Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive [1. Aufl.] 9783658312558, 9783658312565

Viele empirische Studien belegen den großen Einfluss, den das Verhalten von Lehrpersonen auf die Lernprozesse und die so

198 72 7MB

German Pages XVIII, 251 [265] Year 2021

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Einleitung (Vivien Wysujack)....Pages 1-4
LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung (Vivien Wysujack)....Pages 5-28
Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion (Vivien Wysujack)....Pages 29-69
Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile (Vivien Wysujack)....Pages 71-94
Fragestellung (Vivien Wysujack)....Pages 95-96
Methodisches Vorgehen (Vivien Wysujack)....Pages 97-118
Darstellung und Interpretation der Ergebnisse (Vivien Wysujack)....Pages 119-207
Diskussion (Vivien Wysujack)....Pages 209-223
Back Matter ....Pages 225-251
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Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive [1. Aufl.]
 9783658312558, 9783658312565

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Vivien Wysujack

Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive

Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive

Vivien Wysujack

Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive

Vivien Wysujack Vitacura, Región Metropolitana, Chile Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften, Vivien Wysujack, Datum der Disputation: 6.11.2019

ISBN 978-3-658-31255-8 ISBN 978-3-658-31256-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

Diese Arbeit war nicht ohne ein großes Maß an Unterstützung und Hilfe möglich. Im Folgenden möchte ich mich bei meinen Unterstützerinnen und Unterstützern bedanken. Prof. Dr. Natalie Fischer gilt mein besonderer Dank für die hervorragende Betreuung dieser Arbeit. Trotz räumlicher Distanz hat sie jede Phase der Dissertation intensiv begleitet, sich jederzeit für Fragen aller Art Zeit genommen und dabei nie ihren Humor verloren. Sie hat wesentlich zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen – knapp 200 E-Mails, fast 1.000 Dokumentkommentare und unzählige Telefonate und Treffen sprechen für sich. Prof. em. Dr. Annedore Prengel hat diese Arbeit auf den Weg gebracht, Vernetzungsarbeit geleistet und mir immer wieder neue, hilfreiche Austauschmöglichkeiten eröffnet. Durch ihre engagierte Unterstützung und ihre vielfältigen Anregungen habe ich immer wieder neue Impulse für diese Arbeit erhalten. Dafür möchte ich ihr von Herzen danken. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dr. Antje Zapf, die mir – trotz Ruhestand – in Fragen zur Planung, Durchführung und Auswertung des empirischen Forschungsprozesses stets unterstützend zur Seite stand. Dr. Stefanie Bosse, Jennifer Lambrecht und Dr. Jörg Link möchte ich für ihre zahlreichen hilfreichen Rückmeldungen und die Gelegenheit, methodische Schritte und Darstellungsmöglichkeiten zu erörtern, von Herzen danken. Weiterhin gilt mein Dank Laura Faber für die unkomplizierte und freundliche Bereitstellung von Daten. Dank gilt ferner dem Strittmatter-Gymnasium Gransee, vor allem Dr. Uwe Zietmann, für das Einräumen zeitlicher Möglichkeiten für die Erstellung meiner Dissertation in Zusammenwirken mit meiner Tätigkeit als Lehrerin. Meiner Kollegin Anika Paries danke ich besonders für ihre ausdauernde Unterstützung bei der Übersetzung von Teilen der Arbeit und ihre motivierenden Worte. Meiner Frau Grit danke ich von Herzen für unermüdliches Korrekturlesen, kreative Ansätze für die Arbeit und uneingeschränkte Unterstützung in allen Lebenslagen. Yuma, Anouk und Maja brachten mir stets Freude und Sonnenschein in herausfordernden Situationen. Meiner Mutter und meinen Großeltern danke ich für alles.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ....................................................................................................... 1 2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung ............................ 5 2.1 Einleitung und Begriffsklärung .............................................................. 5 2.2 Der Persönlichkeitsansatz ....................................................................... 5 2.3 Das Prozess-Produkt-Paradigma........................................................... 10 2.4 Der Expertise-Ansatz ............................................................................ 11 2.5 Der berufsbiografische Ansatz.............................................................. 14 2.6 Der strukturtheoretische Ansatz............................................................ 15 2.7 Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung............. 18 2.7.1 Das pädagogisch-psychologische Kompetenzmodell von Oser 19 2.7.2 Das Modell der LehrerInnenbildungsstandards nach Terhart .... 21 2.7.3 Das heuristische Modell professioneller Handlungskompetenz von Baumert und Kunter ........................................................... 22 2.7.4 Fazit zu den Kompetenzmodellen ............................................. 26 2.8 Fazit zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrpersonen 27 3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion ............................................ 29 3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess ... 29 3.1.1 Einleitung .................................................................................. 29 3.1.2 Das transaktionale Modell ......................................................... 30 3.1.3 Soziale Wahrnehmung in der Schule: Einstellungen und Rollenerwartungen .................................................................... 35 3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnenInteraktion............................................................................................. 46 3.2.1 Einleitung .................................................................................. 46 3.2.2 Sozialphilosophische Grundlagen nach Honneth (1992) ........... 46 3.2.3 Die Besonderheiten von Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung ...................................... 48 3.2.4 Anpassung der Anerkennungstheorie für die SchülerInnenLehrerInnen-Beziehung ............................................................. 49

