Gedanken: »daß die Improvisationen der Gelage den τόπος [der Vergänglichkeit] mit Vorliebe pflegten, zeigt die köstliche Parodie bei Petron«. – Keinerlei Anhaltspunkte bietet der Text für die von Maleuvre (1991) 90f. vorgetragene
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3.2 Der Verständnishorizont der zeitgenössischen Rezipienten Um sich dem Verständnishorizont der zeitgenössischen Rezipienten anzunähern, lohnt es sich, eine Ciceropassage kurz zu betrachten. Im ersten Buch seiner Tusculanae disputationes (verfaßt wohl 45 v.Chr., also ungefähr zwanzig Jahre vor Horazens Ode 2,14) bietet Cicero als Einleitung zu einem Redebeitrag über das Thema »Ist der Tod ein Übel?« folgenden Dialog (10f.): – dic quaeso: num te illa terrent, triceps apud inferos Cerberus, Cocyti fremitus, travectio Acherontis, »mento summam aquam attingens enectus siti« Tantalus, tum illud quod »Sisyphus versat saxum sudans nitendo neque proficit hilum«, fortasse etiam inexorabiles iudices, Minos et Rhadamanthus? […] haec fortasse metuis et idcirco mortem censes esse sempiternum malum? – adeone me delirare censes ut ista esse credam? – ain tu? haec non credis? – minime vero […] quis enim est tam excors quem ista moveant? –[si] ergo apud inferos miseri non sunt, ne sunt quidem apud inferos ulli. – ita prorsus existimo. – Sag’ bitte: Erschrecken dich etwa jene Dinge: der dreiköpfige Kerberos in der Unterwelt, das Brausen des Kokytos, die Fahrt über den Acheron, Tantalos, »der mit dem Kinn die Wasseroberfläche berührt und doch von Durst schrecklich geplagt ist«? Oder jene Erzählung, daß »Sisyphos einen Felsen wälzt, schwitzend durch die Anstrengung, und doch nicht den geringsten Fortschritt erreicht«? Vielleicht sogar die unerbittlichen Richter, Minos und Rhadamanthys? […] Vielleicht hast du vor diesen Dingen Angst und meinst deshalb, der Tod sei ein immerwährendes Übel? – Meinst du, daß ich so verrückt bin, daß ich an so etwas glaube? – Im Ernst? Du glaubst nicht daran? – Auf keinen Fall! […] Denn wer wäre so einfältig, daß solche Dinge ihn beunruhigen könnten? – Also sind sie in der Unterwelt nicht bemitleidenswert, wenn in der Unterwelt nicht einmal irgend jemand existiert. – Ganz meine Meinung!
Dieser Abschnitt gibt eine gute Orientierung darüber, was ein gebildeter Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert über den Wahrheitsgehalt von These, der Sprecher verkörpere Augustus, und hinter dem Pseudonym Postumus verberge sich Maecenas. 16 Den mythologischen Passagen des Gedichtes attestiert schon Oppermann (1953) 71 »eine wichtige künstlerische Funktion«. Bücheler (1882) 234 jedoch kritisiert an der Ode zu Unrecht verschiedene kleinere »Mängel«, darunter »den ›krass‹ mythologischen Ton«. – Die Plastizität der mythischen Szenen konzediert auch Connor (1970) 757; seiner These vom »Partyschwätzer« entsprechend (»Mythology is also a matter of proud knowledge to a man like our speaker«, ebd.; vgl. ferner Anm. 15 in diesem Kapitel), sieht er die mythischen Szenen aber mit einer gewissen Albernheit (»not without a certain whimsy«, ebd.) vorgetragen.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Unterweltsmythen wohl dachte: Wer an die Existenz der in ihnen geschilderten Personen und Verhältnisse ernsthaft glaubte, galt als verrückt (delirare).17 Dies heißt aber nicht, daß jene Mythen dem philosophisch Gebildeten oder dem urbanen Causeur fremd waren: Einer der beiden Gesprächspartner bei Cicero zitiert offenkundig bekannte Verse aus Werken der lateinischen Literatur, und innerhalb dieses Gespräches gelten solche Themen als »Wundermärchen der Dichter und Maler« (11: poëtarum et pictorum portenta). Dabei sind die Parallelen zwischen Cicero und Horaz auffällig: Der Kokytos und Sisyphos kommen bei beiden vor, und Ciceros travectio Acherontis läßt sich in Horazens unda […] enaviganda wiederfinden.18 Faktische, sachliche Belehrung scheint demnach als Motivation der Unterweltsbilder in Horazens Ode 2,14 ausgeschlossen. Warum also läßt der Sprecher Postumus zweimal einen Blick in die Unterwelt werfen, und welches Bild der Unterwelt zeichnet er im Einzelnen?
3.3 Analyse der Unterweltsbilder (V. 6-12 und 17-20) Das erste Unterweltsbild, welches das Zentrum der ersten Triade bildet, schließt sich an die Feststellung an, daß man den unbezwingbaren Tod nicht aufhalten kann (V. 5ff.). Wie schon beim Überblick über die Ode (Kap. 3.1) angedeutet wurde, gewinnen durch diese Verse zwei Begriffe aus der ersten Strophe größere Plastizität: Die pietas19 findet eine anschauliche Form in der Hyperbel der drei täglichen Hekatomben, und die indomita mors wird nun durch Pluton, den Herrscher der Unterwelt, vertreten. Als unausgesprochene Zwischenstufe zwischen indomita mors und Pluton kann man das homerische Ἀΐδης ἀδάμαστος betrachten.20 Von dort aus wurde das Adjektiv 17 Eine ähnliche Ausdrucksweise, nun aber auf alle Alters- und Bildungsschichten bezogen, findet sich im gleichen Buch etwas später (1,48): quae est anus tam delira quae timeat ista […] »Acherusia templa alta Orci, ... pallida leto, nubila tenebris loca«? non pudet philosophum in eo gloriari, quod haec non timeat et quod falsa esse cognoverit? Polemisch ist auch die Frage in nat. deor. 2,5: quaeve anus tam excors inveniri potest quae illa quae quondam credebantur apud inferos portenta extimescat? – Wenn Heuzé (1991-92) 18, Anm. 5 als Gegeninstanz Tusc. 1,37 aufführt, so darf man nicht vergessen, daß dort die Sondersituation »Theater« vorliegt. – Vgl. zu diesem Themenkomplex auch im I. Teil Kap. 2.2. 18 Wenn man noch Horazens carm. 2,18 hinzunimmt, begegnet dort auch ein Pendant zur Nennung des Tantalos bei Cicero (hic superbum // Tantalum atque Tantali / genus coercet, V. 36ff.). 19 Woodman (1967) 381 weist darauf hin, daß nach lateinischem Sprachgebrauch Horaz eigentlich religio meine, wobei er Cic. inv. 2,66 anführt (religionem eam quae in metu et caerimonia deorum sit appellant; pietatem, quae erga patriam aut parentes aut alios sanguine coniunctos officium conservare moneat). Aber in Cic. nat. deor. 1,116 heißt es: est enim pietas iustitia adversum deos [...]. 20 Vgl. Hom. Il. 9,158: Ἀΐδης τοι ἀμείλιχος ἠδ’ ἀδάμαστος [...]. Weitere Stellen bei Nisbet/Hubbard (1978) 228, die als Gegenposition 1 Cor 15,55 zitieren: ποῦ σου, θάνατε, τὸ νῖκος;
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ἀδάμαστος (~ indomitus) dann wohl auf den personifiziert vorgestellten Tod übertragen. Pluton trägt hier das zuerst bei Horaz belegte Adjektiv illacrimabilis,21 wird also als ein Wesen bezeichnet, welches man nicht zu Tränen rühren kann.22 Dabei erscheint der Gedankengang etwas inkonzinn: Durch Hekatomben umworben, hätte Pluton eher als unbestechlich bezeichnet werden können;23 zu illacrimabilis hätte eigentlich eine das Gefühl Plutons anrührende Handlung wie z.B. diejenige des Orpheus besser gepaßt.24 Doch ist Pluton nicht nur unerbittlich, sondern auch stark: Der von Herakles getötete Riesenkönig Geryones von der Insel Erytheia, der wegen seiner Dreileibigkeit als ter amplum (~ τρισώματος in Aischyl. Ag. 870) bezeichnet wird,25 und Tityos, ein gewaltiger Riese, der sich an Leto/Latona verging und deshalb von einem Geier in der Unterwelt geplagt wird,26 werden von Pluton durch eine gräßliche Woge in Schranken gehalten (tristi // compescit unda, V. 8f.).27 In dieses Unterweltsbild ist also ein argumentum a maiore eingearbeitet: Wenn Pluton selbst solche gewaltigen Gestalten des
21
Vgl. ThLL s.v. Vgl. carm. 2,3,24: victima nil miserantis Orci. Pluton wird im Übrigen nur hier genannt (und in carm. 1,4,17 ist die Rede von der domus [...] Plutonia), während Horaz sonst meist die Substantive Orcus oder Mors/mors verwendet, wenn er vom (personifizierten) Tode spricht. Wie schon Kiessling/Heinze (1955) 217 beobachten, verleiht die Verwendung des griechischen Namens »der Diktion feierlich-pathetischen Charakter.« Unverständlich erscheint die folgende Äußerung bei Roberts (1991) 375: »Horace uses the idiom of epic […] to deny the appropriateness of such language to human mortality.« 23 Daß sich der Tod nicht durch Opfer beeindrucken, geschweige denn abwenden läßt, ist ein geläufiger Topos, für den Syndikus (2001) I, 425, Anm. 17 Belegstellen zusammengetragen hat. – An die etymologische Verbindung von Pluton mit ὁ πλοῦτος erinnert Paschalis (1994-95) 187f.; dadurch entstehe Ironie im Kontext der drei täglichen Hekatomben, die großen Reichtum ausdrückten. 24 Ein Oxymoron kann man hier aber gegen die Ansicht bei Woodman (1967) 382 nicht erkennen. Dieser zitiert in geradezu grotesker Verzerrung nur amice, places illacrimabilem, um zu seiner Beobachtung zu kommen. 25 Erstmals wird Geryones bei Hesiod genannt (theog. 287ff.309); seine Rezeption in Literatur und Bildender Kunst dokumentieren Nisbet/Hubbard (1978) 229f. Bedenkenswert, doch bislang völlig vernachlässigt ist der Umstand, daß Geryones zu Lebzeiten auf einer Insel wohnte (theog. 290: περιρρύτῳ εἰν Ἐρυθείῃ; von Herakles, der zu Geryones kommt, heißt es in Vers 292: διαβὰς πόρον Ὠκεανοῖο). Wie Geryones also im Leben vom Meer umgeben war, so ist er es jetzt von der unda. 26 Zu seiner Größe: Hom. Od. 11,577: ὁ δ’ ἐπ’ ἐννέα κεῖτο πέλεθρα, was Vergil (Aen. 6,596f.) so nachbildet: per tota novem cui iugera corpus / porrigitur [...]. – Tityos kommt recht häufig bei Horaz vor: In carm. 3,4,77f. wird seine Bestrafung geschildert (incontinentis nec Tityi iecur / reliquit ales); carm. 4,6,2 nennt sein Vergehen (Tityosque raptor), während er in carm. 3,11,21 ohne weitere Angaben lediglich erwähnt wird. 27 Interessant ist der etymologische Hinweis auf con-pascere bei Nisbet/Hubbard (1978) 230, so daß der vormalige »Großherdenbesitzer« Geryones (vgl. Anm. 29) nun selbst eingepfercht wäre. – In carm. 2,18,36ff. ist der Gedanke etwas anders formuliert: hic (= Orcus) superbum // Tantalum atque Tantali / genus coercet [...]. 22
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Mythos bezwingen kann,28 wie groß muß dann erst seine Überlegenheit und Unbezwingbarkeit gegenüber gewöhnlichen Sterblichen sein?29 Demnach dient hier der Einsatz des mythischen Unterweltsherrschers dazu, den abstrakten Gedanken an den Tod vorstellbarer und anschaulicher zu machen; durch die Nennung mächtiger mythischer Figuren, die Plutons Gewalt unterliegen, wird seine unermeßliche Macht unterstrichen.30 Der Verlauf des Gedanken ist dabei aber ungewöhnlich: Da die Ode von einem frommen Mann ausgeht, der die Götter durch Opfer ehrt, hätte man erwarten können, in der Unterwelt Fromme zu sehen, die trotz ihrer Anstrengungen sterben und in den Hades gehen mußten; stattdessen wird von den Frommen zu den Frevlern übergeleitet.31 Nun ist zu fragen, was genau die tristis unda bezeichnet, mit der Pluton Geryones und Tityos in Schranken hält. Die Verse 9-12 geben darüber Aufschluß: Das mythische Unterweltsbild wird erweitert, indem der Blick der Rezipienten von den inneren zu den äußeren Bezirken des Hades gelenkt wird. Wir blicken nun auf einen Grenzfluß der Unterwelt (unda vertritt also metonymisch flumen), den die Verstorbenen in Charons Nachen überqueren müssen.32 Das Gerundiv des seltenen Verbs enavigare läßt an 28
Vgl. Porphyrios Erklärung zu V. 7f.: »et accipiendum hic extrinsecus ›quamvis‹«. Der entscheidende Punkt, dem Geryones seine Erwähnung verdankt, ist wohl seine außergewöhnliche Physis. Freilich besaß er große Herden (vgl. Hes. theog. 290: βουσὶ παρ’ εἰλιπόδεσσι) und war somit überaus reich an Vieh. Man könnte also durchaus mit Anderson (1968) 57, Nisbet/Hubbard (1978) 230 und Roberts (1991) 374, Anm. 10 eine Verbindungslinie von den immensen Hekatomben (V. 5-7: trecenis […] tauris) zum Viehbestand des Geryones ziehen. Doch einerseits erinnert das Attribut ter amplum gerade nicht an diese Eigenschaft des Geryones; zum anderen war jener hispanische König nicht für seine Freigiebigkeit bei Opfern bekannt. – Allerdings könnte man folgenden Gedankengang vermuten: Pietas und Hekatomben sind zwar unwirksame Mittel gegen den Tod. Tityos’ Handeln jedoch war überdies sogar das genaue Gegenteil von pietas, und Geryones besaß zwar große Herden, brachte aber nicht einmal Opfer dar. 30 Deshalb ist es auch unzulässig, daß Numberger (1972) 181 in Analogie zu den übrigen Dreizahlen des Gedichtes (Mars, fluctus, Auster – Cocytos, Danai genus, Sisyphus – tellus, domus, uxor) auch Pluton, Geryones und Tityos auf einer Ebene sieht. Während die anderen Begriffe durchaus gleichrangig sind, ist hier gerade die Überlegenheit und somit Andersartigkeit des Pluton gegenüber den beiden anderen hervorgehoben. Ebenfalls problematisch erscheint – wie auch Woodman (1967) 379, Anm. 1 bemerkt – die von Kiessling/Heinze (1955) 217 vorgenommene Gruppierung Geryon, Tityos, omnes: Die beiden ersten sind schon in der Unterwelt, wir Menschen müssen erst noch dorthin; außerdem besteht doch qualitativ ein deutlicher Unterschied zwischen mythischen Wesen und den angesprochenen Menschen. 31 Vgl. auch Woodman (1967) 383. 32 Viel düsterer ist allerdings die Schilderung, welche Vergil von diesem Ort und den dortigen Abläufen im sechsten Buch der Aeneis gibt (V. 295ff.): hinc via Tartarei quae fert Acherontis ad undas […] huc omnis turba ad ripas effusa ruebat, / matres atque viri defunctaque corpora vita / magnanimum heroum, pueri innuptaeque puellae, / impositique rogis iuvenes ante ora parentum […] stabant orantes primi transmittere cursum / tendebantque manus ripae ulterioris amore. – Charon und sein Nachen bleiben bei Horaz in carm. 2,14 unerwähnt, während der Kahn des satelles Orci (carm. 2,18,34) in carm. 2,3,27f. genannt wird: sors exitura et nos in aeternum / 29
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der Notwendigkeit keinen Zweifel;33 zugleich gewinnt es im Hinblick auf die folgenden Gerundive visendus (V. 17) und linquenda (V. 21) gleichsam leitmotivischen Charakter für den folgenden Abschnitt, wie auch Hans Peter Syndikus betont.34 Der verallgemeinernde Relativsatz quicumque terrae munere vescimur (V. 10), der einen auch bei Homer belegbaren, zugleich aber auch allgemein verbreiteten Gedanken ausdrückt,35 zeigt durch seine Totalität, daß uns allen dieses Schicksal beschieden ist; Abkunft oder soziale Stellung sind in dieser Situation nicht von Belang.36 Nachdem in den von Klangfiguren37 durchsetzten Versen 13-16 ausgeführt wurde, daß es unmöglich ist (Anapher von frustra), dem Tod durch die Vermeidung bestimmter »Risikobeschäftigungen«38 zu entgehen, folgt nun der nächste Blick in den Hades (V. 17-20 = Zentrum der zweiten Triade): Horaz führt hier zur Beschreibung der Unterwelt drei für sie zentrale mythische Themen aus. exsilium impositura cymbae. Vergleichbar damit ist Prop. 3,18,24: scandenda est torvi publica cumba senis. 33 Der einzige Beleg für enavigare vor Horaz ist Cic. Tusc. 4,33 (vgl. ThLL s.v.). Dort bezeichnet es aber – seiner Etymologie entsprechend – das »Herausfahren« aus einer prekären Situation (tamquam ex scruposis [sic!] cotibus enavigat oratio), während es hier im Sinne von »per Schiff überqueren« verwendet wird. Dennoch kann man Horaz hier kaum mit Bücheler (1882) 234 sprachliche Härte vorwerfen; vielleicht konstatiert man besser mit Rudd (1960) 378 eine Art von »verbal iron[y]«. 34 Syndikus (2001) I, 425. 35 Hom. Il. 6,142: βροτῶν, οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδουσιν (vgl. auch 13,322; 21,465) und Od. 8,222: ὅσσοι νῦν βροτοί εἰσιν ἐπὶ χθονὶ σῖτον ἔδοντες [...]. Bei Horaz ist der Gedanke jedoch in die erste Person Plural umgesetzt. – Unangebracht ist der Vergleich mit Hor. epist. 1,2,27 (fruges consumere nati), weil dort Faule und Gefräßige – Leute wie du und ich, sagt Horaz (nos, V. 27) – als Untergruppe der Menschheit dem Typus »Odysseus« entgegengestellt werden. 36 Dieser Gedanke kehrt im horazischen Œuvre immer wieder, so zum Beispiel in carm. 1,4,13f. (pallida Mors aequo pulsat pede pauperum tabernas / regumque turris); 2,3,21ff. (divesne prisco natus ab Inacho / nil interest an pauper et infima / de gente sub divo moreris, / victima nil miserantis Orci); 2,18,32ff. (aequa tellus / pauperi recluditur / regumque pueris) und 3,1,14f. (aequa lege Necessitas / sortitur insignis et imos). Ausnahmslos gilt, was in carm. 2,3,25ff. formuliert ist: omnes eodem cogimur, omnium / versatur urna serius ocius / sors exitura bzw. in carm. 1,28,15f.: omnis una manet nox / et calcanda semel via leti. 37 Hervorgehoben zum Beispiel von Kiessling/Heinze (1955) 218 und Woodman (1967) 385. 38 Im Einzelnen handelt es sich dabei um Krieg (vgl. carm. 3,2,14: mors et fugacem persequitur virum), Seefahrt (speziell auf der Adria) und ungesunde Wetterbedingungen (speziell um den Schirokko), also um durchaus konkrete Gefahren speziell für Römer, wie u.a. Nisbet/Hubbard (1978) 225 betonen. Pasquali (1920) 642ff. behandelt die Ode sogar unter der Überschrift »Gli elementi Romani della lirica di Orazio«. – Auf die Metonymie cruento Marte wird hier nicht eigens eingegangen; zu dieser Erscheinung im Allgemeinen vgl. die Ausführungen im II. Teil, Kap. 1.2 und 1.4. – Anders als Horaz, der Haltung (pietas in Strophe 1) und Handlungen (Strophe 4) getrennt unter dem Aspekt des frustra/vanitas-Motivs behandelt, ist Properz verfahren: In 3,18,25ff. reiht er die Vorsicht des Normalmenschen und Eigenschaften mythischer Helden aneinander, um ihre Nichtigkeit zu erweisen: ille licet ferro cautus se condat et aere, / mors tamen inclusum protrahit inde caput, / Nirea non facies, non vis exemit Achillem, / Croesum aut, Pactoli quas parit umor, opes.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Erstens wird der Unterweltsfluß Kokytos genannt, dem drei nähere Bezeichnungen beigegeben werden: das Adjektiv ater (»schwarz, unheilvoll, gräßlich«), der Ablativus qualitatis flumine languido (»von langsam-trägem Fluß«) und das Partizip errans (»umherirrend, sich schlängelnd«).39 Wie Syndikus zu Recht hervorhebt, unterstützen und steigern diese gehäuften sinnlichen Eindrücke einander,40 so daß es wohl nicht falsch wäre, visendus unter Betonung des optischen Aspekts mit »betrachten muß man« zu übersetzen.41 Doch auch die Tatsache, daß Horaz unter den fünf zur Verfügung stehenden Unterweltsflüssen (Styx, Acheron, Pyriphlegethon, Kokytos, Lethe) gerade den Kokytos auswählte, hat wohl einen guten Grund: Da dieser Strom etymologisch mit dem griechischen Verb κωκύω (»wehklagen«) zu verbinden ist, eignet sich gerade dieser Fluß besonders gut, um eine traurige, jammervolle Atmosphäre zu erzeugen.42 Zweitens wird das Geschlecht (also die Töchterschar) des Danaos aufgeführt und mit dem abwertenden Adjektiv infame (»verrufen«) charakterisiert. Die Töchter des Danaos, die auf Befehl ihres Vaters ihre Bräutigame in der Hochzeitsnacht töten sollten und dieser Anordnung bis auf Hypermestra alle Folge leisteten, müssen bekanntlich in der Unterwelt mit einer Schöpfkelle ein Faß füllen, das löchrig ist, so daß sie diese Aufgabe niemals erfüllen können.43 Hier allerdings wird durch infame nur ihre Tat, nicht ihre Bestrafung evoziert. 39
Vgl. die Beschreibung dieses Flusses bei Verg. georg. 4,478-480: quos circum limus niger et deformis harundo / Cocyti tardaque palus inamabilis unda / alligat [...]. Schwärze und langsame Fließgeschwindigkeit finden sich auch hier; durch größeren Detailreichtum und die Nennung von Einzelaspekten (limus, harundo, palus) gewinnt Vergils Darstellung größere Anschaulichkeit. – Die Wichtigkeit des vierten Georgica-Buches für Unterweltsdichtung allgemein betonen Nisbet/Hubbard (1978) 226 (»had given a new impetus to poetical eschatology.«). – Im Übrigen stellt der Cocytos errans einen deutlichen Kontrast zu fractisque rauci fluctibus Hadriae (V. 14) dar; vgl. z.B. auch Dahl (1953) 240 und Musurillo/Callahan (1966-67) 368; zu antithetischen Elementen der Ode insgesamt vgl. West (1973) 32ff. 40 Syndikus (2001) I, 426, Anm. 21. Auch Connor (1970) 758 spricht von »vivid pictorial evocation«. 41 Ähnlich Nisbet/Hubbard (1978) 232: »visere suggests viewing rather than visiting«. Explizit erklären die pseudacronischen Scholien zur Stelle: »idest videbimus«. 42 Auf eine Art von Synästhesie weisen Nisbet/Hubbard (1978) 233 hin: »The combination of a word of sound with a word of sight [...] seems deliberately pointed«. – In carm. 2,20,8 hingegen greift Horaz zu einem anderen Unterweltsfluß, um die Unsterblichkeit seines Nachruhmes zu illustrieren: nec Stygia cohibebor unda. 43 Vgl. carm. 3,11,25ff.: notas / virginum poenas et inane lymphae / dolium fundo pereuntis imo [...]. In diesem Gedicht, das weiter unten im Hinblick auf seine Unterweltsbilder zu behandeln ist, sieht man einerseits die Danai puellae, wie sie bereits in der Unterwelt ihre Strafe verbüßen; andererseits wird ihr Vergehen bzw. die heldenhafte Haltung der Hypermestra in dramatischer Rede dargestellt. – Gerade der Danaidenmythos erfreute sich in augusteischer Zeit großer Beliebtheit, wie die zahlreichen bei Nisbet/Hubbard (1978) 233 gesammelten Belege vor allem aus den Elegikern zeigen. Dies mag damit zusammenhängen, daß dieser Mythos in der Portikus von Augustus’ Apollontempel auf dem Palatin dargestellt war. Vgl. dazu z.B. Lefèvre (1989) 12ff.
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Drittens wird als letzte mythische Figur Sisyphos angeschlossen. Dieser auch in der Moderne bekannteste aller Unterweltsbüßer wird auf homerisch-epische Weise mit seinem Patronymikon als Sisyphus Aeolides (~ Ilias 6,154) und unter Hinweis auf seine langwährende Qual (damnatusque longi […] laboris, V. 19f.) vorgestellt.44 Im Gegensatz zu David West kann ich bei der Beschreibung des Sisyphos, dessen Strafe hier anders als in epod. 17,68f. nicht spezifiziert wird,45 keinen Humor entdecken.46 Noch nicht ausreichend gewürdigt hat die Forschung, daß Sisyphos in einem ganz bestimmten Verhältnis zum Tode steht, an das Horaz gedacht haben könnte: Es war ihm gelungen, den Tod zu fesseln, als dieser ihm nahte; nachdem er sich später aber dennoch ins Totenreich hatte begeben müssen, konnte er mit Hilfe einer List nach Korinth zurückkehren. Im Alter jedoch mußte auch er sterben.47 Nun verbüßt er seine Strafe auf ewig in der Unterwelt, auch wenn der Sprecher euphemistisch nur von einem longus labor spricht. Umso deutlicher wird dadurch, daß auch Sisyphos letztlich gegen den Tod machtlos war. Als Praetext für die fünfte Strophe nennt Teivas Oksala eine Alkaiosstelle, die er bei Horaz in einer »andeutungsweise[n] Zusammenfassung« vorliegen sieht.48 Läßt der Text, bei dem es sich um fr. 38a handelt, diesen Schluß zu? Πῶνε[...] Μελάνιππ’ ἄμ’ ἔμοι. [...] [...] καὶ γὰρ Σίσυφος Αἰολίδαις βασίλευς [ ἄνδρων πλεῖστα νοησάμενος [...]
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Weit hergeholt erscheint die Erklärung bei Dahl (1953) 240 innerhalb seiner Darstellung zu »liquid imagery«: »The aptness of the Homeric patronymic Aeolides applied to Sisyphus […] is evident when one remembers that Aeolus himself is a son of Poseidon and is often associated with storms at sea.« – Gegen solche »arcane subtleties« bei der Verwendung des Patronymikons spricht sich Connor (1970) 758 aus; er sieht – seiner »Partythese« entsprechend (vgl. Anm. 15) – darin ein »assured detail from a very learned man« – Bedenkenswert ist eine Beobachtung bei Rudd (1960) 378, der Dahls These ebenfalls ablehnt: Die Verbindung Σίσυφος Αἰολίδης tritt in Glaukos’ Rede zu Diomedes (Hom. Il. 6,154) auf, wobei Sisyphos allerdings nicht als Sünder, sondern als κέρδιστος [...] ἀνδρῶν (6,153) erwähnt wird. Diese Rede wird mit Worten eröffnet, die zur Vergänglichkeitsthematik der vorliegenden Ode gut passen: οἵη περ φύλλων γενεή, τοίη δὲ καὶ ἀνδρῶν (6,146). Darüber hinaus war schon in quicumque terrae munere vescimur (V. 10) ein Anklang an Diomedes’ voraufgehende Rede zu hören (vgl. Anm. 35). 45 Dort heißt es: optat supremo collocare Sisyphus / in monte saxum; sed vetant leges Iovis. 46 West (1998) 102: »even this gloomy prospect is touched with humour. […] a piquant contrast to the life of leisure enjoyed by a Roman aristocrat in his villa«. – Humorvoll ist Sisyphos dagegen in sat. 2,3,20f. eingefügt. Dort erzählt der »Hobbyphilosoph« Damasippus von seiner Tätigkeit als Antiquitätenjäger, der er nachging, bevor er Bankrott machte: olim nam quaerere amabam / quo vafer ille pedes lavisset Sisyphus aere etc. 47 Vgl. Pherekydes F 119; hierbei handelt es sich offenkundig um ein Märchenmotiv. Vgl. ferner Anm. 49. 48 Oksala (1973) 174.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen ἀλλὰ γὰρ πολύιδρις ἔων ὐπὰ κᾶρι [δὶς49 διννάεντ’ Ἀχέροντα ἐπέραισε, [...] α]ὔτω μόχθον ἔχην Κρονίδαις βα[σίλευς μελαίνας χθόνος. ἀλλ’ ἄγι μὴ [...]
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Trink, [...] Melanippos, mit mir! [...] Denn auch der König Sisyphos, des Aiolos Sohn, der unter den Menschen am meisten verstand [...] Aber obwohl er klug war tief im Herzen, hat er doch zweimal den wirbelnden Acheron durchquert [...] Ihm [gab] Qual zu erdulden der Kronossohn, der König der schwarzen Erde. Also los, nicht [...]!
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Auch bei Alkaios steht der Mythos im Zusammenhang mit Trinken, und in beiden Texten tritt Sisyphos mit seinem Patronymikon auf. Doch während Horaz ausschließlich das Leiden des Sisyphos betont (longi […] laboris, V. 19f.), wird bei Alkaios seine Schlauheit hervorgehoben (ἄνδρων πλεῖστα νοησάμενος, V. 6), um dann die Vergeblichkeit dieser Schlauheit darzulegen: Pluton lud dem Aiolossohn eben doch Qual auf (V. 9f.). Das heißt, daß bei Horaz Sisyphos’ Leiden benutzt werden, um die Gräßlichkeit der Unterwelt zu betonen, während dieser schlaue mythische König bei Alkaios dazu dient, die Nutzlosigkeit intellektueller Fähigkeiten angesichts der Unentrinnbarkeit des Todes zu illustrieren. Während also im ersten Unterweltsbild (V. 5-8) die Unerbittlichkeit und Macht des Herrschers der Unterwelt dargestellt worden sind, wird hier nachdrücklich auf die bedrückende Atmosphäre und auf die bekannten Büßer der Unterwelt hingewiesen. Die neutralen oder angenehmen Orte wie etwa das Elysium sind dabei völlig ausgeblendet. Horaz zeigt also nur die unangenehmen, quälenden Seiten des Todes; er nennt hier keinen Trost, der den Tod überwinden könnte, wie ihn der Glaube an ein Weiterleben oder die Philosophie bieten könnten.50 Der primäre Zweck der mythischen Bilder scheint somit geklärt: Die Unüberwindbarkeit des Todes sowie die Düsterkeit und die Schrecknisse der Unterwelt werden mit Hilfe des mythischen Repertoires (Pluton, Geryones, Tityos, Kokytos, Danaiden, Sisyphos) indirekt den Rezipienten, direkt Postumus eindringlich vor Augen geführt. 49
Besonders bemerkenswert ist das (nur konjizierte) Adverb δὶς: In der nachhomerischen Tradition entkam Sisyphos aus der Unterwelt, wurde aber wieder eingefangen (vgl. z.B. Thgn. 702ff., Soph. Phil. 448f.625). Auf diese Tradition weist auch Oppermann (1952) 10 hin. Vgl. ferner Anm. 47. 50 So auch Syndikus (2001) I, 423. Wilkinson (1968) 35 bemerkt dazu allgemein: »The repeated assertions of Horace that death closes all [...] are thus contrary to the trend of contemporary feeling.« Einen Überblick zu diesem Themenkreis bietet Norden (1926) 3ff. – Zum Thema Tod und Leben nach dem Tod bei Horaz allgemein vgl. Sullivan (1942) 275ff. und Schwind (1965).
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3.4 Zur Intention der Ode Doch damit ist das zentrale Problem des Gedichtes noch nicht geklärt: Soll diese düstere Schilderung nur über die Flüchtigkeit des Lebens klagen und somit eine Grundhaltung der Resignation hervorrufen resp. bestätigen, oder deutet die Tatsache, daß die Bilder der mythischen Unterwelt eine Gegenwelt des Lebens zeigen,51 eher auf einen Aufruf zum Genuß des noch verbleibenden Lebens im Sinne eines »umso mehr« hin? 3.4.1 Die Verse 1-4 und 21-28 Antwort darauf können wohl die erste und die beiden letzten Strophen geben. Eine wesentliche Frage ist, ob der Sprecher und Postumus sich beide in der gleichen düsteren Stimmung befinden. Dies wird vorausgesetzt, wenn zum Beispiel Karl Numberger behauptet, Postumus sei »nicht der Mann, den Dichter [= Nom. Pl.] aus seiner trostlosen Stimmung herausreißen«, und deswegen bleibe das Gedicht bis ans Ende düster.52 Dann müßte man die Anfangsworte der Ode mit einer Hinzufügung paraphrasieren: »Du hast recht, Postumus, ach weh, Postumus, die Jahre vergehen wirklich wie im Flug.« Doch der Text beinhaltet keine erkennbaren Indizien dafür, daß der Sprecher sich die wirkliche Meinung des Postumus zu eigen machte und sie dann selbst weiter ausführte. Es muß also der Sprecher sein, der sich von selbst auf diese Reflexion, um nicht Lamentation zu sagen, einläßt.53 Wie sind dann aber die beiden letzten Strophen zu verstehen? In Vers 21f. wird expliziert, was alles zurückgelassen werden muß, wenn dereinst der Moment des Sterbens gekommen ist: Mit tellus kann im engeren Sinn der Landbesitz gemeint sein, im weiteren vielleicht die Oberwelt insgesamt. Auch sein Haus muß man verlassen (domus), und ebenso die liebe Gattin (placens uxor).54 In Vers 22 wird die Situation noch konkreter: 51 So Syndikus (2001) I, 423. – Zu überspitzt und zu weitgehend erscheint die von Anderson (1999) 164 vorgetragene Parallelisierung: »Postumus, the speaker implies, has damned himself by the unwise way he has chosen to live on earth and so will be among the Damned«. 52 Numberger (1972) 180. 53 Ebenfalls unbeweisbar ist die Situation, die Anderson (1968) 47 vorschlägt: »I suggest that Postumus has been talking with some confidence about his right relations with god and man, possibly even claiming that the gods therefore will guard him in the future. The earnest gloomy speaker, then, pitying the simple-mindedness of Postumus, tries to impress upon him a true grasp of his mortality.« – Eine heitere Ausgangssituation postuliert West (1998) 99: »Here Postume, Postume is spoken not in inconsolable sadness, but with a rueful smile, and a shake of the head«. 54 Motivische Ähnlichkeiten dieser Passage mit Lucr. 3,894ff. hat man vielfach bemerkt; durch sie wurde z.B. Quinn (1963) zu seiner »Partythese« bewegt (vgl. Anm. 15). Doch bei Lukrez werden Klagen der Hinterbliebenen vorgeführt (der Apostrophierte wird also bereits verstor-
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Durch das deiktische Pronomen harum wird unmittelbare Anschaulichkeit erreicht,55 und durch die Verwendung der zweiten Person Singular wendet sich der Sprecher zurück zu Postumus. Es hat sich also unmerklich ein Personenwechsel vollzogen: War noch in der dritten und vierten Strophe von allen Menschen die Rede (V. 9: omnibus; Verwendung der ersten Person Plural), so vermeidet der Sprecher in der fünften Strophe die Nennung einer konkreten Person, indem er zur unpersönlichen Gerundivkonstruktion greift – vielleicht aus Taktgefühl, um nicht zu sagen: »Du, Postumus, mußt sterben und in den Hades hinabsteigen«. Die sechste Strophe nun wird ebenfalls mit einer Gerundivkonstruktion eröffnet (V. 21: linquenda), doch die Verse 22f. wenden sich direkt an Postumus (colis; te). Nur die Zypresse, der Totenbaum, wird dem Besitzer folgen, welchem nur eine kurze Lebensspanne beschieden ist, wie es die kühne Formulierung brevem dominum zum Ausdruck bringt.56 Die sechste Strophe betont also, daß mit dem Tod ein völliger Verzicht auf alle bisherigen Güter einhergeht.57 In der Gedankenabfolge der Ode liegt somit ein HysteronProteron vor: Das Verlassen des irdischen Besitzes wird erst nach den Blicken in die Unterwelt beschrieben. Was aber passiert mit den zurückgelassenen Gütern? Die folgende Generation wird sich ihrer bedienen. Dabei wird der Erbe, der den exzellenten
ben sein): iam iam non domus accipiet te laeta, neque uxor / optima nec dulces occurrent oscula nati / praeripere et tacita pectus dulcedine tangent. Darauf kontert der Dichter aber (V. 900f.): nec tibi earum / iam desiderium rerum super insidet una. So gesehen, vergleicht Plessis (1924) 143 Unvergleichbares, wenn er von einer »comparaison d’ailleurs tout à l’avantage d’Horace« spricht. 55 Wie allerdings die so geschilderte Szenerie aussieht, ist umstritten: Kiessling/Heinze (1955) 219 u.a. sehen die Gesprächspartner im Garten oder in einer Baumschule, ähnlich Nisbet/Hubbard (1978) 235 (»The scene is Postumus’ country estate or suburban horti«); andere wie z.B. Quinn (1985) 226 glauben, man blicke vom Speisesaal in einen Innenhof. – Bemerkenswert ist die künstlerische Würdigung des Pronomens bei Oppermann (1953) 72: »mit dem kleinen Wort ändert und steigert [Horaz] die Wirkung der Strophe in geradezu genialer Weise. Wie ein Blitz die Nacht erhellt, zaubert dieser Hinweis plötzlich die Umgebung, in der das Gedicht gesprochen wird, vor unser Auge: wir sehen den Dichter mit Postumus durch den Garten gehen, seine Hand deutet auf die Bäume, die der Freund pflegt, und im Hintergrund steht das Haus, das Reich der Gattin.« 56 Williams (1968) 585 beschreibt den dadurch erzielten Effekt so: »What happens in this poem is that general statement and particular case are blended and fused throughout the poem, so that a picture of Postumus appears through the generalities«. Dazu bemerken Nisbet/Hubbard (1978) 225: »By his subtle variations of person […] and his ambiguous gerundives […] he seems to be addressing both his friend Postumus and all mankind […] the application of the poem is at the same time particular and universal.« 57 Die Notwendigkeit, alles im Tode zurücklassen zu müssen, drückt Horaz auch in carm. 2,3,17ff. aus: cedes coemptis saltibus et domo / villaque flavus quam Tiberis lavit, / cedes, et exstructis in altum / divitiis potietur heres. Hier wird allerdings deutlicher als in carm. 2,14 ausgesprochen, daß in den Besitz viel Geld und Mühe investiert wurde (coemptis; exstructis in altum / divitiis).
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Caecuber58 trinken wird, welchen Postumus doch mit hundert Riegeln geschützt aufbewahrt hatte (servata centum clavibus, V. 26),59 »würdiger« genannt (dignior, V. 25). Als Ergänzung muß man sich wohl Caecubis hinzudenken: »Dein Erbe hat diesen exzellenten Wein mehr verdient als du, Postumus!« Oftmals hat diese Feststellung des Sprechers jedoch Befremden erregt: Der Erbe verschwende den Wein doch, indem er mit ihm den Boden besudele (mero / tinget pavimentum, V. 26f.). Wie kann er dann dignior genannt werden?60 Ist dignior vielleicht nur ein Überlieferungsfehler statt degener?61 Meistens wird allerdings nicht in den Text eingegriffen, sondern man erklärt, daß selbst Verschwendung eines Gutes besser als dessen »Brachliegen« sei,62 ein Gedanke, der sich auch sonst bei Horaz findet.63 Noch besser sei es freilich, den Erben keinen derartigen Anlaß zur Verschwendung zu geben, weil der Erbe (speziell der lachende Erbe) bei Horaz meistens das Symbol eines verfehlten Lebens darstelle.64 58 Der Caecuber war noch vor dem Falerner und dem Albaner der kostbarste italische Wein. Zum Wein bei Horaz im Allgemeinen vgl. Commager (1957), für den (S. 68) der Wein generell »a symbol in Horace’s thought, a crystallization of attitudes otherwise too abstract to be amenable to poetic development« ist. Immer noch beachtenswert ist auch der Beitrag von McKinlay (1946-47), der den literarischen (nicht autobiographischen) Charakter horazischer Aussagen über Wein betont. Vgl. ferner Fasciano (1991) 195ff. 59 Daß diese Zahl nicht buchstäblich verstanden werden muß, ist evident. Es kann sich um eine »exagération poétique« handeln, wie Plessis (1924) 143 betont. Entschieden Connor (1970) 759: »centum clavibus can have no litteral relationship to Postumus’ acts.« 60 Zum Beispiel Connor (1987) 157. Woher weiß ders. aber, daß es sich bei dem Erben um einen »aggressive, threatening, brutal man« (ebd.) handelt? Negative Charakterisierung auch bei Plessis (1924) 141: »un héritier indifférent et prodigue«. Bereits die pseudacronischen Scholien zu V. 26f. hatten von einem »neglegens heres« gesprochen. Nisbet/Hubbard (1978) 239 erläutern: »It is true that heirs are conventionally unworthy, but when Horace says dignior to the impeccable Postumus he is fully aware of the paradox.« – Ohne es klar zu formulieren, sieht West (1998) 103 in dem Adjektiv wohl Ironie ausgedrückt: »a dry comment by Horace on the amorality of life. The worthy die and the unworthy inherit and despoil their inheritance.« 61 Degener befürwortet z.B. Woodman (1967) 398. Man bedenke, daß in carm. 3,24,61f. ausdrücklich von einem indignus heres die Rede ist. 62 So z.B. Plessis (1924) 143 (»dignior puisque, à l’encontre de toi, il aura su en jouir«), Commager (1957) 74 (»Even in wasting it he displays a non-inherited awareness that life continually flows away«), Quinn (1985) 227 (»because he shows by drinking [the wines] that he knows how to make proper use of them; a hint to Postumus to treat his guests more liberally«). – Woodman (1967) 392 dagegen lehnt diese Sicht ab und tadelt speziell an Commager, daß bei jenem diese Idee »an obsession« geworden sei. Wenn er ebd. auf S. 394 nach Anführung einiger Stellen behauptet: »it is quite evident that Horace had nothing against storing wine at all«, so darf man nicht außer Acht lassen, daß an den genannten Stellen jeweils der kostbare, lange gelagerte Wein zum Trinken hervorgeholt wird. 63 Vgl. z.B. carm. 2,2,1ff.: nullus argento color est avaris / abdito terris, inimice lamnae / Crispe Sallusti, nisi temperato / splendeat usu. 64 Syndikus (2001) I, 426 weist darauf hin, daß der lachende Erbe stets ein Anzeichen für einen Fehler des Erblassers sei. Dieses Faktum läßt sich z.B belegen mit sat. 2,3,122f.; carm. 2,3,17ff.; 3,24,61f.; 4,7,19f.; epist. 1,5,12ff.; 2,2,190ff. Esser (1976) 115 verfehlt den entscheidenden Punkt, wenn er behauptet, der Erbe erscheine bei Horaz immer dann, wenn die eigene Todes-
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Völlig außer Acht gelassen wurde bislang eine positivere Deutungsmöglichkeit dieser Verse, die die Verwendung des Adjektivs dignior verständlich machen würde: Es wäre auch denkbar, in mero tinget pavimentum superbo eine Art von Trankspende zu sehen. Freilich muß eine Trankspende mit der nötigen andächtigen Geisteshaltung vollzogen werden. Doch in der Abschlußstrophe ist nichts davon zu hören, daß dem Erben in seiner Haltung irgendein Vorwurf zu machen wäre. Auch der lexikalische Befund spricht nicht dagegen: Das Verb ting(u)ere kann zwar auch mit Befleckung durch Flüssigkeiten (v.a. Blut) in Verbindung stehen, hat aber nicht grundsätzlich eine negative Bedeutung wie »besudeln« oder ähnliches.65 Auf keinen Fall scheint es zulässig, als Erklärung dieser Strophe Stellen anzuführen, an denen über alle Maßen gefeiert und gezecht wird. Tingere bedeutet keinesfalls, daß der Fußboden im Wein schwimmt.66 Nun könnte man mit Verweis auf Krister Hanells RE-Artikel einwenden, daß das Darbringen von Trankopfern gewöhnlich mit dem Verb libare bezeichnet wird.67 Ist aber ein Dichter an solche lexikalischen Konventionen gebunden? In carm. 4,5,33f. zum Beispiel beschreibt Horaz das Trankopfer für Augustus ganz unterminologisch durch te prosequitur mero / defuso pateris [...]. Ferner geht es bei den in der letzten Strophe von carm. 2,14 genannten cenae pontificum sakral-feierlich und gesittet zu;68 vielleicht darf auch dies als Indiz für eine feierliche Trankspende angesehen werden. Wie man die letzte Strophe auch deutet: Es ist der Erbe, der in Zukunft den Caecuber trinken wird, und dies liegt nicht im Sinne des Postumus. Somit läuft die Argumentation wohl darauf hinaus, daß Postumus diesen Wein lieber selbst trinken sollte, und zwar jetzt gleich mit dem Sprecher zusammen.69 Dem konkreten Hinweis auf den Wein geht – wie gezeigt – eine Strophe voraus, in der verdeutlicht wird, daß Postumus einst die Erde, sein Haus, seine liebe Frau und seine Baumpflanzung verlassen muß verfallenheit schmerzhaft verdeutlicht werden solle. Nein, es geht jeweils um ein gegenwärtiges Fehlverhalten! – Nisbet/Hubbard (1978) 237f. informieren mit weiterer Literatur über die juristische Situation und bieten eine Sammlung griechischer und lateinischer Stellen, die das Verhältnis zu Erben beschreiben. 65 Vgl. OLD s.v. 66 Um eine solche Auffassung zu stützen, werden häufig Cic. Phil. 2,105 (natabant pavimenta vino, madebant parietes) und Pis. 22 (quasi aliquod Lapitharum aut Centaurorum convivium ferebatur; in quo nemo potest dicere utrum iste plus biberit an vomuerit an effuderit) angeführt. 67 Hanell (1937) 2136. 68 Das Substantiv luxuria im Referat des Macrobius über die cena pontificum (Sat. 3,13,12f.) bezieht sich auf die üppige Speisenfolge; von Trinkgelagen ist dort nicht die Rede. 69 Ausgesprochen finden sich derartige Aufforderungen in carm. 1,9,7f. (deprome quadrimum [...] merum); 2,3,13f. (huc vina [...] ferre iube); 2,11,13ff. (cur non [...] potamus uncti?); ganz nachdrücklich carm. 3,28,5ff.: inclinare meridiem / sentis et, veluti stet volucris dies, / parcis deripere horreo / cessantem Bibuli consulis amphoram. – Explizit gegen die Verbindung des Zukunftsbildes mit einem gegenwärtigen Gelage spricht sich jedoch Anderson (1999) 159 aus.
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(V. 21ff.). Zutreffend kennzeichnet Syndikus diese Güter als »hellere Bilder«.70 Zwar ist es bitter, sie irgendwann einmal zurücklassen zu müssen; an sich aber bedeuten sie große Freude. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis kann jedoch nur der Genuß des Augenblicks und die möglichst intensive Nutzung dieser Güter so lange wie möglich sein.71 Diese Aufforderung wird zwar nicht explizit ausgesprochen. Doch scheinen der Gesamtverlauf und die Gedankenführung der Ode insgesamt eine protreptische, zum Lebensgenuß auffordernde Ausrichtung aufzuweisen.72 David West beschreibt diese Problematik treffend, wenn er unsere Ode wie folgt charakterisiert: »This is an ›Eat, drink, and be merry, for tomorrow you may die‹ without eating, drinking, or merriment«.73 Auch dem wohl berühmtesten Horazdiktum überhaupt (carpe diem in carm. 1,11,8), das zum Genuß der Gegenwart aufruft, geht der Hinweis auf die Flüchtigkeit der Zeit vorauf: fugerit invida / aetas (V. 7f.). Es liegt nahe, darin eine Parallele zu fugaces [...] labuntur anni zu sehen. Auch dort also wird der Hinweis auf die Flüchtigkeit der Zeit und die damit verbundene kurze Lebensdauer des Menschen protreptisch-paränetisch dazu verwendet, um zum Genuß des jetzigen Momentes aufzufordern (V. 6f.): sapias, vina 70
Syndikus (2001) I, 426. Vgl. Musurillo/Callahan (1966-67) 368: »the wine of live must be enjoyed while we are alive, and we ought not to deny ourselves things which our heirs will only waste after our death«; Nisbet/Hubbard (1978) 238: »Here as often the poet combines his reflections on death with advice to drink and be merry; but he makes the point on this occasion not by direct exhortations but by unwelcome predictions.« Esser (1976) 115: »Die Absicht des Gedichtes besteht darin, explizit den Adressaten, doch im Grunde alle Leser zu ermuntern, aus der gewonnenen Erkenntnis die Konsequenzen zu ziehen«. Heuzé (1991-92) 19: »L’image dit nettement dans son langage: n’économisez pas les plaisirs de la vie! Voilà le résultat de l’épargne!« Syndikus (2001) I, 426: »eine, wenn auch nur indirekte Mahnung […] diese Güter noch zu genießen, solange es Zeit ist.« Roberts (1991) 375 bemerkt richtig: »such a hint of dramatic setting would be characteristic of Horace and just enough to undercut the moral intensity of what preceeds by raising the specter of selfinterest.« – Auch West (1998) 98 sieht in dem Gedicht das Positive, Lebensbejahende überwiegen: »On close study, the poem turns out to have a lightness of tone and to be full of humour«, wenngleich man ihm in einigen Punkten seiner Interpretation nicht folgen muß (fragwürdig ist z.B. auf S. 99ff. die Behauptung, die vielen Alliterationen der Ode verursachten einen spöttischen Ton). – 1 Cor 15,32 (φάγωμεν καὶ πίωμεν, αὔριον γὰρ ἀποθνῄσκομεν) läßt sich nur indirekt als Parallele anführen, da der Apostel Paulus eine solche Haltung nur billigt, εἰ νεκροὶ οὐκ ἐγείρονται (ebd.). 72 Dazu bemerkt Davis (1991) 160 mit Bezug auf die Sprechakttheorie: »declarative sentences, especially when projected into the future, have the illocutionary force of exhortations« und ebd. auf S. 161: »a value judgement that may be readily recast in the form: ›consume your vintage wine now before it is too late.‹« West (1998) 103: »We all know his basic argument. Life is brief and nothing can prolong it. Therefore enjoy it. This conclusion is so frequent in his poetry, so memorable and unanswerable, that readers are bound to hear it coming. This is no dirge [... We have to] supply the missing conclusion. The positive message is there, clear but unstated, in the last two stanzas.« Connor (1970) 760 lobt sogar das Fehlen expliziter Aufforderungen: »the suggestion of present enjoyment is cleverly not sharply focused.« 73 West (1998) 96. 71
216
II. Teil: Einzeluntersuchungen
liques et spatio brevi / spem longam reseces!74 Deswegen erscheint es nicht richtig, mit Karl Numberger hier das »düsterste Gedicht der 3 Bücher, ohne einen mildernden Ton« zu sehen.75 Viel näher liegt es, darin mit Syndikus eine Verwendung des Todesmotivs als »Schocktherapie« zu sehen, welche an die Unterscheidung von »wichtig« und »unwichtig« erinnern will.76 3.4.2 Andere Unterwelts- bzw. Todesbilder in den Oden Gegen die soeben verfochtene positive Gesamtdeutung von carm. 2,14 könnte man nun aber einwenden, daß nach diesen eindrucksvollen Unterweltsschilderungen eine einzige Strophe, dazu noch ohne explizite Paränese, nicht ausreiche, um den »Hauptsinn« des Gedichts umzukehren.77 Es 74
Als weitere Beispiele sind zu nennen: carm. 1,4,9ff.; 2,3,13ff.; 4,7,14ff. Numberger (1972) 178. Solche negativen Gesamteinschätzungen der Ode sind vielfach geäußert worden, z.B. von Oppermann (1953) 74 (»Selten ist eindringlicher, erschütternder und – schöner ausgesprochen, daß alles menschliche Dasein der Vernichtung ausgesetzt ist«), Collinge (1961) 49, Anm. 1 (»uncompromisingly stern«), Commager (1962) 287 (»muted bitterness«), Castorina (1965) 120 (»si piange il destino umano, così amaro e ingrato per chi non vede nulla oltre la morte«) und 121 (»è, forse, l’ode del dolore per eccellenza«), Musurillo/Callahan (196667) 368 (»It is Horace at his most severe and pessimistic«), Woodman (1967) 399 (»a poem whose theme is undeviatingly about death […] the only ruthlessly disconsolate [poem]«), Williams (1968) 115 (»no alleviation of a painful and haunting picture of the human condition«), Santirocco (1986) 98 (»There is no such injunction [= Aufforderung zum Lebensgenuß] in C. 2.14, which is unrelievedly pessimistic throughout«), schließlich Connor (1987) 157 (»He stirs up a bitter anger and frustration for the deceased«) und 158 (»The ending is bitter«). 76 Syndikus (2001) I, 428; früher schon Rudd (1960) 377: »The last stanza […] is a kind of satiric epilogue […] a picture of such horror that Postumus must have issued immediate invitations to a party.« Lefèvre (1993) 209: »adhortative[r] Charakter […] Das ist nicht eine Ermahnung wie sonst, sondern ein Aufrütteln.« Im Übrigen hatte schon Porphyrio zu V. 25f. bemerkt: »haec cum invectione dicuntur«; ähnlich die pseudacronischen Scholien zu V. 25: »[haec verba] cum invectione in eos dicuntur, qui nimia parsimonia conservant, quae prodigi heredes absumant«. – Eine solche »Schocktherapie« findet sich auch in epod. 13,12ff., wo auf eine Todesprophezeiung die Aufforderung folgt: illic omne malum vino cantuque levato / deformis aegrimoniae, dulcibus alloquiis; ferner in carm. 1,4,13ff. und epist. 1,4,12f. Im Gegensatz zu Syndikus (2001) I, 428, Anm. 36 führe ich carm. 2,18 und 3,1,14ff. hier nicht auf, weil in diesen Gedichten eine andere Gattung von Menschen angesprochen wird: keine fehlgeleiteten Freunde, sondern rücksichtslose, zum Teil verbrecherische (vgl. carm. 3,1,17f.: impia / cervice) »Großkapitalisten«. 77 So z.B. Oppermann (1953) 73, der zwar im Wein ein »andeutendes Symbol für die Fülle der Möglichkeiten« sieht, aber dennoch glaubt, es handle sich nur um eine »leichte, weiterweisende Nuancierung, die der herrschende Gedanke der Vergänglichkeit am Schlusse erfährt.« Abgeschwächt so auch Schwind (1965) 46, die in der letzten Strophe einen »seltsame[n] Schwebe- und Spannungszustand« konstatiert. Im Übrigen sieht Esser (1976) 115 hier einen Detailschluß; die Strophe umfasse aber sinngemäß das ganze Erbe. – Ebenfalls symbolisch, aber im negativen Sinn deutet Dahl (1953) 73 den Wein (»Here again an image of a fluid emphasizes the careless, motiveless flow of the vainly hoarded days of men’s lives«), und auch Musurillo/Callahan (1966-67) 368 deuten: »it is almost as though life is the wine […] precious liquid so lavishly wasted in the universe by heedless gods«. 75
3. carmen 2,14
217
erscheint daher notwendig, die Funktion der in carm. 2,14 gegebenen mythischen Unterweltsschilderungen durch einen Vergleich mit anderen Unterweltsbeschreibungen bzw. »Todesszenen« in den Oden noch stärker zu konturieren.78 In carm. 2,13, dem unmittelbar voraufgehenden Gedicht, gibt es ebenfalls eine Unterweltsbeschreibung. Nach der Verfluchung eines Baums, der den Sprecher beim Umfallen fast erschlagen hätte (V. 1-12), und nach Reflexionen über die Unvorhersehbarkeit des Todes (V. 13-20) betont der Sprecher, wie wenig fehlte, daß er das Reich der Proserpina gesehen hätte (quam paene furvae regna Proserpinae […] vidimus, V. 21f.). Auch den Unterweltsrichter Aiakos hätte er fast erblickt (iudicantem […] Aeacum, V. 22), ebenso wie die Gefilde der Seligen (sedesque discretas piorum, V. 23). Doch die Schilderung erschöpft sich nicht in diesen topischen Unterweltsmotiven: Auch Sappho hätte der Sprecher fast beim Leierspielen in der Unterwelt gesehen (Aeoliis fidibus querentem / Sappho, V. 24f.); sogar dem Lyriker Alkaios, der durch Apostrophe besonders hervorgehoben und als gegenwärtig dargestellt wird (et te sonantem […] Alcaee, V. 26f.), wäre er fast begegnet. In den Versen 29-32 nun liegt eine andere Form der Beschreibung vor: War vorher noch von einem beinahe eingetretenen, aber eben doch noch irrealen Ereignis die Rede (paene, V. 21), so wird von Vers 30 an diese Einschränkung nicht mehr gemacht; die Beschreibung weilt nun völlig in der »Realität«. Die Schatten der Toten (umbrae, V. 30) bestaunen dichtgedrängt (densum umeris […] vulgus, V. 32) beide Sänger, mehr aber Alkaios (sed magis / pugnas et exactos tyrannos, V. 30f.), und es ist kein Wunder (quid mirum, V. 33), daß unter der Einwirkung ihrer Lieder der Kerberos zahm wird (demittit atras belua centiceps / auris, V. 34f.) und die Schlangen der Eumeniden zur Ruhe kommen (Eumenidum recreantur angues, V. 36). Ja sogar die großen Büßer der Unterwelt Tantalos und Orion, denen Horaz hier Prometheus zugesellt,79 finden durch den angenehmen Klang Erleichterung in ihren Strapazen (dulci laborem decipitur sono, V. 38). Die Andersartigkeit dieser Schilderung im Vergleich zu carm. 2,14 ist evident: Statt Pluton tritt dessen Gattin Proserpina auf, und statt der mythischen Figuren Geryones und Tityos, die in Schranken gehalten werden, sieht man einen der Unterweltsrichter. Als sich aus dem Rechtsgedanken 78
Zur Hadesmythologie bei Horaz allgemein vgl. Oksala (1973) 173-178. Die Oden 1,4.28 und 2,3.18 seien hier nur genannt, da in ihnen zwar ebenfalls der Todesgedanke zur Sprache kommt, aber nicht in szenischer Form breit ausgeführt wird. 79 Im Gegensatz zur bekannten, z.B. in Verg. ecl. 6,42 vorliegenden Tradition, nach der Prometheus im Kaukasus an einen Felsen geschmiedet ist. Bapp (1902-09) 3042 bestätigt, daß die obige Version vor Horaz nicht bezeugt ist, sofern man nicht eine entfernt vergleichbare Situation aus (Ps.-)Aischylos’ Prometheus-Trilogie heranziehen will. – Horaz scheint mit Prometheus generell recht eigenwillig verfahren zu sein, vgl. auch im II. Teil, Kap. 2, S. 179.
218
II. Teil: Einzeluntersuchungen
ergebende Konsequenz folgen dann die in carm. 2,14 nicht erwähnten Gefilde der Seligen, der Ort, an den man als Belohnung für ein untadeliges Leben gelangt. Durch die Nennung von Sappho und Alkaios kommt es nun zu einer bemerkenswerten Mischung aus Mythos und (Literatur-)Geschichte: Neben den Figuren des Mythos halten sich auch diese großen lyrischen Dichter, in deren Nachfolge Horaz sich selbst sieht, in der Unterwelt auf; sie geben dort gerade eine Vorstellung. Die Wirkung ihrer Musik, deren Themen genannt sind (für Sappho in V. 25: puellis de popularibus; für Alkaios in V. 27f.: dura navis, / dura fugae mala, dura belli sowie in V. 31 pugnas et exactos tyrannos), wird durch die Reaktion von Ungeheuern und mythischen Unterweltsbüßern dargestellt; sie erinnert an das, was Orpheus bei seinem Abstieg in die Unterwelt auslöste.80 Insgesamt erscheint diese ausgedehnte, zwanzig Verse einnehmende und das Gedicht beschließende Unterweltsbeschreibung anfangs als Ausdruck eines übertriebenen Pathos. Dann aber erkennt man, daß Horaz hier eine Hommage an seine lyrischen Vorbilder Sappho und Alkaios bietet,81 deren Wirken implizit mit dem des berühmten mythischen Sängers Orpheus parallelisiert wird. Diese Szene evoziert eine Passage der platonischen Apologie, in der sich Sokrates vorstellt, daß er im Totenreich berühmte Männer aus dem Mythos (die Unterweltsrichter, Helden des Trojanischen Krieges) oder große Dichter (Orpheus, Musaios, Hesiod, Homer) treffen könnte.82 Die Nennung und Beschreibung von Unterweltsgestalten soll in carm. 2,13 keine Furcht auslösen, sondern die psychagogische Macht von Musik und Dichtung aufzeigen. Wenn Horaz sich aber nun in der Tradition der dort genannten Dichter sieht, trifft er damit implizit auch eine Aussage über seine eigene Dichtung; die Unterwelt wird damit gewissermaßen in den Dienst der Poetologie gestellt. Ein ganz anderes Bild ergibt sich in carm. 1,24, wo der Sprecher den Tod des Quintilius betrauert. Neben die (euphemistische) Vorstellung des Todes als eines ewigen Schlafes (perpetuus sopor, V. 5) tritt die Szene, wie ein nichtiges, blutloses Trugbild (vanae […] imagini, V. 15) von Merkur als dem ψυχοπομπός zur schwarzen Herde getrieben wird (nigro compulerit Mercurius gregi, V. 18). Hier wird zwar keine Skizze der Unterwelt als eines realen Ortes entworfen; doch das Schattenbild des Verstorbenen wird auf seinem Weg zur Schar der Toten begleitet. Dieses Gedicht vermittelt den Eindruck echter Trauer; es nimmt Anteil an einem Einzelschicksal und verfolgt nicht die Absicht, eine allgemeine Beschreibung des Hades zu ge80
Vgl. z.B. Verg. georg. 4,471ff. Kiessling/Heinze (1955) 210 weisen darauf hin, daß sich Horaz bescheiden nur als Hörer, nicht als Sänger darstellt. Auch Fraenkel (1957) 198 spricht von einer »Glorifizierung des Alkaios«. – Zum Verhältnis des Horaz zu diesen beiden Lyrikern vgl. auch im I. Teil Kap. 5.3. 82 Plat. apol. 40 E 7-41 C 7. 81
3. carmen 2,14
219
ben. Das Faktum, daß Quintilius tot ist, wird in mythischen Bildern ausgedrückt, die sich an den hypothetischen Vergleich des Sprechers mit Orpheus anschließen, der somit an dieser Stelle eine Gradmesserfunktion innehat.83 Zwar bedient sich Horaz hier des Repertoires mythischer Ausdrucksweisen, um die Gegebenheiten festzustellen und zu schildern. Ebenso wie in carm. 2,14 durch die Junktur Pluto illacrimabilis klargemacht wird, daß mit dem Tod nicht zu verhandeln ist, dient hier die Beschreibung des Merkur als non lenis precibus fata recludere (V. 17) dazu, in Form einer Litotes (non lenis) die Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des Todes zu illustrieren. Daß aber in dieser Ode keine Ungeheuer oder Unterweltsbüßer genannt werden, ist ein Zeichen von Pietät: Die Evozierung solcher Aspekte der mythischen Unterwelt hätte den Schmerz der Hinterbliebenen nur vergrößert. Daß allerdings die Gefilde der Seligen keine Erwähnung finden, verwundert angesichts der positiven Aussagen über Quintilius in den Versen 5-12. Dies findet seine Erklärung wohl in der Sentenz sed levius fit patientia (V. 19): Leichter kann das Faktum des Todes durch patientia ertragen werden; ein zu weitgehendes Räsonieren über das Totenreich widerspräche diesem Grundsatz, ohne daß der Gedanke an das Elysium den Angehörigen echten Trost verschaffte. Wieder einem anderen Zweck dient die Unterweltsbeschreibung in carm. 3,11. Merkur und die testudo erhalten dort in Vers 7f. einen Auftrag: dic modos Lyde quibus obstinatas / applicet auris [...]. In Vers 13 beginnt eine Art Aretalogie der Lyra (tu potes etc.), die die Wirkung dieses Musikinstrumentes im Kontext des Orpheusmythos beschreibt, zunächst in der Oberwelt (V. 13f.), dann in der Unterwelt: Kerberos, dessen grausige Erscheinung in einer ganzen Strophe beschrieben wird (V. 17-20),84 wich der schmeichelnden (blandienti, V. 15) Laute, sogar Ixion und Tityos lachten (V. 21f.: risit), und auch die Schöpfkelle der Danaiden stand still (stetit urna paulum / sicca, dum grato Danai puellas / carmine mulces, V. 22-24). Daß es Orpheus war, der die testudo in die Unterwelt trug, bleibt unerwähnt. Bis zu diesem Punkt scheint der Zweck dieser Beschreibung eine schmeichelnde Huldigung an die Macht des Instrumentes zu sein, welches der Sprecher für seine Zwecke gewinnen will. Doch die nächste Strophe zeigt, daß die eigentliche Intention eine andere ist (V. 25-29): audiat Lyde scelus atque notas virginum poenas et inane lymphae
25
83
Zu Mythologemen mit Gradmesserfunktion vgl. im II. Teil Kap. 1.5. Philipp Buttmann hat diese Strophe als unecht verworfen; Kiessling/Heinze (1955) 310f. tragen die Argumentation August Ferdinand Naekes gegen diese Strophe vor. Wie man sich zu dieser Frage auch stellt, Kerberos ist auf jeden Fall in Vers 16 durch ianitor aulae präsent. 84
220
II. Teil: Einzeluntersuchungen dolium fundo pereuntis imo seraque fata, quae manent culpas etiam sub Orco. Hören soll Lyde von dem Verbrechen und von den bekannten Strafen der Jungfrauen und von dem Faß, das leer von Wasser ist, weil jenes unten am Boden verlorengeht, und vom späten Verhängnis,
25
das Vergehen sogar tief unten im Orkus erwartet!
Zwar lobte die bisherige Beschreibung die Lyra, indem sie ihre Wirkung in der Unterwelt darstellte; doch offensichtlich war es der Zweck dieser Unterweltsreise, zu den Danaiden zu gelangen. Indem die Aretalogie auf die Töchter des Danaos zu sprechen kommt, die ihre Bräutigame in der Hochzeitsnacht erschlugen und die mithin als Sinnbild für ehe- und liebesfeindliche Frauen gelten können, wird die in den Versen 7f. geäußerte Bitte (dic modos Lyde quibus obstinatas / applicet auris) bereits erfüllt. Hören soll Lyde deren Verbrechen und ihre Bestrafung (audiat Lyde scelus atque notas / virginum poenas, V. 25f.), und demgemäß soll sie ihr Verhalten ändern.85 Die Funktion dieser Unterweltsbeschreibung ist also offensichtlich – abgesehen von einer Aretalogie der Laute – primär die Hinführung zu einem Mythos, der im Sinne einer Handlungsanweisung für das – innerhalb der poetischen Fiktion – reale gegenwärtige Leben funktionalisiert wird. Die engste Parallele zu carm. 2,14 stellt aber carm. 4,7 dar: In den Versen 1-12 wird das rasche Vergehen der Zeit thematisiert, indem auf den Ablauf der Jahreszeiten hingewiesen wird. In der Natur, so legt der Sprecher dar (V. 13ff.), herrsche zwar ein ewiger Kreislauf (damna tamen celeres reparant caelestia lunae, V. 13); wenn wir Menschen jedoch stürben, dann endgültig und unwiderruflich: pulvis et umbra sumus (V. 16). Dann müßten alle Menschen dorthin gehen, wohin schon die Könige der mythischen Vorzeit (Aeneas, Tullus und Ancus) gehen mußten (V. 15). Hierin läßt sich eine Parallele zu dem in carm. 2,14,11f. vorgetragenen Gedanken sehen, daß reges und coloni gleichermaßen dem Tode verfallen sind. Daß man dem Tod auch nicht aufgrund positiver Charaktereigenschaften oder Handlungen entkommen kann, wird in carm. 4,7 noch weiter ausgeführt: non, Torquate, genus, non te facundia, non te / restituet pietas (V. 23f.), wobei die Nutzlosigkeit der pietas auch in carm. 2,14,2 schon zur Sprache gekommen war. Die Unterwelt wird aber noch weiter ausgestaltet: In V. 21f. tritt der Unterweltsrichter Minos auf, und die abschließenden Verse 25-28 zeigen Hip85
Zum mythischen Beispiel in den Oden siehe die Ausführungen im II. Teil, Kap. 2.7.
3. carmen 2,14
221
polytos in den infernae tenebrae sowie den mit Lethaea vincula gefesselten Peirithoos, mythische Figuren, denen auch ihre mächtigen Beschützer (Artemis/Diana bzw. Theseus) nicht helfen können. Ganz ähnlich wie in carm. 2,14 betont Horaz also auch in carm. 4,7, daß keiner durch irgendeinen Vorzug oder eine Handlung dem Tod entkommen kann; daß der Tod überdies unwiderruflich ist, wird anhand von Gestalten des Mythos dokumentiert, die ebenfalls – wie auch gewöhnliche Sterbliche – in der Unterwelt festgehalten werden. Umso stärker aber wird in carm. 4,7 die Gegenwart betont, da schon der morgige Tag ungewiß ist: quis scit, an adiciant hodiernae crastina summae / tempora di superi? (V. 17f.). Dies leitet über zu der in den Versen 19f. formulierten Gnome: cuncta manus avidas fugient heredis, amico / quae dederis animo. Was man amico animo gibt, das führt man einem sinnvollen Zweck zu.86 Aus den düsteren Gedanken über die allgemeine Todesverfallenheit und aus den tristen Unterweltsvorstellungen wird also ein positiver Schluß gezogen: Gerade weil alle in die schreckliche Unterwelt hinabsteigen müssen und keinen Besitz dorthin mitnehmen können, sollten Güter jetzt richtig genutzt werden. Angesichts der weitgehenden Motivgleichheit zwischen carm. 4,7 und carm. 2,14 erscheint es plausibel, anzunehmen, daß die in carm. 4,7 explizit ausgesprochene Aufforderung, amico animo sein Gut zu nutzen, auch in carm. 2,14 – hier jedoch implizit – enthalten ist. Die folgende Tabelle soll die vorgetragenen Beobachtungen systematisieren und komplettieren:
86
Hier wird der Erbe eindeutig negativ charakterisiert; dies ist in carm. 2,14 – wie oben, S. 214 gezeigt – nicht so klar zum Ausdruck gebracht.
2. Gedichthälfte (V. 21ff.)
2. und 5. Strophe (V. 5-9a.17-20)
8,5 Verse / 30%
Pluton, die tristis unda, Unterweltsbüßer (Geryones, Tityos, die Danaiden, Sisyphos), der Unterweltsfluß Kokytos
düster und trostlos, positive Aspekte fehlen
Darstellung eines Illustration poetologischer düsteren Gegenbildes Aussagen und der Macht zum jetzigen Leben der Dichtung bzw. Musik
Stellung der Szene
Absoluter Umfang / prozentualer Anteil am Gedicht
Inhalt
Stimmung
Funktion
Begeisterung für das Gesehene; angenehme Orte und Atmosphäre
Proserpina, Aiakos, Elysium; Sappho und Alkaios als Virtuosen, Schatten als Publikum; Ungeheuer und Unterweltsbüßer »im Ausnahmezustand«
20 Verse / 50%
carm. 2,13
carm. 2,14
Bezauberung durch Musik; zugleich (scherzhafte) Drohung an Lyde
Kerberos (detailliert beschrieben) und Unterweltsbüßer »im Ausnahmezustand« durch die Macht der Lyra
15 Verse / 29%
Gedichtmitte (V. 1529)
carm. 3,11
düster, jedoch resignierend-akzeptierend
Könige der mythischen Vorzeit in der Unterwelt; Minos als Unterweltsrichter; Hippolytos und Peirithoos sind in den infernae tenebrae gefangen.
6 Verse / 21%
V. 15.21f. und letzte Strophe
carm. 4,7
Darstellung der Überleitung zum pro- Darstellung eines düsteEndgültigkeit des treptisch verwende- ren Gegenbildes zum jetTodes und des ten Danaidenmythos zigen Leben Schattendaseins der Toten
resignierend, Ergebung in Schicksal
Ein blutleeres Schattenbild wird vom unerbittlichen Merkur zur schwarzen Herde getrieben.
4 Verse / 20%
vorletzte und letzte Strophe (V. 15-18)
carm. 1,24
II. Teil: Einzeluntersuchungen
223
Trotz aller Unterschiede hinsichtlich der Ausgangssituationen der jeweiligen Oden zeigt der Überblick, daß in carm. 2,13 und 3,11 die Unterweltsbeschreibungen, welche die großen Büßer miteinbeziehen, »diesseitigen« Zwecken dienen, einerseits der Poetologie, andererseits der Hinführung zu einem bestimmten Mythos, aus dem Konsequenzen für die Gegenwart bzw. die im Gedicht imaginierte Situation gezogen werden sollen. In carm. 1,24 hingegen, in dem anscheinend echte Trauer ausgedrückt wird, greift Horaz zu einem ganz anderen Instrumentarium: Die in den anderen Schilderungen auftretenden Elemente fehlen hier gänzlich; der Blick ist auf den einzelnen Verstorbenen fokussiert. Frappierende Parallelen jedoch lassen sich zwischen carm. 2,14 und carm. 4,7 feststellen. In carm. 4,7 aber wird aus den düsteren Unterweltsbildern ein expliziter Appell abgeleitet, schon am heutigen Tage großzügig mit dem eigenen Besitz umzugehen. Daraus wird man Folgendes schließen dürfen: Wenn Horaz sich des eindrucksvollen Repertoires der großen Unterweltsbilder und -gestalten bedient, verfolgt er weitergehende Intentionen; die Szenen leiten erst zum eigentlichen Argumentationsziel hin. Will er dagegen in einer wirklich traurigen Situation trösten und anrühren, greift er zu den leiseren Tönen und zu den dezenteren Farben. Darauf gründend, darf man wohl für carm. 2,14 – gerade vor dem Hintergrund von carm. 4,7 – folgern, daß Horaz resp. der Sprecher mit der Darstellung der Unterwelt in ihren düsteren Aspekten ein Gegenbild zur jetzigen, hiesigen Welt entwerfen will und damit einen (impliziten) protreptischen Aufruf zum Genuß der Gegenwart (und insbesondere des Caecubers) formuliert.
3.5 Fazit Es ließen sich keine Anzeichen dafür finden, daß Horaz in carm. 2,14 sich selbst bzw. dem Sprecher die persona eines geschwätzigen Zechers aufgesetzt hätte. Der abstrakte Gedanke, daß alle Menschen sterben müssen und daß der Tod unbezwingbar ist, wird durch mythische Bilder anschaulich und konkret. Plutons Macht über gewöhnliche Menschen wird anhand bekannter Unterweltsbüßer a maiore illustriert. Im zweiten Unterweltsbild ist mit dem Kokytos wohl bewußt gerade derjenige Fluß ausgewählt, dessen Name aufgrund seiner Etymologie in diesem Kontext die düstersten Assoziationen evoziert. Auch das Auftreten des Sisyphos, der schon bei Alkaios in einem vergleichbaren Rahmen begegnet, könnte wohlbegründet sein: Sisyphos war es vorübergehend gelungen, dem Tod zu entkommen; letztlich mußte aber auch er in der Unterwelt bleiben.
224
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Der Blick auf zeitgenössische Zeugnisse zeigte, daß diese Unterweltsbilder nicht als reale Bedrohung empfunden wurden; die in ihnen geschilderten Orte und Personen sind nicht »real furchteinflößend«. In der Ode wird die Unterwelt zwar als realer Ort geschildert, jedoch als ein Ort, den man erst nach dem Tode aufsuchen muß. Mythos und »imaginierte Realität« bleiben also weitgehend voneinander geschieden. Im Fokus der Ode scheint die Gegenwart zu stehen. Zwar enthält das Gedicht keinen expliziten Aufruf zum Genuß der Gegenwart und des Caecubers; doch angesichts der Betonung der Vergänglichkeit und des drohenden Verlustes aller Güter liegt es nahe, diesen Schluß zu ziehen. Diese Vermutung konnte durch die Einbeziehung anderer horazischer Unterwelts- bzw. Todesdarstellungen noch untermauert werden. Aus deren Betrachtung ergab sich, daß Horaz vor allem dann zu den Unterweltsbüßern und zu den »furchteinflößenden« Aspekten des Hades greift, wenn er weitergehende (poetologische oder protreptische) Absichten verfolgt. Sollen dagegen echte Trauer und Anteilnahme ausgedrückt werden, greift Horaz zu den dezenteren Farben und verzichtet auf die mythischen Büßer. Vor allem aber der Vergleich mit carm. 4,7, welches weitgehende Motivparallelen zur Ode 2,14 und ein explizites Lob des amico animo dare aufweist, ließ es berechtigt erscheinen, in carm. 2,14 einen impliziten Aufruf zum Genuß des noch verbleibenden Lebens zu sehen.
4. carmen 2,7
Bei der Lektüre der Ode 2,7, eines Empfangsgedichtes an einen gewissen Pompeius, in dem dieser nach langer Abwesenheit herzlich begrüßt und zu einem Trinkgelage eingeladen wird, begegnet man erneut dem Problem, das im Kapitel »Die Frage der horazischen Religiosität« (I. Teil, Kap. 3) schon angesprochen wurde: Was darf man aus Äußerungen des Sprechers über seine Erlebnisse mit dem Göttlichen folgern? Was ist durch eine persona gesprochen, was stellt eine autobiographische Aussage des Autors dar? Gibt es eine Grenze zwischen Realität und Fiktion bzw. Mythos, und wenn ja, wo verläuft sie? Diese Fragen stellen sich bei carm. 2,7, einem »der bewegendsten lateinischen Gedichte überhaupt«,1 aufgrund der ungewöhnlichen Aussage des Sprechers über seine Verbindung mit Merkur in besonderem Maße. Es gilt also zu untersuchen, ob in carm. 2,7 autobiographische Aussagen in mythischer Form vorliegen.
4.1 Die Verse 1-16 und ihre möglichen Praetexte Die ersten beiden Strophen apostrophieren einen Freund des Sprechers: o saepe mecum tempus in ultimum deducte Bruto militiae duce, quis te redonavit Quiritem dis patriis Italoque caelo, Pompei, meorum prime sodalium? cum quo morantem saepe diem mero fregi coronatus nitentis malobathro Syrio capillos.
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Du, der du oft mit mir in äußerste Gefahr geführt wurdest unter Brutus als Kommandeur des Heereszugs, wer hat dich als Quiriten wiedergeschenkt den Göttern der Heimat und dem italischen Himmel, Pompeius, erster meiner Gefährten? [Du warst es], mit dem ich oft den säumigen Tag mit Unvermischtem
5
1
So Seel (1972) 197.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen gebrochen habe, mit einem Kranz auf den Haaren, die von syrischem Tamala-Öl glänzten.
In weiter Sperrung apostrophiert der Sprecher seinen Freund Pompeius2, gegenüber dem er besondere Wertschätzung durch den Ehrentitel meorum prime sodalium (V. 5) zum Ausdruck bringt. Die erste Strophe verbindet Vergangenheit und Gegenwart, indem sie in der Apostrophe einerseits an die in der Vergangenheit gemeinsam durchlittenen Gefahren erinnert (saepe mecum tempus in ultimum / deducte Bruto militiae duce3, V. 1f.), andererseits aber betont, daß sich Pompeius nun wieder in der Heimat befindet (redonavit […] dis patriis Italoque caelo, V. 3f.). Dabei bleibt die Art der Heimkunft durch die Verwendung des sehr seltenen Verbs redonare, das erstmals bei Horaz belegt ist,4 seltsam unbestimmt; es ist lediglich zu spüren, daß eine gnädige Macht mitgeholfen hat.5 Bei den heimischen Göttern (dis patriis, V. 4), die neben dem Italum caelum genannt werden, handelt es sich wohl primär um eine gewählte Periphrase für patria.6 Während die Verse 6-8 an frühere Zeiten erinnern, als es sich der Sprecher und Pompeius oft – auffällig ist die Anapher von saepe aus Vers 1 – 2 Über diesen Mann ist nur bekannt, was sich der Ode entnehmen läßt. Selbst bei seinem Namen schwanken die Handschriften zwischen Pompei, Pompi und Pompili. Überschriften in einigen Handschriften nennen ihn Pompeius Varus, so daß er wohl nicht identisch ist mit Pompeius Grosphus, einem aus carm. 2,16 und epist. 1,12,22 bekannten Freund des Horaz. – Maleuvre (1992) 93ff. identifiziert ihn erstaunlicherweise mit Vipsanius Agrippa, Augustus’ Admiral. 3 Es ist eine umstrittene Frage, ob Horaz bzw. der Sprecher in den ersten beiden Versen Kritik an Brutus und dessen militärischen Fähigkeiten übt, wie z.B. Moles (1987) 59ff. und West (1998) 53f. glauben. Zweifel an dieser Auffassung z.B. bei Maurach (2001) 196, Anm. 8. – Doblhofer (1998) 58f. sieht hier zwei Ambiguitäten, d.h. absichtliche Unklarheiten. Deshalb gibt er als Übersetzungsmöglichkeit für tempus in ultimum / deducte unter anderem »Du zum letzten Stündlein Abgeführter« an; in dem Personennamen Bruto vermutet er einen Anklang an das Adjektiv brutus (»dumm«). Doch die Angabe Bruto militiae duce ist unverzichtbar, um die Szene zeitlich fixieren und die Parteienkonstellation darstellen zu können. Überdies ist Brutus trotz seines »etymologischen Ballastes« (vgl. z.B. das Wortspiel in Cic. Att. 14,14,2) ein veritabler Eigenname. 4 Vgl. OLD s.v. 5 Vgl. die Bemerkung zu diesem Verb bei Seel (1972) 199: »tatsächlich liegt ein feiner Widerspruch darin, daß man etwas zurückerhält, was man schon einmal besessen hat und das einem also gehört, aber daß man es als Geschenk zurückerhält: Darin drückt sich das Unerwartete aus, das längst nicht mehr Erwartbare.« 6 Etwas anders Büchner (1951b) 14: »In dieser Frage, die keine Antwort heischt, sind Staat und Gemeinschaft, Götter und Religion, Italien als Heimat, Gnade des Schicksals mit sparsamen Worten umfaßt, eine Unsumme seelisch verwandelter Realität.« – Meister (1952) 128 wiederum sieht in caelum »die göttlichen Himmelsmächte«. – Der Gedichtanfang erinnert an ein in einem anderen Metrum verfaßtes Gedicht des Alkaios (fr. 350), in dem dieser seinen aus babylonischen Söldnerdiensten heimkehrenden Bruder mit den Worten ἦλθες ἐκ περάτων γᾶς (V. 1) begrüßt und im Folgenden von dessen ἄεθλον μέγαν (V. 4) und Taten berichtet. Vergleichbar sind dabei, wie auch Syndikus (2001) I, 373, Anm. 2 betont, die Ferne, aus der die angesprochene Person zurückkehrt, und die überstandenen Gefahren. – Andere horazische Epibateria, d.h. Gedichte anläßlich der Heimkehr von Freunden, sind z.B. carm. 1,36 und im weiteren Sinne auch carm. 3,14.
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mit Wein und wohlriechenden Essenzen gemeinsam gut gehen ließen,7 führen die dritte und vierte Strophe in die Zeit des Bürgerkriegs, als beide auf Seiten der Caesarmörder im Heer des Brutus kämpften und im November 42 in der zweiten Schlacht von Philippi unterlagen:8 10
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tecum Philippos et celerem fugam sensi relicta non bene parmula, cum fracta virtus et minaces turpe solum tetigere mento. sed me per hostis Mercurius celer denso paventem sustulit aëre; te rursus in bellum resorbens unda fretis tulit aestuosis. Mit dir zusammen habe ich Philippi und die schnelle Flucht erlebt, nachdem auf nicht gute Weise der Schild zurückgelassen war, als die Tapferkeit gebrochen und die Trotzigen den Boden schändlich mit dem Kinn berührten. Aber mich hat zitternd durch die Feinde hin der schnelle Merkur in dichtem Nebel entrückt; dich wiederum einschlürfend, trug dich in den Krieg die Woge mit brandender Strömung.9
Angesichts der Fragestellung dieser Untersuchung verdienen die im Zentrum der Ode stehenden Verse 13 und 14 die größte Aufmerksamkeit, in denen der Sprecher behauptet, von Merkur aus der Schlacht von Philippi entrückt worden zu sein. Diese für den Bereich »mythisches Sprechen über die eigene Biographie« zentrale Aussage soll im Folgenden erst für sich, dann vor dem Hintergrund möglicher Praetexte, schließlich im Kontext des Gedichtes betrachtet werden.10 Der Wortlaut des Textes ist recht eindeutig; der Sprecher, bei dem es sich doch wohl um Horaz selbst handelt,11 drückt sich unmißverständlich aus und schreibt seine Rettung aus der Schlacht 7 Ob sich dieser Abschnitt auf ihre Athener Studentenzeit oder auf ihr luxuriöses Offiziersleben im Heer des Brutus bezieht, läßt sich kaum entscheiden. Jedenfalls wird auf eine Zeit zurückgeblickt, in der keine unmittelbare Gefahr bestand. 8 Zu dieser Schlacht vgl. u.a. Cass. Dio 47,42ff. und App. civ. 4,128ff. Vgl. ferner z.B. Bleicken (1998) 165. 9 Alternativ findet man Übersetzungsvorschläge, die fretis [...] aestuosis als Dativ der Richtung mit dem Prädikat tulit verbinden und den präpositionalen Ausdruck in bellum dem Partizip resorbens zuordnen. 10 Aufgrund der besonderen Gegebenheiten wird hier also anders verfahren, als es im I. Teil, Kap. 1.3.1 angekündigt worden ist. 11 Jedenfalls wird nirgends signalisiert, daß der Sprecher eine andere persona verkörpere. Überdies war die Schlacht von Philippi für Horaz ein einschneidendes Ereignis, das in seiner Biographie konkret verortet werden kann.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
dem Gott Merkur zu. Doch dies geschieht nicht in einem allgemeinen, eher abstrakten Sinn, etwa wie wenn ein Christ sagt: »Gott hat mich vor einem Unglück bewahrt!« Merkur wird nicht als ferner, wohlwollender, aber passiver Beschützer, sondern als aktiv eingreifender, konkret personifizierter Retter dargestellt. Dazu bemerkt Eduard Fraenkel nachdrücklich: Hier muß klar gesagt werden, daß Horaz, der Sohn einer alternden Kultur, Schüler ausgeklügelter skeptischer Philosophien, nicht für Leute geschrieben hat, die ihm die Überzeugung zutrauen, im Herbst des Jahres 42 v. Chr. habe sich ein olympischer Gott die Mühe gemacht, auf dem Schlachtfeld von Philippi eigens eine Wolke oder Nebel zu erzeugen, um einen unbekannten jungen Mann darin einzuhüllen und ihn so in Sicherheit zu bringen.12
Mit seiner Polemik hat Fraenkel wohl recht. Horaz ist mit Sicherheit nicht vom leibhaftigen Merkur gerettet worden, zumal er in carm. 3,4,25f. den Musen für seine Rettung aus Philippi dankt und in epist. 2,2,46ff. dasselbe Ereignis ohne irgendeine göttliche Intervention darstellt.13 Man kann also kaum mit Begriffen wie »authentisch« oder »fiktional« operieren, wie es zum Beispiel im Zusammenhang mit der Historizitätsfrage der sogenannten »Gartenszene« in den Confessiones des Augustinus (8,12,28-30) geschieht.14 Doch ist zu fragen, warum Horaz gerade diese Formulierung gewählt hat. Vers 14 reichert die Beschreibung der Rettung durch Details an (dichter Nebel, Zittern des Sprechers), so daß das anschauliche Bild eines echten göttlichen Eingreifens entsteht. Dadurch aber wird man unweigerlich an Szenen der Ilias erinnert, in denen Götter einen ihrer Lieblinge, der sich in einer gefährlichen Lage befindet, aus dem Kampfgeschehen entrücken. Eine solche Stelle liegt zum Beispiel in Il. 20,443f. vor, wo Hektor von Apollon vor Achill gerettet wird: τὸν δ’ ἐξήρπαξεν Ἀπόλλων ῥεῖα μάλ’ ὥς τε θεός, ἐκάλυψε δ’ ἄρ’ ἠέρι πολλῆι. den aber entriß Apollon sehr leicht, wie er ja ein Gott war, und verbarg ihn also in dichtem Nebel.