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.2.5 Verletzungen in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung ...... 58 3.3 Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion ........................ 65 3.3.1 Einleitung .................................................................................. 65 3.3.2 Die Bindungstheorie .................................................................. 65 3.3.3 Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion ............. 66 3.3.4 Teaching through interactions-Ansatz ....................................... 67 3.4 Fazit zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen ................................ 69 4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile ......................................... 71 4.1 Einleitung und Begriffsklärung ............................................................ 71 4.2 Allgemeine Typologien von Lehrpersonen........................................... 72 4.2.1 Die Gesundheitstypen nach Schaarschmidt (2013) ................... 72 4.2.2 Die Berufsbiografietypen nach Hirsch (1990) ........................... 73 4.3 Typologien zum Verhalten der Lehrpersonen im Unterricht ................ 75 4.3.1 Typologie der Klassenführung nach Mayr, Eder und Fartacek (1991) und Mayr (2006) ............................................................ 75 4.3.2 Typologie zur Klassenführung nach Neuenschwander (2006) .. 78 4.3.3 Modell zum interpersonalen LehrerInnenverhalten nach Wubbels und Brekelmans (2005) ............................................................. 79 4.4 Die Erziehungsstilforschung ................................................................. 81 4.4.1 Begriffsklärung.......................................................................... 81 4.4.2 Typologische orientierte Konzepte ............................................ 82 4.4.3 Dimensionsorientierte Konzepte ............................................... 90 4.4.4 Kritik an der Erziehungsstilforschung ....................................... 93 5 Fragestellung ............................................................................................... 95 6 Methodisches Vorgehen .............................................................................. 97 6.1 Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“........................... 97 6.1.1 Das Forschungsnetzwerk „INTAKT“ ....................................... 97 6.1.2 Die Erhebung der Feldvignetten ................................................ 97 6.1.3 Vorstellung des Codesystems .................................................. 101 6.2 Stichprobe und Datenmaterial der vorliegenden Untersuchung ......... 106 6.3 Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse ......................... 111 6.3.1 Die Hierarchische Clusteranalyse ............................................ 111 6.3.2 Vorbereitung der Daten und Auswahl der Variablen .............. 111

Inhaltsverzeichnis

IX

6.3.3 Wahl des Ähnlichkeitsmaßes, der Clustermethode und der Standardisierung ...................................................................... 114 6.3.4 Entscheidung für die „richtige“ Lösung .................................. 116 7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse...................................... 119 7.1 Die Cluster im Überblick .................................................................... 119 7.2 Evaluation der Clusteranalyse ............................................................ 126 7.3 Analyse der einzelnen Cluster ............................................................ 132 7.3.1 Allgemeine Erklärungen .......................................................... 132 7.3.2 Cluster 1: Die Verletzenden .................................................... 134 7.3.3 Cluster 2: Die sehr Verletzenden ............................................. 142 7.3.4 Cluster 3: Die Netten ............................................................... 150 7.3.5 Cluster 4: Die Anerkennenden ................................................ 157 7.3.6 Cluster 5: Die fordernd Anerkennenden .................................. 164 7.3.7 Cluster 6: Die Ambivalenten ................................................... 172 7.3.8 Cluster 7: Die Laissez-faire-Lehrerinnen ................................ 180 7.3.9 Die drei Lehrkräfte, die keinem Cluster zugeordnet werden konnten .................................................................................... 187 7.3.10 Zusammenfassung der Ergebnisse........................................... 188 7.4 Signifikante Zusammenhänge zwischen Handlungsmustern und ausgewählten Parametern ................................................................... 190 7.4.1 Zusammenhänge zwischen den Hintergrundvariablen ............ 190 7.4.2 Männliche und weibliche Lehrkräfte ....................................... 197 7.4.3 Schulformen ............................................................................ 199 7.4.4 Staatliche und private Schulen ................................................ 201 7.4.5 Schulen mit einem besonderen pädagogischen Profil ............. 202 7.4.6 Einzugsgebiete......................................................................... 203 7.5 Die Kontinuität des Lehrkräftehandelns ............................................. 206 8 Diskussion .................................................................................................. 209 8.1 Zusammenfassung der Ergebnisse unter Berücksichtigung der theoretischen Fundierung und des Forschungsstands ......................... 209 8.2 Reflexion der wissenschaftlichen Methode ........................................ 217 8.3 Ausblick und Überlegungen zur schulpädagogischen Relevanz ........ 220 8.4 Fazit .................................................................................................... 223 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 225

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:

Modell professioneller Handlungskompetenz ........................... 25

Abbildung 2:

Transaktionales Modell nach Horst Nickel (1985). ................... 32

Abbildung 3:

Prozess der selbsterfüllten Prophezeiung nach Brophy und Good (1976), vereinfachte Darstellung. .................................... 40

Abbildung 4:

Modell des interpersonalen LehrerInnenverhaltens (Wubbels & Brekelmans, 2005, S. 9)......................................... 80

Abbildung 5:

Darstellung der Erziehungsstile nach Prillwitz und Birth (Lukesch, 1975, S. 54)............................................................... 86

Abbildung 6:

Erziehungsstile nach Tausch und Tausch (1971, S. 172). ......... 92

Abbildung 7:

Addition der Anerkennungsgrade und Interaktionsformen des „INTAKT“-Datensatzes. ................................................... 112

Abbildung 8:

Lösungen nach dem Elbow-Kriterium. ................................... 117

Abbildung 9:

Die Ausprägung der Anerkennungsgrade bei den einzelnen Clustern. .................................................................. 122

Abbildung 10: Die Ausprägung der anerkennenden Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern....................................................... 123 Abbildung 11: Die Ausprägung der verletzenden Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern. ........................................................... 124 Abbildung 12: Die Ausprägung der ambivalenten Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern. ........................................................... 125 Abbildung 13: Streudiagramm der Cluster mit Mittelwert und Lehrkräften. ............................................................................. 131 Abbildung 14: Verteilung der 242 Lehrpersonen auf Cluster bzw. "Ausreißer". ............................................................................. 189

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:

Typologie der Klassenführung nach Neuenschwander (2006). ....................................................................................... 78

Tabelle 2:

Beobachtungsbogen, vgl. Prengel et al., 2012, S. 5................... 98

Tabelle 3:

Anerkennungsgrade mit Codierung, Beschreibung und Beispiel, vgl. Prengel et al., 2012, S. 8. ..................................... 99

Tabelle 4:

Codesystem des „INTAKT“-Teams mit Subcodes. ................ 102

Tabelle 5:

Deskriptive Statistik aller Variablen (Prozentangaben)........... 109

Tabelle 6:

Übersicht über reduzierten Variablen. ..................................... 113

Tabelle 7:

Zuordnungsübersicht der hierarchischen Clusteranalyse der 242 Objekte unter Nutzung des Distanzmaßes der quadrierten euklidischen Distanz und des Single-LinkageVerfahrens als Clusteralgorithmus zur Ausreißerermittlung................................................................. 115

Tabelle 8:

Verlauf der Fehlerquadratsumme (FQS) mit zunehmender Fusionierung der letzten 15 Cluster. ........................................ 116

Tabelle 9:

Clusterübersicht mit Mittelwerten der Prozentangaben von Anerkennungsgrad und Interaktions-formen. ................... 120

Tabelle 10:

Gleichheitstest der Gruppenmittelwerte: Test auf signifikante Mittelwertunterschiede. ....................................... 127

Tabelle 11:

Klassifizierungsergebnisse: Zuordnungsergebnisse und tatsächliche Zugehörigkeiten der Cluster. ............................... 129

Tabelle 12:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 1. ............ 135

Tabelle 13:

Feldvignette, Lehrerin 71, Szene 1505, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule aus einem Einzugsgebiet mit bildungsnahem bzw. hohem sozioökomischen Status....... 138

Tabelle 14:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 2. ............ 143

XII

Tabellenverzeichnis

Tabelle 15:

Feldvignette, Lehrerin 6, Szene 10, Mathematikunterricht, Klasse 3, staatliche Grundschule, unbekanntes Einzugsgebiet. ......................................................................... 147

Tabelle 16:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 3. ............ 151

Tabelle 17:

Feldvignette, Lehrerin 34, Szene 110, Deutschunterricht, jahrgangsübergreifender Unterricht der Klassen 1-3, staatliche Grundschule in Einzugsgebiet mit niedrigem sozioökonomischem Status. .................................................... 154

Tabelle 18:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 4. ............ 158

Tabelle 19:

Feldvignette, Lehrerin 26, Szene 316, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule mit Einzugsgebiet mit niedrigem sozioökonomischem Status. ................................... 161

Tabelle 20:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 5. ............ 165

Tabelle 21:

Feldvignette, Lehrerin 133, Szene 100, Mathematikunterricht, Klasse 2, private Grundschule mit internationalem Schulprofil und Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status. ............................... 168

Tabelle 22:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 6. ............ 173

Tabelle 23:

Feldvignette, Lehrerin 1, Szene 7, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule, unbekanntes Einzugsgebiet. ......................................................................... 176

Tabelle 24:

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 7. ............ 181

Tabelle 25:

Feldvignette, Lehrerin 170, Szene 569, Englischunterricht, Klasse 2, staatliche Grundschule aus Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status. ...................................................................................... 184

Tabelle 26:

Überblick über Zusammenhänge zwischen den Hintergrundvariablen............................................................... 191

Tabelle 27:

Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen den Variablen Schulform und Geschlecht der Lehrperson. ............................ 193

Tabelle 28:

Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen den Variablen Schulform und Einzugsgebiet. ................................................. 194

Tabellenverzeichnis

XIII

Tabelle 29:

Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen privaten bzw. staatlichen Schulen und Schulen mit einem besonderen Schulprofil. .............................................................................. 195

Tabelle 30:

Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen privaten bzw. staatlichen Schulen und Einzugsgebieten. ............................... 196

Tabelle 31:

Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen Einzugsgebieten und Schulen mit besonderem Schulprofil. .............................................................................. 197

Tabelle 32:

Alle Cluster in Relation zu den Hintergrundvariablen Geschlecht der Lehrkraft, Schulform und -art sowie Einzugsgebiet. ......................................................................... 205

Tabelle 33:

Überblick über die Kontinuität des Lehrkräftehandelns nach Clustern. .......................................................................... 206

Abkürzungsverzeichnis

Abb. Aufl. Bd. bearb. bspw. bzw. ders. dies. Diss. ebd. erw. f. ff. fü GmbH hg. Hrsg. Jül KMK LER LISUM Mass. Ms. PB S. u.a. UF Univ. unv. Man. usw. vgl. WAT z. B.

Abbildung Auflage Band bearbeitet(e) beispielsweise beziehungsweise derselbe dieselbe(n) Dissertation ebenda erweitert folgende fortfolgende fächerübergreifender Unterricht Gesellschaft mit beschränkter Haftung herausgegeben Herausgeber(in) Jahrgangsübergreifendes Lernen Kultusministerkonferenz Lebensgestaltung-Ethik-Religion (Unterrichtsfach) Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg Massachusetts Manuskript Politische Bildung (Unterrichtsfach) Seite unter anderem Unterrichtsform Universität unveröffentlichtes Manuskript und so weiter vergleiche Wirtschaft-Arbeit-Technik (Unterrichtsfach) zum Beispiel

Zusammenfassung zur Dissertation Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen von Vivien Wysujack

Theoretische Fundierung, Forschungsstand und Fragestellung Viele empirische Studien belegen den großen Einfluss, den das Verhalten von Lehrpersonen auf die Lernprozesse und die sozio-emotionale Entwicklung der SchülerInnen haben kann. Dabei gibt es sowohl Gründe zur Annahme, dass Lehrkräfte mit einer gewissen Kontinuität (Tausch & Tausch, 1971; Lewin, Lippitt & White, 1939; Schaarschmidt, 2013) als auch Hinweise darauf, dass sie situationsabhängig und variabel agieren (Baumert & Kunter, 2006; Helsper, 2004; Krauss & Bruckmaier, 2014). Dennoch mangelt es in der Schulforschung bislang an aktuellen Studien zu den interaktiven Handlungsweisen einzelner Lehrpersonen. Obgleich zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen bzw. zum Handeln von Lehrpersonen viel geforscht wird, untersuchen diese Forschungen Lehrkräfte an Einzelschulen oder an bestimmten Schulformen (z. B. Helsper & Hummrich, 2014), die Professionalisierung des LehrerInnenhandelns (z. B. Baumert & Kunter, 2006), die Bedeutung von Fehlverhalten (z. B. Lewis & Riley, 2009) oder die allgemeine Bedeutung von Lehrpersonen für das Lernverhalten des Schülers (z. B. Hattie, 2009). Die einzelne Lehrkraft mit ihrem individuellen Handeln wird hingegen nicht in den Blick genommen. An dieser Forschungslücke setzt die vorliegende Studie an. Anhand eines auf Grundlage von Unterrichtsbeobachtungen seit 2008 entstandenen umfangreichen Datensatzes wird überprüft, ob sich Handlungsmuster von Lehrpersonen identifizieren lassen und wie stabil diese sind. Auf Basis der pädagogischen Anerkennungstheorie wird dabei anerkennendes, verletzendes und ambivalentes Interaktionsverhalten in den Blick genommen. Basierend auf theoretischen Überlegungen und vorhandenen Forschungsergebnissen stellen sich dabei die folgenden vier Teilfragen: 1. Sind auf Basis der Beobachtungen von LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen in Unterrichtsstunden Handlungsmuster von Lehrpersonen identifizierbar?