12
Fraenkel (1957) 195. Carm. 3,4,25ff.: vestris [= Camenarum] amicum fontibus et choris / non me Philippis versa acies retro, / devota non exstinxit arbor, / nec Sicula Palinurus unda. Epist. 2,2,46ff.: dura sed emovere loco me tempora grato / civilisque rudem belli tulit aestus in arma / Caesaris Augusti non responsura lacertis. / unde simul primum me dimisere Philippi etc. 14 So rechnet es Krasser (1995) 76 im Zusammenhang mit carm. 2,7 Ernst August Schmidt als Verdienst an, die Kategorien »real« und »fiktional« als Maßstab für Qualität und Aussageintensität überwunden zu haben. 13
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Vor allem die Hinzufügung des dichten Nebels zur Beschreibung bei Horaz evoziert die Erinnerung an diese und ähnliche Ilias-Szenen15. Hermes/Merkur aber tritt bei Homer nicht in dieser Weise als Retter in Erscheinung.16 Gibt es weitere mögliche Referenztexte? Gelegentlich wird zur Erklärung dieser Stelle ein Fragment des Archilochos herangezogen, das folgendermaßen beginnt:17 ]δ’ ἐπὶ στρατ..[ νῦν ἐεργμέν.[ πημεσωσερ.[
]μενος
Tadeusz Zielinksi hat in der dritten Zeile πῇ μ’ ἔσωσ’ Ἑρμ[ῆς gelesen, indem er das zweite ε nicht zur Verbform rechnete, den unleserlichen Buchstaben hinter dem ρ als ein μ ansah und in die Lücke dahinter ῆς hineinkonjizierte.18 So kann man für dieses Fragment eine Rettung des Sprechers durch Hermes konjizieren, wie es auch Teivas Oksala tut.19 Doch dabei bleibt einiges Spekulation, so daß man sich bei solchen Überlegungen auf dünnem Eis bewegt.20 Es erscheint angesichts dieser Materialbasis gewagt, mit Stefan Freund zu behaupten, Horaz rekurriere in den Versen 13f. nur indirekt auf Homer; direkt spiele er auf Archilochos an.21 Jedenfalls stellt sich Horaz in eine gewisse dichterische Tradition, wenn er seine Rettung auf diese Weise darstellt. Genauer gesagt, verwendet der Sprecher literarische Motive, um etwas über seine eigene Biographie zu sagen; er fordert dadurch zum Vergleich mit Praetexten auf. Bedient er sich aber wirklich dieser Darstellungsweise, um sich, wie Helmut Krasser argumentiert, als θεοφιλής, d.h. als ein von den Göttern geliebter und begnadeter 15 Il. 3,380f. (Paris-Alexandros wird von Aphrodite entrückt); Il. 5,23 (Hephaistos rettet Idaios durch Umhüllung mit Nacht); Il. 5,314-318 (Aphrodite rettet Aeneas), auch Il. 5,344f. (Apollon rettet Aeneas) und Il. 11,751f., wo Nestor von seinem Kampf gegen die Aktorione-Molione berichtet, die von Zeus entrückt wurden. Ferner Il. 20,321-329. Mit sustulit vergleichbar ist v.a. Il. 20,325: ἔσσευεν ἀπὸ χθονὸς ὑψόσ’ ἀείρας [...]. 16 Schmidt (2002) 279 hingegen sieht, von per hostis ausgehend, die Priamos-HermesGeleitszene im letzten Buch der Ilias als Praetext der Verse 14f. an. Er deutet die Strophe insgesamt aber als Beschreibung der Zeit nach Philippi, vgl. Anm. 40. 17 Fr. 95. 18 Zielinski (1927) 605. 19 Oksala (1973) 67. 20 Nickel (2003) 84f. z.B. berücksichtigt in seiner Ausgabe diese Konjektur gar nicht. Im Übrigen ist auch zu bedenken, daß das fr. 95 aus der gleichen Inschrift stammt wie das fr. 94, nämlich aus IG 12 (5). 445. In fr. 94 ist aber nicht von einem Eingreifen des Hermes, sondern von einer Intervention der Athene die Rede, vgl. auch im I. Teil Kap. 5.2. – Vollends in methodische Probleme und in die Gefahr eines Zirkelschlusses gerät man, wenn man den dritten Vers nach dem Text des Horaz (paventem, V. 14) zu πῇ μ’ ἔσωσ’ Ἑρμῆς τρέμοντα vervollständigen will, wie dies Oksala (1973) 67 in der Nachfolge Zielinskis tut. 21 Freund (1999) 316: »keine individuelle Homerstelle […], die Horaz hier aufnimmt, sondern die Travestie eines Homermotivs durch Archilochos«.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Lyriker darzustellen? Dienen die Elemente von Theophanie und Theophilie also nur der Selbstdarstellung und der Pflege eines bestimmten »Images«?22 Für diese Ode kann man die Stichhaltigkeit von Krassers Hypothese vielleicht überprüfen, indem man den Kontext auf seinen Bildgehalt hin untersucht. Ist der Kontext reich an Bildern, wird man den Auftritt Merkurs auch vor dem Hintergrund dieser anderen Bilder beurteilen müssen.
4.2 Die Bilder im Kontext Wie schon oben angedeutet, bleibt die Rückführung des Pompeius in ihrer Beschreibung seltsam unbestimmt. Sie wird durch das Prädikat redonavit als eine Art Geschenk dargestellt, doch alle näheren Umstände, Verantwortlichen oder wirkenden Kräfte bleiben ungenannt.23 Ein zweiter vieldiskutierter Punkt dieser Ode ist die Zurücklassung des Schildes durch den Sprecher (relicta non bene parmula, V. 10).24 Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob es sich dabei um die Schilderung eines echten Faktums handelt25 oder ob auch dieses Element nach der literarischen Tradition gestaltet ist,26 so daß man davon ausgehen müßte, daß Horaz diese Ode vor dem Hintergrund bestimmter Praetexte rezipiert wissen möchte. Als potentielle Praetexte für die Schildszene sind vor allem Archilochos fr. 5, Alkaios fr. 401 B und Anakreon fr. 36 b/381 zu nennen.27 Drei Lyriker also, die auf Horaz einen Einfluß ausübten, berichten von einem von ihnen erlebten Schildverlust, einer ῥιψασπία. Sollte das ohne Bedeutung für die 22
So Krasser (1995) 33. Auf carm. 2,7 kommt ders. ebd. auf den Seiten 12 und 75 kurz zu sprechen. Schon Wilkinson (1968) 60 konstatiert: »he liked to ›write up‹ incidents in his life in such a way as to make them approximate to stories told of famous poets«. 23 Allgemein sieht man wohl zu Recht den Grund für die Rückkehr des Pompeius in der von Oktavian gewährten Amnestie nach der Niederlage des Antonius, vgl. Vell. 2,86,2 und Cass. Dio 51,16,1. Ferner betont Augustus selbst (R. Gest. div. Aug. 3): victorque omnibus v[eniam petentib]us civibus peperci. Insofern kann man die Frage quis letztlich durchaus mit »Augustus« beantworten, wie es z.B. Commager (1962) 169f., Connor (1987) 58 und West (1998) 50 tun. Dieser Aspekt spielt aber wohl kaum eine so große Rolle, wie West (1998) 50 glaubt (»this poem is a tribute to the clemency which was a much advertised feature of Augustan policy«). Auch scheint es nicht notwendig zu sein, in Iovi (V. 17) Oktavian zu sehen, wie es z.B. Commager (1962) 179, Wilkinson (1968) 33 und Armstrong (1989) 17 vorschlagen. 24 Schon Castiglioni (1937) 59 bemerkte: »Cetera mitto, de quibus ad taedium satietatemque iam diu disputatum est, gesseritne parmulam Horatius, abieceritne eam an deposuerit [...] aliaque multa, quae stomachum partim movent, partim risum«. Kaum weniger polemisch Fraenkel (1957) 13: »Viel zuviel ist über die relicta non bene parmula geschrieben worden«, wobei zum Teil »der gesunde Menschenverstand [...] auf der Strecke geblieben« sei. 25 So zum Beispiel Salanitro (1936) 402f., Alexander (1942) 20, Meister (1952) 131f. und Numberger (1972) 158. 26 So neben vielen anderen z.B. Kiessling/Heinze (1955) 188 und Fraenkel (1957) 14f. 27 Vgl. dazu z.B. Freund (1999) 308ff. mit weiterer Literatur.
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vorliegende Stelle sein?28 Überdies bringt Horaz später selbst eine völlige Niederlage metaphorisch zum Ausdruck, indem er in epist. 1,16,67f. formuliert: perdidit arma, locum virtutis deseruit, qui / semper in augenda festinat et obruitur re. Wenn man nun noch bedenkt, daß, wie Interpreten und Historiker mehrfach betonten, Horaz als Tribun wohl gar keinen Schild führte,29 wird man geneigt sein, die Schilderung der ῥιψασπία nicht als historisch zu betrachten, sondern darin eine bildhafte, auf Praetexte zurückweisende und damit zugleich eher abstrakt-unpersönliche Umschreibung der Ereignisse bei Philippi zu sehen. Ferner hat diese Passage, wie Freund bemerkt, den Effekt, daß sie »durch dieses bekannte Archilochos-Zitat die Sensibilität des Lesers für die Imitatio des Dichters in anderen Passagen der Ode« erhöht.30 Dennoch sollte nicht aus dem Blick geraten, daß die Verse 9f., auch wenn sie vor dem Hintergrund der genannten drei griechischen Lyriker zu sehen und somit eher bildhaft zu verstehen sind, ein Eingeständnis von Niederlage und Flucht enthalten. Den Zweck dieser deutlichen Versagensbeschreibung kann man wohl darin sehen, daß Horaz seinem Freund Peinlichkeiten ersparen wollte, indem er sein eigenes Handeln drastisch schilderte; somit brauchte sich jener wegen seines Verhaltens nicht zu schämen.31 28 Wichtig könnte auch sein, daß Archilochos seinen Schild verlor beim Kampf gegen einen Saier, d.h. einen Angehörigen eines thrakischen Stammes an der Nordküste der Ägäis. Wenn Horaz nun von einem Kampf im selben geographischen Großraum berichtet, wird ein Anschluß an das verehrte literarische Vorbild (vgl. im I. Teil Kap. 5.2) noch plausibler. – Gänzlich anderer Auffassung ist Meister (1952) 131: »Die verglichenen Zitate aus Alkaios, Archilochos und Anakreon haben keine Ähnlichkeit mit den Worten des Horaz. [...] Was sollte den antiken Leser veranlaßt haben, relicta non bene parmula als literarische Reminiscenz zu fassen und nicht als einen der zahllosen Fälle der Wirklichkeit?« – Freilich ist bei den genannten Griechen die Aussageabsicht eine andere: Sie stellen sich beinahe provozierend gegen die herrschende Meinung, nach der ein Schildverlust eine große Schande bedeutet. Bei Horaz hingegen wird der ganze Vorgang durch non bene als schlecht charakterisiert. 29 Vgl. z.B. die Stellensammlung bei Meister (1952) 132, Anm. 12. – Polemisch dagegen Alexander (1942) 20: »As for the argument whether Horace as a commissioned officer would carry a shield or not, it will provoke one to laughter or to tears according to his bent of mind and his capacity for entertaining the ineptitudes of scholarship.« 30 Freund (1999) 316. Allerdings will Freund hier andeuten, daß Archilochos noch an anderen Stellen der Ode als Vorbild diene (»des Dichters [Archilochos]« = Genitivus objectivus). Meines Erachtens hingegen sensibilisiert dieses Zitat die Rezipienten allgemein für imitatio im Folgenden. 31 So z.B. auch Fraenkel (1957) 14. Vgl. ferner Meister (1952) 132f. und Büchner (1951b) 15: »menschliche Größe, die darin liegt, daß man sich dem gedemütigten Amnestierten gerade in seinem kläglichsten Augenblicke vorführt, ja voragiert«. Vgl. darüber hinaus Freund (1999) 316: »sein eigenes Versagen als Soldat pointierend, [nimmt er] dem Freund die demütigende Rolle des Geschlagenen ab.« Lob auch von West (1998) 52: »he manages to be boastful and self-deprecating at one and the same time.« – Anders akzentuiert Schmidt (2002) 14: »Das Schuldgefühl wird in c.2,7 durch Aussprechen nicht beschwichtigt, sondern in Verantwortung für heute verwandelt, wie sie die schöne Ode verwirklicht.« – Ganz anders Connor (1987) 57: »to call the poem a ›masterpiece of tact‹ is not to realise how rough and raw it is.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Auch die Formulierung der Niederlage in den Versen 11f. weist metaphorischen Charakter auf: Die gebrochene virtus und die vormals Trotzigen (minaces, V. 11) berührten mit dem Kinn schändlich den Boden (turpe solum tetigere mento, V. 12). Diese Ausdrucksweise ist hinsichtlich einzelner Kämpfer des republikanischen Heeres, die gefallen sind, eine korrekte und konkrete Beschreibung; für das gesamte Heer aber, für die gesamte Partei der Anticaesarianer trifft diese Formulierung nur auf der bildlichen Ebene zu, wobei es sich um eine Darstellung totaler Unterwerfung handelt.32 Ferner folgt der Entrückung des Sprechers durch Merkur ein weiteres, antithetisch (me – te) zum Vorhergehenden gesetztes »Tableau« (V. 15f.): Pompeius wurde nach Philippi wieder von der Woge mit brandender Strömung eingeschlürft und in den Krieg zurückgetragen. Einige Interpreten wollten den offensichtlich allegorischen Charakter dieser Stelle33 abmildern, indem sie darauf hinwiesen, daß Horazens Freund unter Sextus Pompeius weitergekämpft habe und daß durch dieses Bild auf die Kämpfe zur See angespielt werde. Diese historisch nicht gesicherte Behauptung wird jedoch dadurch geschwächt, daß der Sprecher wohl nicht die Rückkehr zum Italum caelum erwähnt hätte, wenn sich Pompeius lediglich bei der Flotte des Sextus Pompeius vor Sizilien aufgehalten hätte.34 Ferner verwendet Horaz später in den Episteln im Rückblick auf die Landschlacht von Philippi ebenfalls das Bild der Brandung (aestus), die ihn selbst in den Kampf trug.35 Wie könnte man außerdem in carm. 2,7 das Adverb rursus und das Präfix re- in 32
Ebenfalls eine Unterwerfungsgeste der um Gnade Bittenden sehen darin etwa Edelstein (1941) 450, Büchner (1951a) 106, Kiessling/Heinze (1955) 188f., Quinn (1985) 211, Moles (1987) 66 sowie Syndikus (2001) I, 378 mit Anm. 30; auf die Gefallenen hingegen beziehen V. 11f. u.a. Meister (1952) 131, Anm 9, Mancuso (1955) 206, Nisbet/Hubbard (1978) 115, Connor (1987) 59, Romano (1991) 661 und Maurach (2001) 196, Anm. 11. – Die Verse 11f. sind überdies im Detail wie in ihrer Gesamtaussage hochumstritten: Ist die virtus des Cassius und des Brutus gemeint [Porphyrio und die pseudacronischen Scholien zur Stelle, Castiglioni (1937) 59, Magariños (1954) 216f., Kiessling/Heinze (1955) 188, Moles (1987) 63ff.] oder die seiner Soldaten [so ebenfalls die pseudacronischen Scholien zur Stelle; ferner z.B. Edelstein (1941) 448f., Quinn (1985) 211, Connor (1987) 59]? Oder etwa die (republikanische) virtus in Rom insgesamt [Seel (1972) 210, Schmidt (2002) 276]? Soll das Adjektiv minaces positiv [so z.B. Seel (1972) 212.233ff., Schmidt (2002) 276f.] oder negativ verstanden werden [so z.B. Alexander (1942) 24, Magariños (1954) 217f., Coppa (1956) 70, Moles (1987) 66, Maurach (2001) 196, Anm. 10]? Ob endlich turpe – eigentlich ja ein Adjektiv – ein ästhetisches oder ein moralisches Urteil ausdrückt, wollten schon die antiken Kommentatoren nicht entscheiden: »turpe solum aut cruore foedatum [...] aut [...] pro ›turpiter tetigere‹« erklärt Porphyrio zu V. 11f.; die pseudacronischen Scholien zu V. 12 paraphrasieren ähnlich: »aut cruentum aut quo prostrati turpiter precarentur«. Seel (1972) 231 greift zur Erklärung sogar auf Tyrtaios zurück. – Weil jene Kontroversen aber nichts zur Leitfrage dieser Untersuchung beitragen, können sie hier außer Acht gelassen werden. 33 Auch Porphyrio bemerkt zur Stelle: »allegoricos significat Pompeium post fugam illam impetu[m] quodam mentis petisse rursum partes Bruti.« 34 Vgl. Bleicken (1998) 210ff. und Syndikus (2001) I, 374, Anm. 6. 35 Epist. 2,2,47: civilisque rudem belli tulit aestus in arma [...].
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resorbens auf einer konkreten Ebene erklären, wo der Freund doch zuvor an einem Landkrieg teilgenommen hatte?36 Auf der bildlichen Ebene jedoch ergibt sich sogar eine gewisse Parallele der Schicksale des Sprechers und des Pompeius, die durch den Anklang von tulit (V. 16) an sustulit (V. 14) noch akzentuiert wird: »[Both] were carried by forces beyond their control«, formulieren Nisbet/Hubbard.37 Man kann also auch für diese Stelle einen metaphorischen Charakter konstatieren.38
4.3 Die Deutung der Merkurszene Rekapituliert man nun diese Beobachtungen, so kann man konstatieren, daß die Entrückung durch Merkur von einer Fülle anderer Bilder umschlossen wird. In diesen Bildern liegen jeweils Umschreibungen konkreter Geschehnisse vor, deren genauer, realer Verlauf ungenannt und damit unbekannt bleibt. Deswegen heben sich die Merkurverse nur durch das Auftreten eines Gottes vom Kontext ab, nicht prinzipiell durch ihre mit Unschärfe auf der realen Ebene einhergehende Bildhaftigkeit. Horaz will sich demnach in diesem Gedicht kaum als θεοφιλής darstellen, etwa indem er Merkur als seine persönliche Schutzmacht etablierte, um sein »Image« als Lyriker zu pflegen.39 Auch kann dieses Gedicht nicht als Beweis dafür herangezogen werden, daß Horaz ein »Geortetsein in einem Kräftesystem, das mit dem privaten Ich weder beginnt noch endet«, spüre.40 Vielmehr kann oder will 36
Vgl. auch Syndikus (2001) I, 379, Anm. 33. Nisbet/Hubbard (1978) 117. Vgl. auch Büchner (1951b) 15: »Beide haben damals ihr Schicksal nicht selbst gestaltet«. 38 Nachdrücklich vertritt Seel (1972) 207 diese Ansicht: Die Verse 15f. seien »von einer außerordentlichen Kraft gleichnishafter Veranschaulichung [...], ein geschliffener Kristall lyrischer Kunst, den man wahrlich nicht durch Preisgabe ihrer metaphorisch-bildhaften Funktion zur handfesten Sachandeutung verflachen soll.« – Beachtenswert ist auch, wie Nisbet/Hubbard (1978) 115 betont haben, der das Gedicht durchziehende Kontrast zwischen solum, aer und unda. 39 So Krasser (1995) 75 en passant. Daß diese These in carm. 2,7 wohl nicht zutrifft, sagt jedoch nichts über ihre Anwendbarkeit auf andere Oden aus. – Angedeutet findet sich die bei Krasser ausgeführte Ansicht auch z.B. bei Connor (1987) 57 (»provides a link with Horace’s calling to poetry«) und Davis (1991) 97 (»The role of the god Mercury in saving the speaker from mortal danger is in itself a vindication of the poet’s calling«); vorgeprägt ist sie schon in einer Alternativerklärung der pseudacronischen Scholien zu V. 13: »iucunde dixit se a Mercurio liberatum, vel quod ostenderet se furtim fugisse et celerem ostenderet fugam, vel quod poetae ad Mercurium pertinere dicuntur«. – Anders Seel (1972) 206: »Daß nicht dies die Absicht Horazens war, sich durch die Berufung auf die Macht einer personalen Gottheit, die ausgerechnet ihm – von rund hunderttausend Kombattanten bei Philippi – ihre spezielle Fürsorge habe angedeihen lassen, ein eitles Air von Erwähltheit und Auserlesenheit zu geben, das zu beweisen genügt die [...] vorhergehende [...] Strophe«. 40 So Seel (1972) 206, der ebd. 204 zwar nicht von einem »naiven« Glauben des Horaz an den olympischen Hermes/Merkur ausgeht, aber doch »so etwas wie ein ganz persönliches Intim37
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
der Dichter keine rational nachvollziehbare Darstellung der Ereignisse geben;41 deshalb greift er, um das Außergewöhnliche zu beschreiben, zu außergewöhnlichen, nach modernen Maßstäben unscharfen oder sogar irrationalen Erklärungsmustern. Pointiert formuliert, gebraucht Horaz hier ein Mythologem, um über den tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse nichts zu sagen.42 Das mythische Bild erfüllt somit vor allem »verrätselnde«, kaschierende Funktion.43 Daß Horaz gerade Merkur als errettenden Gott ausgewählt hat, könnte auf die heimliche Art des Entkommens hindeuten; Horaz wurde gewissermaßen aus Philippi »gestohlen« bzw. »stahl sich davon«, wie auch Porphyrio vermutet.44 Daß eine solche Formulierung aber weder als unangemessen kryptisch noch als anmaßend empfunden wurde, zeigt Porphyrios positives Qualitätsurteil über diese Aussageform: »iucunde autem a Mercurio se subverhältnis« des Dichters zu Merkur konstatiert. Diese Ansicht ist freilich eng verbunden mit der im Zusammenhang mit carm. 1,10 diskutierten Auffassung, Merkur sei der besondere Schutzpatron des Horaz gewesen (vgl. im II. Teil, Kap. 8.3.1). Diese Patronatsthese wird zur Erklärung von carm. 2,7 unter anderem herangezogen von Burck (1951) 51, Nisbet/Hubbard (1978) 115 (mit Vorbehalt), Quinn (1985) 211 und Lefèvre (1993) 215. – Schmidt (2002) 199f. geht weit über das im Text Gesagte hinaus: »Ähnlich ist es mit Philippi, wo einmal Merkur Retter war und zwar nach der Schlacht, kaum aus Lebensgefahr, sondern aus Verstörung und vor Verzweiflung (c. 2,7) – wo also der ›Sinn‹ der Errettung besonders deutlich wäre, nämlich Bewahrung vor Sinnverlust zu sein […] Es handelt sich vielmehr offenbar einerseits um die allgemeine Gefahr eines in einer großen Schlacht und dazu auf der unterliegenden Seite Kämpfenden und andererseits um die Gefahr seiner Verzweiflung nach Abbrechen der bisherigen Lebenslinie und nach Zerstörung der Grundlage seiner geistigen, moralischen und politischen Loyalitäten. Erst die Erfahrung von neuer Sinnfindung in frühaugusteischer Zeit und sinngebender Tätigkeit als Lyriker läßt Horaz überhaupt das Davongekommensein als Rettungsereignis erkennen und zum Erlebnis deuten, nachdem das Überleben nach Philippi zuerst von ihm wohl nur als sinnlos oder als quälende Schuld hatte erlebt werden können.« Einen Hinweis auf das Dichten nach Philippi sehen auch Castiglioni (1937) 59 (»ut quietiore scilicet vita frueretur versibusque condendis, cui rei unice natus esset, totum se traderet«) und Commager (1962) 171, Anm. 23 in der Gestalt des Merkur ausgedrückt. – Schwer nachvollziehbar ist die These von Miller (1991) 384: »that what really saved Horace on both occasions [= aus Philippi und beim Sturz eines Baumes] was not Mercury or his son but poetry.« 41 Vgl. Collinge (1961) 140: »The effect, even the intention, is to be as vague as possible about what really happened«. 42 Vgl. hierzu die Bewertung bei Harrison (2007) 25: »we are little wiser about what really happened.« 43 Diesen Effekt konstatiert auch Griffin (2007) 183: »After so disarming a performance, who is gauche enough to press the question: How, and on what terms, did you make peace with the winning side?« – Mutatis mutandis sind damit auch Komödienpassagen wie Plaut. Merc. 488 vergleichbar, siehe hierzu im I. Teil Kap. 5.6.4, S. 106. 44 Porphyrio zu V. 13f.: »significans clam et quasi furto quodam se inde fugisse. per celerem ergo Mercurium celeritatem fugae, per id, quod ait denso aere, latebras ipsius fugae intellegi vult.« Kritisch Collinge (1961) 141: »Porphyrion’s unimaginative misunderstanding of vv. 13-14 [...] should not be disguised as crafty insight.« – Dafür, daß die Entrückung durch Merkur eine Begnadigung durch Augustus symbolisiere, wie Lyne (1995) 120, Anm. 70 glaubt, lassen sich schwerlich im Text Anhaltspunkte finden. Aber auch Braccesi (1997) 603 glaubt, »con tutta probabilità« Merkur mit Augustus identifizieren zu können.
4. carmen 2,7
235
latum de illa caede dicit« (zu V. 13f.). Ferner darf man auch einen humorvollen Unterton hierbei nicht verkennen: Der Sprecher überspielt die schlimmen früheren Erlebnisse mit einem Scherz.45
4.4 Der Ausklang der Ode Die schönen und auch die leidvollen Ereignisse der Vergangenheit mußten erst wieder in Erinnerung gerufen werden, um die gemeinsame Basis der Freundschaft zu klären. Jetzt erst (ergo, V. 17) kann der Aufruf zum Fest erfolgen:
20
ergo obligatam redde Iovi dapem longaque fessum militia latus depone sub lauru mea, nec parce cadis tibi destinatis! oblivioso levia Massico ciboria exple, funde capacibus unguenta de conchis! quis udo deproperare apio coronas
25
20
curatve myrto? quem Venus arbitrum dicet bibendi? non ego sanius bacchabor Edonis. recepto dulce mihi furere est amico. Also bringe Juppiter das geschuldete Opfermahl dar und lege deinen Leib, vom langen Kriegsdienst erschöpft, nieder unter meinem Lorbeer, und schone nicht die Krüge, die für dich bestimmt sind! Mit Massiker, der Vergessen schenkt,46 mach’ die glatten Becher voll; gieß’ aus den vielfassenden Fläschchen Salböl! Wer trägt Sorge dafür, aus feuchtem Eppich rasch Kränze zu flechten
45 Vgl. auch Fraenkel (1957) 13, Collinge (1961) 139f., Anm. 1 (die Entrückung sei ein »literary joke«) und Romano (1991) 659 (»Con gioco elegante e ironico, il poeta trasfigura l’episodio, facendone una vera e propria avventura epica«). – Als Parallele dazu kann man – mit den nötigen Einschränkungen – beispielsweise die sogenannte Schwätzersatire (sat. 1,9) anführen, welche mit der lustigen Bemerkung sic me servavit Apollo (V. 78) endet. In dieser Satire wird eine glückliche Wendung in einer freilich unbedeutenden Angelegenheit durch einen scherzhaften Hinweis auf die Intervention eines Gottes kommentiert. – Auf mögliche Berührungspunkte mit der Komödie wurde schon in Anm. 43 verwiesen. – Keinesfalls aber sollten die ernsten Seiten der Ode marginalisiert werden. Deshalb geht Lessing (1838) 30 deutlich zu weit, wenn er resümiert: »Kurz, die ganze siebende Ode des zweyten Buchs ist nichts als ein Scherz.« 46 Die Nähe von oblivioso zum griechischen Adjektiv λαθικηδής stellt Broccia (1989-90) 645ff. anhand einschlägiger Beispiele dar.
236
II. Teil: Einzeluntersuchungen oder aus Myrte? Wen wird die »Venus« zum Symposiarchen ernennen? Ich werde nicht vernünftiger im Rausch rasen als die Edonen. Angenehm ist es mir, ganz ausgelassen zu sein, weil ich wiederbekommen habe den Freund.
25
In diesem Schlußteil, der sich ganz auf das Hier und Jetzt richtet, wird Pompeius zum Opfer an Juppiter und anschließend zum ausgelassenen Trinkgelage aufgefordert, wobei die in der zweiten Strophe geschilderten früheren Gewohnheiten nun in Handlung umgesetzt sind.47 In ganz ausgelassener Stimmung soll die Rückkehr des Freundes unter Horazens Lorbeerbaum48 gefeiert werden, wobei der Autor zum eindrucksvollen Bild der rasenden Thraker und zu dem drastischen Verb furere greift.49 Ein deutlicher Anstieg des Tempos ist daran abzulesen, daß in den letzten drei Strophen jeweils alle Verse einer Strophe durch Enjambements verbunden sind. Die Ode endet mit dem Substantiv amico, welches noch einmal das Verhältnis zwischen dem Sprecher und Pompeius schlicht, aber eindrücklich benennt.50 Es bleibt noch ein scheinbares Mythologumenon, das nur durch Kenntnis der Realien erklärt werden kann. In den Versen 25f. stellt der Sprecher die Frage, wen Venus zum Symposiarchen ernennen werde (quem Venus arbitrum / dicet bibendi?). Dieses unvermittelte Auftreten der Liebesgöttin jedoch läßt sich folgendermaßen erklären: Bei der Venus handelt es sich um
47
Ähnlich auch z.B. Büchner (1951a) 108. Vergleichbar mit diesen in Imperative und Fragen umgesetzten Festvorbereitungen sind z.B. carm. 3,14,17 (i, pete unguentum, puer etc.) und carm. 2,11,21ff. (quis devium scortum eliciet domo / Lyden? etc.). 48 Ob Horaz mit sub lauru mea auf seine Erfolge als Dichter anspielen will oder jedenfalls diese Baumart als Symbol des Dichters gewählt hat, wie es z.B. die pseudacronischen Scholien zur Stelle, Connor (1987) 58, Moles (1987) 69, Davis (1991) 96 und Syndikus (2001) I, 375 für denkbar halten, läßt sich schwerlich entscheiden. Sollte dem so sein, ließe sich der oben dargestellten Reihe bildhaft-unbestimmter Ausdrücke (Kap. 4.2) noch dieser hinzufügen. – Zum Lorbeer als Symbol der Dichter vgl. Kambylis (1959) 9-17. 49 Diese unbändige Ausgelassenheit findet sich in den Oden sonst nur noch in carm. 3,19,18 (insanire iuvat) und in carm. 4,12,28 (dulce est desipere in loco), während Horaz sonst immer zu maßvollem Weingenuß aufruft (vgl. z.B. carm. 1,18,7ff.). – Darauf, daß die Edonen vielleicht Hilfstruppen für Brutus’ Armee stellten, wie Moles (1987) 69, Anm. 33 vermutet, wird in V. 27 wohl kaum angespielt. Tatsächlich aber lassen sich die Edonen ungefähr im geographischen Raum der Schlacht von Philippi lokalisieren, wie z.B. Mancuso (1955) 205 und West (1998) 53 hervorheben. Doch wie ließe sich eine solche Anspielung auf die Vergangenheit mit der deutlichen Hinwendung zur Gegenwart vereinbaren, welche das Ende der Ode dominiert? Daß Horaz das Adjektiv Edonus auch sonst gerne in bacchantischen Zusammenhängen verwendet, zeigt carm. 3,25,8f. (non secus in iugis // Edonis stupet Euhias). 50 Auffällig ist, daß auch die vorhergehende Ode 2,6, ebenfalls ein Freundschaftsgedicht, mit amici endet. Beide Oden zeigen ferner in der ersten Strophe den präpositionalen Ausdruck mecum. Zum Verhältnis der beiden Oden vgl. z.B. Burck (1951) 54f., Collinge (1961) 131ff., Ludwig (1970) 101ff. und Santirocco (1986) 85f.
4. carmen 2,7
237
den bestmöglichen Wurf bei einem Würfelspiel, bei dem man tali, ursprünglich aus Knochen gefertigte längliche »Würfel«, verwendete.51
4.5 Fazit Bei der Untersuchung von carm. 2,7, einem Epibaterion an Horazens resp. des Sprechers Freund Pompeius, stand die Frage nach der Funktion der Verse 13f. im Vordergrund. Daß die Behauptung »Merkur hat mich aus der Schlacht von Philippi gerettet, indem er mich in einen Nebel einhüllte« nicht wörtlich verstanden werden soll, erschien evident, zumal Details der Darstellung deutlich auf Passagen der Ilias als Praetexte verweisen. Die Analyse des Kontextes ergab, daß sich um die Errettungsszene herum zahlreiche andere Bilder gruppieren, in denen Ereignisse nicht konkret benannt, sondern (meist metaphorisch) umschrieben werden, wobei auch hier partiell auf Referenztexte verwiesen wird. Dieser Befund ließ es unwahrscheinlich erscheinen, daß Horaz sich in dieser Ode auf autobiographischer oder symbolischer Ebene als Merkurs besonderer Schützling, als θεοφιλής, darstellen will. Vielmehr konnte plausibel gemacht werden, daß der Autor sich der Merkurszene bedient, um sich über den tatsächlichen Hergang seiner Flucht aus Philippi in Schweigen hüllen zu können. Dieses Mythologumenon erfüllt demnach hier wohl »verrätselnde«, kaschierende Funktion; eine Verwendungsweise, der – mutatis mutandis – aus der Komödie gewisse Parallelen an die Seite gestellt werden konnten. Dabei werden die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bzw. Mythos bewußt verwischt, so daß keine klare Trennung mehr möglich ist. Die Auswahl gerade des Hermes/Merkur, eines Gottes, der im wichtigen Praetext Ilias keine derartigen Rettungstaten vollbringt, ist in diesem Gedicht wohlbegründet, allerdings kaum deshalb, weil dieser Gott Patron der Dichter ist, sondern vielmehr, weil gerade der Gott der Diebe und der Grenzüberschreitung beim Entkommen aus einer solchen Gefahr helfen kann.
51 Vgl. Porphyrio zu V. 25f.: »Venerius autem iactus [Konjektur von Fabricius; überliefert ist: la&us] in talis summum numerum habet«. Für eine Venus müssen alle tali auf verschiedenen Seiten zum Liegen kommen. Vgl. ferner Suet. Aug. 71,2 und Mart. 14,14.
5. carmen 1,6
Die an Marcus Vipsanius Agrippa, den Feldherrn und späteren Schwiegersohn des Augustus,1 gerichtete Ode 1,6 hat eine bewegte Vergangenheit: Wie Eduard Fraenkel referiert, kam sie vielen Gelehrten so schwierig vor, daß diese »brutale Gewaltmaßnahmen ergriffen«2, um ihr eine ihrer Meinung nach verständlichere oder angemessenere Form zu geben. Indes bietet diese Ode Mythologumena in bemerkenswertem Kontext: Mit L. Varius Rufus, einem angesehenen Epiker und Tragiker, tritt ein anderer augusteischer Dichter auf,3 mit dessen Art zu dichten Horaz4 seine eigene Form der Poesie kontrastiert. Schließlich liegt in einer mythischen Passage ein textkritisches Problem vor, zu dessen Klärung die Untersuchung der Funktion der Mythologeme an jener Stelle beitragen kann.
5.1 Die Verse 1-16 im Überblick Die Ode beginnt mit folgender Ankündigung: scriberis Vario fortis et hostium victor Maeonii carminis alite, qua rem cumque ferox navibus aut equis miles te duce gesserit.
v.l.: quam5
Beschrieben wirst du werden von Varius als Held und der Feinde Besieger, von Varius, mäonischen Liedes Schwan, wo auch immer kriegerisch zu Schiff oder zu Pferd der Soldat unter deiner Führung gekämpft hat. 1 Zur Person des Adressaten vgl. z.B. Nisbet/Hubbard (1970) 80 und Cairns (1995) 212 mit weiterführender Literatur. 2 Fraenkel (1957) 176. 3 Aus Horazens gesamtem Werk geht deutlich hervor, wie sehr er Varius als Menschen, Kritiker und Künstler schätzte: sat. 1,5,39ff.93; 1,6,54f.; 1,10,43f.81ff.; 2,8,20f.63f.; epist. 2,1,247; ars 53ff.; in komischer Brechung auch sat. 1,9,22f. Weitere Literatur zu Varius bei Nisbet/Hubbard (1970) 81. Eine umfassende Darstellung zu diesem Dichter hat Wimmel (1983) 1562-1621 vorgelegt. 4 Daß der Sprecher vielleicht nicht mit Horaz identisch sein könnte, wird nirgends signalisiert. Daß Horaz vielleicht dennoch eine persona trägt, ist dadurch jedoch nicht ausgeschlossen. 5 Vgl. die überzeugenden Bemerkungen von Brink (1969) 1f. zu der von den sogenannten codices deteriores gebotenen Lesart qua.
5. carmen 1,6
239
Horaz eröffnet dieses Gedicht mit der Versicherung an den vorerst noch nicht namentlich genannten Agrippa, dieser werde als tapferer, siegreicher Feldherr von Varius, dem Schwan des mäonischen Liedes/Gedichtes, besungen werden. Der Schwan gilt traditionell als Symbol für Dichter,6 so daß zum Beispiel Horaz in carm. 2,20 seine Verwandlung in einen Schwan beschreiben kann (vor allem V. 10: album mutor in alitem); auch Pindar wird in carm. 4,2,25 als »dirkäischer Schwan« beschrieben (allerdings mit dem Substantiv cycnus). Das Adjektiv Maeonius wiederum löst mehrere Assoziationen aus: Die ursprüngliche Bedeutung »lydisch« kann aufgrund der Erzählung, Homer stamme aus Lydien, zu »homerisch, episch« erweitert werden. Zu dieser Bedeutung führt auch eine andere Tradition, die den Lyderkönig Maion als (Stief-)Vater Homers nennt.7 Überdies steht die Landschaft Mäonien auch mit Schwänen in Verbindung, wie Howard Jacobson gezeigt hat.8 Der Verweis auf Varius ist also sehr ehrenvoll für diesen formuliert: Hinsichtlich seiner poetischen Qualitäten wird Varius durch die Wendung Maeonii carminis alite in homerische Sphären emporgehoben. In diesem Kontext kann nun auch dem Prädikat scriberis eine präzisere Bedeutung abgewonnen werden: Der Epiker Varius wird, so zumindest Horaz, ein Werk über Agrippa verfassen, in dem er Augustus’ Admiral und die unter seinem Kommando zu Lande und zur See9 vollbrachten Taten preisen wird; scriberis bedeutet hier also: »Du wirst in einem historischen Epos feierlich besungen werden.«10 6
Vgl. z.B. Nünlist (1998) 48ff. Belegstellen sind aufgeführt bei Kiessling/Heinze (1955) 35 und Nisbet/Hubbard (1970) 84. 8 Jacobson (1987) 648. Genannt seien nur Kall. h. 4,249f. (κύκνοι δὲ †θεοῦ μέλποντες ἀοιδοί†/ Μῃόνιον Πακτωλὸν [...] λιπόντες) und Ov. met. 2,252f. (quae Maeonias celebrabant carmine ripas / flumineae volucres). 9 In der Verbindung ferox [...] equis vermutet Cairns (1995) 213 eine Pseudoetymologie des Namens Agrippa, nämlich einen Verweis auf die angeblichen griechischen Bestandteile ἄγριος und ἵππος. Dieser Ansatz kann hier ebensowenig verfolgt werden wie sein Vorschlag ebd. auf S. 214ff., Diomedes spiele deshalb in der vierten Strophe eine prominente Rolle, weil er nach dem Trojanischen Krieg in Italien die – an den Namen des Adressaten erinnernde – Stadt Argyrip(p)a gegründet habe. 10 Grammatikalisch auffällig ist Vario [...] alite in Verbindung mit dem Passiv scriberis. Mag man bei Vario noch versucht sein, an einen Dativus auctoris zu denken, so wird dies beim Blick auf alite unmöglich. Hält man am überlieferten Text fest und konjiziert nicht mit Jean Passerat aliti, muß man hier von einem präpositionslosen Ablativ der handelnden Person ausgehen (wie z.B. Ov. met. 7,49f.: perque Pelasgas / servatrix urbes matrum celebrabere turbā und Sil. 13,409: cetera quae poscis maiori vate canentur). Vgl. dazu Richardson (1936) 118-120, Kiessling/Heinze (1955) 35 und Nisbet/Hubbard (1970) 84. – Elaboriert erscheint die auf Porphyrio und die pseudacronischen Scholien (jeweils zu V. 2) zurückgehende Auffassung, Maeonii carminis alite sei von Vario zu trennen; es handele sich dabei um eine modale Angabe im Sinne von »unter dem Vorzeichen mäonischen Sanges« [so z.B. auch Plessis (1924) 22, Richardson (1936) 118 und Ferreira (1962) 356]. Zwar lassen sich Belege für diese Bedeutung von ales aus Horaz anführen (epod. 10,1: mala [...] alite; 16,23f.: secunda [...] alite; carm. 3,3,61: alite lugubri; 4,6,23f.: potiore [...] alite), doch wird in all diesen Fällen durch ein Adjektivattribut der Sinn unmißverständlich 7
240
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Nachdem dem Admiral eine panegyrische Würdigung der unter seinem Kommando vollbrachten Kriegstaten von Seiten des Varius zugesichert ist,11 setzt die zweite Strophe die horazische Poesie pointiert gegen diese Ankündigung ab: 5
nos, Agrippa, neque haec dicere nec gravem Pelidae stomachum cedere nescii nec cursus duplicis per mare Ulixei nec saevam Pelopis domum // conamur,
5
Wir, Agrippa, versuchen weder, dies zu besingen noch den schlimmen Groll des Peliden, der nicht nachzugeben verstand, noch die Fahrten des doppelzüngigen Odysseus über das Meer, noch das grausame Haus des Pelops,
Horaz wird also weder die in der ersten Strophe genannten historischen Kriegstaten besingen noch sich an den großen mythischen Stoffen versuchen. Anstatt sich jedoch bei dieser Aussage prosaisch klingender Literaturtermini zu bedienen, drückt der Dichter die Stoffe und Genera, die er nicht behandeln will, sehr anschaulich aus, indem er sogleich nach konkreten Themen und Personen greift, die in diesen Gattungen auftreten. Doch nicht nur Personen, sondern auch wesentliche Handlungselemente ganz spezieller Epen, nämlich der Ilias und der Odyssee, werden erwähnt: Der Ausdruck gravem / Pelidae stomachum cedere nescii stellt eine Synthese zweier IliasVerse dar: gravem / Pelidae stomachum hat einen Praetext in Ilias 1,1f.: μῆνιν […] Πηληϊάδεω […] / οὐλομένην [...]; cedere nescii rekurriert auf Ilias 9,678: κεῖνός γ’ οὐκ ἐθέλει σβέσσαι χόλον [...]. Auch die Irrfahrten (cursus, V. 7) des Odysseus, der in Anlehnung an das griechische Adjektiv πολύτροπος das Attribut duplex erhält,12 setzen sogleich einen »greifbaren« Insignalisiert. Auch die von MacKay (1942-43) 537f. vorgeschlagene Auffassung von alite als Synonym für volatu vermag nicht zu überzeugen; ebensowenig Quinn (1985) 135, der »on the wings of epic poetry« vorschlägt. In carm. 2,20, einer poetologischen Kernaussage, wird doch gerade ales in seiner Grundbedeutung gewählt, um die Verwandlung des Dichters in einen Schwan zu beschreiben (V. 10: album mutor in alitem). Daher erscheint es auch unangemessen, wenn Ahern (1991) 310 formuliert: »Varius is here portrayed in colors so gorgeous as to make him a figure of amusement«. – Im Übrigen wird Varius von Vergil ausdrücklich als Schwan bezeichnet (ecl. 9,35f.): nam neque adhuc Vario videor nec dicere Cinna / digna, sed argutos inter strepere anser olores. – Eine deutliche Affinität der Ode zu Vergils Eklogen beobachtet Smith (1994) 502505. 11 Daß Agrippa von Varius tatsächlich (mit-)gefeiert worden ist, legen die Nachrichten über einen Panegyricus Augusti dieses Dichters nahe; vgl. dazu Wimmel (1983) 1605-1614. 12 Die Scholien zu Hom. Od. 1,1 weisen πολύτροπος als Antonym von ἁπλοῦς καὶ γεννάδας aus; duplex aber ist wiederum das Gegenteil von ἁπλοῦς. – Freilich ist auch der schon in den Scholien diskutierte Bezug von duplicis auf cursus möglich. Da die Strophe aber reich an Hyperbata ist (gravem [...] stomachum; Pelidae [...] nescii; saevam [...] domum), wird man vielleicht auch hier eher ein Hyperbaton vermuten und duplicis auf Ulixei beziehen.
5. carmen 1,6
241
halt an die Stelle eines bloßen Etikettes wie etwa »(Nostos-)Epos«. Zugleich läßt sich, wie Walter Wimmel herausgestellt hat, die IliasAnspielung als Fortführung von equis (Schlachten zu Lande), die OdysseeAnspielung aber als Fortführung von navibus (Taten zur See) auffassen.13 Das gleiche Streben nach Konkretheit und Anschaulichkeit zeigt sich auch in der Ausdrucksweise für die Tragödie: Mit der Erwähnung der saeva Pelopis domus spielt Horaz wohl auf den Tragödienstoff der Brüder Atreus und Thyestes an. Wiederum also wird hier eine Metonymie des Typs »Inhalt statt Genos« angewandt, die die Schilderung individueller und interessanter macht. Darüber hinaus könnte in dem Faktum, daß gerade dieser Tragödienstoff als Beispiel gewählt wurde, auch ein Kompliment an den in Vers 1 genannten Varius vorliegen, der ein Thyestesdrama verfaßt hatte.14 Der Grund, warum Horaz weder die Kriegstaten des Agrippa noch epische oder tragische Stoffe behandelt, wird in den Versen 9-12 expliziert: [non] conamur, tenues grandia, dum pudor imbellisque lyrae Musa potens vetat laudes egregii Caesaris et tuas culpa deterere ingeni.
10
[dies] versuchen wir [nicht], wir Geringen Erhabenes, solange Scham und die Muse, die die unkriegerische Lyra beherrscht, es verbieten, des hervorragenden Caesar und deine Ruhmestaten durch die Schuld des Talents zu schmälern.
10
In typischen Formen der recusatio, der Ablehnung eines langen epischen Gedichtes auf einen Zeitgenossen bzw. auf zeitgenössische Ereignisse, beschreibt Horaz, warum er ein solches Gedicht nicht verfassen kann:15 Er selbst bezeichnet sich mit dem quantifizierenden Adjektiv tenues als gering und schlicht. Bemerkenswert an dieser scheinbaren Selbstverkleinerung ist, daß diese Qualitäten, die in der hellenistischen Tradition vielfach literari13
Wimmel (1983) 1606. Vgl. Quint. inst. 10,1,98: Vari Thyestes cuilibet Graecarum comparari potest (»Der Thyestes des Varius kann jeder beliebigen der griechischen [Tragödien] als ebenbürtig gegenübergestellt werden«) und zur Nachwirkung Tac. dial. 12,6. – Der Thyestesstoff scheint der Tragödienstoff par excellence gewesen zu sein, da Horaz in ars 90f. die cena Thyestae stellvertretend für die Tragödie nennt. Deshalb ist es auch weniger wahrscheinlich, daß Horaz bei saevam Pelopis domum an den epischen Kyklos gedacht hat, wie z.B. Mette (1961) 136, Sisti (1967) 79 und Quinn (1985) 134 vermuten. 15 Die nun folgenden, für die recusatio typischen Formen bzw. Argumente dieser Ode arbeitet Wimmel (1960) 188-192 heraus. – Recusationes sind ein Motiv, mit dem Horaz sich vielfach und in verschiedenen Gattungen beschäftigt hat. Genannt seien nur sat. 2,1,10ff.; carm. 1,19,10ff.; 2,12,13ff.; 4,2,33ff.; 4,15,1ff. und epist. 2,1,250ff. Abbruchformeln finden sich überdies in carm. 2,1,37ff. und 3,3,69ff. Somit kann man die Feststellung von Lefèvre (1993) 144 noch ausweiten: Horaz zeigt nicht nur, daß sich Panegyrik nicht mit der Oden-Dichtung vereinbaren läßt; sie läßt sich auch nicht mit den anderen von Horaz gepflegten Gattungen vereinbaren. 14
242
II. Teil: Einzeluntersuchungen
schen Werken als Ideal zugeschrieben werden,16 hier auf die Person des Künstlers übertragen sind. Horaz spricht damit aber zugleich über die Eigenart seiner Dichtung: Das Adjektiv tenues stellt den Kernbegriff der Ode dar, ein Stilbekenntnis; es wird sowohl durch das antithetische Adjektiv grandia als auch durch seine Stellung in der zentralen Strophe des Gedichtes hervorgehoben: Das kleine, aber vollendete Kunstwerk liegt ihm am Herzen; erhabene Stoffe in Großformen – wobei in grandia (V. 9) historische bzw. mythologische Epik und tragische Dichtung zusammengefaßt werden – sind nicht sein Genos.17 Doch liege dies nicht an ihm, so fährt er fort; vielmehr habe er gar nicht die Erlaubnis zu dieser Art von Dichtung: Seine Scham und die Muse, die (nur) die unkriegerische Dichtung beherrsche – denn das ist metonymisch mit imbellis[...] lyrae in Vers 10 gemeint –, verböten sie ihm. In dem Substantiv Musa wiederum können zwei Bedeutungsebenen erfaßt werden: Einerseits darf man in Musa wohl eine Metonymie für »Begabung, Dichtkunst« sehen, also eine gewisse Parallele zum ingenium (V. 12). Die Junktur imbellisque lyrae Musa potens stellt mit einem gewissen Stolz dar, daß Horaz durchaus ein begabter Dichter ist, der seine eigene Gattung beherrscht. Doch bei dieser handelt sich eben nicht um das (primär kriegerische Themen behandelnde) Epos. Wagte sich Horaz an die laudes Caesaris et Agrippae, müßte er sich nach eigenen Angaben die culpa ingeni eingestehen.18 Andererseits tritt mit der Musa eine Art Warnfigur auf, die ein solches Unterfangen aufgrund seiner Schwierigkeiten verbietet,19 ein äußeres Pen16
So betont Kallimachos u.a. in seinem programmatischen Aitien-Prolog (fr. 1,17ff.) die Bedeutung des Kleinen und Feinen: αὖθι δὲ τέχνῃ / κρίνετε,] μὴ σχοίνῳ Περσίδι τὴν σοφίην· [...] ἀοιδέ, τὸ μὲν θύος ὅττι πάχιστον / θρέψαι, τὴ]ν Μοῦσαν δ’ ὠγαθὲ λεπταλέην [...]. Vgl. Hor. sat. 2,6,14f. (zu Merkur): pingue pecus domino facias et cetera praeter / ingenium [...]. – Eine Sammlung zentraler Stellen der griechischen und römischen Literatur, welche die Begriffe λεπτός, λεπτάλεος und tenuis erhellen, bietet Syndikus (2001) I, 89, Anm. 9. Zum Adjektiv tenuis speziell bei Horaz vgl. Mette (1961) 136-139. 17 Über mißlungene Versuche zeitgenössischer Epen hatte sich Horaz bereits in sat. 1,10,36f. und 2,5,40f. lustig gemacht. Generelle Attacken gegen Dichter, die künstlerische Perfektion zu Gunsten der schieren Masse vernachlässigen, wurden u.a. in sat. 1,4,13ff.; 1,9,23f. und 1,10,56ff. vorgetragen. Beinahe überall präsent wird dieses Thema in der ars sein. 18 Ähnlich Kiessling/Heinze (1955) 37: »H. entschuldigt sich keineswegs mit poetischem Unvermögen schlechthin [...] das tenue seiner Begabung ist gegenüber dem grande eher ein Unterschied der Art als des Grades«. Wimmel (1960) 188 spricht von »mit Stolz gepaarte[r] Selbstbescheidung«. 19 Erwähnenswert ist im Kontext der Muse als Warnerin und Mahnerin vielleicht, daß Mnemosyne, die Mutter der Musen, bei Livius Andronicus (Odusia, fr. 21) Moneta heißt, also zumindest (volks-)etymologisch mit dem Verb monere in Verbindung gebracht werden kann. Ähnliche Warnergestalten bei Horaz sind Quirinus in sat. 1,10,32 (vetuit me tali voce Quirinus: Abkehr von den Graeci versiculi) und Apollon in carm. 4,15,1f. (Phoebus volentem proelia me loqui / victas et urbis increpuit lyra). – Auch bei Kallimachos hatte Apollon sich normativ zur Poesie geäußert
5. carmen 1,6
243
dant zum durch pudor bezeichneten inneren Bereich. Doch gerade diese apologetischen Ausführungen über die Schwierigkeiten einer adäquaten Darstellung und Würdigung lassen die Taten der Nicht-Besungenen übermenschlich erscheinen. Daß Oktavian dabei das Adjektiv egregius erhält, welches Horaz auch Regulus, einem großen Helden der römischen Geschichte, verleiht,20 versüßt die Zurückweisung ein wenig.21 In einem zweiten »Anlauf« (V. 13-16) wird die Frage nach der Möglichkeit, bestimmte Stoffe zu behandeln, auf den Kampf um Troja konzentriert:22
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quis Martem tunica tectum adamantina digne scripserit aut pulvere Troico nigrum Merionen aut ope Palladis Tydiden superis parem? Wer dürfte wohl Mars, mit stählerner Tunika bedeckt, würdig beschreiben oder den vom troischen Staub schwarzen Meriones oder den Tydeussohn, durch Pallas’ Hilfe den Göttern des Himmels gewachsen?
(h. 2,105ff.); vgl. im I. Teil Kap. 5.7. Zu den Unterschieden zwischen der kallimacheischen recusatio und ihrer augusteischen Ausprägung vgl. z.B. die Bemerkungen von Williams (1968) 46f. und Günther (1999) 145f.: »[Es ist] wichtig festzuhalten, daß Kallimachos’ Polemik sich nicht gegen einen bestimmten Stoff, noch nicht einmal gegen ein bestimmtes literarisches Genos richtet, sondern wesentlich von bestimmten stilistischen Qualitäten spricht. […] Die Augusteer beziehen sich in ihren recusationes gewiß pointiert auf Kallimachos’ Polemik […] im Vordergrund steht bei ihnen jedoch zunächst ein stofflicher Gegensatz«. 20 Carm. 3,5,48. Überdies findet man auch in carm. 3,25,4 die Verbindung egregii Caesaris. 21 Natürlich liegen die Verhältnisse nicht so offen, daß man bedenkenlos von »Zurückweisung« oder von Agrippa als »Versucher« [so Mette (1961) 136] sprechen könnte. Ob es von Seiten Agrippas oder gar Oktavians einen zumindest halb-offiziellen Auftrag für ein preisendes Gedicht gab, wie z.B. Plessis (1924) 21, Kiessling/Heinze (1955) 33f. und Lefèvre (1993) 143 meinen, läßt sich kaum mehr entscheiden; dagegen spricht jedenfalls die Notiz bei Suet. Aug. 89,3 über Oktavians Zurückhaltung in solchen Dingen. Als weniger anlaßgebunden erscheint die Ode in der Darstellung von Nisbet/Hubbard (1970) 83: »Our poem should not be taken more seriously than Horace intended. [...] Horace is just as much concerned to flatter and to tease his old friend Varius [...] it must have amused and gratified, if not Agrippa, at any rate Varius«; zurückhaltend auch Quinn (1985) 133. Zu einseitig allerdings akzentuiert wohl Ahern (1991) 313, wenn er Agrippa und Oktavian zur bloßen Verzierung degradiert sieht (»belonging essentially to a conversation about literary principles, to which contemporary names had been added as grace notes«). – Allgemein konstatiert Sisti (1967) 77: »Anche quando è ormai divenuta un vero e proprio artificio letterario, la recusatio presuppone una richiesta, un committente e quindi essa è strettamente connessa con il fenomeno del mecenatismo e, in genere, con la poesia di corte.« Das andere Extrem vertritt Williams (1968) 102f.: »the hypothesis that they had been urged or merely felt the inspiration to write in epic form about the deeds of Augustus may be treated as an invention; it provided a framework in which they could both praise the regime and express their own views«, und auch für Voisin (2002) 355 steht die »finalité littéraire« im Vordergrund. Einen ausführlicheren Überblick über diese Diskussion bieten Nannini (1982) 71f. und Syndikus (2001) I, 87, Anm. 3. 22 Die mit dieser Strophe verbundenen textkritischen Probleme werden weiter unten in Kap. 5.3 im Zusammenhang mit der Funktion der mythischen Elemente behandelt.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
5.2 Zur Bewertung der Verse 13-16 Auffälligerweise sind alle drei der Diomedie im fünften Buch der Ilias entnommenen Beispiele23 in diesen Versen eher statisch: Zwar geben sie Bilder aus dem Kampf um Ilion wieder, zeigen aber keine voranschreitende Handlung.24 Denkbar wäre, daß Horaz durch diese Art der Nennung praktisch vorführen wollte, wie schwierig es ist, diesen Stoff dynamisch darzustellen.25 Zu weit aber geht wohl Wimmel, der allein in dem Partizip tectum ausgedrückt sehen will, daß sich dieser Stoff dem poetischen Zugriff entziehe:26 Eine Rüstung bedeckt nun einmal denjenigen, der sie trägt; ein Verdecken im Sinne eines »Unsichtbar-Machens« wird nicht unbedingt impliziert. Auch seine These, daß die Wendung pulvere Troico / nigrum Merionen »das Niedrige, Nackt-Brutale der Kampfwirklichkeit als poetisch unfaßbar« zeige,27 kann wohl mit dem Hinweis entkräftet werden, daß zum Beispiel in carm. 1,1 vom aufgewirbelten Staub in Olympia die Rede ist (pulverem Olympicum / collegisse iuvat, V. 3f.), ohne daß dort jemand an die poetische Unfaßbarkeit des Niedrigen, Nackt-Brutalen des Rennsportes denken möchte. Wie aber sind die mit mythischen Inhalten befaßten Verse 13-16 von ihrer sprachlichen Qualität und ihrer szenischen Anlage her zu beurteilen? Steele Commager spricht von einer geschickten Zurschaustellung eigener Fähigkeiten, und auch Wimmel erkennt der Passage »symbolische Kraft« zu.28 Gegen diese positive Bewertung erhoben sich jedoch schon bald Stimmen, die einzelne Züge des Gedichtes für weniger geglückt oder jedenfalls unhomerisch hielten, diese unhomerischen Farben aber zum Teil mit dem Verweis auf andere Quellen zu erklären suchten.29 Diese Kritik kulminiert 23
Mars im stählernen Panzer stellt eine Erweiterung des in der Diomedie auftretenden χάλκεος ῎Αρης dar; Meriones begegnet – allerdings ohne Verweis auf Staub – in Il. 5,59ff., und Pallas Athene tritt als Helferin des Diomedes in Il. 5,825ff. auf. 24 Vielleicht jedoch zu entschieden Lowrie (1997) 100: »Horace’s version is completely static; it does not contain a true verb.« – Im Übrigen ist auch in den Versen 5-8 kein finites Verb vorhanden, das Handlung ausdrückte. 25 Doch finden sich solche statischen Bilder der Kämpfe vor Troja als Kontrast zum eigentlichen Inhalt des eigenen Gedichtes auch schon bei den griechischen Chorlyrikern Alkman (fr. 1/1 und Ibykos (fr.1/282), so daß Syndikus (2001) I, 90f. die breite Entfaltung homerischer Themen als lyrischen Topos ansieht. 26 Wimmel (1960) 190. 27 Ebd. 190. 28 Ebd. 190; Commager (1962) 114: »he manages with equal adroitness to demonstrate the very ability he disclaims«; allerdings sieht er (ebd. auf S. 71, Anm. 25) gewisse (absichtlich eingebaute) Fehler in der zweiten Strophe. 29 Axelson (1945) 112 folgert aus der Verwendung des Substantivs stomachus, daß »dieser grosse Sprachkünstler trotz allem als Lyriker kein allzu sicheres Stilempfinden besessen habe«; Nisbet/Hubbard (1970) 88 bemerken zu pulvere nigrum: »Again the touch is un-Homeric«, und in der Gruppierung der Personen der vierten Strophe sehen sie ebd. eine »non-Homeric association«.
5. carmen 1,6
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in einer Arbeit von Charles F. Ahern, der seines Erachtens »schiefe« Übersetzungen homerischer Wendungen aufspürt und die »falsche«, da unhomerische Personenkonstellation der vierten Strophe durch den Hinweis auf eine andere Tradition erläutert.30 Damit verbindet Ahern allerdings kein abwertendes Qualitätsurteil über Horaz; vielmehr glaubt er, der Autor habe diese Fehler absichtlich begangen, um einerseits die Bemühungen zeitgenössischer Epiker zu unterminieren und um andererseits durch seine alexandrinisch kontaminierten »falschen« Versionen seine eigene Vorliebe für das kallimacheische Kunstideal zu illustrieren.31 Sind hier, wie Hans Peter Syndikus formuliert, die »philologischen Sonden nicht etwas zu fein zugespitzt?«32 Grundsätzlich sind beide Möglichkeiten denkbar: Horaz könnte sein (geheucheltes) Unvermögen durch absichtliche Fehler illustrieren; ebenso vorstellbar (wenngleich etwas weniger plausibel) ist aber auch, daß er sein Talent zum »Homerisieren« zeigen will, obwohl er es im gleichen Gedicht in Abrede stellt. Unbestreitbar ist jedenfalls, daß einige Anomalien in der Wortwahl33 und einige unhomerisch erscheinende Elemente (Personenkonstellation, Anachronismus der stählernen Rüstung, staubbedeckter Kämpfer) zu verzeichnen sind;34 ob diese Dinge echte Versehen oder poetologische Raffinesse sind, läßt sich kaum entscheiden.35 Zweifellos aber wird der Gedanke an einzelne Szenen der homerischen Epen evoziert.36 Einig sind 30
Ahern (1991) 301-314. Ebd. 303: »What seem to be errors derive not from inattention or insensitivity in matters of diction, but from their opposites, vigilance and a discriminating ear«; S. 306: »The effect is an artfully contrived mistranslation of Homer«; S. 312: »it undermines the efforts of contemporary epic poets as anachronistic«; S. 314: »as parody, Horace’s errors support his preference for a Callimachean position by pointing a critical finger at detractors of the slender style.« – Zumindest die zweite Strophe halten auch Commager (1962) 71, Anm. 25, Davis (1991) 37 und (1995) 29, Harrison (1992) 138 und (2007) 52 sowie Nasta (1999) 93f. für parodistisch, wobei Harrison es zusätzlich für denkbar hält, daß die Ausdrucksweise der Ode durch Varius’ Panegyricus Augusti (vgl. Anm. 11) beeinflußt sei. 32 Syndikus (2001) I, 93, Anm. 22. 33 Unhaltbar vom griechischen wie vom lateinischen Standpunkt aus ist also die Bemerkung von Sisti (1967) 78f.: »Orazio intesse il suo discorso di epicismi, rendendo in latino e intrecciando fra di loro gli epiteti e le espressioni più convenzionali del linguaggio epico.« 34 Andere Argumente bei Ahern (1991) vermögen jedoch nicht zu überzeugen, wie etwa folgende Ausführungen auf S. 307: ope Palladis / Tydiden superis parem erinnere zwar an δαίμονι ἶσος in Il. 5,884. Besser aber passe dieser Ausdruck zur homerischen Formel ἰσόθεος φώς. Jene Formel aber werde bei Homer nie auf Diomedes angewandt; also sei absichtlich »schief« übersetzt worden. 35 Allerdings erschienen diese Ausdrucksweisen Muttersprachlern durchaus ungewöhnlich bzw. stilistisch unangemessen. So liest man z.B. bei dem Grammatiker Charisius (p. 357,19): tapinosis est rei magnae humilis expositio, ut apud Horatium Flaccum »Pelidae stomachum cedere nescii«. Dieser Vorwurf wurde im Übrigen auch gegen einige Aeneis-Stellen erhoben; vgl. dazu z.B. Williams (1968) 758. 36 Auch Davis (1987) 293, Anm. 4 stellt gegenüber Nisbet/Hubbard fest: »Despite these minute discriminations, the dominant impression of the pseudo-epic sketches is that typical Homeric 31
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
sich die Kommentatoren und Interpreten darin, daß sich eventuelle »Fehler« in den mythischen Passagen keinesfalls negativ auf das gesamte Gedicht auswirken.37
5.3 Die Funktion der Strophen 2 und 4 Was aber ist die Funktion der Strophen 2 und 4, wenn man von der für die recusatio wichtigen Betonung der Schwierigkeit epischer und tragischer Dichtung absieht? In der zweiten Strophe werden mittels einer sogenannten comparatio paratactica die in den Versen 1-4 geschilderten Kriegstaten des Agrippa – zusammengefaßt in haec, V. 5 – mit den dann folgenden heroisch-epischen und tragischen Sujets auf eine Stufe gestellt. Hier wird kein Unterschied zwischen einem historischen und einem mythologischen Epos gemacht; selbst die Tragödie wird im gleichen Zusammenhang angeführt. Dadurch wird eine historische Persönlichkeit in die Nähe der Gestalten des griechischen Mythos gerückt; sie kann mit ihnen aufgrund ihrer Bedeutung in einem Atemzug genannt werden. Eine ähnliche Funktion übt die vierte Strophe aus: Nach Horazens Eingeständnis, das ingenium reiche nicht aus, um die laudes egregii Caesaris zu besingen, muß man den Anfang der vierten Strophe in der Paraphrase ein wenig erweitern: »Denn wer wäre auch fähig, […] würdig zu beschreiben?«38 Auch durch diese Frage werden Oktavians und Agrippas Ruhmescharacters and styles are being imitated, if not reproduced«, obgleich er dann in seiner Monographie von 1991 auf S. 37 der zweiten Strophe durchaus parodistischen Charakter zuschreibt. 37 So betont auch Ahern (1991) 312: »Nothing that he says about Augustus (or about Agrippa) is derogatory or even indiscreet, and the humour of the poem [...] does not expose contemporary warfare or its leaders to ridicule.« – Bedenken formuliert lediglich Putnam (1995) 54 (»we are left wondering in what way we are to read this dubious trio and, more pointedly, how they are meant to serve as models to Varius«), ohne allerdings den oben genannten Konsens grundsätzlich in Frage zu stellen. – Daß sich Horaz gewisse Freiheiten bei der Übertragung von Motiven zugesteht, ist im I. Teil, Kap. 6 deutlich gezeigt worden. 38 Es ist ein vieldiskutiertes Problem, ob es sich hier um eine rhetorische Frage handelt, auf die man »niemand« antworten muß, wie unter anderem Peerlkamp (1862) 29, Wimmel (1960) 189f. und Ahern (1991) 312 glauben, oder um eine echte Frage, auf die man »Kein gewöhnlicher Mensch, ich jedenfalls bestimmt nicht, aber ein zweiter Homer wie Varius« antworten muß, wofür z.B. Porphyrio zur Stelle, Kiessling/Heinze (1955) 37, Fraenkel (1957) 277, Nisbet/Hubbard (1970) 88, Davis (1987) 292-295 und (1991) 38, Nasta (1999) 85ff. sowie Mindt (2007) 33 eintreten. Extreme Positionen wurden in dieser Diskussion einerseits eingenommen von Commager (1962) 114, der als Antwort neben »Varius« auch »Horaz selbst« akzeptiert, und andererseits von Quinn (1985) 134, der als Antwort »niemand; auch nicht Homer selbst« erwartet. Voisin (2002) 361 wiederum glaubt, »Virgile et son projet d’Énéide« hinter der Frage zu erkennen. Da aber die nachfolgenden Beispiele ja der Ilias entnommen sind, wird man nicht ernsthaft daran zweifeln wollen, daß Homer nach Horazens Meinung zur einer adäquaten Darstellung fähig (gewesen) wäre. Durch Maeonii carminis alite wurde Varius zuvor aber in die Nähe Homers gerückt; also
5. carmen 1,6
247
taten mit heroisch-epischen Geschehnissen parallelisiert; sie selbst werden auf diese Weise ohne zu aufdringliche Deutlichkeit in die Nähe des Kriegsgottes Mars und der Kämpfer Meriones und Diomedes gerückt. Es handelt sich also, wie Wimmel erkannt hat, um einen »Preis des Octavian auf dem Hintergrund der mythol[ogischen] Stoffreihung«; Syndikus spricht von indirektem Preisen durch die Umgebung.39 Wie weit die Parallelisierung geht, wird im Text nicht klar signalisiert; eine vollständige Gleichsetzung, wie sie David West zu erkennen glaubt, scheint aber die Dinge zu sehr zu pressen.40 Akzeptiert man diese Auffassung, wird auch klar, warum die epischen Szenen ausführlicher als unbedingt nötig geschildert werden: Umso detaillierter und ruhmvoller wird dadurch der Hintergrund ausgestaltet, vor den Oktavian und Agrippa gestellt werden.41 Billigt man diese Deutung der mythischen Elemente, so ist es auch nicht nötig, im Text Streichungen oder Umstellungen vorzunehmen. Athetierte man nämlich die vierte Strophe, wie es Philologen des 19. Jh.s – etwa Peerlkamp, Lehrs und Mueller – vorgeschlagen haben, so fiele die »ehrende Einrahmung« weg, und Oktavian hätte im Gegensatz zu Agrippa keine ihn in mythische Höhen hebende Strophe. Außerdem ginge dann die Antithese zwischen quis (V. 13) und nos (V. 17) verloren, die doch das Pendant zur Antithese zwischen Vario (V. 1) und nos (V. 5) bildet. Die Antithese quis – nos ist aber von entscheidender Bedeutung, da erst in ihr die eigentliche Dichtungsart des Horaz den Rezipienten vor Augen gestellt wird.42 Wie Nisbet/Hubbard betonen, würde die Ode durch die Tilgung der letzten beiden Strophen »intolerably lame«.43 Bedenkt man darüber hinaus, daß die Handschriften diese Strophe einhellig bezeugen, so dürfte eine solche Athetese unangemessen sein. Diese Überlegungen lassen es auch wenig ratsam erscheinen, dem Vorschlag Alfred Edward Housmans zu folgen, der die vierte Strophe an die erste anschließen wollte und zur Glättung der Verbindung qui statt quis
kann er Ähnliches vollbringen. Die Antithese quis – nos (V. 13.17) stellt ferner das Pendant zu der Antithese Vario – nos (V. 1.5) dar; somit lautet die Antwort auf die gestellte Frage wohl: »Kein gewöhnlicher Mensch, ich jedenfalls bestimmt nicht, aber ein zweiter Homer wie Varius«. 39 Wimmel (1960) 188; Syndikus (2001) I, 92. 40 West (1995) 31: »Agrippa [...] is the Roman Meriones.« Vgl. auch Putnam (1995) 56: »Agrippa is imagined to be as obligated to Varius for the continuous remembrance of his heroism in time to come as Diomedes was beholden to Athena in the present action of Homer’s epic.« 41 Einer ähnlichen Technik bedient sich Vergil am Anfang des dritten Georgica-Buches, vgl. hierzu im I. Teil Kap. 5.10, S. 139f. 42 Vgl. Syndikus (2001) I, 92: »Die zweite Antithese ist gedanklich alles andere als überflüssig; in ihr erst wird die Schwierigkeit des epischen Schaffens, sein außerordentlicher Abstand zur leichten Muse des Horaz so recht deutlich. Erst durch die beiden letzten Strophen wird das Gedicht zu einer abgerundeten Einheit.« 43 Nisbet/Hubbard (1970) 87.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
konjizierte, um diese Strophe auf Varius beziehen zu können.44 In diesem Fall würde der Inhalt der Verse 13-16 durch das Demonstrativpronomen haec (V. 5) zusammengefaßt, das man wegen der nun entstandenen Distanz kaum noch auf die Ruhmestaten Agrippas in der ersten Strophe beziehen könnte. Dann aber genügte die Reihung der drei mythischen Figuren Mars, Meriones und Diomedes, und die Verse 5-8 brächten lediglich eine retardierende Verstärkung. Wo wäre jedoch nun ein nennenswerter Unterschied zwischen der ersten Gruppe von Trojagestalten und dem Zorn des Achill, der ein disjunktives nec erlaubte? Ferner entfiele die rühmende Parallelisierung der zeitgenössischen Aktionen Agrippas mit denen der epischen resp. tragischen Protagonisten; die Ode verlöre somit eine entscheidende inhaltliche Dimension.
5.4 Der Ausklang der Ode (V. 17-20) Horaz läßt die Ode ausklingen, indem er die Themen seiner eigenen Dichtung und sich selbst charakterisiert:
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nos convivia, nos proelia virginum sectis in iuvenes unguibus acrium cantamus, vacui sive quid urimur non praeter solitum leves.
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Wir besingen Gastmähler, wir Kämpfe von Mädchen, hitzig mit geschnittenen Fingernägeln gegen junge Männer, ob wir nun frei sind [von Liebe] oder ob wir irgendwie glühen, nicht über gewohntes Maß hinaus leichtfertig.
Sympotische und erotische Dichtung ist es also, mit der sich Horaz beschäftigt. Das Vorhandensein oder Fehlen eigenen Liebeserlebens ist dabei unerheblich, wie die Worte vacui sive quid urimur als gleichberechtigte Zustände zeigen.45 Levitas in gewissem Maße (non praeter solitum, V. 20) ist nach den Worten des Horaz für ihn charakteristisch; ihm fehlt es also an gravitas, der dem Epos und seinen Inhalten eigenen ernsten Würde. Gleichzeitig verweist das Adjektiv leves in gewissem Sinne auf tenues in Vers 9 zurück.46 44 Housman (1888) 303-305. Dadurch ergäbe sich folgender Text: scriberis Vario [...] gesserit, // qui Martem [...] scripserit aut [...] parem. // nos, Agrippa, neque haec dicere etc. – Fraenkel (1957) 276, Anm. 4 bemerkt zu diesem Vorschlag entschuldigend: »Man darf jedoch nicht vergessen, daß Housman damals sehr jung war, audax iuventa.« 45 Ov. am. 1,1,26 (uror, et in vacuo pectore regnat Amor) liegt jedoch offenkundig eine andere Vorstellung zugrunde. 46 Ausdrücklich in poetologischem Kontext findet sich levis in carm. 2,1,40 (quaere modos leviore plectro); abwertend verwendet wird dieses Adjektiv allerdings in ars 231 (effutire levis indigna tragoedia versus).
5. carmen 1,6
249
Auch durch die Wahl des Verbs cantare im Kontext der Lyrik im Gegensatz zu den im Zusammenhang mit dem Epos verwendeten Verben scribere (V. 1.14) und dicere (V. 5) wird der Abstand der Genera voneinander hervorgehoben.47 Trotz des Gegensatzes zwischen »Krieg und Krug«, um ein (allerdings nicht poetologisch gemeintes) Diktum Friedrich Schillers heranzuziehen,48 gibt es aber doch auch eine Gemeinsamkeit mit dem Epos, wobei das elegische Konzept der militia amoris49 vermittelt: Zwar besingt Horaz keine Schlachten verfeindeter Heere, aber doch Kämpfe von Mädchen gegen junge Männer;50 somit kann ihn Commager als »military historian of the wars of love« ansehen.51 Diese Schlußstrophe, die zur vorhergehenden Strophe in deutlich antithetischem Verhältnis steht (quis – nos), ist, wie oben schon angedeutet wurde, von entscheidender Bedeutung für diese Ode: Nachdem ja in der ersten Antithese (Strophen 1 und 2) Horazens Dichtung nur durch das charakterisiert worden ist, was sie nicht vermag (vier Negationen in der zweiten Strophe, erweitert durch das Prädikat vetat in Vers 10), erfolgt erst jetzt eine positive Themenbestimmung horazischer Lyrik. Wenngleich freilich nicht deren ganzes Spektrum abgedeckt wird, so ist doch die sympotische und erotische Lyrik als dasjenige Segment herausgegriffen, welches den deutlichsten Gegensatz zur großen Schlachtenepik darstellt.52
47 Wohl überinterpretiert wird dieser Wechsel des Ausdrucks jedoch von Lowrie (1997) 56ff. Nach ihrer Behauptung »Writing and utterance come into conflict in C. I. 6« (S. 56) widmet sie dieser Beobachtung fünfzehn Seiten. – Motivisch vergleichbar mit carm. 1,6 ist im Übrigen carm. 2,12: Dort lehnt der Sprecher gegenüber Maecenas Dichtung über historische und mythische Schlachten zugunsten erotischer Thematik ab. 48 Wallensteins Lager, 8. Auftritt: »Kümmert sich mehr um den Krug als den Krieg, / Wetzt lieber den Schnabel als den Sabel«. 49 Hierzu vgl. z.B. Murgatroyd (1975) 59-79. 50 Ob Horaz diese Kämpfe als harmlos oder doch eher als gefährlich schildern will, ist nicht ganz klar. Bei sectis [...] unguibus denkt man allerdings eher an feine, manikürte Nägel, so daß ein solcher Kampf nicht allzu schmerzhaft sein dürfte. Sectis als »zugespitzt, spitz gefeilt« aufzufassen, wie es u.a. Nisbet/Hubbard (1970) 89, Quinn (1985) 134 und Harrison (1992) 140 nach dem Vorgang der pseudacronischen Scholien (zu V. 18: »acutis unguibus et praeparatis«) vorschlagen, liegt weniger nahe, zumal die als widerwärtig und gefährlich dargestellte Hexe Canidia in epod. 5,47f. gerade einen irresectum […] pollicem vorweist. Auf eine gewisse Gefahr könnte jedoch hindeuten, daß die virgines das Attribut acres tragen. – Wenig überzeugend ist die Bemerkung bei Connor (1987) 191: »In Odes 1.6 Horace stressed or concentrated on the conflict of love.« 51 Commager (1962) 72. 52 Eine ähnliche Begründung findet sich auch bei Syndikus (2001) I, 94. Mette (1961) 136 betont ebenfalls, daß Symposion und Eros »wesentliche Inhaerentia des γένος λεπτόν« sind. Zu weitreichend hingegen ist wohl die Auffassung bei Hills (2005) 65, Horaz präsentiere sich »almost as a social chronicler of Rome’s erotic mores«. – Überdies könnte man, wie Commager (1962) 72 andeutet, in convivia einen Gegenpol zum berüchtigten Atreusmahl sehen, wenn man saevam Pelopis domum (V. 8) auf Thyestes und seinen Bruder bezieht.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
5.5 Fazit Der Text von carm. 1,6 stellt in seiner überlieferten Form eine sinnvolle und wohlkomponierte Einheit dar. Gestalten des Mythos treten auf, um einerseits Gattungsbezeichnungen anschaulich und lebendig werden zu lassen, andererseits, um durch ihre »Prominenz« die in ihrer Umgebung genannten zeitgenössischen Vorgänge und Personen erhabener und verehrungswürdiger erscheinen zu lassen. Dabei wird kein Unterschied zwischen historischen Personen bzw. Ereignissen und mythischen Figuren und Geschehnissen gemacht. Mythos und historische Realität lassen sich nicht klar trennen, was für die Intention des Gedichtes geradezu entscheidend ist. Bei seiner Darstellung rekurriert Horaz auf die Ilias und die Odyssee als Praetexte, wohl auch auf Tragödien des mykenischen Sagenkreises. Ob er dabei absichtlich Fehler macht, läßt sich kaum entscheiden. Trotz einiger »Anomalien« (u.a. Anachronismus der stählernen Rüstung, bei Homer nicht auftretende Personenkonstellation) zeigt sich jedenfalls dennoch typisch homerisches Kolorit in den betreffenden Passagen. Innerhalb der recusatio, welche durch die Parallelisierung von Zeitgeschichte und Mythos auf subtile Art den zeitgenössischen Persönlichkeiten höchstes Lob spendet, nimmt die an zentraler Position genannte Musa eine Mittelstellung zwischen einer Metonymie für Begabung und einer mythischen Warnfigur ein.
6. carmen 1,1
Als dem ersten Gedicht einer Sammlung metrisch und inhaltlich neuer Poesie1 kommt carm. 1,1 zentrale Bedeutung zu.2 Diese Ode, an deren Ende der Sprecher sich unter die lyrischen Dichter eingereiht wissen möchte, weist eine Priamelstruktur auf: Allgemein wird in einer Priamel eine Reihe von Beispielen anderer vor die eigene Ansicht, Tätigkeit, Vorliebe oder ähnliches gestellt.3 Im vorliegenden carmen wird die Tätigkeit des Dichters mit anderen Berufen oder Lebenshaltungen kontrastiert.4 Während aber der genaue Aufbau der Ode und die Bewertung der einzelnen Lebensformen
1
books«.
Vgl. z.B. West (1995) 6: »Rome had never seen a collection of poems like these three
2 Eher negative Bewertungen des Gedichtes finden sich allerdings bei Fraenkel (1957) 275 (»Im größten Teil der Ode sagt Horaz nichts sonderlich Originelles«) und La Penna (1963) 224 (»lavoro di cesello più che frutto di urgente ispirazione, non è, bisogna riconoscerlo, tra le più belle poesie di Orazio«). Der venezianische Nobile Pococurante in Voltaires Candid von 1758 fällt, als Candid ihn im 25. Kapitel fragt, ob es ihm nicht großes Vergnügen bereite, Horaz zu lesen, sogar folgendes Urteil: »ich weiß nicht, was Großes daran sein soll, wenn er seinem Freund Maecenas versichert, daß, wenn dieser ihn den lyrischen Dichtern beizähle, er mit erhabener Stirn an die Sterne rühren werde. Bei einem berühmten Autor bewundern Narren alles.« (zitiert nach Voltaire, Candid oder die Beste der Welten, deutsche Übertragung und Nachwort von E. Sander, Stuttgart 1971, 86. Im Anschluß an diese Ausgabe wird hier die Namensform »Candid« verwendet, obwohl der französische Originaltitel natürlich »Candide« lautet.). – Harsch auch die Kritik des Barockdichters Matthias Claudius am Oden-Anfang: »Wozu auch so’n langes Geleire von Mecenas und Gnad’ und gnädig? ’s schmeckt dem großen Mann nicht, und dem kleinen verdirbt’s den Magen.« (zit. nach: Matthias Claudius, Ausgewählte Werke, hrsg. v. W. Münz, Stuttgart 1990, 50). 3 Zur Priamel und ihrer Entwicklung in der griechischen und römischen Literatur vgl. Schmid (1964), Krischer (1974) 79-91 sowie Race (1982). – Siehe hierzu auch im I. Teil Kap. 5.3.2, wo die Priamel in Sappho, fr. 16 besprochen wird. 4 Daß solche Schilderungen verschiedener Berufe und Lebenshaltungen in der griechischen (v.a. philosophischen) Literatur sehr verbreitet sind, ist allgemein bekannt. Auch steht es wohl außer Frage, daß Horaz solche Schilderungen kannte und sich an dieser Stelle von ihnen anregen ließ, wobei er freilich auch persönliche Erfahrungen miteinfließen lassen konnte. Zu schematisch erscheint es aber, wenn z.B. Kiessling/Heinze (1955) 2 und Seita (1985) 29 in der Nachfolge von Wilamowitz-Moellendorff (1913) 190f. die bunte Abfolge von Berufen, »Hobbies« und Lebensbildern in die vier Kategorien βίος φιλότιμος, φιλοχρήματος, φιλήδονος und φιλόσοφος pressen. – Daß Horaz die Lebensbilder so gezeichnet habe, daß sich Maecenas in ihnen wiederfinde, wie Martin (1947) 373 mit Verweis auf Properz 3,9 vermutet, ist wenig wahrscheinlich: Sie sind in sich zu heterogen, als daß eine einzige Person sich in allen wiedererkennen könnte. – Literatur zum Thema »Lebenswahl« bei Schönberger (1966) 401, Anm. 31; sehr ausführlich La Penna (1963) 203ff. Umfangreiches Material zu den verschiedenen βίοι bietet Setaioli (1973) 7ff.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
schon lange den Gegenstand einer umfangreichen Diskussion bilden,5 sind die mythischen Elemente des Gedichtes bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Es gilt also zu analysieren, wie sie sich in den Gesamtverlauf der Ode einfügen und welche Funktionen sie erfüllen.
6.1 Die Ode im Überblick
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Maecenas, atavis edite regibus, o et praesidium et dulce decus meum: sunt quos curriculo pulverem Olympicum collegisse iuvat, metaque fervidis evitata rotis palmaque nobilis terrarum dominos evehit ad deos; hunc, si mobilium turba Quiritium certat tergeminis tollere honoribus; illum, si proprio condidit horreo quidquid de Libycis verritur areis. gaudentem patrios findere sarculo agros Attalicis condicionibus numquam demoveas, ut trabe Cypria Myrtoum pavidus nauta secet mare; luctantem Icariis fluctibus Africum mercator metuens otium et oppidi laudat rura sui, mox reficit rates quassas, indocilis pauperiem pati. est qui nec veteris pocula Massici nec partem solido demere de die spernit, nunc viridi membra sub arbuto stratus, nunc ad aquae lene caput sacrae. multos castra iuvant et lituo tubae permixtus sonitus bellaque matribus
5 Vgl. Vretska (1971) 323: »Freilich könnte man an der Kunst der Interpretation fast verzweifeln, wenn man etwa die weitgehende Divergenz in den Ergebnissen der Forschung über Horazens erstes Lied überblickt.« Genannt seien zur Strukturdiskussion beispielhalber Collinge (1961) 90f.108f., Blangez (1964) 262ff., Stégen (1966) 346f., Schönberger (1966) 398 mit Anm. 25, Shey (1971) 185ff., Pasoli (1971) 411ff., La Penna (1973) 326ff. und Syndikus (2001) I, 36f.; einen Überblick bietet auch Vielberg (1995) 196f. – Allgemein sieht man die Struktur der Ode als Ausdruck hoher Kunstfertigkeit an: »l’ode est méthodiquement construite, par un artiste maître de sa technique« [Blangez (1964) 265]; »la serie è svolta con un’arte inesauribile, che giustifica tante cure di critici« [La Penna (1973) 329]. – Sehr negativ hingegen hatte G. Hermann in seiner Schrift »De Horatii primo carmine dissertatio« (Leipzig 1842) über die Ode und ihren Inhalt geurteilt: »rem tritissimam, omnibus notam, nihil omnino habentem, quod [...] narrari conveniat: longissimam enumerationem […], quae [...] non modo inepta, sed plane ridicula expositio est« [abgedruckt z.B. bei Norberg (1945) 3].
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detestata; manet sub Iove frigido venator tenerae coniugis immemor, seu visa est catulis cerva fidelibus seu rupit teretes Marsus aper plagas. me doctarum hederae praemia frontium dis miscent superis, me gelidum nemus Nympharumque leves cum Satyris chori secernunt populo, si neque tibias Euterpe cohibet nec Polyhymnia Lesboum refugit tendere barbiton. quod si me lyricis vatibus inseres, sublimi feriam sidera vertice.6 Maecenas, uralter Könige Sproß, mein Schutz und meine beglückende Zierde: Es gibt Leute, die es freut, mit dem Wagen den Staub von Olympia aufgewirbelt zu haben, und die Wendemarke, mit glühenden Rädern knapp umfahren,7 und der ehrende Palmzweig führen sie empor zu den Göttern, Herren der Welt; diesen [freut es], wenn der wankelmütigen Quiriten Schar wetteifert, ihn mit dreigestaltigen Ehren emporzuheben; jenen [freut es], wenn er in der eigenen Scheune geborgen hat, was auch immer von Libyens Tennen zusammengefegt wird. Einen, der Freude daran empfindet, die vom Vater ererbten Äcker mit der Hacke zu spalten, könntest du auch mit Angeboten eines Attalos niemals davon abbringen, so daß er mit zyprischem Schiff das Myrtoische Meer als furchtsamer Seemann durchschneidet; wenn er den Südwest im Kampf mit den Ikarischen Fluten fürchtet, preist der Kaufmann müßige Ruhe und seiner Stadt Felder, [doch] bald schon bessert er das leckgeschlagene Schiff aus, unbelehrbar, nur geringen Besitz zu ertragen. Manch einer lehnt alten Massikerweines Becher durchaus nicht ab, auch nicht, einen Teil vom ganzen Arbeitstag wegzunehmen, bald unter grünem Erdbeerbaum die Glieder ausgestreckt, bald bei eines heiligen Baches leise rauschender Quelle. Viele erfreuen das Heerlager und der Trompete Klang, mit dem Signalhorn vermischt, und Kriege, von Müttern
6 David R. Shackleton Bailey hält die letzten fünf Verse des Gedichtes für korrupt und schlägt im Apparat seiner Ausgabe – auch unter Verwendung von Konjekturen Theodor Bergks – schwerwiegende Eingriffe in den überlieferten Text vor, für die keine Veranlassung besteht. Browne (2001) 133, der für die Konjektur me in Vers 29 plädiert, hält zu Recht dagegen: »maluerim non novum carmen componere«. – Ausdrücklich treten für den überlieferten Text z.B. Lyne (1995) 71 und Syndikus (2001) I, 34, Anm. 51 ein. 7 Quinn (1985) 118 sieht in meta [...] evitata einen verbalsubstantivischen Ausdruck vom Typ ab urbe condita, so daß man »das Umfahren der Wendemarke« übersetzen müßte. Im Kontext des Konkretums palma kann aber durchaus konkret die Wendemarke gemeint sein.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen verflucht; es harrt aus unter Juppiters kühlem Himmel der Jäger, ohne an seine zarte Frau zu denken, sei es, daß eine Hindin gesehen wurde von den treuen Hunden, sei es, daß ein marsischer Eber die geflochtenen8 Netze zerrissen hat. Mich versetzt der Efeukranz, gelehrter Dichterstirnen Lohn, unter die Götter des Himmels, mich trennen der eisige Hain und der Nymphen leichtfüßige Reigen mit den Satyrn vom Volk, wenn weder Euterpe die Flöte hemmt noch Polyhymnia sich weigert, die lesbische Laute zu stimmen. Wenn du mich nun aber unter die lyrischen Dichter einreihst, werde ich mit erhabenem Scheitel die Sterne berühren.
Nach der Apostrophe an Maecenas, dem durch die erhabene Ansprache (atavis edite regibus, V. 1)9 und die ehrenvolle Bezeichnung als Schutz und Zierde (V. 2)10 das Gedicht und auch die Oden-Sammlung gewidmet ist,11 bedient sich Horaz einer ausgedehnten Priamel (V. 3-28), die sich grob in drei Unterabschnitte einteilen läßt:12 Die Verse 3-10 erörtern, daß jeder an etwas anderem Freude hat (Sport, Politik,13 Reichtum); die Verse 11-18 legen anhand von zwei antithetischen Beispielen (ein dem Land verhafteter Bauer vs. ein zur See fahrender Kaufmann) dar, daß jeder seinem Beruf treu bleibt; die Verse 19-28 greifen wieder den Gedanken des Priamelanfangs 8 Zur Diskussion um die genaue Bedeutung von teretes vgl. Alexander (1944) 15ff. und (1954) 145ff. sowie Treloar (1963) 17. 9 Hier wird angespielt auf Maecenas’ vornehme etruskische Vorfahren, die auch in sat. 1,6,1ff. und carm. 3,29,1 zur Sprache kommen; vgl. auch MacKay (1942) 79f. – Spuren von Ironie sehen bereits in der Anrede Craig (1963) 85 (»A twinkle must have graced the poet’s eye when he penned those lines, but beneath there shine the fires of sincere gratitude«) und Connor (1987) 40 (»Horace [...] plays lightly on Maecenas’ pride about his lineage«). 10 Ausführlich dazu Eckert (1961) 72ff. Ähnlich in carm. 2,17,3f.: Maecenas, mearum / grande decus columenque rerum. – Überhaupt lassen sich in carm. 1,1 zahlreiche Anklänge an andere Oden finden, die Fraenkel (1957) 272f. verzeichnet. Eduard Fraenkel sah ebd. deshalb in der Eröffnungsode eine Art »Ouvertüre«, in der Themen der übrigen Oden anklängen; viele folgten ihm in dieser Ansicht. Einige zentrale Themen fehlen jedoch, z.B. die Unausweichlichkeit des Todes, die römische Außenpolitik, Heimkehr, die Götter Roms, der Bürgerkrieg und die augusteische Neuordnung, um nur wenige zu nennen. Skeptisch äußert sich auch Syndikus (2001) I, 25. 11 Ausführliche Diskussion der ersten beiden Verse u.a. bei Schönberger (1966) 390ff. – Literatur zu Horazens Verhältnis zu Maecenas führt Buchheit (2001) 241, Anm. 17 auf; vgl. z.B. auch Lefèvre (1981) 1987ff., Santirocco (1984) 241-253 und Sallmann (1994) 155-165. – Angesichts der überaus herzlichen Ansprache verwundert es, daß Collinge (1961) 137, Anm. 1 behauptet, Maecenas sei in dieser Ode irrelevant. 12 Die Diskussion um die genaue Einteilung der Ode ist, wie gesagt, uferlos, vgl. Anm. 5. 13 Allgemein sieht man in den tergemini honores die drei hohen (kurulischen) Ämter Ädilität, Prätur und Konsulat. Nisbet/Hubard (1970) 7f. jedoch denken bei den honores nicht an politische Ämter, sondern an »reiterated applause«, worin ihnen Syndikus (2001) I, 28, Anm. 24 folgt. Damit nehmen sie die Erklärung Porphyrios zu V. 7 wieder auf, der bemerkt hatte: »loquitur autem de eo, qui favorem vulgi captans optet, cum ingressus sit theatrum, plausum sibi edi a populo.«
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auf, daß jeder Vergnügen an etwas anderem empfindet (Leben eines Genießers,14 Krieg, Jagd), wobei in die beiden letzten Beispielen jeweils ein »gegenläufiger« Gedanke explizit integriert ist: Kriege werden von den Müttern verflucht (bellaque matribus / detestata, V. 24f.); der Jäger denkt nicht an seine zarte Frau (venator tenerae coniugis immemor, V. 26).15 In den Versen 29-34 präsentiert Horaz nun den Gegensatz zur Priamel:16 Den Sprecher versetzt Efeu, die Belohnung gelehrter Dichterstirnen, unter die Götter des Himmels (V. 29f.); ihn trennen der kühle Wald sowie Nymphen- und Satyrnchöre vom Volk, wenn die Musen Euterpe und Polyhymnia seine Instrumente begünstigen. Die letzten beiden Verse (35f.) nennen nun explizit die Gruppe, zu welcher der Sprecher gezählt werden möchte: Wenn ihn Maecenas unter die lyrischen Dichter (lyricis vatibus, V. 35) einreihe, dann werde er mit dem Haupt – vor Stolz, so ist zu ergänzen – an die Gestirne anstoßen.17 Diese Aussage ist Ausdruck eines sehr hohen Anspruches und eines enormen Selbstbewußtseins: Der Kanon der neun (griechischen) lyrischen Dichter stand bereits seit Jahrhunderten fest.18 Eine 14 Über die Frage, wer genau mit dem Genießer gemeint ist, herrscht Uneinigkeit: Unter anderem Musurillo (1962) 233, Dunn (1989) 97ff. und Pomeroy (1999) 11 sehen in ihm Horaz selbst verkörpert; Buchheit (2001) 245 vermutet sogar intertextuelle Intentionen: »Horaz hat demnach die Lebensform des sogen. Genießers durch die Assoziierung von wichtigen Texten Vergils und Aussagen des Lukrez über epikureische Lebensweise, freilich in der anspruchsvollen Brechung und Umformung durch Vergil, erheblich aufgewertet, ja so offensichtlich geadelt, daß es einer gewissen Parodierung der beiden Vorgänger gleichkäme, wenn Horaz diese Verse nicht auch auf sich selbst bezöge.« Verworfen wird diese Identitätsthese jedoch u.a. von Connor (1987) 42; Vielberg (1995) 196 erscheint sie sogar »absurd«. Doch Horaz beschreibt sich selbst tatsächlich an einigen Stellen in ähnlicher Weise wie hier den Genießer, z.B. in sat. 2,8,3; im weiteren Sinne auch carm. 3,28,5ff. – Blangez (1964) 267 wiederum bemerkt: »Étant donné que l’œuvre est dédiée à Mécène [...], il serait tout à fait vraisemblable que cet éloge central de l’épicurien soit l’éloge de l’épicurien Mécène.« 15 Oft wird diese horazische Beispielreihe mit derjenigen in Cic. Tusc. 2,40 verglichen. Dabei ist aber hervorzuheben, daß in der Cicerostelle die consuetudinis magna vis verhandelt wird. In diesem Abschnitt werden zwar ebenfalls ein Athlet, ein Jäger und ein Olympiasieg genannt, wobei das Konsulat als Wertmaßstab für den Olympiasieg dient. Aber auch alte Frauen, Inder und Faustkämpfer sind bei Cicero in die Argumentation eingearbeitet. Dort liegt also ein ganz anderes Beweisziel und deshalb eine deutlich divergierende Gedankenführung vor. 16 Bemerkenswert ist, daß durch das betont am Versanfang stehende Personalpronomen me der Gegensatz zum Vorhergehenden formal abgemildert wird: Auch zuvor waren neue Bilder jeweils am Versanfang meist durch »akkusativische Wendungen« wie sunt quos, hunc, illum, gaudentem, multos eingeleitet worden. Vgl. dazu auch Blangez (1964) 264 und Syndikus (2001) I, 30. 17 Einen Überblick über Deutungen dieses Verses und über seinen motivgeschichtlichen Hintergrund bietet Dönnges (1957) 47ff.; vgl. auch Vretska (1971) 332ff. 18 Zum Kanon der griechischen Lyriker [Pindar, Bakchylides, Sappho, Anakreon, Stesichoros, Simonides, Ibykos, Alkaios und Alkman; Reihenfolge nach Anth. Pal. 9,184, einem Epigramm, das nach Pfeiffer (1970) 252 das älteste Zeugnis dieses Kanons darstellt] vgl. z.B. ebd. 252ff. In carm. 4,9,5-12 nennt Horaz nur sechs Lyriker; daß dort aber nicht eine vollständige Darstellung des lyrischen Kanons beabsichtigt ist, wird schon durch die Nennung Homers in V. 5 klar. Zu Horazens Verhältnis zu den griechischen Lyrikern insgesamt vgl. z.B. Feeney (1993) 41ff.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Einordnung des Sprechers in diese illustre Gruppe würde tatsächlich eine Wertschätzung bedeuten, die ihn zu einem »Giganten der Literatur« machte. Gleichzeitig weist der Vers Maecenas eine äußert ehrenvolle Rolle als Literaturexperte zu, indem es ihm überlassen wird, über die poetische Qualität des Werkes zu befinden.19 Überdies ist die Junktur lyricis vatibus bemerkenswert, stößt in ihr doch das griechische Fremdwort λυρικός/lyricus20 mit dem altehrwürdigen lateinischen Substantiv vates21 zusammen, so daß sich eine neuartige Konzeption des Dichters und der Dichtung ergibt.22
– Die Bedeutung der kanonisierten Lyriker verkennt Craig (1963) 86, wenn er behauptet: »But his [= Horace’s] modesty (and honesty) asked for no more than recognition for what he was, not a poet of magnificent inspiration as Vergil was, but rather a simple lyric poet.« – Daß Horaz dadurch, daß der Sprecher an neunter Stelle in der Ode auftritt, auf die neun Musen oder noch eher auf die neun Lyriker anspielen will, wie Esser (1976) 35 glaubt, erscheint wenig wahrscheinlich. Nach dieser Logik müßte er eher als zehnter auftreten, da ja schon neun Lyriker kanonisiert waren und Horaz in diesen Kreis aufgenommen werden möchte. 19 Vgl. auch Vielberg (1995) 199f.: »Inserere entspricht ἐγκρίνειν, und ἐγκρίνειν ist der terminus technicus für die Aufnahme in den Autorenkanon [... Dem apostrophierten Maecenas] weist der terminus technicus die Rolle eines alexandrinischen Philologen zu, wie Aristophanes von Byzanz, der die neun Lyriker kanonisiert zu haben scheint, oder die des noch berühmteren Kallimachos«. Armstrong (1989) 71 hingegen versteht inseres ironisch-konkret: »if you place me in your library of scrolls«; ähnlich Hills (2005) 41, der eine Anspielung auf die von Augustus errichtete bilingue Bibliothek auf dem Palatin vermutet. – Allerdings könnte sich angesichts der in inseres vorliegenden zweiten Person Singular auch jeder einzelne Leser angesprochen fühlen; dann wäre unmerklich ein Wechsel des Adressaten erfolgt, wobei demoveas in V. 13 eine Zwischenstufe darstellte. Vgl. dazu z.B. Vielberg (1995) 200: »Aber auch wenn Mäzenas viel vermochte, konnte Horaz gewiß nicht ernsthaft meinen, daß dieser in der Lage sei, den Dichterkanon zu erweitern. [...] Um ihn zu ändern, waren Zeit und sehr viel [sic!] Leser nötig, so daß an dieser Stelle ein großer Leserkreis indirekt mitangesprochen sein muß.« Ähnlich auch Romano (1991) 469 (»dietro il dedicatario ufficiale bisogna immaginare il publico colto, esperto di poesia greca, cui sono destinate le odi«), Pomeroy (1999) 5f. und Sutherland (2002) 31. Gold (1992) 162 spricht gar von »polyvocality«. Etwas anders akzentuiert Juhnke (1963) 431, Anm. 1: »Maecenas’ künftiges Urteil ist zugleich inbegriffliche Verdichtung aller künftigen Urteile«. Vergleichbar auch Schönberger (1966) 392: »Maecenas steht dabei für alle Leser, für alle Kunstkenner der Kulturwelt«. – Daß dieser Wunsch wenigstens zum Teil erfüllt wurde, deutet später carm. 4,3,13ff. an: Romae, principis urbium, / dignatur suboles inter amabilis / vatum ponere me choros [...]. 20 Vgl. z.B. Cic. orat. 183: eorum poetarum qui λυρικοί a Graecis nominantur [...]. Dementsprechend bemerkt auch Porphyrio zu lyricis vatibus: »›Graecis‹ utique intellegendum. nam nondum erant Romani.« 21 Zur diachronen semantischen Entwicklung von vates vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 15 mit weiterer Literatur. Die verschiedenen Konzeptionen des vates-Begriffes bei den einzelnen augusteischen Dichtern untersucht Newman (1967). 22 Vgl. auch Dunn (1989) 107: »the personal themes and Greek models of the λυρικός are to be combined with the religious and moral authority of the Roman vates.« Romano (1991) 469 spricht von der »propria idea di una unità artistica greca e romana«. – Syndikus (2001) I, 35f. allerdings weist darauf hin, daß Horaz nicht ausdrücklich sich selbst als lyricus vates bezeichnet, sondern nur die anderen, unter die er eingereiht werden möchte.
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6.2 Zu terrarum dominos evehit ad deos (V. 6) Zum ersten Mal wird die Sphäre des Mythos in den Versen 5f. thematisiert: Der edle Palmzweig,23 also der Sieg bei einem großen sportlichen Wettkampf, erhebt den Sieger zu den Göttern.24 Dies ist wohl so zu verstehen, daß einerseits das Publikum den Athleten ehrt und ihm zujubelt wie einem Gott, daß andererseits aber auch der Athlet sich dann so glücklich und mächtig wie ein Gott fühlt.25 Die dei, bei denen wohl nicht an spezielle Götter zu denken ist,26 dienen hier als Vergleichspunkt bzw. Gradmesser27 für menschliches Glück, wobei allerdings der Bezug von terrarum dominos (V. 6) umstritten ist. Ein Teil der Interpreten betrachtet terrarum dominos als Apposition zu deos,28 andere beziehen den Ausdruck auf die Sieger der Wettkämpfe.29 Tatsächlich entspräche terrarum dominos als Apposition zu deos verstanden gängigen Vorstellungen.30 Indes kann man die Wendung aber auch als Ausdruck des persönlichen Empfindens der Sieger auffassen, die sich für einen Augenblick als Herren der Welt fühlen, ohne daß man darin Spuren von Hybris zu vermuten brauchte.31 Die letztere Deutung erscheint deshalb plausibler, weil in der 23 Denkbar ist freilich auch der Bezug von nobilis auf deos, wie schon Porphyrio zur Stelle hervorhebt (»ambiguum, utrum nobilis deos an nobilis palma.«). Da aber meta und rotis ebenfalls ein Adjektivattribut haben, wird man aus Gründen der Konzinnität wohl auch nobilis mit palma verbinden dürfen. 24 In den Versen 3-6 sahen z.B. Norberg (1945), Schönberger (1966) 402, Vretska (1971) 325, West (1995) 6 und Vielberg (1995) 195 eine Anspielung auf Pindars Epinikien für Sieger im Wagenrennen oder sogar ein literarisches Bekenntnis zu dem thebanischen Chorlyriker. Tatsächlich läßt sich in Horazens Kataloganfang eine Parallele konstatieren zu Pindar, fr. 221 (ἀελλοπόδων μέν τιν’ εὐφραίνοισιν ἵππων / τιμαὶ καὶ στέφανοι, / τοὺς δ’ ἐν πολυχρύσοις θαλάμοις βιοτά· κτλ.). Andererseits war ein Olympiasieg in solchen Katalogen ein »regular feature«, wie Nisbet/Hubbard (1970) 5 betonen. – Jedenfalls läßt sich, wie schon öfter beobachtet wurde, in dem Ausdruck evehit ad deos eine »Korrektur« bzw. Überbietung von Pindar P. 10,27 sehen (ὁ χάλκεος οὐρανὸς οὔ ποτ’ ἀμβατὸς αὐτῷ). – Die von den pseudacronischen Scholien angeführte Erklärung zu ad deos (»ad Capitolium, ac si diceret ›cum triumpho‹«) erscheint nicht plausibel. 25 So auch Maurach (2001) 160, Anm. 7: »Auf diese Weise wird aus einem Bilde die Kennzeichnung eines Selbstgefühls.« 26 Vgl. dazu Oppermann (1956) 56. 27 Hierzu vgl. im II. Teil Kap. 1.5. 28 Zum Beispiel Plessis (1924) 2, Romano (1991) 463 und Maurach (2001) 160, Anm. 7. 29 So z.B. Nisbet/Hubbard (1970) 6, Quinn (1985) 119 und Syndikus (2001) I, 29, Anm. 30 mit weiterer Literatur. 30 Vgl. z.B. Ov. Pont. 1,9,36 (terrarum dominos quam colis ipse deos); vgl. überdies Schönberger (1966) 393, Anm. 14 mit weiterer Literatur. 31 Diese Ansicht vertritt Fulda (1909) 626, der terrarum dominos zwar auf deos bezieht, aber dennoch von »Selbstvergötterung« und »bloße[r] Verstiegenheit und leere[r] Einbildung« spricht. – Noch gesteigert wird die adelnde Wirkung des Siegespreises in carm. 4,2,17f., wo es von der Siegestrophäe heißt: quos Elea domum reducit / palma caelestīs (v.l.: caelestes). – Zu weit ginge es wohl, als Parallele für terrarum dominos carm. 1,12 heranzuziehen, wo Erde, Olymp und
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Ode ja erörtert wird, daß für jeden gerade sein eigenes Tun das Größte ist. In diesen Kontext fügte sich terrarum dominos als Darstellung eines subjektiven Empfindens gut ein. Ein »Echo« findet diese Stelle in den Versen 29f.: Die dei werden in dis [...] superis (V. 30) wieder aufgenommen, und auch der Palmzweig der Athleten hat gleichsam ein Pendant im Efeu (hederae, V. 29) des Dichters.32
6.3 Mythische Toponyme Das nächste offensichtlich mythische Element, welches in Vers 15 auftritt, scheint prima facie nur eine triviale geographische Bezeichnung zu sein: Icariis fluctibus. Zwar handelt es sich dabei tatsächlich um einen geographischen Verweis auf das Meer zwischen Samos und Mykonos; doch ist der Kontext so stark stilistisch geformt, daß die Verwendung gerade des Adjektivs Icariis kaum dem Zufall geschuldet sein dürfte: Schon in Vers 10 war von den libyschen Tennen (Libycis [...] areis) die Rede, in Vers 12 von Bedingungen, wie sie nur ein Attalos machen könne (Attalicis condicionibus),33 und auch Schiff und Meer in den Versen 13f. waren speziell benannt worden (trabe Cypria; Myrtoum [...] mare).34 Wenn man dann noch die starke Durchformung des Verses 16 mittels zweier Alliterationen (mercator metuens otium et oppidi) betrachtet, erscheint es nicht abwegig, daß Horaz auch bewußt gerade das Ikarische Meer ausgewählt hat. Die Furcht des Kaufmanns (metuens, V. 16) würde dann durch die Nennung gerade desjenigen Meeres, welches seinen Namen nach dem verunglückten Ikarus erhalten hat,35 noch besser verständlich gemacht.36
Himmel zwischen Augustus und Juppiter aufgeteilt werden, so daß Augustus eine Art terrarum dominus ist. 32 So schon u.a. Kiessling/Heinze (1955) 8. 33 In ähnlichen Kontexten werden sonst oft die mythischen Gestalten Midas und Kroisos verwendet, um einen Grad des Reichtums auszudrücken, worauf auch Kiessling/Heinze (1955) 5 und Seita (1985) 31, Anm. 30 hinweisen. Zu mythischen Figuren als Gradmesser bei Horaz vgl. im II. Teil Kap. 1.5. 34 Auf die Neigung des Horaz zur konkreten Benennung weisen unter anderem auch Stemplinger (1913) 2383 und Kiessling/Heinze (1955) 6 hin. 35 Daß diese Bedeutung in augusteischer Zeit noch beim Hören der Bezeichnung »Ikarisches Meer« mitschwingt, läßt sich aus carm. 4,2,3f. (vitreo daturus / nomina ponto) ersehen. Vgl. auch Ov. trist. 1,1,89f.: dum petit infirmis nimium sublimia pinnis / Icarus, Icariis (v.l.: aequoreis) nomina fecit aquis. 36 Ähnlich Seita (1985) 31f. – Cody (1976) 59 konstatiert denselben Sachverhalt, interpretiert ihn aber im Rahmen seiner ethischen Deutung von carm. 1,1 anders: »This moral lesson seems reinforced by the tendentious mythological allusion to Icarus […] whose eponymous sea testifies to the folly of immoderate ambition.«
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Akzeptiert man diese Deutung, kann man auch bei Myrtoum [...] mare im unmittelbar voraufgehenden Vers 14 einen solchen Hintersinn vermuten. Dieses Toponym, welches das Meer zwischen der Peloponnes und den Kykladen bezeichnet, kann etymologisch mit Myrtilos, dem Wagenlenker des Königs Oinomaos, verbunden werden:37 Nachdem Pelops im Wagenrennen um die Hand der Königstochter Hippodameia durch Manipulation des Myrtilos gesiegt hatte, stieß er seinen Komplizen bei Geraistos ins Meer.38 Vielleicht wollte Horaz durch die Verwendung dieses Toponyms auf Myrtilos’ Tod durch Ertrinken anspielen.39 Vor diesem mythischen Hintergrund würde auch das dem Bauern bzw. dem nauta beigegebene Adjektiv pavidus (V. 14) noch eine tiefergehende Erklärung erfahren. Es ist also wahrscheinlich, daß Horaz in dieser Passage geläufige geographische Namen auswählt und dabei durch die eponyme mythische Figur Assoziationen auslöst, die den zentralen Argumentationsgang unterstützen.40 Hier gelangt man in den Bereich der »redenden« Namen oder – mit etwas anderer Akzentuierung – der sogenannten Ambiguitäten. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen Horaz wohl bewußt eine mehrere Deutungen oder Assoziationen zulassende Formulierung gewählt hat.41 Ernst Doblhofer definiert diese Erscheinung folgendermaßen: Der Gebrauch sogenannter »Sprechender« oder »Redender« Namen schafft eine Ambiguität eigener Art, indem neben die unreflektierte Verwendung als Anrede oder Bezugnahme die Beziehung auf das Etymon tritt, die »wahre« Bedeutung, die ihrerseits wieder mehrere Assoziationen wachrufen kann.42
Ein solcher Fall scheint hier vorzuliegen. Horaz hat wohl ganz bewußt gerade diese beiden Toponyme gewählt (Myrtoum [...] mare, V. 14; Icariis fluctibus, V. 15), um durch den Anklang an die eponymen mythischen Gestalten deren verhängnisvolles Schicksal in Erinnerung zu rufen und so die Gefährlichkeit der See zu unterstreichen.43 37 Vgl. z.B. die pseudacronischen Scholien zur Stelle, die allerdings noch eine alternative Etymologie bieten. 38 Vgl. z.B. Eur. Or. 988ff. Ausführliche Informationen über Myrtilos findet man etwa bei Heinze (2000) 606. 39 Vgl. auch Kiessling/Heinze (1955) 6 und Romano (1991) 465. Gegen die oben vertretene Auffassung wendet sich Oksala (1973) 197, Anm. 1. 40 Dies ist jedoch nicht immer der Fall, wie die Aufstellung der in Horazens Œuvre vorkommenden Meere bei Kiessling/Heinze (1955) 6 zeigt. 41 Horazische Ambiguitäten (jedoch nicht diese Stelle) erörtert Doblhofer (1998) 55-65. – Dieses Phänomen steht freilich im Widerspruch zu einer Aussage des Horaz in ars 449: arguet ambigue dictum, wird dort über einen geschätzten Literaturkritiker gesagt. 42 Ebd. 59. 43 Weitere Orte, die durch ihren mythischen Namensgeber als gefährlich oder jedenfalls unwirtlich ausgewiesen werden, finden sich u.a. in carm. 3,4,28 ([non me exstinxit] Sicula Palinurus unda; gemeint ist das sizilische Vorgebirge, wo Palinurus ertrank) und in carm. 3,7,21f. (nam
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
6.4 Zu sub Iove frigido (V. 25) Ein weiteres mythisches Element begegnet in Vers 25, wo der Sprecher mit der Wendung sub Iove frigido das unwirtliche Wetter in den Blick nimmt, das den Jäger doch nicht von seiner Beschäftigung abbringen kann. Dieser metonymische Gebrauch, der den Himmel oder das Klima durch den dafür »zuständigen« Gott substituiert, tritt in der lateinischen Literatur – soweit bekannt – zum ersten Mal bei Ennius auf;44 Cicero belegt in de natura deorum ebenfalls diesen Sprachgebrauch, obgleich er dort Chrysipp zitiert.45 Die Wendung sub Iove (ohne Adjektiv) im Sinne von sub divo findet man später unter anderem auch bei Ovid.46 An dieser Horazstelle scheint der Ausdruck interpretatorisch auf den ersten Blick nur insofern verwertbar zu sein, als in gelidum nemus (V. 30) eine gewisse Parallele zu sub Iove frigido vorliegen könnte, weil beide Adjektive kühle Temperaturen bezeichnen.47 Vielleicht hat sich Horaz bei der Wahl des Substantivs aber auch ein Wortspiel gestattet: Der Jäger denkt nicht an seine tenera coniunx; vielmehr verbringt er die Nacht unter freiem Himmel (sub Iove).48 Gerade Juppiter aber, als großer Liebhaber und Ehebrecher bekannt,49 könnte solche Gleichgültigkeit einer schönen Frau gegenüber kaum verstehen. Die catuli des Jägers sind treu, wie in Vers 27 explizit gesagt wird; ob dies auch für seine Frau gilt, bleibt im Dunkeln. In diesem Fall schiene wieder die ursprüngliche, mythische Bedeutung von Juppiter durch die übertragene, »meteorologische« hindurch, so daß eine kunstvolle Ambiguität erzielt würde.
scopulis surdior Icari / voces audit adhuc integer). – Daß die Etymologie solcher Namen noch spürbar war und allgemein reges Interesse hervorrief, zeigt die Tatsache, daß Vergil in der Aeneis mehrere Aitiologien für Toponyme bietet (vgl. im I. Teil Kap. 5.10, S. 144). 44 Enn. scaen. CLIII: aspice hoc sublime candens quem vocant [manche zitieren auch: invocant] omnes Iovem. – Zur mythischen Metonymie vgl. auch im II. Teil Kap. 1.2 und 1.4. 45 Cic. nat. deor. 1,40: [Chrysippus] disputat aethera esse eum quem homines Iovem appellarent [...]. 46 Ov. fast. 3,527: sub Iove pars durat, pauci tentoria ponunt [...]. 47 In den beiden Adjektiven läßt sich ferner ein Kontrast zu den fervidae rotae des Wagenlenkers (V. 4f.) erkennen. 48 Gegen die Auffassung von manet als »die Nacht über ausharren« spricht sich allerdings Capponi (1986) 161 aus. – Jedenfalls kann man den Jäger als Gegenbild zu Sybaris aus carm. 1,8 betrachten, der für seine Lydia jeden sportlichen Ehrgeiz aufgegeben hat. 49 »Juppiter als Ehebrecher« ist zwar bei Horaz kein so beherrschendes Thema wie etwa in Ovids Metamorphosen. Dennoch ist durchaus auch diese Seite Juppiters explizit in den Oden vertreten, vgl. z.B. carm. 1,21,3f.; 3,16,1-8; 3,27,73.
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6.5 Die Verse 29-32a Ab Vers 29 kommt es nach dem Ende der Priamel zu einem gehäuften Auftreten des Mythischen, zu einer »Mythisierung des Lebens«, wie Kiessling/Heinze formulieren:50 Efeu, »gelehrter51 Dichterstirnen Lohn«, ein dionysisches Attribut, das als Anerkennung und Auszeichnung poetischer Leistung vor allem in den »kleinen« Gattungen gilt,52 gesellt den Dichter zu den Göttern des Himmels. Mit anderen Worten: Wer dem Sprecher bzw. Horaz53 – für seine lyrischen Leistungen, so muß man doch wohl ergänzen54 – diese Auszeichnung zuerkennt, macht ihn äußerst stolz, erhebt ihn gleichsam unter die Götter des Himmels.55 Dabei läßt sich in dem Ausdruck me [...] hederae [...] dis miscent superis, der den Grad des Glücks und des Ruhms des Sprechers veranschaulicht, aufgrund der Höhenmetaphorik eine Parallele zu den Ehren der Athleten sehen (palma [...] evehit ad deos, V. 5f.), freilich ohne daß beide Bereiche wirklich vergleichbar wären. Aber auch die »höhenmetaphorische« Wendung tollere honoribus aus dem Politikerbild (V. 8) klingt in den praemia des Dichters wohl dezent an. 50
Kiessling/Heinze (1955) 8. Am besten wird man hier die gewöhnliche Bedeutung von doctus, nämlich »gelehrt«, vermuten. Diesen Terminus kann man im engeren Sinne als Annäherung an die neoterische Konzeption des poeta doctus auffassen; man kann ihn aber auch im weiteren Sinne verstehen wie Schönberger (1966) 404: »›Gelehrt‹ ist, wer die poetische Theorie beherrscht, griechische Literatur und Metrik kennt und die Mythologie versteht.« Zu sehr verengt wird die Bedeutung von Quinn (1985) 120, der in doctus nur die Kenntnis der Vorgänger und ihrer Werke ausgedrückt sieht. Aufschlußreich ist, daß für Cicero Alkaios, Anakreon und Ibykos homines doctissimi et summi poëtae waren (Tusc. 4,71). – Wenig überzeugend ist der Vorschlag von Shey (1971) 195, Anm. 14 und Pomeroy (1999) 10, doctus als Gegenteil von indocilis (V. 18) zu verstehen. 52 Vgl. z.B. die Stellensammlungen bei Nisbet/Hubbard (1970) 13, Pasoli (1971) 430 und Syndikus (2001) I, 33, Anm. 46. Vgl. aber auch Krasser (1995) 100, Anm. 34, der betont, vor Vergil sei die Bekränzung mit Efeu nur bei »Ehrungen von Dramatikern im Kontext der dionysischen Agone« bezeugt. 53 Es gibt in dieser Ode keine Anzeichen dafür, daß der Sprecher nicht mit dem Autor identisch ist, obgleich der Autor natürlich eine persona tragen kann. Doch die Tatsache, daß Horazens Förderer Maecenas apostrophiert wird und daß im ersten Gedicht einer lyrischen Sammlung von lyrici vates gesprochen wird, legt es nahe, den Sprecher und Horaz in eine enge Beziehung zueinander zu setzen. 54 Anders Romano (1991) 468: »[praemia] indica il premio per una scelta di vita piuttosto che la ricompensa finale per i risultati artistici raggiunti.« Andererseits erklärt sie ebd.: »miscent dis superis [sic!] si riferisce a una reale partecipazione del poeta alla sfera divina, grazie all’ispirazione bacchica.« Andere verstehen die Verse 29f. so, daß der Sprecher ausdrücken wolle, er pflege – gewissermaßen a priori – schon wegen seines Daseins als Dichter Gemeinschaft mit den di. So drückt etwa für Krasser (1995) 13 das Leben im Kreise göttlicher Gestalten Theophilie aus. Vgl. ferner z.B. Vretska (1971) 330: »Hier aber vereinigen sich die di superi mit dem Dichter im irdischen Musenhain und würdigen ihn wie einst zu Saturns Zeiten ihres Umganges.« 55 Deplaziert ist die folgende Bemerkung bei Craig (1963) 86: »when he speaks of being ranked among the exalted gods of Olympus [...] one is sure of [his playfulness]. Olympian oxygen would never agree with Horatian lungs.« 51
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Dann aber folgt eine andere Szene: Während Hesiod am Helikon von den Musen besucht wurde, die ihn mit einem Lorbeerzweig und göttlichem Gesang beschenkten und ihm Themen für seine Dichtung auftrugen,56 trennen hier der kühle Hain sowie Nymphen- und Satyrnchöre den Sprecher vom Volk. Die Funktion dieses Bildes mythischer Wesen gilt es nun zu bestimmen. 6.5.1 Die Funktion der Verse 29-32a innerhalb der Ode Prima facie könnten nemus und Nympharum chori Stoffe und Inhalte horazischer Gedichte bezeichnen. Dann müßte man verstehen: »Mich trennt vom Volk die Beschäftigung mit Themen wie ›kühler Hain‹ und ›Nymphenreigen‹.«57 Zwar handelt es sich bei diesen Elementen tatsächlich um Inhalte, die in einigen Oden auftreten.58 Doch Haine und Nymphenreigen stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus den Themen horazischer Oden dar; ferner wird nirgends im Kontext signalisiert, daß hier eine Metonymie der Art »Stoff statt Beschäftigung mit dem Stoff« vorläge. Innerhalb der poetischen Fiktion scheinen demnach gelidum nemus und Nympharum [...] chori als real imaginiert zu sein. Für die innere Architektur des Gedichtes erscheinen folgende Aspekte wesentlich: Die Verse 29-32a zeigen eine Mystifizierung und Absonderung des Poeten: Im Musenhain (nemus), dem klassischen Ort der Abgeschiedenheit und der Quelle der Inspiration,59 wird der Dichter von ganz ungewöhnlichen Gefährten umgeben, von Gestalten, die nicht der normalen menschlichen Sphäre entstammen.60 Während in der Priamel niemand Um56
Hes. theog. 22ff.: αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν, / ἄρνας ποιμαίνονθ’ Ἑλικῶνος ὑπὸ ζαθέοιο. [...] καί μοι σκῆπτρον ἔδον, δάφνης ἐριθηλέος ὄζον / [...] ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν / θέσπιν, ἵνα κλειοίμι τα τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα, / καί με κέλονθ’ ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων, / σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν. Ausführlich äußert sich zu Hesiods Dichterweihe in der Theogonie z.B. Kambylis (1959) 34ff. – Kallimachos hingegen war im Traum auf den Helikon versetzt worden, wo er die Musen traf (vgl. z.B. Anth. Pal. 7,42). – Bei Vergil (ecl. 6,64ff.) wiederum befindet sich der Elegiker Gallus in der Gesellschaft der Musen, vgl. dazu im I. Teil Kap. 5.10. 57 So Porphyrio zu V. 31: »per ea s egregiam gloriam dicit consequi, de quibus canit; fere enim lyrico carmini materia de nemoribus ac fontibus est, et siqua sunt his similia aut proxima.« Ähnlich auch die pseudacronischen Scholien zu V. 30: »materiam ipsam carminis pro laude posuit«. 58 Vgl. z.B. carm. 1,4.30; 2,19; 4,7. 59 Zum Musenhain in der augusteischen Dichtung vgl. Troxler-Keller (1964), v.a. 40ff. 60 Zu Recht betont Krasser (1995) 80 den »scharfe[n] Kontrast zu jeglicher Form von Lebenswirklichkeit«. – Der Gegensatz »weiblich/männlich« sollte hierbei nicht überbetont werden, wie es Schönberger (1966) 404 tut: »Es ist bedeutsam, daß männliche und weibliche Wesen tanzen: die fruchtbare Spannung von Gegensätzen und ihr Zusammenspiel in kreisender Ordnung wirken im Weltgeschehen und im dichterischen Bild.«
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gang mit solchen Geschöpfen hatte, wird der Sprecher hier als von mythischen Wesen begünstigter Mensch gezeigt. Man kann also secernunt populo (V. 32) nicht nur örtlich verstehen, sondern muß darin auch eine Betonung der Andersartigkeit des Dichterberufs gegenüber herkömmlichen Berufen sehen.61 Dies wird noch deutlicher, wenn man die Verwendung von secernere im übrigen horazischen Œuvre berücksichtigt: Dieses Verb drückt meist aus, daß Dinge getrennt werden, die auch ihrem Wesen nach verschieden sind.62 Der Sprecher ist also wohl auch »wesensmäßig« vom populus getrennt, allerdings ohne daß letzterer negativ gekennzeichnet würde.63 Desweiteren läßt sich noch an eine andere Funktion denken: Da die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, daß sich mehrfach Verbindungen zwischen der Priamel und der »Selbstaussage« finden lassen (Siegeszeichen, Götternähe, sub Iove frigido – gelidum nemus usw.), erscheint es auch denkbar, in den Satyrn und Nymphen ein Pendant zum Publikum der sportlichen Wettkämpfe (implizit in den Versen 3-6 vorhanden) und zur turba Quiritium (V. 7) zu sehen, so daß auch der Dichter trotz seiner Trennung vom populus seine Leistungen dennoch in Gegenwart einer Zuschauermenge vollbrächte.64 Darüber hinaus erfüllen die Nymphen und Satyrn wohl auch die Funktion, die Natur »märchenhaft« zu beleben, wie dies auch in horazischen Frühlingsgedichten zu beobachten ist.65 Hiermit durchaus vereinbar ist ihre 61 Eine Funktion der Nymphen und Satyrn als »Vermittler zwischen der lyrischen Welt der Ideen und der alltäglichen Wirklichkeit« [so Oksala (1973) 69] kann ich nicht feststellen, da ja gerade das Untypische, Nicht-Alltägliche hervorgehoben wird. 62 Sat. 1,3,113 (iusto secernere iniquum); 1,6,63 (turpi secernis honestum), carm. 3,3,46f. (qua medius liquor / secernit Europen ab Afro), ars 397 (publica privatis secernere, sacra profanis). Nicht so deutlich allerdings epod. 16,63 (Iuppiter illa piae secrevit litora genti). Treffend Schönberger (1966) 403: »Es ist eine Trennung, die sich durch das Wesen zweier Dinge von selbst ergibt; zwischen dem Getrennten gibt es kaum Gemeinsamkeit.« 63 So jedoch z.B. Commager (1962) 308, der von »contempt for the malignum volgus« spricht. Schon die pseudacronischen Scholien hatten secernunt populo wie folgt paraphrasiert: »idest dant mihi meritum, ut a vulgo et vilibus separer«. Dies könnte man zum Beispiel durch einen Verweis auf Catull, c. 95b,2 (at populus tumido gaudeat Antimacho) unterstützen. Bekanntlich ist populus aber im Gegensatz zum eher pejorativen vulgus (vgl. z.B. Hor. carm. 3,1,1 und OLD s.v. 2) ein eher wertneutrales Substantiv (vgl. allerdings OLD s.v. 3). – Kallimachos hat zwar stellenweise deutlich seine Ablehnung gegenüber der Menge und dem allen Zugänglichen geäußert (z.B. epigr. 28,4: σικχαίνω πάντα τὰ δημόσια); dennoch sollte man nicht mit Coffta (2001) 69 aus dem Vorkommen der Begriffe »Menge« (turba, V. 7) und »Scheune« (horreo, V. 9) auf ein in der Ode vorgetragenes »Callimachean programme« schließen, zumal die beiden Substantive offensichtlich nicht in genuin poetologischem Kontext auftreten. 64 In diesem ungewöhnlichen »Publikum« sieht Davis (1991) 86 ein »forecast of its future reception (lacking in mass appeal, but appreciated by the docti).« 65 Zum Beispiel in carm. 1,4,5ff. (iam Cytherea choros ducit Venus imminente luna, / iunctaeque Nymphis Gratiae decentes / alterno terram quatiunt pede) oder in carm. 4,7,5f. (Gratia cum Nymphis geminisque sororibus audet / ducere nuda choros). Vgl. auch z.B. Oksala (1973) 69. Troxler-Keller (1964) 36 spricht von »mythische[n] Personifikationen der in der Natur wirkenden Kräfte«.
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Zuordnung zu Dionysos/Bacchus, wie sie andernorts bei Horaz festzustellen ist.66 Wenn man nun die Nymphen und Satyrn primär als den Thiasos des Bacchus ansieht, wird dadurch die bacchische Seite der horazischen Lyrik stärker akzentuiert.67 6.5.2 Der mythische Musenhain als Ausdruck von Selbstironie? Nachdem einige denkbare Funktionen innerhalb des Gedichtes geschildert worden sind, erhebt sich die Frage, was diese mythische Szene darüber hinaus über die Einstellung des Horaz gegenüber seiner eigenen Dichtung aussagt. Hans Peter Syndikus etwa vertritt die Ansicht, daß in der Priamel andere Berufsgruppen und Lebensmodelle zwar als im Vergleich zur Dichtung nicht minderwertig angesehen werden.68 Doch seien die einzelnen Bilder mit einer gewissen Ironie gezeichnet. Aufbauend auf dieser Beobachtung, glaubt er auch in der Darstellung des Dichterberufs ironische Elemente erkennen zu können, und deshalb diene die mythische Szene Horaz dazu, wie bei den anderen Berufsgruppen so auch bei sich selbst eine gewisse »Seltsamkeit« darzustellen, die eben darin bestehe, daß er Lyrik dichte und mit solchen Wesen Umgang pflege.69 Er präzisiert: 66 So z.B. in carm. 2,19,1ff.: Bacchum in remotis carmina rupibus / vidi docentem (credite, posteri) / Nymphasque discentis et auris / capripedum Satyrorum acutas. 67 Diesen Aspekt betonen u.a. Kiessling/Heinze (1955) 8, Pöschl (1970) 173 und Krasser (1995) 139 (»das bacchische Kolorit der Dichterexistenz«). Anders Troxler-Keller (1964) 36. Schönberger (1966) 405 wiederum sieht in der Gesamtheit von Musen, Satyrn und Bacchus »austauschbare Symbole für die Seiten des Göttlich-Musischen überhaupt«. 68 Syndikus (2001) I, 31. Eine gleichwertige Darstellung der anderen sehen auch Magariños (1949) 184, Kiessling/Heinze (1955) 1f., Juhnke (1963) 424, Anm. 2, Schmid (1964) 70, Schönberger (1966) 398, Esser (1976) 34, Quinn (1985) 117 und Maurach (2001) 164 gegeben. Diese Einschätzung wird auch unterstützt durch Aussagen, die Horaz andernorts macht, z.B. in carm. 1,31 und 4,3. – Allerdings ist zu bedenken, daß es gerade ein Charakteristikum von Priameln ist, daß das am Ende genannte Element zumindest in den Augen des Sprechers das vorzüglichste ist. Deshalb betrachten andere das Dichtertum als überlegen dargestellt, z.B. Wili (1948) 236, Musurillo (1962) 235 (»to show that the poet’s vocation is the greatest of all«), Nisbet/Hubbard (1970) 1, Seita (1985) 29, Mauch (1986) 201, Santirocco (1986) 17 und Dunn (1989) 107 (»The negative examples suggest the poet’s disdain for traditional achievements and for the temporary rewards of politics and wealth«). – Eine vermittelnde Position nehmen u.a. Krasser (1995) 81 (»bei allem Respekt vor der Leistung anderer [läßt die Priamel] Leben und Leistung des Dichters als etwas ganz Exzeptionelles kenntlich werden«) und Vielberg (1995) 199 ein (»Auf seine Weise auf Glückssuche, steht er trotz subjektiver Präferenzen auf derselben Stufe«). 69 Syndikus (2001) I, 31ff. Archeget dieser Deutung war wohl, obgleich Syndikus (2001) I, 29 sich explizit gegen ihn wendet, William Baxter, der in seiner Ausgabe von 1701 summierte: »Horatius fatetur se cum caeteris mortalibus insanire«. Ihm schloß sich auch Johann Gottfried Herder an, der dann konstatierte, »daß freilich jeder seine Neigung habe, daß es aber keiner an ihrer kleinen Dosis von Torheit fehle.« (zit. nach: J.G. Herder, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur 2/1, Kritische Wälder: Zweites Wäldchen, III: Über einige Horazische
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der lyrische Dichter war [in Rom] keine allgemein anerkannte Gestalt, hier gab es sehr wohl etwas zu erklären, fast zu entschuldigen. [...] In fast schalkhafter Weise zieht Horaz also gewissermaßen die Maske des üblichen Dichtertyps über, wie man ihn in Rom kannte: Er charakterisiert hier den Dichter so, wie ihn seine Landsleute sahen, als einen etwas exzentrischen, weltabgewandten Menschen, der sich seltsamen Phantasien hingibt. [...] Das Versetzen in eine irreale Welt und die Absonderung vom Volk ist also nicht als Vorzug aufgefaßt, sondern als eine Seltsamkeit.70
Diese Deutung erscheint jedoch schon deshalb problematisch, weil nicht alle Lebensbilder in der Ode als kritikwürdig oder »seltsam« dargestellt werden. Kritik kann man sicherlich in einigen Lebensbildern feststellen: Der Politiker ist auf die Gunst der mobilium turba Quiritium (V. 7) angewiesen; der Besitzer der Scheune ist egoistisch und unersättlich (proprio condidit horreo / quiquid […] verritur, V. 9f.). Der Kaufmann wiederum ist unbelehrbar und will sich nicht mit bescheidenem Besitz zufriedengeben (indocilis pauperiem pati, V. 18). Daß in die Beschreibungen der Soldaten und des Jägers als gegenläufiger Aspekt die Sichtweise von Müttern bzw. der Ehefrau eingearbeitet ist, wurde schon oben erwähnt. So weit kann man Kritik erkennen, Ironie jedoch weniger. Daß der aufgewirbelte Staub und die Gefahr beim Umfahren der Wendemarke das Bild des Olympiasiegers negativ färben, wie z.B. John V. Cody behauptet,71 läßt sich bezweifeln. Ohne Einschränkung positiv aber sind der (genügsame) Kleinbauer und der Genießer dargestellt, für deren Lebensweisen Horaz an anderen Stellen seine Sympathie deutlich bekundet.72 Man kann also nicht als Argument Rettungen und Erläuterungen, 2, hrsg. v. Regine Otto, Berlin/Weimar 1990, S. 308). Ähnlich auch Fulda (1909) 631ff., Büchner (1962) 93 (Horaz sage: »es hat eben jeder so seinen Beruf oder Spleen, ich bin eben Dichter.«), La Penna (1963) 217, Mauch (1986) 205, Lefèvre (1993) 228, Gold (1992) 184 und West (1995) 4f. (»slightly ridiculous«). – Vielberg (1995) 194ff., für den das Proömium insgesamt stark von rhetorischen Techniken geprägt ist, glaubt, daß sich die in den Lebensbildern vermutete Ironie direkt auf das Publikum beziehe (S. 199): »Daß Horaz die Lebensbilder hintergründig überzeichnet, erkennt fast jeder Interpret, doch es gibt keinen, der es rhetorisch deutet. Wer so vielleicht von seiner eigenen Schwäche hörte, mußte berührt sein und bemerken, daß es um ihn, um seine Sache ging. Natürlich wäre es moderne Übertreibung, hier von einer Art Publikumsbeschimpfung zu sprechen, aber mochte das betonte tua res agitur bei dem, der sich ertappt fühlte, nicht eine gewisse Irritation auslösen?« 70 Syndikus (2001) I, 31. 71 Cody (1976) 49. Ders. betont das ethische Thema zu sehr, wenn er ebd. auf S. 45 behauptet: »in the programmatic C. 1.1, Horace unites both ethical and literary values, and thereby projects the persona of a Socratic Callimachean vates.« 72 Aufrufe zur Bändigung der Habgier z.B. in carm. 2,2.18; 3,24; in den Satiren und Episteln passim. Eine Stellensammlung zu »genießerischen Tendenzen« des Horaz bietet Dunn (1989) 99ff. – Daß der Bauer in sat. 1,1,11f. im Rahmen einer Mempsimoiria, d.h. einer Klage über das eigene Los, als unzufrieden dargestellt wird, wirft kein schlechtes Licht auf den Kleinbauern in der vorliegenden Ode, wie Sutherland (2002) 25 glaubt. Deutliche Spuren einer solchen Mempsimoiria finden sich hingegen bei der Beschreibung des mercator; dessen negative Charakterisierung ergibt sich aber schon aus indocilis pauperiem pati (V. 18).
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anführen, daß die übrigen Lebensbilder durchweg alle ironisch gefärbt seien.73 Ferner ist eine deutliche, wesensmäßige Trennung des Sprechers von den Übrigen durch das Prädikat secernunt und seine lexikalischen Implikationen signalisiert (vgl. oben, S. 263), so daß man ohnehin nicht ohne Weiteres von den anderen auf den Sprecher schließen dürfte. Zur Stützung einer ironischen Deutung könnte man jedoch einwenden, daß Horaz andernorts den Aufenthalt von Dichtern im nemus durchaus belächelt oder gar verspottet. So heißt es zum Beispiel in epist. 2,2,77f.: scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbem, / rite cliens Bacchi somno gaudentis et umbra. Noch deutlicher ist eine Äußerung in der ars (V. 297f.), wenn auch dort nicht explizit von nemora gesprochen wird: bona pars [poetarum] non unguis ponere curat, / non barbam, secreta petit loca, balnea vitat. In der allgemeinen Wahrnehmung sind Dichter tatsächlich oftmals verwahrloste Gestalten, die sich an einsamen Orten, vor allem in Wäldern aufhalten. Auch spätere Äußerungen bei Quintilian und Tacitus zeigen, daß das Streben nach einsamen Orten und Hainen als »Marotte« galt.74 All diese Stellen können jedoch nicht als Argument für eine ironische Färbung der Verse 30ff. von carm. 1,1 angeführt werden. Denn während in carm. 1,1 die Rede vom Musenhain ist, von einem nemus, das sicher nicht in dieser Welt liegt,75 d.h. von einem symbolischen Ort, sind die oben genann-
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Vgl. auch Shey (1971) 188: »The satiric elements in this catalogue are unmistakable, but I think it a serious mistake to emphasize them. [...] If Horace’s intent was simply to exalt his life as a poet at the expense of other men’s pursuits, why did he mention the poor farmer and the wealthy prodigal with full and obvious admiration?« – Mauch (1986) 205f. bestreitet generell die Möglichkeit resp. Richtigkeit einer konkreten Auffassung: »Diese Darstellung beruht auf dem Prinzip der transparenten Entstellung, d.h. die Leser/Hörer konnten wissen, daß Horaz die Wirklichkeit verzerrt wiedergibt; was er ›eigentlich‹ sagen will, ergibt sich dann eher aus der Konkretisation des Textes durch den Leser/Hörer, da der Autor in diesem Fall keine eindeutigen Textsignale zur Rezeptionssteuerung gibt. Dies eröffnet mehrere, durchaus widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten [...] Wir halten es aber für sehr viel wahrscheinlicher, daß Horaz mit diesem Text (intendiert oder auch nicht) das melancholische Lebensgefühl in seiner Leserschaft bestätigt.« Dieser Ansicht wird man sich kaum anschließen. 74 Quint. inst. 10,3,22f.: non tamen protinus audiendi qui credunt aptissima in hoc nemora silvasque, quod illa caeli libertas locorumque amoenitas sublimem animum et beatiorem spiritum parent. mihi certe iucundus hic magis quam studiorum hortator videtur esse secessus. Tac. dial. 9,6 (es spricht der Redner Aper): adice quod poetis, si modo dignum aliquid elaborare et efficere velint, relinquenda conversatio amicorum et iucunditas urbis, deserenda cetera officia utque ipsi dicunt, in nemora et lucos, id est in solitudinem secedendum est. Im selben Werk antwortet der Dichter Maternus (12,1): nemora vero et luci et secretum ipsum, quod Aper increpabat, tantam mihi adferunt voluptatem, ut inter praecipuos carminum fructus numerem, quod non in strepitu nec sedente ante ostium litigatore nec inter sordes ac lacrimas reorum componuntur, sed secedit animus in loca pura atque innocentia fruiturque sedibus sacris. 75 So auch Troxler-Keller (1964) 35. Vgl. auch dies. ebd. auf S. 92: »gelidum (nemus) ruft mannigfache Vorstellungen und Empfindungen von Schatten, Wasser, belebenden Lüften usw. wach, ohne die Phantasie in eine bestimmte Bahn zu lenken.« Dieses gelidum nemus ist also nicht
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ten Stellen in einen ganz anderen Kontext einzuordnen: Sie stehen im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Diskurs darüber, ob beim Dichten dem Talent (ingenium/natura) oder dem »handwerklichen Können« (ars), also dem mühevollen Prozeß der Ausarbeitung und Perfektionierung, der Vorrang einzuräumen sei. Weil Horaz beide Aspekte als gleichberechtigt ansieht,76 verspottet er diejenigen, die glauben, daß sie sich allein durch äußeres Gebaren als Dichter erweisen könnten und daß schon der Aufenthalt in einem Hain ein untrügliches Zeichen für ein großes ingenium darstelle. Dies hat Irene Troxler-Keller klar gesehen und pointiert zum Ausdruck gebracht: Aus der Polemik von Horaz und Tacitus erfahren wir, daß die Dichter gern ihrem irdischen Villenpark die feierliche Bedeutung eines heiligen, inspirierenden Musenhaines gaben, daß Genie, Inspiration, Einsamkeit im Dichterhain Schlagwörter der Zeit sind, mit denen auch die Dichterlinge ihre naive, absonderliche Nachahmung des großen und wahren Dichtertums sanktionieren. [...] Damit macht er sich über die Naivität derer lustig, die nur den bequemen Lebensgenuß suchen, von göttlichem Geist und wirklichem Schaffen keine Ahnung haben und doch ihre Villa nemus nennen. Auf diese Weise treibt er ein schillerndes, ironisches Spiel mit den Formulierungen, die durch ein kleines Abbiegen von hohen Dichteridealen zu hohlen Schlagwörtern absinken.77
Das von Horaz in carm. 1,1 gezeichnete Bild seines eigenen Musenhaines aber hat nichts mit hohlen Schlagwörtern zu tun; das gelidum nemus mitsamt seinen Nymphen und Satyrn stellt ein durchaus ernstes Symbol der horazischen lyrischen Poesie dar. Ironische Nuancen zeigt der Text an dieser Stelle nicht.78 vergleichbar mit konkreten »musischen« Orten wie etwa dem Helikon, dem Pindos und dem Haimos, die in carm. 1,12 genannt werden. 76 Ars 408ff.: natura fieret laudabile carmen an arte / quaesitum est. ego nec studium sine divite vena / nec rude quid prosit video ingenium; alterius sic / altera poscit opem res et coniurat amice. 77 Troxler-Keller (1964) 46. – Daß Horaz in epist. 2,1,219ff. sich selbst in eine »Spottrede« über Dichter einschließt, tut der oben vorgetragenen Ansicht keinen Abbruch: An der genannten Stelle der an Augustus gerichteten Epistel spricht Horaz nur von etwas lästigen Verhaltensweisen von Dichtern, wenn es um Rezitationen oder um Anerkennung geht. Diese Schilderung bleibt jedoch ganz im Konkreten und ist nicht vergleichbar mit der Kritik an den »esoterischen« Verhaltensweisen« einiger insani poetae. Auch daß in sat. 2,1 das Bekenntnis zur Satiren-Dichtung auf die Gnome quot capitum vivunt, totidem studiorum / milia (V. 27f.) folgt, läßt nicht auf eine ironische Tendenz schließen, da die übrigen studia nicht abgewertet werden. 78 Ironie oder zumindest scherzhafte Übertreibung wurde ebenfalls im abschließenden Vers 36 vermutet (sublimi feriam sidera vertice), da ferire meist ein heftiges Anstoßen bezeichnet und sich dadurch ein leicht komischer Effekt ergeben könnte. Vgl. dazu u.a. Musurillo (1962) 238f., Craig (1963) 86, Connor (1987) 45 (»humour of a slap-stick comic type«), Dunn (1989) 108f., Romano (1991) 470, Pomeroy (1999) 13, Syndikus (2001) I, 34, Maurach (2001) 161 sowie Harrison (2007) 29 (»an incongruously literal picture which suggests a nasty headache«). Explizit gegen Ironie wendet sich Dönnges (1957) 56: »Ein derartig neuer Anspruch in solchen Zusammenhängen
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Ein deutlicher Unterschied zu traditionellen Vorstellungen vom Musenhain liegt in carm. 1,1 darin, daß der Sprecher offenbar nicht nur punktuell oder für eine gewisse Zeit in den Musenhain entrückt wird, sondern sich dauerhaft an diesem Ort aufhält.79 Vielleicht kann man hierin eine Parallele zum unbeirrbaren Festhalten des Bauern an seinem Los (numquam demoveas, V. 13) sehen, im weiteren Sinne auch zur Beharrlichkeit, mit welcher der mercator zur See fährt. Allerdings wird der Sprecher – im Gegensatz zu den anderen Dargestellten – nicht explizit bei einer Tätigkeit gezeigt.80 Was der Sprecher im kühlen Hain und mit den Nymphen und Satyrn »wirklich« erlebt, bleibt unerwähnt.81 Abschließend bleibt noch zu prüfen, ob sich vielleicht bei den Nymphen und Satyrn, mit denen der Sprecher verkehrt, eine ironische Färbung feststellen läßt. Syndikus, obgleich Verfechter einer ironischen Auffassung, weist selbst darauf hin, daß »dichterische[…] Gottheiten […] Bilder und Gestalten einer höheren geistigen Kultur in der Weise der Griechen« waren.82 Sollte also gerade die traditionelle Szene des Dichters im Kreise der ihn inspirierenden Kräfte im Proömium einer lyrischen Sammlung ironisiert werden? Das dürfte schwer vorstellbar sein. Einen Ansatzpunkt hierfür könnte man jedoch vielleicht in einer Äußerung in den Episteln sehen: ut mamuß zunächst ernst gemeint sein. Erst später kann er vielleicht auch einmal ironisiert werden.« Carmen 3,16,18f. (iure perhorrui / late conspicuum tollere verticem) sollte jedenfalls nicht in die Diskussion eingebracht werden, da es dort eindeutig um den sozialen Status geht. – Tatsächlich ließe sich eine leicht ironische Nuance im Abschlußvers verstehen als konzedierende Relativierung des eigenen Anspruches. Dieser Anspruch muß aber erst einmal in den Versen 29-34 artikuliert werden, bevor er durch Ironie abgemildert werden kann. Zudem sind die letzten beiden Verse, wie z.B. auch Vretska (1971) 331 betont, »ganz der äußeren Welt der Anerkennung zugewandt«, so daß Ironie in ihnen nicht den grundsätzlichen »inneren« Anspruch unterminierte. – Generell gegen jede Ironie spricht sich Schönberger (1966) 389 aus: »Eine Eingangsode, vergleichbar dem Musenanruf im Epos, verträgt sich nicht mit Unernst und Ironie.« Explizit gegen eine ironische Auffassung der beiden Schlußverse argumentiert auch Krasser (1995) 80. 79 Vgl. Troxler-Keller (1964) 38: »Der Musenhain der Ode I 1 nimmt im Dichtertum des Horaz eine neue und umfassendere Stellung ein als die Musenlandschaft der früher betrachteten Oden. [...] Nicht der schöpferische Augenblick, nicht plötzliche, momentane Entrückung, sondern ein Zustand ist dargestellt in einem Bild göttlicher Harmonie.« Dies. ebd. auf S. 39: »ein ständiges Sein und Verweilen in jener Sphäre: Der Dichter lebt dort; der Musenhain ist zu seiner Welt geworden.« 80 Vgl. Juhnke (1963) 424: »seine Erhöhung beruht auf seinem Sein, nicht auf seinem Tun«. 81 Vgl. Troxler-Keller (1964) 38: »In dieser Atmosphäre göttlicher Erfüllung und Vollkommenheit ist auch der Dichter anwesend, ohne eine bestimmte Tätigkeit, in ruhigem, friedenerfülltem Dasein. [Hier fehlt] die eigene Aktivität ganz. [...] Was der Dichter dort [im Hain] erlebt, bleibt absichtlich unausgesprochen, denn es ist göttliches Geheimnis.« Auch Connor (1987) 43 hebt das Fehlen von »calculated statements of day-to-day activities« hervor. 82 Syndikus (2001) I, 32. Vgl. auch Troxler-Keller (1964) 36: »für den römischen Dichter sind diese mythologischen Bilder, die bereits in der griechischen Dichtung mannigfache Gestaltung gefunden haben, eine willkommene Möglichkeit, in poetischem Zauber eine höhere, ideale Welt darzustellen.«
6. carmen 1,1
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le sanos / ascripsit Liber Satyris Faunisque poetas, / vina fere dulces oluerunt mane Camenae (epist. 1,19,3ff.). Doch hieraus auf Ironie in carm. 1,1 zu schließen, würde die Dinge auf den Kopf stellen. Die Sachlage ist hier ähnlich wie beim gelidum nemus; auch für die Episteln-Stelle gilt, was Horaz über den Hain als Dichtersymbol im Rahmen der poetologischen Diskussion sagt: Wenn man mangelnde Begabung durch bloße äußere Symbolik, durch leeres Gehabe ausgleichen will, dann verdient man beißenden Spott. Es genügt eben nicht, sich in Wäldern aufzuhalten oder Wein zu trinken, um Teil des bacchischen Thiasos und ein guter Dichter zu werden. Von einer solchen oberflächlichen Blasiertheit aber ist Horaz selbst weit entfernt, und auch im Scherz könnte er sie sich kaum vorwerfen, ohne sich und sein lyrisches Werk zu diskreditieren. Plausibler erscheint der auch von Syndikus herausgearbeitete Aspekt, daß Horaz durch die vom Alltäglichen wegführende Nymphenszene im Prologgedicht seiner Oden-Sammlung die Zäsur zwischen den dem Alltäglichen nahestehenden Satiren und der neuen Gattung der Lyrik betonen wollte.83 Zugleich aber dient die Nymphenszene, die »Homilie mit mythologischen Wesen«84, durch ihre auffällige Divergenz gegenüber der Priamel dazu, die Andersartigkeit des Lebensmodells des lyrischen Dichters Horaz zu erweisen.
6.6 Die Verse 32b-34 Das letzte mythische Element findet sich in dem Konditionalsatz der Verse 32b-34: Die vorher geschilderten Ereignisse treten nur ein, falls nicht die Musen Euterpe und Polyhymnia den Gebrauch der Flöte und der lesbischen Laute verweigern.85 Durch diese Formulierung wird die Fähigkeit, dichten zu können, in der traditionellen Form des Musengeschenks dargestellt. Formal läßt sich wieder eine Parallele zur Priamel finden: Dort war zum einen eine Bedingung für die Freude am politischen Erfolg (si mobilium turba Quiritium / certat tergeminis tollere honoribus, V. 7f.), zum anderen eine Bedingung für die Freude am Vermögen (si proprio condidit horreo, V. 9) angegeben worden. Dies läßt sich mit der durch si neque tibias etc. ausgedrückten Restriktion vergleichen. Indem Horaz hier von den Musen spricht, stellt er in Form eines Bescheidenheitstopos sein eigenes Können 83 Syndikus (2001) I, 33. Ähnlich auch Krasser (1995) 80: Der vorgestellte Lebensentwurf unterscheide sich von »dem eigenen vor der lyrischen Schaffensphase«, da mythologische Gestalten bei Horaz zuvor nicht als Bestandteile der Lebenswelt des Sprechers vorgekommen seien. 84 So Krasser (1995) 80. 85 Zu den Musen bei Horaz allgemein vgl. Oksala (1973) 77-85; zu den Musen überhaupt vgl. z.B. Walde (2000). – Die genannten Musikinstrumente tibiae und barbitos erläutert z.B. Schönberger (1966) 407 mit Anm. 53f.
270
II. Teil: Einzeluntersuchungen
als von ihrem Wohlwollen determiniert dar.86 Die Aussage über Polyhymnia gibt ihm dabei Gelegenheit zu betonen, daß es sich bei seiner Dichtung um äolisch-lesbische Lyrik handelt (Lesboum [...] barbiton, V. 34), d.h. Lyrik, die sich an den frühgriechischen Dichtern Sappho und Alkaios orientiert bzw. Lyrik, die in einen »Dialog« mit Praetexten dieser Poeten eintritt.87 In der Wahl gerade der Euterpe könnte sich – ihrem Namen (»die Wohlerheiternde, Ergötzende« o.ä.) entsprechend – die heitere Seite der horazischen Oden-Dichtung manifestieren;88 durch Polyhymnia (»die Liederreiche«) könnte – ebenfalls etymologisch – auf die metrische und thematische Vielfalt der carmina verwiesen sein.89 Somit ist das Sprechen über die Musen für Horaz ein Weg, um (implizit) programmatische Aussagen über seine eigene Begabung und Dichtungsart zu formulieren.90 Zugleich erfüllt der Konditionalsatz partiell auch die Funktion eines Musenanrufes, wie er am Anfang vor allem epischer Dichtung üblich ist. Indem der Sprecher sein Verweilen im Hain und seine Gemeinschaft mit den Nymphen und Satyrn als davon abhängig erscheinen läßt, ob Polyhymnia und Euterpe seinen Instrumenten »freien Lauf lassen«, bittet er zugleich indirekt um die Gunst der Musen.
6.7 Fazit In carm. 1,1 hat Horaz Mythologumena mit ganz unterschiedlichen Intentionen literarisch funktionalisiert. Es konnte schlüssig dargelegt werden, daß das Kolon terrarum dominos evehit ad deos (V. 6) das Glück der Sieger in sportlichen Wettkämpfen anschaulich-konkret darstellt. Terrarum dominos als Apposition zu den Siegern anstatt zu deos aufzufassen, wird durch den Kontext nahegelegt, da die umfangreiche Priamel verdeutlicht, daß für jeden Einzelnen gerade sein Tun das Größte und Erhebendste ist. Die mythischen Toponyme Myrtoum [...] mare in Vers 14 und Icariis fluctibus in Vers 15 verweisen einerseits auf bestimmte geographische Re86 Vgl. auch Syndikus (2001) I, 23. Vretska (1971) 330, Anm. 6 jedoch faßt si als siquidem auf und schlägt für die Übersetzung »so wahr« vor, was sich jedoch weniger glatt in den Gedankengang einfügen ließe. 87 In carm. 3,30,13f. rühmt sich Horaz bekanntlich, er habe princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos, und in carm. 1,32,4f. liest man: barbite, […] Lesbio primum modulate civi [...]. – Tibiae und barbitos sind hier in carm. 1,1 als Metonymien zu verstehen: Die Dichtung wird durch die sie (zumindest der Fiktion nach) begleitenden Instrumente substituiert. 88 So auch Oksala (1973) 79. Zu den Musennamen in den Oden allgemein vgl. Wójcik (1979). 89 Vgl. auch Hills (2005) 40, der ebd. überdies vermutet, barbitos repräsentiere monodische Lyrik, tibiae hingegen Chorlyrik. 90 Vgl. auch die von Oksala (1973) 84f. gebotene allgemeine Übersicht über die Musen in poetologischen Kontexten bei Horaz.
6. carmen 1,1
271
gionen. Andererseits aber hat Horaz, wie plausibel gemacht werden konnte, durch die Auswahl gerade dieser Toponyme seine Argumentation geschickt untermauert: Die Nennung dieser Ortsbezeichnungen evoziert die entsprechenden eponymen mythischen Personen nebst ihren verhängnisvollen Schicksalen und verdeutlicht so die Gefährlichkeit der See. Daß die Etymologie solcher Toponyme den zeitgenössischen Rezipienten bekannt war und ihr Interesse erregte, zeigen neben anderen Horazstellen auch Passagen in Vergils Aeneis, in denen Etymologien bzw. Aitiologien von Ortsnamen erläutert werden. In dem präpositionalen Ausdruck sub Iove frigido (V. 25) wiederum darf man vielleicht ein Wortspiel, eine humorvolle Antithese zum sich um seine tenera coniunx nicht kümmernden venator sehen: Juppiter wäre an einer schönen Frau nicht so desinteressiert. Falls diese Auffassung richtig ist, würden in jener Formulierung eigentliche Bedeutung und mythische Metonymie kunstvoll vermischt. Die Chöre der Nymphen und Satyrn, die den Sprecher bzw. den lyricus vates Horaz vom Volk absondern, illustrieren die Andersartigkeit des Daseins eines lyrischen Dichters im Vergleich mit den anderen Lebensbildern, ohne daß diese explizit abgewertet würden. Abgesehen davon, daß sie die Natur »märchenhaft« beleben, bilden die Nymphen und Satyrn in gewisser Weise auch ein Pendant zur Menge, die innerhalb der Priamel den Sportlern zujubelt bzw. den Politiker ehrt. Der Aufenthalt des Dichters im Musenhain wird hierbei als ebenso dauerhaft geschildert wie das Festhalten anderer Berufsgruppen an ihrer jeweiligen Tätigkeit. Obwohl das Verweilen im gelidum nemus und das Zusammensein mit Nymphen und Satyrn in anderen Kontexten thematisiert wird, um Kritik an dilettantischen Dichterlingen zu üben, welche ihr vermeintliches ingenium durch leeres äußeres Gehabe zu beweisen suchen, will Horaz in carm. 1,1 durch diese »Homilie mit mythischen Wesen« kaum sein eigenes lyrisches Schaffen ironisieren. Das von ihm in diesem Gedicht gezeichnete Bild seines eigenen Musenhaines hat nichts mit hohlen Schlagwörtern gemein; das gelidum nemus mitsamt seinen Nymphen und Satyrn stellt ein durchaus ernstes Symbol der neuen horazischen lyrischen Poesie dar. In den Versen 29ff. läßt sich kaum noch eine Trennlinie zwischen Mythos und »Realität« ziehen resp. erkennen; die imaginierte Situation ist in einen mythischen Rahmen eingefaßt. Der Konditionalsatz in den Versen 32b-34 schließlich erfüllt zum einen die Funktion eines Musenanrufes in modifizierter Form, indem der künstlerische Erfolg des Autors als vom Wohlwollen der Musen abhängig dargestellt wird. Zum anderen charakterisiert Horaz seine eigene Dichtung, indem er die – wohl jeweils bewußt wegen ihres Namens ausgewählten – Musen im Zusammenhang mit Musikinstrumenten nennt, welchen er ein poetologisch aufschlußreiches Adjektiv beigibt.
7. carmen 1,2
Durch die exponierte Stellung als nach dem Widmungsgedicht eigentliche erste Ode der Sammlung hat Horaz diesem Gedicht besonderes Gewicht beigelegt. Ihrem herausgehobenen Ort entsprechend, hat diese Ode in der Forschung große Aufmerksamkeit erfahren; von einem Konsens hinsichtlich des Anlasses, der Deutung zentraler Aspekte und der Gesamtintention der Ode ist man jedoch weit entfernt, so daß Egil Kraggeruds Feststellung »The student of Horace who cares to acquaint himself with the sizable modern discussion of Iam satis terris will probably end up with more questions than he had when he started.«1 aus dem Jahre 1985 auch heute wohl noch zutrifft. Doch zweifellos handelt es sich bei carm. 1,2 um ein »piece of poetic jewelry«, wie David Armstrong formuliert.2 Was die Frage nach Praetexten, Formen und Funktionen von Mythen in den horazischen Oden betrifft, kann dieses Gedicht die bisherigen Beobachtungen bedeutend modifizieren und erweitern. Da aber die Deutung der Mythologumena eng mit der Datierungsproblematik zusammenhängt und auch von einigen kontrovers diskutierten Einzelpunkten entscheidend beeinflußt wird, kann dieser Komplex erst angegangen werden, nachdem ein Überblick über das Gedicht gegeben worden ist.
7.1 Die Ode im Überblick Das Gedicht, dessen Struktur Ähnlichkeiten mit einem Päan3 aufweist, beginnt mit einem verzweifelten Ausruf:
1 Kraggerud (1985) 95. Vgl. auch Fabri (1964) 10 (»On ne lit pas cette Ode […] d’un coup, en y discernant sans peine l’unité profonde«), Williams (1968) 97 (»a poem whose meanings are not easily exhausted«), Cremona (1976) 91 (»Poche fra le odi oraziane presentano tante difficoltà interpretative come la seconda del libro primo«) und West (1995) 10 (»This is a difficult poem and first-time readers are earnestly advised not to worry about it«). Auch Schmidt (2002) 208 spricht von einem »schwierigen und unverstandenen Gedicht«. 2 Armstrong (1989) 97. 3 Über die Gattung »Päan« informiert umfassend Käppel (1992). Zur Päanform dieser Ode vgl. Cairns (1971b), besonders 68-70, wo auch auf Pindars 9. Päan (ein apotropäisches Gebet für die Rettung Thebens anläßlich einer Sonnenfinsternis) als möglichen Praetext hingewiesen wird. – Zu Vorsicht in dieser Frage mahnt allerdings Oksala (1973) 89, Anm. 2.
273
7. carmen 1,2 iam satis terris nivis atque dirae grandinis misit Pater et rubente dextera sacras iaculatus arces terruit urbem,
v.l.: orbem
Schon genug an Schnee und schrecklichem Hagel hat den Ländern der (Götter-)Vater geschickt, und indem er mit der roten Rechten die heiligen Höhen mit dem Blitz traf, erschreckte er die Stadt,
Die Gedichtsituation scheint in oder nach einer oder mehreren schweren Unwetterkatastrophe(n) angesiedelt zu sein: Schon (oder »nun«?) ist genug und übergenug4 an Schnee und Hagel, der als »schrecklich« (dirae, V. 1) bezeichnet wird, auf die Erde herabgekommen. Daß es sich dabei nicht um eine bloße meteorologische Auskunft über die Niederschlagsmenge handelt, zeigt das Kolon misit Pater (V. 2): Juppiter, der höchste römische Gott, Vater der Götter und Menschen, hat diese Unwetter geschickt, worin sich zwei Vorstellungen vermischen: Einerseits ist Juppiter noch in seiner archaischen indogermanischen Funktion als Niederschläge schickender Wettergott gedacht.5 Andererseits sind diese Erscheinungen nicht zufällig; vielmehr haben sie intentionalen Charakter: Juppiter schickte sie zu einem bestimmten Zweck, der jedoch erst im weiteren Verlauf des Gedichtes erkennbar wird. Doch nicht nur Schnee und Hagel, sondern auch Blitze schleuderte Juppiter. Dabei ist der Farbeindruck der zuckend leuchtenden Blitze auf die sie schleudernde Hand übertragen, wobei diese Enallage aber dadurch abgemildert wird, daß die Hand im Widerschein ebenfalls leuchtet.6 Indem Juppiter mit seinem Blitz die heiligen Höhen – wohl diejenigen des Kapitols – traf, verlieh er seinem Zorn deutlichen Ausdruck und versetzte Rom dadurch in Angst und Schrecken. Während die Frage nach der Art dieser Erscheinungen (»normale« Unwetter, echte oder fiktive Prodigien?) vorerst zurückgestellt wird, muß hier schon darauf aufmerksam gemacht werden, wie sehr sich dieses Gedicht 4 Man könnte iam sowohl als »schon (früher)« wie als »nun im Moment« auffassen. Ausführungen dazu finden sich z.B. bei Fraenkel (1957) 288, der iam satis im Sinne von »genug jetzt, Schluß jetzt endlich!« versteht. Anders z.B. Kraggerud (1985) 101, der iam auf die Vergangenheit bezieht: »This means that the person involved has been suffering for quite a while and hopes finally to be rid of it.« 5 Vgl. griechisch ὕει »[Zeus] läßt es regnen«, z.B. in Alkaios fr. 338 (ὔει μὲν ὀ Ζεῦς, ἐκ δ’ ὀράνω μέγας / χείμων κτλ.). – Juppiter tritt auch sonst mehrfach bei Horaz als Wettergott in Erscheinung, z.B. in carm. 2,6,17f.; 2,10,15-17; 3,10,7f. 6 Auf die Verbindung dieser Stelle zum Bezugsproblem des Adjektivs corusca in Verg. georg. 1,328f. (in nocte corusca / fulmina molitur dextra) geht Fraenkel (1957) 288f. ausführlich ein. – Im Übrigen erinnert diese sehr gewählte Formulierung an ∆ία [...] φοινικοστερόπαν bei Pindar (O. 9,6); einen Überblick über mögliche pindarische Einflüsse auf die Ode bietet Waszink (1966) 114ff.
274
II. Teil: Einzeluntersuchungen
von Lukrezens Gedankenwelt unterscheidet. Wie oben (I. Teil, Kap. 5.8) bei der Behandlung des lukrezischen Mythosgebrauchs hervorgehoben worden ist, bestreitet Lukrez jegliches intentionale Moment von Naturerscheinungen. Als Beispiel mit apodiktischer Kraft führt er das althergebrachte Argument an, daß Blitze keinen göttlichen Zorn verkörpern könnten, da sie Schuldige wie Unschuldige unterschiedslos träfen und sogar in Tempel einschlügen.7 Auch Horaz selbst hatte in den Satiren ein Eingreifen der Götter vom Himmel aus entschieden negiert.8 Hier liegt jedoch die genau umgekehrte, traditionelle Deutung vor: Unwetter und Blitze als intentionale Reaktionen einer erzürnten höheren Macht. Nun wird der Inhalt der sich ausbreitenden Angst detailliert beschrieben (V. 5-12): 5
10
5
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terruit gentis, grave ne rediret saeculum Pyrrhae nova monstra questae, omne cum Proteus pecus egit altos visere montis, piscium et summa genus haesit ulmo, nota quae sedes fuerat columbis, et superiecto pavidae natarunt aequore dammae. er erschreckte die Völker, daß zurückkomme das schlimme Zeitalter der Pyrrha, die unerhörte Wundererscheinungen beklagen mußte, als Proteus all sein Vieh trieb, damit es die hohen Berge besichtige, und als der Fische Geschlecht hing im Wipfel der Ulme, die der gewohnte Platz für die Tauben gewesen war, und als im alles überflutenden Meer furchtsam die Rehe schwammen.
Der Schrecken (betont durch die Anapher von terruit) hat nicht nur die Stadt (urbem, V. 4), sondern – wohl ein wenig hyperbolisch formuliert – die ganze Menschheit (gentis, V. 5) erfaßt. Der Gegenstand dieser Furcht wird erst kurz genannt, dann mit eindrucksvollen Bildern umschrieben: Die 7 Lucr. 2,1101ff. (tum fulmina mittat et aedes / saepe suas disturbet et deserta recedens / saeviat exercens telum quod saepe nocentis / praeterit exanimatque indignos inque merentis?) und 6,417ff. (cur sancta deum delubra suasque / discutit infesto praeclaras fulmine sedis / et bene facta deum frangit simulacra suisque / demit imaginibus violento vulnere honorem?). So schon Sokrates in Aristophanes’ Wolken 398ff., v.a. 401f.: ἀλλὰ τὸν αὑτοῦ γε νεὼν βάλλει καὶ Σούνιον ἄκρον Ἀθηνέων / καὶ τὰς δρῦς τὰς μεγάλας· τί μαθών; οὐ γὰρ δὴ δρῦς γ’ ἐπιορκεῖ. Weitere Stellen bei Nisbet/Hubbard (1970) 22. 8 Sat. 1,5,100ff.: credat Iudaeus Apella, / non ego; namque deos didici securum agere aevum, / nec si quid miri faciat natura, deos id / tristis ex alto caeli demittere tecto.
7. carmen 1,2
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Menschheit fürchtet die Wiederkehr einer neuen Sintflut.9 Um diesen Gedanken vorzutragen, bedient sich Horaz der mythischen Gestalt Pyrrha, die bekanntlich mit Deukalion zusammen als einzige die große, von den Göttern als Strafe gesandte Sintflut überlebte.10 Die in Vers 6 genannten nova monstra werden in den Versen 7-12 expliziert:11 Proteus, der u.a. aus Homers Odyssee 4,384ff. bekannte Meeresgott, trieb damals sein Vieh (gemeint sind Robben) auf die Berge hinauf (altos / visere montis, V. 7f.); Fische hingen in Baumwipfeln, von denen ausdrücklich bemerkt wird, daß sie früher der gewohnte Aufenthaltsort für Tauben waren, und Rehe mußten voller Angst im Meer schwimmen.12 Diese Bildelemente, die in anderen Kontexten oft als Adynata auftreten, um etwas als völlig ausgeschlossen darzustellen,13 werden hier verwendet, um die Ungeheuerlichkeit der damaligen mythischen Situation zu illustrieren. Wie auch Hans Peter Syndikus betont, stellen diese Bilder der ersten Sintflut keinen Ruhepunkt, sondern vielmehr eine Steigerung des Schreckens dar.14 Obwohl die Strophen 2 und 3 zum Teil als unangemessen oder gar komisch angesehen wurden,15 läßt sich diese Sichtweise wohl nicht halten. 9 Bezüglich der großen Flut und des saeculum verweisen Nisbet/Hubbard (1970) 22 auf die stoische Lehre vom magnus annus, dem Weltzeitalter, das durch eine ἐκπύρωσις oder einen κατακλυσμός beendet wird. Diese Konzeption, welche auch Kiessling/Heinze (1955) 12 andeuten, steht aber hier nicht im Vordergrund. 10 Vgl. z.B. die spätere Schilderung in Ov. met. 1,253ff. und dazu Bömer (1969ff.) zur Stelle. 11 Anders Cairns (1971b) 78f., der in den nova monstra nicht den Inhalt der Verse 7-12, sondern Prodigien sieht. 12 Zu antiken Sintflutsagen allgemein vgl. Caduff (1986). 13 Zum Beispiel in Verg. ecl. 1,59-63, Hor. epod. 16,25ff.; etwas anders Prop. 2,3a,5ff. – Zum Adynaton in der antiken Literatur allgemein vgl. Dutoit (1936). 14 Syndikus (2001) I, 45. 15 Porphyrio zu V. 9: »leviter in re tam atroci et piscium et palumborum [Porphyrio liest also palumbis statt columbis] meminit, nisi quod hi[i] excessus lyricis concessi sunt.« Ausführlich Erren (1979) 164, leider ohne Belege: »Nicht ganz so echt war der Schrecken. An ihm muß etwas Affektiertes gewesen sein. Das merkt man an der grotesken Verspieltheit, mit der Horaz die Große Flut anzeigt [...] Der hier nacherzählte Pantomimus entstammt nicht der Sorge um Rom, sondern der lebhaften Erinnerung an gewisse Höhepunkte der vergangenen Theatersaison[. Da] hatte es wohl in der gefluteten Arena solche Szenen von Proteus und Pyrrha gegeben, und die genüßliche Erinnerung daran war ein hübscher Kommentar zur Überflutung der Via sacra. Echte Sorgen vor einer Flutkatastrophe, oder gar echte Besorgnis wegen neuer Bürgerkriegsgefahr konnte das nicht ausdrücken.« Vgl. ferner Fabri (1964) 14 (»Horace la présente sur un ton tellement humoristique, nous dirions presque voltairien […] un sourire quelque peu narquois«), Wilkinson (1968) 62f., Quinn (1985) 122 (»an ironical note as a corrective of the grandiloquence of 1-4 […] sight-seeing expedition […] not aimed at stressing the terror or the pathos of the events depicted […] increasingly whimsical exploration of myth«), Connor (1987) 71f. (Proteus sei als »ridiculous« dargestellt; die ganze Szene »seems exactly like the holiday-outing of a tourist group«), Armstrong (1989) 97 (»tone of mythological spoof«); etwas anders Binder (2003) 50 (»surrealistische Welt des Mythos, die als Metapher steht für eine tiefe Verunsicherung und Angst des römischen Volkes.«). – Grundsätzliche Kritik bei Nisbet/Hubbard (1970) 23: »such descriptions are a frivolous way of describing chaos, and do not suit a political poem«; vgl. auch West (1995) 10: »Here
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Es handelt sich um eine Art Metakosmesis, eine Umkehrung der natürlichen Verhältnisse, ein Auf-den-Kopf-Stellen der naturgegebenen Ordnung. Derartige Situationen aber sind nicht lustig, sondern in höchstem Maße alarmierend.16 Solch eine Inversion des Naturgeschehens ist meist mit einer Verdrehung und Pervertierung der Normen des menschlichen Zusammenlebens verbunden. Zum Beispiel wird im Zusammenhang mit dem Thyestesmahl, bei dem Thyestes (unwissentlich) seine eigenen Kinder aß, oft von einer Umkehrung der regulären astronomischen Verhältnisse gesprochen, von einer Verkehrung von Tag und Nacht.17 Da nun in der hier angesprochenen »Pyrrhasintflut« eine Bestrafung von Seiten der Götter vorlag,18 wird der Gedanke nahegelegt, daß auch die jetzige Generation, die sich vor einer neuen Katastrophe solchen Ausmaßes fürchtet, eine zu sühnende Schuld auf sich geladen hat. Welche dies sein könnte, bleibt aber vorerst noch unklar. Teivas Oksala hingegen paraphrasiert die Verse 5ff. anders: Der blitzende Juppiter hat mit seinem Gewittersturm die Hauptstadt und die ganze Welt erschreckt […], damit er nicht zu einer die Menschheit vernichtenden Flut […] zu greifen braucht.19
Auch Oksala deutet das Geschehen intentional, doch wirkt seine Deutung forciert.20 Tatsächlich kann die in Vers 5 folgende Subjunktion ne auch »damit nicht« bedeuten. Dann müßte man Juppiter als gütigen Mahner auffassen, der die Menschen noch einmal wachrütteln will, bevor er zum
Horace indulges his taste for the surreal.« Tatsächlich heißt es in ars 29f.: qui variare cupit rem prodigialiter unam / delphinum silvis appingit, fluctibus aprum [...]. Diese Verse können aber für die vorliegende Frage nicht herangezogen werden. – Weitere Stellen aus der republikanischen und augusteischen Literatur, an denen dieses Motiv auftritt, verzeichnet und deutet Parker (1992). 16 Die Kritik, die Seneca (nat. 3,27,14) an der ovidischen Flutbeschreibung äußert, läßt sich nicht auf Horazens Gedicht übertragen und kann daher hier nicht als Argument herangezogen werden. 17 Zum Beispiel Ov. ars 1,327ff. (Cressa Thyesteo si se abstinuisset amore / [...] non medium rupisset iter curruque retorto / Auroram versis Phoebus adisset equis), trist. 2,391f. (si non Aeropen frater sceleratus amasset, / aversos Solis non legeremus equos) und Sen. Thy. 1094f. (aeterna nox permaneat et tenebris tegat / immensa longis scelera); in Frage gestellt wird das Mythologem allerdings in Eur. El. 737ff. 18 Zu den moralischen Zuständen vor der Flut vgl. Juppiters Feststellung (Ov. met. 1,211ff.): contigerat nostras infamia temporis aures; […] longa mora est, quantum noxae sit ubique repertum, / enumerare: minor fuit ipsa infamia vero. – Daß bei Ovid der Sintflut eine Götterversammlung vorausgeht, deren Atmosphäre mit der Stimmung in Rom nach einem Attentatsversuch auf den Kaiser verglichen wird, wie Commager (1962) 185, Anm. 52 betont, läßt sich für die Deutung der Horaz-Ode schwerlich nutzbar machen. 19 Oksala (1973) 86. 20 Es geht im Folgenden wohlgemerkt nur um das Verständnis des Wortlautes. Ob Oksala auf einer anderen Ebene recht haben könnte, wird später zu untersuchen sein.