XVI 2. 3. 4.

Zusammenfassung zur Dissertation

Wie unterscheiden sich diese Handlungsmuster hinsichtlich der Anerkennungsqualität und der Häufigkeit des Auftretens? Lassen sich Zusammenhänge zwischen bestimmten Handlungsmustern und ausgewählten Parametern, wie z. B. Geschlecht der Lehrkraft oder Schulform, erkennen? Welche Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten sind im individuellen LehrerInnenverhalten erkennbar?

Methode Die vorliegende Untersuchung bedient sich des Datensatzes des „INTAKT“-Netzwerks, das anerkennendes, ambivalentes und verletzendes Verhalten von pädagogischem Personal im Kontext von Schule und Kindertagesstätten anhand von Beobachtungsprotokollen dokumentierte. Die daraus entstandenen über 13.000 Feldvignetten stellen einen außergewöhnlich umfangreichen Datensatz dar, der der vorliegenden Arbeit als Grundlage für die Ermittlung von Handlungsmustern dient. Zu diesem Zweck wurde der Datensatz zunächst von Protokollen aus Kindertagesstätten, dem europäischen Ausland sowie von Lehrpersonen, die mit weniger als zehn Interaktionsszenen codiert waren, bereinigt, sodass die vorliegende Arbeit auf den Daten von 242 beobachteten Lehrkräften und insgesamt 11.231 Feldvignetten basiert. Von den Lehrpersonen sind 202 (83,5 Prozent) weiblich und 40 männlich (16,5 Prozent). Darüber hinaus wurden 184 (76 Prozent) an Grundschulen und 58 (24 Prozent) an weiterführenden Schulen erfasst, wobei acht (3,3 Prozent) an Gesamtschulen, sechs (2,5 Prozent) an Schulen der Sekundarstufe I ohne gymnasiale Oberstufe und 44 (18,2 Prozent) an Gymnasien beobachtet wurden. 47 (19,4 Prozent) der Lehrpersonen arbeiteten an einer Schule mit einem besonderen Schulprofil (u. a. evangelische Schulen oder Schulen mit Montessori- oder Waldorfprofil) und 48 (19,8 Prozent) Lehrkräfte arbeiteten an Privat- bzw. 194 (80,2 Prozent) an staatlichen Schulen. Zur Identifikation von Handlungsmustern wurde die Methode der hierarchischen Clusteranalyse unter Wahl des Ähnlichkeitsmaßes der quadrierten euklidischen Distanz und des Ward-Verfahrens in SPSS durchgeführt. Zur Clusterbildung wurden verschiedene Parameter aus dem Codesystem der „INTAKT“-Studie herangezogen: Urteile über das Ausmaß von Anerkennung und Verletzung in der jeweiligen Interaktionsszene (sechs Anerkennungsgrade), sowie je fünf anerkennende bzw. verletzende Interaktionsformen (z. B. positive Rückmeldung oder destruktive Konsequenz/Strafe) und drei ambivalente Interaktionsformen.

Zusammenfassung zur Dissertation

XVII

Die gewählte Lösung mit sieben Clustern wurde ausführlich hinsichtlich der das jeweilige Cluster beschreibenden Interaktionsmuster, der Anzahl der zugeordneten Lehrpersonen sowie bezüglich auftretender Zusammenhänge mit Hintergrundvariablen, wie dem Geschlecht der Lehrperson, der Schulform oder des sozioökonomischen Status des Einzugsgebiets analysiert. Ausgewählte Ergebnisse Die sieben Cluster umfassende Lösung ist gut interpretierbar und spricht für unterschiedliche Handlungsmuster von Lehrpersonen. Während die ersten beiden Cluster (die Verletzenden und die sehr Verletzenden) besonders verletzende Lehrpersonen beschreiben, handeln Lehrpersonen, die den Clustern 4 und 5 (die Anerkennenden und die fordernd Anerkennenden) zugeordnet wurden, überwiegend anerkennend. Cluster 6 (die Ambivalenten) beschreibt Lehrende, deren Handeln durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Cluster 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen) definiert einen Laissez-faire-Stil und das größte Cluster 3 (die Netten) liegt bei den meisten Variablen nahe an den Durchschnittswerten des Gesamtdatensatzes, wobei Lehrpersonen, die diesem Cluster angehören, im Vergleich mit der Gesamtstichprobe tendenziell anerkennender handeln. Bezüglich der Kontinuität des Lehrpersonenhandelns konnte festgestellt werden, dass die untersuchten Lehrpersonen sich in der Mehrheit der Fälle von Tag zu Tag kontinuierlich und von Lerngruppe zu Lerngruppe tendenziell diskontinuierlich verhielten. Man kann daher nicht eindeutig von stabilen oder variablen Handlungsmustern sprechen. Obgleich insgesamt ein mehrheitlich kontinuierliches Handeln festgestellt wurde, scheinen die meisten Lehrpersonen ihr Verhalten auf die jeweiligen Lerngruppen abzustimmen. Im vorliegenden Datensatz gibt es jedoch auch Lehrpersonen, die ihre beispielsweise sehr verletzenden Interaktionsformen stabil auf verschiedene Lerngruppen anwenden. Betrachtet man die Verteilung der Cluster mit Blick auf die genannten Hintergrundvariablen wird deutlich, dass die weiblichen Lehrpersonen des Datensatzes tendenziell verletzender agierten als die männlichen Lehrkräfte, die durch überdurchschnittlich anerkennendes Verhalten auffielen. Das Laissez-faire-Cluster besteht ausschließlich aus Lehrerinnen. Ferner wurde deutlich, dass Lehrpersonen an Privatschulen insgesamt deutlich anerkennender handelten als Lehrkräfte an staatlichen Schulen. Lehrpersonen in Einzugsgebieten mit einem bildungsnahen bzw. hohen sozioökonomischen Status gehörten häufiger einem sehr verletzenden Cluster an als Lehrende in Gebieten mit einem niedrigen sozioökonomischen Status. Diese Ergebnisse unterstützen Befunde aus aktuellen Studien in vie-