7. carmen 1,2
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äußersten Mittel greifen muß.21 Viel plausibler erscheint es aber – gerade vor dem Hintergrund der Strophen 4 und 5, denen Kap. 7.2 gewidmet ist –, ne als Fortführung eines »Verbum sollicitandi«, nämlich terruit (V. 4), zu sehen: »Juppiter erschreckte die Stadt so sehr, daß sie fürchtete, daß usw.«22 Von der mythischen Vergangenheit zu Zeiten Pyrrhas, an deren Existenz keinerlei Zweifel geäußert werden, führen die vierte und die fünfte Strophe durch den Gebrauch der ersten Person Plural (vidimus, V. 13) zurück zur Person des Sprechers beziehungsweise zum römischen Volk23:
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vidimus flavum Tiberim retortis litore Etrusco violenter undis ire deiectum monumenta regis templaque Vestae, Iliae dum se nimium querenti iactat ultorem, vagus et sinistra labitur ripa Iove non probante uxorius amnis. Wir sahen, daß der Tiber lehmgelb, nachdem die Wogen ungestüm vom etruskischen Ufer abgewandt waren, dahinfloß, um die Denkmäler des Königs und den Tempel der Vesta niederzuwerfen, während er sich für die klagende Ilia zum Rächer im Übermaß aufspielte und während er ungebunden am linken Ufer dahinflutete, ohne daß Juppiter es guthieß, der der Gattin willfährige Fluß.
Wie man hier erfährt, hat der Tiber, gelb von Lehm und Schlamm, in bedrohlich-gewalttätiger Weise (violenter, V. 14) sein Flußbett verlassen. Aber auch hierbei handelt es sich nicht einfach um ein klimatisches Phänomen, sondern vielmehr um eine zielgerichtete Aktion des Flusses, wobei 21 Zwar kann man bei Porphyrio lesen: »quod terreri Iuppiter populum iusserit, non perire.« Doch diese Erklärung bezieht sich nicht auf ne in Vers 5, sondern auf Iove non probante in Vers 19. 22 Vgl. Plessis (1924) 7: »ne après terrere [...] s’explique aisément par l’idée de crainte présente dans ce verbe«. Eine ähnliche Konstruktion findet man auch bei Tac. hist. 2,63,2: terruit, ne (v.l.: tamquam e) [...] adfectaret. 23 Zur Besonderheit der Aussageform, welche hier in der Verwendung der ersten Person Plural liegt, vgl. Fraenkel (1957) 296f. (der Dichter spreche im Namen des gesamten Volkes), Womble (1970) 4 (»The poem is the expression of the corporate voice of the Romans«), Cairns (1971b) 69 (nos als »plural chorus«), Cremona (1976) 108 (»poeta vate, che parla in nome della comunità«) und 117 (»la prima persona, con cui non è designato il poeta, ma tutta la sua generazione con lui«), Syndikus (2001) I, 38 (»er [ergreift] wie ein öffentlicher Sprecher das Wort im Namen des ganzen Volkes«) und ausführlich Sutherland (2002) 32ff. – Etwas anders Armstrong (1989) 97: Horaz spreche »for the rest of the empire en masse«, d.h. ohne den Senat und die »Warlords«.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
sich diese Intentionalität in dem Supin I deiectum ausdrückt: Der personifiziert gedachte Fluß24 schickte sich an, die Regia, das Amtslokal des Pontifex maximus, und den Vestatempel niederzuwerfen, der unter anderem das heilige Staatsfeuer und geheimnivolle pignora der Macht Roms beherbergt.25 Zentrale Gebäude des Imperium Romanum schweben also in höchster Gefahr!26 Diese Personifikation und die Vorstellung des absichtsvollen Handelns werden in den Versen 17-20 fortgeführt: Der Fluß handelt so, um sich im Übermaß zum Rächer der klagenden Ilia aufzuschwingen,27 und dabei degradiert er sich selbst – vollends anthropomorph – zum willfährigen Diener seiner Frau (u- / xorius amnis, V. 19f.28). Dieser mythischen Motivierung steht aber eine widerstrebende, übergeordnete göttliche Kraft entgegen: Juppiter billigt dieses Vorgehen nicht; er heißt die eigenmächtige und übermäßige Racheaktion nicht gut.29 Die Frage nach dem Grund für Ilias Klagen muß ebenso wie die Frage nach dem Verhältnis der Strophen 4 und 5 zur ersten Strophe vorerst noch zurückgestellt werden. Eine neue Dimension eröffnet die sechste Strophe (V. 21ff.), indem sie in die Zukunft vorausblickt:
24 Dieser Personifikation kommt entgegen, daß bei Flußnamen meist die Vorstellung der darin lebenden Flußgötter mitschwingt. Vgl. dazu oben im I. Teil Kap. 5.1, S. 52. Deutlich kann man diese Überlagerung der Vorstellungen in Ov. met. 1,583f. bei der Beschreibung des Inachos sehen. Für Horaz vgl. etwa carm. 1,8,8f. – Selbst in der wissenschaftlichen Literatur des 1. Jh.s n.Chr. ist diese Sichtweise noch in Spuren vorhanden. So bemerkt Plinius d.Ä. in der naturalis historia (3,5,55): [Tiberis] vates intellegitur potius ac monitor, auctu semper religiosus verius quam saevus. 25 Vgl. hierzu z.B. Wissowa (1912) 159f. und Bömer (1958) 172 zu Ov. fast. 3,422. – Nisbet/Hubbard (1970) 26 machen darauf aufmerksam, daß der Vestatempel ein Teil der monumenta regis ist; ähnlich Quinn (1985) 123 (»monumenta and templa refer to the same complex of buildings, seen from a different point of view«). Das Enklitikon -que spezifiziert hier also. 26 Ähnlich wie bei der Sintflutschilderung sieht Connor (1987) 71 in der Tiberüberschwemmung jedoch eine »caricature« alexandrinischer Art. Ders. schränkt allerdings ebd. auf S. 72 ein: »The humour is grim. We do not mock at Tiber; the sensation is of discomfort«. 27 Für den Gesamtsinn ist es unerheblich, ob man nimium als Adverb auffaßt und mit dem Prädikat iactat verbindet oder ob man es als Adjektiv auf das Substantiv ultorem bezieht. Eine leichte Änderung der Aussage ergibt sich allerdings, wenn nimium als Adverb mit dem Partizip querenti verbunden wird, wie es z.B. Kiessling/Heinze (1955) 14 und Oksala (1973) 87 vorschlagen. In allen Fällen aber wird die Strophe von dem Begriff des »Zuviel« dominiert, dem Juppiters Mißbilligung entgegensteht. 28 Metrisch auffällig ist die Verteilung des Adjektivs uxorius auf zwei Verse, wobei allerdings alle Codices das metrisch unhaltbare probante / uxorius bieten). Will man diesem bei Horaz seltenen Phänomen eine Bedeutung beimessen, erscheint folgende Auffassung plausibel: Wie der Tiber seine Ufer überschreitet, so sprengt sein Attribut die gewöhnlichen Versgrenzen. Vgl. auch Mørland (1966) 113. 29 Anders faßte Daniel Heinsius im 17 Jh. die Stelle auf: Er bezog Iove non probante auf das Ereignis, das Ilias Klagen ausgelöst hatte, so daß der Ablativus absolutus kausale Bedeutung bekäme.
7. carmen 1,2
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audiet civis acuisse ferrum quo graves Persae melius perirent, audiet pugnas vitio parentum rara iuventus. Hören, daß Bürger Eisen schärften, woran besser die schlimmen Perser hätten zugrundegehen sollen, hören von Kämpfen wird die Jugend, durch die Schuld der Eltern gelichtet.
In Zukunft einmal wird die Jugend vernehmen, daß Römer ihre Waffen gegen Römer geschärft haben. Von Bürgerkriegen werden sie hören, einem schrecklichen Fehler ihrer Eltern (vitio parentum, V. 23), durch den das römische Volk insgesamt und die junge Generation im Speziellen zahlenmäßig dezimiert wurde (rara iuventus, V. 24).30 Dabei wäre der Kampf gegen die Perser, gefährliche (graves, V. 22) äußere Feinde, eine bessere Gelegenheit gewesen, die geschärften Schwerter zu benutzen! Auch hier liegt also eine Verkehrung der normalen Verhältnisse vor.31 Kontrovers diskutiert wird die Beziehung dieser sechsten Strophe zum Gedichtganzen, da eine sinnanzeigende Partikel fehlt:32 Es erhebt sich die Frage, ob es sich bei dem Futur I audiet (V. 21) um ein Hören in ferner, glücklicher Zukunft handelt, wenn die Bürgerkriege längst vergangene Ereignisse sein werden, oder ob der Infinitiv Perfekt acuisse (V. 21) gar keine vorzeitige Bedeutung hat, sondern hier aoristisch (als poetische Lizenz) anstelle des Infinitivs Präsens steht. Wird die Jugend also von den Bürgerkriegen als vergangenen oder als immer noch gegenwärtigen erfahren? Ferner ist nicht ganz klar, ob überhaupt die Kämpfe nach Caesars Ermordung gemeint sind (d.h. die Zeit von Philippi bis Actium) oder ob vielleicht an weitere Kämpfe nach einem eventuellen Rückzug Oktavians ins Privatleben zu denken ist. Auch diese Probleme jedoch müssen zunächst zurückgestellt werden. Nach der Schilderung der Krisensymptome in den Versen 1-24 sucht der Sprecher nun Möglichkeiten der »Heilung« und beginnt, in feierlichem Ton Fragen zu formulieren (V. 25-30a):
30 Wenn Cairns (1971b) 81 argumentiert, daß sich rara iuventus auf die geringe Zahl der Überlebenden nach der drohenden Flutkatastrophe beziehe, vermag dies nicht zu überzeugen. Ähnlich auch Ingrosso (1981) 197: »i pochi giovani che sopravvivranno a questa catastrofe«. 31 Man wird in pugnas eher die inneren Kämpfe Roms sehen. Anders Erren (1979) 167, der pugnas auf die Schlacht von Carrhae (53 v.Chr.) bezieht. 32 Schon Porphyrio bemerkt zu V. 21: »ἀσυνδέτως transiit.« Treffend auch Kiessling/Heinze (1955) 14: »Der geflissentliche Verzicht auf Ausdruck des Gedankenfortschritts […] erschwert das Verständnis des Zusammenhangs«. – Solche unvermittelten Übergänge sind aber im hohen lyrischen Stil, z.B. bei Pindar, bekanntlich nicht selten.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen quem vocet divum populus ruentis imperi rebus? prece qua fatigent virgines sanctae minus audientem carmina Vestam? cui dabit partis scelus expiandi Iuppiter? Wen von den Göttern soll anrufen das Volk für des zugrundegehenden Reiches Rettung? Mit welchem Gebet sollen die heiligen Jungfrauen Vesta bestürmen, die nicht recht die Gesänge erhört? Wem wird Juppiter die Rolle geben, das Verbrechen zu sühnen?
Im Ton der Verzweiflung wird gefragt, an wen sich das Volk in seiner Not (ruentis / imperi, V. 25f.) hilfesuchend wenden könne. Hierdurch wird eine archaische Form des Gebetes eröffnet, ein sogenanntes Reihengebet, bei dem nacheinander die flehentliche Epiklese verschiedener Gottheiten erfolgt.33 Eine doppelte Funktion erfüllt die zweite, schon konkretere Frage: Einerseits sucht sie zu erfahren, in welcher Form (prece qua, V. 26) die Vestalinnen sich an Vesta wenden könnten; andererseits wird eben durch diese Frage verdeutlicht, daß auch Vesta, die Hauptschutzgöttin Roms, Gebete kaum mehr gnädig erhört (minus audientem, V. 27), wodurch der Ernst der Lage unmißverständlich ausgedrückt wird.34 Die dritte Frage ist wieder allgemeinerer Natur: Sie will Aufschluß darüber erhalten, wem Juppiter die Aufgabe des Entsühnens übertragen werde. Durch die Wendung scelus expiandi wird jetzt endgültig festgestellt, daß die vorher geschilderten Schrecken eine göttliche Strafe für ein schweres Vergehen darstellen. Was aber ist konkret bezeichnet mit scelus? Die Bürgerkriege insgesamt? Caesars Ermordung? Vielleicht eine Schuld, die in mythische Zeit zurückreicht, eine Art Erbsünde? Auch darüber läßt sich wohl erst fundiert urteilen, wenn man das Gedicht als ganzes in den Blick nimmt. Jedenfalls verharrt die Frage nach dem Entsühner nicht mehr im Zweifel: Während vorher Fragen im dubitativen Konjunktiv gestellt worden sind, drückt die Verwendung des Futur I dabit die sichere Gewißheit aus, daß Juppiter tatsächlich jemanden mit dieser Aufgabe betrauen wird. Die Verse 30b bis 40 stellen nun nacheinander verschiedene denkbare »Entsühner« in Form mehrerer Apostrophen vor: 33 Ein instruktives Beispiel bietet Aischyl. Sept. 92ff., wo auf die Eröffnungsfrage τίς ἄρα ῥύσεται, τίς ἄρ’ ἐπαρκέσει / θεῶν ἢ θεᾶν; ein solches Reihengebet folgt. Vgl. z.B. auch Soph. Oid. T. 159-166.187ff. 34 Vgl. Cic. Font. 48, wo es von einer Vestalin heißt: cuius preces si di aspernarentur, haec salva esse non possent.
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tandem venias, precamur, nube candentis umeros amictus, augur Apollo;
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v.l.: candenti
sive tu mavis, Erycina ridens, quam Iocus circum volat et Cupido, sive neglectum genus et nepotes respicis auctor, heu nimis longo satiate ludo, quem iuvat clamor galeaeque leves acer et Marsi peditis cruentum vultus in hostem;
Marsi conj. Faber: Mauri ω35
so komm doch endlich – wir flehen darum im Gebet –, von einer Wolke an den strahlenden Schultern umhüllt, Wahrsager Apollon; oder wenn du lieber möchtest, lachende Göttin vom Berg Eryx, um die herum Scherz und Cupido fliegen, oder wenn du für dein vernachlässigtes Geschlecht und deine Enkel sorgst, Ahnherr, ach, vom allzu langen Spiel gesättigt, du, der du Vergnügen hast an Geschrei und glatten Helmen und der wilden Miene des Marserinfanteristen gegenüber dem blutigen36 Feind;
Zuerst wird Apollon in seiner Funktion als augur (und implizit als καθάρσιος) angerufen (V. 30-32), wobei er als nube candentis umeros amictus bezeichnet wird, so daß homerisches Kolorit erzeugt wird.37 Dann folgt Venus (V. 33f.), von ihrem Gefolge umgeben und nach ihrer Kultstätte auf dem sizilischen Berg Eryx hier Erycina genannt, wobei das attributive Partizip ridens eine Anspielung auf ihr homerisches Epitheton φιλομμειδής darstellen könnte.38 Eine längere Passage (V. 35-40) ist dem Kriegsgott Mars gewidmet, der darauf hingewiesen wird, daß es sich bei dem leiden35 Ob an dieser Stelle mit den Codices und den Scholien Mauri zu lesen ist oder ob man die von Tanaquil Faber ersonnene, von Richard Bentley virtuos verteidigte Konjektur Marsi übernehmen sollte, stellt eine umstrittene Frage dar. Vgl. dazu die Diskussion bei Nisbet/Hubbard (1970) 33 und Borszák (1973) 15ff., der nachdrücklich für das überlieferte Mauri eintritt. – Weg von konkreten sachlichen und historischen Gesichtspunkten führt eine Bemerkung bei Porphyrio zu V. 39f.: »Mauri pro cuiuslibet accipe bellicosae gentis; speciem enim pro genere posuit.«; ähnlich die pseudacronischen Scholien zu V. 39: »Maurum abusive posuit pro quocumque hoste«. 36 Nisbet/Hubbard (1970) 33 geben das Adjektiv cruentum mit »bloodthirsty« wieder. 37 Vgl. Hom. Il. 5,186: νεφέληι εἰλυμένος ὤμους (über einen unbekannten Gott); Il. 15,307f.: Φοῖβος Ἀπόλλων / εἱμένος ὤμοιιν νεφέλην und Od. 23,275: ἀνὰ φαιδίμῳ ὤμῳ (Odysseus über sich selbst). 38 Eine Übersicht über andere potentielle griechische Referenztexte gibt Goossens (1937) 73-79.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
den Volk doch um sein Geschlecht, seine Nachkommen handele, die er vernachlässige (neglectum genus et nepotes […] auctor, V. 35f.). Offensichtlich spielt der Sprecher hier darauf an, daß der Stadtgründer Romulus ein Sohn des Mars war und daß dieser Gott deshalb eine gewisse Fürsorgepflicht für »sein« Volk habe. Die zehnte Strophe hingegen dient dazu, Mars als einen Gott zu charakterisieren, der Vergnügen an Kampf und Krieg findet und sich an diesem Schauspiel sättigt (heu nimis longo satiate ludo, V. 37).39 Der Relativsatz (V. 38-40) zeigt jedoch bereits eine Möglichkeit, wie sich diese Begeisterung des Kriegsgottes auf eine für Rom unschädliche Weise entladen könnte, indem er verschiedene Kampfelemente nennt, die gegen einen hostis, einen Widersacher von außen, gerichtet sind. Dann aber wird Merkur apostrophiert (V. 41-44): sive mutata iuvenem figura ales in terris imitaris almae filius Maiae, patiens vocari Caesaris ultor: oder wenn du mit verwandelter Gestalt einem jungen Mann auf Erden ähnlich bist, du, der geflügelte Sohn der segenspendenden Maia, der du es zuläßt, genannt zu werden Caesars Rächer:
Durch die disjunktive Partikel sive wird die hier genannte Möglichkeit neben die anderen, vorher geschilderten als prinzipiell gleichwertig gesetzt. Hermes/Merkur, der geflügelte Sohn der Maia, wird in der Reihe der denkbaren Helfer als Letzter angerufen. Der Sprecher hält es dabei für möglich, daß jener sich trotz seiner edlen Abkunft und seiner Flugfähigkeit bereits auf Erden aufhält und während dieses Aufenthaltes die Gestalt eines jungen Mannes angenommen hat. Bis Vers 43 kann man nur mutmaßen, wer wohl gemeint sein könnte. Doch die Wendung Caesaris ultor klärt diese Frage: 39 Anders faßt Schmidt (2002) 210 den ludus auf: »Das Spiel, dessen Mars satt ist, soll der Bürgerkrieg sein, erklärte man bisher. Konnte Horaz in diesem Gedicht, konnte Horaz je den Bürgerkrieg ein Spiel nennen, auch nur ein Spiel für Mars? Und gibt es Kampf, dessen Mars, der Unersättliche, satt wird? Und wurde er satt an Krieg, wie kann dann Horaz fortfahren, daß ihn Kriegsgeschrei erfreue[? …] Man hätte sich im Bürgerkrieg nicht auf Mars berufen dürfen, Mars kämpft nicht im römischen Brudermorden. Das Spiel, dessen Mars satt ist, über dem er allzu lange sein Volk vernachlässigt hat, ist sein Tändeln mit Venus, infolge dessen äußerer Friede herrscht: Mars hat über der Liebe Krieg, d.h. auswärtigen Krieg, sein Wesensrevier, vergessen. Darum wird er an seine Lust am Krieg erinnert und der Krieg unübersehbar als römisch-italischer Kampf gegen einen auswärtigen Feind charakterisiert.« Ernst August Schmidt legt hier offenbar zumindest in Teilen das Bild aus Lukrezens Proömium des ersten Buches zugrunde, wo Mars dann von Krieg und Kampf abläßt, wenn er sich zu Venus begibt (V. 33ff.: in gremium qui saepe tuum se / reicit aeterno devictus vulnere amoris, […] suavis ex ore loquellas / funde petens placidam Romanis, incluta, pacem; vgl. dazu im I. Teil Kap. 5.8, S. 123f.). Einen Rekurs auf diese lukrezische Vorstellung signalisiert Horaz in carm. 1,2 jedoch nirgends.
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Über das Gedicht hinausgreifend, spielt der Titel Caesaris ultor, den Merkur freundlicherweise duldet (patiens vocari, V. 43), deutlich auf die Funktion an, welche Oktavian nach der Ermordung seines Großonkels und Adoptivvaters Gaius Julius Caesar gemäß der lex Pedia de interfectoribus Caesaris als dessen Rächer übernommen hatte.40 Schon hier kann man also vermuten, daß eine Identifizierung oder Annäherung des Merkur mit bzw. an Oktavian intendiert ist. Doch Horaz wird in den beiden abschließenden Strophen noch deutlicher (V. 45-52): 45
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serus in caelum redeas diuque laetus intersis populo Quirini, neve te nostris vitiis iniquum ocior aura tollat; hic41 magnos potius triumphos, hic ames dici pater atque princeps, neu sinas Medos equitare inultos te duce, Caesar. Spät erst mögest du in den Himmel zurückgehen, und lange mögest du glückverheißend beim Volk des Quirinus verweilen; und nicht möge dich, ungnädig wegen unserer Fehler, ein allzu rascher Lufthauch davontragen; hier mögest du vielmehr Gefallen an großen Triumphen finden, und daran, hier »Vater« und »führender Mann« genannt zu werden, und du mögest es nicht zulassen, daß die Parther ungestraft zum Angriff heranreiten, wenn du Führer bist, Caesar.
Die Apostrophe an Merkur weitet sich nun zu einem Gebet aus: Lange soll Merkur in Jünglingsgestalt auf der Erde verbleiben und dabei sich glückbringend unter das Volk des Romulus-Quirinus mischen, ohne über die Fehler dieses Volkes ungnädig zu sein. Diese Strophe ist also noch im gleichen demütigen Ton wie patiens vocari (V. 43) gehalten. Das Prädikat ames (V. 50) der finalen Strophe aber steht nicht mehr für ein bloßes Dulden, sondern schon für ein aktives Akzeptieren. Die letzte Strophe schildert nun als kriegerische Erfolge magnos [...] triumphos (V. 49) und in prohibitiver Form die Rache an den Parthern (V. 51), wodurch quo graves Persae melius perirent (V. 22) wiederaufgenommen wird. Die zerstörerischen 40 Zu Oktavians Racheabsicht für Caesar vgl. unter anderem R. Gest. div. Aug. 2 (qui parentem meum [trucidaver]un[t, eo]s in exilium expuli iudiciis legitimis ultus eorum [fa]cin[us e]t postea bellum inferentis rei publicae vici b[is a]cie) und Suet. Aug. 10 (nihil convenientius ducens quam necem avunculi vindicare), ferner Ov. fast. 3,709f. (hoc opus, haec pietas, haec prima elementa fuerunt / Caesaris, ulcisci iusta per arma patrem). 41 Pardini (1992) 147ff. schlägt folgende Konjektur vor: neve te nostris vitiis iniquum / ocior aurā // tolle; at hic magnos usw. Dieser Eingriff erscheint jedoch nicht notwendig.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Energien des Bürgerkriegs sollen nun kanalisiert und gegen die äußeren Feinde des Reiches gelenkt werden, wobei potius den zentralen Begriff darstellt. Diese außenpolitischen Erfolge umschließen die sich in den äußerst ehrenvollen Bezeichnungen pater und princeps manifestierende Anerkennung im Inneren.42 Ihren Höhepunkt erreicht die Ode erst im letzten Adoneus, ja sogar erst im letzten Wort: Dies alles, so heißt es, wird unter deiner Führung geschehen – Caesar! War vorher also noch in »enigmatischer« Form von Merkur in Menschengestalt die Rede, so wird hier offen Caesar, d.h. Oktavian, apostrophiert. Um ihn handelt es sich also bei dem Gott in Gestalt eines iuvenis, der Rettung in der Not bringen soll. Alle Andeutungen und Anspielungen finden ihre Auflösung im letzten Wort der Ode. Offenbar ist das ganze Reihengebet hier integriert worden, um auf die Pointe der »Gleichsetzung« Merkur/Oktavian hinzuführen. Vorsichtige Interpreten betonen zwar, daß Horaz die »Deifikation des Caesars und Inkarnation des Gottes« nur als eine Möglichkeit neben anderen darstellt.43 Obwohl die disjunktiven Partikeln sive […] sive […] sive das Wirken der Götter Apollon, Venus, Mars und Merkur nebeneinanderstellen, ist doch derjenige Teil, der sich mit Merkur beschäftigt, bei weitem die längste unter den Epiklesen.44 Merkur erhält Oktavians Rechtstitel Caesaris ultor; sein irdisches Wirken wird ausführlich beschrieben und in der letzten Strophe anhand typischer Funktionen eines Staatslenkers illustriert. Ferner gibt es zwischen dem im Indikativ gehaltenen sive-Teil (V. 41-44) und den im Konjunktiv Präsens vorgetragenen Wünschen (V. 45-52) keine einschränkende Formel wie etwa »Wenn das wirklich so ist, dann mögest du …«. Man wird schwerlich die Ansicht vertreten können, der Privatmann Quintus Horatius Flaccus wolle hier ernsthaft behaupten, daß in der historischen Person des Gaius Octavius eine Inkarnation des Hermes/Merkur vorliege. Doch der Lyriker, der vates Horaz gestaltet sein Reihengebet auf Merkur hin, den er in irgendeiner Form mit dem Herrscher Caesar-Oktavian verbunden sieht. Die Gesellschaft der anderen olympischen Götter, in der sich Oktavian hier befindet, und seine »Identifikation«45 mit Merkur inner42 Hierbei zeigt die letzte Strophe einen ähnlichen Gedankenfortschritt wie die vorhergehende: In beiden Strophen werden jeweils zwei Bitten in positiver und eine Bitte in negativer Form vorgebracht. 43 Oksala (1973) 90. Vgl. auch z.B. Doblhofer (1981) 1946f. Ferner ruft Binder (2003) 56f. zur Vorsicht auf. Daß dabit (V. 29) ein Futur I und kein Perfekt ist, trifft zwar zu, hat aber keine entscheidende Beweiskraft. Denn immerhin ist imitaris (V. 42) Indikativ Präsens, so daß keine Einschränkung des Gedankens mehr zu bemerken ist. – Wieder anders Schmidt (2002), nach dessen Ansicht die Sühne allen genannten Göttern aufgetragen wird; Oktavian stelle die »Synthese all dieser Friedenskräfte« (ebd. 162) dar, wobei die genannten Götter Aspekte einer Geschichtstheologie verkörperten (ebd. 320-334). 44 Merkur: 12 Verse – Mars: 6 Verse – Apollon: 2 ½ Verse – Venus: 2 Verse. 45 Zu den sich aus diesem Begriff ergebenden Problemen vgl. Kap. 7.7.1, S. 306ff.
7. carmen 1,2
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halb der lyrischen Fiktion bedeuten eine exzeptionelle Auszeichnung und Ehrung, so daß die hier vorliegende Konzeption weit über das hinausgeht, was man in carm. 1,6 beobachten kann, wo Agrippa und Oktavian durch die Kontextualisierung mit mythischen Helden des Trojanischen Krieges, aber auch mit dem Kriegsgott Mars indirekt eine Ehrung erfahren (vgl. Kap. 5). Doch damit ist wohl noch nicht alles über dieses Gedicht gesagt. Den für die Interpretation der Ode zentralen Fragen und Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden.
7.2 Zu den Versen 13-20 Im Folgenden müssen das Verhältnis der Ilia zum Tiber, der Grund ihrer Klagen, das zeitliche Verhältnis der Verse 13-20 zum Gedichtanfang und schließlich die Rolle des Tiber erörtert werden, um Orientierungspunkte für die hier intendierte Gesamtinterpretation des Gedichtes zu gewinnen. 7.2.1 Ilias Verhältnis zum Tiber Die zunächst nicht offenkundige Verbindung Ilias zum Tiber läßt sich mit einem Blick auf Porphyrios Kommentar zu V. 17f. erhellen: Ilia auctore Ennio in amnem Tiberim iussu Amul[l]ii regis Albanorum praecipitata […] Anieni matrimonio iuncta est. atqui [conj. Meyer: atque Cod.] hic loquitur, quasi Tiberi potius nupserit. Ilia wurde nach dem Zeugnis des Ennius auf Befehl des Amulius, des Königs der Einwohner von Alba Longa, in den Tiberfluß gestürzt; sie hat sich mit dem Anio ehelich verbunden. Hier jedoch spricht [Horaz], als ob sie eher den Tiber geheiratet hätte.
Ennius berichtet also eine myth-historische Begebenheit, in welcher die Vestalin Ilia [= R(h)ea Silvia, Romulus’ und Remus’ Mutter] – wegen des vermeintlichen Bruches ihres Keuschheitsgelübdes, so ist zu ergänzen – in den Tiber gestürzt wurde, dann aber nach der hier nicht genannten Rettung den Flußgott Anio resp. Anien, einen Nebenfluß des Tiber, heiratete.46 Horaz weicht hier jedoch, wie von Porphyrio ausdrücklich vermerkt wird, von dieser Version ab und läßt Ilia mit dem Tiber verheiratet sein. Eine ähnliche Notiz findet man bei Servius in seinem Aeneis-Kommentar zu 1,273. Dort heißt es: »tum ut quidam dicunt Iliam sibi Anien fecit uxorem, ut alii inter quos Horatius, Tiberis« (»Dann hat, wie einige sagen, Anio sich Ilia zur Frau gemacht, wie andere sagen, unter denen sich Horaz befindet, der Tiber«). 46
Vgl. Ennius, ann. fr. XXXIX.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Aus diesen und weiteren Testimonien47 kann man folgern, daß Horaz hier bewußt eine seltenere Mythenversion ausgewählt hat, welche für seine spezifische Intention – die mythische Deutung zeitgenössischer Ereignisse in Rom – besonders geeignet war. 7.2.2 Warum klagt Ilia? Für Ilias Klagen, deren »mythologische Motivation phantasieanregend unbestimmt« bleibt,48 und für die willfährige Racheaktion des Tiber werden in der Forschung mehrere Gründe angeführt: Einige denken an Caesars Ermordung, andere an die Bürgerkriege im Allgemeinen. Mit Recht also nennt Egil Kraggerud es »the hottest question of all, whether The Ghost of Caesar hovers over these troubled waters.«49 Manches spricht dafür, mit dem Gros der Interpreten den Grund für Ilias Klagen in Caesars Ermordung zu sehen:50 Da Ilia Vestalin war und Julius Caesar bei seinem Tod die Würde eines Pontifex maximus innehatte, könnte Ilia darüber klagen, daß 44 v.Chr. mit Julius Caesar der höchste religiöse Würdenträger Roms ermordet worden ist.51 Darüber hinaus besteht aber wohl noch eine (von Horaz hier eventuell zugrundegelegte) engere Beziehung zwischen der Vestalin und dem dictator:52 Bei Naevius und Ennius ist Ilia die Tochter des Aeneas.53 Horaz hat vielleicht an Ilia als Schwester des Julus gedacht, und somit fand er eine genealogische Verbindung zwischen Ilia und Julius Caesar: Die gens Iulia führte ihre Herkunft bekanntlich eben auf Julus, den Sohn des Aeneas, und über ihn auf Venus zurück;54 somit könnte Ilia am Schicksal 47 Die pseudacronischen Scholien berichten zu V. 20: »diversae de Ilia poetarum positiones sunt. nam Ilia […] mortua sepulta ad ripam Anienis fluvii dicitur, qui in Tiberim cadit, et, quia abundans aquis Anio cineres Iliae in Tiberim deduxit, dicta est Ilia Tiberi nupsisse, […] alii dicunt, quod ista Ilia Anieni nupserit; nam multi hoc sentiunt poetae [so z.B. Ov. am. 3,6,45ff.]. sed Horatius, ut Tiberi det causas irascendi, Tiberis magis dixit uxorem.« – Reprisen der »horazischen« Version verzeichnen Nisbet/Hubbard (1970) 26. 48 So Oksala (1973) 87. 49 Kraggerud (1985) 95. 50 So u.a. Porphyrio zu V. 17f., die pseudacronischen Scholien zu V. 17, Wickham (1912) 8, Plessis (1924) 8, Barwick (1935) 261, Gallavotti (1949) 217, Kiessling/Heinze (1955) 14, Bickerman (1961) 14, Williams (1968) 92, Oksala (1973) 87, Pietrusiński (1977) 110 und Syndikus (2001) I, 47. 51 Vesta klagt später über Caesars Ermordung in Ov. fast. 3,699f.: meus fuit ille sacerdos; / sacrilegae telis me petiere manus. 52 Vgl. zum Folgenden etwa die Ausführungen bei Kiessling/Heinze (1955) 14. 53 Servius auctus zu Aen. 1,273: »Naevius et Ennius Aeneae ex filia nepotem Romulum conditorem urbis tradunt«; Servius zu Aen. 6,777: »[Ennius] dicit namque Iliam fuisse filiam Aeneae.« 54 Vgl. Suet. Iul. 6 (Caesar in der laudatio funebris auf seine Tante Julia): a Venere Iulii, cuius gentis familia est nostra. – Nisbet/Hubbard (1970) 31 zeigen, wie sich Caesars Zeitgenossen über diesen Anspruch lustig machten.
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des Nachkommens ihres Bruders Anteil nehmen.55 Der Flußgott Tiber zerstört nach dieser Anschauung die Regia und den Vestatempel, wichtige Stätten des römischen Reiches, welche die fatalia pignora imperii bergen, um die Rachegefühle seiner Gattin gegenüber den Römern, die ihren Nachfahren getötet haben, zu befriedigen. Die Verfechter dieser Ansicht können sich auf Porphyrio berufen, der zu den ersten beiden Versen der Ode Folgendes bemerkt: haec autem omnia vult videri in ultionem occisi principis facta, et poenam eorum, qui bella civilia agere non desinebant. Er behauptet aber, daß all dies zur Rache für den getöteten Princeps geschehen zu sein scheine, und zur Bestrafung derjenigen, die nicht aufhörten, Bürgerkriege zu führen.56
Ilia würde also in diesem Falle rein persönliche Motive verfolgen, während Juppiter in allgemeinerem Rahmen Prodigien zur Warnung ausschickte.57 Akzeptiert man diese Auffassung, liegt es nahe, die beschriebenen Geschehnisse in die Zeit kurz nach Caesars Ermordung zu datieren; die Annahme einer Rache, die erst Jahre später stattfände, wäre wohl nicht plausibel.58 Doch auch für die Bürgerkriege im Allgemeinen als Ausgangspunkt der Klagen lassen sich Argumente anführen.59 Die unmittelbar folgende Strophe thematisiert doch gerade Bürgerkriege, und in ihr wird genügend Anlaß für Klagen geboten: Bürger schärfen die Waffen gegeneinander, anstatt Feinde zu attackieren, und die nachfolgende Generation wird zahlenmäßig deutlich dezimiert sein. Ilia würde dann darüber klagen, daß unzählige ihrer Nachfahren im Bürgerkrieg sinnlos fallen. Der von Wolf Steidle gegen diese 55 Auch Porphyrio bemerkt zu den Versen 17f.: »qu[a]erenti autem Iliae caedem Caesaris intellegendum.« 56 Freilich läßt das Zeugnis des Porphyrio aber auch die bella civilia insgesamt nicht außer Acht. Vgl. jedoch auch die pseudacronischen Scholien zu V. 1: »et inundatione Tiberis dicitur Roma laborasse, quod propter Caesarem in honorem Augusti Caesaris ultoris eius vult factum videri. […] haec omnia, idest fulmina, grandinem, diluvii metum intellegi vult vindictam Caesaris fuisse«. – Ausdrücklich wird von göttlichem Eingreifen gegen die Römer in carm. 2,1,25-28 gesprochen, wo die Verluste im Krieg gegen Jugurtha als vom Wirken Junos und anderer afrikafreundlicher Götter (Iuno et deorum quisquis amicior / Afris, V. 25f.) hervorgerufen dargestellt werden. In carm. 3,3 hingegen hebt Juno die Abhängigkeit Roms von ihrer Akzeptanz hervor (patior, V. 36). 57 Vgl. dazu Cairns (1971b) 80: »But Vesta and Ilia, who are the personally affronted parties, have been carrying their contribution to the pool of prodigia too far and actually bring about the beginning of the event of which Jupiter meant the prodigia only to be a warning.« Ähnlich auch Womble (1970) 6: »Jupiter caused the flood as an admonition; Tiber took the opportunity to try to bring about the annihilation of which Jupiter was warning.« 58 Dann allerdings ergibt sich die Schwierigkeit, daß für das Jahr 44 v.Chr. keine Tiberüberschwemmung zuverlässig dokumentiert ist, vgl. S. 301. 59 So Hirst (1938) 7-9 und Kraggerud (1985) 108 (»In the light of the symbolism just mentioned the goddess is angry because of the civil war. There is no reason to bring in Caesar’s name specifically in this connection«).
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Auffassung vorgetragene Einwand, es ergebe sich daraus eine unlogische Gedankenfolge,60 ist nicht stichhaltig: Die Tiberüberschwemmung ist ein Alarmzeichen; doch sie ist nicht die Ursache weiteren Leides. Gegen eine Fokussierung der Iliaklagen auf Caesars Ermordung sprechen ferner folgende Überlegungen: Wenn es tatsächlich um Caesar ginge, wäre es dann in einer an Augustus gerichteten Ode nicht ungeschickt und taktlos, zu behaupten, daß die Klagen um seinen Adoptivvater bzw. die aus ihnen resultierenden Racheaktionen übertrieben waren?61 Außerdem würde es doch wohl seltsam anmuten, wenn neben dem in positivem Kontext genannten Caesaris ultor (V. 44) ein zweiter in den Strophen 4 und 5 stünde, der pejorativ als »Weiberknecht« (uxorius) bezeichnet wird.62 Auch daß Caesars vormaliges Amtslokal und der Vestatempel »angegriffen« wurden, läßt sich nicht problemlos in eine procaesarianische Deutung einfügen.63 Schließlich verdienen zwei bedeutsame Argumente außerhalb des Gedichtes Beachtung. Bei dem ersten Argument handelt es sich um ein biographisches: Horaz hatte, wie er selbst in seinem Œuvre mehrfach unumwunden zugibt (carm. 2,7; epist. 2,2,46ff.), auf der Seite der Caesarmörder bei Philippi gekämpft. Darüber hinaus ist die siebte Satire seines wohl 35 v.Chr. veröffentlichten ersten Satiren-Buches auf eine Wortspielpointe hin komponiert, bei der ein Brutus einen Rex umbringen soll.64 Ferner erwähnt Horaz in seinem gesamten Werk Caesars Ermordung nirgends als Verbrechen. Nun mag man einwenden, daß biographische Argumente generell nicht vorgebracht werden dürften, daß der Sprecher nicht mit Horaz identisch sein müsse und daß Ilia aus ihrer Sicht der Dinge natürlich eine ganz andere Meinung als der Dichter haben könne.65
60 Steidle (1943) 23, Anm. 30: »Dadurch entsteht jedoch eine unlogische Gedankenfolge: Um Rom für den Bürgerkrieg zu strafen, richtet der Tiber eine Überschwemmung an, und die Folge dieses Prodigiums […] ist dann wieder der Bürgerkrieg!« 61 Ähnlich Hirst (1938) 8 und Nisbet/Hubbard (1970) 27 (»intolerably offensive to Caesar’s avenger and heir«). Freilich kann man dem entgegenhalten, daß es auch kein »zuviel Klagen« über die Leiden des Bürgerkrieges geben könne, wie z.B. Kraggerud (1985) 118, Anm. 64 einwendet. Da sich das »zuviel« aber auch auf die Bestrafung beziehen kann, wie oben (Anm. 27) gezeigt wurde, wiegt dieser Einwand nicht allzu schwer. 62 Allerdings ist es auffällig, wie stark die Ode von Polyptota und anderen Arten der »Wiederholung« geprägt ist: satis/satiate (V. 1.37), pater (V. 2.50), grave (V. 5.22), queri (V. 6.17), nimium/nimis (V. 17.37), ultor/inultos (V. 18.44.51), acuisse/acer (V. 21.39), vocare (V. 25.43). 63 Vgl. Kraggerud (1985) 110f. 64 Sat. 1,7,33ff.: Persius exclamat: »per magnos, Brute, deos te / oro, qui reges consueris tollere, cur non / hunc Regem [= P. Rupilius Rex] iugulas? operum hoc, mihi crede, tuorum est.« 65 Syndikus (2001) I, 44 allgemein zu solchen Erwägungen: »aber das ist Sache seiner Lebenswirklichkeit, nicht Sache der Gedichtsituation. Vielleicht ist es nicht unwichtig, daran zu erinnern, daß Horaz im ganzen Gedicht nicht in eigener Person spricht, sondern gewissermaßen als die Stimme des ganzen Volkes in der Wir-Form.«
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Zweitens ist zu konstatieren, daß ein direkter Hinweis auf Caesar in diesen Strophen fehlt. Es sind vielmehr äußere Zeugnisse, welche die Interpreten auf diese Spur gebracht haben.66 Hier ist vor allem die oben bereits zitierte Deutung Porphyrios (zu V. 1f.) zu nennen, in Horazens Darstellung sei alles in ultionem occisi principis geschehen. Doch auch diese Auffassung dürfte maßgeblich durch den Eindruck des Finales von Vergils erstem Georgica-Buch geprägt sein. Dort ist ebenfalls von Prodigien die Rede; bei ihnen aber ist der kausale Zusammenhang mit Caesars Ermordung explizit ausgedrückt: In 1,466 heißt es exstincto […] Caesare, und in V. 469ff. wird zweifelsfrei auf diese Zeit verwiesen: tempore quamquam illo tellus quoque et aequora ponti, / obscenaeque canes importunaeque volucres / signa dabant.67 Daß aber in Horazens Ode von jener Zeit die Rede wäre, wird nirgendwo klargemacht.68 Ferner sind die bei Horaz genannten Prodigien ganz andere als die vergilischen.69 Demnach darf man aus dem Finale von Georgica I wohl keine weitreichenden Analogieschlüsse für carm. 1,2 ziehen. Schließlich könnte man den Grund für Ilias Klagen auch in einem Unrecht vermuten, das ihr selbst widerfahren ist.70 Aufgrund des in diesem Fall 66 Vgl. Fabri (1964) 11: »Il se pourrait que le rappel du meurtre de César […] et que le parallélisme entre le Virgile de la première Géorgique et l’Ode à Auguste aient lancé les interprêtes sur de fausses pistes«. 67 Zeichen nach Caesars Ermordung werden ebenfalls (unterschiedlich) thematisiert bei Tib. 2,5,71f., Ov. met. 15,782-798, Plut. Caesar 69,4f. und Cass. Dio 45,17,2ff. Vgl. auch die Übersicht bei Wülker (1903) 91 zum Jahre 44. 68 Vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 17: »Horace’s debt to Virgil is so pervasive that it has led to a serious misunderstanding.« 69 Vgl. Hirst (1938) 8: »Snow and hail do not appear in the list of Caesarian portents, the flood mentioned by Virgil and Dio is that of the Po, Virgil’s thunderbolts fall from a clear sky but their goal is not indicated. [...] The only real coincidence in Horace is, significantly, with Dio, who wrote two hundred years later, and he very possibly took the portent from Horace, or, rather, from the commentators on Horace. [...] nowhere else is a Tiber flood recorded among those portents of 44 B.C.«; ähnlich auch Commager (1959) 40f.: »[Horace’s] images of disorder are not markedly similar to the portents after Caesar’s death […] and he has deliberately neglected the most remarkable – sweating and weeping statues, wolves in the streets, speaking cattle, volcanos and earthquakes. […] had he intended an immediately recognizable description he could easily have given one, for the material was not lacking. His description is, rather, deliberately vague enough to include the unnatural events after Caesar’s death without being so detailed as to restrict itself to these alone.« – Ein genauerer Vergleich der horazischen Ode mit der entsprechenden GeorgicaStelle wird unten in Kap. 7.8 vorgenommen. 70 So Erren (1979) 165, Anm. 3 (»Ilia [hat] vermutlich über ihre Todesstrafe geklagt, die sie als Vestalin mit der Empfängnis der Zwillinge Romulus und Remus verwirkt hatte«), Kraggerud (1985) 110 (»the ultimate cause for the inundation must be the punishment inflicted on Ilia due to her breach of chastity«), West (1995) 11 und Lowrie (1997) 143. Etwas anders MacKay (1962a) 174: »[Ilia] bore a long grudge against the city whose foundation had cost the life of one of her sons, and made the other a fratricide. Surely that was what was in Horace’s mind«. Nisbet/Hubbard (1970) 26 argumentieren auf zwei Ebenen: Auf der buchstäblichen Ebene klage Ilia, weil sie ertränkt wurde; in einem tieferem Sinne spielten auch die Bürgerkriege eine Rolle: »poets sometimes employ inconsistent forms of motivation simultaneously«. – Binder (2003) 51 vermutet den
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
sich ergebenden außerordentlich großen zeitlichen Abstandes zwischen Ursache und Ausführung der Rache wird man diese Möglichkeit aber als weniger plausibel erachten. Letzte Sicherheit läßt sich in dieser Frage wohl nicht erreichen; es scheint jedoch nicht zwingend nötig zu sein, Ilias Klagen in eine enge Beziehung zu Caesars Ermordung oder zu ihrer eigenen Familiengeschichte zu setzen.71 7.2.3 Das Verhältnis der Verse 13-20 zum Gedichtanfang Nicht ganz klar erscheint auch die Verknüpfung der Verse 13-20 mit dem Gedichtbeginn: Stellen diese Verse eine Vertiefung des vorher Gesagten dar, gibt es also keine zeitliche Divergenz zwischen den Strophen 1, 4 und 5? Oder beschreiben sie eine frühere Erfahrung, vor deren Hintergrund die aktuellen Geschehnisse zu bewerten sind? Denkbar ist, daß durch das Prädikat vidimus ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit herangezogen wird.72 Die Verfechter dieser Auffassung postulieren einen zeitlichen Abstand zwischen der ersten Strophe (die Strophen 2 und 3 sind ohnehin Rückgriffe in eine mythische Zeit), die in der Gedichtgegenwart situiert sei, und der vierten und fünften Strophe, die – wie durch das Perfekt vidimus ersichtlich sei – auf eine zurückliegende Erfahrung, eine Unwetterkatastrophe der jüngeren Vergangenheit, zurückgriffen. »Solche Furcht ist nur zu begreiflich; haben wir doch [damals] sehen müssen […]«, paraphrasieren Kiessling/Heinze.73 Hierbei werden Stellen aus römischen Elegikern angeführt, in denen eine Berufung auf die eigene Erfahrung durch vidi ausgedrückt wird.74
Grund für die Szene in Geschehnissen, die in der mythischen Genealogie noch eine Generation weiter zurückliegen: »Bereits in der mythischen Vorzeit Roms gab es Machtkonflikte – hier zwischen den Brüdern Numitor und Amulius. Die Seuche der Zwietracht, der discordia, gehört demnach schon zur Vorgeschichte Roms, und sie wird sich immer wieder durchsetzen«. 71 Vgl. Commager (1959) 42: »Ilia’s anger may well include such particulars [wie Verwandtschaft mit Caesar und auch ihre eigene Hinrichtung], but should not be confined to them. Porphyrio’s explanation is needlessly restrictive, and demands that we accept an historically dubious flood as its basis. [...] The lines are more significant as an image of a possible type of revenge than as the description of a specific punishment.« Ders. (1962) 180 relativiert allerdings: »if the motive for her complaint were crucial it would be surely less equivocal.« Vgl. auch MacKay (1962a) 173 (»Many of the difficulties in the interpretation of Odes, I, 2 arise from linking it, directly or indirectly, with disapproval of the murder of Julius Caesar«) und 174 (»To mix this [= die Tiberüberschwemmung] up with Julius Caesar is a resort of desperation, depending on the thinnest imaginable associations«. Dezidiert gegen einen Bezug auf Caesars Ermordung spricht sich auch Voit (1982) 491 aus. 72 Diese Auffassung findet sich unter anderem bei Plessis (1924) 8, Kiessling/Heinze (1955) 13, Womble (1970) 4, Numberger (1972) 15, Oksala (1973) 86f. und Kraggerud (1985) 97. 73 Kiessling/Heinze (1955) 13. 74 Tib. 1,4,33f.; Prop. 4,5,61f.; hinzuzufügen ist noch Ov. am. 1,2,11f.
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Das entsprechende temporale Adverb muß in dieser Paraphrase aber erst hinzugefügt werden; aus dem Text selbst kann man es nicht gewinnen. Die Gegner dieser These sehen jedoch keine zeitliche Distanz zwischen der vierten und der ersten Strophe.75 Vielmehr liegt ihrer Meinung nach in der vierten und fünften Strophe eine Fortführung und Steigerung der am Gedichtbeginn geschilderten katastrophenartigen Prodigien vor. In diesem Fall müßte vidimus mit Syndikus als Aussage eines ungläubigen Augenzeugen gedeutet werden: »Wir haben es [gerade] gesehen, wie unglaublich es auch sein mag!«76 Obgleich auch hier eine endgültige Entscheidung nicht leicht fällt, wird man der letzteren Ansicht eine höhere Plausibilität zubilligen: Nachdem der Bezug der Iliastrophen auf Caesars Ermordung wie oben gezeigt (Kap. 7.2.2) nicht mehr zwingend erscheint, gibt es auch keine Notwendigkeit mehr, die Verse 13-20 von den vorhergehenden Strophen zeitlich abzugrenzen, zumal der Tempusgebrauch (durchgängig Perfekt in den Hauptsätzen) nichts Derartiges andeutet. Wenn Horaz zwei verschiedene Fluten gemeint hätte, wäre dies doch wohl deutlicher von ihm signalisiert worden. Auch daß in die Darstellung noch die Schilderung der mythischen Pyrrhaflut eingeflochten ist, ändert an diesem Befund nichts: Daß es sich bei ihr um eine andere Überschwemmung als die aktuelle handelt, macht der Autor ja hinreichend deutlich. Überdies läßt sich mit Karl Barwick ein strukturelles Argument anführen: Wie terruit gentis durch die Strophen 2 und 3 erläutert wird, so wird terruit urbem durch die Strophen 4 und 5 mit Inhalt gefüllt.77 Somit wird man die Verse 1-20 als zusammengehörig betrachten dürfen. 7.2.4 Die Rolle des Tiber Mit der Gestalt des Tiber, des uxorius amnis, und seinen Handlungen ist eine wesentliche Aussage verbunden. Sein Verhalten ist anfangs durch das Adverb violenter (V. 14) als »gewaltsam«, »ungestüm« charakterisiert, und in der darauffolgenden Strophe wird es zweifach abgewertet. Unabhängig davon, ob man nimium mit querenti, mit iactat oder mit ultorem verbindet:78
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So z.B. Barwick (1935) 258, Steidle (1943) 23, Gallavotti (1949) 219, Fraenkel (1957) 290f., Williams (1968) 92, Nisbet/Hubbard (1970) 17, Pietrusiński (1977) 109, Kraggerud (1985) 105f., West (1995) 11 und Syndikus (2001) I, 43, Anm. 16. 76 Syndikus (2001) I, 46. 77 Barwick (1935) 258. – Iove non probante (V. 19) stellt hierbei keinen generellen Widerspruch zu Pater [...] terruit urbem (V. 2ff.) dar: Tibers Handeln steht nur aufgrund seiner Heftigkeit im Gegensatz zu Juppiters Willen. Vgl. dazu auch Kap. 7.2.4. 78 Vgl. dazu oben Anm. 27.
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Tibers Handeln ist übertrieben, ja er verfällt in Hybris.79 Dies wird durch den Ablativus absolutus Iove non probante noch verdeutlicht: Der Flußgott agiert gegen den Willen des Göttervaters;80 somit kann sein Verhalten nicht richtig sein.81 Zwar wird man durchgehenden Parallelisierungen mit historischen Persönlichkeiten gegenüber eher zurückhaltend sein;82 dennoch läßt sich konstatieren, daß die fünfte Strophe mit Tibers Handlungen eine negativ bewertete Verhaltensweise darlegt. Tibers übermäßige Rache ist nicht nachahmenswert.83
7.3 Worin besteht das zu sühnende scelus? Es bietet sich nun an, nach der Natur des scelus zu fragen, dessen Sühne Juppiter einem Retter anvertrauen wird (V. 29f.: cui dabit partis scelus expiandi / Juppiter?). Oftmals wurde das scelus mit dem Grund für Ilias Klagen gleichgesetzt, so daß man dahinter ebenfalls entweder Caesars Ermordung oder aber die Bürgerkriege bzw. beide Komplexe zusammen vermutete,84 obgleich dieser Schluß nicht logisch zwingend ist. Zweifellos ist aber in 79 Vgl. Commager (1959) 39: »The sacrilegous character of the river god’s revenge is dramatized by the buildings he attacks.« – Als Praetext für einen wütenden Fluß wird man das Toben des Skamandros/Xanthos im 20. Buch der Ilias ansehen dürfen, wie auch Kraggerud (1985) 109 betont. 80 Anderer Auffassung war im 17. Jh. Daniel Heinsius, der den Ablativus absolutus kausal auflöste, da sich Iove non probante auf die Ermordung Caesars beziehe, nicht auf das Agieren des Tiber. Diese Deutung erlaubt der Text jedoch nicht. – Nisbet/Hubbard (1970) 27 wiederum halten auch einen Lapsus des Horaz für möglich: Iove non probante könnte einen Widerspruch zur ersten Strophe darstellen, und Horaz habe diese eventuelle »minor incoherence« vielleicht nicht bemerkt. 81 Nussbaum (1961) 415 über Juppiter: »clearly he stands for the supreme moral agency governing the world, however this is to be conceived.« 82 Anders Nussbaum (1961) 408, der in dem Adjektiv uxorius einen Anhaltspunkt dafür sieht, Tiber mit Antonius und Ilia mit Kleopatra zu parallelisieren. Ohne Bedenken auch Quinn (1985) 123 (»the symbol of the uxorius Mark Antony in revolt against his own country«). Kritik daran äußert schon Kraggerud (1985) 119, Anm. 72. 83 Weiter geht Commager (1959) 50: »we may take lines 17-20 as an evocative symbol of one type of revenge [...] Horace presents a kind of parable to caution Octavian […] against further punishments. […] It embraces not merely those who had fought against Caesar, but all who had been involved in the shedding of Roman blood.« Ihm schließt sich Connor (1987) 70 ohne Einschränkung an. Vgl. auch Nussbaum (1961) 409: »Assuredly it remains true that the passage is not giving Octavian a noble model to follow.« 84 Für Caesars Ermordung: Porphyrio zu V. 27f., Wickham (1912) 9, Combet-Farnoux (1980) 450f., Syndikus (2001) I, 49; für die Bürgerkriege (z.T. auch unter Einschluß von Caesars Ermordung): Barwick (1935) 265, Hirst (1938) 9, Gallavotti (1949) 217, Kiessling/Heinze (1955) 15, Commager (1959) 43 [»Caesar’s death epitomizes rather than exhausts their scelus (29), which like vitium (23) must refer to fratricide in general«], Nussbaum (1961) 407, MacKay (1962a) 175, La Penna (1963) 81, Nisbet/Hubbard (1970) 17.29, Oksala (1973) 89, Cremona (1976) 92, Anm. 4, Schmidt (2002) 320 sowie Hills (2005) 51.
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der sechsten Strophe vom Bürgerkrieg in seiner ganzen Sinnlosigkeit (V. 22) die Rede, und in diesem Zusammenhang hatte der Sprecher seiner Generation ein vitium vorgeworfen (V. 23).85 Daß in der fünften Strophe die Anbindung an Caesars Tod nicht beibehalten werden muß, wurde bereits oben (Kap. 7.2.2) plausibel gemacht. Ferner erhielte der Wunsch nach Rache an den Persern (V. 22.51) einen tieferen Sinn, wenn man ihn in Verbindung mit dem in den Bürgerkriegen vergossenen Blut sähe: Durch den Kampf gegen äußere Feinde würde die Schuld aus den Bürgerkriegen gesühnt86 bzw. man hätte gegen die Perser statt gegen die eigenen Mitbürger kämpfen sollen. Auch die Verwendung des Substantivs scelus und seiner Ableitungen sowie des Verbs expiare an anderen Stellen in Horazens Werken deuten in diese Richtung: Schon in der 7. Epode nennt der Sprecher die Bürgerkriegsparteien ohne Unterschied scelesti (V. 1), und im scelus[...] fraternae necis (V. 18), das die Römer plagt, verschmilzt der Gedanke an Romulus’ Brudermord (ut immerentis fluxit in terram Remi / sacer nepotibus cruor, V. 19f.) mit den gegenwärtigen Bruderkämpfen.87 Auch in carm. 1,35, in dem Horaz schon klar auf Seiten Oktavians steht,88 bezeichnet das scelus in Vers 33 die Bürgerkriege.89 Schließlich schildert Horaz in carm. 2,1 das Vorhaben des Asinius Pollio, ein Werk über den Bürgerkrieg zu verfassen. Dabei bemerkt er, daß die Waffen von noch nicht gesühntem Blut getränkt seien: arma // nondum expiatis uncta cruoribus (V. 4f.).90 Ferner findet sich in den genannten Gedichten ebenfalls stets der Gedanke, daß ein Blutver-
85 Ich folge also nicht der von Williams (1962) 33 vorgetragenen Ansicht, daß Horaz mit dem vitium parentum auf die Ehegesetzgebung des Augustus anspiele. Hier bezeichnet vitium sicherlich kein Fehlverhalten im Bereich der Sexualmoral. 86 So berichtet etwa Tacitus in den Annalen eine Episode, in der Legionäre, nachdem bei der Niederschlagung einer Meuterei in den eigenen Reihen Römerblut vergossen worden war, als piaculum den Kampf gegen die Feinde forderten (ann. 1,49,3): truces etiam tum animos cupido involat eundi in hostem, piaculum furoris; nec aliter posse placari commilitonum manes, quam si pectoribus impiis honesta vulnera accepissent. Daß es sich bei der Meuterei zuvor wirklich um bürgerkriegsähnliche Zustände gehandelt hatte, geht aus civilium armorum (1,49,1) hervor; der Ausdruck diversa […] facies bezieht sich dabei lediglich auf die Kampfumstände. 87 Allein im Brudermord des Romulus sehen das in carm. 1,2 genannte scelus Zielinski (1939) 172f. und Lyne (1995) 47. – Daß Horaz in epod. 7 den Mythos von Romulus und Remus zur Grundlage einer Art von Geschichtstheologie macht und somit eine ganz neue Konzeption aus ihm entwickelt, legt Krämer (1965) 363 überzeugend dar. 88 Vgl. V. 29f.: serves iturum Caesarem in ultimos / orbis Britannos etc. 89 Carm. 1,35,33ff.: heu heu, cicatricum et sceleris pudet / fratrumque. quid nos dura refugimus / aetas? quid intactum nefasti / liquimus? unde manum iuventus // metu deorum continuit? quibus / pepercit aris? 90 Überdies könnte man auf carm. 3,24 verweisen, wo ebenfalls von den impiae caedes und der rabies civica die Rede ist (V. 25f.). In dieser Ode wird zum Wegwerfen des Reichtums aufgefordert, der summi materies mali (vgl. V. 49), wenn man die Verbrechen wirklich bereue (scelerum si bene paenitet, V. 50). Die scelera sind offenbar diejenigen des Bürgerkrieges.
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gießen im Kampf gegen äußere Feinde viel wünschenswerter wäre bzw. daß die Feinde von Roms inneren Kämpfen profitierten.91 Es läßt sich also festhalten, daß sowohl gedichtimmanente Gründe als auch der Blick auf Parallelstellen es plausibel erscheinen lassen, das scelus nicht auf Caesars Ermordung zu verengen,92 sondern in ihm die Bürgerkriege insgesamt, vielleicht auch unter Einschluß von Caesars Ermordung, zu sehen.93
7.4 Zur Deutung der Verse 21-24 Wie ist nun die sechste Strophe ins Gedichtganze einzuordnen? Von ihrer Position her erfüllt sie deutlich eine Scharnierfunktion zwischen dem ersten, erzählenden Teil der Ode und dem zweiten Teil, der Hinwendung zu den Göttern.94 Daß es sich bei dem Prädikat audiet um ein Futur I handelt, ist klar. Worauf aber bezieht sich die dadurch ausgedrückte Nachzeitigkeit? Wie ist ferner der Infinitiv Perfekt acuisse aufzufassen? Drückt er, wie man normalerweise annehmen müßte, die Vorzeitigkeit gegenüber dem Prädikat audiet aus, oder hat er hier aoristische Geltung und vertritt einen Infinitiv Präsens, so daß er gleichzeitig zu audiet aufzufassen ist?95 In diesem Fall würde der Sprecher noch weitere Bürgerkriege als bevorstehend ankündigen, und deshalb müßte die Jugend abermals Waffenlärm mit eigenen Ohren hören. Diese Auffassung scheint für Syndikus die einzig richtige zu sein: ruentis / imperi rebus lasse sich nicht
91
Epod. 7,3ff. (parumne campis atque Neptuno super / fusum est Latini sanguinis, / non ut superbas invidae Carthaginis / Romanus arces ureret / intactus aut Britannus ut descenderet / Sacra catenatus via, / sed ut secundum vota Parthorum sua / urbs haec periret dextera?); carm. 1,35,38ff. (o utinam nova / incude diffingas retusum in / Massagetas Arabasque ferrum!); carm. 2,1,29ff. (quis non Latino sanguine pinguior / campus sepulcris impia proelia / testatur auditumque Medis / Hesperiae sonitum ruinae?). 92 Vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 29: »there is nothing in the text to encourage so particular an explanation.« 93 Etwas zu weit faßt wohl Cremona (1976) 109 das scelus, wenn er formuliert: »è anche quello di aver permesso che i Parti rimanessero impuniti e scorazzassero a loro piacere ai confini orientali«. 94 Vgl. zur Gesamtstruktur auch Pietrusiński (1977) 109: »La première partie a le caractère narratif, la deuxième c’est une prière suppliante«. Einen detaillierten Strukturvorschlag hat Ingrosso (1981) 196 unterbreitet; dieser wirkt aber etwas gezwungen, wenn zum Beispiel genaue Entsprechungen dadurch gewonnen werden, daß Mars von Apollon und Venus getrennt wird. – Auch verwundert es, wenn dies. ebd. auf Seite 199 feststellt, das carpe-diem-Motiv durchziehe die ganze Ode; »l’invito ad Augusto (vv. 45-52) è l’equivalente, in tono diverso, dell’invito a Leuconoe a non fare della propria vita una somma di occasioni perdute.« 95 Für aoristische Bedeutung tritt Syndikus (2001) I, 40, Anm. 6 ein. – Zu dieser grammatisch-stilistischen Erscheinung vgl. Kühner/Stegmann (1976) § 33,10 und die Stellensammlung bei Bömer (1969ff.) zu Ov. met. 3,188.
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von der Andeutung eines möglichen neuen Bürgerkrieges unmittelbar davor abtrennen […] Die Horazverse können daher nur auf einen neuen Bürgerkrieg hindeuten […] Die bereits dezimierte Jugend werde wieder das Schmieden der Schwerter, den Lärm der Schlachten hören. Diese Angst führt dann unmittelbar zu den verzweifelten Fragen der nächsten Verse.96
Entsprechend seinem Ansatz, die Ode als dynamisches Nachempfinden einer längeren Zeitspanne aufzufassen, glaubt Syndikus also, daß die geschilderten Kämpfe noch zukünftig seien. Zukünftig allerdings nur von 44 v.Chr. aus gesehen; bei der Abfassung der Ode seien die Kämpfe schon beendet gewesen.97 Diese Auffassung ist grammatisch und logisch möglich; ja sie bietet sich sogar an, wenn man die fünfte Strophe wie Syndikus als Hinweis auf Caesars Ermordung deutet. Allerdings spricht auch einiges gegen sie: Es ergibt sich – ungezwungener – auch dann ein guter Sinn, wenn man acuisse als »normalen« Infinitiv Perfekt auffaßt. Mit audiet wäre dann das Hören einer Erzählung über diese Vorgänge gemeint, nicht die akustische Wahrnehmung von Waffenlärm. Auch pugnas in Vers 23 wäre als Inhalt einer Erzählung unmittelbar verständlich; bei einem »akustischen Wahrnehmen« »echter« Kämpfe müßte man an eine Metonymie der Art »totum pro parte«, nämlich »Kampf« für »Kampfeslärm« denken. Auch Porphyrio versteht diese Strophe als künftigen Rückblick auf dann bereits vergangene Ereignisse, wenn er Vers 21 folgendermaßen paraphrasiert: »audiet rara iuventus, maiores suos acuisse ferrum.« Einen entscheidenden Hinweis schließlich gibt der Kontext. In der vierten Strophe war von einer anderen Sinneswahrnehmung die Rede: »Wir haben gesehen, wie der Tiber usw.« Diesem eigenen, unmittelbaren Erleben der Augenzeugen wird nun gegenübergestellt, was die Jugend später nur noch indirekt erfahren wird: Sie wird das Glück haben, die Bürgerkriege nicht mehr aus eigener Erfahrung, sondern nur noch vom Hörensagen zu kennen.98 Man wird sich angesichts dieser Faktenlage eher der konventio96
Syndikus (2001) I, 40. Ähnlich schon Plessis (1924) 9: »le futur, parce qu’il s’agit de l’avenir par rapport aux jours où l’on a vu le débordement du Tibre; cet avenir, au moment où écrit Horace, est devenu le passé, Actium ayant mis un terme aux guerres civiles.« – Diese denkbare Trennung von Abfassungszeit und Gedichtsituation, die Syndikus betont, berücksichtigt Kraggerud (1985) 101 in seiner Kritik nicht: »Horace is of course speaking of struggles that have already taken place. The possibility of future struggles from the poet’s own point of view is irrelevant in this context.« 98 Vgl. auch Williams (1968) 92 (»the present generation has seen and experienced, the next generation will only hear of the terrible happenings«) und Nisbet/Hubbard (1970) 28 (»Here Horace compares the vivid personal experience of the immediate sufferers with the detached astonishment of a future generation […] The present experience is told in terms of thunderstorms and floods, not explicitly interpreted; in turning to future generations Horace for the first time states the objective truth, that citizens fought citizens«). – Sutherland (2002) 38 begründet die Wahl des Futurs psychologisch: »It is as though he cannot bear to describe Rome’s moral decline as immediate fact but must instead filter it through an audience of Roman descendants.« 97
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nellen Deutung anschließen und in der sechsten Strophe einen Ausblick auf eine Zeit sehen, zu der keine Bürgerkriege mehr toben werden; die Jugend wird von ihnen nur noch als von vergangenen Kriegen durch Erzählungen hören.
7.5 Zur Datierung der Ode bzw. ihres Inhaltes Wie bereits angedeutet, hat die Datierung dieser Ode große Probleme bereitet, was umso unbefriedigender ist, als von der zeitlichen Einordnung viel für die Interpretation abhängt.99 Akzeptiert man den Gedichtinhalt als Grundlage für die Datierungsdiskussion,100 so lassen sich folgende Anhaltspunkte gewinnen: — die Prodigien und die Tiberüberschwemmung in den Strophen 1-5 — die Wendungen Caesaris ultor sowie pater atque princeps (V. 44.50) — die Erwähnung der magni triumphi und der Parther (V. 49.51) In der ersten Strophe schildert Horaz Schnee, Hagel und Blitzschlag offensichtlich als Prodigien.101 Solche unheilverkündenden Vorzeichen wurden in Rom sorgfältig registriert, und in den Quellen sind tatsächlich Prodigien für die entsprechende Zeit genannt.102 Auch hinsichtlich des in den Strophen 4 und 5 beschriebenen Tiberhochwassers lassen sich Quellenbelege anführen,
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Vgl. Fabri (1964) 11 (»En Humanités, le professeur se donne des airs de pédant s’il s’attarde à des questions de chronologie […] pourtant, dans l’interpretation de l’ode qui nous occupe, de la date peut dépendre grandement le sens à lui donner«) und Kraggerud (1985) 95 (»The particular constellation of political issues is vital to the interpretation of the poem, since it aspires to be a significant comment on a given situation.«). Fraenkel (1957) 292 hingegen glaubt, daß eine genaue Datierung der Ereignisse wenig Bedeutung für das Gedicht habe. 100 Zu beachten ist freilich, daß die Abfassungszeit und die geschilderte Situation divergieren können, wie z.B. Kraggerud (1985) 95 betont. Vgl. auch Lyne (1995) 48, Anm. 24: »More important than the date of composition however is the dramatic date«. Eine extreme Gegenposition dazu nimmt Erren (1979) 164 ein: »das alles war kurz vor dem Abend des Gedichtvortrags wirklich geschehen und wirklich Gegenstand allgemeinen Gesprächs.« 101 Gegen die Auffassung der Unwetter als Prodigien wendet sich Gallavotti (1949) 219 (»neve e grandine sono del resto fenomeni naturali comuni, non prodigî«). Allerdings sind solche Erscheinungen durchaus als Prodigien gewertet worden, wie die Stellensammlung bei Wülker (1903) 9f. zeigt. Ders. hat ebd. einen materialreichen Überblick über die Natur und Entwicklung des römischen Prodigienwesens vorgelegt. Vgl. ferner Distelrath (2001) 69f. mit weiterer Literatur. 102 Wülker (1903) 91 bietet Belegstellen für Prodigien zwischen 44 und 16 v.Chr., allerdings keine zwischen 36 und 17 v.Chr., wirkliche Blitzprodigien nur für 44-42 v.Chr. Zur Sorgfalt und Vollständigkeit der antiken Aufzeichnungen vgl. allerdings Liv. 43,13,1: non sum nescius ab eadem neglegentia qua nihil deos portendere volgo nunc credant que nuntiari admodum ulla prodigia in publicum neque in annales referri.
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die von derartigen Geschehnissen berichten.103 Es gibt allerdings auch Stimmen, die eine Datierung anhand der Prodigien ablehnen, da diese absichtlich irreal gezeichnet seien.104 Wenden wir uns den ehrenden Namen zu: Augustus führte den Titel princeps offiziell seit 28 v.Chr.105 Diese Bezeichnung stand jedoch in einer veritablen republikanischen Tradition, bevor sie im augusteischen System eine neue staatsrechtliche Relevanz erlangte. Als princeps senatus wurde in republikanischer Zeit derjenige Senator bezeichnet, der die meisten Konsulate innegehabt hatte und deshalb als erster um sein Gutachten gebeten wurde. Auch vor der offiziellen Benennung Oktavians als princeps kam ihm dieser Titel im republikanischen Sinne schon zu, und Augustus selbst gebraucht diese Bezeichnung für sich in den Res gestae auch dort, wo er von Ereignissen vor 28 spricht.106 Ähnlich verhält es sich mit dem Titel pater: Augustus erhielt den Titel pater patriae offiziell erst 2 v.Chr.107 Aufgrund seiner Verdienste um den römischen Staat, den er nach Meinung vieler gerettet hatte, wurde er inoffiziell aber schon lange vorher mit dem Ehrennamen »Vater« angesprochen.108 Auch die Apostrophe als Caesaris ultor 103 Überschwemmungen des Tiber in caesarianisch-augusteischer Zeit sind dokumentiert für die Jahre 54, 27, 23, 22 und 13 v.Chr. sowie für das Jahr 5 n.Chr. (Cass. Dio 39,61,1f.; 53,20,1; 53,33,5; 54,1,1; 54,25,2; 55,22,3). Vgl. Kraggerud (1985) 105: »Prima vista the problem is not the lack of information, but its abundance.« Ders. betont ebd. auf S. 106 darüber hinaus: »there may have been other inundations not recorded in the extant sources.« 104 So z.B. Schilling/Büchner (1961) 73 (»plutôt que des faits datables avec précision, une représentation symbolique de la guerre civile«), Williams (1968) 91 (»this is to ignore the strong element of unreality and vagueness in these prodigies«) und Gesztelyi (1973) 77 (»One should not use these natural phenomena or disasters for the purposes of exact dating«). Auch Binder (2003) 51 hält es für »letztlich unerheblich, ob Horaz eine ›historische‹ Tiberüberschwemmung im Auge hat (und gegebenenfalls welche) oder eine solche imaginierte«. – Dagegen argumentieren u.a. Gallavotti (1949) 217 (»tali caratteri di realtà, che non può essere un frutto di semplice fantasia«), Erren (1979) 162 (»Daß ein Dichter einen solchen Blitzschlag ins Kapitol nur zu dichterischer Vervollständigung des Topos einfach dazuerfindet, ist nicht gut möglich; es hätte die Nerven der Betroffenen zu sehr strapaziert«) und 163 (»daß man von vorneherein nicht den mindesten Grund hat, sich hier auf die Annahme eines rein dichterischen Phantasie- oder Symbol- oder KlischeeGebildes zurückzuziehen«) sowie Kraggerud (1985) 103ff. (»to claim that the portents are only symbolic is neither convincing nor necessary. […] The description itself indicates that the flooding occured on a certain occasion and can vividly be recalled by those sharing this experience.«). 105 R. Gest. div. Aug. 7: [p]rinceps s[enatus fui usque ad e]um d[iem, quo scrip]seram [haec], [per annos] quadra[ginta. Vgl. auch Cass. Dio 53,1,3 (zum Jahr 28 v.Chr.): πρόκριτος τῆς γερουσίας ἐπεκλήθη, ὥσπερ ἐν τῇ ἀκριβεῖ δημοκρατίᾳ ἐνενόμιστο. 106 Zum Beispiel R. Gest. div. Aug. 13 (für das Jahr 29 v.Chr.). Vgl. auch Nisbet/Hubbard (1970) 39 mit weiterer Literatur. 107 R. Gest. div. Aug. 35: tertium dec[i]mum consulatu[m cum gereba]m, sena[tus et e]quester ordo populusq[ue] Romanus universus [appell]av[it me pat]re[m p]atriae; vgl. auch Suet. Aug. 58. 108 Dies zeigen z.B. Ov. fast. 2,127ff. (sancte pater patriae, tibi plebs, tibi curia nomen / hoc dedit, hoc dedimus nos tibi nomen eques; / res tamen ante dedit) und Cass. Dio 55,10,10. – Von einem Scherz, der auf den Titel pater anspielt, berichtet Macrobius (Sat. 2,5,4): [Augustus] dixit duas habere se filias delicatas, quas necesse haberet ferre, rem publicam et Iuliam.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
(V. 44) hilft nicht weiter: Schon im Jahre 43 v.Chr. hatte Oktavian dem Mars Ultor einen Tempel pro ultione paterna gelobt; dieser aber wurde erst im Jahre 2 v.Chr. eingeweiht.109 Weil die in der Ode genannten Ehrennamen also nicht unreflektiert als offizielle Titulaturen aufgefaßt werden dürfen, kann man sie schwerlich zur Datierung heranziehen. Bei magnos [...] triumphos kann man an den dreifachen Triumph denken, den Augustus im Jahre 29 nach seiner Rückkehr nach Rom feierte,110 so daß eine vaticinatio ex eventu vorläge. Ein terminus post für die Abfassung der Ode wäre damit gegeben.111 Genauso könnten jedoch auch zukünftige, noch gar nicht absehbare Triumphe in Aussicht gestellt werden. Einen Datierungsansatz könnte ferner die zweimalige Nennung der Parther bieten (mit verschiedenen Namen: Persae in V. 22 und Medos in V. 51).112 Die Rache an den Persern oblag nach dem Tode Caesars bis zur Schlacht von Actium Antonius. Daß hier aber Oktavian als Anführer gegen sie genannt ist, legt es nahe, die Ode chronologisch nach der Niederlage des Antonius einzuordnen, also nach 31 v.Chr. Insgesamt muß man aber wohl konstatieren, daß die oben genannten möglichen Anhaltspunkte sich nicht zu einem eindeutigen Bild zusammenfügen lassen. Im Folgenden sollen daher nun einige der in der Literatur diskutierten Datierungsvorschläge vorgestellt und gegebenenfalls kritisch kommentiert werden: 22 v.Chr.: J. Fabri vertritt die Ansicht, carm. 1,2 sei ins Jahr 22 v.Chr. zu datieren.113 In den Versen 45f. (serus in caelum redeas diuque / laetus intersis populo Quirini) sieht er eine Anspielung auf »une menace de disparition du Prince à la suite d’une maladie«. Indem er diese Beobachtung mit der Parthersituation und bekannten Hochwassern verknüpft, kommt er auf die Jahre 22 oder 23 als Abfassungszeit.114 Allgemein wird jedoch die Publikation der ersten Oden-Sammlung in das Jahr 23 v.Chr. datiert. Überdies sind die von Fabri zitierten Verse weit davon entfernt, »fort clairement« auf eine ganz bestimmte Episode in der Biographie des Augustus anzuspielen.115 Die vorgetragenen Überlegungen dürften also eine Herabsetzung des Publika-
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Vgl. hierzu R. Gest. div. Aug. 21; Suet. Aug. 29,2; Cass. Dio 60,5,3. Verg. Aen. 8,714; Vell. 2,89,1; Suet. Aug. 22; Cass. Dio 51,21,5ff. 111 So Gallavotti (1949) 222, Anm. 2: »anche i trionfi […] sembrano contenere una precisa allusione ai tre trionfi celebrati da Ottaviano al suo ritorno dall’Oriente«. 112 Zu den Parthern bei Horaz vgl. Fabri (1962), 20-31, v.a. 31, Anm. 46; zu den Parthern in der augusteischen Dichtung allgemein vgl. Wissemann (1982). 113 Fabri (1964) 11; er verweist ebd. auf die Kommentatoren Ritter und Mitscherlich (19. Jh.) als Vorgänger. 114 Ebd. 12ff. 115 So Fabri (1964) 12. Wenn dem so wäre, müßte auch Ovid in met. 15,868ff. auf eine Krankheit des Augustus anspielen. Dort heißt es: tarda sit illa dies et nostro serior aevo, / qua caput Augustum, quem temperat, orbe relicto / accedat caelo faveatque precantibus absens! 110
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tionsdatums der ersten Sammlung bzw. die Annahme einer späteren Einfügung der Ode in die bereits publizierte Sammlung nicht rechtfertigen.116 23 v.Chr.: Santo Mazzarino argumentiert aufgrund innen- und außenpolitischer Ereignisse für das Jahr 23 v.Chr., für das die Quellen eine Tiberüberschwemmung verzeichnen: In nostris vitiis (V. 47) sieht er eine Anspielung auf den gegen Augustus gerichteten Attentatsversuch des Terentius Varro Murena, eines Schwagers des Maecenas.117 Den Vers 51 (neu sinas Medos equitare inultos) beurteilt er folgendermaßen: »nel 23 a.C. Augusto chiese la restituzione delle insegne tolte dai Parti a Crasso e ad Antonio«.118 Diese Bewertung läßt sich jedoch nicht mit der herkömmlichen Chronologie in Einklang bringen, nach welcher der Partherkönig Phraates IV. früher erbeutete römische Feldzeichen erst im Jahre 20 v.Chr. zurückgab.119 Auch wäre die Bezeichnung vitium für einen Attentatsversuch ein denkbar schwacher und diffuser Ausdruck, selbst wenn man ihn als Euphemismus verstehen wollte. 28/27 v.Chr.: Viele Interpreten datieren die Ode bzw. die in ihr geschilderten Zustände ins Jahr 28 oder in den Anfang des Jahres 27 v.Chr.120 Wie oben schon angedeutet, hatte Oktavian Anstalten gemacht, sich ins Privatleben zurückzuziehen und so den Staat erneut Parteikämpfen auszusetzen.121 Am 13. Januar 27 legte er seine außerordentlichen Vollmachten nieder und übereignete die res publica der Verfügungsgewalt des Senates und des römischen Volkes.122 In einer denkwürdigen Senatssitzung am 16. Januar nahm er dann aber auf Antrag des Munatius Plancus den Titel »Augustus« an und gab alle Rückzugspläne auf. In der darauffolgenden Nacht kam es zu einer Tiberüberschwemmung, die jedoch umgehend von den Priestern als gutes Omen gedeutet wurde.123 Bei Horaz allerdings ist von positiven Omi116 Explizit dagegen MacKay (1962a) 169: »the war references have an immediacy that makes the date 22 less likely than a date closer to Actium.« 117 Vgl. Cass. Dio 54,3,3ff. (allerdings zum Jahr 22 v.Chr.). 118 Mazzarino (1966) 621-624; das Zitat befindet sich auf S. 624. 119 R. Gest. div. Aug. 29; Cass. Dio 54,7,4ff. – Darstellungen dieses Ereignisses finden sich unter anderem auf dem Panzer der Augustusstatue von Prima Porta. 120 So z.B. Barwick (1935) 263 (aber vgl. Anm. 123), Gallavotti (1949) 217ff., Kiessling/Heinze (1955) 11, Schilling/Büchner (1961) 71, MacKay (1962a) 177, Erren (1979) 162, Anm. 1 und Lefèvre (1993) 165. Den Januar 27 v.Chr. betrachten zumindest als spätestmögliches Abfassungsdatum z.B. Bickerman (1961) 5, Anm. 3 und Cairns (1971b) 86. 121 Von derartigen Rückzugsplänen berichten Suet. Aug. 28 und Cass. Dio 53,11f. Zur Bewertung vgl. z.B. Bleicken (1998) 324ff. 122 R. Gest. div. Aug. 34; Ov. fast. 1,589; Vell. 2,89,3. 123 Cass. Dio 53,20,1f.: Αὔγουστος μὲν δὴ ὁ Καῖσαρ, ὥσπερ εἶπον, ἐπωνομάσθη, καὶ αὐτῷ σημεῖον οὐ σμικρὸν εὐθὺς τότε τῆς νυκτὸς ἐπεγένετο· ὁ γὰρ Τίβερις πελαγίσας πᾶσαν τὴν ἐν τοῖς πεδίοις Ῥώμην κατέλαβεν ὥστε πλεῖσθαι, καὶ ἀπ’ αὐτοῦ οἱ μάντεις ὅτι τε ἐπὶ μέγα αὐξήσοι καὶ ὅτι πᾶσαν τὴν πόλιν ὑποχειρίαν ἕξοι προέγνωσαν. χαριζομένων δ’αὐτῷ καθ’ ὑπερβολὴν ἄλλων ἄλλα κτλ.
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na nichts zu finden; die durch die Prodigien und die Überschwemmung geschaffene Atmosphäre ist eindeutig düster und bedrohlich. Wenn man nun nicht annehmen möchte, daß Horaz eine der »offiziellen« Auffassung genau entgegengesetzte Deutung vortrage,124 wird es nicht leicht sein, weiterhin in der Ode die Überschwemmung des Jahres 27 v.Chr. verarbeitet zu sehen, obwohl sich der Wunsch serus in caelum redeas diuque / laetus intersis populo Quirini (V. 45f.) durchaus als Antwort auf Rücktrittsabsichten verstehen ließe.125 29/28 v.Chr.: Auch die Phase zwischen Oktavians Sieg über Antonius und seiner Rückkehr nach Rom im Juli 29 oder kurz danach wurde als Abfassungsdatum vorgeschlagen.126 Einige Verfechter dieser Datierung sahen die Hauptintention der Ode darin, Oktavian durch subtile Andeutungen zu einer bestimmten Verhaltensweise zu bewegen. Da die Ode sich mehrfach mit dem Thema »Rache« auseinandersetzt, vermuteten sie, Oktavian solle durch verschiedene Bilder davon abgebracht werden, an seinen Gegnern (übermäßige) Rache zu üben. Prodigien oder Überschwemmungen des Tiber in dieser Zeit sind aber nicht in den Quellen dokumentiert. Vor der Schlacht von Actium, d.h. vor September 31 v.Chr.: Für diese Datierung ist Christopher J. Simpson eingetreten.127 Dabei stützt er sich auf ein argumentum ex silentio: In der Schlacht von Actium habe – zumindest der Propaganda nach – Apollon auf der Seite Oktavians gekämpft und zu dessen Sieg beigetragen. Da dieses Faktum aber bei der Anrufung Apollons nicht genannt werde, sei die Ode wohl vor der Schlacht von Actium verfaßt worden. Dieser Datierungsversuch verliert freilich jede Stütze, wenn man davon ausgeht, daß Horaz die »Bürgerkriegsvergangenheit« aller genannten
124 Vgl. Commager (1959) 52, Anm. 45: »The flattering interpretation put upon the flood at that time […] makes it improbable that Horace refers to this flood.« Erhebliche Zweifel äußert auch Syndikus (2001) I, 43, Anm. 16. Natürlich ist Horaz, dessen Unabhängigkeit gegenüber dem »Regime« z.B. MacKay (1962a) 168 aufs Nachdrücklichste betont, kein Hofpoet; seine Gedichte sind keine plumpe Propaganda und müssen sich nicht an offiziellen Deutungen orientieren. Aber auch die Einschränkungen gegenüber dieser Meinung bei Kraggerud (1985) 96 müssen berücksichtigt werden. Wenn nun aber die Deutungen einander völlig konträr gegenüber stünden, wäre kaum mehr sichergestellt, daß die Rezipienten an die »richtige« Flut denken. – Auch Gallavotti (1949) 228 kann mit seinem auf Ausgleich zielenden Vorschlag dieses Problem nicht entkräften: »Orazio volle dare anche lui, in certo modo, un’interpretazione al singolare avvenimento: l’inondazione significava un tardivo risentirsi del Tevere per l’uccisione di Cesare, e quindi un ammonimento a non contrastare i diritti del legitimo erede«. 125 Anders Syndikus (2001) I, 39: »Wenn Horaz einem befürchteten Rücktritt des Kaisers hätte widerraten wollen, hätte er ein anderes Gedicht schreiben müssen.« 126 So u.a. Plessis (1924) 6, Scott (1928) 27, Steidle (1943) 23-27, Commager (1959) 53, Norberg (1946) 399ff., Perret (1959) 108, La Penna (1963) 81, Williams (1968) 97, Oksala (1973) 92, Combet-Farnoux (1980) 449, Voit (1982) 492 und Binder (2003) 48. 127 Simpson (1993) 640ff.
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Götter bewußt ausblendet (vgl. dazu unten, Kap. 7.7.2); ferner ist auch für diese Zeit keine Überschwemmung des Tiber bezeugt. 44 v.Chr. oder kurz danach: Ebenfalls wurde die Ansicht vertreten, die Ode schildere zumindest in Teilen die Verhältnisse nach Caesars Ermordung 44 v.Chr.,128 obwohl für dieses Jahr keine Tiberüberschwemmung zuverlässig verzeichnet ist.129 Auch dürfte es verwundern, wenn sich die anschauliche und lebhafte Beschreibung der Prodigien ohne klaren Hinweis auf Ereignisse beziehen sollte, die vom Standpunkt des Sprechers aus bereits einige Jahre zurücklagen.130 Daß solche Datierungsansätze ferner durch Vergils Georgica und Porphyrios Interpretation, also »textexterne« Faktoren, beeinflußt sind, wurde schon oben (S. 289) angesprochen. Kein konkreter Zeitpunkt: Hans Peter Syndikus akzeptiert die vorgetragenen Datierungen auf bestimmte Zeitpunkte nicht: [Man fragt] recht ratlos, was denn ausgezeichnete Philologen zu derartigen Gewaltsamkeiten in der Interpretation veranlassen konnte. Ursache ist eine Voreingenommenheit, um nicht zu sagen ein Dogma, das man niemals in Frage stellte: Man nahm als völlig sicher an, daß jedes Horazgedicht die Antwort auf eine gegenwärtige Lebenssituation sein müsse.131
128 So z.B. Wickham (1912) 6 und Steidle (1943) 23; ferner Barwick (1935) 261, der in der Ode allerdings auch eine Krise des Jahres 28 verarbeitet sieht (so ebd. 263). Die beiden letzteren nehmen jedoch ein deutlich späteres Abfassungsdatum an. 129 Vgl. jedoch die pseudacronischen Scholien zu Vers 1: »Gai Caesaris mortem significat, quo in senatu occiso plurimae tempestates nivis et grandinis fuerunt, quo tempore et inundatione Tiberis dicitur Roma laborasse«, was der Kommentator aber – bestimmten Deutungsprämissen folgend – aus dem vorliegenden Gedicht extrapoliert haben könnte. Deutliche, ja grundsätzliche Kritik daran übt Bickerman (1961) 8, Anm. 16: »Nous devons tenir compte de l’explication philologique des scoliastes qui reproduisent l’enseignement traditionnel des interprètes d’Horace, mais pouvons négliger leur conjectures historiques.« – Allerdings gibt es Nachrichten über ein Meeresprodigium an der Tibermündung, weshalb Barwick (1935) 260 und Steidle (1943) 24 litore Etrusco (V. 14) als »Meeresufer« auffassen. 130 Vgl. auch Hirst (1938) 7 (»It is very hard to refer the vivid description of lines 1-20 to portents which occured fourteen or fifteen years earlier«), Gallavotti (1949) 219 (»tanto meno speciali prodigi che potessero essere ricordati dopo molti anni come tipici fra quelli avvenuti alla morte di Cesare«) und Kraggerud (1985) 106 (»We need a fresh flooding«). – Anders bewertet Steidle (1943) 24 die Schilderung: »Die Formulierung setzt voraus, daß die Prodigien im Augenblick der Abfassung des Gedichtes ruhen, ja vielleicht sogar schon weiter zurückliegen; [...] jedenfalls aber ist es nicht gerade wahrscheinlich, daß Lied und Prodigien gleichzeitig zu datieren sind.« 131 Syndikus (2001) I, 40. – Eine solche Prägung für einen ganz konkreten Anlaß nimmt z.B Erren (1979) 166 an: »Als Horaz das Gedicht konzipierte, kann er nur von der Tatsache ausgegangen sein, daß der Senat gelegentlich des Hochwassers Sühnemaßnahmen als dringend erforderlich erklärt, aber zugleich als seine Kompetenz übersteigend abgelehnt und dem Princeps anvertraut hatte. Andernfalls wäre das Gedicht gegenstandslos, und am Abend des ersten Vortrags nicht nur unmotiviert, sondern völlig unbegreiflich gewesen«; vgl. ebd. 172, Anm. 9: »als Horaz selbst das Gedicht vortrug, war er nicht im Elysium, sondern auf Empfehlung des Maecenas bei der Einladung eines hochmütigen Nobilis. (Nicht zum Mitessen.)« Insgesamt sieht ders. ebd. auf S. 171 in der Ode »so etwas wie einen halbamtlichen Leitartikel zu den Senatsvorgängen des Januar 27 v.Chr.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Sein Gegenvorschlag besteht darin, nicht mehr an einen einzigen, konkreten Zeitpunkt zu denken, sondern in der vorliegenden Ode eine Entwicklung über einen längeren Zeitraum hin abgebildet zu sehen. Es handle sich dabei um die dichterisch[e] Gestaltung des Weges, der Rom aus der tiefsten Verzweiflung zu diesem Glück geführt hat. Der Leser kann diesen Gefühlsumschwung, den Horaz und seine Mitbürger in bangen Jahren erfahren hatten, in der Bewegung dieser einen Ode noch einmal nacherleben; was in der Wirklichkeit weit auseinanderlag, wird ein einziger verdichteter poetischer Augenblick.132
Gewichtige Einwände gegen eine solche Sichtweise trägt jedoch Egil Kraggerud vor, indem er vor allem – wohl zu Recht, wie in Kap. 7.4 gezeigt wurde – Syndikus’ Auffassung der sechsten Strophe anzweifelt. Schließlich bilanziert er: »this concept of a far-reaching dynamic moment is open to grave doubts«.133 Keine der bislang vorgeschlagenen Datierungen widersteht also allen Zweifeln. Hilburn Womble urteilt zwar vielleicht zu scharf, wenn er alle Bemühungen als bloße Spekulation abtut;134 doch aufgrund der vorgetragenen Beobachtungen wird man sich nicht unbedingt auf einen der diskutierten Vorschläge festlegen wollen.135 Auf der Basis des vorliegenden Materials muß die genaue Datierung sowohl des Inhalts als auch der Abfassung der Ode wohl in der Schwebe bleiben.
7.6 Zur Funktion der Unwetter Der Anfang der Ode ist durch gewaltige, von Juppiter gesandte Unwetter geprägt. Nachdem deren Heftigkeit durch einen geschickt integrierten Rückblick auf die mythische Flutkatastrophe zu Pyrrhas Zeiten illustriert worden ist, intensiviert der Sprecher den Schrecken noch, indem er den Blick auf eine Tiberüberschwemmung in Rom lenkt, die in seiner Darstel132 Syndikus (2001) I, 41, der in Anm. 10 Vorläufer dieser These nennt. Vgl. auch ebd., Anm. 9: »Die Wahl [der Päanform] erleichterte es Horaz, die zeitlich auseinanderliegenden Geschehnisse in einer einheitlichen Gedichtsituation zu konzentrieren.« Ähnlich auch Nisbet/Hubbard (1970) 18: »it does not describe the attitudes of a moment but summarizes the fears and hopes of several years.« 133 Kraggerud (1985) 97. Ganz so weit ist er selbst aber gar nicht von dieser Position entfernt, wenn er ebd. auf S. 113 formuliert: »The poem is a fait accompli dressed up as a crisis in need of divine grace.« 134 Womble (1970) 26, Anm. 59: »Any date will be purely subjective guesswork, and not really pertinent to the Ode as a poem.« 135 Auch die sonstigen Vorschläge vermögen nicht zu überzeugen. So spricht sich etwa Kraggerud (1987) 107 und 112 für das Jahr 32 v.Chr. aus, Elmore (1931) 260 und Gesztelyi (1973) 77f. für 30 v.Chr.
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lung ebenfalls mythisch motiviert ist. Ohne Erklärung schließt sich daran die audiet-Strophe an, die explizit von den Bürgerkriegen als »in Zukunft vergangen« spricht. Es erhebt sich die Frage, wie diese Unwetter zu deuten sind.136 Ob und gegebenenfalls von welchen konkreten historischen Unwettern sich Horaz bei dieser Gestaltung hat anregen lassen, läßt sich, wie der Überblick über die Datierungsvorschläge zeigte (Kap. 7.5), schwerlich entscheiden; es mag sich auch um eine fiktive Unwetterkatastrophe handeln. Problematisch erscheint jedoch die Annahme, es handle sich bei den Unwettern um ein reines Symbol resp. eine Chiffre für die Bürgerkriege.137 Man könnte für diese These zwar anführen, daß in carm. 3,29 im Zusammenhang mit schwierigen politischen Zeiten die Rede von einem reißenden Fluß ist.138 Doch in diesem Bild, in welchem durch ritu (V. 33) ausdrücklich der Vergleich signalisiert ist, werden nicht nur die Verhältnisse in der Politik, sondern im Leben insgesamt dargestellt, wie die Fortsetzung in den Versen 41ff. zeigt. Diese Stelle vermag also den Charakter der Unwetter in carm. 1,2 nicht zu erhellen. Ferner drängt sich der Eindruck auf, daß gerade die ins Detail gehende Beschreibung die Unwetter eben als »echte« Unwetter darstellen will: Die erste Strophe schildert die Vorgänge sehr genau, und die in den Strophen 2 und 3 gezeigten Ängste vor einer neuen »Pyrrhaflut« sind sehr konkret. Auch der Umstand, daß an eine ganz bestimmte, im Mythos zwar mit Verbrechen, aber nicht mit Bürgerkriegen verbundene Sintflut erinnert wird, spricht wohl gegen eine rein symbolistische Deutung, die in den Unwettern die Bürgerkriege selbst sieht. Am plausibelsten erscheint die Auffassung, daß die Unwetter – seien sie nun historisch oder fiktiv – in Horazens Deutung einen Ausdruck von Juppiters Zorn über die Bürgerkriege darstellen, ein nachdrückliches Warnzeichen.139 Die eigenmächtige Aktion des Tiber aber überschreitet den Rahmen, der ihr in Juppiters Plan zugewiesen wurde. In dieser kritischen Situation ist nun ein Entsühner nötig, 136 Dem Folgenden werden die bislang erzielten Ergebnisse zugrundegelegt: Es handelt sich in der ersten Strophe nicht um die Prodigien nach Caesars Tod (Kap. 7.2.2), und die Verse 13-20 blenden nicht in eine bereits deutlich zurückliegende Zeit zurück (Kap. 7.2.3). 137 So z.B. Elmore (1931) 262 (»in verses 20-24 Horace drops the symbolic manner and tells in plain words that he is referring to the civil wars«), Commager (1959) 39, Oksala (1973) 87 und Voit (1982) 491. Vgl. auch Lowrie (1997) 143: »Jupiter’s hurling of snow, hail, and thunderbolts, and the Tiber’s overflowing do not narrate the civil wars, but substitute for narrative. [...] Myth supplants history«. 138 Carm. 3,29,33ff.: cetera fluminis / ritu feruntur, nunc medio alveo / cum pace delabentis Etruscum / in mare, nunc lapides adesos // stirpisque raptas et pecus et domos / volventis una non sine montium / clamore vicinaeque silvae, / cum fera diluvies quietos // irritat amnis. 139 Vgl. Gallavotti (1949) 218: »Le guere civili sono dunque la colpa sacrilega di cui i fulmini di Giove ricordano al popolo la gravità, e dalla quale occore purificarsi«; ähnlich auch Pietrusiński (1977) 110: »Le tableau des cataclysmes est plutôt un avertissement, pour ne pas tomber dans le même vice.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
nachdem die Menschen aufgrund der Warnzeichen ihr Fehlverhalten eingesehen haben.
7.7 Zur Auswahl der Götter Auch die zweite Hälfte des Gedichtes wirft einige Fragen auf, etwa diejenige nach Horazens Motivation, gerade Merkur auszusuchen, um ihn in eine enge Beziehung zu Oktavian zu setzen. Ferner wäre eine terminologisch schärfere Fassung dieser »engen Beziehung« wünschenswert. Im Anschluß daran ist die Darstellung bzw. die Rolle der anderen, zuvor genannten Götter zu thematisieren. Schließlich muß skizziert werden, was die nicht-literarische Sphäre zur Frage eines Merkur-Augustus-Kultes beitragen kann, damit die horazische Konzeption vor diesem Hintergrund angemessen beurteilt werden kann. 7.7.1 Warum gerade Merkur? Will man im Gegensatz zu Syndikus in der Wahl Merkurs nicht nur einen »austauschbaren Versuch« sehen,140 so ist zu überlegen, welche Gründe Horaz dazu bewogen haben könnten, gerade Merkur auszuwählen.141 Wenn man Horaz rationales Vorgehen bei der Auswahl zubilligt, erscheinen die von Eduard Fraenkel vorgetragenen Gründe plausibel: Unter der Prämisse, daß es sich um einen großem Gott handeln müsse, der zudem noch jung und anziehend sein solle, stehe nur noch eine beschränkte Anzahl zur Verfügung. Dionysos bzw. Bacchus scheide aus, da er charakterlich unpassend gewesen und außerdem schon von Antonius für sich beansprucht worden sei. Apollon sei nach Actium der olympische Schutzpatron Oktavians gewesen und habe deshalb nicht gleichzeitig mit jenem identisch sein können.142 Merkur hingegen, der noch »frei« gewesen sei, habe größere Nähe zu den Menschen aufgewiesen und als großer Kulturbringer gegolten. Somit habe er als »das ideale himmlische Gegenbild des Staatsmannes erscheinen« können.143 140
So Syndikus (2001) I, 53. Dezidiert anders Bickerman (1961) 12: »Mercure ne fut pas choisi par hasard.« 141 Schon La Penna (1963) 82 gibt allerdings zu bedenken: »A voler seguire tutte le ipotesi e le discussioni su questo problema ci sarebbe da riempire un libro.« 142 Diese Annahme findet sich allerdings in den pseudacronischen Scholien zu augur Apollo: »Augustum dicit, qui se Apollinis filium volebat videri«. 143 Fraenkel (1957) 294f.; ihm schließt sich auch Voit (1982) 493 an. Zu weitergehenden Implikationen der Auswahl Merkurs vgl. Rupprecht (1946) 67-78; ders. zeigt ebd. auch strukturel-
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Nach der Ansicht Karl Rupprechts ist die Merkurgestalt in carm. 1,2 von der Gleichsetzung einerseits mit dem ägyptischen Thot und andererseits mit dem philosophischen Logos entscheidend geprägt.144 Beide Ansätze erscheinen jedoch aufgrund der Bezeichnung Merkurs als almae / filius Maiae (V. 42f.) wenig wahrscheinlich: Durch diese genealogische Angabe wird unmißverständlich signalisiert, daß an den olympischen Hermes/Merkur gedacht ist; andere Einwirkungen werden durch diese Periphrase geradezu marginalisiert.145 Auch das, was sonst über die Haltung Oktavians gegenüber ägyptischen und orientalischen Göttern bekannt ist, spricht gegen Rupprechts These: Nach Sueton stand der Kaiser fremden Kulten durchaus skeptisch gegenüber; Vergil zeigt ihn in der Ekphrasis des Aeneasschildes in Frontstellung gegen die auf Seiten seines Gegners Antonius kämpfenden Götter und Ungeheuer Ägyptens und des Orients.146 Weiter führt vielleicht der Blick auf die innerrömische Entwicklung: Schon die altrömische Religion kennt Merkur als Friedensbringer,147 und auch später bei Ovid heißt Merkur explizit pacifer (met. 14,291). Diese Tradition dürfte sich in der vorliegenden Horaz-Ode stärker niedergeschlagen haben als die oben genannten Strömungen.148 Ferner könnte Merkur von Horaz auch aus einem speziellen mythologischen Grund ausgewählt worden sein. Nach der Sintflut, die Deukalion und Pyrrha überlebt hatten, schickte Zeus Hermes als Boten zu den beiden.149 So le und inhaltliche Parallelen der Ode zu religiös-philosophischen Schriften anderer Provenienz auf und kommt zu dem Fazit (S. 78): »weit über alle Volksstämme und Religionen des Mittelmeerkreises verbreitete Anschauungen haben bei den Dichtern und Denkern des Westens und auch im Christentum ihren Niederschlag gefunden.« 144 Rupprecht (1946) 70ff.; ähnlich auch Voit (1982) 494. Auf ägyptische Einflüsse macht besonders Richard Reitzenstein aufmerksam [Literaturangaben bei La Penna (1963) 82f.]; die hermetische Logoskonzeption wird von Zielinski (1939) 178 betont. Vgl. auch Nisbet/Hubbard (1970) 36: »The identification of Mercury and Octavian is not a pretty fancy of the poet’s, but was derived from something that was going on in the real world. This range of ideas belongs to the East, and Horace’s words show blurred traces of the eastern belief in a divine saviour.« 145 Gegen die Auffassung als Hermes-Thot argumentiert auch Combet-Farnoux (1980) 444. Anders Scott (1928) 30: »Mir scheint nur möglich, daß Horaz von der Vorstellung des Βασιλεὺς σωτήρ beeinflußt, sein almae filius Maiae schreiben konnte.« 146 Suet. Aug. 93; Verg. Aen. 8,675ff. – Anders Norberg (1946) 399ff., der gerade aufgrund dieser Fakten die Ode ins Jahr 29 datiert, weil man damals noch nicht gewußt habe, daß Oktavian orientalische Kulte für sich ablehnen würde. 147 Vgl. Altheim (1933) 62, Anm. 2: »Merkwürdigerweise hat man sich nie daran erinnert, daß Mercur als Friedensbringer bereits der älteren römischen Religion angehört. Im Tempel der Concordia stand sein Bild neben dem der Göttin selbst; der Caduceus galt als Zeichen des Friedens«. Ebd. findet sich auch weitere Literatur. 148 Insofern wird man Binder (2003) 61 nicht zustimmen, wenn er konstatiert: »Gefordert sind von Merkur ausnahmslos Qualitäten, die seinem Wesen fremd sind.« 149 Vgl. Apollodor 1,48: Ζεὺς δὲ πέμψας Ἑρμῆν πρὸς αὐτὸν ἐπέτρεψεν αἱρεῖσθαι ὅ τι βούλεται. In Horazens Merkurhymnus (carm. 1,10; vgl. Kap. 8) wird auf diese Episode allerdings nicht Bezug genommen.
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fungierte Hermes gewissermaßen als Zivilisationsstifter und »Pate« eines neuen Menschengeschlechtes, das an die Stelle einer boshaften und verdorbenen Generation trat. Nun ist auch Horazens Ode im ersten Teil von einer (zumindest drohenden) Sintflut geprägt, und ihr Finale wird von Merkur als dem erhofften Retter dominiert. Horaz könnte sich also durchaus bei der Komposition der Ode an der traditionellen Version dieses Mythos orientiert haben.150 Eine deutliche Abweichung wäre dann die hier vorgetragene Bitte, daß der almae filius Maiae lange auf der Erde verweilen soll (serus in caelum redeas diuque / laetus intersis populo Quirini, V. 45f.), während er sonst – gemäß seiner Funktion als Bote – recht bald zum Olymp zurückkehrt.151 Sollte diese Überlegung zutreffen, würde Merkur-Augustus auf subtile Weise ein zusätzliches Kompliment gemacht, indem sein Wirken mit dem vorbildlichen Agieren des Hermes in einer bestimmten Episode des Mythos parallelisiert würde. Die Frage nach der genauen Beziehung zwischen Merkur und CaesarOktavian in der Konzeption dieser Ode ist terminologisch nicht leicht zu beantworten. Porphyrio erfaßt den Sachverhalt nicht in seiner ganzen Komplexität, wenn er zu V. 41 einfach behauptet: »adulatur Augusto, Mercurium eum dicens esse.« In der elften Strophe deutet einiges darauf hin, daß Merkur nicht im eigentlichen Sinne in Oktavian inkarniert ist.152 Vielmehr hat die Gottheit ihre Gestalt gewandelt (V. 41: mutata […] figura) und ahmt einen Jüngling nur nach, ohne mit ihm identisch zu sein (V. 41f.: iuvenem [...] imitaris).153 Zu wenig sind in der Forschung bislang die inneren Span-
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Cremona (1976) 108, Anm. 59 wendet zwar ein: »si fa solo riferirimento [sic!] all’expiatio sceleris, non a una rigenerazione dell’umanità«. Der Ausblick auf die iuventus (Strophe 6) läßt sich aber durchaus als Anspielung auf ein neues Menschengeschlecht verstehen. 151 Auf diese bewußte Abweichung macht auch Cairns (1971b) 82 aufmerksam: »If Horace was deliberately introducing Mercury at the same point in the myth, he would have expected his readers to recognise his deliberate variations on the standard account.« 152 Darauf weist u.a. Erren (1979) 170, Anm. 7 hin: »Die Klassifizierung des Vorgangs als Inkarnation [...] ist abwegig [...] Der Ausdruck mutata figura V. 41 meint eindeutig einen oberflächlichen, die Sinne täuschenden Gestaltwandel.« Kategorisch auch Elmore (1931) 261: »This seems definitely to exclude the idea of incarnation.« Syndikus (2001) I, 53 spricht von einem »als Epiphanie eines olympischen Gottes gedeutete[n] Mensch[en]«. – Ohne Bedenken jedoch z.B. Scott (1928) 16 (»der Dichter [sieht] in Augustus zweifellos eine Verkörperung des Mercur«), Zielinski (1939) 175, Schilling/Büchner (1961) 72 (»Mercure incarné en Octavien«) und Commager (1962) 177 (»virtually as Mercury incarnate«). 153 Vgl. Altheim (1933) 62: »Die präzise Formulierung bringt zum Ausdruck, daß der Gott seine himmlische Gestalt abgelegt und dafür Aussehen und Züge des jungen Herrschers angenommen habe.« Andererseits kann das Verb mutare durchaus auch einen substantiellen Wechsel der Gestalt bezeichnen, wie z.B. Ovid im Metamorphosen-Proömium zeigt. – Wohl zu vorsichtig ist die Einschätzung bei Fraenkel (1957) 295: Horaz sei »weit davon entfernt, zu behaupten, der Gott habe die Gestalt des Princeps angenommen oder sei daran, dies zu tun, er weist vielmehr nur auf die Möglichkeit einer solchen Verwandlung als auf einen von mehreren wünschenswerten
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nungen dieser Strophe berücksichtigt worden: Obwohl Merkur ales ist, verweilt er momentan in terris;154 obwohl er der almae filius Maiae ist, ahmt er einen menschlichen iuvenis nach. Der Ausdruck almae filius Maiae ist also, wie die Grammatik es ja nahelegt, kein Vokativ, sondern eine Apposition im Nominativ,155 deren Sinnrichtung man am besten konzessiv auffassen wird.156 Ebenso läßt die Partizipialkonstruktion patiens vocari etc. erkennen, daß der Titel Caesaris ultor zwar irgendwie unpassend ist, aber dennoch hingenommen wird. Auch die zwölfte Strophe zeigt den Adressaten als eigentlich einer anderen Sphäre angehörig: Daß er in den Himmel zurückkehren wird, steht außer Frage; nur der entsprechende Zeitpunkt soll möglichst lange hinausgeschoben werden. Ebenso trennt die Antithese te nostris vitiis in Vers 47 den Angesprochenen deutlich von der Gemeinschaft, welcher der Sprecher angehört. Diese Aspekte deuten eher auf eine göttliche Natur des Apostrophierten hin. Die abschließende dreizehnte Strophe jedoch zeigt keine derartigen Tendenzen mehr. Die Triumphe, Titel und militärischen Unternehmungen sind zwar höchst ehrenvoll, gehören aber eindeutig der menschlichen Sphäre an. Darüber hinaus wird der Angesprochene als Caesar apostrophiert; es wird kein Unterschied zwischen »irdischer und himmlischer Identität« gemacht.157 Wie auch immer das Verhältnis zwischen Merkur und Oktavian genau imaginiert ist: Innerhalb der in den abschließenden drei Strophen des Gedichtes vorgestellten Konzeption verkörpert Caesar-Oktavian das Wirken Merkurs.158
Akten göttlicher Gnade hin«. Zwischen der elften und der zwölften Strophe gibt es aber keine Einschränkungsformel wie etwa »Wenn dies wirklich so ist, dann ...«. 154 Diesen Kontrast deuten auch Nisbet/Hubbard (1970) 33 an. 155 Anders Syndikus (2001) I, 52, Anm. 51: »in vokativischer Funktion […] Ein Nominativ in der Funktion eines Vokativs verrät feierliche Stilisierung«. 156 Dies wird auch bei Kiessling/Heinze (1955) 17 angedeutet. 157 Vgl. Syndikus (2001) I, 54: »Die zuerst als Möglichkeit erwähnte Verwandlung Merkurs in den jungen Herrscher wird nicht weiter verfolgt. Augustus wird ganz als der gegenwärtig wirkende, segenspendende Retter des Reiches angesprochen.« Etwas anders Connor (1987) 73: »The invocation slides from one to the other«; vgl. auch West (1995) 13: »There is a calculated blur in Horace’s logic and it is a little crude to say simply, as some scholars do, that he is claiming that Octavian is the god Mercury in human form.« – Vielleicht hat Horaz den Namen des bekanntermaßen unkriegerischen Gottes Merkur im Zusammenhang mit den kriegerischen Unternehmungen in der letzten Strophe bewußt vermieden. Ingrosso (1981) 205 sieht in te duce allerdings einen Anklang an Hermes als den Diaktoros und an dessen Geleiterfunktion in carm. 1,10,13ff. 158 Nicht nachzuvollziehen ist somit die Auffassung von Womble (1970) 30: »And although the poem is commonly referred to as an ode to Augustus, he is only the last of a series of powers apostrophized. He is not the expiator sent by Jupiter, but the manifestation in current historical fact that expiation is complete, a far more valuable compliment than some suggestion that he is really a god got up in disguise.« – Lyne (1995) 48, Anm. 25 wiederum sieht in der »identification of Octavian with Mercury [...] an allusion to his Alexander-status rather than to his direct divinity.«
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Wie paßt nun aber die Kennzeichnung des Merkur als almae filius Maiae, welche den Gott auch selbst als gnädige, segenspendende Macht erscheinen läßt, mit seiner Bezeichnung Caesaris ultor zusammen? Wie oben schon angedeutet, dient der Partizipialausdruck patiens vocari / Caesaris ultor einerseits dazu, den Apostrophierten mit Augustus zu »identifizieren«. Andererseits aber zeigt die Auswahl des Verbs pati, daß der Titel Caesaris ultor in gewisser Hinsicht unpassend ist.159 Deshalb läßt sich die Ansicht vertreten, gerade diese Benennung als Caesaris ultor rufe Oktavian zur Mäßigung gegenüber Gegnern auf, indem sie ihm die Unangemessenheit weiterer Rache vor Augen führe.160 In eine ähnliche Richtung deutet ein Vorschlag von Gerald Nussbaum: Dieser Titel sei im Rückblick auf ein bereits abgeschlossenes Kapitel verliehen worden; seine Verwendung signalisiere, daß die Zeit der ultio bereits vorbei sei.161 Diese Interpretationsansätze vertiefen das Verständnis des Gedichtes zweifellos; sie könnten ferner unterstützt werden durch den Hinweis auf das mehrmalige Auftreten des nimium/nimis-Motivs. Ihre Schwachstelle 159 Vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 35 (»at least an element of condescension«); deutlicher Bickerman (1961) 14 (»Horace proclame que Mercure, incarné dans la personne d’Auguste, n’est vengeur que contre son coeur […] Il accepte passivement qu’on l’appelle ›le vengeur de César‹«) und Womble (1970) 19: »[patiens] must carry the sense that Caesaris ultor is not a correct characterization or a proper denomination.« Etwas anders Ingrosso (1981) 204: »Mercurio non può considerarsi Caesaris ultor, perché questo appellativo compete, nella sfera divina, a Marte, nella sfera umana a Ottaviano. Assistiamo qui a una notevole contaminatio di attribuzioni.« 160 Commager (1959) 47: »The ode recommends not vengeance but an abandonment of vengeance against the Romans: iam satis. The phrase Caesaris ultor (44) is by its context rendered almost ironic. Jove himself has disapproved Tiber’s punishment of the Romans, whether for Caesar’s murder or for a more general scelus. To exact vengeance would be to perpetuate the sin of civil war rather than expiate it, to renew the past and not redeem it«; ders. ebd. S. 49: »his implication is clear: there is to be no vengeance.« Ähnlich schon Plessis (1924) 11: »cette vengeance consisterait à reconcilier tous les Romains sous l’héritier du dictateur, non à les punir«. Doblhofer (1981) 1948 sieht in der Ode einen »verschleierten Appell um Gnade«; Miller (1991) 387 konstatiert: »Mercury in 1.2 represents Caesar not as he is but as he should be«, und auch für Binder (2003) 65 dominiert in der Ode »eine von Verantwortung geprägte Herrschafts- bzw. Herrscherethik«. – Rupprecht (1946) 72 bleiben diese Spannungen verborgen: »Die Worte in 43/4 patiens vocari Caesaris ultor legen den Gedanken nahe, daß mit der Bestrafung der Cäsarmörder den Göttern Genugtuung geleistet werden kann.« Ähnliches gilt für Nisbet/Hubbard (1970) 36 (»In our passage Horace effectively renounces his Republican past«). Unhaltbar sind sicherlich extreme Positionen wie die von Wickham (1912) 7 vorgetragene: »He is professing and explaining his conversion to Caesarism. He has […] learnt that the act of Brutus was a crime.« 161 Nussbaum (1961) 407 glaubt, daß die Probleme sich lösen, »if we see in this phrase an invitation to Octavian to assume Caesaris ultor as a quasi-official title which, as is natural with a title enshrining a specific exploit, views that exploit in retrospect«; vgl. auch ebd. 411: »If Octavian will only ›suffer himself‹ to be called by it, then the world will know that the bloody chapter of vengeance, and with it of civil strife, is at an end.« Ähnlich auch Combet-Farnoux (1980) 454: »A aucun titre Mercure ne fut un dieu guerrier ou justicier, ni la force, ni la coercition n’ont jamais fait partie de la panoplie de ses moyens d’action. [...] il s’agit de rendre manifeste que la vengeance du meurtre de César est cette fois pleinement accomplie«.
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aber ist ihre Abhängigkeit von einer bestimmten Datierung: Derartige (subtile) Aufrufe zur Schonung ehemaliger Gegner konnten ihre volle Wirkung nur dann entfalten, wenn sie bei Augustus’ Rückkehr nach Rom vorgetragen wurden (29 v.Chr.), als noch nicht bekannt war, wie Oktavian mit seinen Gegnern verfahren würde. Sind diese historischen Voraussetzungen jedoch nicht gegeben, wird man diesem Interpretationsansatz kaum entscheidendes Gewicht beimessen dürfen. Festzustellen ist aber, daß Oktavian durch diese Art der Annährung eine bestimmte Haltung nahegelegt wird. Es ist zweifellos höchst ehrenvoll, wenn Augustus mit Merkur identifiziert oder jedenfalls eng mit ihm verbunden wird. Diese Verbindung legt Oktavian aber auch gewissermaßen auf bestimmte positive Verhaltensweisen fest, die Merkur zu eigen sind (V. 46ff.: laetus intersis populo Quirini / neve te nostris vitiis iniquum etc.): Das Wirken des irdischen Herrschers soll segensreich und friedlich sein; militärische Erfolge sollen nur gegen auswärtige Feinde errungen werden. Mit der Ehrung gehen also auch Verpflichtungen zu oder zumindest Wünsche nach einer bestimmten Art des Agierens einher.162 7.7.2 Die Rolle der Götter in den Versen 30-40 Vor der eingehenden Auseinandersetzung mit Merkur in den Strophen 1113 werden Apollon, Venus und Mars als mögliche Retter apostrophiert. Kann man Näheres darüber sagen, warum gerade sie genannt werden und hinterher dennoch nicht explizit als Retter fungieren?163 Apollon und Venus
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Vgl. dazu auch MacKay (1962a) 170 (»the ode is primarily concerned with advice, and encomium is the vehicle suggested by the occasion«); stark betont wird dieser Aspekt von Elmore (1931) 263 (»Horace does not intend anything so crass as to identify Octavian with Mercury, but he does wish to associate him with the god with subtle suggestion of the greatness of his task and of his power to achieve it«), Pietrusiński (1977) 111ff. (»La divinité de ce dernier n’est pas fondée sur ses mérites et ses faits, mais sur les tâches à accomplir. Les exploits par le souverain accomplis qui pourraient lui assurer l’éternité, ne sont pas la source de cette apothéose mais les besoins de l’Etat et du peuple. [...] L’apothéose [...] n’est pas sans obligation«). Ähnlich Williams (1968) 97 (»The effect […] is not so much to flatter Octavian as to emphasize that the task which faces him requires divine powers. In consequence, the effect of the sudden, surprising te duce, Caesar at the end is not to identify Mercury and Octavian, but to affirm confidence that the mortal leader is really equal to the task«) und Saylor (1979) 22 (»Mercury serves as Horace’s positive model for Augustus. [...] The ode hopes, however, that Augustus will choose to imitate Mercury«). 163 Wenig überzeugend ist der Vorschlag von Cairns (1971b) 75: »I suggest [...] that the appeals made in the paean are in no way related to the expiatory procedure«. Ebensowenig wird man Erren (1979) 169, Anm. 6 folgen, der unter Verweis auf Lucr. 2,655ff. (die propria-vocaminaPassage, vgl. im I. Teil Kap. 5.8) behauptet: »Der dazu [= zur Entsühnung] behilfliche Gott ist als Naturkraft zu verstehen«; andererseits aber, so ders. ebd. auf S. 169, sei die Entsühnung schon bei Vesta gefunden. – Angesichts der recht konkret geäußerten Anliegen vermag auch die These von
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werden mit friedlichen, »sympathischen« Attributen dargestellt: Apollon wird als augur apostrophiert; seine Gestalt ist die bei Homer geschilderte. Man wird erinnert an den Entsühner schwerer Schuld, der zum Beispiel Orestes nach dessen Muttermord aufgenommen hat.164 Auch Venus wird durchaus positiv und friedlich gezeichnet; Iocus und Cupido sind ihre angenehmen und harmlosen Begleiter. Bei Mars hingegen, dessen generell kriegslüsternen Charakter die Verse 38-40 unmißverständlich illustrieren, wird der Blick auf negative Aspekte gelenkt: Bislang hat er sein genus und seine nepotes nicht genügend beachtet (neglectum, V. 35). Jetzt aber soll er vom allzu langen »Spiel« gesättigt sein; der Vokativ satiate vertritt also wohl den Wunsch satiatus sis,165 wobei das iam-satis-Thema des Eingangsverses wieder anklingt.166 Deutliche Kritik ist in dem Adverb nimis enthalten: Allzu lange dauert dieses »Spiel« nun schon an. Wenn man aber bedenkt, daß am Ende des Gedichtes zum Kampf gegen die Parther aufgerufen wird, könnte der Kriegsgott durchaus als geeigneter Patron gelten. Dennoch wird auch er zwar angerufen; er bildet aber nicht den Abschluß des Reihengebetes. Haben Apollon, Venus und Mars vielleicht einen gemeinsamen Makel, der sie als Retter in der jetzigen Notlage ungeeignet erscheinen läßt? Einige Interpreten sind der Ansicht, diesen drei Gottheiten hafte der Makel der Parteilichkeit im Bürgerkrieg an. Weil sie auf Oktavians Seite »gekämpft« hatten bzw. von diesem für eigene Zwecke instrumentalisiert worden waren, seien sie nicht mehr als Symbole der Versöhnung, als »Leitfiguren« der Nach-Bürgerkriegsepoche verwendbar gewesen.167 Tatsächlich weiß man aus anderen Zeugnissen, daß Oktavian sich Apollon besonders verbunden Armstrong (1989) 96, das Hauptanliegen der Ode bestehe in »distancing the subject of Augustus by means of ornamental mythology«, nicht zu überzeugen. 164 Anders z.B. Schilling/Büchner (1961) 72, die darin eine Anspielung auf die Tatsache sehen, daß die sibyllinischen Bücher 28 v.Chr. in den damals eingeweihten Tempel des Apollo Palatinus transferiert wurden. – Rupprecht (1946) 74 schlägt vor, man solle augur so verstehen wie bei Jesus den Titel ὁ προφήτης, d.h. als »Wundertäter«. Dem wird man nicht folgen müssen. 165 So auch Nisbet/Hubbard (1970) 32: »The meaning of our passage is not ›now that you are sated, come‹ but ›be sated and come‹«. 166 »Gesättigt zu sein« ist für den traditionell unersättlichen Ares/Mars freilich eine ungewöhnliche Haltung; vgl. Hom. Il. 5,388 (ἆτος πολέμοιο) und Hes. scut. 346 (Ἄρης ἀκόρητος ἀυτῆς). 167 So z.B. Bickerman (1961) 13 (»En écartant les trois divinités qu’il nomme d’abord, Horace excluait les trois gagnants célestes des trois guerres civiles de son temps: Pharsale, Philippes, Actium«), MacKay (1962a) 175 (»The great gods, Apollo, Venus, Mars are suggested, and implicitly rejected [wegen ihrer Bürgerkriegsbeteiligung]«; vgl. auch Womble (1970) 16 zu den genannten Göttern: »their energetic partisanship, their history of willing intervention in the interest of their own, has made them party of the crime«; ders. ebd. 17: »it is the very neutrality of Mercury that makes it possible for him to serve as expiator«; ähnlich auch Saylor (1979) 22 (»all carry associations of destructive partisanship and murderous factionalism«). – Combet-Farnoux (1980) 452f. hebt die Beziehungen der drei Götter zu Julius Caesar hervor.
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fühlte und in diesem seinen persönlichen Schutzpatron sah, der auch bei Actium auf seiner Seite gekämpft habe. Die vermeintliche Verwandtschaft des julischen Hauses mit Venus ist bereits oben (Anm. 54) angesprochen worden. Dem Mars Ultor schließlich hatte Oktavian, wie schon erwähnt, bereits 42 v.Chr. einen Tempel pro ultione paterna gelobt.168 Diese Überlegungen machen es verständlich, warum die Wahl auf Merkur gefallen sein könnte. Ihre Schwachstelle ist aber, daß sie kein einziges Indiz innerhalb des Gedichtes aufzeigen können. Eine Zugehörigkeit einer Gottheit zu einer der Bürgerkriegsparteien klingt in der Ode nicht einmal an. Die ersten drei Götter werden auch nicht explizit abgelehnt; es ist vielmehr so, daß nur der Fokus nicht länger auf ihnen verweilt.169 Selbst wenn man allgemein bei der Nennung von Apollon, Venus und Mars ihre »Bürgerkriegsvergangenheit« mithörte – was schwer zu beurteilen ist –, so sind hier aber doch zumindest Apollon und Venus betont unkriegerisch dargestellt.170 Demnach wird man kaum die These billigen, die drei zuerst genannten Götter seien wegen ihrer »problematischen Vergangenheit« für eine Identifizierung ungeeignet gewesen.171 Generell aber konnte doch zu-
168 Bickermann (1961) 12f. listet zahlreiche Stellen aus der zeitgenössischen Dichtung auf, die den Zusammenhang dieser Götter mit Oktavian und dem julischen Haus belegen. – Nicht nachzuvollziehen ist allerdings eine Äußerung von Saylor (1979) 21: »these gods serve to represent only refinements on the attitude represented by Tiber«. 169 Vgl. Ingrosso (1981) 201: »non c’è nessuna esclusione, le divinità sono invocate tutte e quattro in aiuto«. 170 Vgl. Commager (1959) 49 (»emphasizing the peaceful aspect of each god«), Fabri (1964) 17 (über Apollon: »sous des apparences toutes pacifiques. Rien du dieu vengeur tel que le présentait Homère au premier chant de l’Iliade«), Connor (1987) 70 (»making us respond to the milder, happier, nurturing aspect of each divinity«) sowie Syndikus (2001) I, 51 (»festliche, friedliche Bilder«) und Anm. 46 (»[Die Charakterisierung] hat sehr wohl ihre Bedeutung in der Aufhellung der zunächst so düsteren Stimmung«). Weit hergeholt erscheint die Anmerkung in den pseudacronischen Scholien zu V. 33: »sed Veneris numen non usque adeo mite esse solet; nam irata Solis filias persecuta est«. 171 Skeptisch auch Cremona (1976) 93, Anm. 5 (»Le […] interpretazioni, quantunque ingegnose, mi sembrano troppo sottili e forzate. […] non c’è nessuna esclusione, ma tutte e quattro sono invocate per soccorrere. […] Che poi sia Mercurio […] a occupare la posizione di rilievo, non significa affatto che le tre precedenti divinità siano – per così dire – squalificate!«), Pietrusiński (1977) 111 (»C’est une hypothèse très suggestive, mais elle exigerait des preuves plus convaincantes«) und Combet-Farnoux (1980) 453 (»L’argument est ingénieux, mais il est superficiel et peu convaincant«). – Eine vermittelnde Position nimmt Schmidt (2002) 209 ein: »[Hier] ruft der Lyriker eben jene drei Gottheiten an, denen die Sieger im Bürgerkrieg ihre Siege verdankten: Venus siegte auf Julius Caesars Seite bei Pharsalus 48 v.Chr. über Pompeius, Mars 42 v.Chr. über die Caesarmörder bei Philippi, Apollo war der Schutzherr Octavians in der Seeschlacht von Actium 31 v.Chr. gegen Antonius und Kleopatra. Stiftet der Dichter damit nicht neues Unheil[? ...] Das Gegenteil ist richtig: Horaz verwandelt jene Götter, greift gerade sie auf, um sie einem anderen Wesensaspekt als ihrer neuen und eigentlichen geschichtlichen Aufgabe für die Römer zuzuführen«; ders. spricht ebd. auf S. 321 von einer »produktive[n] Verwandlung dieser Götter«.
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mindest Venus keine Alternative darstellen:172 Welchen Eindruck hätte es erweckt, wenn der Sprecher behauptet hätte, hinter Oktavian verberge sich eigentlich die Liebesgöttin Venus? Auch über die Ursachen der Anordnung der genannten Götter läßt sich schwerlich etwas Definitives aussagen. Vielleicht hat Max Radin ein tragfähiges Prinzip aufgespürt; er sieht den Grund für die Anordnung, wie sie uns vorliegt, in einer zunehmenden Spezialisierung: first, Apollo, the champion and protector of the Trojans in general; next, the Aeneadum genetrix, from whom all Latins are descended; third, Mars, the auctor generis of the special group of Latins in question, the Romans; and, finally the personal divine associate or double of the restorer of the state, Mercury-Augustus. It is a climax of specialization or an anti-climax of generalization.173
Doch Radin selbst sieht sich genötigt, einzuschränken: »To be sure, it is possible that the order is purely fortuitous.«174 Auffällig ist aber, welche Götter und Göttinnen nicht als mögliche Entsühner genannt werden: Da Juppiter derjenige ist, der die partis [...] expiandi zuteilt, kommt er selbst nicht mehr in Frage. Das Fehlen von Juno und Minerva aber verwundert; die kapitolinische Trias bleibt somit unberücksichtigt. In diesem Zusammenhang erscheint es vielleicht bedeutsam, daß Apollon, Venus/Aphrodite und Mars/Ares trojafreundliche Götter sind,175 Juno/Hera und Minerva/Athene jedoch nicht.176 Somit läßt sich wohl Folgendes zur Auswahl der Götter festhalten: Apollon, Venus und Mars sind Götter, mit denen Oktavian in vielfältigen Verbindungen stand. Sie alle wirkten während der Bürgerkriege – zumindest der offiziellen »Propaganda« zufolge – auf der procaesarianischen Seite. So gesehen, ist ihre Vergangenheit »belastet«; gerade diese Aspekte werden in der Ode aber gar nicht thematisiert. Vielleicht spricht Ernst August Schmidt zu Recht von einer »produktive[n] Verwandlung dieser Götter«.177 Mögen sie auch eine »Bürgerkriegsvergangenheit« haben: Jetzt werden diese trojafreundlichen Gottheiten dazu aufgerufen, ganz Rom (und nicht nur einer 172 Kein Problem sieht darin Pietrusiński (1977) 112: »Horace ne veut pas révéler son avis mais il laisse le choix de la forme de divinité à Octavien.« 173 Radin (1936-37) 38f. Auch La Penna (1963) 84, Anm. 1 beschreibt diese zunehmende »Spezialisierung«. 174 Radin (1936-37) 38. – Simpson (1993) 632ff. will zeigen, daß in den Apostrophen auf ganz bestimmte Tempel der jeweiligen Götter in Rom angespielt werde; seine Argumente vermögen aber kaum zu überzeugen. 175 Für Apollon als Helfer der Trojaner sei u.a. auf Hom. Il. 4,507ff.; 15,253ff.; 16,94 und 20,39 verwiesen, für Venus resp. Aphrodite u.a. auf Il. 3,374; 14,192 und 20,40, für Mars/Ares z.B. auf Il. 20,38. 176 Juno/Hera und Minerva/Athene werden als Gegnerinnen der Trojaner etwa in Il. 20,33 genannt. 177 Schmidt (2002) 321; vgl. auch Anm. 171.
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Partei) zu helfen. Ob dabei alle angerufenen Götter, die in einer vielleicht als »Klimax der Spezialisierung« zu bezeichnenden Reihenfolge apostrophiert werden, als an der Rettung Roms beteiligt imaginiert sind, läßt sich kaum entscheiden; jedenfalls wird keine Gottheit explizit abgelehnt. 7.7.3 Merkur-Augustus: eine horazische Singularität? Nun ist noch zu skizzieren, was die nicht-literarische Sphäre zur Frage eines eventuellen Merkur-Augustus-Kultes beitragen kann: Im griechischen Osten waren derartige Deifikationen hellenistischer Machthaber in der Nachfolge Alexanders des Großen, der 331 v.Chr. in der Oase Siwa als Sohn des Zeus-Ammon apostrophiert wurde,178 weit verbreitet. Die Römer waren in solchen Dingen generell viel zurückhaltender, was mit der ursprünglichen italischen Auffassung von Göttern als eher unpersönlichen numina zusammenhängen mag; der römische Senat erkannte zum Beispiel Julius Caesar bekanntlich erst nach dessen Tod die Apotheose zum divus Iulius zu.179 Was die Frage eines Merkur-Augustus-Kultes betrifft,180 so ist das bislang gesichtete archäologische, numismatische und epigraphische Material, das einen solchen Kult belegen könnte, höchst umstritten. Sicher ist die Gleichsetzung vollzogen auf einer Inschrift von Kos, in der es im lateinischen Teil heißt: Imp. Caesari Divi f. Aug. Mercurio scrutarei.181 Die »Trödler«, die diese Inschrift gesetzt haben, sprechen dem Kaiser jedoch offensichtlich als einem Förderer des Handels ihren Dank aus.182 Weitere Ansatzpunkte für eine Identifizierung von Augustus und Merkur liefern eine Gemme, auf der Augustus resp. Merkur, der wohl Augustus’ Züge trägt, mit dem Heroldsstab dargestellt ist, ferner eine Abbildung auf einer Stuckdecke der Villa Farnesina, auf der Merkur die Porträtzüge des Kaisers trägt, und ein Altarrelief aus Bologna.183 Darüber hinaus gab es schon im Jahre 42 v.Chr. Münzen, auf denen auf dem Avers Oktavian bzw. Antonius, 178 Hierzu vgl. etwa die bei Bengtson (1969) 344f. verzeichneten antiken Testimonien und die ebd. genannte weiterführende Literatur. 179 Gleichwohl kommt es in der späten Republik öfter vor, daß sich prominente Personen zu Gestalten des Mythos stilisieren (lassen); vgl. dazu z.B. Krasser (1995) 52ff. und Champlin (2003). 180 Commager (1959) 48f. verwirft diese Frage wohl zu pauschal: »a consideration having very little to do with our understanding of the Ode«. Ähnlich Saylor (1979) 25, Anm. 14: »It is not critical to right interpretation of the ode whether or not there was a cult of Mercury/Augustus at Rome.« 181 Maiuri (1925) Nr. 466. 182 Vgl. Bickerman (1961) 10: »Mais en vérifiant les textes on voit que les dévôts d’AugusteMercure étaient des gagne-petits qui naturallement inclinaient à confondre l’Empereur avec le dieu du commerce«. 183 Vgl. z.B. Syndikus (2001) I, 53f. mit Lit. in Anm. 55. Eine umfassende Vorstellung und Diskussion dieser Objekte findet sich u.a. bei Scott (1928) 15ff. und Combet-Farnoux (1980) 433ff. sowie (1981) 486ff.; vgl. auch Braccesi (1997) 599f.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
auf dem Revers der Hermesstab zu sehen waren.184 Die Gleichsetzung Merkur-Oktavian bzw. -Augustus zu Lebzeiten des Herrschers erscheint also nicht völlig singulär.185 Doch das vorhandene Material legt es nahe, sich Franz Altheims wohlabgewogener Einschätzung anzuschließen: Octavians Identifizierung mit Mercur war es freilich beschieden, eine vereinzelte Erscheinung zu bleiben. Wo immer sie vorkommt, gehört sie privater Kultübung an; in der Staatsreligion hat sie keine Aufnahme gefunden.186
7.8 Das Finale von Vergils Georgica I als Vergleichspunkt Von den epigraphischen, archäologischen und numismatischen Zeugnissen zurück zur Literatur! Ein Praetext für Horaz läßt sich im Finale von Vergils erstem Georgica-Buch sehen.187 In den Versen 461ff. legt Vergil dar, wie die Sonne kommende Wetterlagen ankündigt. In Vers 464 wird durch das Adverb etiam der Rahmen der rein meteorologischen Phänomene verlassen; die Sonne kündigt auch tumultus, fraus und bella an, wie zum Beispiel durch eine Sonnenfinsternis nach Caesars Ermordung (V. 464-468). Daraufhin schließt Vergil, indem er das Thema »Prodigien« ausweitet, eine ganze Reihe von signa an: Aetnaausbrüche, Waffengetöse in Germanien, Erdbeben in den Alpen, Stimmen in einsamen Wäldern, simulacra modis 184
Vgl. z.B. Alföldi (1951) 207 sowie Syndikus (2001) I, 54, Anm. 56 mit weiterer Literatur. – Wichtig ist allerdings die Einschränkung zu numismatischen Zeugnissen bei Bickerman (1961) 11, Anm. 22: »Mais si Mercure est représenté [au] revers d’une monnaie d’Auguste cela veut-il dire qu’il est identifié à l’Empereur? […] En fait, les revers d’autres monnaies de la même série portent Paix, Victoire, et Vénus.« 185 Ob man aber darin mit Cremona (1976) 100 eine »esigenza religiosa del momento« sehen darf, erscheint fraglich. – Fraenkel (1957) 293, Anm. 2 äußert sich generell sehr skeptisch und kommt zu dem Schluß, daß es aus Rom oder Italien kein eindeutiges Zeugnis für die Gleichsetzung von Merkur und Augustus gebe. 186 Altheim (1933) 63; ähnlich Oksala (1997) 286: »si tratta in primo luogo di una visione poetica, di un’ improvvisazione, di qualcosa che non ha nessun rapporto reale con il culto.« In jüngster Zeit bilanziert Binder (2003) 58: »Es gab in jenen Jahren keinen Mercurius-Octavius-Kult (und noch weniger einen Mercurius-Augustus-Kult), der diese Deutung [sc.: die Ode als Prototyp oder Ausdruck offizieller Praxis] plausibel erscheinen ließe.« 187 Vergil hat seine Georgica bekanntlich ca. 29 v.Chr. veröffentlicht; mit ihrer Abfassung hatte er ca. 36 v.Chr. begonnen. Die hier zu besprechende Passage gilt meist als früh entstanden. Für »Abhängigkeit« Vergils von Horaz hingegen tritt Radke (1954) 244 ein. – Einen sehr detaillierten Kommentar zu den Georgica hat Erren (2003) vorgelegt; die hier zu behandelnden Verse werden dort auf den Seiten 242-273 erläutert. Einen ausführlichen Vergleich der Horaz-Ode mit der Vergilstelle findet man bei Barwick (1935) 267-276. Außerdem äußern sich dazu u.a. Fraenkel (1957) 287ff., Oksala (1973) 91 und Syndikus (2001) I, 41ff. – Simpson (1993) 632, Anm. 2 jedoch spricht sich gegen eine engere Verbindung der beiden Gedichte aus: »That Vergil wrote a great prayer at the end of Georgics 1 […] does not prove any indebtedness. At the most, any similarity can only be asserted as evidence of an environment (Maecenas’ ›circle‹) in which both poets created quite distinct works of genius, inspired by the same Muse.«
7. carmen 1,2
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pallentia miris, sprechende Tiere, Flußstillstände, klaffende Erdspalten, Flüssigkeit absondernde Elfenbein- und Erzgötterbilder, ferner eine Poüberschwemmung, ungünstiger Verlauf der Opferschau, Blutfluß aus Brunnen, Wolfsgeheul in Städten, Blitze aus heiterem Himmel und schließlich Kometenerscheinungen. Aus dieser Fülle von Prodigien lassen sich nur zwei mit den bei Horaz geschilderten vergleichen: Die Poüberschwemmung läßt sich in Beziehung zu den Regenfällen und dem Tiberhochwasser bei Horaz setzen, und die Blitze aus heiterem Himmel erinnern an Horazens Vers 3; in diesem aber war das Kapitol getroffen worden. Die Aussage bei Vergil ist also deutlich unbestimmter. Die Prodigiendarstellungen beider Autoren berühren sich demnach nur in zwei Punkten, und auch in diesen sind Unterschiede deutlich erkennbar. Auf diesen Prodigienkatalog läßt Vergil Verse folgen, die sich auf zwei verschiedene Arten mit den Kämpfen nach Caesars Ermordung auseinandersetzen: In den Versen 489-492 werden die Schlacht von Philippi und das Blutvergießen als vom Standpunkt des Sprechers aus gesehen vergangen dargestellt. Die Verse 493-497 hingegen blicken in eine künftige Zeit voraus (scilicet et tempus veniet, V. 493), in der Bauern bei der Feldarbeit auf »archäologische Zeugnisse« der Bürgerkriege (exesa pila, galeae inanes, grandia ossa, V. 495ff.) stoßen werden. Diese Prophezeiung kann man in Beziehung zu Horazens sechster Strophe (audiet civis etc.) setzen; doch auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede: Bei Vergil werden diese Entdeckungen in eine ganz unbestimmte Zukunft verlegt, und auch der Ort ist nicht Rom, sondern die Gegend bei Pharsalos (finibus illis, V. 493). »Bei Vergil erhält der Krieg [...] einen Hauch mythischer Größe, Horaz dagegen betont aktuell politisch, daß die heranwachsende Generation unter dem Eindruck der Schande dieses Krieges stehen wird«, formuliert Wolf Steidle.188 In den Versen 498ff. liest man nun bei Vergil Folgendes:
505
di patrii Indigetes et Romule Vestaque mater, quae Tuscum Tiberim et Romana Palatia servas, hunc saltem everso iuvenem succurrere saeclo ne prohibete. satis iam pridem sanguine nostro Laomedonteae luimus periuria Troiae; iam pridem nobis caeli te regia, Caesar, invidet atque hominum queritur curare triumphos, quippe ubi fas versum atque nefas;
500
Ihr einheimischen Götter und Romulus und Mutter Vesta, die du den etruskischen Tiber und den römischen Palatin bewahrst, haltet wenigstens diesen jungen Mann nicht davon ab, der zerrütteten
500
188
Steidle (1943) 25.
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505
II. Teil: Einzeluntersuchungen Generation zu Hilfe zu kommen! Schon längst haben wir genug mit unserem Blut den Meineid des laomedontischen Troja gebüßt; schon längst beneidet uns die Himmelsburg um dich, Caesar, und beklagt sich, daß du dich um Triumphzüge der Menschen kümmerst, wo doch Recht und Unrecht verdreht sind;
Es erfolgt also nach dem Vorausblick eine »Rückblende« in die Gegenwart. Verschiedene Götter werden angerufen und darum gebeten, einen iuvenis nicht daran zu hindern, dem eversum saeclum zu helfen. Beiden Dichtern liegt demnach daran, daß ein iuvenis als Helfer der Menschen auf Erden bleiben kann. Während aber Horazens Wunsch nach längerem Aufenthalt an den iuvenis selbst adressiert ist, nachdem er an den höchsten Gott Juppiter seine Bitte um einen Entsühner gerichtet hat, bittet Vergil eine Vielzahl von Göttern darum, daß sie den iuvenis helfen lassen,189 und er bemerkt dann in einer Apostrophe an eben diesen iuvenis, daß der himmlische Hofstaat schon längst neidisch auf die Menschen sei, weil jener bei ihnen verweile. Ferner betonen beide Dichter, daß es nun genug sei, daß Juppiter schon genug Unwetter geschickt habe (iam satis, carm. 1,2,1), daß schon genug Sühneblut geflossen sei (satis iam, georg. 1,501).190 Denn auch der Gedanke des zu sühnenden Unrechts kommt bei beiden vor: Durch den Vers Laomedonteae luimus periuria Troiae erinnert Vergil daran, wie der trojanische König Laomedon Apollon und Poseidon/Neptun um ihren Lohn für die Erbauung der Stadtmauern Trojas betrog und damit den Zorn dieser Götter auf sich zog, den Rom bei Vergil gewissermaßen als »Rechtsnachfolger« Trojas jetzt immer noch ertragen muß.191 Folglich liegt auch hier eine mythologische Motivierung und Erklärung zeitgenössischer Ereignisse vor. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Passagen besteht darin, daß die Identität des iuvenis nicht sogleich preisgegeben wird: Bei Vergil findet die Identifikation erst drei Verse später durch die Apostrophe Caesar statt; Horaz enthüllt – ebenfalls durch die Apostrophe Caesar – die Identität des Retters erst zwei Strophen später im letzten Wort der Ode. Auch die triumphi, die der Retter bei Horaz davontragen möge, welche laut Vergil aber bei den Göttern Klagen erregen (caeli [...] regia [...] queritur, V. 503f.), finden sich bei beiden Dichtern. Ein deutlicher Unterschied zwischen Vergil und Horaz besteht jedoch im Grad der »Deifikation« des Oktavian. Zwar reden beide von ihm als iuve189 Die Zahl der gewährenden Götter ist also bei Vergil größer, die der möglichen Retter geringer. Daran läßt sich die Beobachtung anknüpfen, daß Juppiter in der Horaz-Ode dreimal an entscheidender Stelle genannt ist: am Anfang als Verursacher der Unwetter, in Strophe 5 als dem Tiber widerstrebende Kraft und in Strophe 8 als Aussender des Entsühners. 190 Erren (1979) 163, Anm. 2 lehnt es allerdings ab, hier eine Parallele zu konstatieren, da es sich bei solchen Ausdrücken um »Gemeingut der Umgangssprache« handle. 191 Lyne (1995) 47 spricht von einem Geschlechterfluch aischyleischer Prägung.
7. carmen 1,2
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nis, der zum göttlichen Bereich zu zählen ist. Doch während Horaz die Identität192 von Oktavian und Merkur zumindest als eine Möglichkeit neben anderen betrachtet, ist Vergil zurückhaltender. Er hält den iuvenis zwar für fähig zu helfen und konstatiert Neid des himmlischen Hofstaates auf die Menschen, die sich der Anwesenheit des iuvenis erfreuen können. Auch dadurch, daß die caeli [...] regia über seine Beschäftigung mit Triumphen unter den Menschen klagt (hominum queritur curare triumphos, V. 504), wird impliziert, daß die menschliche Sphäre eigentlich nicht die dem iuvenis zukommende ist. Doch nirgends findet sich auch nur der Ansatz einer Identifikation des Oktavian mit einer konkreten Gottheit.193 Oktavian steht bei Vergil der göttlichen Sphäre nahe, wird aber (zumindest an dieser Georgica-Stelle) nicht einmal andeutungsweise als leibhaftiger, auf Erden wandelnder Gott dargestellt. Vergil bleibt im Finale des ersten Georgica-Buches nicht bei den verhalten optimistischen Aussagen über Augustus (V. 500-504) stehen. Schon am Ende des Gebetes an die Götter war angeklungen, daß diese unwillig sind über Oktavians langen Verbleib auf der Erde, wo Recht und Unrecht doch auf den Kopf gestellt sind (quippe ubi fas versum atque nefas, V. 505). Diese Lage der Dinge wird nun noch genauer ausgeführt: Überall auf der Welt herrschen Krieg und Verbrechen. Die Völker am Euphrat und in Germanien verhalten sich feindselig, und sogar vormalige Verbündete greifen zu den Waffen. Die Beschreibung der Situation kulminiert in der Feststellung: saevit toto Mars impius orbe (V. 511). Mars wütet und ist völlig außer Kontrolle geraten, ein Zustand, der mit einem nicht mehr kontrollierbaren Gespann bei einem Pferderennen verglichen wird (V. 512-514).194 Vergil läßt die Szene und das Buch also pessimistisch und in düsterer Stimmung ausklingen. Syndikus hatte, wie in Kap. 7.4 dargestellt, gegen die herkömmliche Deutung der sechsten Strophe eingewandt, daß ruentis / imperi rebus auf noch ausstehende Probleme hinweise; deshalb könne audiet civis acuisse ferrum nur bedeuten, daß die Jugend abermals Bürgerkriege selbst miterleben werde. Die behandelte Georgica-Passage zeigt aber, daß auch eine andere Auffassung möglich ist: Obwohl bei Vergil drastische gegenwärtige Probleme geschildert werden (saevit toto Mars impius orbe, V. 511), beziehen 192
Vgl. hierzu jedoch Kap. 7.7.1, S. 306ff. Diese Ausführungen beziehen sich nur auf georg. 1,498ff. Die (wohl jüngere) Apostrophe an Oktavian in georg. 1,24ff. (tuque adeo, quem mox quae sint habitura deorum / concilia incertum est […] an deus immensi venias maris ac tua nautae / numina sola colant etc.) wird aufgrund der Divergenzen von Kontext und Form nicht in den Vergleich miteinbezogen. Siehe dazu aber im I. Teil Kap. 5.10, S. 140. 194 Ob in carm. 1,2,51 (neu sinas Medos equitare inultos) ein Anklang an das vergilische Bild des außer Kontrolle geratenen Gespannes und seines machtlosen Wagenlenkers (V. 514: fertur equis auriga neque audit currus habenas) beabsichtigt ist, läßt sich kaum entscheiden. 193
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
sich die futurischen Verse 493-497 eindeutig auf eine Zeit, in der von den Bürgerkriegen nur noch materielle Reste übrig sein werden. In die Beschreibung einer gegenwärtigen Notsituation kann also durchaus ein positiver Zukunftsausblick eingefügt sein. Daß gedichtimmanente Gesichtspunkte diese Auffassung nahelegen, wurde oben bereits erörtert.195 Man kann also festhalten, daß sich zwischen Horazens carm. 1,2 und dem Finale des ersten Buches der vergilischen Georgica einige Parallelen finden lassen, z.B. in einigen Formulierungen196 und in der Struktur Prodigien – Reihengebet – rettender iuvenis – allmähliche Aufdeckung seiner Identität. Auch das Bitten um langes Verweilen des Retters und der Hinweis auf die militärischen Erfolge gegen äußere Feinde des römischen Staates sind Bestandteile beider Texte. Einen deutlichen Unterschied gegenüber Vergil aber stellt der Grad der »Deifizierung« des Caesar dar: Bei Vergil nur allgemein der göttlichen Sphäre nahegerückt, wird der iuvenis bei Horaz sehr eng mit Merkur verbunden, vielleicht sogar mit ihm identifiziert.197
7.9 Fazit Die Ode beginnt mit dem Blick auf heftige Unwetter. Diese Unwetter werden – wohl in Anlehnung an traditionellen hohen lyrischen Stil, aber auch an den altehrwürdigen Prodigienglauben – als zweckgerichtete, von Juppiter selbst gewollte Geschehnisse dargestellt, deren gewaltige Wirkung in einer Art von Innensicht der Menschen in Beziehung zu einer mythischen, die natürliche Ordnung völlig umkehrenden Überschwemmungskatastrophe gesetzt wird. Ob und von welchen konkreten historischen Unwettern sich Horaz bei dieser Gestaltung hat anregen lassen, läßt sich schwerlich entscheiden; es mag sich auch um eine fiktive Wetterkatastrophe handeln. Weniger plausibel erscheint die Annahme, es handle sich bei den Unwettern um ein reines Symbol für die Bürgerkriege. Vielmehr werden die Unwetter in Horazens Konzeption als eine Warnung, ein Menetekel Juppiters im Zu195
Kap. 7.4, S. 295f. Einen Vergleich des Wortmaterials bietet Gallavotti (1949) 221, Anm. 2. Vgl. auch Barwick (1935) 272: »Gewiß hat daher Horaz auch gewünscht, daß seine Anlehnung an Vergil als solche empfunden und gewürdigt werde, und er hat darum auch nicht versäumt, durch einige äußere Anklänge auf Vergil hinzuweisen«. 197 Als weiteren Vergleichspunkt schlägt Saylor (1979) 20ff. den Seesturm im ersten Buch der Aeneis vor: »a certain literary-political configuration common to Vergil’s Aen. 1,81ff. and Horace’s poem. […] a storm representative of human turmoil, a selection of gods representing different modes of conduct, a certain arrangement of storm and gods about a central figure in allegorical fashion, and Augustus as the central figure« (S. 20). Juno entspreche dabei der Ilia, Aeolus dem Tiber und Neptun dem Merkur. Man wird aber zugeben müssen, daß bei diesem Vergleich die Unterschiede deutlich schwerer wiegen als die Gemeinsamkeiten. 196
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sammenhang mit den Bürgerkriegen gedeutet. Dies steht in deutlichem Gegensatz zur Lehre des Lukrez und auch zu der von Horaz selbst in Satire 1,5 vertretenen Ansicht, Naturerscheinungen seien intentionslos und keinesfalls Ausdruck göttlichen Wirkens. In den Versen 13-20 wird durch das Perfekt vidimus (V. 13) nicht in eine schon länger vergangene Zeit zurückgegriffen; vielmehr werden die Eindrücke aus den ersten Strophen intensiviert. Zu den vom Göttervater gesandten Unwettern tritt die intentionale, auf Zerstörung gerichtete Aktion des Tiber, der – nicht als gewöhnlicher Fluß, sondern als Flußgott imaginiert – Hauptorte des römischen Reiches zerstören will, um seiner Frau Ilia Genugtuung zu verschaffen, die wohl Rache für die sinnlosen Bürgerkriege (diese sind vermutlich das in V. 29 genannte scelus), vielleicht auch für Caesars Ermordung wünscht. Ereignisse in der Gegenwart des Sprechers werden also als mythologisch motiviert dargestellt. Dabei greift Horaz auf eine seltene Version des Mythos zurück (Ilia nicht als Frau des Anio, sondern des Tiber), die für seine spezielle Intention besonders geeignet erscheint. Die Gestalt des uxorius Tiber darf man zwar nicht »par force« mit historischen Personen wie etwa Antonius parallelisieren; doch Tibers Verhalten als ultor ist übertrieben und findet nicht Juppiters Billigung. Seine Haltung ist sicherlich nicht nachahmenswert. Die sechste Strophe weist nicht auf noch bevorstehende Bürgerkriege voraus, sondern stellt den Rezipienten vor Augen, wie man in der Zukunft die dann vergangenen Bürgerkriege wahrnehmen wird. An die Beschreibung der bedrohlichen Lage in Vers 25f. schließt sich ein Gebet an, das mehrere trojafreundliche Götter nacheinander anruft, die – mit Ausnahme von Mars – betont heiter und unkriegerisch geschildert sind. Obwohl Apollon, Venus und Mars im Bürgerkrieg von der caesarianischen Seite in Anspruch genommen wurden, ist die horazische Darstellung frei von derartigen Tendenzen. Vielleicht darf man in dieser Neuakzentuierung mit E.A. Schmidt eine produktive Verwandlung dieser Götter hin zum Friedlichen sehen; jedenfalls wird keiner der angerufenen Götter explizit als Retter abgelehnt. Das in Vers 30 mit ängstlicher Ungeduld (tandem) begonnene Reihengebet endet in einer Apostrophe an den almae filius Maiae Merkur. In den letzten drei Strophen der Ode findet nun beinahe unmerklich eine Akzentverschiebung von Merkur hin zu Oktavian statt. Diese enge Anbindung Oktavians an den Gott Merkur, für die es jedenfalls kein verbreitetes offizielles Vorbild gab, bedeutet ein exzeptionelles Lob für den Herrscher. Doch dieses Lob wird nicht ohne implizite Verpflichtung ausgesprochen: Dadurch, daß er mit Merkur, dem italischen Gott der wirtschaftlichen Prosperität, der zugleich Friedensbringer ist, aber auch mit Hermes verglichen wird, der nach der Sintflut beim Aufbau einer neuen, moralisch besseren Zivi-
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
lisation half, wird Augustus zu einer am Wohl des Volkes orientierten, um Frieden und Stabilität bemühten Form der Herrschaft verpflichtet. Wenn also der Tiber ein negatives Beispiel war, so stellt Merkur nun ein durchweg positives Modell für Oktavian dar. Caesaris ultor läßt sich dieser MerkurAugustus nur ungern (patiens) nennen; je nach zugrundegelegter Datierung der Ode kann man hierin und in der mehrfachen Betonung des nimiumThemas im Zusammenhang mit dem Rachemotiv einen Aufruf des Sprechers zur Milde gegenüber früheren Bürgerkriegsgegnern sehen. Innerhalb der imaginierten Situation jedenfalls, in welcher Mythos und Zeitgeschichte aufs Engste miteinander verflochten sind, ist es eher angeraten (potius), Triumphe und Ehrentitel zu empfangen, während die kriegerischen Energien kanalisiert und aus dem Inneren gegen äußere Feinde des Reiches abgeleitet werden sollten.
8. carmen 1,10
Hatten die bisher behandelten Gedichte immer nur einzelne Mythologumena aufgewiesen, so liegt in carm. 1,10 eine Ode vollständig mythischen Inhalts vor. Der Hymnus an Merkur hat aufgrund seines singulären Charakters die Interpreten vor zahlreiche Probleme gestellt und sie völlig konträre Äußerungen treffen lassen; von einer konsensfähigen Auslegung ist man weit entfernt:1 So finden sich beispielsweise Deutungen, die dieses Gedicht als eine persönliche, an Merkur gerichtete Ansprache des Dichters betrachten, da der historische Horaz ein besonderes, enges Verhältnis zu Merkur gehabt habe.2 Es wird jedoch auch die These vertreten, daß Horaz, obgleich er sich zwar nicht tatsächlich zu dem olympischen Hermes/Merkur hingezogen fühle, in ihm dennoch ein Symbol für die Dichtkunst bzw. eine Art Spiegelbild seiner selbst sehe.3 Ebenso gibt es aber auch Deutungen, die in der Ode ein bloßes Übungsstück zu erkennen glauben.4 Andere wiederum betrachten diesen Hymnus lediglich als ein »Gefäß« für eine indirekte Huldigung an Augustus,5 wie ja generell in vielen Werken der augusteischen Literatur Lob oder Tadel des sich etablierenden Herrschaftssystems vermutet wird. Ferner begegnet die Auffassung, der Hymnus sei als Chorlied verfaßt worden, so daß Aussagen in der ersten Person Aussagen des Chores wären und die persönliche Involvierung des Horaz sehr gering würde.6 Angesichts jener Kontroversen erscheint es unumgänglich, diesen ersten Hymnus der Oden-Sammlung7 eingehender zu betrachten.
1 Fauth (1962) 12 klagt sogar: »Die Philologie hat ihr […] – von Ausnahmen abgesehen – kein sonderliches Verständnis abgewonnen.« Noch polemischer Wili (1948) 194, Anm. 1: »Es ist von hervorragendsten Philologen wenig Sinnvolles über dieses Lied gesagt worden«. 2 So z.B. Kiessling/Heinze, Hommel und Oppermann. Vgl. dazu Kap. 8.3.1. 3 Zu nennen sind hier u.a. Campbell, Neumeister, Pöschl, Miller und Syndikus. Vgl. dazu Kap. 8.3.2. 4 So etwa Wickham, Plessis und Quinn. Vgl. dazu Kap. 8.3, S. 336, Anm. 69. 5 So z.B. Lo Cicero, vgl. dazu Kap. 8.3.3. 6 Zum Beispiel Cairns (1971a) 439 (»I believe, however, that Ode I, 10 is a choric hymn and that the ›speaker‹ in Horace’s imagination was a chorus and not himself«), der aber ebd. einräumt: »Internal proof is not available«; zurückhaltend schon früher Plessis (1924) 33: »peutêtre écrite en vue d’une fête de ce dieu et récité au cours des cérémonies«. 7 Zur Stellung des Merkurhymnus innerhalb von carm. 1,1-11 vgl. Konstan (2001) 15-18.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
8.1 Die Ode im Überblick Mercuri, facunde8 nepos Atlantis, qui feros cultus hominum recentum voce formasti catus et decorae more palaestrae, Merkur, beredter Enkel des Atlas, der du die wilde Lebensweise der erst kurz zuvor entstandenen Menschen durch die Stimme schlau veredelt hast und durch des schönen Ringkampfes Sitte,
Die erste Strophe apostrophiert den Gott Merkur doppelt, indem sie zum einen seinen Namen nennt, ihn aber zum anderen mit seinem Papponymikon anruft (Merkur/Hermes als Sohn des Juppiter/Zeus und der Maia, die ihrerseits eine Tochter des Atlas ist)9 und dabei durch die Hinzufügung des Attributes »beredt« (facunde, V. 1) bereits eine Eigenschaft Merkurs lobend erwähnt.10 Nach diesem kurzen genealogischen Teil wird sodann in einem Relativsatz eine seiner Leistungen für die Menschen hervorgehoben: Die in Vers 2 thematisierte Veredelung und Kultivierung der noch barbarischen Sitten (feros cultus) wird an zwei Gaben des Merkur an die Menschen konkretisiert: einerseits an der Begabung mit Stimme, also an der Verleihung der Kommunikationsfähigkeit (und somit im weiteren Sinne auch der Dichtung),11 andererseits an der Institutionalisierung des Ringens, einer Sitte, die 8
Ich interpungiere wie z.B. Stephan Borzsák und David R. Shackleton Bailey, so daß facunde als Attribut zu nepos zu betrachten ist. Diese Interpunktion hat sich heute weitgehend durchgesetzt, während Bentley (1869) 30 noch kritisieren mußte: »in omnibus, quas vidi, editionibus male interpungitur.« 9 Vgl. z.B. Hes. theog. 938: Ζηνὶ δ’ ἄρ’ Ἀτλαντὶς Μαίη τέκε κύδιμον Ἑρμῆν [...]. 10 Hier und im Folgenden wird darauf verzichtet, für alle genannten Attribute eine synchrone oder diachrone Übersicht über Parallelstellen zu geben, weil solche Sammlungen bereits mit großem Fleiß von Kiessling/Heinze (1955) 52ff., Fauth (1962) 12ff., Nisbet/Hubbard (1970) 125ff., Giomini (1994) 63ff. und Syndikus (2001) I, 125 zu den jeweiligen Versen zusammengestellt wurden. Im Übrigen sind es wohl ohnehin eher die Abweichungen von der traditionellen Norm, die den speziellen Charakter dieses Gedichtes konturieren. 11 Vgl. dazu Römisch (1979) 34: »Aber auch die Sprache als Kulturbringerin wird damit in ihrer Besonderheit gekennzeichnet, und das gibt dem Gott und der Sprache im Rahmen der augusteischen Zeit ihren eigenen Rang. Wer diesen Vers durchdenkt, versteht, warum in dieser Epoche die Dichter eine solche Achtung genossen.« Ähnlich auch Schrijvers (1973) 149: »beschouw ik I 10 als een directe en indirecte epideictische tekst. Wie Mercurius zó prijst, prijst indirect de poëzie als wardevol.« – Was die Menschen ohne Stimme und Kommunikation nach Horazens Auffassung waren, zeigt sat. 1,3,99ff.: Es handelte sich bei ihnen um ein mutum et turpe pecus (V. 100); später aber, nach der Erfindung von verba, quibus voces sensusque notarent (V. 103) ließen sie vom Krieg ab und erreichten neue zivilisatorische Höhen (dehinc absistere bello, / oppida coeperunt munire et ponere leges, V. 104f.). Aus dem Umstand, daß an dieser Satiren-Stelle die Menschen selbst die Sprache »erfinden«, statt von Merkur darin unterwiesen zu werden, muß man nicht wie Valcárcel (1988) 36ff. ein Problem konstruieren: Verschiedene Genera erlauben ver-
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schön ist (decorae, V. 3) und – so muß man wohl ergänzen – den Leib schön macht.12 Diese Gedanken sind organisch entwickelt, so daß man in voce wohl eine Fortführung von oder zumindest einen lockeren Anschluß an facunde (V. 1) sehen darf. Die Haltung des Gottes bei der Vermittlung beider Gaben wird als catus (V. 3), als »schlau« oder »gewitzt«, beschrieben.13 Die nächste Strophe führt Merkurs Aretalogie fort: 5
te canam, magni Iovis et deorum nuntium curvaeque lyrae parentem, callidum quidquid placuit iocoso condere furto.
5
dich will ich besingen, des großen Juppiter und der Götter Boten und der gebogenen Laute Schöpfer, gewitzt darin, alles, was gefallen hat, in scherzhaftem Diebstahl zu bergen.
Mit dem Personalpronomen te (V. 5) beginnt nun eine Reihe anaphorischer Du-Prädikationen, wie sie für den Hymnenstil typisch sind.14 Nach der Ankündigung des Gesangs (te canam, V. 5) folgen in Apposition drei Aspekte der Merkurgestalt: Die Nennung als Götterbote führt eine ständige Rolle an, deren Bedeutung durch die Hinzufügung des Adjektivs magni zu Iovis noch unterstrichen wird; daß Juppiter hier separat von den dei genannt wird, steht zwar in einer gewissen stilistischen Tradition,15 dient aber zweifellos schieden akzentuierte Darstellungen. – Ähnlich hoch schätzt Crassus bei Cicero (de orat. 1,33) die Macht von Sprache und Rede ein: quae vis alia potuit aut dispersos homines unum in locum congregare aut a fera agrestique vita ad hunc humanum cultum civilemque deducere [...]? 12 Eine ganz andere Auffassung von palaestra blieb bislang weitgehend unberücksichtigt: Die pseudacronischen Scholien bemerken zu palaestra: »exercitio eloquentiae sive quia ab ipso dicitur inventum exercitium huius certaminis«. Diesen Gebrauch des Substantivs palaestra im Sinne von »Redeschule, rednerische Ausbildung, Training der Ausdrucksfähigkeit« belegt u.a. Cicero (z.B. in orat. 228f. und Brut. 37). Könnte also die palaestra bei Horaz hier eine verfeinerte, systematisch geschulte Form der vox darstellen? Gegen diese Auffassung spricht einiges: Zu vox würde der Ringsport gut als körperbetonter Gegenpol passen, und die feri cultus würden in regulierte Kampfspiele übertragen. Darüber hinaus ist Hermes/Merkur der ἐναγώνιος par excellence; Statuen von ihm wurden gerne in Ringhallen aufgestellt. Überdies schreibt ihm die spätere Überlieferung (nach Philostrat und Servius) eine Tochter bzw. Geliebte namens Palaistra zu, nach der er den Sport benannt habe. – Unmißverständlich bezieht sich Ov. fast. 5,667 auf den Sport: nitida quoque laete palaestra [...]. 13 Wenn Maurach (2001) 275 Merkur als Stifter von λόγος und νόμος bezeichnet, so geht dies über Horazens Worte hinaus: Merkur hat den Menschen – zumindest nach carm. 1,10 – nur den mos palaestrae geschenkt, nicht die Gesamtheit zivilisatorischer νόμοι bzw. mores. 14 Zum Du-Stil im Hymnus vgl. z.B. Norden (1996) 143. Zur Stelle vgl. auch Römisch (1979) 39: »das Ich-Du-Verhältnis wird hergestellt. Der Dichter bringt dem Merkur dar, was an Positivem ausgesagt wird«. 15 Vgl. zu dieser von Porphyrio zu V. 5f. als σχῆμα ἐξοχὴ bezeichneten Figur z.B. Hdt. 1,65,3 (Ζηνὶ φίλος καὶ πᾶσιν Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσι), Men. Dysk. 151 (μὰ τὸν Ἀπόλλω καὶ θεούς) und Plaut. Capt. 922 (Iovi disque ago gratias).
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
ebenfalls der Hervorhebung. Daß Juppiter Merkurs Vater ist, kommt jedoch nicht zum Ausdruck. Man könnte vermuten, daß Juppiter von Horaz geradezu aufgespart wurde, um den »Botendienst« Merkurs zu adeln: Er ist nicht »Laufbursche« der Götter, sondern Gesandter des großen Juppiter (und der Götter), eine hoheitsvolle Persönlichkeit – umso unvermittelter wird dann im Folgenden seine Kleptomanie thematisiert. Die Erwähnung der Lautenerfindung16 ruft ein einmaliges Ereignis in Erinnerung, während die Charakterisierung als callidus zusammen mit dem verallgemeinernden Relativpronomen quidquid (beide in V. 7) einen permanenten Wesenszug darstellt. Diese Neigung zum Diebstahl wird aber dadurch entschuldigt, daß solch ein furtum »scherzhaft« (iocoso, V. 7) genannt wird.17 Bemerkenswert ist, daß diese wohlbekannten Eigenschaften Merkurs (Götterbote, Erfinder der Laute und Dieb) erst nach seinem Wirken als Lehrer der Menschen genannt werden.18 Nun folgen zwei Episoden aus dem Leben des Gottes, eine aus der Zeit unmittelbar nach seiner Geburt, eine aus seinem späteren Wirken (V. 9ff.):19 10
15
te, boves olim nisi reddidisses per dolum amotas, puerum minaci voce dum terret, viduus pharetra risit Apollo. quin et Atridas duce te superbos Ilio dives Priamus relicto Thessalosque ignis et iniqua Troiae castra fefellit.
16 Diese Art der Herkunfts- oder Zugehörigkeitsangabe liegt in anderer Form vor in Wendungen wie carm. 3,4,4 (fidibus citharaque Phoebi) oder im Städtekatalog von carm. 1,7,3ff. (Baccho Thebas vel Apolline Delphos / insignis […] Palladis urbem). Eine Gründungssage Roms findet man in Hannibals Rede in carm. 4,4,53-56 (Fahrt von Ilion über das Meer, Ankunft in Ausonien); eine von Vogelgezwitscher ausgehende Anspielung auf den Mythos von Prokne und Philomela begegnet in carm. 4,12,5-8. Solche »beiläufigen« Zusätze sind wohl primär der Auxesis wegen eingesetzt, um ein hohes lyrisches Niveau und hohen poetischen Stil zu erzeugen. Vgl. dazu Stemplinger (1913) 2383, der den Zweck solcher mythologischer Anspielungen in der Evozierung der »entsprechende[n] Stimmung oder Erinnerung«, manchmal auch in einer Art Rätselspiel sieht und der in der Nennung von Gründernamen hellenistischen Einfluß feststellt. Vgl. ferner Welsch (1971) 151-153, die diese Zusätze dem lyrischen Stil zuschreibt und »Konkretisierung und Individualisierung der Vorstellung« (ebd. 153) als Horazens Anliegen ausmacht. Oksala (1973) 196f. bietet weitere vergleichbare Stellen. – Ein Fall, in dem ein mythisches Attribut durchaus eine wichtige Funktion ausübt, wird oben im II. Teil, Kap. 6.3 dargestellt. 17 Die pseudacronischen Scholien erklären zu V. 8: »non illo, quod ad avaritiam et fraudem spectat«. 18 Vgl. auch Römisch (1979) 33. 19 Schon Voit (1982) 486 macht darauf aufmerksam, daß durch die Erwähnung der – den Vortrag von Mythologemen häufig begleitenden – lyra der Übergang zur mythischen Erzählung vorbereitet wird.
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Über dich hat, während er einst dich, das Kind, falls du nicht die Rinder, durch List entwendet, zurückgäbest20, mit drohender Stimme schreckte, seines Köchers beraubt, Apollon gelacht.
10
Ja sogar vor den stolzen Atreussöhnen blieb unter deiner Führung der reiche Priamos, nachdem er Ilion verlassen hatte, und vor den thessalischen Wachfeuern und vor dem Lager, das Troja feindlich war, verborgen.