XVIII

Zusammenfassung zur Dissertation

len Punkten, widersprechen ihnen vereinzelt aber auch. Einschränkend ist zu sagen, dass die Stichprobe nicht gezielt auf Basis der Hintergrundvariablen gezogen wurde und diese Aussagen daher mit Vorsicht zu interpretieren sind. Ausblick Die Ergebnisse der vorliegenden Dissertation liefern Anregungen für weitere Forschungen, beispielsweise in Form von Interview-, Fragebogen- oder Beobachtungsstudien. Solche Forschungen könnten u. a. die Ursachen unterschiedlich anerkennenden bzw. verletzenden LehrerInnenhandelns, beispielsweise subjektive Theorien oder Selbstwirksamkeitserwartung sowie die Zusammenhänge zu Persönlichkeitsmerkmalen der Lehrpersonen, genauer empirisch untersuchen. Auch in Hinblick auf Lehrpersonen, die stabil und anerkennend agieren, wären Fragen nach Ressourcen und Ressourcenmanagement oder Motivation interessant. Darüber hinaus wären Folgeuntersuchungen zu Zusammenhängen von anerkennendem bzw. verletzendem Handeln mit Einzugsgebieten, Schulform, verschiedenen Merkmalen der Lerngruppe, Stand der Schulentwicklung, Supervisions-, Beschwerde- und Evaluationsverfahren, Geschlecht, Ausbildung oder Biografie der Lehrkraft von Interesse. Leider konnte in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden, wie die verschiedenen Handlungsmuster von den SchülerInnen wahrgenommen wurden und wie sie sich auf deren Motivation, Wohlbefinden und Lernerfolg auswirken. Dies könnte ebenfalls ein Gegenstand für Folgeuntersuchungen sein. Der verhältnismäßig hohe Anteil an überdurchschnittlich häufig verletzenden Lehrpersonen, der in der vorliegenden Arbeit etwa 25 Prozent umfasst, ist insgesamt ein alarmierendes Zeichen und sollte in der Schulpraxis sowie -forschung ein Anlass sein, sich mit diesem Thema verstärkt auseinanderzusetzen. Obwohl empirische Studien die Bedeutung der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion für Lernprozesse und Wohlbefinden der Lernenden zeigen, ist das Thema in der LehrerInnenbildung bisher kaum präsent. Professionsethische Grundlagen für Lehrpersonen fehlen bislang weitestgehend. Mit den Reckahner Reflexionen (Deutsches Institut für Menschenrechte et al., 2017) erfolgte ein erster Schritt in diese Richtung. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können die Diskussion professionsethischer Fragen in Schulen vorantreiben und ihre Wirkung erforschen.

1

Einleitung

Die Bedeutung der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion und -Beziehung „Englischunterricht, 7. Klasse AHS: Ich musste meine Hausübung vorlesen (vier Absätze im Buch, Text, ”Wörter und Phrasen” lernen und den Text mit eigenen Worten, unter Verwendung des Gelernten nacherzählen). Meine Arbeit war exzellent. Lehrerin: beginnt Diskussion, ich hätte abgeschrieben. Ich: „Nein, hab‘ ich nicht“. Lehrerin: ”Du bist zu dumm, um ehrlich zu lernen, und sogar zu dumm zum Abschreiben.” Ich musste [die] Arbeit dann mündlich, vorne stehend ohne Heft vortragen und bekam darauf ein Sehr gut und Applaus von der Klasse. Ab diesem Tag folgten dann nur mehr schlechte Noten. (Ich spreche ausgezeichnet Englisch). Mein ”Genügend” in Englisch im Maturazeugnis war der Grund dafür, dass mich später [die] Lufthansa nicht zum Bewerbe[r]test zuließ.“ (Krumm & Weiß, 2000a, S. 68).

Fälle wie diese bezeugen den großen Einfluss, den Lehrpersonen auf die sozioemotionale und biografische Entwicklung ihrer Lernenden haben. Dies gilt insbesondere für Ungerechtigkeiten und verletzendes Verhalten, wie aus dem oben geschilderten Fall hervorgeht. Verletzungen in Form von destruktiven Kommentaren, Beleidigungen oder gar offenen Anfeindungen und Machtmissbrauch vonseiten der Lehrkraft können auch in aktuellen Erhebungen immer wieder beobachtet werden (Prengel, Tellisch & Wohne, 2016). Befragt man, wie Krumm und Weiß (2000a), Erwachsene nach ihren Erinnerungen an die Schulzeit, wird schnell die Bedeutung der Qualität der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen deutlich. Ob man in den pädagogischen Interaktionen Wertschätzung, Anerkennung und Respekt oder wie im oben angeführten Beispiel Gegenteiliges erfahren hat, bleibt oft ein Leben lang im Gedächtnis. Neben Familienmitgliedern und den Peers sind Lehrpersonen für die Lernenden lebensgeschichtlich bedeutsam (Pianta & Walsh, 1996). So ist es nicht verwunderlich, dass sich der erziehungswissenschaftliche Diskurs seit langer Zeit mit der Untersuchung pädagogischer Interaktionen auseinandersetzt (Nohl, 1933; Thies, 2010, S. 9; Krüger, 1994, S. 799). Dabei muss zwischen den Begriffen Interaktion und Beziehung differenziert werden. Während Interaktion wechselseitiges Verhalten in einer konkreten Unterrichtssituation umfasst, ist mit Beziehung in erster Linie die anhaltendere Qualität der Interaktionen gemeint (vgl. Kapitel 3.1.1, Thies, 2017, S. 66; Wentzel, 2012). Pädagogische Beziehungen bilden sich also aus einer Vielzahl an Interaktionen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_1

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1 Einleitung

(Prengel, 2013, S. 19). Wissenschaftliche Erhebungen belegen den bedeutenden Einfluss von Interaktionen auf Lernprozesse und auf Lernerfolge der SchülerInnen (Roorda & Koomen, 2001; Hattie, 2009). Bedenkt man, dass alle wesentlichen schulischen Informationen, wie Leistungsbeurteilungen, das Vermitteln von Unterrichtsinhalten oder die Bestärkung bzw. Sanktionierung des Verhaltens, durch Lehrpersonen vermittelt werden, wird deutlich, weshalb die LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung einen maßgeblichen Anteil an den schulischen Erfahrungen hat (Ulich, 2001, S. 76; König, 2007, S. 2f.). Die Qualität pädagogischer Beziehungen spielt darüber hinaus bei allen wesentlichen Aufgaben der Lehrperson – wie Unterrichten, Fördern, Erziehen, Beraten oder Diagnostizieren – immer auch eine Rolle (Prengel, 2013, S. 9). Die Art und Weise, wie mit SchülerInnen interagiert wird, beeinflusst deren Motivation und Selbsteinschätzung (Spinath & Freiberger, 2011, S. 113; Babad, 1995). Auch aufseiten der Lehrkraft hat die Qualität der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen Einflüsse auf die berufliche Zufriedenheit und die psychische Gesundheit (Ulich, 2001, S. 76; Bauer, 2012, S. 25). Unterrichtsstörungen und Feindseligkeit vonseiten der Lernenden können eine große Belastung darstellen (Wendt, 2001). Auf gesellschaftlicher Ebene sind die Erfahrungen der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung ebenfalls bedeutsam, da durch sie Werte, Fähigkeiten und Gewohnheiten vermittelt werden, die im soziokulturellen und politischen Kontext zum Tragen kommen (Lussi & Huber, 2015; Krüger, Fritzsche, Pfaff & Sandring, 2003). Überblickt man das Forschungsfeld, so zeigt sich, dass aktuell zwar zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen geforscht wird, diese Untersuchungen jedoch vor allem LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen an ausgewählten Schulformen (z. B. Helsper & Hummrich, 2014), deren Bedeutung für das Lernverhalten und den Lernerfolg der SchülerInnen (z. B. Hattie, 2009) oder einzelne Kompetenzen professionellen Handelns von Lehrpersonen (z. B. Baumert & Kunter, 2006) fokussieren. Handlungsmuster einzelner Lehrkräfte, wie sie im 20. Jahrhundert, z. B. im Zuge der Erziehungsstilforschung (z. B. Lewin, Lippitt & White, 1939; Tausch & Tausch, 1971), in den Blick genommen wurden, werden aktuell jedoch kaum untersucht. Dennoch ist anzunehmen, dass Lehrpersonen sich hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, bestimmte Handlungsmuster zu zeigen, unterscheiden. Studien zur individuellen LehrerInnenpersönlichkeit (vgl. Kapitel 2.2) und zu Gesundheitstypen von Lehrkräften (vgl. Kapitel 4.2.1) belegen individuelle Unterschiede und ihren Einfluss auf die Unterrichtsqualität (Hanfstingl & Mayr, 2007; Schaarschmidt, 2013). Daher ist zu vermuten, dass auch in Bezug auf die Qualität der

1 Einleitung

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LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung Unterschiede zwischen den Lehrpersonen bestehen könnten. Die Qualität der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen wird dabei in dieser Arbeit anhand der pädagogischen Theorie der Anerkennung1 (u. a. Prengel 2013; Hafeneger, Henkenborg & Scherr, 2002) gedeutet, die auf Grundlage sozialwissenschaftlicher Theorien der Anerkennung, vor allem nach Honneth (1992), entwickelt wurde. Die Untersuchung im empirischen Teil dieser Arbeit bedient sich dabei des im Forschungsnetzwerk „INTAKT“ erhobenen umfassenden Datensatzes, der – wie wohl kaum eine andere Quelle erziehungswissenschaftlicher Forschung – verbale Daten in großer Zahl enthält und insgesamt über 13.000 Feldvignetten umfasst, in denen anerkennendes und verletzendes Verhalten im Unterricht dokumentiert wurde. Vor dem Hintergrund der erwähnten Befunde muss davon ausgegangen werden, dass es für die SchülerInnen von immenser Bedeutung ist, welche Handlungsmuster ihre Lehrkräfte aufweisen, inwieweit diese eher anerkennend oder verletzend ausfallen (vgl. Kapitel 3.2) und ob das Verhalten eher kontinuierlich – und somit vorhersehbar – oder diskontinuierlich geprägt ist. Der Forschungsstand zu pädagogischen Interaktionen und Beziehungen weist allerdings hinsichtlich der Frage, ob Lehrpersonen mit typischen anerkennenden oder verletzenden Handlungsmustern identifizierbar sind und ob diese Lehrpersonen kontinuierlich in ihrem Muster agieren, eine Lücke auf. Die vorliegende Dissertation soll dazu beitragen, dieses Forschungsdesiderat zu bearbeiten. Zu diesem Zweck werden Handlungsweisen von Lehrpersonen auf Basis ihrer individuellen LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen untersucht, um herauszufinden, ob sich bei einzelnen Lehrpersonen typische Muster erkennen lassen und wie kontinuierlich oder variabel die Lehrpersonen dieser Muster handeln. Aufbau der Dissertation Die vorliegende Arbeit umfasst acht Kapitel. Kapitel 2 bis 4 widmen sich theoretischen Grundlagen und dem aktuellen Forschungsstand, aus denen in Kapitel 5 die Fragestellungen der in Kapitel 6 und 7 dargestellten empirischen Erhebung zur Interaktionsqualität abgeleitet werden. In Kapitel 8 erfolgt die Diskussion der Ergebnisse.