15
Die Verse 9-12 geben sogleich ein Beispiel des iocoso / condere furto aus den Versen 7f.21 In einer Konstruktion, die aufgrund weiter Hyperbata (te […] puerum; boves […] amotas; viduus […] Apollo) und der »Spätstellung« der Subjunktionen nisi und dum nicht unkompliziert ist,22 spielt der Sprecher auf den von Merkur unmittelbar nach dessen Geburt begangenen Rinderdiebstahl an. Was mit per dolum amotas gemeint ist, wird nicht näher präzisiert: Merkurs kluger Einfall, die Rinder rückwärts gehen zu lassen, so daß keine Spuren vom Tatort wegführten – zu Recht nennt ihn also der Sprecher in Vers 7 callidum –, bleibt unerwähnt. Allerdings schildert Horaz die sich daran anschließende Szene, wie Merkur mit Apollon, dem Besitzer der Herde, konfrontiert wird. Dieser will das kleine Kind mit seiner minax vox einschüchtern, obwohl vox doch auch und gerade die Domäne des Merkur ist, wie aus den Versen 1-3 hervorgeht. Apollon aber, dem schrecklichen Bogenschützen,23 stiehlt der kleine Merkur während dessen Drohungen noch dazu den Köcher, so daß der delphische Gott lachen muß. Risit Apollo ist demnach gleichzeitig Echo und Beweis von iocoso [...] furto (V. 7f.). Zu Recht bemerkt Eduard Fraenkel, daß hier ein »Maximum an Inhalt auf ein Minimum an Raum« zusammengedrängt ist.24 Als Folge dessen konstatiert er, daß der Leser wegen dieser Kompaktheit die »enggeschlungene Periode entwirren« und die »Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge neu ordnen« muß.25 Hans Peter Syndikus vermutet, daß Horaz durch die »lange hinausgezögerte […] Auflösung die bedrängende Stimmung nachzeichnen«
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Zum Modus und Tempus von reddidisses vgl. Neuhausen (1993) 139f. Delbôve (1943) 42 faßt sie als »Le Volé Souriant« zusammen und klassifiziert dies als »beau titre de film«. 22 Römisch (1979) 40 spricht von »Staccato-Stil«. – Untersucht man zum Vergleich Anzahl und Weite der Hyperbata in den ersten beiden Strophen, so ergibt sich, daß dort nur jeweils ein Hyperbaton auftritt, wobei jeweils nur durch ein einzelnes Wort gesperrt wird (decorae / more palaestrae und iocoso / condere furto), daß aber fünf Adjektive direkt neben ihrem Bezugswort stehen. 23 Man denke an die Gnadenlosigkeit, die er gegenüber dem griechischen Heer vor Troja (Hom. Il. 1,43ff.) oder gegenüber den Kindern der Niobe zeigte (z.B. später in Ov. met. 6,215ff.). 24 Fraenkel (1957) 193. 25 Ebd. 193. 21
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wolle.26 Plausibler aber erscheint, daß die gewollt unübersichtliche Wortstellung die Rezipienten verwirren soll und daß sie eben durch ihre Verschlungenheit Merkurs Winkelzüge und seine verwirrenden Tricks gleichsam abbildet. Wie die Rezipienten den Überblick nicht ganz behalten können, so verlor auch Apollon die Übersicht, als ihm sein Köcher geraubt wurde.27 Wie Francis Cairns hervorhebt, finden sich in dieser Strophe Anklänge an juristische Formulierungen (per dolum amotas, V. 10); doch darin Anspielungen auf zeitgenössische »legal discussions of whether an impubes could commit furtum« zu sehen, geht wohl zu weit.28 Ungenannt bleibt ein Zusammenhang, der die zweite und dritte Strophe noch enger hätte verbinden können: Die Laute erfand Merkur (V. 6: curvaeque lyrae parentem) nach dem Rinderdiebstahl, und mit diesem Geschenk konnte er den bestohlenen Apollon versöhnen. Doch Horaz hat darauf verzichtet, diesen Kausalzusammenhang zu nennen; stattdessen hat er die musikalische Innovation in der zweiten Strophe getrennt von der Episode der dritten Strophe dargestellt. Eine ganz andere Szene, bei der Merkur eher Helfer als Hauptfigur ist, schildern die Verse 13-16, wobei durch quin et (V. 13) eine Steigerung signalisiert wird:29 Unter Merkurs Führung (duce te, V. 13) gelang es Priamos, dem König von Troja, alle Wachen im Lager der Griechen zu umgehen. Besonders gelungen ist dabei die Verwendung des Verbs fallere: An dieser Stelle kommt einerseits die Bedeutung »verborgen bleiben« zum Tragen, andererseits konnte Priamos aber auch seine Gegner täuschen,30 wie es gerade für Merkur, den Gott des listigen Truges, typisch ist. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens wird durch die polysyndetisch aufgezählten gefährlichen Stationen (Atridas [...] superbos [...] Thessalosque
26
Syndikus (2001) I, 127. Ähnlich Numberger (1972) 53, der mit H. Bengl im »absichtliche[n] Versteckspiel der Worte« in den Versen 9-12 den Inhalt reflektiert sieht. Schon Pasquali (1920) 74 charakterisiert die Strophe als »un po’ asmatico, che dipinge bene l’eccitamento«. Diese Strophe kann als Beleg dienen für eine allgemeine Bemerkung bei von Albrecht (2003) 266: »Das Wortmosaik horazischer Strophen zählt zum Verwickeltsten und Verfeinertsten, das je geschrieben worden ist«. – Ganz anderer Meinung ist Plessis (1924) 34: »La phrase est d’ailleurs un exemple de clarté dans la concision; on voit tout de suite le sens«, obwohl in den pseudacronischen Scholien zu V. 9 der Text der besseren Verständlichkeit halber in die prosaische Wortfolge umgesetzt ist. 28 So Cairns (1971a) 438f. – Darüber hinaus existiert eine solche Diskussion ja gewissermaßen schon im homerischen Hermeshymnus (zu diesem vgl. Kap. 8.2.1): Apollon und Hermes halten vor dem Richter Zeus Plädoyers für ihre Sache (V. 313ff.). Somit ist schon im homerischen Hymnus die subtile juristische Argumentation bis ins Bizarre ausgeweitet, weil ja eine der beiden Parteien ein Kleinkind ist, das sich selbst verteidigt. 29 Römisch (1979) 47 mißt der Partikel jedoch wohl zu viel Bedeutung zu: »unter Göttern ist offensichtlich leichter zu leben und eine Tat oder ein [sic!] Auftrag auszuführen als unter Menschen.« 30 Zum Bedeutungsspektrum von fallere vgl. ThLL s.v. 27
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ignis et iniqua Troiae / castra) illustriert, welche Priamos passieren mußte.31 Ein alter Mann, schwer mit Schätzen beladen (dives Priamus), inmitten seiner ärgsten Feinde und doch wohlbehütet durch Merkur! Der Zweck dieses Weges, nämlich mit Achill zusammenzukommen und um Hektors Leiche zu bitten, wird ausgespart.32 Beide Szenen sind im Hinblick auf ihre Stimmung sehr verschieden: In der Apollonstrophe herrscht das lustige Element vor, auch wenn der delphische Gott zwischenzeitlich dem Kleinkind droht. Schließlich endet die Strophe sogar mit Apollons Gelächter. Der Inhalt der Priamosstrophe hingegen ist im Mythos in einen traurigen Kontext eingebettet: Der greise Priamos muß sich zum Mörder und Schänder seines Sohnes begeben, muß dessen »männermordende« Hände küssen, um den geschundenen Leichnam seines Sohnes auslösen zu können. Schließlich sind beide so ergriffen, daß sie zusammen weinen (Ilias 24,468ff.). Dies führt Horaz hier zwar nicht aus, doch die genannte Szene evoziert auch die ausgesparten Bilder. Merkur gewinnt hier eine ganz andere, ernste Bedeutung. In der vierten Strophe ist Täuschung zulässig, ja geboten.33 Es handelt sich also um antithetisch zueinander gesetzte Bilder, die das breite Spektrum des merkurischen Wirkens anhand zweier Einzelepisoden aufzeigen. Auch die Personenkonstellationen sind recht verschieden (einmal Merkur als Antagonist Apollons, einmal nur im Ablativus absolutus als Helfer des Priamos genannt), so daß man eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten beider Episoden betonen wird.34 Folgende Funktionsbeschreibung beschließt die Ode:
20
tu pias laetis animas reponis sedibus virgaque levem coerces aurea turbam, superis deorum gratus et imis.
31 Zur Reihenfolge der Stationen bemerkt Maurach (2001) 275, Anm. 7: »Verspielt […] gegen den natürlichen Zeitablauf […] aber vielleicht eine Abfolge der äußeren Ranghöhen«. 32 Dies kann freilich dadurch erklärt werden, daß im Mythos Hermes Priamos verläßt, als letzterer an seinem Bestimmungsort ankommt (so zum Beispiel Hom. Il. 24,468f.). – Die hier ausgesparte Szene erscheint allerdings in epod. 17,13f.: postquam relictis moenibus rex procidit, / heu, pervicacis ad pedes Achillei. 33 Richtig bemerkt Delbôve (1943) 43: »Le dieu reprend sa dignité dans la 4me strophe.« Vgl. auch Römisch (1979) 49: »Bewahrung des Königs in der feindlichen Welt. Darin findet die Täuschung Grund und Rechtfertigung zugleich.« 34 Den Unterschied betont auch Collinge (1961) 52: »Priam’s mission neutralizing the frankly comic outwitting of Apollo«. Anders Syndikus (2001) I, 127, der hervorhebt, daß in beiden Beispielen etwas »finster Bedrängendes […] durch Hermes’ Eingreifen gelöst« werde, und der jeweils »äußerste Hilflosigkeit« erkennt. Entscheidend ist aber doch, daß sich Merkur in der ersten Szene aus einer selbstverschuldeten Situation befreien muß, sich in der zweiten aber als seinem Auftrag gewachsen erweist.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen Du geleitest fromme Seelen zu angenehmen Stätten und hältst mit der goldenen Rute die körperlos-leichte Schar zusammen, den Göttern des Himmels willkommen und denen der Unterwelt.
Nach den zwei in den Versen 9-16 geschilderten Episoden, die im Perfekt dargestellt worden sind (risit, V. 12; fefellit, V. 16), bildet eine präsentische Beschreibung einer dauernden Funktion (reponis, V. 17; coerces, V. 18) den Abschluß des Hymnus. Merkur wird in seiner Eigenschaft als ψυχοπομπός, als Seelengeleiter, gezeigt, der die Frommen an den ihnen gebührenden Ort, zu den Gefilden der Seligen, bringt.35 Ferner wird erzählt, wie er mit seiner virga aurea, womit sein κηρύκειον bzw. caduceus gemeint ist, die Schar der Schatten im Zaume hält.36 Eine lobende Apposition, welche die Beliebtheit Merkurs bei den verschiedenen Göttergruppen herausstellt und dadurch noch einmal an seine Mittler- und Botenfunktion erinnert (vgl. V. 5f.), läßt das Gedicht ausklingen. Als Verbindungsglied zwischen der vierten und der fünften Strophe wird man das Thema des Geleitens ansehen dürfen.37 Im weiteren Sinne könnte auch die Schutzfunktion Merkurs den Übergang herstellen: Wie er in der vierten Strophe als Beschützer einer Einzelperson auftritt, so nimmt er sich in der Abschlußstrophe der Toten an.38 35 Zur Ausdrucksweise laetis […] sedibus wird häufig auf Verg. Aen. 6,638f. verwiesen: devenere locos laetos […] sedesque beatas. 36 Ob es sich bei der levis turba um eine andere Personengruppe als die piae animae, nämlich die der Sünder, handelt, ist nicht ganz klar. So z.B. Pasquali (1920) 73: »Che egli accompagna anche i malvagi, viene soltanto accenato: […] il severo coercet mostra che nel secondo membro si parla piuttosto di malvagi che dei buoni.« Dafür spricht auch, daß die pseudacronischen Scholien das Adjektiv levem durch die Angabe »peccatricem« erläutern. Daß diese Gruppe nicht explizit genannt wird, erklärt Römisch (1979) 52 so: »[es] taucht jetzt das Bild des Friedens auf. Es wäre gestört, würde da auch der Ort der Buße genannt.« – Kein Unterschied wird offenbar in carm. 1,24,15ff. gemacht (num vanae redeat sanguis imagini / quam virga semel horrida […] nigro compulerit Mercurius gregi?), wo diese Frage im Zusammenhang mit dem Tod des Ehrenmannes Quintilius gestellt wird. 37 Nisbet/Hubbard (1970) 126: »transitions are also very sophisticated: […] the stealthy escort of Priam, who is followed by the escort of the dead«. Ähnlich Römisch (1979) 52: »man [= Numberger] hat angenommen, der Gedanke an den toten Hektor evoziere die Vorstellung des Seelengeleiters. […] Dabei bietet sich der Übergang der beiden Strophen hier geradezu offen dar: es ist Merkur als verläßlicher Geleiter.« – Drei raffinierte Ordnungsprinzipien des ganzen Gedichtes beschreibt Freis (1971) 182f: »1. […] the first episode occurs in the midst of day, the second in a night lit only by hostile fires, the last in the universal gloom of the underworld […] 2. The material is arranged chronologically […] 3. [The activities of Mercury] are ordered according to a standard division of the universe into three realms – heaven, earth, and the underworld«. 38 Dieser Aspekt des »Trostspenders« Merkur und dessen Konsequenzen für das menschliche Dasein werden stark betont von Römisch (1979) 56 (»So spiegelt die Ode nicht minder die Situation des Menschen als die Fähigkeiten des Gottes, die dieser Situation zu Hilfe kommen. [... Die Ode] wird in Wirklichkeit zu einer Spiegelung menschlicher Existenz«) und ebd. auf S. 57 (»Da offenbart sich ein Zug des Göttlichen, das hilft, die bestehende Welt zu gestalten und die
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Die Funktion der Mythologumena läßt sich innerhalb der imaginierten Gedichtsituation folgendermaßen beschreiben: Der Tradition der Hymnendichtung entsprechend, dient die Nennung von Eigenschaften und Leistungen eines Gottes dazu, seine Macht mit konkreten Beispielen zu belegen und ihn somit zu preisen.39 Neben diese aretalogische Art des Lobens kann auch ein Lob aufgrund genealogischer Exzellenz treten. Doch merkwürdigerweise nennt Horaz den Merkur »Enkel des Atlas« (nepos Atlantis, V. 1), obwohl er ihn auch »Sohn des Juppiter« hätte nennen können.40 Über die Frage, warum Horaz nicht den Namen des höchsten Gottes wählte,41 ist viel diskutiert worden. Folgende vier Möglichkeiten erscheinen jeweils einzeln oder auch in Kombination miteinander plausibel: Erstens könnte Horaz nach einer Variation gesucht haben, um Merkur nicht mit dem »gewöhnlichen« Verweis auf den Vater zu bezeichnen. Dadurch ergäbe sich eine gewisse Pointe, weil die Beziehung zu Juppiter für die Beschreibung der Funktion als Götterbote (magni Iovis et deorum / nuntium, V. 5f.) reserviert würde (s.o., S. 324). Zweitens könnte Horaz durch diese Genealogie darauf hinweisen, daß Merkur schon in zweiter Generation Kind eines Gottes ist: Sohn eines Olympiers, Enkel eines Titanen. Dadurch würde auch die vermittelnde Rolle Merkurs zwischen verschiedenen Göttergruppen unterstrichen. Drittens kann man zur Erläuterung eine Vergilstelle heranziehen, an der Atlas als Kitharalehrer genannt ist.42 Dadurch würde von Horaz implizit die musische Begabung Merkurs als Folge seiner Abkunft erklärt. Als Variante dieser dritten Möglichkeit ist derjenige Ansatz zu beurteilen, der die wissenschaftlichen, vor allem astronomischen Kenntnisse des Atlas hervorhebt, die dieser dann seinem Enkel vererbt habe.43 Denkbar wäre aber auch eine vierte Erklärung: In seiner bekannten Funktion als Himmelsträger stellt Atlas ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde dar. Merkur ist in der letzten Strophe superis deorum / gratus et imis; ferner ist er der Götterbote Iovis et deorum sowie Seelengeleiter und somit Bindeglied zwischen Himmel und Unterwelt: Dadurch übertrifft er seinen Großvater hinsichtlich des Nöte dieser Welt zu ertragen«); angedeutet schon von Fauth (1962) 17: »auch als Totengeleiter erhält Hermes keine einseitig finsteren Züge; es bleibt um ihn stets ein Schimmer des Tröstlichen und Liebenswürdigen.« Vergleichbar Maurach (2001) 277: »Gewissheit, daß ein freundliches Ineinander von Übermenschlichem und Menschlichem möglich und immer aufs neue erfahrbar ist. Diese Gewissheit nennt er Merkur«. – Düsternis ohne Trost sieht in der Strophe jedoch Pasquali (1920) 75: »l’ultima [stropha] anzi cupa, come aduggiata da un pensiero di morte.« 39 Zu den traditionellen Elementen von Hymnen vgl. z.B. Furley (1998) 788-791. 40 Als Sohn Maias wiederum wird Merkur in sat. 2,6,5 und carm. 1,2,42f. bezeichnet. 41 Vgl. Pasquali (1920) 64: »è trattata da Orazio in modo singolarissimo«. 42 Verg. Aen. 1,740f.: cithara crinitus Iopas / personat aurata, docuit quem (v.l.: quae) maximus Atlas. 43 So Putnam (1974) 215ff. mit Belegstellen.
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Umfanges der Funktionsbereiche. Vielleicht darf man diese Wendung aber auch nicht überinterpretieren: In Ovids Fasten wird Merkur ebenfalls einmal nepos Atlantis genannt, in den Metamorphosen wird er mehrfach mit dem Papponymikon Atlantiades bezeichnet, ohne daß dort eine tiefere Bedeutung der Bezeichnungen evident wäre.44 Jedenfalls ist für das genealogische Lob nicht die auf den ersten Blick eindrucksvollste Möglichkeit gewählt; die Abstammung von Atlas ist aber dennoch ruhmreich.45 Nachdem nun die Funktion der Mythologeme innerhalb des Gedichtes umrissen wurde, erhebt sich die Frage nach der Funktion des Hymnus in seiner Gesamtheit. Auffällig ist, daß die einzige sichtbare Verbindung zwischen Sprecher und Merkur die Verbindung Sänger – Besungener ist (te canam, V. 5). Eine implizite Verbindung zwischen dem Sprecher und Merkur kann man allerdings darin sehen, daß der Sprecher ein lyrisches Gedicht vorträgt, Merkur aber als lyrae parentem (V. 6) apostrophiert wird. Dieser Konnex wird jedoch dadurch gelockert, daß Merkur die Laute unmittelbar nach ihrer Erfindung Apollon geschenkt hat, so daß zu Recht vor allem jener als Patron der Dichter gilt.46 Eine andere Episode, die Merkur als Dichterpatron darstellt (die Unterweisung des Amphion), wird in carm. 3,11,1f. angedeutet; im vorliegenden Gedicht fehlt sie aber ebenso wie der Hinweis auf zwei musikalisch begabte Söhne des Merkur/Hermes, nämlich Pan und Daphnis. Angesichts dieses Befundes scheint Horaz die zweifellos wichtige musisch-dichterische Seite Merkurs in carm. 1,10 nicht besonders betont zu haben.47 Nirgends äußert der Sprecher einen Wunsch, ein Hilfegesuch oder Worte des Dankes an den Gott. Was also ist die Intention dieses Gedichtes?
44 Ov. fast. 5,663 [wohl mit Bezugnahme auf Horazens carm. 1,10; vgl. Bömer (1958) zur Stelle]; met. 1,682; 2,704.834; 4,368; 8,627, vgl. jeweils Bömer (1969ff.) zur Stelle. 45 Römisch (1979) 32 vermutet eine kontrastive Funktion: »Diese Angabe kann nicht der Identifikation dienen; denn die Wesenszüge des Merkur sind nicht die des Atlas. […] Fast könnte man meinen, Atlas habe seine Funktion hier als Kontrastfigur, als Prototyp des gewaltigen Riesen, von dem sich die ganz anderen Qualitäten seines Nachkommen Merkur abheben.« 46 Auch Horaz sieht vor allem in Apollon den Schutzpatron der Dichter; vgl. z.B. carm. 1,31,1f. (quid dedicatum poscit Apollinem / vates?), 4,2,9 (laurea donandus Apollinari), 4,6,27f. (Dauniae defende decus Camenae, / levis Agyieu), epist. 2,1,216f. (si munus Apolline dignum / vis complere libris, gemeint ist die mit dem palatinischen Apollon verknüpfte Bibliothek) und ars 406f. (ne forte pudori / sit tibi Musa lyrae sollers et cantor Apollo). 47 Im Übrigen wird Merkur von Ovid inventor curvae, furibus apte, fidis genannt, und zwar innerhalb eines »elegischen Lehrgedichtes« (fast. 5,104). Der Erfinder der Laute liegt also nicht nur dem Lyriker Horaz, sondern auch dem Elegiker Ovid am Herzen (vgl. allerdings oben Anm. 44).
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8.2 Mögliche Praetexte Durch einen Blick auf potentielle Praetexte und die ikonographische Tradition dürften die konkreten Gestaltungsentscheidungen, die Horaz bei der Abfassung seines Hymnus getroffen hat, deutlicher hervortreten, so daß man sich der Intention des Gedichtes vielleicht auf diesem Wege nähern kann. 8.2.1 Der homerische Hermeshymnus Einen wichtigen Referenztext könnte der homerische Hermeshymnus darstellen. Doch darf man wohl schon angesichts des unterschiedlichen Umfangs (carm. 1,10: 20 Verse; homerischer Hymnus: 580 Verse) zwischen der Ode und dem homerischen Hymnus auf Hermes höchstens gemeinsame stoffliche Einzelzüge, aber keine deckungsgleichen Passagen erwarten. Bei einem Vergleich beider Werke fällt auf, daß bei Horaz Formbestandteile, aber auch stoffliche Elemente des homerischen Hymnus fehlen: Direkte Personenreden machen im homerischen Hymnus fast die Hälfte des Gesamtumfanges aus, wohingegen sie bei Horaz gar nicht vorkommen; Reste einer Rede ließen sich lediglich in der dritten Strophe vermuten. Diesen Unterschied mag man mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Genera (hymnisch-epische Dichtung proömialen Charakters vs. lyrischer Hymnus) begründen. Doch in carm. 3,11 (auf den ersten Blick ein Hymnus an Merkur und die Laute) zeigt Horaz durch die lange Rede der Hypermestra, daß auch in lyrischen Hymnen direkte Reden sehr wohl realisierbar sind. Doch obwohl insbesondere die Lügenreden des »homerischen« Hermes dem Satiriker Horaz gefallen haben könnten, findet man auch von ihnen keinen Nachhall in carm. 1,10. Inhaltlich fehlen bei Horaz vor allem die im homerischen Hymnus beschriebene Opferaitiologie (V. 108ff.), die anstößigen Elemente wie die Blähungen des Hermeskindes (V. 295f.: οἰωνὸν προέηκεν ἀειρόμενος μετὰ χερσί, / τλήμονα γαστρὸς ἔριθον ἀτάσθαλον ἀγγελιώτην), der Diebstahl aus Gier (V. 64: κρειῶν ἐρατίζων) statt aus Spaß (iocoso furto) und die Scheltworte seiner Mutter (V. 155ff., besonders V. 160f.: μεγάλην σε πατὴρ ἐφύτευσε μέριμναν / θνητοῖς ἀνθρώποισι καὶ ἀθανάτοισι θεοῖσι), ferner die Verhandlung der streitenden Parteien vor Zeus (V. 313ff.) sowie weitere musikalische Leistungen des Hermes, insbesondere sein kosmogonisch-mythischer Gesang (V. 427ff.) und die Erfindung der Syrinx (V. 511f.).48
48
Dies ist auch zu bedenken gegen die von Syndikus (2001) I, 126 vorgetragene Ansicht, Merkur sei in carm. 1,10 von Horaz vor allem als musische Gottheit dargestellt.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Auffällig ist auch, daß bei Horaz ein ganz anderes zeitliches Gefüge als im homerischen Hymnus vorliegt:49 Während bei Horaz Merkur den Menschen gegenübertritt, als diese noch nicht lange erschaffen sind (V. 2: hominum recentum) und noch keine zivilisierte Lebensweise kennen (V. 2: feros cultus), begegnen im homerischen Hymnus Hermes und Apollon unabhängig voneinander einem alten Mann, der einen Weinberg kultiviert: τὸν δὲ γέρων ἐνόησε δέμων ἀνθοῦσαν ἀλωὴν (V. 87). Das hohe Alter des Mannes wird in Apollons Anrede sogar besonders hervorgehoben: γεραιὲ παλαιγενὲς (V. 199).50 Von einem engen Anschluß des Horaz an den homerischen Hymnus kann demnach keine Rede sein.51 8.2.2 Der Hermeshymnus des Alkaios Ein Rekurs des Horaz auf den Hermeshymnus des Alkaios52 wird durch die Verwendung desselben Versmaßes (der sapphischen Strophe) und durch einen expliziten Scholienhinweis nahegelegt. Denn über dieses Gedicht des Horaz sagt Porphyrio zu V. 1, es sei ein Hymnus auf Merkur nach dem Lyriker Alkaios (»hymnus est in Mercurium, ab Alcaeo lyrico poeta«), und zur dritten Strophe bemerkt er, daß diese Erzählung nach Alkaios gebildet sei (»fabula haec autem ab Alcaeo ficta«, denkbar wäre auch die Übersetzung: »[...] von Alkaios gedichtet«). Ein Vergleich beider Gedichte wird allerdings dadurch erschwert, daß von dem Alkaioshymnus lediglich die erste Strophe erhalten ist. Bevor ich auf die Rekonstruktionsversuche des Restes eingehe, soll die erste Strophe vorgestellt und hinsichtlich ihres Verhältnisses zu carm. 1,10 untersucht werden. Sie lautet folgendermaßen (fr. 308): Χαῖρε Κυλλάνας ὀ μέδεις, σὲ γάρ μοι θῦμος ὔμνην, τὸν κορύφαισ’ ἐν αὔταις Μαῖα γέννατο Κρονίδαι μίγεισα παμβασίληϊ Sei gegrüßt, du, der du über Kyllene gebietest; dich nämlich zu rühmen habe ich Lust, den eben auf den Gipfeln Maia gebar, nachdem sie sich mit dem Kronossohn verbunden hatte, dem Allkönig 49
Vgl. hierzu auch die knappe Bemerkung bei Pasquali (1920) 66. Vgl. jedoch Maurach (2001) 274: Merkur habe in carm. 1,10 den (wieder neu geschaffenen) Menschen nach der Sintflut Kultur geschenkt. 51 Richtig spricht Collinge (1961) 7 von der »force of [...] terseness« bei Horaz; deutlich übertrieben aber ist seine Behauptung ebd., die Verse 9-12 gäben »practically the entire plot of the fourth Homeric Hymn« wieder. 52 Vgl. zu diesem z.B. Eisenberger (1956) 21-26 und Tsomis (2001) 81-83. Vergleichende Bemerkungen zu beiden Hymnen findet man z.B. bei Cairns (1983) 29-35. 50
8. carmen 1,10
333
Die Unterschiede zwischen Alkaios und Horaz treten, auch wenn man die oben (im I. Teil, Kap. 6) gewonnenen Maßstäbe anlegt, deutlich hervor: Alkaios verzichtet auf eine Namensnennung des gepriesenen Gottes und umschreibt ihn mit dem Hinweis auf seinen Machtbezirk. Desweiteren gibt er nach dem anfänglichen Chaire-Gruß, der in den homerischen Hymnen oft am Ende steht,53 die Eltern und die Geburtsumstände des Hermes an, indem er Maia und Zeus mit seinem Patronymikon und dem Ehrentitel »Allkönig« namhaft macht. Auch erfährt man in der ersten Strophe des Alkaios nichts von Kulturleistungen, die Hermes/Merkur den Menschen geschenkt hätte. Eine einzige Parallele könnte man zwischen der funktionalen Ankündigung te canam (V. 5) und dem Kolon σὲ γάρ μοι / θῦμος ὔμνην (V.1f.) sehen. Wie aber ging der Hymnus des Alkaios weiter? Pausanias, der Perieget des 2. Jh.s n.Chr., berichtet, daß auch Alkaios vom Rinderdiebstahl des Hermes sprach,54 was noch durch Porphyrios Verweis (zur dritten Strophe) auf den Hermeshymnus dieses Dichters unterstützt wird. Man nimmt aber im Allgemeinen an, daß Alkaios darüber hinaus keine weiteren Episoden aus dem Leben des Götterboten schilderte, also kein so facettenreiches Bild wie Horaz zeichnete.55 Horaz hat seinen Hymnus folglich nicht etwa dem des Alkaios nachgeformt; carm. 1,10 ist weder eine Übersetzung noch eine Nachdichtung des alkäischen Hermeshymnus. Während Porphyrios Angabe
53
Vgl. z.B. Hom. h. 3,545f.; 4,579f.; 5,292f. Paus. 7,20,4: βουσὶ γὰρ χαίρειν μάλιστα Ἀπόλλωνα Ἀλκαῖός τε ἐδήλωσεν ἐν ὕμνωι τῶι ἐς Ἑρμῆν, γράψας ὡς ὁ Ἑρμῆς βοῦς ὑφέλοιτο τοῦ Ἀπόλλωνος κτλ. – Oft wird auch auf Philostrat (geb. ca. 170 n.Chr.) verwiesen, einen Verfasser literarischer Bildbeschreibungen. In imag. 1,26 erzählt er zwar die Geburt des Hermes sowie den Rinder- und den Waffendiebstahl; Alkaios wird aber dort (im Gegensatz zu Homer: 1,26,1) nicht als Quelle genannt. Zur Frage der Abhängigkeit Philostrats von Alkaios vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff (1913) 311, Anm. 1 und Syndikus (2001) I, 124, Anm. 5. 55 Tsomis (2001) 83: »Alkaios hat allem Anschein nach keine weiteren Taten des Hermes erzählt.« Syndikus (2001) I, 124 belegt unter Verweis auf den Papyrus Oxy. 2734 fr. 1 (einen Kurzkommentar zu den drei ersten Gedichten des ersten Buches der alexandrinischen Alkaiosausgabe), daß der Hymnus des Alkaios keine weiteren Erzählungen beinhaltete. – Cairns (1983) 29ff. legt unter Verweis auf den oben genannten Papyrus und auf ein Scholion zu Ilias 15,256 (»ἀπειλοῦντος δὲ τοῦ Ἀπόλλωνος ἔκλεψεν αὐτοῦ καὶ τὰ ἐπὶ τῶν ὤμων τόξα. μειδιάσας δὲ ὁ θεὸς ἔδωκεν αὐτῷ τὴν μαντικὴν ῥάβδον, ἀφ’ ἧς καὶ χρυσόρραπις ὁ Ἑρμῆς προσηγορεύθη«) wohl schlüssig dar, daß das Detail des Waffendiebstahls auch bei Alkaios vorhanden war und von dort von Horaz übernommen wurde (allerdings als Diebstahl der Köchers: viduus pharetra, V. 11). Im homerischen Hymnus ist dagegen nur die Möglichkeit eines Diebstahls angedeutet [V. 514f.: δείδια [...] μή μοι ἀνακλέψῃς κίθαριν καὶ καμπύλα τόξα, hierzu vgl. Pasquali (1920) 71]. Zu diesen Problemen vgl. auch Page (1955) 252-258. 54
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
zur dritten Strophe anscheinend korrekt ist,56 trifft sein Urteil über den Hymnus insgesamt nicht zu.57 8.2.3 Weitere Überlegungen zu traditionellen Elementen Will man die Frage nach der Tradition entnommenen Elementen oder Aspekten des Gedichtes formal beantworten, so muß man feststellen, daß sich traditionelle Hymnenelemente wie die invocatio und die aretalogia (pars epica; sanctio) zwar finden, aber nicht voll ausgebaut sind: Nicht genannt werden zum Beispiel Beinamen, die vollständige Genealogie oder beliebte Aufenthalts- sowie Kultorte des Gottes.58 Andere typische Elemente wiederum fehlen gänzlich, wie zum Beispiel Epiphanieschilderungen, das Gebet (precatio) oder der Verweis auf frühere Hilfeleistungen von Seiten des Gottes (Hypomnese). Es handelt sich also offenbar um einen Hymnus, der ohne einen erkennbaren Anlaß verfaßt wurde, weder als Kultlied, noch um für den Sprecher bzw. Horaz selbst etwas zu erbitten.59 Wenn für diese Ode aber deswegen der Terminus »objektiver Hymnus« verwendet wird, scheinen doch Zweifel angebracht zu sein: Richard Wünsch etwa definiert in seinem RE-Artikel »Hymnos« den objektiven Hymnus folgendermaßen: Mitunter fehlen auch derartige Bitten [um Hilfe o.ä.]: gesteigerter Religiosität war es Bedürfnis, ihrer innigen Verehrung für die Gottheit durch einen Preis ohne egoistischen Nebenzweck Ausdruck zu geben [...] So entstehen Lieder, die zwar aus dem persönlichen Verhältnis zu Gott hervorgegangen sind, aber dies Verhältnis nicht ausnützen, es entsteht der objektive H[ymnos].60
Zwar weist die Ode 1,10 keine Bitten auf; doch daß sie Ausdruck gesteigerter Religiosität sei und somit die Bezeichnung »objektiver Hymnus« ver56 Skeptisch äußert sich allerdings Pasquali (1920) 64: »Sebbene Pausania ne informi che Alceo aveva anche cantato del furto dei buoi, da questa coincidenza di Orazio con esso non possiamo trarre conclusioni, perchè quest’ avventura apparteneva al nucleo fondamentale del racconto dall’ inno omerico in poi.« 57 Zur möglichen Entstehung dieser »Quellenangabe« durch ein Mißverständnis vgl. Syndikus (2001) I, 124. 58 Dies hebt auch Buchholz (1912) 25 hervor: »pro sede, quam poeta Romanus omnino non commemorat«. – Zum knappen Umfang der pars epica vgl. Buchholz (1912) 26 (»poeta, dum laudes dei factis eius celebrat, haec facta non copiose enarravit, sed ea leviter significavit«), Fauth (1962) 16 (»Eine Verselbständigung des Bildes zur mythischen Erzählung findet demnach überhaupt nicht statt«) und Nisbet/Hubbard (1970) 127 (»The third and the fourth stanzas tell stories in however a clipped way; these are vestiges of the so-called ›pars epica‹«). 59 Vgl. hingegen die offene Bitte an Apollon um Gelingen des Säkularfeierliedes (Dauniae defende decus Camenae, / levis Agyieu) in carm. 4,6,27f., wo am Ende der Ode Horazens Name direkt genannt wird (vatis Horati, V. 44), und das Gebet an Apollon und Diana in carm. saec. 3f. (date quae precamur / tempore sacro). 60 Wünsch (1914) 144f.
8. carmen 1,10
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diene, könnte höchstens das Ergebnis, keinesfalls aber der Ausgangspunkt der Interpretation sein. Stilistisch bewegt sich Horaz durchaus innerhalb der Konventionen, indem er Prädikationen, Relativsätze, Appositionen und anaphorischen Du-Stil verwendet. Auch für funktionale Ausdrücke wie te canam (auch »das Programm« des Hymnus genannt) lassen sich griechische Parallelen anführen.61 Stofflich greift Horaz, wie dargelegt wurde, partiell auf den homerischen Hymnus und auf Alkaios zurück.62 Doch auch Szenen und Elemente aus den homerischen Epen haben hier Eingang gefunden: Die Funktion als Götterbote (magni Iovis et deorum / nuntium, V. 5f.) läßt sich zum Beispiel aus Odyssee 1,37f. belegen, wo Zeus dem Thyestessohn Aigisthos durch Hermes (Ἑρμείαν πέμψαντες) eine Warnung hatte zukommen lassen;63 die in der vierten Strophe geschilderte Szene stammt stofflich aus den Ἕκτορος λύτρα (Ilias 24,329-467). Die in der letzten Strophe dargestellte Funktion des Merkur als ψυχοπομπός ist aus Odyssee 24,1ff. bekannt. Überdies findet die Bezeichnung superis deorum / gratus et imis (V. 19f.) einen möglichen Praetext in Aischylos’ Choephoren (V. 165: κήρυξ μέγιστε τῶν ἄνω τε καὶ κάτω). Schließlich lassen sich für den Hermes Logios ebenso wie für den Hermes Enagonios Vorbilder finden.64 Stofflich bewegt sich Horaz also im Rahmen der Tradition, wobei er auch einzelne Episoden wie z.B. die Tötung des Argos65 ausläßt. Die italische Seite des Merkur als Gott des Handels und Gewinns, wie er zum Beispiel in Plautus’ Amphitruo dargestellt ist, übergeht er sogar komplett,66 so daß dieser gerade für den itali61 Eine ganze Reihe solcher Entsprechungen listet Norden (1996) 153 auf: ἀείσομαι / ἄρχομ’ ἀείδειν (homerische und orphische Hymnen), ἐγὼν δ’ ἀείσομαι (Alkman), ἐθέλω γεγωνεῖν (Pindar). 62 Sophokles’ Satyrspiel Ichneutai, bei dem der Chor der Satyrn Apollon bei der Suche nach seinen Rindern hilft, ziehe ich nicht zu einem näheren Vergleich heran, weil dessen Inhalt nur bis zur Entdeckung des Diebes Hermes bezeugt ist; der Rest der Handlung ist für uns verloren. Zu diesem Drama vgl. Scheurer/Bielfeldt (1990) 280-312, die auch andere, weniger prominente Belege für diesen Mythos anführen. 63 In der Ilias hingegen wird die Botenfunktion meist von der ποδήνεμος ὠκέα Ἶρις (so in 2,786) ausgeübt. 64 Logios: z.B. Hes. erg. 77ff.; Enagonios: z.B. Pind. O. 6,79; P. 2,10; N. 10,53. Ferner ziehe man die in Anm. 10 genannten Materialsammlungen heran. 65 Vgl. zur Traditionalität dieses Mythologems etwa Bömer (1969ff.) zu Ov. met. 1,670. 66 Plaut. Amph. 1ff., wo Merkur sagt: ut vos in vostris voltis mercimoniis / emundis vendundisque me laetum lucris / adficere atque adiuvare in rebus omnibus etc. Zum italischen Merkur und seinem Kult vgl. z.B. auch Bömer (1958) 331f. – Wenn Putnam (1974) 215 behauptet, bereits die Nennung des Gottes mit dem Namen »Merkur« evoziere die Vorstellung des »god of barter and exchange«, und der weitere Verlauf des Gedichtes zeige dies, so kann diese Ansicht nur aufrechterhalten werden, wenn man Tausch (»barter«) im allgemeinsten, überhaupt nicht kommerziellen Sinne auffaßt. Vgl. Williams (1968) 147: »There is not the slightest hint of the characteristic Roman role of Mercury as the patron of business.« – Aber auch in der griechischen Literatur galt Hermes als Segenspender: In Hom. Od. 8,335, Hom. h. 18,12 und 29,8 wird er als δώτορ ἑάων (bzw. ἐάων) apostrophiert.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
schen Kult entscheidende Aspekt des Merkur in der Ode unerwähnt bleibt.67 Horaz schafft also keine neuen Mythologeme, sondern verfährt bei der Gestaltung seines Merkurhymnus im Rahmen einer von griechischem Geist geprägten Tradition eklektizistisch.
8.3 Zur Intention des Hymnus Die Eigenart und Beschaffenheit dieses Hymnus sowie die Herkunft seiner Elemente sind offenbar leichter zu klären als seine Intention. Die Aussichten, dieses Problem zu lösen, beurteilt Eduard Fraenkel so: Einige Forscher haben die Frage gestellt, was denn eigentlich Horaz zu der Merkurode bewogen habe. Ein solcher Versuch, hinter das Gedicht zu sehen und in die Motive des Dichters Einblick zu erhalten, ist oft vergeblich und immer gewagt, denn auf Fragen dieser Art läßt sich keine eindeutige Antwort geben. Doch in diesem Fall mag es seinen Nutzen haben, die Herausforderung anzunehmen […].68
Die bestehenden Deutungsversuche sind zahllos; sie beinhalten die Betrachtung des Gedichtes als bloße Etüde (Wickham, Plessis, Quinn)69 oder als Projektion/Symbol von Horazens eigenem Wesen (Campbell, Neumeister, Pöschl und Syndikus),70 als rein literarisches Gebilde (Wilamowitz-Moel67
Man denke nur daran, daß das ikonographische Erkennungszeichen Merkurs das marsupium, der Geldbeutel, war [vgl. z.B. Simon (1990) 158f.]. Vgl. auch Wissowa (1912) 305 (»von den verschiedenen im Wesen des griechischen Hermes vereinigten Seiten [kam] für den römischen Kult nur seine Eigenschaft als Handelsgott in Betracht«) und Latte (1960) 163 (»Es ist nur eine Seite des griechischen Hermes [nämlich die des Handelspatrons], die in ihm [= Merkur] zur Geltung kommt und das Bild des Gottes [in Rom] prägt«). 68 Fraenkel (1957) 193. 69 Wickham (1912) 28 sieht »a study« in dieser Ode, Plessis (1924) 33 vermutet darin »plus probablement [un] simple exercice poétique«, und auch Quinn (1985) 142 spricht von einer »sophisticated exercise in hymn form« sowie von einem »fine example of elegantly controlled feeling and the exploitation of traditional form«. 70 Campbell (1924) 220: »He felt himself [...] to be a Mercurialis vir, and in Mercury he has here drawn for us a being after his own heart«; Neumeister (1976) 194: »[Horaz empfand] diesen Gott als verwandtes Wesen und ergriff ihn als ein glückliches Symbol eigener Art. Der Gott vereinigt in sich eine Reihe von Eigenschaften und Funktionen, welche auch der Dichter besitzt oder für sich beansprucht«. Pöschl (1991) 323 mit Anm. 65 schließt sich Neumeister ausdrücklich an: »In den Oden an Merkur und an Dionysos ist so ein gleiches Verständnis des Göttlichen wirksam, das stets auf das Individuum des Dichters zurückweist und fast als seine Extrapolation erscheint«; fast gleich ders. (1997) 292. Miller (1991) 383 im Anschluß an Kenneth J. Reckford: »[He] perceived this god as a related being and grasped him as a felicitous symbol of his own kind.« Syndikus (2001) I, 128: »In unserem Gedicht ist also viel von Horazens Wesensart in die mythische Hermesgestalt hineinprojiziert.« Etwas anders West (1995) 49: »a god whom he loves, a god who is the eternal form of things he enjoys and things he accepts.« Auch Binder (2003) 62 spricht von einer »Liebeserklärung« an den »Lieblingsgott des Horaz«, und nach Oksala (1997) 287 ist Horaz »particolarmente affezionato a Mercurio«. – Maurach (2001) 277 bemerkt zwar:
8. carmen 1,10
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lendorff, Williams, Nisbet/Hubbard, Syndikus, Griffin),71 als Nachhall eines vergangenen, aber aufgrund seiner Tiefe und Schönheit immer noch anziehenden Glaubens (Fraenkel, Fauth)72 oder eben doch als Ausdruck einer echten, tiefen Religiosität des historischen Horaz (u.a. Hommel, Kiessling/Heinze, Oppermann).73 Welche Aussagen aber lassen sich aufgrund der bisherigen Beobachtungen über den Text treffen?74
»gerade dieser Gott war ihm besonders deshalb nahe, weil auch er, der Dichter, zwischen Himmel und Erde wirkt«; ders. sieht aber ebd. auf Seite 278 die Ode von echter Ehrfurcht geprägt. Einer symbolistischen Deutung wirft er ebd. auf Seite 276 vor: »Somit wäre der große alte Gott dann restlos subjektiviert und zur Chiffre degradiert: Meisterleistung moderner Selbstüberhebung.« 71 Wilamowitz-Moellendorff (1913) 311: »[Horaz] hatte keine Veranlassung einen Hymnus auf einen mythischen Gott zu machen und hätte es [ohne das Vorbild des Alkaios] auch unterlassen.« Williams (1968) 147: »the motive of composition was poetic not religious, and […] the form was used as a traditional framework, supplying at the same time the excuse and the inspiration for the piece.« Nisbet/Hubbard (1970) 127: »Horace’s ode must be regarded primarily as literary imitation«. Syndikus (2001) I, 129: »Horazens Götterhymnen sind literarische Gebilde; wie die Römer ihre Wände mit den Göttergestalten des griechischen Mythos schmückten und sich so mit den Gebilden einer höheren Welt umgaben, gibt Horaz in seinen Gedichten der Schönheit griechischer Göttermythen, den wenn auch nicht religiösen, so doch humanen Werten ihres Mythos neues Leben.« Vgl. aber auch die vorherige Anm. Griffin (2007) 182f. (in generellerem Kontext): »Religious references and religious colouring, too, can function for Horace as a special kind of literary allusion, helping to elevate his work, to enrich it with depth of literary background, and to make it impossible for the reader to press for the plain truth of facts and events.« 72 Fraenkel (1957) 196f.: »Ihn beflügelte nicht seine eigene religiöse Überzeugung […] sondern Überzeugungen einer fernen Vergangenheit, geadelt und unvergänglich geworden in Werken der Poesie und der bildenden Kunst […] Äußerungen eines Glaubens, der einstmals aus den Herzen der Menschen emporgestiegen war und der jetzt, in einer veränderten Welt, im Herzen des Dichters seinen Widerhall fand. [... Horaz wollte] Schöpfungen einer vergangenen Zeit im Bereich der Dichtung zu neuem Leben zurückkehren […] lassen.« Fauth (1962) 22: »mehr als etwa nur eine poetische Studie mit rein artistischem Effekt [...] Ein weiteres persönliches Motiv lag jedoch für ihn [...] in dem eigenartigen Reiz vertrauter Nähe und schwebender Unfaßbarkeit, den der alte Mythos mit seinen schönen und anrührenden Bildern der Gestalt [des Hermes/Merkur] für alle Zeiten verliehen hat.« 73 Hommel (1950) 36 glaubt, carm. 1,10 sei deshalb dem Merkur gewidmet, weil dieser der besondere Schutzpatron des Horaz gewesen sei. Kiessling/Heinze (1955) 52: »Jeder ausdrücklichen persönlichen Beziehung […] entbehrend, ist das Gedicht doch nicht bloß poetische Stilübung. [… Wir sollen die] Hoffnung des Dichters heraushören, der Gott werde auch seine pia anima dereinst zu den sedes laetae geleiten«; Borzsák (1995) 12 schließt sich ihnen en passant an. Auch Oppermann (1956) 61 behauptet, Horaz habe »seine tiefste Welt- und Lebensauffassung [...] in Merkur religiös erfahren.« – Scharfe Kritik speziell an Kiessling/Heinze übt Fraenkel (1957) 196, der in dieser Deutung eine interpolatio Christiana sieht. Harsch auch West (1995) 49: »it would be foolish to read it as a statement of simple faith.« 74 In den Bereich der Spekulation müssen wohl die Ausführungen von West (1995) verwiesen werden: Dieser beruft sich zwar auf Eduard Fraenkel, formuliert aber im Zusammenhang mit carm. 1,10 zu den divergierenden Aussagen des Horaz über Philosophie und Religion auf S. 49: »Accordingly these different approaches may be seen as the musings of a poet exploring the problems of existence in different ways at different times. Perhaps Horace shares with many artists the gift of total, temporary belief.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
–
Der Text stellt nicht eine bloße Übersetzung eines bereits vorliegenden Hymnus dar. Doch alle auftretenden Elemente des Hermes/Merkurmythos waren bereits vor Horaz bekannt.
–
Der Hymnus bemüht sich, ein vielschichtiges Bild von den Leistungen und Vorzügen (ἔργα und ἀρεταί) des Merkur zu geben; dessen italische Seite als lucri repertor/conservator bleibt dabei aber ungenannt, obwohl sie für den zeitgenössischen Kult entscheidend ist.75
–
Diese Aretalogie läuft – gegen die Tradition der Gattung »Hymnus« – nicht auf eine Bitte an den Gott hinaus; eine persönliche Verbindung fehlt ebenso wie ein individueller Wunsch.76
Nach diesen Feststellungen gilt es nun, einige der in der Forschung diskutierten Interpretationsansätze einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. 8.3.1 Merkur als persönlicher Schutzgott des Horaz? Wie bei dem Überblick über die Ode ersichtlich wurde, enthält sie keinen Ausdruck eines persönlichen Wunsches oder einer Bitte des Sprechers. Merkur hat zwar offenkundig Seiten, die ihn als Förderer und Helfer der Menschen insgesamt erscheinen lassen: Er hat sie zivilisatorisch verfeinert, hat ihnen (indirekt) die Lyra und die palaestra geschenkt, hat einzelnen mythischen Personen geholfen, und er ist derjenige, der die Seelen im Jenseits geleitet. Daß er in einer dieser Funktionen aber dem historischen Horaz zur Seite stünde oder ihm besonders am Herzen läge, wird in der Ode nirgends
75 Insofern verwundert es, wenn Kiessling/Heinze (1955) 53 von »Vollständigkeit, mit der H. die einzelnen τόποι berührt« sprechen. Fauth (1962) 17 hingegen konstatiert: »[Es handelt sich um eine griechische Göttergestalt,] an der der römische Mercurius so gut wie gar keinen Anteil hat«; ders. lobt jedoch ebd. auf S. 21, »wie vollständig der [...] Grundcharakter des Gottes in die wenigen Zeilen des kleinen Liedes eingegangen ist.« – Zum Thema »Topik« muß auch erwähnt werden, daß hinsichtlich des Hymnenaufbaus und seiner Elemente z.B. Kiessling/Heinze (1955) 53 auf den Rhetor Alexander (rhet. II 558ff. Spengel) verweisen, der eine Anleitung zur Abfassung eines ἔπαινος θεῶν bietet. Tatsächlich gibt es aber nur wenige Berührungspunkte zwischen der wirklichen Form der Ode und den von Alexander erteilten Ratschlägen; vieles findet sich bei Horaz gar nicht. – An ein Handbuch anderer Art denkt Wilamowitz-Moellendorff (1913) 311: »das schmeckt nach dem stoischen Compendium«. Fraenkel (1957) 193 bemerkt jedoch: »Es ist nicht schwierig, die Absichten des Dichters zu erahnen, ohne daß wir dabei zu einem hellenistischen Handbuch der Theologie oder, wie es andere Gelehrte getan haben, zu den üblichen Anweisungen eines rhetorischen Lehrbuchs greifen müßten.« 76 Vgl. allerdings die Einschränkung am Ende von Kap. 8.1, S. 330. – Nicht ganz überzeugend erscheint die Bemerkung bei Nisbet/Hubbard (1970) 133: Horaz berichte, was Merkur nach verbreiteter Meinung tue. Damit erinnere er an ein traditionelles Gebetsmuster, welches er selbst aber »as a rationalist and a sceptic« nicht habe anwenden können.
8. carmen 1,10
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ausgedrückt oder auch nur angedeutet.77 Will man dennoch die These eines solchen Patronatsverhältnisses vertreten, muß man – falls man dies für methodisch zulässig hält – andere Stellen heranziehen, die außerhalb des Gedichtes liegen. Erst wenn diese Stellen aussagekräftig genug wären, könnte man eventuell vor ihrem Hintergrund eine Äußerung über die Ode 1,10 wagen. Kiessling/Heinze führen dazu folgende Stellen auf: 1)
sat. 2,6,13ff.
hac prece te oro: pingue pecus domino facias et cetera praeter ingenium utque soles, custos mihi maximus adsis.
15
2)
carm. 2,7,13f. sed me per hostis Mercurius celer denso paventem sustulit aëre
3)
carm. 2,17,27ff. me truncus illapsus cerebro sustulerat, nisi Faunus ictum dextra levasset, Mercurialium custos virorum.
30
Betrachtet man diese Stellen summarisch, so kann man Helmut Krassers Theophiliethese teilen: Horaz (oder vorsichtiger formuliert: der Sprecher) stellt sich als von verschiedenen Göttern behütet dar.78 Von dieser Feststellung ist es aber ein weiter Weg bis zum Erweis der These, der historische Horaz selbst habe in Merkur seinen eigenen, persönlichen Schutzgott gesehen. Die angeführten Stellen sollen selbst für sich sprechen! Zu 1): Schon in den Versen 3f. wird konstatiert, daß mehrere Götter es finanziell gut mit dem Sprecher gemeint haben (auctius atque / di melius fecere). Speziell an Merkur erging in den Versen 4f. der in feierlichem Gebetston gehaltene – man beachte die archaisierende Verbform faxis – Wunsch, daß der momentane Besitz dauerndes Eigentum des Sprechers werden möge (nil amplius oro, / Maia nate, nisi ut propria haec mihi munera faxis). Das oben angeführte Abschlußgebet (V. 13ff.) mit seinem lustig formulierten, aber durchaus materiellen Wunsch79 zeigt, wie Merkurs Rolle 77
Vgl. auch Fraenkel (1957) 194: »[Es] findet sich in dem Gedicht nicht die leiseste Andeutung einer besonderen Verbundenheit des Dichters mit dem Gotte.« Wilkinson (1968) 28: »[The poem] tells us nothing about his own beliefs«. – Vgl. allerdings die Einschränkung am Ende von Kap. 8.1, S. 330. 78 Krasser (1995) passim, allerdings ohne direkten Bezug auf carm. 1,10. – Vgl. auch Nisbet/Hubbard (1970) 128: »it is at least possible that Horace pretended an allegiance to the god of unassuming poetry, whimsical trickery, and gentle charm who helped his lucky devotees to fall on their feet.« 79 Inwiefern mit diesen Worten auch an zentrale Aussagen der kallimacheischen Poetologie angeknüpft wird, ist im I. Teil, Kap. 5.7 dargelegt worden.
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als custos verstanden werden sollte: Es ist vor allem die Rolle des lucri conservator, des Bewahrers von Wohlstand.80 Daß man gegen diese Deutung mit Blick auf utque soles einwenden kann, Horaz habe sich nach dem Bürgerkrieg als Schreiber verdingen müssen und habe doch gerade seinen Wohlstand verloren, ist richtig. Zu bedenken ist aber auch, daß ein traditionelles Formelement von Gebeten – die Hypomnese – gerade darin besteht, die Gottheit an bereits von ihr geleistete Dienste zu erinnern. Zu 2) sei vor allem auf die Behandlung dieser Ode im II. Teil, Kap. 4 verwiesen. Hier sei nur soviel gesagt: Der bildreiche Kontext, die deutliche Bezugnahme auf Praetexte und die Gesamtanlage der Ode machen es unmöglich, den Verweis auf Merkur im buchstäblichen Sinne ernstzunehmen. Überblickt man zudem das gesamte horazische Œuvre, so sieht man, daß die Rettung aus Philippi an anderen Stellen teils anderen Göttern zugeschrieben wird, teils ganz ohne Verweis auf eine göttliche Intervention berichtet wird. Ferner wird in carm. 2,7 eine Entrückungsszene imaginiert, während carm. 1,10 eine Geleitszene bietet. Also verwirklicht sich nicht etwa in carm. 2,7 das an Horaz, was dieser in carm. 1,10 in mythischem Kontext schildert. Die Ode 2,7 kann sicher nicht als Argument dafür angeführt werden, daß der historische Horaz gegenüber dem Gott Merkur besondere Zuneigung oder Dankbarkeit empfunden hätte. Zu 3): Das sogenannte Baumsturzerlebnis, von dem Horaz hier Maecenas erzählt, ist ein öfter wiederkehrendes Motiv horazischer Dichtung. Die daran beteiligten Götter aber wechseln von Stelle zu Stelle.81 Daß sich der Sprecher als ein Merkursmann bezeichnet, der unter Faunus’ Schutz stehe, wurde teils als Hinweis auf besondere Fürsorge von Seiten Merkurs, teils als Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Art Kultgemeinschaft, dem 80 Vgl. z.B. carm. Lat. epigr. 1528A (lucri repertor atque sermonis dator etc.). Fraenkel (1957) 195 ist überzeugt: »die custodia bezieht sich hier eindeutig auf die Erhaltung des Besitzes«. Vgl. ferner Voit (1982) 480: »So natürlich es also ist, daß Horaz in dieser besonderen Situation seines Lebens Merkur um sein Wächteramt bittet, so wenig darf man daraus Verallgemeinerungen ziehen: bezeichnender Weise fehlt diese Seite des Gottes als lucri repertor gerade unter den virtutes des Gottes, die in dem Hymnus in Mercurium angeführt werden.« – Zu polemisch Braccesi (1997) 602: »Dato l’insistito accenno al dono di beni materiali, dobbiamo inoltre pensare che Mercurio gli abbia dato anche i numeri per vincere al lotto? Sarebbe proprio fare un’offesa all’intelligenza di Orazio.« – Bedenkenswert ist aber eine Bemerkung bei Miller (1991) 385f.: »it should be noted that Mercury, as the inventor of the lyre and writing, was also responsible for Horace’s merces […] in the form of the Sabine farm.« 81 In carm. 2,13, das explizit poetologische Themen behandelt, wird der gefährliche Baum ausführlich apostrophiert; göttliche Mächte nennt der Sprecher im Zusammenhang mit dem »Beinahe-Unfall« an dieser Stelle jedoch nicht. In carm. 3,4,25ff. wird die Verbindung zu den Musen als Grund des Überlebens genannt; in carm. 3,8,7 ist es Liber, dem als Dank für die Errettung ein Opfer dargebracht wird, während in carm. 2,17 der Sprecher – wie oben gesehen – Faunus als Schutzgott namhaft macht. – Nicht zu überzeugen vermag der Erklärungsversuch von Miller (1991) 388, Merkur verwandele sich eben in die Musen, in Augustus und auch in Faunus.
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collegium Mercurialium, gedeutet.82 Doch darf auch hier der Kontext nicht vernachlässigt werden: In dieser Ode hatten den astrologiegläubigen Maecenas dunkle Todesahnungen gequält (in V. 1 hatte ihn der Sprecher gefragt: cur me querelis exanimas tuis?), und in den Versen 17ff. hatte der Sprecher versichert: seu Libra seu me Scorpios aspicit / formidolosus, pars violentior / natalis horae, seu tyrannus / Hesperiae Capricornus undae, // utrumque nostrum incredibili modo / consentit astrum. / te Iovis impio / tutela Saturno refulgens / eripuit [...]. Hierbei handelt es sich offenkundig um astrologische Aussagen. Wenn sich der Sprecher bzw. Horaz nun in gerade dieser Ode als Mercurialis vir bezeichnet, spricht vieles dafür, auch hierin eine astrologische Angabe zu sehen. Merkur ist hier wohl ein Planetengott, der Maecenas’ Planet Juppiter gegenübergestellt wird.83 Unter dem Einfluß des Planeten Merkur stehen nach astrologischer Lehre insbesondere Rhetoren, Philosophen, Architekten und Musiker, also Berufsgruppen, zu denen sich Horaz im weiteren Sinne durchaus hinzurechnen kann.84 Der Dichter geht demnach hier auf Maecenas’ astrologische Neigungen ein, ohne sie auch nur im Geringsten teilen zu müssen.85 Jedenfalls läßt sich aus carm. 2,17,27ff. nicht ableiten, daß Horaz selbst eine enge Verbindung zu dem Gott Merkur verspürt hätte. Selbst wenn man also außerhalb des Gedichtes liegende Äußerungen zu dessen Interpretation heranziehen wollte, reichten die in Frage kommenden, von Kiessling/Heinze bereits zusammengetragenen Stellen keinesfalls aus, um zu beweisen, daß der historische Horaz Merkur als seinen speziellen Schutzpatron ansah.86 82
Horazens Vater, der coactor, d.h. Eintreiber von Auktionserlösen war, soll nach dem Vorschlag A. Oxés Mitglied in einer solchen Kultgemeinschaft gewesen sein; deshalb habe auch Horaz selbst diesem Verein nahegestanden. Näheres zum collegium Mercurialium und weitere Literatur bei Wissowa (1912) 305, Nisbet/Hubbard (1978) 286 und Voit (1982) 483f. – Daß das Adjektiv Mercurialis tatsächlich auch dem Bereich »Finanzen und Handel« angehören kann, zeigt sat. 2,3,24ff. Dort erfährt man aus dem Munde des windigen Ex-Antiquitätenhändlers Damasippus, daß ihm die Leute auf der Straße aufgrund seiner erfolgreichen Geschäfte den Beinamen »Merkursmann« gegeben haben (hortos egregiasque domos mercarier unus / cum lucro noram; unde frequentia Mercuriali / imposuere mihi cognomen compita). 83 So zuerst Boll (1910) 164ff. 84 Vgl. Voigt (1982) 482f., der ebd. bilanziert: »Horaz bezeichnet sich also als vir Mercurialis, als Schützling des Planetengottes Merkur, und so hat es sicherlich auch Maecenas hier verstanden.« Ebd. auf S. 485 konstatiert er überdies: »So meine ich, es sei unstatthaft, auf Grund einer so einmalig ad hoc verwendeten Bezeichnung den Dichter überhaupt als einen vir Mercurialis zu etikettieren.« 85 Man vergleiche nur die strikte Ablehnung von Zukunftserforschung jeglicher Art in carm. 1,11: tu ne quaesieris, scire nefas usw. Zur Einstellung des Horaz gegenüber der Astrologie vgl. Bollók (1993). 86 Zu Recht also bewertet Giomini (1994) 71 die Merkurstellen insgesamt so: »non una spiritualità profonda e sentita religiosità. E lo spunto va inteso nel contesto del carme e interpretato alla luce di peculiari motivazioni ed influssi letterario-filosofici.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
8.3.2 Merkur als Symbol des Horaz oder seines Dichtertums? Nun gilt es, die unter anderem von Campbell, Neumeister, Pöschl, Miller und Syndikus vertretene Auffassung zu prüfen, Horaz habe den Hymnus verfaßt, weil er die Gestalt des Hermes/Merkur als seinem eigenen Wesen besonders verwandt empfunden habe.87 Die detaillierteste Darstellung dazu stammt von Christoff Neumeister, der seinen Ausführungen folgende Frage zugrundelegt: Es gibt herkulische Typen. Es gibt joviale ältere Herren. Könnte es da nicht auch merkurialische Männer und merkurialische Dichter geben? [...] Gibt es Eigenschaften, gibt es Funktionen, die dem Gott und dem Dichter gemeinsam sind?88
Danach durchforscht er den Hymnus Strophe für Strophe nach Gemeinsamkeiten zwischen dem Gott und Horaz. Die folgende Darstellung der von ihm angeführten Argumente folgt der Gliederung seines Aufsatzes: I)
Merkur sei facundus, redegewandt, und auch der Liebesdichter wolle gelegentlich überreden. Überdies habe Merkur die Menschen durch die vox erzogen, und auch Dichter erzögen die Menschen.
II)
Merkurs Wirken als Götterbote gleiche dem Wirken eines vates, der ebenfalls zwischen Göttern und Menschen vermittele. Deshalb sei Merkur als Erfinder der Leier auch Dichtergott.
III) Merkurs Diebstahl sei nicht bösartig, sondern lustig-heiter; deswegen werde er merkurialisch, d.h. verschmitzt-hinterhältig dichten, womit die horazische Satiren-Dichtung vergleichbar sei. Ferner habe Merkur die Menschen geschickt erzogen, ohne daß diese es bemerkten; auch die horazische Satire erziehe geschickt-hinterlistig. IV) Wie die einst unbeachtete lyra zu Ehren gekommen sei (carm. 3,11,5f.), so habe auch Horaz durch den Kontakt mit Maecenas Zugang zu den Reichen und Mächtigen gefunden. V)
Merkur habe Priamos geleitet. Generell stehe er als Götterbote eher den »kleinen Leuten« nahe. Diese menschenfreundliche, hilfreiche Art sei auch Horaz zu eigen, da viele seiner Gedichte vor allem Trost sein wollten.
VI) Merkur erleichtere den Übergang in den Tod; er nehme der Unterwelt von ihrem Schrecken. Horaz bzw. die Dichtung allgemein lasse durch den Zauber des Liedes die Menschen ihre Sterblichkeit vergessen. 87 88
Vgl. Anm. 70. Neumeister (1976) 187.
8. carmen 1,10
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Schließlich schenke der Dichter denen, die er feiere, und sich selbst Unsterblichkeit.
Zu I): Daß Merkurs facundia auch erotischen Zwecken dienen kann, geht aus anderen Oden (z.B. carm. 1,30 und 3,11) tatsächlich hervor. Dies wird aber gerade in carm. 1,10 nicht thematisiert. Was den Umstand betrifft, daß Merkur die Menschen durch die vox erzogen hat, so hilft ein Blick auf die in derselben Strophe in gleicher syntaktischer Funktion verwendete Junktur more palaestrae, den durch voce ausgedrückten Gedanken zu verstehen: Nicht durch seine eigene vox hat Merkur die Menschen erzogen, sondern dadurch, daß er ihnen die Fähigkeit zu reden schenkte. Dichter aber »erziehen« ihre Rezipienten durch das, was sie mit Hilfe ihrer eigenen Stimme artikulieren. Zu II): Auch das merkurische Wirken und die Tätigkeit eines vates als Götterbote können nur auf einer metaphorischen Ebene miteinander verglichen werden. Merkur überbringt im Mythos konkrete Botschaften von bestimmten Göttern an bestimmte Personen. Das zwischen Göttern und Menschen vermittelnde Wirken eines vates ist damit nur im allgemeinsten Sinne vergleichbar. Hinsichtlich der Bedeutung Merkurs als Dichtergott sei auf die Ausführungen in Kap. 8.1, S. 330 verwiesen: Bei Horaz ist Apollon der Dichtergott und Dichterpatron par excellence. Zu III): Daß Merkur heiter dichtet, wird in carm. 1,10 nirgends expliziert und läßt sich auch nicht durch Verweis auf den »heiteren« Rinderdiebstahl belegen. Im homerischen Hymnus z.B. trägt er nichts Heiteres, sondern einen kosmogonischen Gesang vor. Daß die Menschen von der Erziehung durch Merkur nichts merkten, wird in carm. 1,10 nicht gesagt. Selbst wenn dies aber der Fall wäre, ließe sich diese Art der Erziehung kaum mit derjenigen der horazischen Satiren-Dichtung vergleichen. Diese beiden Begriffe von »Erziehung« gehören unterschiedlichen Ebenen an. Zu IV): Dies ist sicherlich der schwächste Punkt der Argumentation. Die angenommene Parallele zwischen der anfangs geringgeschätzten Leier und Horaz, der erst durch Maecenas in gehobene Kreise eingeführt worden sei (immerhin war er unter Brutus schon tribunus militum gewesen), erscheint zu weit hergeholt, um überzeugen zu können, umso mehr, als der lyra nur sekundäre Bedeutung in carm. 1,10 zugemessen wird und der als tertium comparationis herangezogene Punkt einer ganz anderen Ode entnommen ist. Zu V): Der dives Priamos kann sicherlich nicht zu den »kleinen Leuten« gezählt werden. Tatsächlich aber hat Merkur ihm menschenfreundlich-hilfreich zur Seite gestanden. Aber auch damit können tröstende horazische Oden nur auf einer metaphorischen Ebene in sehr allgemeiner Weise verglichen werden. Daneben hat Horaz aber auch Gedichte verfaßt, die nicht trö-
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
sten wollen, sondern vielmehr tadelnden oder invektivischen Charakter haben. Zu VI): Es ist bekannt, daß im Mythos die Musik des Orpheus auch die Unterweltsbüßer in ihrer Qual innehalten ließ, und Dichtung kann tatsächlich im Angesicht des Todes trösten (wenn auch vor allem die Hinterbliebenen). Gerade Horaz aber weist immer wieder auf die Unausweichlichkeit des Todes und den damit einhergehenden Verlust aller Güter hin;89 somit ruft er die Sterblichkeit vielmehr schmerzlich immer wieder ins Bewußtsein zurück. Was schließlich die Unsterblichkeit angeht, so kann Merkur diese gerade nicht schenken, weder im eigentlichen noch im übertragenen Sinne. Auch in dieser Hinsicht ist er demnach nicht mit dem Dichter zu vergleichen, der dies auf einer metaphorischen Ebene vermag. Demnach muß man konstatieren, daß sich auf der Basis dieser Argumente eine enge Wesensverwandtschaft zwischen Merkur und Horaz nicht zeigen läßt. Faßt man die These allgemeiner, so daß man eine weniger spezifische tatsächliche oder gefühlte Wesensverwandtschaft des Dichters mit Merkur postuliert, so ist dies wohl ein vertretbarer Standpunkt.90 Man wird aber carm. 1,10 nicht primär als Ausdruck dieser eventuellen Wesensverwandtschaft betrachten dürfen. 8.3.3 Merkur als Chiffre für Augustus? Bedenkt man die allgemeinen Bemühungen der Klassischen Philologie, in den Werken der augusteischen Autoren Lob oder geschickt getarnte Kritik am sich etablierenden, vom Princeps Augustus eingesetzten Herrschaftssystem aufzuspüren,91 so verwundert es nicht, daß auch für Horazens Ode 1,10 ein nicht an der Oberfläche zu erkennender Sinn postuliert wurde, der in unmittelbarem Zusammenhang mit Oktavian und dessen Politik stehe. So hat Carla Lo Cicero die Meinung vertreten, carm. 1,10 sei nach Actium und vor 27 v.Chr. verfaßt worden und spreche »in maniera velata della situazione del suo tempo«. Horaz spreche durch den Mythos und über Merkur als 89
Vgl. dazu im II. Teil Kap. 3.4.2. Vgl. Voit (1982) 490: »[Der Hymnus ist] kein Erweis für eine besondere, sagen wir: religiöse Bindung des Horaz als Person und Dichter an den Gott. Wenn Horaz einen Gott nennt, dem er sein Dichtertum zu danken hat, der ihn als Dichter behütet und beschützt […], so sind es Apollo oder die Musen, Camenae, niemals aber Merkur. Verzichten wir auf den vir Mercurialis, aber geben wir zu, daß der Dichter Horaz zum mindesten eine ästhetische Freude an dem jugendlichen und hilfreichen Gott, der durch Sprache wirkt, empfand, der er auch in c. I 10 Ausdruck verleiht.« 91 Exemplarisch sei nur die Diskussion um die pro- oder antiaugusteische Tendenz der vergilischen Aeneis genannt (vgl. dazu im I. Teil Kap. 5.10, S. 142). Zu einer politischen Deutung der Metamorphosen Ovids vgl. Schmitzer (1990) und z.B. die Rezensionen von Bretzigheimer (1992), Hill (1992), Lundström (1993) und Viarre (1993). 90
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Gottheit der Poesie »per esprimere la convinzione che quest’ ultima abbia un posto ed una funzione precisa proprio nella ricostruzione dello Stato.«92 Diesen Schluß zieht sie aus folgender Beobachtung: »Abbiamo insomma una serie di precisi riferimenti alla situazione politica di un momento che non può essere che quello successivo ad Azio in cui molte sono le promesse, le attese, le speranze e in cui si delinea la politica augustea«.93 Somit sei es durchaus angebracht, zu glauben, »che il poeta […] voglia qui fare intravvedere dietro il nuntius il principe stesso.«94 Doch die Faktenbasis, auf der Lo Ciceros These ruht, ist denkbar problematisch. Dies wird augenfällig, wenn man beispielsweise ihre Ausführungen zur genealogischen Angabe nepos Atlantis (V. 1) betrachtet: Daß Atlas seinem Enkel Merkur astronomische Kenntnisse vermittelt hat, läßt sich mit Verweis auf die Angabe des Servius auctus zu Aeneis 1,741 belegen. Daß Merkur diese Kenntnisse an die Menschen weitergegeben habe und daß erst diese Kenntnisse vom Lauf der Gestirne den Ackerbau ermöglicht hätten, läßt sich nachvollziehen, ist aber keinesfalls mehr ausdrücklicher Inhalt der Ode. Wenn Lo Cicero dann aber behauptet: »A mio giudizio infatti Mercurio è cantato […] sopratutto perché, sottolineando tale aspetto del dio, intendeva far riferimento alla politica augustea che, dopo le guerre civili, mirava innanzitutto all’incremento dell’attività agricola settore dell’economia«,95 wird man ihr nicht mehr folgen wollen. Da die anderen von ihr beobachteten vermeintlichen Parallelen auf einer ähnlich schwachen Basis ruhen, läßt sich so ein Bezug des Hymnus auf Oktavian sicherlich nicht vertreten. Kann man aber etwas Allgemeineres über eine Annäherung Merkurs an Augustus sagen? In carm. 1,2 spricht der Dichter am Ende eines Götterkataloges zum als almae / filius Maiae (V. 42f.) umschriebenen Merkur und ruft ihn auf, als Caesar beim römischen Volk zu bleiben. Hier wird also CaesarOktavian in eine »enge Verbindung« mit Merkur gesetzt.96 Es wäre aber verfehlt, nun allein aufgrund dieses Befundes zu behaupten, in carm. 1,10 liege eigentlich ein Hymnus auf die Kulturleistungen des Oktavian vor, weil in diesem ja Merkur verkörpert sei. Diese Art von Syllogismus wäre methodisch höchst problematisch, umso mehr, als das chronologische Verhältnis zwischen den Oden 1,2 und 1,10 nicht gesichert ist. Zweifellos aber standen die beiden Gedichte bei der Veröffentlichung der ersten Oden-Sammlung im Jahre 23 v.Chr. in einem nur geringen Abstand innerhalb desselben Buches. Ein aufmerksamer Leser kann diese Annäherung Merkurs an Okta92
Lo Cicero (1981) 105. Ebd. 110. 94 Ebd. 104. 95 Ebd. 102. 96 Zu den Problemen bei der näheren Qualifizierung dieser »engen Verbindung« vgl. im II. Teil Kap. 7.7.1, S. 306ff. 93
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
vian aus Ode 1,2 acht Gedichte später kaum völlig vergessen haben, obgleich eine Identifizierung durch die unterschiedlichen bzw. komplementären genealogischen Angaben (carm. 1,2,42f.: almae / filius Maiae; carm. 1,10,1: nepos Atlantis) eher erschwert wird. Allerdings könnte die Wendung duce te in carm. 1,10,13 an te duce in carm. 1,2,52 erinnern. Dennoch erscheint es nicht angebracht, an der Interpretation von carm. 1,2 mit Blick auf carm. 1,10 »Nachbesserungen« vorzunehmen bzw. carm. 1,10 im Rückblick auf carm. 1,2 zu deuten. Inwiefern sollte der Viehdiebstahl aus Merkurs Kindertagen etwas zum Bild des Heilsbringers MerkurOktavian beitragen? Und wäre es angesichts der Gräuel des Bürgerkriegs (man denke zum Beispiel an das Massaker von Perusia im Jahre 40 v.Chr.97) nicht fast ein Hohn gewesen, Oktavian als ψυχοπομπός zu bezeichnen? 8.3.4 Ausblick Die drei ausführlicher vorgestellten Deutungsansätze lassen sich also in dieser Form nicht halten.98 Richten wir den Blick auf die Eigenart der Hymnen in den carmina! Zwar kritisiert Eduard Fraenkel, der ja die Autonomie der einzelnen Ode zum Dogma erhebt,99 dieses Vorgehen scharf, indem er es für unmöglich hält, daß Horaz erwartete, daß »der Leser seines Hymnus die Bände der Q. Horati Flacci opera durchsuche, um vielleicht Stellen zu entdecken, aus denen sich schließen läßt, daß der Dichter in Merkur seinen Schutzpatron sah.« Natürlich wird kaum ein Rezipient so vorgehen, wie es Fraenkel beschreibt; doch es wird auch niemanden geben, der sofort nach der Lektüre eines Gedichtes den Inhalt des Gelesenen vergißt, um das nächste Gedicht völlig ohne Voraussetzungen genießen zu können. Da es sich bei den Oden primär um Buchdichtung handelt und somit alle Gedichte beliebig oft nachlesbar sind, da die Anordnung der Gedichte von Horaz selbst vorgenommen wurde, da zum Beispiel carm. 3,30 metrisch und thematisch eindeutig auf carm. 1,1 Bezug nimmt, ist es legitim, das Gesamtwerk zu betrachten, um die Stellung eines Einzelgedichts besser beurteilen zu können. Richtet man nun seinen Blick auf Horazens gesamtes Schaffen, kann man unter anderem folgende Beobachtungen hinsichtlich des Themas 97
Zu diesem von Oktavian veranlaßten Sakralmord an Senatoren und Rittern vgl. Suet. Aug. 14f. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Oksala (1973) 65: »Ich möchte in dem Merkur dieser Ode keine impliziten – politischen oder persönlichen – Nebenbedeutungen suchen«. 99 Fraenkel (1957) 194ff. Ähnlich Fauth (1962) 12 zu carm. 1,10: »Damit bleibt das Gedicht auf seinen unmittelbaren Aussagegehalt und auf seinen Eigenwert als Kunstwerk angewiesen, ein Umstand, der eine knappe Erschließung des Wesentlichen sicher erleichtert.« – Zu stark wohl die Kritik bei Neumeister (1976) 186: »Daß die Wiederkehr Merkurs in einer Reihe von Gedichten bedeutungsvoll ist, dies zu leugnen, wie es Fraenkel tut, ist gewollte Blindheit.« 98
8. carmen 1,10
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»Hymnus« machen: In den Oden findet sich eine Vielzahl von Götterhymnen, die eine große Variationsbreite aufweisen: Ihre Formen können ebenso wie ihre Adressaten sehr unterschiedlich sein, wobei der Grad der Partizipation des Sprechers am Geschehen unterschiedlich ist.100 Horaz verwendet überdies die Form des Hymnus nicht nur für Götterlieder, sondern auch für profane oder fast schon parodistische Zwecke, wie zum Beispiel der Hymnus an einen Weinkrug (carm. 3,21) zeigt.101
8.4 Fazit Aufgrund der Faktenlage erscheint folgende Deutung der Ode 1,10, welche keinen erkennbaren »Verankerungspunkt« im Nicht-Mythischen hat, am plausibelsten: Angesichts der vielfältigen Spielarten des horazischen Hymnengebrauchs und aufgrund der Tatsache, daß Horaz in seinem Gesamtwerk dieselbe gefährliche Situation mehrfach darstellt, dabei aber jeweils unterschiedliche Götter einbezieht oder ihr Eingreifen auch ganz ausblendet, kann man im vorliegenden Gedicht keinen von tiefer religiöser Ergriffenheit geprägten Hymnus sehen, mit dem der Dichter Merkur als seinen persönlichen Schutzgott hätte preisen wollen. Die erzählten Mythologeme, die Horaz aus der griechischen Literatur eklektizistisch übernommen hat, sollen nicht die Macht des Gottes beweisen, um ihn für den Moment gnädig zu stimmen, sondern verewigen seine Leistungen und Taten, die (zumindest in der poetischen Fiktion) den Menschen Freude und Hilfe sowie Trost bringen. Ebenfalls innerhalb dieser Fiktion mag eine Dankbarkeit gegenüber Merkur für dessen »Rettungstaten« mitschwingen; der historische Horaz mag ein allgemeines Gefühl für das Göttliche, vielleicht sogar ein Gefühl der Wesensverwandtschaft bald in diesem, bald in jenem Hymnus ausgedrückt haben. Da Hermes/Merkur als Erfinder der Laute und als Gott des Übergangs bzw. der Grenzüberschreitung galt, mag er Horaz besonders »gefallen« haben, weil dieser selbst ja nach eigenem Bekunden die griechische Lyrik in die römische Welt übertragen hat. Die Ode 1,10 jedoch trägt ihren Bedeutungsgehalt in sich selbst. In ihr wird nicht auf carm. 1,2 angespielt; durch die verschiedenen bzw. komplementären genealogischen Angaben zu Merkur wird eine Identifizierung eher erschwert. Dennoch kann man ein gewisses Lob oder eine Art von Ehrung für den Princeps als πάρεργον nicht gänzlich ausschließen. 100 Genannt seien nur (in Klammern jeweils die Adressaten): carm. 1,21 (Diana und Apollon); 1,31 (Apollon); 1,35 (Fortuna); 2,19 (Bacchus), 3,11 (Merkur); 3,18 (Faunus); 3,22 (Diana); 3,25 (Bacchus); 3,26 (Venus); 4,1 (Venus); 4,3 (Melpomene) und 4,6 (Apollon). 101 Einen ausführlichen Überblick über die horazische Hymnendichtung bieten z.B. Buchholz (1912) und La Bua (1999) 161ff.; einzelne horazische Hymnen analysiert Finney (1985).
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
Das Hauptanliegen dieser Ode, welche sicherlich kein flehendes Kultlied ist, scheint aber die Präsentation eines römischen Hymnus auf Merkur in der metrischen Nachfolge des Alkaios, in der thematischen Nachfolge mehrerer griechischer Praetexte zu sein.102 Es handelt sich gleichsam um einen kunstvollen »Katechismus«, der aber mehr den griechischen Hermes als den römischen Merkur behandelt; dessen wichtigste Taten und Eigenschaften werden in poetisch perfekter und durchaus anrührender Form geschildert. Doch die Ode bietet nicht genügend Indizien dafür, daß man sie als einen Ausdruck echter religiöser Verehrung, als ein Spiegelbild resp. Symbol des Horaz oder als einen Kommentar zur augusteischen Politik betrachten könnte.
102
Daß Horaz dadurch jedoch Alkaios’ Ode verdrängen wollte, wie Pasquali (1920) 75 meint, erscheint weniger plausibel: Dazu sind beide Gedichte doch zu unterschiedlich.
9. carmen 1,15
Bei carm. 1,15 handelt es sich um ein Gedicht sui generis; es ist die einzige Ode, welche ausschließlich mythischen Inhalt aufweist, ohne ein Hymnus zu sein: Nach einer kurzen Exposition, die Paris und Helena auf der Fahrt über das Meer zeigt, führt der Meeresgreis Nereus dem trojanischen Königssohn Paris in einer großen Rede dessen eigenes und das Schicksal Trojas sowohl anhand von Einzelszenen als auch in einer Gesamtschau des Untergangs vor Augen. Das Ende dieser Rede fällt mit dem Ende der Ode zusammen; es handelt sich also um eines der sogenannten offenen Gedichte, die mit einer Rede einer mythischen Gestalt ausklingen. Der entscheidende Unterschied gegenüber den anderen »offenen« carmina aber ist das Fehlen eines »Verankerungspunktes« des Gedichtes im Nicht-Mythischen. Diese »Anomalie« der Ode hat Interpreten sogar dazu veranlaßt, sie für unecht zu erklären, da man etwas Derartiges vom »echten« Horaz ja sonst nicht kenne.1 Eine andere Möglichkeit, die Ode dem von Eduard Fraenkel scharf kritisierten Systemzwang2 zu unterwerfen, war, in ihr mehr zu erkennen, als sie an der sichtbaren Oberfläche bietet.3 Die mythische Erzählung konnte nach dieser Auffassung nur das Vehikel für den Transport einer anderen, »wichtigen« Botschaft sein. Daß man jedoch bei solchen Deutungen Gefahr läuft, selbst Allegorese zu betreiben, statt eine Allegorie zu entdecken, ist evident.4
1 So Lehrs (1869) 21: »Unecht. Und vielleicht von zwei Verfassern, nämlich von V. 21 noch durch einen andern fortgesetzt.« Weiten Spielraum gab der Phantasie und der Möglichkeit zu Konjekturen Friedrich Liebegott Becher, der in carm. 1,15 nur ein Fragment sah [aufgeführt bei Fraenkel (1957) 223, Anm. 1]. – Müller (1870) XVII kritisierte den Aufbau der Ode und schlug eine Umstellung von Strophen vor: »His facile medeare incommodis traiectis strophis quarta et quinta post octavam.« – Vielleicht zu Recht bemerkt Smith (1968) 67: »Perhaps none of Horace’s poems has been such a riddle to scholars as ›Pastor cum traheret‹«. 2 Fraenkel (1957) 223. 3 Besonders deutlich dokumentiert sich dieser Systemzwang in den Bemerkungen von Kiessling/Heinze (1955) 75: »wenn eine solche Beziehung [zur Gegenwart] hier nicht ausgedrückt ist, so ist daraus nicht zu schließen, daß sie fehlt, sondern nur, daß sie den zeitgenössischen Hörern unmittelbar verständlich war.« 4 Bekanntlich bezeichnet ἀλληγορία in der Antike sowohl das allegorische Formulieren als auch das allegorische Deuten (vgl. LSJ s.v.), während in der modernen Terminologie »Allegorie« das allegorische Formulieren durch den Autor, »Allegorese« jedoch das Auffinden eines tieferen Sinnes durch den Interpreten bezeichnet. Vgl. auch Lausberg (1990) § 895-901, Freytag (1992) 330-393, Walde (1996) 523-525 und Most (1998) 304f.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
9.1 Die Ode im Überblick Doch einer Klassifizierung und Deutung des Gedichtes sollte ein Überblick über seinen Inhalt und seine Struktur vorangehen. Die erste Strophe der Ode dient dazu, die Situation zu exponieren: pastor cum traheret per freta navibus Idaeis Helenen perfidus hospitam, ingrato celeris obruit otio ventos ut caneret fera 5
Nereus5 fata: Als der Hirt mit Schiffen [aus Holz] vom Ida über das Meer Helena mit sich fortführte, der Treulose die Gastfreundliche, bedeckte mit unwillkommener Ruhe die schnellen Winde Nereus, um das grausame
5
Schicksal zu verkünden:
Ohne Namensnennung wird Paris als pastor in derjenigen Funktion eingeführt, in der er die Schiedsrichterrolle im Streit der drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite um den Preis der Schönheit wahrgenommen hatte. Seine Identifizierung fällt jedoch spätestens bei der Nennung des Adjektivs Idaeis und bei der Erwähnung Helenas leicht, die hier in ihrer griechischen Akkusativform auftritt (Helenen = Ἑλένην in den Oden gegenüber dem schlichteren Helenam in sat. 1,3,107). Die Bezeichnung als pastor bildet einen Kontrast zu per freta, ebenso wie Antithesen zwischen dem Adjektiv Idaeis und der Griechin Helena, zwischen perfidus und hospitam6 sowie
5 Porphyrio spricht in seinem Kommentar zur Stelle nicht von Nereus, sondern von dem unter anderem aus Hom. Od. 4 und Verg. georg. 4 bekannten, seine Gestalt wandelnden Meeresgott Proteus, der ebenfalls wahrsagen kann. Kiessling/Heinze (1955) 77 denken an eine irrtümliche Ersetzung von Nereus durch Proteus; Fraenkel (1957) 224, Anm. 3 vermutet darin Spuren eines ausführlicheren Kommentars, welcher Nereus andere weissagende Meeresgötter zur Seite stellte. Kraggerud (1987) 52, Anm. 22, der Proteus für den ursprünglichen Text hält, denkt an Einflüsse eines hellenistischen Proteusepyllions. Zu beachten ist allerdings, wie Oksala (1973) 121, Anm. 3 betont, daß Proteus in der übrigen antiken Literatur bekanntlich nur unter Zwang prophezeit, also kaum hier spontan sprechen dürfte. – Cairns (1971a) 449f. sieht den Grund für die Auswahl des Nereus einerseits in dessen Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit (vgl. Hes. theog. 233-236), andererseits in dessen Verwandtschaft mit den für den Trojanischen Krieg entscheidenden Gestalten Achill (vgl. Hor. epod. 17,8: movit nepotem Telephus Nereium) und Neoptolemos (Nereus’ Urenkel). Nach Tomaszuk (1992) 66f. erklärt diese Verwandtschaftsbeziehung die pathetische Ausdrucksweise des Nereus: Seine Rede richtet sich an den Verursacher derjenigen Geschehnisse, die schließlich zum Tod seines Enkels Achill führen. 6 Eine ähnliche Stellungsfigur findet man in carm. 3,7,13: Proetum mulier perfida credulum [...].
9. carmen 1,15
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zwischen celeris [...] ventos und ingrato [...] otio vorliegen, so daß der Eindruck einer starken stilistisch-rhetorischen Durchformung entsteht. Das Adjektiv perfidus stellt eine negative auktoriale Bewertung des Paris durch den Erzähler dar, während durch das Adjektiv ingrato eine Bewertung der Situation aus Sicht des Paris vorgenommen wird; es liegt also – narratologisch formuliert – eine Fokalisation vor: Die Windstille ist Paris unwillkommen, weil er sich schon von den Griechen verfolgt glaubt.7 Es ist demnach wohl auch eher die rasche Bewegung der Flucht, die sich in dem Prädikat traheret ausdrückt, als der Widerstand Helenas.8 Es folgt die Prophezeiung des Nereus (V. 5ff.): 5
»mala ducis avi domum quam multo repetet Graecia milite coniurata tuas rumpere nuptias et regnum Priami vetus.«
5
»Unter schlechtem Vorzeichen führst du nach Hause diejenige, die mit vielen Soldaten Griechenland zurückfordern wird, das gemeinsam schwur, deine Ehe zu zerbrechen und das alte Reich des Priamos.«
Die Prophezeiung, in der Nereus von einem üblen Vorzeichen (mala [...] avi, V. 5) spricht, stellt wohl selbst eben dieses Unglücksomen für die Verbindung von Paris und Helena dar. In dieser Strophe wird der Ausbruch des Krieges überhaupt und zugleich schon die Stärke des Gegners (multo [...] milite, V. 6) angekündigt; auch die Motivation – die gemeinsame Eidesleistung (der griechischen Fürsten) – wird genannt. Das Ziel dieses Eides gibt Nereus leicht zeugmatisch an: »Zerstörung« der neuen Ehe und des altehr7
Anders Porphyrio zu V. 3f.: »ingratum esse otium ventis ait, quia feroces sunt et semper saevire cupiunt«; so auch z.B. Nisbet/Hubbard (1970) 192. Keine Entscheidung treffen die pseudacronischen Scholien zu V. 3: »aut ventis aut Paridi«. Romano (1991) 544 bezieht ingrato auf Paris und die Winde. – Eine andere Situation hat Goethe seiner Nereusrede in Faust, Zweiter Teil zugrundegelegt. Dort hat Nereus Paris schon gewarnt, bevor dieser Helena raubte (Klassische Walpurgisnacht, V. 8110-8119): »Wie hab’ ich Paris väterlich gewarnt, / Eh sein Gelüst ein fremdes Weib umgarnt. / Am griechischen Ufer stand er kühnlich da, / Ihm kündet’ ich, was ich im Geiste sah: / Die Lüfte qualmend, überströmend Rot, / Gebälke glühend, unten Mord und Tod: / Trojas Gerichtstag, rhythmisch festgebannt, / Jahrtausenden so schrecklich als gekannt. / Des Alten Wort, dem Frechen schien’s ein Spiel, / Er folgte seiner Lust, und Ilios fiel.« 8 So jedoch Smith (1968) 71: »We must state that ›traheret‹ implies that Paris took Helen away without her consent«; ähnlich auch Quinn (1985) 153. Dies erscheint aber nicht zwingend: Im OLD s.v. trahere 5 findet man »to carry off as plunder, to take away by violence, illegaly, etc«. Paris muß also nicht unbedingt »by violence« gehandelt haben; »illegaly« hat er in jedem Fall agiert. Ähnlich Kraggerud (1987) 51f.: »La scelta del verbo traherent [sic!] indica che l’azione di Paride è irriguardosa ed illegale«. Neutraler ist der Eintrag im OLD s.v. trahere 2: »to cause to travel in one’s company«. – Generell verwirft diese Frage Kraggerud (1987) 52, Anm. 23: »Elena in quell’occasione non nutriva necessariamente sentimenti ostili, ma in realtà la questione è irrilevante.«
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
würdigen Reiches. Auffällig ist in dieser Passage die Verwendung römischer Termini technici zur Beschreibung der mythischen Situation: mala [...] avi evoziert die römische Sitte der Vorzeichendeutung bei einer Hochzeit, die auspicia nuptiarum.9 Durch das Prädikat repetet (V. 6) wird vielleicht an die rerum repetitio erinnert, die Forderung nach Wiedergutmachung, welche das römische Fetialrecht einer Kriegserklärung vorschaltet. Schließlich spielt das Partizip coniurata (V. 7), obgleich seine Verwendung innermythisch vollauf gerechtfertigt ist, wohl auf die coniuratio, die Eidesleistung des römischen Gesamtheeres, an.10 Nach dieser Gesamtschau, die das Heranrücken des griechischen Heereszuges und die Stoßrichtung gegen Paris persönlich (tuas rumpere nuptias, V. 7) sowie gegen das gesamte trojanische Reich (regnum Priami vetus, V. 8) zeigt, steigert sich das Pathos durch die Ausgestaltung einzelner Szenen noch weiter (V. 9ff.): »heu heu, quantus equis, quantus adest viris sudor! quanta moves funera Dardanae genti! iam galeam Pallas et aegida currusque et rabiem parat.