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Die pädagogische Theorie der Anerkennung umfasst anerkennende, neutrale, verletzende und ambivalente Interaktionen.

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1 Einleitung

Nach einer kurzen Einleitung befasst sich das zweite Kapitel mit der LehrerInnenprofessionalität bzw. -professionalisierung. Dabei werden neben dem Persönlichkeits-, Prozess-Produkt- und Expertiseansatz auch der strukturtheoretische und berufsbiografische Ansatz sowie ausgewählte Kompetenzmodelle betrachtet, wobei den Fragen nach der Kontinuität bzw. Variabilität des LehrerInnenhandelns sowie nach der „guten“ Lehrkraft nachgegangen wird. Im dritten Kapitel wird die LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion betrachtet, wobei zunächst das der Arbeit zugrundeliegende transaktionale Modell nach Nickel (1985) erläutert wird und anschließend vertiefende Aspekte, wie die soziale Wahrnehmung und Erwartungseffekte, Bindung in der Schule sowie sozialphilosophische Annahmen auf Basis der Anerkennungstheorie, behandelt werden. Dabei wird die Bedeutung der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen für Lernprozesse und die sozio-emotionale Entwicklung der Lernenden herausgearbeitet. Da das Ziel dieser Arbeit darin besteht, Handlungsmuster zahlreicher einzelner Lehrpersonen zu analysieren und zu diesem Zweck nach Typisierungsmöglichkeiten zu suchen, werden im vierten Kapitel bereits vorhandene Typologien von Lehrpersonen genauer betrachtet. Zunächst werden ausgewählte LehrerInnentypologien zu verschiedenen Subthemen, wie beispielsweise Gesundheitstypen (Schaarschmidt & Kieschke, 2013), und anschließend spezielle Typologien zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen und -Beziehungen, wie beispielsweise im Kontext der Erziehungsstilforschung, analysiert. Basierend auf den dargestellten theoretischen Grundlagen und dem aktuellen empirischen Forschungsstand werden anschließend im fünften Kapitel konkrete Forschungsfragen für die empirische Untersuchung hergeleitet. Im Anschluss wird im sechsten Kapitel das methodische Vorgehen der empirischen Studie beschrieben. Dabei erfolgt neben einer Vorstellung des Datensatzes und des Projekts „INTAKT“ die detaillierte Darstellung der Forschungs- und Auswertungsmethode (hierarchische Clusteranalyse). Im Anschluss werden im siebten Kapitel die Ergebnisse vorgestellt, wobei nach einem kurzen Überblick der gefundenen Cluster, eine Evaluation der Clusteranalyse mithilfe einer Diskriminanzanalyse durchgeführt wird. Im Anschluss werden die einzelnen Cluster bzw. Handlungsmuster mit ihrem jeweiligen Ausmaß an Homogenität, inhaltlichen Ausprägungen, zugeordneten Lehrkräften und deren Handlungskontinuität detailliert vorgestellt. Das achte Kapitel umfasst die Diskussion der Forschungsergebnisse unter Einbeziehung der theoretischen Grundlagen und des Forschungsstands, wobei die Ergebnisse sowie das methodische Vorgehen kritisch reflektiert werden und auf die Grenzen der Untersuchung eingegangen wird. Den Abschluss stellt ein Ausblick dar, der mögliche Konsequenzen, die aus den Befunden zu ziehen sind, beinhaltet.

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2.1

LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

Einleitung und Begriffsklärung „Seit mehr als einem Jahrhundert beschäftigt sich die pädagogisch-psychologische Forschung mit der Persönlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern, ihrem pädagogischen Handeln, mit der Bedeutung didaktischer Expertise und den Wirkungen des Unterrichts auf das Erleben, Verhalten und Lernen der Schülerinnen und Schüler. Was ist der gegenwärtige Erkenntnisstand dieser vielfältigen empirischen Forschungsbemühungen? Gibt es „den guten Lehrer“, „die gute Lehrerin“ überhaupt, und, wenn ja, wodurch lassen sie sich charakterisieren? Sind bestimmte Persönlichkeitsmerkmale entscheidend, spielen wirksame Lehrtechniken die dominierende Rolle oder geht es bevorzugt um die professionalisierte Unterrichtsexpertise?“ (Weinert, 1996, S. 141).

Wie Weinert stellen sich zahlreiche ForscherInnen die Frage nach der „guten“ Lehrkraft. Befragt man die praktizierenden Lehrenden selbst dazu, erhält man dabei widersprüchliche Aussagen: „Gymnasiallehrer verweisen auf ihre fachwissenschaftliche universitäre Ausbildung, Berufsschullehrer auf ihre Berufsausbildung und -erfahrung vor Eintritt ins Lehramt, berufszufriedene und erfolgreiche Lehrer verweisen auf den Faktor Lehrerpersönlichkeit.“ (Herrmann, 1999, S. 42). Was bedeutet es nun aber, eine gute Lehrperson zu sein? Worin besteht die Professionalität? Wie konstant, situationsabhängig oder situativ variabel ist das Handeln von Lehrpersonen? Im Laufe der Zeit wurden zur Beantwortung dieser Fragen zahlreiche Ansätze entwickelt. Einige wichtige Ansätze zur LehrerInnenprofessionalität sollen im Folgenden vorgestellt werden. Dabei werden zunächst die klassischen üblichen drei Ansätze, auf die Weinert mit seinem letzten Satz anspielt, vorgestellt: das Persönlichkeits-, Prozess-Produkt- und Expertenparadigma. Darauf folgen der berufsbiografische und der strukturtheoretische Ansatz gefolgt von Kompetenzmodellen. Die Fragen nach der „guten“ Lehrperson sowie nach der Variabilität bzw. Kontinuität des LehrerInnenhandelns sollen als Leitfaden dienen.