10
nequiquam Veneris praesidio ferox11 pectes caesariem grataque feminis imbelli cithara carmina divides, nequiquam thalamo gravis
15
hastas et calami spicula Cnosii vitabis strepitumque et celerem sequi Aiacem; tamen, heu, serus adulteros crinis pulvere collines.«
20
v.l.: cultus
»Ach, ach, wieviel Schweiß nähert sich den Pferden, wieviel den Männern! Welch großes Verderben erregst du dem Dardanergeschlecht! Schon bereitet Pallas Helm, Aigis, Wagen und Raserei vor.
10
Vergeblich wirst du, durch der Venus Schutz trotzig, kämmen dein Haar und Lieder, den Frauen willkommen, auf der unkriegerischen Kithara vortragen, vergeblich wirst du im Schlafzimmer die schweren12
15
Lanzen und die Spitzen des knosischen Pfeiles 9
Ein Beispiel dafür liegt vor in Catull, c. 61,19f.: bona cum bona / nubet alite virgo [...]. Vgl. z.B. Kiessling/Heinze (1955) 77. 11 Wright (1981) 77f. konjiziert stattdessen fugax; seine Argumente vermögen das einhellig überlieferte ferox allerdings nicht in Zweifel zu ziehen. 12 Anders fassen die pseudacronischen Scholien zu V. 16 die Stelle auf: thalamo sei ein Dativ zu gravis. 10
9. carmen 1,15
353
zu vermeiden suchen und den Lärm und Aias, der schnell folgen kann; dennoch, ach, wirst du spät deine Ehebrecherhaare mit Staub beschmutzen.«
20
Durch die anaphorisch gebrauchte Interjektion heu (V. 9.19) und die fragenden Ausrufe quantus […] quantus [...] quanta (V. 9f.) wird hohes Pathos erzeugt; die Vorgänge werden durch präsentische Prädikate als gegenwärtig dargestellt.13 Auf die allgemeine Situation, die Paris verschuldet, wie die zweite Person Singular in moves (V. 10) erkennen läßt, folgen in kunstvoller Verknüpfung zwei der drei am Parisurteil beteiligten Göttinnen: Pallas Athene, welcher der Schönheitspreis verweigert wurde, macht sich kampfbereit; vergeblich, wie durch die Anapher von nequiquam (V. 13.16) betont wird, vertraut Paris auf den Schutz der Venus,14 die durch sein Urteil jenen Schönheitswettbewerb gewonnen hatte.15 Die vierte Strophe zeigt Paris bei für den Krieg untypischen Verrichtungen, die ihn als unkriegerischen Schönling erscheinen lassen. Seine Attribute hat Horaz kunstvoll so gewählt, daß sie alliterieren: caesariem (V. 14), cithara und carmina (beide V. 15),16 wobei die imbellis cithara in diesem Kontext sicherlich abwertend zu verstehen ist.17 Die Vorstellung schließlich, den Gefahren des Krieges, welche in die Aspekte Geschosse, Kampfeslärm und Gegner untergliedert 13
Überhaupt oszilliert die Darstellung in der ganzen Ode zwischen Prophezeiung im Futur I und Vision im Präsens. 14 Diesen Schutz der Venus/Aphrodite, die in Hom. Il. 5,331 als ἄναλκις [...] θεός bezeichnet wird, beschränkt Smith (1968) 72 auf das Sexuelle: »His ferocitas, however, is sexual [...] The phrase Veneris praesidio cannot be taken to refer to Venus’ help in battle. In this context the meaning of the phrase can only be sexual.« – Vgl. dazu auch Kap. 9.2.1, S. 360. 15 Zu dieser Stellung der beiden Göttinnen bemerkt Kimber (1957-58) 75: »Placing Athena and Venus together in this way makes the war a matter of divine strife«. – Wie sehr Athene der Aphrodite überlegen ist, illustriert z.B. Hom. Il. 21,423ff. 16 In der folgenden Strophe jedoch sind für Paris sehr unangenehme Dinge durch cAlliteration verbunden: calami [...] Cnosii, celerem [...] Aiacem, crinis [...] collines. Vgl. dazu Kimber (1957-58) 76, der darin »ironies [...] established through sound patterns« sieht. 17 Anders in carm. 1,6,10, wo die imbellis[...] lyrae Musa potens Horazens eigene Dichtung bestimmt. – Dennoch leitet Davis (1991) 27 aus der o.g. Beobachtung zuviel ab, wenn er behauptet, es handle sich um »terms that differentiate the true from the false, the genuine lyric poet from the opportunist poseur who performs his carmina in the service of seduction«; darüber hinaus ist Paris für ihn der »antitype [...] of the philosophically grounded lyrist, whose carmina are rooted in an acceptance of mortality« (ebd. 28). Harsche Kritik an dieser Auffassung bei Maurach (2001) 141, Anm. 34. – Deutlich weiter noch als Davis geht Lowrie (1997) 125ff. Ausgehend von einem strukturalistischen Ansatz, sieht sie die Ode vor allem von poetologischen Themen geprägt, z.B. auf S. 135: »Paris is a bad lyric poet because he cannot cope with epic and drives his lyric over to elegy.« In der vorliegende Ode – »a free-standing allegory, entirely taken up with a meaning outside itself« (ebd. 136) – halte Horaz Hinweise für die richtige Interpretation bewußt zurück; eigentlich wolle der Autor die Rezipienten für Verständnisprobleme von Poesie sensibilisieren: »Horace with this ode alerts us to narrative’s possibilities of signification outside of a pointed rhetorical relation« (ebd. 126). Darin wird man aber kaum das Hauptanliegen der Ode sehen wollen.
354
II. Teil: Einzeluntersuchungen
werden, dadurch ausweichen zu wollen, daß man im Schlafzimmer bleibt, ist vollends unmännlich und wirft ein schlechtes Licht auf Paris. Ihren ersten Höhepunkt erreicht die Prophezeiung, als sie verkündet, daß der troische Prinz schließlich dennoch seine Haarpracht mit Staub beschmutzen wird, eben dann, wenn er fällt – ein deutliches Gegenbild zu Vers 14, wo Paris sein Haar gepflegt hatte. Auf diese Prophezeiung im Futur I folgt nun eine Vision, in der Paris mit verschiedenen griechischen Kämpfern konfrontiert wird (V. 21ff.): »non Laertiaden, exitium tuae genti, non Pylium Nestora respicis? urgent impavidi te Salaminius Teucer, te Sthenelus sciens 25
30
pugnae, sive opus est imperitare equis, non auriga piger. Merionen quoque nosces. ecce furit te reperire atrox Tydides, melior patre, quem tu, cervus uti vallis in altera visum parte lupum graminis immemor, sublimi fugies mollis anhelitu, non hoc pollicitus tuae.«
»Siehst du nicht den Laertessohn, den Untergang für dein Geschlecht, nicht Nestor aus Pylos hinter dir? Es bedrängt furchtlos dich Teukros aus Salamis, dich bedrängt Sthenelos, kundig des Kampfes, 25
30
oder, wenn man befehlen muß den Pferden, kein träger Wagenlenker. Auch Meriones wirst du kennenlernen. Sieh da, es sucht dich in heftiger Wut der schreckliche Tydeussohn, besser als sein Vater, vor dem du fliehen wirst, wie ein Hirsch vor einem Wolf, der im anderen Teil des Tales gesehen wurde, nicht mehr an das Gras denkend flieht, weichlich unter Keuchen mit hochgerecktem Kopf, obwohl du nicht dies der Deinen versprochen hast.«
In verschiedenen Formen erwähnt Nereus hier griechische Kämpfer: Odysseus und Nestor werden durch eine an Paris gerichtete rhetorische Frage visualisiert ins Geschehen einbezogen, Odysseus unter Verwendung seines Patronymikons mit der bedrohlichen Apposition exitium tuae / genti, wodurch auf die von Odysseus erdachte List des Trojanischen Pferdes ange-
9. carmen 1,15
355
spielt wird.18 Mit Nestor wird (ohne expliziten Kommentar) ein weiser Ratgeber genannt, so daß listige Schlauheit und Altersweisheit gepaart auftreten. Das Verb respicere evoziert einerseits die Vorstellung, wie Paris seine Verfolger hinter sich erblickt (das Bild der Verfolgung wird also lebendig); andererseits kann hier die Bedeutung »sich scheuen, Rücksicht nehmen« als auf »sich fürchten vor« ausgedehnt angesehen werden.19 Die Verse 23f. steigern die bloße Verfolgung zur realen Bedrängnis (urgent, V. 23); untermalt von t- und s-Alliterationen ennianischer Intensität, wird Paris von Teukros und Sthenelos bedrängt, dessen Qualitäten als Wagenlenker hervorgehoben werden (non auriga piger, V. 26). Nach der kurzen futurischen Nennung des Meriones folgt die am detailliertesten geschilderte Kampf- oder eher Fluchtszene: Durch die Interjektion ecce wird unmittelbare Anschaulichkeit und Gegenwärtigkeit erzeugt, worauf das Wüten des Diomedes folgt. Diomedes, noch besser im Kampf als sein Vater Tydeus, sucht Paris als Gegner; doch dieser flüchtet vor jenem wie ein Hirsch vor einem Wolf. Obwohl das zentrale tertium comparationis die Art der Flucht ist, wird durch diesen Vergleich zusätzlich Paris nur soviel Mut wie einem ängstlichen Hirsch zugestanden, eine große Demütigung, die durch das Adjektiv mollis noch verstärkt wird. In dieser Strophe kann man sogar überdies eine Verbindung zum Anfang der Ode sehen: Am Beginn des Gedichtes ist Paris als pastor bezeichnet worden. In der achten Strophe aber wird er mit einem Hirsch verglichen, der vor dem Gegner des Hirten par excellence, dem Wolf, flüchten muß. So sehr werden sich die Verhältnisse umkehren!20 Es ist bemerkenswert, daß als Gegner des Paris mit Teukros, Sthenelos und Meriones in den Versen 24-27 nicht die strahlendsten Helden aufgeführt werden, sondern nur »mindere« Kämpfer, die in Homers Ilias nicht als Kontrahenten des Paris-Alexandros in Erscheinung treten.21 Obgleich Diomedes zur Gruppe der größten griechischen Kämpfer gehört, hätte man 18 Bemerkenswert ist, daß es in Ennius’ Alexander Paris selbst ist, der prophetisch als exitium Troiae bezeichnet wird (fr. XVIII). Vergleichbare Wendungen u.a. aus Plautus führt Jocelyn (1967) 227 an. 19 Kiessling/Heinze führen als Beleg dafür aus Caes. civ. 1,5,2 die Verbindung respicere ac timere an. Vgl. überdies OLD s.v. 20 Vgl. dazu auch Kimber (1957-58) 76: »Paris’ role as a shepherd has come to an inglorious end. Instead of defending his wife and city against the wolf, the traditional enemy of the flock, Paris must now run himself, a frightened, helpless animal«. – Anders Smith (1968) 70, der in dem Substantiv pastor »a reference to Paris’ character, his peaceful and effeminate nature« sieht. Im antiken Verständnis ist aber nicht jeder Hirt friedlich, wie z.B. Verg. Aen. 3,657 zeigt, wo auch Polyphem als pastor bezeichnet wird. – Eine Parallele zur Umkehrung der Jagdmetaphorik im weiteren Sinne kann man in Vergils Aeneis finden: Während Dido in Aen. 1,496ff. mit Diana, der Göttin der Jagd, verglichen wird, erscheint sie in Aen. 4,69ff. als waidwunde Hirschkuh. 21 Syndikus (2001) I, 174, Anm. 28 sieht den Grund für das Auftreten dieser Personen darin, daß es Horaz auf die bloße Fülle der Namen angekommen sei.
356
II. Teil: Einzeluntersuchungen
auch eine Konfrontation des Paris mit dem betrogenen Ehemann Menelaos erwarten können, wie sie Homer im dritten Buch der Ilias bietet.22 Allgemein wird angenommen, daß Horaz auf die »geringeren« Helden zurückgegriffen habe, um Paris’ Feigheit gewissermaßen a minore zu illustrieren. Menelaos aber trete deshalb nicht auf, weil er u.a. durch Euripides’ Tragödien Orestes und Helena seinen heroischen Nimbus verloren habe.23 Die letzte Strophe, in welcher Paris nicht mehr direkt angesprochen wird, kulminiert in der Zerstörung Trojas, die nach einem gewissen Aufschub stattfinden wird: »iracunda diem proferet Ilio matronisque Phrygum classis Achillei; post certas hiemes uret Achaicus ignis Iliacas24 domos.«
35
»Zornig wird den Tag für Ilion und für die Ehefrauen der Phryger die Mannschaft Achills aufschieben; nach einer bestimmten Zahl an Wintern wird achäisches Feuer die Häuser Ilions niederbrennen.«
35
Mit Anklängen an die römische Gerichts- und Geschäftssprache (diem proferet, V. 33) wird prophezeit, daß Achills Mannschaft – warum nicht er selbst genannt ist, bleibt unklar – in ihrem Groll die Vernichtung, den dies 22
Vgl. dazu Kap. 9.2.1. So z.B. Kiessling/Heinze (1955) zur Stelle. Einen weiteren Vorschlag unterbreitet Kraggerud (1987) 52, Anm. 24: »Peraltro è lecito supporre che Orazio lo evita perché non desidera richiamare l’attenzione sulla vendetta del marito offeso.« 24 Das Adjektiv Iliacas hat bei Editoren Anstoß erregt, weil der Glyconeus aufgrund der naturkurzen Endung von ignis dadurch trochäisch statt wie üblich mit einem Spondeus beginnt. Um diesen metrischen Anstoß zu beheben, wurden unter anderem Pergameas, Dardanias und barbaricas konjiziert, Adjektive, die durch den anlautenden Konsonanten Positionslänge erzeugen würden. Ob man hier aber überhaupt zwecks Normalisierung zu einer Konjektur greifen muß, hängt von der eigenen Auffassung dichterischer Lizenz ab: Glaubt man, daß Horaz auf keinen Fall gegen die aus seinen übrigen Gedichten abstrahierbaren metrischen Regeln verstoßen haben könnte, muß man konjizieren. So lehnt zum Beispiel Delz (1988) 499 Iliacas als unmetrische Glosse ab. – Es gilt allerdings auch zu bedenken, daß die Codices einige in diesem engen Sinne unmetrische Varianten bieten, z.B. in carm. 3,4,10 (Apuliae). Ferner würde auch die für carm. 1,15,24 überlieferte Variante et (statt te) an der gleichen Stelle der Strophe das gleiche Problem hervorrufen. Ist man jedoch der Ansicht, Horaz habe sich wenigstens zu einer gewissen Zeit die Freiheit des griechischen Versbaues zugestanden, kann man diese Stelle tolerieren und sogar für Datierungsversuche nutzbar machen: Nach Karl Lachmanns Ansicht stellt diese Erscheinung ein »nondum perfectae artis documentum« dar [bei Fraenkel (1957) 227], kann also ein Indiz für eine frühe Entstehung sein, wie es auch Nisbet/Hubbard (1970) 201 für möglich halten. – Ob man aber so weit gehen sollte, die Erkenntnisse des ebd. zitierten J.P. Postgate (bei Homer wird Ἴλιος oft metrisch so behandelt, als beginne es mit einem ) für die metrische Erklärung dieser Stelle heranzuziehen, wie es z.B. West (1995) 75 tut, erscheint fraglich. Jedenfalls bezeugt die handschriftliche Überlieferung einhellig Iliacas, und die metrische Anomalie erscheint nicht so schwerwiegend, daß sie eine Konjektur erzwingen würde. 23
9. carmen 1,15
357
(sc. exitii), aufschieben wird.25 Dies muß für Paris unverständlich bleiben, da Achill seines Wissens ja nur gegenüber Troja zornig sein kann; von der μῆνις Πηληϊάδεω kann Paris nichts wissen. Doch nach einer festgesetzten Zeit wird das Feuer der Griechen Ilion niederbrennen; die Prophezeiung hat nach dem Tod des Paris in Vers 20 nun mit der Zerstörung Trojas ihren zweiten Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende erreicht. Mit dem Substantiv domos, das wie ein Echo von domum im ersten Vers der Prophezeiung klingt, schließt die Rede des Nereus.
9.2 Mögliche Praetexte Wiederum erscheint ein Überblick über potentielle Referenztexte und über die formalen und sprachlichen Anleihen, die Horaz bei der Tradition gemacht hat, unumgänglich, um die Eigenart dieses Gedichtes und seiner Mythologumena besser verstehen zu können.26 Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Ode um die Umsetzung eines epischen Stoffes in eine lyrische Form. Das Element der Weissagung, des vaticinium oder der vaticinatio, scheint dabei als für die lyrische Gestaltung besonders passend empfunden worden zu sein.27 Teivas Oksala sieht wohl zu Recht im vorliegenden Gedicht in Nereus »eine Art von objektivem Korrelat«, das dem Dichter den Ausdruck starker Emotionen erlaube, ohne daß diese »gekünstelt klingen«.28 Welche Einflüsse der Tradition lassen sich nun im Einzelnen feststellen?
25 Die Schilderung bei Horaz steht somit in klarem Gegensatz zur homerischen Darstellung, wo die Myrmidonen gierig nach Kampf verlangen (Il. 16,200ff.). Servais (1967) 197ff. empfindet diesen Gegensatz als zu groß und ersetzt das einhellig bezeugte classis Achillei durch cuspis Achillei. Polemische Kritik an der iracunda [...] classis Achillei übt Peerlkamp (1862) 62: »tam ridicule dictum est, ut sano homini in mentem venire non possit.« 26 Unhaltbar ist sicherlich die Position von Smith (1968) 68: »We are not entitled to take account of sources, if the text does not explicitly compel us to do so.« 27 Zahlreiche Beispiele für Dichtung mit solchen prophetischen Passagen bietet Sinko (1926) 135ff. Vgl. ferner Nisbet/Hubbard (1970) 188f., die über den Rahmen des Lyrischen hinausgreifend unter anderem die Kyprien, Pindars 8. Päan, Euripides’ Alexander und Lykophrons Alexandra nennen [hinzufügen könnte man Ennius’ Alexander fr. XVIII; hierauf verweisen Nisbet/Hubbard (1970) 198 jedoch im Rahmen einer lexikalischen Diskussion]. Cairns (1971a) 447 führt darüber hinaus als Situations- und Formparallele ein Fragment von Simonides’ Danae (fr. 38/543) an. Weitere vergleichbare Passagen aus Pindar und aus Aischylos’ Agamemnon verzeichnet Athanassaki (2001) 90ff. 28 Oksala (1973) 123.
358
II. Teil: Einzeluntersuchungen
9.2.1 Homers Ilias Es ist evident, daß Horaz durch zahlreiche allgemeinere Anklänge an die Ilias seinem Gedicht episches Kolorit verleiht. Viele Passagen rekurrieren jedoch auf konkrete Ilias-Stellen, wie die folgende tabellarische Übersicht zeigt: Hor. carm. 1,15
Hom. Ilias
1: pastor
24,29: [Πάρις,] ὃς νείκεσσε θεάς, ὅτε οἱ μέσσαυλον ἵκοντο
1: traheret
3,443f. (Paris): οὐδ’ ὅτε σε πρῶτον Λακεδαίμονος ἐξ ἐρατεινῆς / ἔπλεον ἁρπάξας ἐν ποντοπόροισι νέεσσι [...]
2: perfidus hospitam
13,626f. (Menelaos): οἵ μεο κουριδίην ἄλοχον καὶ κτήματα πολλά / μὰψ οἴχεσθ’ ἀνάγοντες, ἐπεὶ φιλέεσθε παρ’ αὐτῆι
7: coniurata
2,286ff. (Odysseus zum Atriden): οὐδέ τοι ἐκτελέουσιν ὑπόσχεσιν ἥν περ ὑπέσταν / [...] Ἴλιον ἐκπέρσαντ’ εὐτείχεον ἀπονέεσθαι.
9f.: quantus [...] sudor 2,388ff. (Agamemnon): ἱδρώσει μέν τεο τελαμὼν ἀμφὶ στήθεσσιν / […] ἱδρώσει δέ τε’ ἵππος 4,27 (Hera): ἱδρῶ θ’ ὃν ἵδρωσα μόγωι 11f.: Rüstszene der Athene
5,733-747
13ff.: nequiquam etc.
3,54f. (Hektor zu Paris): οὐκ ἄν τοι χραίσμηι κίθαρις τά τε δῶρ’ Ἀφροδίτης / ἥ τε κόμη τό τε εἶδος, ὅτ’ ἐν κονίηισι μιγείης.
13: Veneris praesidio
3,380f.: τὸν δ’ ἐξήρπαξ’ Ἀφροδίτη / ῥεῖα μάλ’ ὥς τε θεός, ἐκάλυψε δ’ ἄρ’ ἠέρι πολλῆι Paris selbst rühmt sich in 3,440: πάρα γὰρ θεοί εἰσι καὶ ἡμῖν.
16: thalamo
3,382: κὰδ’ δ’ εἷσ’ ἐν θαλάμωι εὐώδεϊ κηώεντι.
16f.: gravis // hastas
5,745f.: ἔγχος / βριθὺ μέγα στιβαρόν
18f.: celerem sequi / Aiacem
14,520ff.: Αἴας [...], Ὀϊλῆος ταχὺς υἱός· / οὐ γάρ οἵ τις ὁμοῖος ἐπισπέσθαι ποσὶν ἦεν / ἀνδρῶν τρεσσάντων
9. carmen 1,15 20: crinis29
3,55 (Hektor zu Paris): ἥ τε κόμη τό τε εἶδος, ὅτ’ ἐν κονίηισι μιγείης.
24f.: sciens / pugnae etc.
5,549: μάχης εὖ εἰδότε πάσης.
359
vgl. Od. 9,49f.: ἐπιστάμενοι μὲν ἀφ’ ἵππων / ἀνδράσι μάρνασθαι καὶ ὅθι χρὴ πεζὸν ἐόντα.
27: nosces
18,268ff. (Poulydamas über Achill): εἰ δ’ ἄμμε κιχήσεται ἐνθάδ’ ἐόντας [...], εὖ νύ τις αὐτὸν / γνώσεται
27-31
3,23ff.: ὥς τε λέων ἐχάρη μεγάλωι ἐπὶ σώματι κύρσας, / εὑρὼν ἢ ἔλαφον κεραὸν ἢ ἄγριον αἶγα / πεινάων· […] ὣς ἐχάρη Μενέλαος Ἀλέξανδρον θεοειδέα / ὀφθαλμοῖσιν ἰδών· [...] τὸν δ’ ὡς οὖν ἐνόησεν Ἀλέξανδρος θεοειδής / ἐν προμάχοισι φανέντα, κατεπλήγη φίλον ἦτορ 3,449f.: Ἀτρείδης δ’ ἀν’ ὅμιλον ἐφοίτα θηρὶ ἐοικώς, / εἴ που ἐσαθρήσειεν Ἀλέξανδρον θεοειδέα.
28: Tydides, melior patre
4,405 (Sthenelos): ἡμεῖς τοι πατέρων μέγ’ ἀμείνονες εὐχόμεθ’ εἶναι Agamemnon hatte zuvor Diomedes getadelt (4,399f.): τοῖος ἔην Τυδεὺς Αἰτώλιος· ἀλλὰ τὸν υἱόν / γείνατο εἷο χέρεια μάχηι [...]
31: mollis
3,45 (Hektor zu Paris): ἀλλ’ οὐκ ἔστι βίη φρεσὶν οὐδέ τις ἀλκή.
32: non hoc pollicitus tuae
3,430f. (Helena zu Paris): ἦ μὲν δὴ πρίν γ’ ηὔχε’ ἀρηϊφίλου Μενελάου / σῆι τε βίηι καὶ χερσὶ καὶ ἔγχεϊ φέρτερος εἶναι
33f.: iracunda [...] classis Achillei
Ilias 1-18 (vgl. jedoch den Haupttext unten)
35: post certas hiemes
4,164 (= 6,448): ἔσσεται ἦμαρ ὅτ’ ἄν ποτ’ ὀλώληι Ἴλιος ἱρή
35f.: uret etc.
21,375f.: ὁπότ’ ἂν Τροίη μαλερῶι πυρὶ πᾶσα δάηται / καιομένη, καίωσι δ’ ἀρήϊοι υἷες Ἀχαιῶν.
29
Für die Lesart cultus könnte man anführen: Il. 6,512f.: Πάρις [...] τεύχεσι παμφαίνων ὥς τ’ Ἠλέκτωρ ἐβεβήκει [...].
360
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Die aufgeführten Stellen zeigen, daß Horaz zahlreiche Anklänge an verschiedene Ilias-Verse in sein Gedicht integriert hat; ebenso finden sich Übertragungen und Kombinationen verschiedener Ilias-Verse. Zum Teil stehen diese schon bei Homer in Verbindung mit Paris-Alexandros; einigen liegt jedoch in der Ilias eine andere Personenkonstellation zugrunde. Auffällig ist dabei vor allem einerseits, daß es in carm. 1,15 nicht wie bei Homer Menelaos, der Ehemann Helenas, ist, welcher einen Zweikampf mit Paris bestreitet, sondern Diomedes.30 Andererseits zürnt in Horazens Darstellung die classis Achillei und verschafft Troja dadurch Aufschub. Bei Homer hingegen verlangen die Myrmidonen gierig nach Kampf (vgl. Ilias 16,200ff.); nur ihr Anführer Achill grollt und verweigert das Kämpfen (vgl. Anm. 25). Die vielfachen Hinweise auf die Ilias als Praetext legen es nahe, auch homerische Szenen zu berücksichtigen, die Horaz nicht explizit nennt. Da mehrfach auf das dritte Buch der Ilias rekurriert wird, evoziert diese Darstellung auch die Erinnerung an die hier nicht explizit genannte homerische Szene, in welcher Paris, nachdem er von Aphrodite aus dem Kampf entrückt und ins eigene Schlafzimmer gebracht worden ist, heftiges Verlangen nach Helena empfindet. Vor diesem Hintergrund verdient eine sexuelle Deutung der Wendung Veneris praesidio ferox (V. 13) vielleicht doch wieder Beachtung.31 Insgesamt ist bemerkenswert, wie kunstvoll Horaz durch den Rekurs auf verschiedene Ilias-Stellen Anlaß, Beginn, Verlauf und Ende des Trojanischen Krieges gewissermaßen im Brennpunkt der Nereusprophezeiung fokussiert.32
9.2.2 Alkaios, fr. 283 Im Fragment 283,das ohne Anfang und Ende sowie mit einigen Lücken überliefert ist, spricht der frühgriechische Lyriker Alkaios ebenfalls von Helena und (in Periphrase) von Paris:33 κ’ Ἀλένας ἐν στήθ[ε]σιν [ἐ]πτ[όαισε θῦμον Ἀργείας, Τροΐω δ’ [ἐ]π’ ἄν[δρι ἐκμάνεισα ξ[ε.]ναπάτα ’πὶ π[όντον ἔσπετο νᾶϊ,
5
30 31 32 33
Vgl. dazu auch oben im Kap. 9.1 S. 355f. Vgl. dazu Anm. 14. Vgl. zu diesem Komplex auch Servais (1967) und Romano (1991) 546. Zu diesem Fragment vgl. z.B. Eisenberger (1956) 58-60 und Tsomis (2001) 97-99.
9. carmen 1,15
361
παῖδά τ’ ἐν δόμ[ο]ισι λίποισ[ κἄνδρος εὔστρωτον [λ]έχος .[ πεῖθ’ ἔρω θῦμο[ν Λήδας] παῖ]δα ∆[ίο]ς τε
10
]πιε .. μανι[ κ]ασιγνήτων πόλεας .[ ].έχει Τρώων πεδίω δά[μεντας ἔν]νεκα κήνας· πόλ]λα δ’ ἅρματ’ ἐν κονίαισι[ ].εν, πό[λ]λοι δ’ ἐλίκωπε[ς ]οι .. [ ]βοντο φόνω δ. [ κτλ.
15
und erregte in Helenas, der Argiverin, Brust das Verlangen; beim troischen Mann außer sich geraten, folgte sie dem Betrüger des Gastfreundes über das Meer mit dem Schiff,
5
ihr Kind zu Hause zurücklassend und ihres Mannes gut gepolstertes Lager [ überzeugte durch Liebe den Sinn [ das Kind Ledas und des Zeus
10
trank ... der Raserei (?) der troischen Brüder viele [ hat (?) in der Ebene gebändigt wegen jener; viele Streitwagen aber im Staub ... viele glanzäugige ... wurden des Mordes ... usw.
15
Es lassen sich einige Parallelen zwischen Alkaios’ Gedicht und Horazens Ode benennen: So erinnert per freta navibus (V. 1) an ’πὶ π[όντον] [...] νᾶϊ (V. 5f.). Auch die Bezeichnung des Paris als perfidus (V. 2) sieht Hans Peter Syndikus in ξ[ε.]ναπάτα (V. 5) wohl zu Recht vorgeprägt. Überdies ist quanta […] funera (V. 10) motivisch mit den Versen 12f. des Alkaios vergleichbar, und in pulvere collines (V. 20) könnte ein Echo von ἐν κονίαισι[ (V. 15) vorliegen. Die Parallele zwischen dem Ausruf quantus (V. 9) und den Numeralia πόλεας, [πόλ]λα, πό[λ]λοι (V. 12.15.16) hingegen erscheint weniger eng.34
34
Vgl. auch Alfonsi (1954) 215ff., Syndikus (2001) I, 169f., Athanassaki (2002) 86ff. sowie Cucchiarelli (2004-05) 49ff.
362
II. Teil: Einzeluntersuchungen
Deutlich anders ist bei Alkaios die Gewichtung der Personen: Er konzentriert sich stark auf Helena: Ihretwegen (ἔν]νεκα κήνας, V. 14) sind viele gefallen. Paris hingegen wird nur in einer Namensperiphrase eher beiläufig erwähnt (Τροΐω δ’ [ἐ]π’ ἄν[δρι, V. 4). Überdies zeigt Alkaios ausgeprägtes Interesse für Helenas seelisches Befinden und für das, was sie in Argos zurückließ. Desweiteren ist die Verschiedenheit beider Gedichte hinsichtlich ihrer Struktur evident:35 Während Alkaios, soweit es das Fragment erkennen läßt, das Geschehen in einer einzigen Darstellungsweise, nämlich in einer auktorialen Erzählung, linear und chronologisch entwickelt, bedient sich Horaz zweier Darstellungsmodi, der auktorialen Erzählung und der (prophezeienden) Personenrede. In dieser Personenrede entwickelt sich die Handlung aus einem einzigen Moment heraus,36 wobei Nereus in dramatisch-lebhafter, Paris persönlich ansprechender Weise auf die zukünftigen Ereignisse vorausgreift. 9.2.3 Bakchylides’ Kassandra Hinsichtlich weiterer Einflüsse der literarischen Tradition weiß der Kommentator Porphyrio auf der Ebene der Struktur und der Form einen Anhaltspunkt zu nennen: Er bemerkt zu diesem Gedicht: »hac ode Bacchylidem imitatur. nam ut ille Cassandram facit vaticinari futura belli Troiani, ita hic Proteum37.« (»Mit dieser Ode ahmt er [sc. Horaz] Bakchylides nach. Denn wie jener Kassandra die zukünftigen Ereignisse des Trojanischen Krieges prophezeien läßt, so dieser den Proteus«). Leider ist von diesem Gedicht des Bakchylides fast nichts erhalten; die Reste seiner Kassandra sind kaum lesbar.38
35
Vgl. auch Syndikus (2001) I, 170. Syndikus (2001) I, 170 betont die Schicksalshaftigkeit dieses Momentes und die Möglichkeit zur Umkehr, die Paris damals noch gehabt habe: »Wenn nun Paris nach der Prophezeiung des Nereus die Fahrt fortsetzt, also mit vollem Bewußtsein den Untergang der Heimat in Kauf nimmt, erscheint sein Tun zutiefst schuldhaft: An keiner Stelle des Sagenverlaufs hätte die Verflechtung von Schuld und Untergang klarer aufgezeigt werden können.« – Etwas anders Smith (1968) 74: »the initial sin of Paris was not a false step, but in keeping with his character and leading to a logical though tragic result. [...] It is a poem about human character, analysing a single fateful example.« Laut Tomaszuk (1993) 65 wiederum wird die Ode von der »Unvermeidbarkeit des Schicksals« beherrscht. 37 Zum Problem des abweichenden Namens siehe Anm. 5. 38 Vgl. fr. 23 und die dort zusammengestellten Testimonien. – Sehr stark betont wird die Bedeutung des Bakchylides für diese Ode von Helm (1935) 364, der in ihm (und Pindar) sogar den Ausgangspunkt aller Reden mythischer Figuren bei Horaz sieht. Einschränkungen finden sich bei Fraenkel (1957) 225; Pasquali (1920) 298f. mißt Bakchylides nur geringe Bedeutung zu. – Im 36
9. carmen 1,15
363
Betrachtet man die Dithyramben des Bakchylides insgesamt, so kann man zum einen Gedichte mit einer explizit ausgesprochenen Deutung des Mythos wie zum Beispiel die Antenoridai (fr. 15) finden, in denen der Unterschied zwischen Dike und Hybris für das menschliche Leben eindringlich geschildert wird.39 Zum anderen gibt es aber auch Mythenerzählungen ohne beigefügte Deutung wie etwa die Eïtheoi (fr. 17) oder den Theseus (fr. 18), bei denen aber, wie Eckard Lefèvre im Anschluß an Bernhard Zimmermann betont, der äußere Rahmen der Vortragssituation als Folie hinter dem mythischen Geschehen fungierte und dessen Deutung konturierte (zum Beispiel Theseus’ Ankunft in Athen als Pendant zu den Ephebeninitiationsriten).40 Da also Bakchylides beide Arten lyrischer Mythenerzählungen (mit und ohne explizite Deutung) in seinem Œuvre vereinigt hat und wir über die Kassandra nichts Genaues wissen, kann man sie auch nicht mit Blick auf das übrige Werk einer bestimmten Kategorie zuordnen. Es muß also letztlich ungeklärt bleiben, inwieweit dieser Dithyrambos des Bakchylides als Praetext von carm. 1,15 gelten darf. Soweit der Blick auf die literarische Tradition, den Syndikus wohl zu Recht mit folgenden Worten kommentiert: So sehen wir, daß in der äußeren Situation unseres Gedichtes, in der dramatischen Szene und ihrer Bedeutung nichts ist, was nicht grundsätzlich zu den Möglichkeiten vorhorazischer Dichtung gehört hätte und wenigstens im wesentlichen dort schon verwirklicht war, wenn auch unbestritten sei, daß unser Dichter von der ihm vorliegenden Tradition sehr geschickt Gebrauch gemacht hat.41
9.2.4 Horazens 10. Epode Es bietet sich in diesem Fall jedoch an, auch einmal Horaz mit Horaz zu vergleichen. In seinem wohl Ende der 30er Jahre veröffentlichten IambenBuch findet man in der 10. Epode ein Gedicht, das einige Berührungspunkte mit carm. 1,15 aufweist. In dieser 10. Epode verwünscht der Sprecher einen gewissen Mevius, der gerade eine Seereise antritt; es handelt sich also um ein invertiertes Propemptikon. Bemerkenswert ist, daß in diesen deutlich auf die imaginierte Gegenwart gerichteten Iambus ein Vergleich eingearbeitet ist, der die Mühen der siegreichen Griechen nach der Abfahrt von
Übrigen scheint in fr. 27, von dem nur geringe Reste erhalten sind, ebenfalls eine Prophezeiung über den Trojanischen Krieg vorzuliegen; vgl. hierzu z.B. Syndikus (2001) I, 170f. 39 Bakchyl. fr. 15,53ff.: ἀλλ’ ἐν [μέσ]ωι κεῖται κιχεῖν / πᾶσιν ἀνθρώποις ∆ίκαν ἰθεῖαν κτλ. 40 Lefèvre (2000) 207f. 41 Syndikus (2001) I, 172. – Zu weiteren eventuellen Praetexten einzelner Stellen der Ode vgl. Sinko (1926) 135ff.
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Troja schildert. Die für einen Vergleich mit carm. 1,15 ergiebigen Partien sind folgende (V. 1-4.11-20):
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mala soluta navis exit alite ferens olentem Mevium. ut horridis utrumque verberes latus, Auster, memento fluctibus; [...] quietiore nec feratur aequore quam Graia victorum manus, cum Pallas usto vertit iram ab Ilio in inpiam Aiacis ratem. o quantus instat navitis sudor tuis tibique pallor luteus et illa non virilis eiulatio preces et aversum ad Iovem, Ionius udo cum remugiens sinus Noto carinam ruperit! Nachdem es unter schlechtem Vorzeichen die Anker gelichtet hat, sticht das Schiff in See, das den stinkenden Mevius trägt. Daß du mit schrecklichen Fluten beide Seiten schlägst, Südwind, daran denke! [...] Und nicht soll es auf ruhigerem Meer fahren als die griechische Siegerschar, als Pallas ihren Zorn vom niedergebrannten Ilion wandte gegen das verbrecherische Schiff des Aias. Ach, wieviel Schweiß steht deinen Seeleuten bevor und dir welch’ gelbe Blässe und jenes unmännliche Gejammer und die Bitten an Juppiter, der doch abgewandt ist, wenn die ionische Bucht, dröhnend unter dem feuchten Notus, den Kiel zerbricht!
Einige Parallelen fallen unmittelbar auf: Wie in carm. 1,15 Nereus eine Mischung aus Prophezeiung und Vision vorträgt, so vermischt der Sprecher in epod. 10 Wunsch und Prophezeiung, indem bis Vers 14 der Konjunktiv als Modus des Wunsches dominiert, danach aber futurische Ausdrucksweisen vorherrschen. Beide »Opfer«, deren Unternehmungen unter einem schlechten Vorzeichen beginnen, werden sich in der vorausgesagten Situation als Feiglinge erweisen, Paris durch seine Flucht aus dem Kampf, Mevius durch sein unmännliches Jammern (V. 17: illa non virilis eiulatio). Auch in der Ausdrucksweise erinnert carm. 1,15 partiell an die 10. Epode: mala [...] avi (carm. 1,15,5) »entspricht« mala [...] alite (epod. 10,1), und quantus adest viris / sudor in carm. 1,15,9f. klingt wie ein Echo von quan-
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tus instat navitis sudor tuis (epod. 10,15).42 Gewissermaßen komplementär entsprechen auch die Epoden-Verse 12-14 der Ausgangssituation der Ode: Während in der Ode Paris heim nach Troja fährt, wo er unter anderem durch Pallas Athene Schlimmes erleben wird, wollen in der Epode die siegreichen Griechen nach Trojas Fall heimkehren, wobei sich Athenes Zorn gegen den Frevler Aias entlädt. Doch es sind auch deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gedichten zu verzeichnen. Die 10. Epode ist eine einzige Verwünschung ohne Exposition oder Rahmenerzählung; die Flüche werden über den olens Mevius ausgegossen, ohne daß er selbst so sehr in die Kommunikation involviert wäre wie Paris in carm. 1,15. Ferner nehmen die Verwünschungen unmittelbar auf die Ausgangssituation Bezug: Während eines Unwetters sollen Mevius schon im Laufe der Fahrt gräßliche Dinge zustoßen. Paris hingegen wird sich erst nach einiger Zeit mit den prophezeiten Situationen auseinandersetzen müssen. Der wichtigste Unterschied besteht aber in der Einbindung des Mythos: Während in carm. 1,15 keine Verbindung des Mythos zu sonstigen Bereichen deutlich gemacht wird und somit dessen Funktion ungenannt bleibt, dient das mythische Bild der 10. Epode, welches sich genau in der Mitte des Gedichtes befindet, explizit als Gradmesser: quietiore nec feratur aequore / quam Graia victorum manus etc. Mevius soll es also genauso schlimm bei seiner Fahrt ergehen, wie es im Mythos den siegreichen Griechen auf ihrer Fahrt erging.43 Angesichts der beobachteten Ähnlichkeiten kann man sicherlich eine Verbindungslinie zwischen der 10. Epode und carm. 1,15 ziehen.44 Es gibt aber keinen Grund, die Ode nur von der Epode ausgehend zu interpretieren.45
42 Gewagt erscheint es, wenn Nagel (1964) 213 ferner rumpere nuptias in Beziehung zu carinam ruperit setzt; wohl zu kühn ist die Parallelisierung ebd. auf S. 215 von libidinosus caper mit adulteros crines oder mit der gesamten vierten Strophe der Ode. 43 Man wird Nagel (1964) 215 also nicht folgen wollen, wenn er mit Blick auf epod. 10 und carm. 1,15 von »vollkommene[r] Motivgleichheit« spricht. – Zu Mythologumena mit Gradmesserfunktion vgl. im II. Teil Kap. 1.5. 44 An diesem Beispiel läßt sich ein Grundsatz verdeutlichen, den etwa Hommel (1950) 47 so formuliert hat: »Es ist besonders kennzeichnend für Horaz, [...] daß auf keiner neu erklommenen Stufe seines Werdens [...] das nunmehr Überwundene ganz aus seinem Wesen verschwindet. Verklärt und gereinigt kehrt es da und dort in seinem Werke wieder und erinnert an den bis dahin durchmessenen Weg.« 45 So jedoch Nagel (1964) 216f. – Selbst wenn in einem anderen Fall zweifelsfrei nachgewiesen wäre, daß Horaz durch sprachliche Parallelen zwischen einer Epode und einer Ode die Intention der letzteren verdeutlichen möchte, so ließe sich daraus für den vorliegenden Fall nichts ableiten.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
9.3 Parodie eines Epos? Werner Nagel glaubt, aus seiner sonstigen Argumentation schließen zu dürfen, daß es sich bei carm. 1,15 um die Parodie eines Epos handele. Diese durchaus nicht unproblematische Annahme46 sucht er durch die folgenden vier Argumente zu untermauern: 1) Die Ode 1,15 enthalte viele Wörter, die innerhalb der carmina nur hier vorkämen. 2) Die Ode enthalte »übertriebene« Metaphern wie obruit ventos, rabiem parat und adulteros crines. 3) Sie enthalte viele Anaphern. 4) »Da sich häufig [...] Gedichte, die an einander korrespondierenden Stellen stehen, inhaltlich entsprechen, müsste auch das Gedicht III, 15, das an fünfzehntletzter Stelle steht, I, 15 stellungsmässig entspricht, parodische Elemente aufweisen.«47 Ob die Ode »übertriebene« Metaphern enthält (Argument 2), läßt sich schwer entscheiden; die antiken Kommentatoren hatten diesen Eindruck jedenfalls offenbar nicht. Viele Anaphern (Argument 3) sind sicherlich per se kein Charakteristikum einer Parodie. Argument 4 ist von vorneherein schwach, da es auf bloßer Analogie basiert. Da aber carm. 3,15 keine Parodie ist, verliert Argument 4 wohl jegliche Kraft. Es bleibt also noch Argument 1. Nagel listet dreizehn Wörter (darunter auch »Allerweltswörter« wie ecce, profero, reperio usw.) auf, die innerhalb der Oden nur in carm. 1,15 auftreten, gleichzeitig aber auch in Vergils Aeneis oder Ovids Metamorphosen belegt sind. Daraus folgert er, Horaz habe für seine »Eposparodie« Wörter benutzt, die er sonst vermieden habe. Schon hier könnte man einwenden, daß Horaz auch in einem »ernsten« episierenden Gedicht auf einen anderen Wortschatz als sonst zurückgegriffen haben könnte. Aus der Divergenz zwischen den poetisch-epischen Wörtern und den sonstigen Ausdrücken, die seiner Meinung nach eher einer »unpoetischen Stilschicht« angehören, schließt Nagel auf eine parodische Absicht.48 Wenn man jedoch für eine »Gegenprobe« beispielsweise carm. 1,37 auswählt, so findet man folgende innerhalb der Oden nur in diesem Gedicht 46 Nagel (1964) 218: »Auf Grund [...] der oben herausgearbeiteten Parallelen zwischen I, 15 und der in aggressivem Ton gegen einen Dichterling gerichteten 10. Epode gilt es m.E. als gesichert, dass der Mythos in I, 15 polemisch zu verstehen ist. Da aber die Epode zugleich auch eine Parodie einer bestimmten Gedichtgattung darstellt [gemeint ist das Propemptikon], wagen wir noch den weiteren Schluß, daß auch die Ode parodischen Charakter habe.« 47 Ebd. 224. 48 Ebd. 221.
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vorkommende Wörter: pulvinar, lymphatam, expavit und combiberet. Auch diese vier Wörter lassen sich bei Vergil oder Ovid belegen, könnten also als poetisch gelten. Zugleich finden sich in carm. 1,37 aber auch prosaische Wörter. Wer wollte aber aus diesem Befund schließen, daß die Kleopatraode eine Eposparodie sei?49
9.4 Zur Intention der Ode Für die Gesamtdeutung der Ode konnte weder aus den möglichen Praetexten noch aus Horazens eigener 10. Epode ein entscheidender Impuls gewonnen werden. Mit welcher Intention hat Horaz diese Ode verfaßt, eine rein mythologische Erzählung ohne explizite Deutung und ohne Gegenwarts- oder persönlichen Bezug, ohne »Verankerungspunkt« im NichtMythischen, ohne Handlungsmaximen, »ein Umstand, der auch seine treuesten Anhänger enttäuscht«, wie Lefèvre glaubt?50 Alle vorgeschlagenen Deutungen stehen zwischen den beiden Polen »rein mythologische Erzählung« und »Allegorie auf die Zeitgeschichte«. Ein prominenter Vertreter der ersten Deutung ist zum Beispiel Eduard Fraenkel, der alle anderen Interpretationen sogar als »riskant« betrachtet und diese einzigartige Form der horazischen Lyrik als ein »frühes Experiment einer Art, die der reife Horaz nicht wiederholen wollte«, bezeichnet. Als Stütze für seine Deutung führt er eine entwaffnende Frage von Orelli/Baiter an: »Quid, quod amabat huiusmodi, ut ita dicam, picturas mythologicas [...]?«51 Die allegorische Deutung geht – soweit dies erkennbar ist – auf den vom Neuplatonismus stark beeinflußten Humanisten Cristoforo Landino zurück, der in seiner 1482 zu Florenz gedruckten Horazausgabe in carm. 1,15 eine Allegorie zu sehen glaubte.52 Neben vielen anderen sieht auch Lefèvre in 49 Ferner wurde der Vorwurf der Tapeinosis, also des Anwendens eines zu »niedrigen« Registers, auch gegen einige Aeneis-Stellen erhoben; vgl. dazu Williams (1968) 758. 50 Lefèvre (2000) 206. 51 Fraenkel (1957) 226. Gegen eine Allegorie sprechen sich ferner u.a. Helm (1935) 365 (»völlig verkehrte Deutung auf historische Persönlichkeiten der Zeit«), Smith (1968) 71, Nisbet/Hubbard (1970) 189f. und Romano (1991) 542 aus. – Porphyrio und die pseudacronischen Scholien deuten die Möglichkeit einer allegorischen Auffassung im Übrigen nicht einmal an. 52 Nach Fraenkel (1957) 223f., Anm. 2 lautet sein Argument: »Ego autem puto poetam nostrum ut in superiori ode per allegoriam Sextum Pompeium admonuerat: sic et hac admonere M. Antonium ne Cleopatrae amore ductus adversetur Octaviano«. Für Fraenkel (1957) 223f., Anm. 2 eine »Mißhandlung«. – Für eine Allegorie treten ein u.a. Campbell (1924) 110, Anm. 3, Sinko (1926) 150ff., Magariños (1936) 30ff., (1940) 79ff. und (1949) 179, Wili (1948) 119f., Collinge (1961) 42, Wilkinson (1968) 68f. (»half-allegorical technique«), Quinn (1985) 154, Kraggerud (1987) 47, Mir (1992) 32ff., der zusätzlich in Nereus eine Allegorie auf Horaz sieht, vorsichtig auch West (1995) 77, Cresci Marrone (1999) 111ff., die in Nereus eine Allegorie auf den in carm. 1,7 genannten Munatius Plancus sieht (ebd. 117ff.), und schließlich Lefèvre (2000) 208ff. –
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der Ode eine Allegorie und behauptet sogar: »Das Gleichnis ist vollkommen«.53 Zwischen diesen Polen gibt es Vertreter verschiedener Abstufungen, wie zum Beispiel Kiessling/Heinze, die zwar keine Allegorie, aber doch eine »Analogie der Charaktere und Schicksale ganz im allgemeinen« gegeben sehen, oder Syndikus, der in Paris eine Spiegelung einer Zeiterscheinung ins Mythische sieht und annimmt, Horaz habe seine üblichen Wertungen auf den Mythos übertragen.54 Aber was soll überhaupt in allegorischer Form durch die Prophezeiung an den Trojaner Paris, der die geraubte Griechin Helena mit sich führt, ausgedrückt sein? Sucht man in der Lebenszeit des Horaz nach einem berühmten Liebespaar unterschiedlicher Herkunft, das in militärische Aktionen verwickelt war, so wird man unweigerlich auf Antonius, den römischen Triumvirn und Bürgerkriegsgegner des Oktavian, und auf die ägyptische Prinzessin Kleopatra stoßen. Stellt also Paris ein Symbol oder eine Allegorie für Antonius dar, und ist Helena ein Symbol für Kleopatra? Ist demnach Diomedes eine Chiffre für Oktavian?55 9.4.1 Identische Personenkonstellation in Mythos und Zeitgeschichte? Daß die Grundkonstellation (ein Mann und eine Frau, die in Kampfhandlungen verstrickt sind) im Mythos die gleiche ist wie bei den historischen Personen Antonius und Kleopatra, wird man nicht bestreiten wollen. Doch um eine bewußte Bezugnahme als gewollt zu erweisen, bedarf es weiterer Indizien, zumal man in Horazens Ode einige Punkte finden kann, die sich nicht mit den historischen Fakten in Einklang bringen lassen: Die ethnischen Relationen sind bei Antonius genau umgekehrt. Seine eigenen Landsleute sind es, gegen die er kämpft, nachdem er eine Frau von einem anderen Kontinent für sich gewinnen konnte. Auch war Antonius ein tapferer Kämpfer im Gegensatz zum in der horazischen Darstellung feigen Paris.56 Oksala (1973) 128 tendiert zu »einer lockeren Gleichsetzung, die der Phantasie Spielraum lässt«; er attestiert der Ode aber »bedeutende[n] epische[n] Eigenwert« (ebd. 125) und summiert ebd.: »Die Geschichte belebt die Mythologie, die Mythologie die Geschichte«. 53 Lefèvre (2000) 214. 54 Kiessling/Heinze (1955) 75f., die aber dennoch ebd. auf S. 76 formulieren: »der Dichter prophezeit durch Nereus’ Mund den Fall des Antonius, den Sieg des Westens über den barbarischen Osten«; Syndikus (2001) I, 174. Ähnlich auch Cairns (1971a) 452, der nach Ausführungen zu einer drohenden moralischen Parallelisierung Troja/Rom formuliert: »There is no need of allegorising to import contemporary significance into Ode I, 15. It is already there.« 55 Brisson (1993) 161ff. interpretiert ebenfalls allegorisch, aber in eine andere Richtung: Er hält carm. 1,15 für eine Allegorie auf die »Blitzhochzeit« des Oktavian mit Livia. Auch Maleuvre (1992) 97 sieht im Paris von carm. 1,15 einen »prototyp[e] d’Auguste«. 56 Diese etwas einseitige Beschreibung des Paris verurteilen Syndikus (2001) I, 174 und Maurach (2001) 141 (»harte Schwarz-Weiss-Malerei, ja Karikaturhaftigkeit«). Gregor Maurach relativiert aber ebd. auf S. 141 in Anm. 33 seine Äußerungen mit einem Goethewort: »Wenn wir
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Antonius hat überdies Kleopatra nicht entführt; den antiken Berichten zufolge hat vielmehr sie ihn »geraubt«.57 Die entscheidende Frage formuliert Egil Kraggerud: »fino a que punto occorre che il mito corrisponda ad eventi reali perché si possa affermare che esso si riferisce a questi?« Bei dieser Frage, so Kraggerud, müsse man auch vom Wissen der Rezipienten und den zeitgenössischen Geschehnissen ausgehen; »affidare ogni responsabilità al testo, e soltanto a quello« sei ein weitverbreiteter Irrtum.58 Auf dieser Basis beobachtet er ein stretto collegamento tra mito e realtà che l’era contemporanea viene eroizzata ed elevata a dimensioni epiche. […] Un filologo, che due milleni separano dalle guerre civili di Roma, è forse in grado di trovare ulteriori discrepanze tra il mito e la realtà, mentre per il lettore antico sarà certamente stato più facile afferrare l’analogia più profonda.59
Die entgegengesetzte Ansicht jedoch vertritt Syndikus: »Auch müßte eine Allegorie doch wenigstens einige Ähnlichkeit mit dem gemeinten historischen Geschehen aufweisen.«60 9.4.2 Textimmanente Hinweise auf eine Allegorie? Lassen sich vielleicht im Text selbst Anhaltspunkte für eine allegorische Intention des Autors finden? Antonio Magariños schlägt in verschiedenen Aufsätzen vor, man könne in einigen Adjektiven der Ode Anspielungen auf die Zeitgeschichte sehen.61 So glaubt er, man dürfe das Adjektiv Iliacas (V. 36) als »römisch« auffassen, weil sich Rom in augusteischer Zeit seiner trojanischen Wurzeln entsonnen habe und Iliacus bei Statius und Silius Italicus vereinzelt eine Metonymie für Romanus sei. Daher kommt er zu folgendem Ergebnis:
hier Kritik äußern, ›so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien‹«. – Bei Homer hingegen ist Paris in einigen Passagen auch ein mutiger Kämpfer, vgl. z.B. Il. 6,503ff. 57 Plut. Antonius 25,1: [Ἀντώνιος] ἁλίσκεται δὲ τοῦτον τὸν τρόπον; 28,1: οὕτω δ’ οὖν [Κλεοπάτρα] τὸν Ἀντώνιον ἥρπασεν [...]. 58 Kraggerud (1987) 49f. 59 Ebd. 55; auf S. 56 bilanziert er ferner: »A coloro che erano addentro all’arte dell’allusione […] le laudes Caesaris et suorum erano più che evidenti.« 60 Syndikus (2001) I, 173. Vgl. auch Brisson (1993) 164: »l’application de ce poème à Antoine et Cléopâtre […] s’appuie sur des indices assez superficiels qui laissent dans l’ombre bien des détails du texte mal accordés à cette thèse. Pourtant, un poète alexandrin comme Horace, soucieux au plus haut point de la perfection de la forme, n’écrivait pas n’importe quoi et pesait chacun de ses mots.« 61 Magariños (1936) 34f., (1940) 79ff. und (1949) 179.
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En nuestra poesía es la frase Iliacas domus la que aproxima a Roma la lejana profecía de Nereo […] nos hablan bien claro de que los daños de su crimen van a caer sobre su propria patria: en el caso de Paris, sobre Troya; en el de Horacio, sobre Roma.62
Somit sieht also auch Magariños eine Allegorie in der vorliegenden Ode, aber keinen »Sieg des Westens über den barbarischen Osten«, wie Kiessling/Heinze geglaubt hatten,63 sondern eine Prophezeiung des Unglücks, welches Rom drohe. Für diese Deutung gibt es aber keinen Anhaltspunkt: Iliacus heißt an den beiden anderen Belegstellen bei Horaz (epist. 1,2,16 und ars 129) eindeutig »trojanisch« bzw. »mit der Ilias befaßt«. In einem Gedicht über ein Thema aus dem trojanischen Sagenkreis, in einer Prophezeiung an einen Trojaner wird man das ohne nähere Bestimmung verwendete Adjektiv Iliacus doch wohl am besten als »trojanisch« auffassen.64 Auch ein weiteres von Magariños angeführtes Argument für diese Interpretation vermag nicht zu überzeugen: Die funera Dardanae / genti könnten eine »velada referencia al pueblo romano« darstellen, weil ja Dardanos, einer der Urväter Trojas, aus Italien stamme, wie Vergil in der Aeneis (3,163ff.) darlege.65 Dies ist zwar sachlich richtig; doch auch das Adjektiv Dardanus bezieht sich an der einzigen anderen Belegstelle bei Horaz (carm. 4,6,7) inhaltlich auf Troja. Ferner muß man bedenken, daß in der vergilischen Darstellung nicht einmal die Trojaner selbst sich dieser Genealogie vor ihrer Flucht bewußt waren; erst nachdem Aeneas seinem Vater Anchises die Botschaft der Penaten mitgeteilt hat, erinnert dieser sich wieder (Aen. 3,184): nunc repeto haec generi portendere debita nostro [...].66 Einen Vergleichspunkt könnte vielleicht das Partizip coniurata (V. 7) darstellen. Im Zusammenhang damit sehen die Verfechter einer Allegorie die Eidesleistung Italiens für Oktavian, die im Vorfeld der Schlacht bei
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Magariños (1936) 36f. Vgl. Anm. 54. 64 Statius hingegen formuliert in den silvae (1,2,144f.) unmißverständlich: iam Thybridis arces / Iliacae [...]. – Magariños schwächt im Übrigen seine Argumentation selbst, wenn er in einem späteren Artikel (1949) auf S. 179 folgende Stelle aus Lukan anführt (10,60ff.): quantum inpulit Argos / Iliacasque domos facie Spartana nocenti, / Hesperios auxit tantum Cleopatra furores. Zwar wird Kleopatra hier tatsächlich in Beziehung zu Helena gesetzt; doch Lukan kann in diesem Kontext offensichtlich das Adjektiv Iliacus im Sinne von »trojanisch« wählen, ohne ein Mißverständnis befürchten zu müssen. 65 Magariños (1940) 80ff. 66 Zur Frage der Anspielung auf eher entlegene Traditionen/Texte vgl. auch die allgemeinen Ausführungen bei Fowler (1997) 15: »If intertextuality is a property of the literary system in this way, then it is public, not private, and whether we count a particular resemblance between two texts as sufficiently marked to count as an allusion is determined by the public competence of readers, not the private thoughts of writers.« Man muß nach Fowler also vom Verständnishorizont der Rezipienten aus beurteilen, ob eine Anspielung vorliegt. 63
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Actium stattfand.67 Hier besteht eine echte Parallele zwischen Mythos und Zeitgeschichte. Allerdings war die Eidesleistung der Griechen ein unverzichtbarer Bestandteil des Trojamythos,68 und gerade die Einigkeit der Griechen mußte Paris unbedingt gezeigt werden, um ihm die Bedrohlichkeit seiner Situation vor Augen zu führen. Es ist also ganz folgerichtig, daß Horaz durch Nereus’ Mund von dem gemeinsamen Eid der griechischen Anführer spricht; einen eindeutigen Hinweis auf Oktavian stellt dieses Element nicht dar. Ähnliches gilt für den Status des Antonius als eines adulter. Kraggerud sieht in Antonius einen adulter, weil Kleopatra schon vor der offiziellen Scheidung des Antonius von Oktavia seine Frau gewesen sei.69 Auch hier lassen sich zwar allgemeine Parallelen zwischen Mythos und Zeitgeschichte finden. Erstens aber ist im Mythos Helena eine verheiratete Frau, die der ledige Paris »entführt«; Antonius aber ist ein verheirateter Mann, der sich scheiden läßt. Zweitens mußte die verhängnisvolle Liebschaft zwischen Paris und Helena erwähnt werden, weil sie ein zentrales Movens innerhalb der mythischen Kausalkette darstellt: Erst durch diese Episode wurden die Ereignisse ausgelöst. Horaz kann also gar nicht umhin, diesen Punkt zu thematisieren, so daß man diese »Parallele« nicht überbewerten darf. Es ist ferner richtig, daß nach dem Sieg des Agrippa und des Oktavian bei Actium am 2. September 31 v.Chr. noch einige Zeit verging, bis Antonius und Kleopatra sich nach der Eroberung Alexandrias im August 30 v.Chr. beide das Leben nahmen und somit der Krieg endgültig beendet war. Aber auch hierin sollte man keine enge Parallele zu iracunda diem proferet Ilio [...] classis Achillei sehen: Der Aufschub für Troja hatte ganz andere zeitliche Dimensionen; er basierte auf einer emotionalen Entscheidung des Achill, und erst das Ende dieses Aufschubes brachte eine Wende im Kriegsverlauf. Ferner waren in Troja viel mehr Personen von der drohenden Vernichtung betroffen. Auch diese Parallele im weitesten Sinne kann also nicht als Stütze einer allegorischen Interpretation betrachtet werden. Lefèvre, für den ein Bezug auf Antonius und Kleopatra »absolut unvermeidbar« ist,70 führt ein kühnes Argument für eine Allegorie an, das er aus den im Gedicht genannten Griechen gewinnt: Er sieht in den in Erscheinung tretenden Griechen italische Vorfahren der Römer. Alle auftretenden Grie67
So z.B. Kraggerud (1987) 53, Anm. 30. Vgl. R. Gest. div. Aug. 25 (iuravit in mea verba tota Italia sponte sua et me be[lli], quo vici ad Actium, ducem deposcit) und Suet. Aug. 17,2 (gratiam fecit coniurandi cum tota Italia pro partibus suis). 68 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen zum homerischen Praetext von coniurata in Kap. 9.2.1. 69 Kraggerud (1987) 53ff. 70 Lefèvre (2000) 209. Seiner Meinung nach (ebd.) »bedürfte [es] im Gegenteil der Künstelei, ihn [= den Gegenwartsbezug] wegzuinterpretieren.«
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chen (mit Ausnahme von Sthenelos) haben, wie Lefèvre belegen kann, nach dem Trojanischen Krieg Städte in Italien gegründet oder sich dort eine Zeitlang aufgehalten.71 Daher glaubt er, formulieren zu können: »Antonius treten Römer gegenüber, Paris Griechen, doch diese sind spätere Italiker. So stehen bei Horaz Paris auch ›Römer‹ gegenüber. Das Gleichnis ist vollkommen.«72 Doch wie er selbst zugeben muß, ist diese Deutung auf Sthenelos nicht anwendbar. Außerdem sind diese Kämpfer zum Zeitpunkt des Trojanischen Krieges noch keine »Uritaliker«, noch keine »Stammväter der Römer«. Überdies tritt in carm. 4,9,13ff. ähnliches »Personal« (Teukros, Idomeneus, Sthenelos) auf, um die rühmende und verewigende Wirkung von Dichtung zu exemplifizieren. Horaz greift also auch in carm. 4,9 zu ähnlichen Personen, wenn er in ganz anderem Kontext über die Ereignisse vor Troja spricht, so daß man ihre Auswahl in carm. 1,15 nicht überinterpretieren sollte. Hier scheint aufgrund einer zugegeben scharfsinnigen Beobachtung ein zu weitgehender Schluß gezogen worden zu sein; hätte sich Horaz hier als poeta doctissimus zeigen wollen, hätte er wohl mit nur wenig Verständnis auf Seiten der Rezipienten rechnen dürfen. 9.4.3 Andere Indizien für eine Allegorie? Auch das gelegentlich angeführte »Argument des Kontexts bzw. der Reihenfolge« ist nicht stichhaltig:73 Bei carm. 1,14 ist man sich weitgehend einig, daß eine Allegorie vorliegt; meist sieht man in dem apostrophierten Schiff, das in neue Fluten gezogen wird, den Staat, der in neue Bürgerkriegsunruhen hineingerät. Allein dieser Umstand macht das nachfolgende Gedicht carm. 1,15 aber noch nicht ebenfalls zu einer Allegorie, zumal auch durch das wechselnde Metrum keine Zusammengehörigkeit signalisiert wird (wie etwa bei den sogenannten Römeroden).74
71 Ebd. 210ff. – Allerdings sind die angeführten Genealogien recht entlegen, wie z.B. auf den Seiten 210f.: »Aiax wird für Lokroi in Unteritalien in Anspruch genommen. [...] Er erscheint als Vater des Sagaris zu Sybaris und Banauros, des Eponymen der Inselgruppe der Banaurides (Ithacesiae) gegenüber Hipponion, und wohl auch in Aiacium auf Korsika.« 72 Ebd. 214. 73 Es wird z.B. vorgebracht von Sinko (1926) 154, Magariños (1940) 84, Kraggerud (1987) 56 und Cresci Marrone (1999) 112. Auch dieses Argument findet sich bereits bei Cristoforo Landino in seiner Einleitung zur Ode. 74 Santirocco (1986) 48 hingegen ist überzeugt, daß die Oden 1,14 und 1,15 zusammengehören; ob allerdings eine Allegorie vorliegt, und wenn ja, was für eine (politisch, erotisch, poetologisch oder philosophisch), läßt er offen: »The relationship between these two poems is so close, then, that any reasonable allegorical interpretation of the first will harmonize with the second.« – Zu carm. 1,14 vgl. z.B. Cucchiarelli (2004-05).
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Gelegentlich wird auch die Junorede aus carm. 3,3 als Indiz für eine Allegorie in carm. 1,15 angeführt.75 In dieser langen Rede legt Juno dar, unter welchen Umständen sie bereit sei, die Aufnahme des Romulus-Quirinus unter die Götter zu gestatten. Sie beginnt ihre Rede mit folgenden Worten (V. 18ff.): Ilion, Ilion / fatalis incestusque iudex / et mulier peregrina vertit // in pulverem, ex quo destituit deos / mercede pacta Laomedon, mihi / castaeque damnatum Minervae / cum populo et duce fraudulento, und in den Versen 40ff. formuliert sie: dum Priami Paridisque busto // insultet armentum et catulos ferae / celent inultae, stet Capitolium / fulgens triumphatisque possit / Roma ferox dare iura Medis. Die Unterschiede zwischen den beiden Darstellungen sind beträchtlich: Während in carm. 1,15 Juno gar nicht erwähnt wird, gibt ihr der Erzähler in carm. 3,3 Gelegenheit, die Dinge aus ihrer Sicht darzustellen. Ferner ist die Perspektive in carm. 3,3 viel weiter, und die eigentlichen Ursachen des Trojanischen Krieges werden genannt: das Parisurteil (V. 19: fatalis incestusque iudex) und der Betrug des Laomedon (V. 21f.: ex quo destituit deos / mercede pacta Laomedon). Überdies ist in carm. 3,3 das Schicksal der Stadt Rom, die in der imaginierten Situation gerade erst gegründet wurde, ausdrücklich aufs Engste mit der dauerhaften Vernichtung Trojas verknüpft. Ferner ist in carm. 3,3 auch von der zukünftigen Apotheose des Augustus die Rede: Durch die in den ersten beiden Strophen gerühmten Charaktereigenschaften sind Pollux und Herakles zu den arces igneae emporgestiegen, und in ihrer Mitte wird Augustus dereinst Nektar trinken (V. 9ff.). Diese Wesenszüge sind aber auch Bacchus und Romulus-Quirinus zu eigen, und von diesem Punkt nimmt die Rede der Juno ihren Ausgang. In carm. 3,3 sehen nun einige Interpreten in Paris und der mulier peregrina eine Allegorie auf Antonius und Kleopatra.76 Zwar ist auch in diesem Gedicht die allegorische Auffassung durchaus nicht evident oder gar zwingend; sie kann aber eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, weil der Mythos explizit eng mit Rom und Augustus verknüpft ist. Wenn man jedoch davon auf die Intention von carm. 1,15 schließen wollte, so hieße dies lediglich, eine Vermutung durch eine Vermutung zu stützen. Die Ode 3,3 kann also die Intention von carm. 1,15 nicht erhellen. Vielfach wird auch eine Stelle bei Plutarch zur Unterstützung der allegorischen Deutung herangezogen:
75 76
Zum Beispiel von Cresci Marrone (1999) 113. Vgl. z.B. Kiessling/Heinze (1955) 265 und Nisbet/Rudd (2004) 36ff.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
τέλος δ’ ὡς ὁ Πάρις ἐκ τῆς μάχης ἀποδρὰς εἰς τοὺς ἐκείνης κατεδύετο κόλπους· μᾶλλον δ’ ὁ μὲν Πάρις ἡττηθεὶς ἔφευγεν εἰς τὸν θάλαμον, Ἀντώνιος δὲ Κλεοπάτραν διώκων ἔφευγε καὶ προήκατο τὴν νίκην.77 Am Ende aber ist er wie Paris aus der Schlacht weggelaufen und in den Gewandbausch jener Frau eingetaucht; in höherem Maße aber unterlegen, floh Paris ins Schlafzimmer; Antonius aber floh, indem er Kleopatra eilends folgte, und gab so den Sieg preis.
Obgleich in einigen Darstellungen der Eindruck erweckt wird, Plutarch äußere sich zum vorliegenden Gedicht, ist dies ganz offensichtlich nicht der Fall. Das tertium comparationis bei Plutarch ist lediglich die Flucht aus der Schlacht; Antonius wird nicht in seiner ganzen Lebenssituation mit Paris verglichen, und auch zwischen Kleopatra und Helena werden keine Parallelen gezogen. Ferner legt Plutarch selbst nahe, daß man für Antonius durchaus auch andere mythische Figuren als »Modell« anführen könnte. So wird z.B. im dritten Kapitel der Synkrisis von Demetrios und Antonius der Römer mit Herakles im Dienste der Omphale verglichen,78 so daß dadurch die Anbindung von Antonius an Paris schon bei Plutarch selbst weniger zwingend wird. Plutarch ist also sicherlich kein ausreichender Gewährsmann für eine allegorische Deutung dieses Gedichtes.79 Aufgrund der Fülle der vorgestellten Argumente für eine Allegorie könnte der Eindruck entstehen, daß es deutliche Anzeichen für eine solche Deutung gebe. Dieser Eindruck muß aber stark relativiert werden, wenn man die Schwäche der einzelnen vermeintlichen Indizien bedenkt. Ein schwaches Argument wird nicht durch ein weiteres schwaches Argument stärker. Aus der Ode selbst läßt sich kein eindeutiger Zeitbezug gewinnen, und auch die äußeren Zeugnisse haben keine schlagende Beweiskraft. Horaz aber ist kein Rätselsteller, keiner, der gerne nur in Andeutungen seine Gegner attackiert oder die Zeitgeschichte oft in verschlüsselter Form darstellt: Aus den Epoden und den Satiren sind zahlreiche Belege dafür zu gewinnen, daß sich Horaz vor einem ὀνομαστὶ κωμῳδεῖν, einem namentlichen Verspotten und Attackieren, keineswegs scheut. Der Autor trifft in den Epoden und Oden durchaus klare Aussagen, wo er sich zur Zeitge-
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Plut. Antonius 90,5 (= Synkrisis Dem. et Ant. 3,5). Plut. Antonius 90,4 (= Synkrisis Dem. et Ant. 3,4): Ἀντώνιον δ’, ὥσπερ ἐν ταῖς γραφαῖς ὁρῶμεν τοῦ Ἡρακλέους τὴν Ὀμφάλην ὑφαιροῦσαν τὸ ῥόπαλον καὶ τὴν λεοντῆν ἀποδύουσαν, οὕτω πολλάκις Κλεοπάτρα παροπλίσασα καὶ καταθέλξασα συνέπεισεν ἀφέντα μεγάλας πράξεις ἐκ τῶν χειρῶν κτλ. – Zur Verarbeitung dieses Themas bei Terenz vgl. im I. Teil Kap. 5.6.4, S. 108. 79 Vgl. auch Brisson (1993) 164: »Et quand il évoque les rapports d’Antoine et de Cléopâtre, il n’assimile jamais ce couple à celui de Pâris et Hélène. L’assimilation suggérée par la fuite d’Antoine à Actium, qui n’intervient chez Plutarque qu’en fin de parcours, paraît un peu légère pour déchiffrer une figure symbolique d’Antoine dans le Pâris d’Horace.« 78
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schichte oder zu politischen Gestalten äußert.80 Dies belegt etwa die Ode 1,37, in der Kleopatra zwar nicht namentlich genannt ist, wo sie aber doch als todbringendes Ungeheuer (fatale monstrum, V. 21) beschimpft wird und ganz offen ihr »mannhafter« Tod gefeiert wird. Überdies ist zu bedenken, daß im Werk des Horaz Kleopatra als am Konflikt Oktavians mit Antonius Hauptschuldige dargestellt wird, wie epod. 9 und carm. 1,37 deutlich zeigen. Ebenso galt der Kampf gegen Antonius in der offiziellen Propaganda als bellum externum, als Kampf gegen einen Landesfeind, nicht als Bürgerkrieg. Diese Anschauung findet sich auch sehr ausgeprägt in der sonstigen augusteischen Dichtung.81 Da aber in carm. 1,15 Paris als alleinverantwortlich am Kriegsausbruch dargestellt wird und Helena gänzlich im Hintergrund bleibt, stünde diese Ode, wenn man sie allegorisch auffaßte und Antonius mit dem »Kriegsverursacher« Paris identifizierte, in einem auffälligen Kontrast zu den sonstigen Darstellungen des Themas in der augusteischen Literatur.82 Darf man deshalb ausschließen, daß Horaz an Antonius und Kleopatra gedacht haben könnte? Wohl nicht; aber diese Erkenntnis trägt nichts zu einem besseren Verständnis der Ode bei. Es gibt in diesem Gedicht keine Unklarheiten, die sich durch einen Blick auf die Historie erhellen ließen.83 Die Ode läßt sich auf der Ebene des bloßen Wortsinnes verstehen; dann handelt es sich um die lyrische Umsetzung eines epischen Themas, für die u.a. Homer, Alkaios und eventuell Bakchylides Praetexte geschaffen hatten. Aus dieser Perspektive betrachtet, besticht das Gedicht durch die kunstvolle Art, wie Anlaß, Vorgeschichte, Verlauf und Ende des Trojanischen Krieges sich im Brennpunkt der Nereusprophezeiung, in einem einzigen schicksalshaften Moment, konzentrieren. So goutieren unvoreingenommene Rezipienten carm. 1,15, und harsche Kritik an diesem Gedicht erscheint unangemessen.84 Die Zeitgenossen mögen bei der Lektüre der Ode an Antonius 80 So in den Epoden 7.9.16; in den Oden wird Augustus oftmals explizit gelobt und verherrlicht, z.B. in carm. 1,2.12.37; 3,14.25; 4,2.5.15. 81 Vgl. z.B. Wurzel (1941), Becher (1966) 43-58 und Schmude (1994) 184f. 82 Vgl. Schmude (1994) 185: »Mit dieser dominierenden und für die Ereignisse alleinverantwortlichen Kleopatra aller Augusteer ist aber die passive, stets im Hintergrund bleibende Helena der Ode I 15 ebensowenig vereinbar wie der Horazische Hauptübeltäter Paris mit einem Antonius, welcher als Person (literarisch) gänzlich verschont bleibt […]. Ohnedies ist die allegorische Deutung von Od. I 15 letztlich das Ergebnis einer Art von Interpretation, die von einem Gedicht – hier aufgrund einer ohne Not geforderten Konformität der Aussageabsicht – etwas verlangt, was der Dichter offenkundig gar nicht bieten will«. 83 Vgl. Smith (1968) 68: »is it relevant to us whether Horace thought of Antony while he was writing, if nothing in the text before us is explained by this hypothesis?« 84 So kritisieren etwa Nisbet/Hubbard (1970) 190: »The ode is more perserving than successful; [...] here at least his imagination seems to have been left untouched. [...] Our ode has [...] hardly anything to say.« Vgl. auch Campbell (1924) 110, Anm. 3: »If this [ode is not about the civil war], then the poem is meaningless and trivial«.
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II. Teil: Einzeluntersuchungen
und Kleopatra gedacht haben, was Horaz als »Nebenwirkung« billigend in Kauf genommen haben mag.85 Seine Primärintention bestand aber offenbar nicht in dieser Wirkung. Eine enge Parallelisierung Antonius/Paris, Kleopatra/Helena und Oktavian/Diomedes scheint Horaz nicht beabsichtigt zu haben.86
9.5 Fazit Mit carm. 1,15 hat Horaz offenbar eine Ode rein mythischen Inhaltes geschaffen, die keinen »Verankerungspunkt« im Nicht-Mythischen aufweist. Stofflich greift der Dichter vor allem auf konkrete Stellen der Ilias zurück. Im Brennpunkt der Nereusprophezeiung werden Ursache, Beginn, Verlauf und Ende des Trojanischen Krieges kunstvoll konzentriert. Doch sind auch einige Änderungen gegenüber dem homerischen Praetext zu verzeichnen. Überdies lassen sich in carm. 1,15 Anklänge an ein Gedicht des Alkaios finden, obgleich dieser auktorial erzählt und in seiner Darstellung auch Helena und ihrer Gefühlswelt breiten Raum gewährt. Ob der Kommentator Porphyrio zu Recht auf ein Werk des Bakchylides als Praetext verweist, läßt sich aufgrund der Überlieferungslage nicht mehr entscheiden. Berührungspunkte von carm. 1,15 mit der 10. Epode hingegen sind deutlich erkennbar; dennoch weisen beide Gedichte ganz unterschiedlichen Charakter auf. Für eine allegorische Lesart der Ode 1,15 ließen sich keine überzeugenden Argumente finden. Das Gedicht selbst bietet keine eindeutigen Indizien dafür. Einige seiner Elemente zeigen zwar gewisse allgemeine Parallelen zu den historischen Ereignissen, die mit Antonius, Kleopatra und Oktavian verknüpft sind. Sie alle aber haben auch eine »innermythische« Berechti85 Allerdings ist es nicht angebracht, mit dem Dichter zu rechten, wie es Kraggerud (1987) 51 tut: »non vi sarebbe stata da parte di Orazio un’imperdonabile dimostrazione di indifferenza, per non dire noncuranza, se egli, avendo scelto per la sua unica composizione puramente mitica un tema che presentava così strette analogie con avvenimenti del suo tempo, non avesse voluto riferirsi a questi? Se egli avesse desiderato evitare scientemente infelici associazioni, le possibilità sarebbero state innumerevoli. Orazio era infatti particolarmente sensibile a sfumature di questo genere.« Ähnlich Athanassaki (2002) 85f.: »Had he wanted to control even partially the field of interpretation so as to discourage allegorical reading, he could have easily found a way.« 86 Daß in carm. 1,6 die Taten Agrippas und Oktavians jedoch auf eine Stufe mit denen des Meriones und des Diomedes gestellt werden, ist für carm. 1,15 nicht von Belang. Zu diesem Gedicht und zur Funktion dieser mythischen Annäherung vgl. im II. Teil Kap. 5. – Man sollte also keine Parallele konstruieren zwischen Horaz und Giuseppe Verdi, der mit seiner myth-historischen Oper Nabucco im Jahre 1842 das italienische Volk zum Freiheitskampf gegen die österreichische Herrschaft entflammte, oder zwischen Horaz und Arthur Miller, der in The Crucible mittels eines im 17. Jh. spielenden Dramas Kritik an der zeitgenössischen McCarthy-Ära üben wollte. Solche Umwege mußte Horaz nicht gehen, um seine Stimme zur aktuellen Lage Roms zu erheben, zumal offene oder kaum verhüllte Kritik an Antonius ihm sicherlich nicht geschadet hätte.
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gung und sind unverzichtbare Bestandteile des Trojamythos. Aus ihrem Auftreten darf daher nicht unreflektiert auf eine zeitgeschichtliche Allegorie geschlossen werden. Überdies lassen sich einige Fakten des Mythos nicht mit den historischen Gegebenheiten in Einklang bringen. Auch Argumente, die auf andere Texte zurückgriffen (andere Horaz-Oden, Plutarchs Antoniusvita und sonstiges Material), konnten eine allegorische Interpretation nicht stützen. Daß die zeitgenössischen Rezipienten vielleicht dennoch durch Paris und Helena an Antonius und Kleopatra erinnert wurden, läßt sich gleichwohl nicht gänzlich ausschließen. Die Ode trägt jedoch ihren Bedeutungsgehalt in sich selbst. Offenbar verfolgte Horaz die Absicht, eine Szene aus dem Trojamythos in lyrischer Weise auszugestalten, wobei er Rückgriffe und Ausblicke auf andere Episoden in seine Darstellung integrierte. Das Fehlen einer allegorischen Ebene ist dabei aber kein Mangel und stellt auch kein Versäumnis des Verfassers dar, da ein literarisches Werk nicht unbedingt zeitgenössische Zustände oder Entwicklungen thematisieren resp. über sich hinausweisen muß, um als gelungen gelten zu dürfen.
III. Teil: Ergebnisse
1. Ergebnisse der einführenden Kapitel
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den Mythos in den Oden des Horaz zu untersuchen. Unter quantitativen und qualitativen Gesichtspunkten wurden gerade die Oden ausgewählt, da Horaz in dieser Gattung die meisten Mythologumena bietet und sie am vielfältigsten literarisch funktionalisiert. Nach einem Überblick über die neuere Forschung zum Mythos bei Horaz erschien es lohnend, mögliche Vorbilder bzw. Praetexte mythischer Elemente ebenso in die Betrachtung miteinzubeziehen wie ihre Formen und Funktionen, um zu interpretatorischen Erkenntnissen zu gelangen. Auf diesem Wege sollte eine Phänomenologie des horazischen Mythosgebrauchs in den Oden erarbeitet werden. Für die Analyse wurden neun Oden ausgewählt, die entweder in einem Gestaltungszusammenhang mehrere Mythologeme aufweisen und/oder in der Forschung besonders kontrovers diskutiert werden, so daß es möglich und ertragreich erschien, anhand dieser Gedichte ein facettenreiches Bild von den zentralen Praetexten, Formen und Funktionen horazischer Mythologumena zu zeichnen. Zunächst mußte erläutert werden, welcher Mythosbegriff dieser Arbeit zugrundeliegt. Speziell im Hinblick auf den römischen Mythos wurde folgende Definition erarbeitet: Mythen sind traditionelle Erzählungen über konkret benannte Götter oder Heroen oder Ursprünge von Gegebenheiten, Zuständen, Lebewesen und Dingen, auch Festen, die Sinnstrukturen bilden und eine komplexe, überindividuelle Wirklichkeitserfahrung verbalisieren; sie wollen verbindliche Aussagen über den Menschen und seine Lebenswelt treffen sowie Sinnangebote für das menschliche Dasein bereitstellen. Obgleich die Rezipienten dabei Mythen nicht unbedingt als historisch wahr oder real ansehen, betrachten sie diese aber doch als wahr im Sinne eines möglichen Wirklichkeitszuganges oder einer Wirklichkeitserklärung. Anschließend mußte die Frage der horazischen Religiosität in den Blick genommen werden. Dabei wurde schnell ersichtlich, daß dieses Problem nur auf einer umfassenden Materialbasis untersucht werden könnte, wobei aber auch dann das Problem der Identität des Sprechers mit dem historischen Horaz weiter bestünde. Da ein »archimedischer Punkt«, aus dem heraus man die Geisteshaltung des Autors bestimmen könnte, fehlt, wurde festgestellt, daß die einzelnen Gedichte jeweils für sich betrachtet werden müssen, und zwar möglichst ohne Prämissen, was die Religiosität ihres Autors betrifft.
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III. Teil: Ergebnisse
Überdies galt es zu überprüfen, ob die aus den Neuphilologien stammende Theorie der Intertextualität auch auf die horazischen Oden angewendet werden kann. Abgesehen davon, daß die lateinische Literatur schon aufgrund ihrer Genese Palimpsestcharakter im Sinne Gérard Genettes hat und eine »Literatur auf zweiter Stufe« darstellt, zeigte sich, daß sowohl auf Seiten des Autors als auch auf Seiten des Publikums alle Voraussetzungen für Intertextualitätsphänomene gegeben sind. Deshalb erschien es angemessen, statt der herkömmlichen Bezeichnung »Vorbild« die Termini »Praetext« bzw. »Referenztext« zu verwenden, allerdings nur dann, wenn in einem Text ein irgendwie konkret greifbarer Bezug auf einen anderen Text bzw. eine Textgruppe zu finden ist. Aus der Feststellung dieses Palimpsestcharakters der horazischen Oden und aus der Erkenntnis, daß sich Texte auch auf größere Textgruppen beziehen können, ergab sich die Notwendigkeit, den Mythosgebrauch ausgewählter vorhorazischer Dichter zusammenhängend zu skizzieren, um vor diesem Hintergrund Traditionslinien oder -brüche, Adaptionen, Gegenentwürfe oder sonstige Modifikationen im Mythosgebrauch des Horaz erkennen und angemessen beurteilen zu können. Im Einzelnen wurden Hesiod, Archilochos, Alkaios, Sappho, Pindar, die attische Tragödie, die antike Komödie und Kallimachos unter diesem Aspekt vorgestellt, ferner Lukrez, Catull und Vergil, wobei jeweils Horazens Verhältnis zu den betreffenden Dichtern bzw. Textgruppen kurz erläutert wurde. Nach diesem Überblick über den Mythos bei vorhorazischen Dichtern mußte ein Maßstab gefunden werden, anhand dessen man beurteilen kann, wieviel Freiheit sich Horaz beim Umgang mit Praetexten gestattet oder wie deutlich er Intertextualität markiert. Die Betrachtung einiger theoretischer Aussagen und eines praktischen Beispiels zeigten, daß Horaz Dichtern Eigenständigkeit nicht nur zubilligt, sondern sie sogar von ihnen fordert und auch selbst diesem Postulat gemäß verfährt. Daher erschien es angeraten, aus Abweichungen oder Übereinstimmungen eines horazischen Gedichtes von bzw. mit einem möglichen Praetext in einzelnen Wörtern oder Wendungen nicht allzu viel zu folgern, sondern die Entscheidung, ob ein Rekurs auf einen konkreten Referenztext vorliegt, jeweils erst nach einer eingehenden Einzelanalyse zu treffen.
2. Ergebnisse der Einzelinterpretationen
Kriterium für die Anordnung der untersuchten Gedichte war das vom Autor jeweils signalisierte Verhältnis der Mythologumena zum Nicht-Mythischen: Zu Anfang sollten Oden behandelt werden, in denen Horaz die Übergänge zwischen Mythischem und Nicht-Mythischem deutlich markiert; anschließend galt es, carmina in den Blick zu nehmen, in denen diese Grenze nicht mehr klar definiert werden kann. Schließlich sollten Gedichte den Gegenstand der Betrachtung bilden, in denen kaum noch Nicht-Mythisches erkennbar ist. Unter diesem Gesichtspunkt sollen nun noch einmal die zentralen Ergebnisse der Einzelinterpretationen dargestellt werden; hinsichtlich der Einzelergebnisse sei auf die ausführlichen Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel verwiesen. Die in symposialem Kontext angesiedelte Ode 1,27 weist verschiedene mythische Elemente auf. Es konnte gezeigt werden, daß in der Junktur verecundumque Bacchum und in dem Substantiv Venus Mischformen der mythischen Metonymie vorliegen. Die Identifikation der Geliebten mit der Charybdis bzw. der Chimaira dient, wie dargelegt wurde, dazu, die Ausprägung eines negativen Charakterzuges des Mädchens mittels eines mythischen Maßstabes bzw. Gradmessers zu illustrieren, wobei der Mythos zum Teil noch überboten wird. Das in der Ode geschilderte Geschehen aber, von dem aus Verbindungslinien zum Mythos gezogen werden, ist offenkundig in einer »imaginierten Realität« angesiedelt, d.h. in einem prinzipiell nichtmythischen Rahmen. Auch für carm. 1,16 wird man eine grundsätzlich nicht-mythische Ausgangslage vermuten dürfen. Die Analyse der Mythologumena ließ folgende Konstellation am stringentesten erscheinen: Ein Mädchen hat in seinem Zorn Spottverse geschrieben. Der Sprecher bittet um die Vernichtung dieser Verse und um Widerruf der darin geäußerten Schmähungen. Diesem Zwecke dienen die verwendeten mythischen Elemente: Die Abhandlung über die tristes irae warnt das Mädchen davor, seinen Zorn zu tristes irae werden zu lassen; dann nämlich könne ihm niemand mehr helfen. Das sich anschließende Aition, welches Prometheus als Menschenschöpfer zeigt und dabei mit der insani leonis vis diesem Mythos ein zuvor nicht bezeugtes Detail hinzufügt, schildert den Grund für den heftigen Zorn des Menschen und stellt diese Emotion als ein tierisches Erbe dar, das man unter Kontrolle halten muß. Neben diese Aitiologie tritt ferner das Schicksal des Thyestes als mythisches
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III. Teil: Ergebnisse
Beispiel: Ihm wurde seine anhaltende Rachsucht zum Verhängnis. Durch dieses mythische exemplum und ebenso durch den Verweis auf untergegangene Städte soll das Mädchen davon überzeugt werden, daß auch ihm tristes irae nur schaden können. Obgleich für die Argumentation auf die mythische Schöpfung des Menschen durch Prometheus zurückgegriffen wird, ist die Gedichtsituation dennoch offenbar im Nicht-Mythischen angesiedelt. Und auch wenn ein mythisches Beispiel herangezogen wird, bleiben die Bereiche »Mythos« und »imaginierte Situation« doch deutlich voneinander getrennt, obwohl aus dem Mythos allgemeine (ethische) Lehren gezogen werden können. In carm. 2,14 wird der abstrakte Gedanke, daß alle Menschen sterben müssen und daß der Tod unbezwingbar ist, durch mythische Bilder anschaulich und konkret. Plutons Macht über gewöhnliche Menschen wird anhand bekannter Unterweltsbüßer a maiore illustriert. Die Unterweltsbilder der Ode sind durch Details ausgestaltet, die sie betont düster und bedrückend erscheinen lassen. Wie – auch durch den Blick auf Motivparallelen in anderen Oden – plausibel gemacht werden konnte, stellen diese Bilder einen Gegenentwurf zum jetzigen Leben dar, der zumindest implizit protreptischen Absichten dient. Der Blick auf zeitgenössische Zeugnisse zeigte hierbei, daß diese Unterweltsbilder nicht als tatsächlich furchteinflößend empfunden wurden. In der Ode wird die Unterwelt zwar als realer Ort geschildert, aber als ein Ort, den man erst nach dem Tode aufsuchen muß. Zur mythischen Unterwelt als »zu einer anderen Welt« greift der Sprecher, um (implizit) ein nicht-mythisches Anliegen (den Aufruf zum Lebensgenuß) zu artikulieren. Mythos und »imaginierte Realität« bleiben dabei weitgehend voneinander geschieden. Bei der Untersuchung von carm. 2,7, einem Epibaterion an Horazens resp. des Sprechers Freund Pompeius, stand die Frage nach der Funktion der Verse 13f. im Vordergrund. Daß die Behauptung »Merkur hat mich aus der Schlacht von Philippi gerettet, indem er mich in einen Nebel einhüllte« nicht wörtlich verstanden werden soll, erschien evident, zumal Details der Darstellung deutlich auf Passagen der Ilias als Praetexte verweisen. Die Analyse des Kontextes ergab, daß sich um die Errettungsszene herum zahlreiche andere Bilder gruppieren, in denen Ereignisse nicht konkret benannt, sondern (meist metaphorisch) umschrieben werden, wobei auch hier partiell auf Referenztexte verwiesen wird. Dieser Befund ließ es unwahrscheinlich erscheinen, daß Horaz sich in dieser Ode auf autobiographischer oder symbolischer Ebene als Merkurs besonderer Schützling darstellen will. Vielmehr konnten trifftige Argumente dafür gefunden werden, daß Horaz sich der Merkurszene bedient, um sich über den tatsächlichen Hergang seiner Flucht aus Philippi in Schweigen hüllen zu können. Dieses Mythologumenon erfüllt demnach hier wohl verrätselnde, kaschierende Funktion. Dabei
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werden die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bzw. Mythos bewußt verwischt, so daß keine klare Trennung zwischen diesen Bereichen mehr möglich ist. In carm. 1,6 treten neben der an zentraler Position genannten Musa, welche eine Mittelstellung zwischen einer Metonymie für Begabung und einer mythischen Warnfigur einnimmt, Gestalten des Mythos auf, um einerseits Gattungsbezeichnungen anschaulich und lebendig werden zu lassen, andererseits, um durch ihre »Prominenz« die in ihrer Umgebung genannten Vorgänge und Personen erhabener und verehrungswürdiger erscheinen zu lassen. Dabei wird kein Unterschied zwischen historischen Personen resp. Ereignissen und denjenigen des Mythos gemacht. Gerade durch diese enge Parallelisierung von Zeitgeschichte und Mythos wird den zeitgenössischen Persönlichkeiten auf subtile Art höchstes Lob gespendet. Mythos und Realität lassen sich nicht klar trennen, und dies ist für die Intention des Gedichtes geradezu entscheidend. Obgleich Horaz in carm. 1,1 Mythologumena zu ganz unterschiedlichen Zwecken integriert hat, muß sich die Darstellung hier auf die abschließende »Homilie mit mythischen Wesen« konzentrieren: Die Chöre der Nymphen und Satyrn, die den Sprecher bzw. den lyricus vates Horaz vom Volk absondern, stellen die Andersartigkeit des Daseins eines lyrischen Dichters im Vergleich mit den übrigen Lebensbildern dar, ohne daß diese explizit abgewertet würden. Das Verweilen des Dichters im Musenhain wird hierbei als ebenso dauerhaft geschildert wie das Festhalten anderer Berufsgruppen an ihrer jeweiligen Tätigkeit. Obwohl der Aufenthalt im gelidum nemus und das Zusammensein mit Nymphen und Satyrn in anderen Kontexten thematisiert wird, um Kritik an dilettantischen Dichterlingen zu üben, hat das von Horaz in diesem Gedicht gezeichnete Bild seines eigenen Musenhaines nichts mit hohlen Schlagwörtern zu tun; das gelidum nemus mitsamt seinen Nymphen und Satyrn stellt ein durchaus ernstes Symbol der neuen horazischen lyrischen Poesie dar. In den Versen 29ff. kann man kaum noch zwischen Mythos und imaginierter Situation unterscheiden, da die »imaginierte Realität« in einem mythischen Rahmen situiert ist. Carm. 1,2 stellt heftige Unwetter als zweckgerichtete, von Juppiter selbst gewollte Geschehnisse dar, deren gewaltige Wirkung in einer Art von Innensicht der Menschen in Beziehung zu einer mythischen, die natürliche Ordnung völlig umkehrenden Überschwemmungskatastrophe gesetzt wird. In Horazens Konzeption werden diese Unwetter als eine Warnung Juppiters im Zusammenhang mit einem scelus (wohl dem der Bürgerkriege) gedeutet, was in offenkundigem Gegensatz zur Lehre des Lukrez und auch zu der von Horaz selbst in Satire 1,5 vertretenen Ansicht steht, Naturerscheinungen seien intentionslos. Zu den vom Göttervater gesandten Unwettern tritt die intentionale, auf Zerstörung gerichtete Aktion des Flußgottes Tiber, der
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III. Teil: Ergebnisse
Hauptorte des römischen Reiches zerstören will, um seiner Frau Ilia Genugtuung zu verschaffen, die wohl Rache für die sinnlosen Bürgerkriege, vielleicht auch für Caesars Ermordung wünscht. Klimatisch-meteorologische Ereignisse in der Gegenwart des Sprechers werden also mythologisch motiviert. Die Gestalt des uxorius Tiber sollte man zwar nicht forciert mit historischen Personen wie etwa Antonius parallelisieren; doch Tibers Verhalten als ultor ist übertrieben und findet nicht Juppiters Billigung. An die Beschreibung der bedrohlichen Lage schließt sich ein Gebet an, in dem mehrere Götter nacheinander angerufen werden, welche – mit Ausnahme von Mars – betont heiter und unkriegerisch dargestellt sind. Dieses Reihengebet endet mit einer Apostrophe an Merkur. In den letzten drei Strophen der Ode findet dann beinahe unmerklich eine Akzentverschiebung von Merkur zu Oktavian statt, wobei diese enge Anbindung Oktavians an Merkur, für die es jedenfalls kein verbreitetes offizielles Vorbild gab, ein exzeptionelles Lob für den Herrscher bedeutet. Doch dieses Lob wird nicht ohne (implizite) Verpflichtung ausgesprochen: Dadurch, daß Oktavian mit Merkur, dem italischen Gott der wirtschaftlichen Prosperität, der zugleich Friedensbringer ist, aber auch mit dem Zivilisationsstifter Hermes verglichen wird, verpflichtet die Ode Augustus zu einer am Wohl des Volkes orientierten, um Frieden und Stabilität bemühten Form der Herrschaft. Wenn also der Tiber ein negatives Beispiel war, so stellt Merkur nun ein durchweg positives Modell für den Princeps dar. Caesaris ultor läßt sich dieser Merkur-Augustus nur ungern nennen; je nach zugrundegelegter Datierung der Ode kann man hierin und in der mehrfachen Betonung des nimium-Themas im Zusammenhang mit dem Rachemotiv einen Aufruf des Sprechers zur Milde gegenüber früheren Bürgerkriegsgegnern sehen. In carm. 1,2 gehen also Mythos und Zeitgeschichte ineinander über; die Zeitgeschichte ist gewissermaßen das Ergebnis der Handlungen mythischer Akteure, wobei Kausalitäten auf der mythischen Ebene erkennbar werden. Der Mythos ist in dieser Ode ein integraler Bestandteil der imaginierten Situation. Für carm. 1,10, welches keinen erkennbaren »Verankerungspunkt« im Nicht-Mythischen hat, erschien folgende Deutung am plausibelsten: Die erzählten Mythologeme, die Horaz vor allem aus der griechischen Literatur eklektizistisch übernommen hat, sollen nicht die Macht des Gottes beweisen, um diesen für den Moment gnädig zu stimmen, sondern verewigen seine Leistungen und Taten, die (zumindest in der poetischen Fiktion) den Menschen Freude, Hilfe und Trost bringen. Das Hauptanliegen dieser Ode scheint die Präsentation eines römischen Hymnus auf Merkur in der metrischen Nachfolge des Alkaios, in der thematischen Nachfolge mehrerer griechischer Praetexte zu sein. Es handelt sich gleichsam um einen kunstvollen »Katechismus«, der Eigenschaften und Leistungen des Gottes unter Aus-
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blendung seiner italischen Seite als lucri repertor/conservator darstellt. Doch die Ode bietet nicht genügend Indizien dafür, daß man sie als einen Ausdruck persönlicher religiöser Verehrung, als ein Spiegelbild resp. Symbol des Horaz oder als einen Kommentar zur augusteischen Politik betrachten dürfte. Demnach weist dieses Gedicht tatsächlich keine »Brücke« zum Nicht-Mythischen auf, sondern konzentriert sich ganz auf mythische Sujets. Schließlich hat Horaz mit carm. 1,15 offenbar eine Ode rein mythischen Inhaltes geschaffen, die keinen »Verankerungspunkt« im Nicht-Mythischen aufweist. Stofflich greift der Dichter – abgesehen von einem Rekurs auf Alkaios und vielleicht auf Bakchylides – vor allem auf konkrete Stellen der Ilias zurück. Im Brennpunkt der Nereusprophezeiung werden Ursache, Beginn, Verlauf und Ende des Trojanischen Krieges kunstvoll konzentriert, wobei aber auch einige Änderungen gegenüber dem homerischen Praetext zu verzeichnen sind. Für eine allegorische Interpretation der Ode 1,15 ließen sich weder innerhalb noch außerhalb des Gedichtes überzeugende Argumente finden. Daß zeitgenössische Rezipienten vielleicht dennoch durch Paris und Helena an Antonius und Kleopatra erinnert wurden, läßt sich gleichwohl nicht gänzlich ausschließen. Horaz verfolgte dennoch offenkundig primär die Absicht, eine Szene aus dem Trojamythos in lyrischer Weise auszugestalten, wobei er auch Rückgriffe und Ausblicke auf andere Episoden in seine Darstellung integrierte. Die Mythologumena in carm. 1,15 werden allem Anschein nach um ihrer selbst willen erzählt.
3. Die zentralen Praetexte der untersuchten Oden
Im Rahmen der behandelten neun Oden rekurriert Horaz auf zahlreiche Praetexte; er rezipiert Motive und Details verschiedener älterer Dichter. Läßt man Horazens eventuelle, aber nicht dokumentierbare Benutzung mythographischer Lexika außer Acht, muß man in (ungefähr) chronologischer Reihenfolge folgende Autoren als Verfasser wichtiger horazischer Referenztexte namhaft machen: Es war Hesiod, der die Gesamtheit des mythischen Personals als ein wohlgeordnetes, wenn auch komplexes Gebilde dargestellt und somit das griechische Pantheon in seiner maßgeblichen Form »konstruiert« hat. Ebenso hat er als erster uns bekannter Dichter des Abendlandes in größerem Umfang mythische Elemente in didaktische Kontexte integriert. Überdies stellt das horazische Konzept eines ständigen Lebens im Kreise musischer Gottheiten (carm. 1,1) in letzter Instanz eine Weiterentwicklung der Berufungsszene dar, in der Hesiod von den Musen mit Gesang beschenkt wurde. Auch die Personifikation von Flüssen, wie sie in carm. 1,2 begegnet, und die ebenfalls dort auftretende Anschauung, die eigene Zeit sei der Endpunkt einer mythischen Entwicklung, finden sich bei Hesiod. Homer stellt epischen Stoff bereit; seine Ilias ist eindeutig ein Praetext für die horazische Gestaltung der Ereignisse im Trojanischen Krieg (carm. 1,6.15). Die Chorlyriker Alkman und Ibykos schildern im Anschluß an Homer epische Szenen, um diesen als Kontrast ihre eigene Dichtung gegenüberzustellen; eben dieses Verfahrens bedient sich auch Horaz in carm. 1,6. Über die Frage, ob Archilochos als »Vorbild« für die Rettung durch Hermes/Merkur (carm. 2,7) gelten kann oder ob Horaz doch direkt auf Homer zurückgriff, erlaubt der Erhaltungszustand des entsprechenden Archilochosgedichtes kein endgültiges Urteil; die erste Alternative erscheint jedoch sachlich (noch) nicht hinreichend fundiert. Bei Alkaios findet man mythische Hymnen vorgeprägt, aus denen Horaz Elemente übernommen hat (carm. 1,10), ohne sie aber komplett nachzudichten. Auch für carm. 1,15 könnte ein Alkaiosgedicht ein Praetext gewesen sein. Dadurch, daß Alkaios in seinen politischen Hymnen mitunter göttliche Hilfe erfleht, kann er ebenso wie Pindar, der sich in einer Anzahl von Gedichten der Päanform bedient, auf Horazens carm. 1,2 eingewirkt haben, wo auch an Aischylos erinnernde Formulierungen begegnen.
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Auf die an Helena gerichtete Palinodie des Stesichoros rekurriert Horaz allem Anschein nach nicht als Praetext. Er bzw. der Sprecher hat in carm. 1,16 keine opprobria ausgesprochen, die widerrufen werden müßten, und auch die Adressatin ist wohl eben nicht Helena. Das Kolon o matre pulchra filia pulchrior scheint kein aus Stesichoros genommenes Motto zu sein; vielmehr stellt es wohl ein Beispiel der vom Sprecher im selben Gedicht angekündigten mitia dar. Pindar hatte gezeigt, wie Mythos und Geschichte dichterisch kunstvoll verwoben werden können (carm. 1,2). Auch die Methode, Erhabenheit durch Vergleiche, Parallelisierungen bzw. Kontextualisierungen von Menschen oder Ereignissen mit Göttern oder Heroen zu schaffen (carm. 1,6), findet sich bei dem böotischen Chorlyriker vorgeprägt; allerdings lassen sich für die untersuchten Oden nur eher allgemeine Anklänge an Pindar feststellen. Die Tatsache aber, daß Pindar manchmal eigenwillige oder gar singuläre Versionen eines Mythos bietet, mag Horaz – als einer von mehreren Faktoren – dazu veranlaßt haben, einige Mythologumena mit ungewöhnlicher Akzentuierung zu präsentieren. Für die Umsetzung eines epischen Stoffes in eine lyrische Form, wie sie in carm. 1,15 vorliegt, lassen sich neben den bereits genannten Referenztexten noch weitere denkbare griechische Praetexte namhaft machen; Einflüsse eines konkreten Gedichtes des Bakchylides, wie sie von Porphyrio behauptet werden, sind aufgrund der Überlieferungslage nicht verifizierbar. Die bei den Komödiendichtern Anaxilas und Plautus vorkommenden Vergleiche von Frauen mit mythischen Ungeheuern könnte Horaz in carm. 1,27 direkt von dort übernommen haben; doch auch die Vermittlung durch allgemein verbreitete Redensarten ist möglich. Jedenfalls hat sich Horaz – anders als Anaxilas – mit der Nennung eines einzigen Monsters begnügt und hat es so vermieden, den komischen Effekt durch schiere Masse zu »überreizen«. Ferner ist in diesem Zusammenhang das Thema »Prometheus als Menschenschöpfer«, welches in der Neuen Komödie auffällig oft auftritt, mit Blick auf carm. 1,16 zu nennen. Kallimachos’ Interesse an Aitiologien von Dingen und Namen kann Horaz in allgemeiner Form beeinflußt haben; ein solches aitiologisches Interesse zeigen die Oden 1,1 und 1,16. Obgleich Horaz das Genos des Götterhymnus auch bei Kallimachos vorfand, lassen sich direkte Einflüsse in den untersuchten Oden nicht nachweisen. Die kallimacheische recusatio-Topik hingegen ist bei Horaz deutlich erkennbar, z.B. in carm. 1,6, wo mit einer Warnfigur operiert wird. Die Wirkung des Lukrez auf Horazens Oden kann man am besten mit einem »dennoch« charakterisieren. Am deutlichsten sieht man dies in carm. 1,2: Obwohl Lukrez in seinem Lehrgedicht dargelegt hatte, daß Wetterphänomene keinen theologischen Hintergrund haben, und obwohl sich Horaz
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III. Teil: Ergebnisse
an anderen Stellen seines Œuvres explizit zur Intentionslosigkeit von Wetterphänomenen bekennt, verleiht er in carm. 1,2 dennoch dem Unwetter, der Tiberüberschwemmung und der aktuellen politischen Situation eine theologische und zugleich mythische Dimension. Auch die detaillierte Ausgestaltung der Unterwelt in carm. 2,14 steht in deutlicher Opposition zu Lukrezens Auffassung, die mythische Unterwelt stelle letztlich eine Projektion diesseitiger Ängste ins Jenseits dar. Im Gegensatz zu Horazens rein mythischer Ode 1,15 sind bei Catull mythische Erzählungen, die – von der Hymnendichtung abgesehen – vor allem in den carmina maiora geboten werden, immer in irgendeiner Weise deutlich mit der Welt des Sprechers verknüpft, sei es wie in c. 64 kontrastierend oder wie in c. 68 parallelisierend. Der Neoteriker scheut sich hierbei nicht, Mythen so zu verändern, daß sie in dieser neuen Gestaltung seine Aussageabsicht erst richtig hervortreten lassen, ein Vorgehen, das man auch bei Horaz findet. Keinen Niederschlag in den untersuchten Oden haben jedoch die catullischen Vergleiche des Sprechers mit Heroinen gefunden. Schließlich ist Vergil zu nennen, dessen Finale des ersten GeorgicaBuches wohl das Ende von carm. 1,2 beeinflußt haben dürfte. Vor allem in den Georgica und in der Aeneis bietet Vergil zahlreiche Etymologien und Aitiologien, von denen sich eine Verbindungslinie zu den mythischen Toponymen in carm. 1,1 und zur Aitiologie in carm. 1,16 ziehen läßt. Ferner kann man die vergilische Herrscherpanegyrik durch eine »ehrende Kontextualisierung« am Anfang des dritten Georgica-Buches mutatis mutandis mit carm. 1,6 vergleichen. Blickt man auf die Detailgestaltung der horazischen Mythologumena, läßt sich eine Reihe von Fällen aufzeigen, in denen Horaz zu weniger bekannten Versionen eines Mythos greift: Daß Ilia die Frau des Tiber ist, wie es in carm. 1,2 dargestellt wird, ist eine von zwei verschiedenen Parallelversionen. Daß aber Prometheus in der Unterwelt und nicht an den Kaukasus geschmiedet seine Strafe verbüßt, wie es Horaz in carm. 2,13 behauptet, ist eine sonst kaum bezeugte Version des Mythos. Andernorts gar nicht belegt ist die in carm. 2,18 angedeutete Episode, Prometheus habe versucht, Charon zu bestechen, damit dieser ihn aus dem Totenreich zurückbringe. Auch daß jener Titan bei der Erschaffung des Menschen diesem die unbändige Wut des Löwen beigab und daß diese menschliche Charaktereigenschaft hierauf beruht, ist offenbar eine Innovation des Horaz. Dadurch, daß er das Gegenteil des Überlieferten behauptet, »korrigiert« Horaz traditionelle Mythologeme einerseits im Fall des Pegasos, der gegen die Chimaira kaum etwas ausrichten kann (carm. 1,27), andererseits im Fall des Orpheus (carm. 1,24): Selbst wenn man blandius als jener Thraker singen könnte, bliebe man dennoch machtlos gegenüber dem Tod. Auch bei Tithonos, der sonst gerade wegen seines ewigen Lebens in Altersqualen
3. Die zentralen Praetexte der untersuchten Oden
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bekannt ist, wird die Tradition gleichsam brüskiert, indem sein Sterben als Beispiel für die Unausweichlichkeit des Todes angeführt wird (carm. 1,28). Horaz bedient sich also – wie etwa auch Pindar und Catull – mehrfach abgelegener oder sogar erst von ihm selbst geschaffener Versionen eines Mythos oder eines mythischen Details, wenn diese Versionen für seine Intention und sein Argumentationsziel besser eingesetzt werden können als die traditionelle Überlieferung. Auch hierin zeigen sich die Eigenständigkeit gegenüber der Tradition und das Selbstbewußtsein des Dichters, der – seinen eigenen Vorschriften entsprechend – seinen Vorbildern und Praetexten nicht »sklavisch« folgt.
4. Formen von Mythologemen in den untersuchten Oden
In den untersuchten Oden treten Mythologumena in ganz unterschiedlichen Formen auf. Da ihre gedankliche und syntaktische Einbindung in das Gedichtganze in den jeweiligen Einzeluntersuchungen dargestellt wurde, sollen hier nur noch einmal die wichtigsten Formen genannt sein: Mythische Elemente können in Formen von Einzelwortanspielungen, mythischen Metonymien oder Toponymen auftreten. Ebenso findet man aber auch mythische Szenen, skizzenhaft hingeworfen oder mit »Liebe zum Detail« ausgestaltet, teilweise durch eine Art von Quellenangabe eingeleitet. Schließlich bestehen einige Oden anscheinend vollständig aus mythischen Elementen, d.h. sie weisen keinen »Verankerungspunkt« im Nicht-Mythischen auf. Ferner sind Mythologumena in den Oden offensichtlich nicht auf bestimmte Aussageformen beschränkt; sie können in Berichten, Erzählungen und argumentierenden Passagen ebenso auftreten wie z.B. in Gebeten. Die Kumulation ähnlicher Motive ließ sich in den untersuchten Oden gelegentlich beobachten, auch die Parallelisierung mythischer und nicht-mythischer Argumente bzw. Themen, wobei derartige Häufungen jedoch der gegenseitigen Affirmation, nicht etwa der Relativierung einer Aussage dienten.
5. Zentrale Funktionen von Mythen in den untersuchten Oden
Die Mythenfunktionen, welche in den untersuchten neun Oden gefunden wurden, sind vielfältig und lassen ein breites Spektrum von Verwendungsweisen erkennen: Schon in Bereichen, in denen mythologische Elemente sonst eher unauffällig sind, versteht es Horaz, mit ihrer Hilfe unerwartete Effekte zu erzielen: In carm. 1,1 wird durch die Auswahl bestimmter geographischer Bezeichnungen, für die mythische Gestalten eponym sind, die Stimmung bzw. der Argumentationsgang der Passage vertieft und intensiviert, indem durch die Nennung der Toponyme der entsprechende Mythos evoziert wird. Auch in der eigentlich geläufigen Verbindung sub Iove frigido in carm. 1,1 kann man einen subtilen Scherz sehen, da das Verhalten der sub Iove frigido agierenden Person in deutlichem Kontrast zu einer bekannten Eigenschaft Juppiters steht. Erwartungsgemäß finden auch mythische Metonymien als integraler Bestandteil der Dichtersprache Anwendung; sie treten aber zum Beispiel in carm. 1,27 im Falle von verecundumque Bacchum und Venus in »raffinierter« Vermengung von eigentlichem Gebrauch und mehreren metonymischen Ebenen auf (z.B. Venus = Göttin; Liebe; Geliebte). Doch neben diesen Erscheinungen lassen sich zahlreiche andere Funktionen von Mythen interpretatorisch herausarbeiten: Mythische Figuren können einen Maßstab bzw. Gradmesser für bestimmte menschliche Charaktereigenschaften und Fähigkeiten darstellen, indem eine Person hinsichtlich eines bestimmten Merkmals mit einer Figur des Mythos verglichen oder auch identifiziert wird (etwa in carm. 1,27). Diese Vergleiche, in denen manchmal der Mensch den Mythos noch überbietet – dann handelt es sich um einen hyperbolischen Vergleich –, können in humorvoller Weise vorgetragen werden, aber auch im Ton echter Anteilnahme, etwa wenn jemand in Trauergedichten mit Orpheus verglichen wird. Eine Verbindungslinie kann man von dieser Parallelisierung von Mythos und Gegenwart zu den mythischen Beispielen (unter anderem in carm. 1,16) ziehen, in denen aufgrund einer echten oder angenommenen Ähnlichkeit zwischen Mythos und imaginierter Gedichtsituation eine Handlungsanweisung erteilt wird, wobei zuweilen eine gewisse Komik nicht auszuschließen ist. Ebenfalls in carm. 1,16 liegt eine »Nachwirkung« eines Schöpfungsmythos auf die Gegenwart vor: Nach der dort vorgetragenen, offenbar von Horaz neu geschaffenen
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III. Teil: Ergebnisse
Mythenversion kann eine negative menschliche Charaktereigenschaft aitiologisch aus der »Schöpfungsgeschichte« des Menschen erklärt werden. Die Intention dieser Ausführungen ist jedoch nicht Apologie, sondern vielmehr Apotreptik gegenüber der Gesprächspartnerin. In carm. 2,14 veranschaulichen und intensivieren die entworfenen Unterweltsbilder den Gedanken an den drohenden Tod; hierbei werden die großen, in der Unterwelt büßenden Sünder und die schrecklichen Orte funktionalisiert, um Protreptik für den Lebensgenuß im Diesseits zu betreiben. Auch für poetologische Diskurse hat Horaz Mythologumena verwendet: Gestalten des Mythos treten auf, wenn über Dichtungsgattungen gesprochen wird, für deren Stoff sie typisch sind, wie z.B. Achill für das Epos oder Pelops für die Tragödie. Auf diese Weise machen sie die Darstellung poetologischer oder »literaturtheoretischer« Themen individueller, konkreter und somit interessanter (z.B. in carm. 1,6). Auch das Auftreten der Musen muß in diesem Kontext gesehen werden: Sie erscheinen teils als Warnfiguren (carm. 1,6), teils – besonders wenn sie mit poetologisch aussagekräftigen Adjektiven versehen sind – als Ausdruck für Begabung und Dichtungsart des Lyrikers. Somit stellt das Sprechen über die Musen auch einen Weg dar, um über die eigene Dichtung zu sprechen (z.B. in carm. 1,1 und 1,6). Diese Feststellung trifft teilweise auch für die Verbindung von Mythologie und Biographie zu: Wenn sich Horaz in carm. 1,1 als von mythischen Wesen umgeben schildert, drückt er dadurch die Divergenz des Dichterberufs gegenüber anderen Berufen und auch die Andersartigkeit der neuen lyrischen Dichtung gegenüber anderen Genera aus, wobei jedoch nicht zwangsläufig Selbstironie zu vermuten ist. Wenn Horaz allerdings über seine Erlebnisse in Philippi spricht und dabei behauptet, er sei von Merkur gleichsam wie ein homerischer Held entrückt worden (carm. 2,7), läßt er die wirklichen Ereignisse seltsam unausgesprochen und unbestimmt; durch diese vielleicht mit einem Lächeln vorgetragene Behauptung entledigt er sich der »Aufgabe«, sich konkret über einen Punkt seiner Biographie zu äußern. Der Mythos erfüllt hier eine kaschierende Funktion, und daß gerade der Diebesgott Merkur als »Retter« ausgewählt wurde, paßt gut zum »verstohlenen« Entkommen des Horaz aus Philippi. In carm. 1,6 wiederum bilden die Figuren des Epos und der Kriegsgott Mars innerhalb der recusatio einen Vergleichspunkt zur Beschreibung der Taten des Agrippa und des Augustus. Indem der Dichter beide Bereiche gleichberechtigt und gleichrangig nebeneinanderstellt, werden Agrippa und Augustus mittels einer comparatio paratactica auf die Höhe epischer Helden gehoben und erfahren dadurch eine große Ehrung. Eine Steigerung dieser »Ehrung durch den Kontext« liegt in carm. 1,2 vor: Hier läuft das Reihengebet, in dem verschiedene Götter um Hilfe angefleht werden, auf
5. Zentrale Funktionen von Mythen in den untersuchten Oden
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eine Apostrophe des Oktavian als Caesar zu, der – als eine Möglichkeit neben anderen – in engster Verbindung mit Merkur dargestellt ist. In diesem Gedicht finden sich ferner neben der übermenschlichen Ehrung durch die »Gesellschaft« der olympischen Götter und die »Identifikation« mit Merkur weitere mythische Elemente: Die Ereignisse in Geschichte und Gegenwart werden in dieser Ode als mythisch motiviert geschildert. Unzweifelhaft legen überdies die hier betonten Attribute und Eigenschaften Merkurs Oktavian bestimmte positive Verhaltensweisen nahe. Für den Merkurhymnus carm. 1,10 wurde festgestellt, daß die Mythologeme innerhalb des Hymnus als Elemente der Aretalogie des Gottes fungieren und ein umfangreiches Bild merkurischer Wesenszüge, Abenteuer und Kulturleistungen präsentieren. Der Hymnus insgesamt ist wohl nicht als Ausdruck einer echten persönlichen religiösen Empfindung anzusehen, sondern stellt eher eine Art Kompendium dar, indem er die wichtigsten Eigenschaften und Taten des Gottes in poetisch perfekter und eindringlicher Form darbietet. Der »Wert« und die »Bedeutung« der Ode liegen in ihrer poetischen Qualität und in der Schönheit und Vielfalt ihrer Bilder; der Hymnus weist aber anscheinend nicht in dem Sinne über sich selbst hinaus, daß er ein Vehikel für den Transport einer anderen (»versteckten«) Botschaft wäre. Schließlich ließ sich in carm. 1,15 noch eine weitere Mythenfunktion konstatieren: Diese Erzählung stellt offenbar ein Mythologumenon um seiner selbst willen dar.
6. Schlußbetrachtung
In weiten Teilen der Sekundärliteratur ist eine Tendenz festzustellen, Erkenntnisse, die man in anderen Untersuchungen über Horaz gewonnen hat, auch an seinen Mythologemen verifizieren bzw. jene ausgehend von diesen Erkenntnissen deuten zu wollen. Da Horaz ein humorvoller Autor sei, müsse z.B. auch die Nymphen- und Satyrnszene in carm. 1,1 ironisch gemeint sein; da Merkur an anderen Stellen als Helfer des Sprechers auftrete, müsse der Merkurhymnus carm. 1,10 Ausdruck eines persönlichen oder symbolischen Nahverhältnisses des Dichters zu diesem Gott sein. Um ein letztes Beispiel anzuführen: Da Horaz sich zuweilen politisch äußere, müsse man auch in carm. 1,15 eine Allegorie auf Ereignisse der Zeitgeschichte sehen, da die Ode sonst trivial sei und es in Horazens Œuvre ja kein weiteres rein mythisches Gedicht gebe, wenn man von den Hymnen absehe. Einige Interpreten sahen sich also genötigt, mythische Elemente mit Bedeutung »aufzuladen«, indem sie Verbindungen zu anderen Oden konstruierten oder der jeweiligen Ode etwas abverlangten, was diese offenkundig nicht bot. Die vorgelegten Einzelinterpretationen zeigten jedoch, daß dieses Vorgehen zumindest bei den untersuchten neun Oden nicht angemessen ist: Während Bilder von Nymphen und Satyrn in anderen Kontexten ironisierende Funktion haben, ist dies in carm. 1,1 allem Anschein nach nicht der Fall. Der Sprecher mag in einigen Oden in einer engen Beziehung zu Merkur stehen; Ode 1,10 gibt aber keine Hinweise darauf, daß dies für ihr Verständnis wesentlich wäre. Wenn Horaz auch in einigen Werken seine Stimme zur Lage Roms erhebt, können hierfür hinsichtlich carm. 1,15 keine überzeugenden Indizien angeführt werden. Das heißt jedoch nicht etwa im Umkehrschluß, daß Mythologumena nie mit der zeitgenössischen Politik im Zusammenhang stünden: In carm. 1,6 wird Agrippa und Augustus durch die Parallelisierung mit Gestalten des Mythos ein hohes Kompliment zuteil. In carm. 1,2 wird eine Notlage als Ergebnis mythischer Kausalitäten und Handlungen dargestellt, wobei der eng mit dem Gott Merkur verbundene Oktavian der von Juppiter gesandte Entsühner ist. In diesen Fällen sind Mythologeme also tatsächlich »Transportmittel« für politische Botschaften, doch dies wird in jenen Gedichten klar signalisiert. Auch kann der Mythos durchaus autobiographischen Zwecken dienen: In carm. 2,7 schildert Horaz resp. der Sprecher sein Entkommen aus der Schlacht von Philippi in Anlehnung an entsprechende Ilias-Szenen als Entrückung durch Merkur. Bei genauerer Betrachtung des Kontextes
6. Schlußbetrachtung
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aber erkennt man, daß der Mythos an dieser Stelle die wahren Gegebenheiten kaschiert. Es soll also keineswegs negiert werden, daß mythische Elemente in den Oden zuweilen u.a. politisch und/oder autobiographisch bedeutsam sind; man darf aber – wie sich gezeigt hat – nicht gewissermaßen a priori von einer generellen Anwendbarkeit dieser Ansätze resp. von der Ubiquität dieser Bedeutungsebenen ausgehen. Die Betrachtung möglicher Praetexte und horazischer Parallelstellen kann helfen, zu beurteilen, wie der Autor die jeweilige Gestaltung akzentuiert hat und welche anderen Möglichkeiten er gehabt hätte, seinen Stoff zu formen. Es begegnete aber kein Fall, in dem ein Gedicht nicht aus sich selbst heraus verständlich bzw. erklärbar gewesen wäre. Obwohl z.B. die Oden 1,2, 1,10 und 2,7 verschiedene Aussagen über Merkur machen und dabei unterschiedliche Seiten dieses Gottes betonen, erhalten die einzelnen carmina ihre Bedeutung dennoch nicht erst vor dem Hintergrund der jeweils anderen. Zu bedenken ist ferner, daß verschiedene Aussagen auch durch verschiedene personae hindurch gesprochen sein könnten; in diesem Fall könnten sie schwerlich zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt werden. Will man dem einzelnen Gedicht gerecht werden, so muß man es in seinen Eigenheiten zu verstehen versuchen. Diese Konzentration auf die einzelne Ode eröffnet ferner den Blick dafür, wie kunstvoll Horaz sich auch in kürzeren Passagen des Mythos bedient, zum Beispiel im Hinblick auf mythische Metonymien, hyperbolische Vergleiche, mythische Toponyme oder exempla, die zwar zum Repertoire der Dichtersprache gehören, aber dennoch, sofern sie raffiniert verwendet werden, die Aufmerksamkeit der Rezipienten erregen. Mit Blick auf die behandelten neun carmina kann man abschließend konstatieren, daß sich Praetexte, Formen und Funktionen von Mythen in den Oden des Horaz disparat darstellen: Einige Mythologumena rekurrieren auf deutlich erkennbare Praetexte; bei anderen erscheint die Entscheidung hierüber schwierig. In einigen Oden stellen Mythologeme einen Bereich dar, zu dem aus dem Nicht-Mythischen innerhalb der imaginierten Situation Brücken geschlagen werden; in anderen wiederum wird ausführlich erzählter Mythos ohne Anbindung an das Nicht-Mythische geboten. Schließlich üben die einzelnen mythischen Elemente ganz unterschiedliche Funktionen aus, die aber nicht ihrer Bedeutung nach skalierbar sind: Ein Hymnus z.B. muß nicht über sich hinausweisen und weitergehende Botschaften transportieren, um als Kunstwerk gelten zu dürfen, und es ist kein Versäumnis des Horaz, daß die Ode 1,15 keine Allegorie darstellt. Das Auftreten aller Mythologumena in den neun untersuchten Gedichten ist jeweils wohlbegründet; die einzelnen Facetten des horazischen Mythosgebrauches ergeben zusammen ein in sich stimmiges Ganzes.
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Literatur
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Naevius Remains of old Latin, newly edited and translated by E.H. Warmington, London u.a. 1961-67 (Nachdruck der Ausgabe von 1935-40). Novum Testamentum Novum Testamentum Graece post Eberhard et Erwin Nestle editione vicesima septima revisa communiter ediderunt Barbara et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, apparatum criticum novis curis elaboraverunt Barbara et Kurt Aland una cum Instituto Studiorum Textus novi Testamenti Monasterii Westphaliae, Stutgardiae 2001. Ovid P. Ovidius Naso, metamorphoses, edidit William S. Anderson, Monachii et Lipsiae 92001 [editio stereotypa editionis alterae [sic!] (1982)]. P. Ovidi Nasonis fastorum libri sex, recensuerunt E.H. Alton, D.E.W. Wormell, E. Courtney, Lispiae 31988. P. Ovidius Naso, carmina amatoria: amores, medicamina faciei femineae, ars amatoria, remedia amoris, edidit Antonio Ramírez de Verger, Monachii et Lipsiae 2003. Ovide, héroïdes, texte établi par Henri Bornecque et traduit par Marcel Prévost, troisième tirage, Paris 1965 (première édition 1928). P. Ovidi Nasonis tristia, edidit John Barrie Hall, Stutgardiae et Lipsiae 1995. Pausanias Pausaniae Graeciae descriptio, edidit Maria Helena Rocha-Pereira, 3 Bde., Leipzig 1973-81. Pherekydes Die Fragmente der griechischen Historiker (F GR HIST) von Felix Jacoby, Leiden 1923ff. Erster Teil, Neudruck A: Vorrede – Text – Addenda – Konkordanz, Nr. 1-63, Leiden 1957. Philemon Poetae comici Graeci (PCG), ediderunt Rudolf Kassel et C. Austin, Berolini et Novi Eboraci 1983ff. Philostrat Philostratus, imagines, Callistratus, descriptions, with an English translation by Arthur Fairbanks, London 1931. Pindar Pindari carmina cum fragmentis, pars I: epinicia, post Brunonem Snell edidit Hervicus Maehler, Leipzig, 8. Auflage 1987. Pindari carmina cum fragmentis, pars II: fragmenta, indices, edidit Hervicus Maehler, Leipzig 1989. Platon Platonis opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, Oxonii 1952-54 (Nachdruck der Ausgabe von 1901-07). Plautus T. Macci Plauti comoediae, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Wallace Martin Lindsay, Oxonii 1931 (Nachdruck der Ausgabe von 1903-04). Plinius d.Ä. Pliny, natural history, with an English translation, versch. Herausgeber, London u.a. 1938ff. Plutarch Plutarchi vitae parallelae, recognoverunt Cl. Lindskog et Konrat Ziegler, Lipsiae 1960ff. Propertius Sexti Properti elegiarum libri IV, edidit Paulus Fedeli, editio correctior, Stutgardiae et Lipsiae 1994.
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Quintilian M. Fabi Quintiliani institutionis oratoriae libri duodecim, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Michael Winterbottom, Oxonii 1970. Sallust C. Sallusti Crispi Catilina, Iugurtha, historiarum fragmenta selecta, appendix Sallustiana, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Leighton Durham Reynolds, Oxonii 1991. C. Sallusti Crispi historiarum fragmenta, edidit commentarioque instruxit Rodolphus Funari, Amsterdam 1996. Sappho Sappho et Alcaeus, fragmenta edidit Eva-Maria Voigt, Amsterdam 1971.
Scholia in Odysseam Scholia Graeca in Homeri Odysseam ex codicibus aucta et emendata, edidit Gulielmus Dindorfius, Oxonii 1855. Seneca L. Annaei Senecae tragoediae, incertorum auctorum Hercules [Oetaeus], Octavia, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Otto Zwierlein, Oxonii 1991 (Nachdruck der Ausgabe von 1986). L. Annaei Senecae ad Lucilium epistulae morales, recognovit et adnotatione critica instruxit L.D. Reynolds, Oxonii 1965. L. Annaei Senecae naturalium quaestionum libros recognovit Harry M. Hine, Stutgardiae et Lipsiae 1996. Servius resp. Servius auctus Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, recensuerunt Georgius Thilo et Hermannus Hagen, Hildesheim 1961 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1881). Silius Italicus Sili Italici Punica, edidit Iosephus Delz, Stutgardiae 1987. Simonides Poetae melici Graeci: Alcmanis, Stesichori, Ibyci, Anacreontis, Simonidis, Corinnae, poetarum minorum reliquias, carmina popularia et convivalia quaeque adespota feruntur, edidit Denys Lionel Page, Oxford 1962. Sophokles Sophoclis fabulae, recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt Hugh Lloyd-Jones et Nigel Guy Wilson, Oxonii 1990. Statius P. Papini Stati silvae, recensuit Aldus Marastoni, editio stereotypa correctior adiecto fragmento carminis de bello Germanico, Leipzig 1970. Stesichoros Poetarum Melicorum Graecorum fragmenta, Volumen I: Alcman, Stesichorus, Ibycus, post D.L. Page edidit Malcolm Davies, Oxonii 1991. Strabon Strabo, geography, with an English translation by Horace Leonard Jones, based on the unfinished version of John Robert Sitlington Sterrett, London u.a. 1966-2005 (Nachdruck der Ausgabe von 1917-32). Sueton C. Suetoni Tranquilli de vita Caesarum libri VIII, recensuit Maximilianus Ihm, Lipsiae 1907.
Literatur
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Tacitus P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, edidit Erich Koestermann, tom. 1: ab excessu divi Augusti, Lipsiae 1960; tom 2, fasc. 1: historiarum libri, Lipsiae 1961; tom. 2, fasc. 2: Germania, Agricola, dialogus de oratoribus, Lipsiae 1962. Terenz P. Terenti Afri comoediae, recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt Robert Kauer et Wallace Martin Lindsay; supplementa apparatus curavit Otto Skutsch, Oxonii 1985 (Nachdruck der Ausgabe von 1926, mit Zusätzen). Theognis Theognis, Ps.-Pythagoras, ps.-Phocylides, Chares, Anonymi Aulodia, fragmentum Teliambicum, post Ernestum Diehl iterum edidit Douglas Young, indicibus ad Theognidem adiectis, 2., verbesserte Auflage, Leipzig 1971. Tibull Tibulli aliorumque carminum libri tres, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Iohannes Percival Postgate, editio altera, Oxonii 1956 (Nachdruck der zweiten Auflage von 1915). Velleius Paterculus Vellei Paterculi historiarum ad M. Vinicium consulem libri duo, recognovit William S. Watt, Leipzig 1988. Vergil P. Vergili Maronis opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger Aubrey Baskerville Mynors, Oxonii 1986 (Nachdruck der Ausgabe von 1969). Xenophanes Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Hermann Diels, hrsg. von Walther Kranz, erster Band, Zürich u.a. 171974 (= unveränderter Nachdruck der 6. Auflage).
2. Lexika und Enzyklopädien ANRW = Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, hrsg. v. Hildegard Temporini und Wolfgang Haase (Fss. Joseph Vogt zum 75. Geburtstag), Berlin/New York 1972-96. DNP = Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider u.a., Stuttgart/Weimar 1996-2003. EO = Enciclopedia Oraziana, hrsg. v. Francesco Della Corte und Scevola Mariotti, Roma 1996-98. EV = Enciclopedia Virgiliana, hrsg. v. Francesco Della Corte, Roma 1984-91. Forcellini = Totius latinitatis lexicon, opera et studio Aegidii Forcellini lucubratum et in hac editione post tertiam auctam et emendatam a Josepho Furlanetoo novo ordine digestum amplissime auctum atque emendatum cura et studio Vincentii De-Vit, Prati 1858-75. HWPh = Historisches Wörterbuch der Philosophie, hsrg. v. Joachim Ritter u.a., Darmstadt 19712007. HWR = Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Darmstadt 1992ff. HrG = Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u.a., Stuttgart u.a. 1988-2001. LSJ = Henry George Liddell, A Greek-English Lexicon, compiled by Henry George Liddell and Robert Scott, revised and augmented throughout by Sir Henry Stuart Jones, with the assistance of Roderick McKenzie and with the co-operation of many schloras, Oxford 1973; revised supplement, edited by P.G.W. Glare with the assistance of A.A. Thompson, Oxford 1996.
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Literatur
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3. Sekundärliteratur Die Abkürzungen der Zeitschriften und Periodika folgen – soweit möglich – dem Abkürzungsverzeichnis der Année philologique. Mit (*) sind Arbeiten markiert, die nicht eingesehen werden konnten. Ackermann (1979) = Erich Ackermann, Lukrez und der Mythos (Palingenesia. 13), Wiesbaden 1979. Aczel (2004) = Richard Aczel, Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, 299-301. Ahern (1991) = Charles F. Ahern, Jr., Horace’s rewriting of Homer in carmen 1. 6, CPh 86 (1991), 301-314. Albert (1988) = Winfried Albert, Das mimetische Gedicht in der Antike. Geschichte und Typologie von den Anfängen bis in die augusteische Zeit (Beiträge zur Klassischen Philologie. 190), Frankfurt a.M. 1988. von Albrecht (2003) = Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, Bd. 1, München ³2003. – (2006) = Michael von Albrecht, Vergil. Bucolica, Georgica, Aeneis. Eine Einführung, Heidelberg 2006. Alexander (1942) = William H. Alexander, Relicta non bene parmula (Horace, Odes, 2.7.10), Transactions of the Royal Society of Canada, Section 2 (literature, history, archaeology etc.), 36, 1942, 13-24. – (1944) = William H. Alexander, What are teretis plagas? (Horace, Odes I,1,28), TAPhA 75, 1944, 15-19. – (1954) = William H. Alexander, Crambe repetita, Horace, Od. I,1,28, TAPhA 85, 1954, 145147. Alföldi (1951) = Andreas Alföldi, Die Geburt der kaiserlichen Bildsymbolik. Kleine Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte, MH 8, 1951, 190-215. Alfonsi (1954) = Luigi Alfonsi, Il nuovo Alceo e Orazio, Aegyptus 34, 1954, 215-219. Altheim (1933) = Franz Altheim, Römische Religionsgeschichte, Bd. III: Die Kaiserzeit, Leipzig/Berlin 1933.
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Literatur
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Indices
a) Antike Autoren Aischylos Ag. 870
100
Anaxilas fr. 22 fr. 22,8f. fr. 22,18f. fr. 22,30f.
102 169 167 171
Antiphanes fr. 50 fr. 189,1ff.
102 8813
205
Choeph. 165
335
Eum. 762ff. 978
9020 9022
Sept. 92ff.
Anaxandrides fr. 46,1ff.
28033
Alexis fr. 88 fr. 140 fr. 285,2f.
99 99 15930
Alkaios fr. 34 A fr. 38a fr. 42 fr. 45 fr. 129 fr. 283 fr. 308 fr. 327 fr. 338 fr. 342 fr. 346 fr. 350 fr. 401 B
61 62, 209f. 62f. 618 61 360ff. 61, 332f. 618 2735 4713 61f. 2266 230
Alkman fr. 1/1
24425
Anakreon fr. 3/348 fr. 11 b/356 fr. 36 b/381
128 156f. 230
Anthologia Palatina 7,42 26256 9,184 25518 Apollodor 1,48 2,63 3,193ff.
305149 9921 10025
Appian civ. 4,128ff.
2278
Arat 96ff.
13014
Archilochos fr. 1 fr. 5 fr. 12 fr. 18 fr. 26 fr. 91,14f. fr. 94 fr. 95 fr. 98 fr. 108 fr. 286 fr. 287
58 230 579 579 56f. 579 22920 229 578 578 57f. 5812
428
Indices
fr. 288 fr. 289 fr. 324
5812 5812 57
Aristophanes Ach. 326ff. 391
9,1451 b 21ff. 9, 1451 b 25f. 13, 1453 a 17ff. 14, 1453 b 22ff. 17, 1455 b 16ff.
864 8813 8914 289 287
955 9611
Äsop 108 228
17816 17816
Av. 100f. 508ff. 572ff. 582ff. 819 1246ff. 1249ff.
9714 9818 9818 9715 96 9716 9817
Athenaios 8,347e 10,427a
8914 15616
Eccl. 1029
9611
Lys. 153ff. 781f.
95 969
Nub. 398ff. 534ff. 1056f. 1063 1067 1079ff.
2747 96 959 958 958 959
Pax 228 752
10130 9610
Ran. 1491ff.
9333
Thesm. 445ff.
9333
Vesp. 173ff. 1029ff.
955 96
Aristoteles meteor. B 9, 369 a 10ff. 3612 poet. 6, 1450 b 7f.
9021
Auctor ad Herennium 1,8,13 31f. 4,49,62 195f. Augustinus civ. 4,27 6,5
3126 3126
conf. 8,12,28ff.
228
Augustus 50-54 F
4024
R. Gest. div. Aug. 2 28340 3 23023 7 297105 13 297106 21 298109 25 37167 29 299119 34 299122 35 297107 Bakchylides fr. 15 fr. 17 fr. 23 fr. 27
363 363 362 36338
Caesar civ. 1,5,2
35519
carmina Latina epigraphica 1528A 34080
429
Antike Autoren Cassius Dio 39,61,1f. 45,17,2ff. 47,42ff. 51,16,1 51,21,5ff. 53,1,3 53,11f. 53,20,1 53,20,1f. 53,33,5 54,1,1 54,3,3ff. 54,7,4ff. 54,25,2 55,10,10 55,22,3 60,5,3
297103 28967, 28969 2278 23023 298110 297105 299121 297103 299123 297103 297103 299117 299119 297103 297108 297103 298109
Catull 2b 6,4f. 6,15f. 12,1ff. 16,5f. 27,5ff. 34 58b 63 64 65,12ff. 68 68,137ff. 70,1f. 88 95,1ff. 95b,2 102
13332 16449 16449 1096 4128 16033 126ff. 133 130f. 128ff., 13435, 390 13332 131ff., 390 13332 133 133f. 1267 26363 133
Charisius p. 357,19
24535
Cicero ad Q. fr. 1,1,37
1778
Att. 14,14,2
2263
Brut. 37
32312
de orat. 1,33 3,163 3,167f.
32311 16861 15823
div. 2,113
32
Font. 48
28034
inv. 1,27 1,51 2,66
31 196 20419
Mil. 8
19695
nat. deor. 1,40 1,116 2,5
26045 20419 20417
opt. gen. 14
14812
orat. 183 228f.
25620 32312
part. 40
19695
Phil. 2,105
21466
Pis. 22
21466
Tusc. 1,10f. 1,34 1,37 1,48 1,116 2,40 4,33 4,71 4,77
203f. 13919 20417 20417 12329 25515 20733 26151 18025
comica fragmenta adespota fr. 1047 10443
430 Diphilos fr. 32
Indices 10337
Ennius ann. fr. XXXIX
285
frg. var. 17
14019
scaen. XVIII CLIII CLXI
35518, 35727 26044 10856
Eubulos fr. 115
102
Euripides El. 520ff. 737ff. 1268ff.
91 9127, 27617 9018
fr. 286b,7
91
Hel. 16ff. 1137ff.
9127 9230
Herc. 1341ff.
91f.
Hipp. 1102ff. 1423ff.
9230 9018
Iph. A. 793ff. 1080ff
9127 91
Med. 1381ff.
9018
Or. 804 988ff. 1072 1079
9022 25938 9022 9022
Herodot 1,12,2
561
1,65,3 2,53,2
32315 515
Hesiod erg. 5ff. 9f. 11ff. 40 42ff. 77ff. 105 106ff. 109ff. 220f. 263f. 276ff. 658f.
358 53 54 55 53 33564 53 13014 53 55 55 53 518
scut. 346
310166
theog. 22ff. 31ff. 81f. 133 136 233ff. 287ff. 309 321 325 337ff. 411ff. 535ff. 590 602ff. 617ff. 820ff. 938
26256 51 504, 11116 134 134 3505 20525 20525 16864 16970 134 54 52f. 54 55 52 52 3229
Hieronymus epist. 57,5,5
14812
Homer Il. 1,1f. 1,43ff. 2,286ff. 2,388ff. 2,786
240 577, 32523 358 358 33563
431
Antike Autoren 3,23ff. 3,45 3,54f. 3,55 3,374 3,380f. 3,382 3,430f. 3,440 3,443f. 3,449f. 4,27 4,164 4,399f. 4,405 4,507ff. 5,23 5,59ff. 5,186 5,314ff. 5,331 5,344f. 5,388 5,549 5,733ff. 5,745f. 5,825ff. 6,142 6,146 6,152ff. 6,153 6,154 6,162 6,180ff. 6,182 6,448 6,503ff. 6,512f. 9,158 9,678 11,751f. 13,322 13,626f. 14,192 14,198f. 14,520ff. 15,253ff. 15,307f. 16,94 16,200ff. 18,268ff. 18,434 20,33
359 359 358 359 312175 22915, 358 358 359 358 358 359 358 359 359 359 312175 22915 24423 28137 22915 35314 22915 310166 359 358 358 24423 20735 20944 17174 20944 209 17176 16864 17177 359 36956 35929 20420 240 22915 20735 358 312175 16450 358 312175 28137 312175 35725, 360 359 13017 312176
20,38ff. 20,321ff. 20,443f. 21,375f. 21,423ff. 21,465 24,29 24,55ff. 24,329ff. 24,468ff. 24,605f.
312175 22915 228 359 35315 20735 358 13017 335 327 577
Od. 1,1ff. 1,37f. 4,384ff. 8,222 8,335 9,6 9,49f. 11,367ff. 11,577 14,191ff. 23,275 24,1ff.
148f. 335 275 20735 33566 15510 359 5915 20526 58 28137 335
Homerische Hymnen 3,545f. 33353 4,514f. 33355 4,579f. 33353 5,218ff. 17071 5,292f. 33353 18,12 33566 29,8 33566 Horaz ars 29f. 53ff. 73f. 70 79 80ff. 83ff. 89 90f. 93f. 96 104 114ff. 129 133ff. 140ff.
27615 941 7210 1175 564, 18859 942 165 942 24114 942 18548 18548 942 370 147f. 148
432 144f. 153ff. 231 237f. 251f. 270ff. 275ff. 281 285ff. 289ff. 297f. 388 389f. 391ff. 393 397 406f. 408ff. 448 449 457ff. 462f. 466 carm. 1,1 1,1,3f. 1,2 1,2,19f. 1,2,42f. 1,2,52 1,3,8 1,3,34ff. 1,4,4 1,4,5ff. 1,4,9ff. 1,4,13ff. 1,4,17 1,6 1,6,2 1,6,5f. 1,6,9 1,6,10 1,7,3ff. 1,8,8 1,9,7f. 1,10 1,10,13ff. 1,11
Indices 16656 942 24846 942 18338 941, 942 862 942 1461 11011 266 1267 18864 3923 1174 26362 3923, 33046 26776 18968 25941 7422 7946 7946 4716, 251ff., 346, 388, 390, 393f., 396 244 133, 272ff., 345ff., 385f., 388ff., 394, 396 1994 32940, 346 346 135 7523 1174 26365 21674 21676 20522 238ff, 14021, 285, 37686, 385, 388ff., 394, 396 7739 17815 11014 35317 32416 27824 21469 38, 4714, 23440, 305149, 321ff., 386, 388, 395ff. 307157 34185
1,12,1ff. 1,14 1,15 1,15,1ff. 1,15,32 1,16 1,17 1,17,19 1,17,20 1,18 1,18,1 1,18,7ff. 1,18,16 1,19,4 1,19,10ff. 1,21 1,21,3f. 1,24 1,24,10 1,24,11f. 1,24,13 1,24,13ff. 1,24,15ff. 1,26 1,26,7ff. 1,27 1,28 1,28,7f. 1,28,15f. 1,29,14f. 1,30 1,31 1,31,1f. 1,32,4f. 1,32,5ff. 1,33 1,33,10ff. 1,34 1,34,12ff. 1,35 1,35,29f. 1,35,33ff. 1,35,38ff. 1,36 1,37 1,37,21 2,1 2,1,25ff. 2,1,29ff. 2,1,37ff. 2,1,40 2,2,1ff.
79f. 372 21, 4714, 184f., 349ff., 387ff., 395, 396f. 185 185 175ff., 383, 389f., 393 38, 184ff. 16654 7525 38 4713 159, 23649 16031 18968 24115 347100 26049 218f., 222f., 390 1353 1995 17073 17071 32836 153 153 153ff., 383, 389f., 393 41, 153, 197, 391 17071 20736 18337 343 26468, 347100 33046 27087 605 4716 16450 33ff. 50 293, 347100 29388 29389 29491 2266 366f. 375 4716, 1096, 293 28756 29491 24115 24846 21363
Antike Autoren 2,2,18f. 2,3,12 2,3,13ff. 2,3,17ff. 2,3,21ff. 2,3,24 2,3,25ff. 2,3,27f. 2,4 2,6 2,6,17f. 2,7 2,7,13f. 2,8,17 2,10,15ff. 2,11 2,11,13ff. 2,11,21ff. 2,12,1ff. 2,12,13ff. 2,13 2,13,37 2,14 2,16,34f. 2,16,38 2,16,39f. 2,17 2,17,3f. 2,17,5 2,17,10 2,17,13ff. 2,17,27ff. 2,18 2,18,32ff. 2,18,34ff. 2,18,36ff. 2,19 2,19,1ff. 2,19,25ff. 2,20,2f. 2,20,4 2,20,8 2,20,9ff. 2,20,10 2,20,13ff. 3,1,1 3,1,14ff. 3,1,17f. 3,2,14 3,3 3,3,18ff.
7315 1994 21469, 21674 21257, 21364 20736 20522 20736 20632 16551, 197 23650 2735 38, 4230, 225ff., 288, 340, 384, 388, 394, 396f. 339f. 1173 2735 16238 21469 23647 19796 24115 39, 605 217f., 222f., 34081, 390 179 198ff., 384, 390, 394 7315 11014 11010 39 25410 16757 1983 16966 339ff. 21676, 390 20736 179, 20632 20418 38, 26258, 347100 26466 15930 77 11010 20842 7737 239 17073 11010, 26363 20736, 21676 21676 20738 373 185, 1983
3,3,36 3,3,40ff. 3,3,46f. 3,3,61 3,3,69ff. 3,4 3,4,4 3,4,10 3,4,25ff. 3,4,28 3,4,42 3,4,53ff. 3,4,61ff. 3,4,65 3,4,69f. 3,4,77f. 3,5,48 3,7,5 3,7,13ff. 3,7,14f. 3,7,19f. 3,7,21f. 3,8 3,8,7 3,9 3,9,8 3,9,17f. 3,10,7f. 3,11 3,11,1f. 3,11,5f. 3,11,21 3,11,25ff. 3,12,8 3,13,1 3,14 3,14,17 3,15 3,15,2 3,16,1ff. 3,16,18f. 3,16,34f. 3,18 3,19 3,19,1ff. 3,19,18 3,19,26 3,21 3,22 3,24 3,24,25ff. 3,24,61f.
433 28756 18128 26362 23910 24115 21, 39 32416 35624 38, 228, 34081 25943 197 8050 80 21 197 20526 24320 18548 17174, 197, 3506 171 17174 25943 39 34081 41 17073 16450 2735 19, 219f., 222, 331, 343, 347100 330 342 20526 20843 17073 11014 2266, 37580 23647 366 189 26049 26878 15721 347100 16238 165 23649 18548 38, 347 347100 26572, 29390 29390 21363, 21364
434 3,25 3,25,4 3,25,8f. 3,26 3,27 3,27,73 3,28,5ff. 3,29 3,29,1 3,29,33ff. 3,30 3,30,10ff. 3,30,13f. 3,30,15f. 4,1 4,1,30 4,2 4,2,3f. 4,2,5ff. 4,2,9 4,2,15f. 4,2,17f. 4,2,25 4,2,27ff. 4,2,33ff. 4,3 4,3,1f. 4,3,13ff. 4,3,16 4,4 4,4,53ff. 4,4,70 4,5,33f. 4,6 4,6,2 4,6,7 4,6,23f. 4,6,27f. 4,6,44 4,7 4,7,5f. 4,7,14ff. 4,7,19f. 4,8 4,8,11ff. 4,8,31 4,9 4,9,1ff. 4,9,5ff. 4,9,13ff. 4,11,21 4,11,25ff. 4,11,26ff.
Indices 38, 347100 24321 23649 347100 19, 21 26049 21469, 25514 38, 303 2549 303138 346 603, 1265, 1479 4612, 27087 717 347100 18968 69ff. 25835 11115 33046 16966 25731 239 11013 24115 26468, 347100 50, 111 47, 25619 11010 8053 32416 1983 214 347100 20526 370 23910 33046, 33459 33459 220ff., 26258 26365 21674 21364 39 7212 18649 372 7212 7314, 25518 372 18548 197 16970
4,12,5ff. 4,12,28 4,14 4,15,1ff.
192, 32416 23649 8051 24115, 24219
carm. saec. 3f. 47f.
33459 7315
epist. 1,1 1,2,13 1,2,14 1,2,16 1,2,18ff. 1,2,27 1,2,42f. 1,2,60 1,2,62 1,3,9ff. 1,3,21 1,4 1,4,12f. 1,4,16 1,5,12ff. 1,7,35f. 1,12,22 1,15,17 1,16,35 1,16,67f. 1,18,19 1,18,111f. 1,19,1 1,19,3ff. 1,19,9 1,19,12ff. 1,19,19f. 1.19,22f. 1,19,23ff. 1,19,28f. 1,19,32f. 1,19,35ff. 1,19,39f. 1,20,4 2,1 2,1,57ff. 2,1,64ff. 2,1,161ff. 2,1,167 2,1,170ff. 2,1,216f. 2,1,219ff. 2,1,247
4716 19284 7210 370 14915 20735 1994, 32940 19180 19284 7949 77 4716 21676 39 21364 18337 2262 1175 1175 231 18548 39 941 268ff. 16033 1465 146f. 148 4612, 562, 18759 14710 14710 11010 4715 11010 4716 941 4612 862 11011 941 33046 26777 1353, 2383
435
Antike Autoren 2,1,250ff. 2,2,46ff. 2,2,47 2,2,58 2,2,59 2,2,77f. 2,2,91ff. 2,2,97 2,2,99f. 2,2,120f. 2,2,190ff.
24115 38, 228, 288 23235 1163 18859 266 4715 109f. 110 11115 21364
epod. 2 2,25 3,7f. 5,5f. 5,71 6,11ff. 7 7,1 7,3ff. 7,18ff. 9 10 10,1 11,13 13,12ff. 14,7 16 16,23 16,25ff. 16,63 17 17,8 17,13f. 17,21 17,42ff. 17,50ff. 17,68f.
41 1994 18651 186f. 16757 563 293 293 29491 293 375 363ff. 23910 16031 21676 18759 135 23910 27513 26362 18336, 186 18548, 3505 32732 18336 18546 187 209
sat. 1,1 1,1,11f. 1,1,13 1,1,38ff. 1,1,69f. 1,1,100 1,1,103 1,2,20ff. 1,2,105ff. 1,2,111 1,3,27
4716 26572 1163 17711 18232 18549 1163 941 111 189 1173
1,3,99ff. 1,3,107 1,3,111 1,3,113 1,4,1ff. 1,4,8ff. 1,4,11 1,4,13ff. 1,4,21ff. 1,4,23ff. 1,4,109 1,5,39ff. 1,5,93 1,5,97ff. 1,5,100ff. 1,5,101 1,6,1ff. 1,6,18 1,6,54f. 1,6,63 1,7,13 1,7,26f. 1,7,33ff. 1,8 1,9,22f. 1,9,23f. 1,9,70f. 1,9,78 1,10,18f. 1,10,32 1,10,36f. 1,10,42f. 1,10,43f. 1,10,44f. 1,10,50f. 1,10,56ff. 1,10,59ff. 1,10,67ff. 1,10,72ff. 1,10,78ff. 1,10,81ff. 1,10,84ff. 1,10,85 2,1,10ff. 2,1,21 2,1,27f. 2,1,34ff. 2,1,48 2,3 2,3,11f. 2,3,20f. 2,3,24ff. 2,3,122f.
32211 350 1173 26362 941 4612, 11011 11012 20736, 24217 11011 4715 1173 4716, 1353, 2383 2383 33, 345 343, 2748 118 2549 1175 1353, 2383 26362 19284 704 28864 41, 18651 2383 11011, 24217 33f. 23545 126 24219 24217 7210 2393 1353 11012 4612, 24217 704, 11011 11011 11011 11011 4715, 4716 1096 4716 24115 18439 26777 17817 18651 39 564, 941 20946 34182 21364
436
Indices
2,3,222 2,5 2,5,40f. 2,6 2,6,5 2,6,14f. 2,8,3 2,8,20f. 2,8,63f. 2,8,95
7525 39 24217 39 32940 111, 24216 25514 2383 2383 18651
Ibykos fr. 1/282
24425
Kallimachos epigr. 27,3 28,4 31 43
11014 26363 111 17388
fr. 1,9 1,11 1,17 1,17ff. 1,21ff. 1,23f. 1,24 1,37f. 22ff. 75,50ff. 230ff.
11011 11014 11010 24216 112 111f. 11014 111 113 113 113
h. 1,60ff. 1,79ff. 2,105ff. 2,107ff. 2,110ff. 3,66ff. 3,144ff. 3,170ff. 3,243 4,162ff. 4,249f. 6,65ff.
116 115 11010, 24319 11012 11013, 11115 115 11532 11429 11014 115 2398 11532
Livius 1,13,1f. 22,10,7 43,13,1
17710 2009 296102
Livius Andronicus carm. frg. 21 24219 Lukan 1,81f. 10,60ff.
18972 37064
Lukrez 1,28ff. 1,33ff. 1,62ff. 1,72ff. 1,80ff. 1,199ff. 1,473ff. 1,641f. 1,712 1,722 1,936ff. 2,291 2,472 2,505f. 2,515 2,600ff. 2,644f. 2,655ff. 2,700ff. 2,713 2,1064 2,1101ff. 3,1ff. 3,14ff. 3,20f. 3,69 3,221 3,894ff. 3,900f. 3,969 3,981 3,997 3,1018ff. 4,11ff. 4,35ff. 4,572ff. 4,580ff. 4,712 4,732ff. 5,1ff. 5,82 5,110ff. 5,119 5,164
123 28239 122 122 123 12227 122 12017 1173 12225 118 1175 11911 12225 1173 120 12016 119, 309163 122 1173 1173 2747 123 12223 1174 1175 11911 21154 21254 1175 125 1175 12226 118 12120 124 121 1174 122 123 118 121 122 1173
437
Antike Autoren 5,314 5,382 5,396ff. 5,878ff. 5,905f. 5,906 5,948f. 5,1161ff. 5,1185ff. 5,1194f. 5,1211 5,1218ff. 5,1236ff. 5,1304 6,58 6,95 6,99 6,117 6,154 6,246ff. 6,400ff. 6,417ff. 6,1076 6,1139
1175 1173 120 122 16864 17177 12225 120 121 12119 121 3612 3612 11911 118 1175 3612 1174 12225 3612 3612 2747 11911 12225
Macrobius Sat. 2,5,4 3,13,12f. 5,17,7
297108 21468 7844
Maecenas carm. frg. 3
4024
Martial 1,4,8 2,23,1f. 5,53 14,14
4128 1982 1753 23751
Menander Dysk. 151 153ff.
32315 10335
Epitr. 223ff. 325ff. 1123ff.
102f. 103 10439
fr. 508
10441
monost. 664
10442
Naevius fr. ex incertis fabulis 30a-c 15823, 15825 Novum Testamentum 1 Cor 15,32 21571 15,55 20420 Ovid am. 1,1,26 1,2,11f. 1,6,55 3,6,45ff.
24845 29074 7525 28647
ars 1,327ff. 2,408 3,329ff.
27617 18549 4817, 109
epist. 16,85f.
18545
fast. 1,589 2,127ff. 3,527 3,699f. 3,709f. 5,104 5,663 5,667
299122 297108 26046 28651 28340 33047 33044 32312
met. 1,211ff. 1,253ff. 1,583f. 1,682 2,252f. 2,704 2,834 4,368 5,48 6,146ff. 6,215ff. 7,49f. 8,235 8,627 14,291
27618 27510 27824 33044 2398 33044 33044 33044 7525 577 32523 23910 7419 33044 305
438
Indices
15,782ff. 15,868ff.
28967 298115
Pont. 1,9,36
25730
trist. 1,1,89f. 2,353ff. 2,391f. 2,396 4,10,49f.
7419, 25835 4128 27617 18549 4024
Pausanias 7,20,4
33354
Pherekydes F 119
20947
Philemon fr. 93,1ff. fr. 102
10444 10438
Philostrat imag. 1,26
33354
Pindar fr. 166 221 317
72 25724 7211
I. 8,36ff.
8473
11
N. 3,32ff. 3,52f. 4,33 4,62ff. 4,71f. 5,1ff. 5,25ff. 7,20f. 10,53
8473 8575 8157 8473 8157 7212 8473 8575 33564
O. 1,28ff. 1,35 1,36ff. 1,52f. 1,64
85 8474 84 84 83
1,86bff. 2,1 6,79 7 7,20f. 9 9,6 13,86ff. 13,90
85 79f. 33564 81 8575 81 2736 16970 7211
P. 1,15ff. 1,39 2,10 4 9 10,27 10,53f. 11,54
8015 80 33564 8157 81 25724 8262 8370
Platon apol. 40 E 7ff.
218
leg. I 637 E 2ff.
15717
Phaidr. 243 A 8ff.
19389
Prot. 320 C 8ff. 320 D 4f. 321 B 7f.
178 17712 17712
rep. II 378 D 7f.
16968
Plautus Amph. 1ff. 1131ff.
33566 105
Bacch. 155ff. 240ff. 275 470f. 808ff. 925ff. 943
10546 10648 106 167 10546 106 107
439
Antike Autoren Capt. 562f. 922
10651 32315
Men. 745ff.
10651
Merc. 469f. 488 493
10650 10652, 23443 106
Poen. 443f.
10859
Stich. 274f.
10649
10,3,22f. 12,4,1
26674 19695
Sallust hist. fr. 2,44
15512
Iug. 19,2
1351
Sappho fr. 1 fr. 16 fr. 44 fr. 58 fr. 102
64 66 67 66 16450
Seneca epist. 19,9
17921
nat. 2,12ff. 3,27,14
3611 27616
Plinius d.Ä. nat. 3,5,55 18,81,354
27824 3611
Plutarch Antonius 25,1 28,1 90,4 90,5
36957 36957 37478 37477
Thy. 1094f.
27617
Silius Italicus 13,409
23910
Caesar 69,4f.
28967
Simonides fr. 38/543
35727
Properz 1,9,6 2,3a,5ff. 2,10,25 2,13a,4 2,34,77 3,1,1f. 3,5,7f. 3,9,41 3,12 3,18,25ff. 3,22,22 4,1,64 4,5,61f.
16450 27513 517 517 517 1107 17919 18128 1982 20738 17710 1107 29074
Sophokles Ant. 676 944ff.
9022 9124
Oid. T. 159ff. 187
28033 28033
Phil. 448f. 625
21049 21049
Statius silv. 1,2,144f.
37064
Stesichoros fr. 192
19389
Quintilian inst. 8,6,44 10,1,61 10,1,98
12017 7844 24114
440
Indices
fr. 193
19389
1,9,48ff. 2,5,71f.
1753, 18971 28967
Strabon 14,2,19 C 657
1095
Sueton Aug. 10 14f. 17,2 22 28 29,2 58 71,2 89,3 93
28340 34697 37167 298110 299121 298109 297107 23751 24321 305146
Velleius Paterculus 2,86,2 23023 2,89,1 298110 2,89,3 299122
Iul. 6
28654
Tacitus ann. 1,49 11,10,2
29386 18972
dial. 9,6 12,1 12,6
26674 26674 24114
hist. 2,63,2
27722
Terenz Andr. 191ff. 333
108 18968
Eun. 41 583ff. 732 1026ff.
177 10756 108 108
Hec. 297
16967
Theognis 702ff.
21049
Tibull 1,4,33f.
29074
Vergil Aen. 1,33 1,257f. 1,279 1,286ff. 1,456ff. 1,488 1,496ff. 1,740f. 3,163ff. 3,184 3,657 4,69ff. 4,624ff. 6,20ff. 6,29 6,234ff. 6,295ff. 6,381ff. 6,450ff. 6,596f. 6,638f. 6,789ff. 6,792ff. 6,851ff. 7,1ff. 7,128f. 7,313ff. 7,759 8,73 8,185ff. 8,313 8,324ff. 8,675ff. 8,714 8,730 10,113 10,496ff. 10,501ff.
141 14338 141 14233 143 143 35520 32942 370 370 35520 35520 14130 143 143 14445 20632 14445 14130 20526 32835 14234 144 14129 14445 18972 14338 7525 15930 14126 145 14550 14234, 30546 298110 142 14338 14444 14443
ecl. 1,59ff. 2,32f. 4
27513 1369 135, 144
441
Antike Autoren 4,6 5 6,41 6,42 6,64ff. 6,69ff. 9,35f. 10,17f. 10,26f.
14448 135 144 21779 135f., 26256 516 24010 1369 136
georg. 1,7ff. 1,121ff. 1,24ff. 1,40 1,328f. 1,461ff. 1,466 1,469ff. 1,489ff. 1,498ff. 1,511ff.
136f. 137f., 145 317193 140 2746 314f 289 289 315 315 317
2,66 2,176 2,455ff. 2,473f. 2,490ff. 2,536ff. 3,3ff. 3,12ff. 3,19 3,89ff. 3,258ff. 4,315ff. 4,350 4,467ff. 4,471ff. 4,478ff.
13814 516 139 14449 1171 14449 139f. 139f. 13814 13917 139 140 7525 17071 21880 20839
Xenophanes 21 B 11 D./K. 21 B 12 D./K.
9128 9128
b) Namen und Sachen (in Auswahl) Achill
Actium aemulatio Aeneas Agrippa Aitiologie
Alkaios
Allegorese Allegorie Ambiguität Apollon
Archilochos Athene Augustus
Bacchus Beispiel, mythisches
Bellerophon Bienenmetapher
62f., 8370, 105f., 129f., 18548, 19284, 228, 248, 327, 3505, 356f., 359f., 371, 394 3715, 141, 279, 29597, 298ff., 304, 311, 344, 371 45, 74f., 78, 80, 146ff. 140ff., 220, 22915, 286, 305, 370 2262, 238ff., 285, 371, 37686, 394, 396 30, 61, 6416, 90, 112ff., 136, 138, 140, 144, 178f., 194, 271, 331, 383, 389f., 394 4612, 60ff., 110, 147, 217ff., 25518, 26151, 270, 375f., 382, 388 120, 349 61, 101, 131, 142, 232, 349, 367ff., 387, 396f. 18968, 2263, 259f. 56f., 69ff., 88, 90, 97, 111f., 114f., 12812, 13017, 136, 143, 176, 20843, 228f., 24219, 281, 284, 300, 304, 309ff., 325ff., 330, 332, 33459, 36562, 343, 347100 4612, 56ff., 147, 18859, 23128, 382, 388 57, 90, 19695, 22920, 24423, 312, 350, 353, 358, 365 4024, 4716, 78f., 142, 20315, 20843, 214, 2262, 23023, 23444, 238ff., 25831, 26777, 282ff., 321, 34081, 344ff., 373, 37580, 386, 394, 396 20, 38, 119, 128, 157ff., 174, 264, 304, 347100, 373 18f., 62, 66, 90f., 95, 102, 107, 133f., 138f., 16970, 180, 194, 195ff., 384, 391 72, 105, 169f. 75ff., 110
Biographismus Brutus Bürgerkrieg
Caesar Catull Charybdis Chimaira
3715, 41f., 564, 124, 131, 17387, 225ff., 338ff., 384 225ff., 23232, 23649, 288, 343 141, 227, 25410, 279f., 284, 286ff., 340, 346, 368, 372, 375, 385f. 279f., 283, 286ff., 298, 310167, 313, 386 603, 1096, 126ff., 382, 390f. 15613, 166ff., 174, 383 70, 72, 102, 168f., 171, 17282, 174, 383, 390
comparatio paratactica 246, 394 Danaiden Diana Diomedes
Dithyrambos Elegie Epibaterion Epos Erbe Etymologie
88, 144, 201, 208, 210, 219ff. 126ff., 13017, 221, 33459, 347100, 35520 20944, 2399, 24423, 24534, 247f., 355, 359, 360, 368, 376 71, 362f. 131, 135f., 162, 171, 174, 20843, 249, 290, 33047 237, 384 7840, 123, 139, 239ff., 366f., 394 178, 192, 202, 212f., 383 357, 144f., 20523, 208, 223, 2263, 239, 24219, 259f., 270f., 390
Fabel Faunus Flußmetapher
14811, 178, 194 38f., 340, 347100 110, 11115
Geryones Gradmesserfunktion
200, 205f., 210, 217, 222 96, 102, 10547, 108, 166ff., 174, 219, 25833, 365, 383, 393
Namen und Sachen Helena
Herakles
Hesiod Homer Honigbechergleichnis Hymnus
Ich, lyrisches Ikarus Ilia imitatio Intertextualität
63, 66, 9127, 95, 101, 184ff., 193ff, 349ff., 387, 389 31, 57f., 87, 91, 96f., 9713, 99, 105, 108, 113, 115, 132, 135, 13814, 14026, 16655, 18548, 205, 373f. 50ff., 99, 13811, 218, 262, 382, 388 502, 8914, 99, 218, 239, 24638, 25518, 388
Kleopatra Komödie Kult
Mars
Merkur
Metonymie 118f. 53f., 57, 61, 64f., 114ff., 126ff., 321ff., 386, 389, 395ff. 2536, 41 74f., 77, 258 277f., 285ff., 386, 390 45, 7421, 80, 146ff., 231 43ff., passim
Jullus Antonius 69ff. Juno 127, 133f., 143, 18128, 18547, 28756, 312, 318197, 373 Juppiter 35ff., 105, 107, 127, 133f., 137, 141ff., 176f., 2009, 235f., 254, 25831, 260, 271, 273ff., 322ff., 341, 364, 385f., 393, 396 Kallimachos
Marcus Antonius
705, 7633, 109ff., 26256, 26363, 382, 389 29282, 368ff. 94ff., 11531, 158, 174, 179, 194, 23443, 237, 382, 389 3126, 34, 4126, 61, 6416, 87, 90, 128, 175f., 304f., 335f., 338
Lorbeer Lukrez
51, 70f., 12225, 235f., 262 117ff., 13811, 21154, 25514, 274, 28339, 319, 382, 385, 389f.
Maecenas
4716, 135, 16757, 16966, 17921, 20315, 24947, 2514, 254ff., 26153, 299, 340ff.
443 691, 141f., 23023, 29282, 298, 300, 304f., 311171, 313f., 319, 368ff., 386f. 123, 201, 243f., 247f., 281f., 284f., 29494, 298, 309ff., 317, 319, 386, 394 38f., 105f., 111, 218f., 222, 224ff., 24216, 282ff., 304ff., 313f., 321ff., 384, 386, 388, 394f., 396f. 18, 108, 119, 157ff., 163ff., 174, 1765, 20738, 241f., 250, 260, 262, 27087, 271, 295, 369, 383, 385, 392f, 397
mimetisches Gedicht 114, 16137 Minerva 312, 373 Musen 38f., 51, 58, 136, 228, 252, 255, 262, 269ff., 34080, 388, 394 Musenhain 261ff., 385 Mythos, Definition von 27ff. Neptun
119, 137, 158, 165, 316, 318197
Odysseus
58f., 955, 107, 166f., 20735, 240, 28137, 354, 358 78, 139ff., 23023, 243ff., 279ff., 313ff., 344ff., 368ff., 386, 395f. 3923, 99, 140, 17071, 205, 218f., 344, 390, 393
Oktavian
Orpheus
Palinodie 185, 18651, 193ff., 389 Panegyrik 115, 139, 240, 24115, 390 Parallelisierung, mythische 106f., 132, 218, 247f., 250, 292, 306, 319, 38654, 376, 385f., 389f., 392, 396 persona 41, 130, 17384, 20215, 223, 225, 22711, 2384, 26153, 397 Philippi 38, 227ff., 279, 288, 311171, 315, 340, 384, 394, 396 Pindar 69ff., 11115, 239, 25518, 25724, 33561, 36238, 382, 388f., 391 Plautus 105ff., 35518, 389
444 Pluton Poetologie
Pompeius, Sextus Priamel Priamos Prodigien Prokne Prometheus
recusatio Reihengebet Religiosität Sappho Schwan Sisyphos Symbol
Symposion tenue Terenz theologia tripertita Theophilie Thraker Tiber
Indices 200ff. 51, 77, 109f., 114, 139, 218, 222ff., 24010, 245, 24846, 267ff., 271, 33979, 34081, 394 232 66, 251ff., 261ff., 269ff. 103, 22916, 325ff., 342f., 351 3715, 273ff., 314ff. 100, 133, 192, 32416 52ff., 87, 97, 104, 135, 177ff., 191ff., 217, 383f., 389f. 76f., 241ff., 250, 389, 394 280, 284, 310, 318f., 386, 394 33ff., 334, 337, 381 64ff., 147, 217ff., 25518, 270, 382 76f., 91, 238f. 62, 9611, 201, 203f., 209f., 222f. 42, 77, 123, 213, 233ff. 23648, 239, 267, 269, 271, 303, 318, 321, 342ff., 368ff., 384f., 387, 396 165, 153ff., 202, 236f. 110, 241f., 248 107f. 31 20, 4230, 230, 26154, 339 91, 100, 154, 15717, 16241, 23128, 236, 390 277ff., 285ff., 291ff., 385f., 390
Tithonos Tityos Toponyme, mythische
66, 12227, 17071, 390 200ff., 222
Tragödie
86ff., 98ff., 241, 246, 250, 382, 394
Troja
57f., 63, 66, 7210, 87, 99, 101, 132, 18128, 18548, 243f., 316, 32523, 326, 357, 360, 364f., 36854, 370ff.
Ungeheuer
52, 87, 101f., 122, 168ff., 219, 222, 305, 375 177, 273f., 296101, 302ff., 316, 318, 385, 390 37, 72, 99, 12120, 122, 13814, 14130, 179, 199ff., 328f., 342, 384, 390, 394
Unwetter Unterwelt
Varius Venus
Vergil Vesta Warnfigur Wein Weltalter Zeitgeschichte Zeus
144, 258f., 390, 392f., 397
7739, 18125, 238ff. 163ff., 236, 281, 284, 286, 309ff., 347100, 352f., 383, 393 40, 51, 117, 135ff., 17071, 17073, 26043, 314ff. 277, 280, 28651, 315 242, 250, 385, 389 61, 108, 154, 156, 158, 198, 201f., 213f., 227, 269 53, 13014, 144 86, 113, 250, 320, 367ff., 385f., 396 51ff., 57, 61, 65, 91f., 95, 97, 113, 115f., 13814, 16655, 22915, 2735, 305, 313, 322, 32628, 331, 333,335, 361
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Torsten Krämer
Anja Heilmann
Augustinus zwischen Wahrheit und Lüge
Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium
Literarische Tätigkeit als Selbstfindung und Selbsterfindung
Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von »De institutione musica«
Hypomnemata, Band 170. 2007. 252 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-25269-7
Diese Studie behandelt ausgewählte Werke, Briefe und Predigten, die auf die Position untersucht werden, die Augustin im Umgang mit der heidnisch-antiken Kulturtradition des lateinischen Westens und der christlichen Lebens- und Gedankenwelt eingenommen hat. Die Arbeit zeigt, dass der Kirchenvater nicht, wie häufig behauptet, nur einer der beiden Bildungswelten zugeordnet werden kann.
Hypomnemata, Band 171. 2007. 400 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-25268-0
Während sich die Forschung bislang besonders der mittelalterlichen und späteren Rezeption von Boethius’ »Einführung in die Musiktheorie« gewidmet hat, nutzt Heilmann erstmals den philosophisch-systematischen Hintergrund des spätantiken Musiklehrbuches für eine Erschließung des Textes.
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Ute Lucarelli
Philipp Fondermann
Exemplarische Vergangenheit
Kino im Kopf
Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit Hypomnemata, Band 172. 2007. II, 336 Seiten mit 1 Abbildung, gebunden ISBN 978-3-525-25281-9
Die frühe Kaiserzeit war infolge der vorangegangenen Bürgerkriege durch Instabilität sozialer Beziehungen geprägt. Vor diesem Hintergrund wird die unter Tiberius entstandene Exemplasammlung des Valerius Maximus in den Blick genommen.
Zur Visualisierung des Mythos in den »Metamorphosen« Ovids Hypomnemata, Band 173. 2008. 216 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-25282-6
Immer wieder sind gerade die Metamorphosen als besonders anschaulich empfunden worden. Die Sammlung und Klassifizierung der Visualisierungsstrategien des Textes zeigt, warum das so ist: Ovid setzt veranschaulichende Erzähltechniken in auffallender Quantität wie Qualität ein und macht die Metamorphosen so zu einem vorläufigen Höhepunkt lateinischsprachiger, visualisierender Erzählung.