2.2

Der Persönlichkeitsansatz

Ziel des Persönlichkeitsansatzes ist es, unterschiedliche Eigenschaften von Lehrkräften zu identifizieren, die mit verschiedenen Wirkungen auf die Lernenden ein© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_2

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

hergehen (Bromme, 1997, S. 183). Dabei wird die Persönlichkeit von Lehrpersonen als „Ensemble relativ stabiler Dispositionen, die für das Handeln, den Erfolg und das Befinden im Lehrerberuf bedeutsam sind“ (Mayr & Neuweg, 2006, S. 183) verstanden. LehrerInnenhandeln ist nach diesem Ansatz folglich auch über verschiedene Situationen hinweg relativ stabil. Die VertreterInnen des Ansatzes versuchten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger, Beschreibungen von Lehrkräften zu entwickeln als Tugendkataloge zu erstellen, welche als Leitbild für Lehrpersonen verstanden werden sollten (Mayr, 2014, S. 189f.). So sollten sie nach Döring (1931) beispielsweise über unermüdlichen Fleiß, innere Wahrhaftigkeit und Glaube an die Sinnhaftigkeit des Weltgeschehens verfügen (ebd., S. 396). Darauf folgte Mitte des 20. Jahrhunderts die systematische Suche nach spezifischen Charaktereigenschaften (Pause, 1970; Ryans, 1960), welche beispielsweise Tugendhaftigkeit und Sympathie im Gegensatz zu Amoralität und Grausamkeit als Eigenschaften guter Lehrpersonen identifizierten (Pause, 1970, S. 1490ff.). Kritik am Persönlichkeitsansatz wurde vielseitig geübt. So wurde die Sichtweise des Persönlichkeitsansatzes als trivial gewertet (Bromme & Haag, 2008, S. 804). Ferner wurde die Fokussierung auf die Lehrkraft, bei der nach isolierten Lehrvariablen gesucht wurde, und die damit einhergehende Vernachlässigung der SchülerInnenperspektive, kritisiert (ebd.). Des Weiteren wurde schnell vermutet, dass eine universell gute Lehrkraft mit empirischen Methoden nicht zu identifizieren sei (ebd.). In Hinblick auf die erstellten Tugendkataloge wurde außerdem vor überzogenen Anforderungen und einer „falschen Heldenmoral“ in Bezug auf die Lehrkräfte gewarnt (Mayr, 2014, S. 190). In den letzten Jahren kam es jedoch zu einem entspannteren Umgang mit dem Persönlichkeitsansatz, da die Persönlichkeitseigenschaften einer Lehrperson in Ansätzen der LehrerInnenbildung als Lernvoraussetzung „durchaus ihren Platz einnehmen“ (Mayr, 2014, S. 190) und daher in Hinblick auf die Berufswahl und die Berufsberatung eine Rolle spielen (Mayr & Paseka, 2002, S. 51). Mayr und Neuweg (2006) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Relevanz- und einer Stabilitätsthese, welche besagen, dass es zum einen berufsbezogene Persönlichkeitseigenschaften gibt und diese zum anderen auch über einen längeren Zeitraum relativ stabil sind (ebd., S. 188ff.). Vor allem die Vorstellung, dass Persönlichkeitsmerkmale relativ stabil seien, kann jedoch dazu führen, den Sinn und Zweck der LehrerInnenbildung infrage zu stellen oder zumindest ihren Umfang anzuzweifeln, weshalb diese Annahme bisweilen problematisiert wird (Mayr & Paseka, 2002, S. 51).

2.2 Der Persönlichkeitsansatz

7

Auch weitere theoretische und empirische Befunde sind dem Persönlichkeitsansatz zuzuordnen und stammen vorwiegend aus dem angloamerikanischen Raum. Eine besondere Position nimmt dabei das Fünf-Faktoren-Modell bzw. die „Big Five“ von Costa und McCrae (1984) ein. Das Modell beschreibt die fünf Faktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit mit ihren jeweiligen Facetten. Diese fünf Eigenschaftsdimensionen haben sich über verschiedene Stichproben und Kulturräume hinweg als relativ robust erwiesen und so gilt das Modell heute als relativ breit akzeptierter Ansatz in der Persönlichkeitsforschung (Mayr, 2014, S. 192). In Hinblick auf dessen Anwendbarkeit im Lehrberuf ist zu sagen, dass sich anhand der breiten Persönlichkeitsmerkmale zwar keine Korrelationen zu speziellen Handlungstendenzen herstellen ließen (Mayr, 2014, S. 193f.), ermittelt man bei Studieninteressierten die „Big Five“, lassen sich jedoch Zusammenhänge zur späteren Zufriedenheit im Beruf herstellen (Hanfstingl & Mayr, 2007, S. 53). Studien konnten darüber hinaus verdeutlichen, dass die Variablen Gewissenhaftigkeit, Extraversion und Offenheit mit guter Praxisleistung der Lehrenden sowie mit schülerorientiert-kommunikativem Verhalten aus Sicht der SchülerInnen korrelieren (Mayr & Neuweg, 2006, S. 191). Fasst man die fünf Faktoren zu zwei oder nur einem Wert zusammen, lassen sich Risikogruppen deutlich identifizieren, welche später mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Burnout im Lehrberuf erleiden werden, wie Rauin und Meier (2007, S. 114ff.) zeigten, wobei die Zusammenfassung zu zwei Werten erfolgt, indem der Faktor Alpha (Plasticity) aus den Faktoren Extraversion und Offenheit und der Faktor Beta (Stability) aus den Faktoren Neurotizismus, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit gebildet wird. Ein Wert („Big One“) wird gebildet, indem alle als sozial positiv erachteten Merkmale zusammengefasst werden (Mayr, 2014, S. 193). Ein weiteres, häufig in der LehrerInnenbildung genutztes Modell, das dem Persönlichkeitsansatz zugeordnet werden kann, ist das Sechs-Faktoren-Modell von Holland, das Interessen von Personen ordnet, beschreibt und sich in der berufspsychologischen Forschung als Standard etabliert hat (Mayr, 2014, S. 199f.). Holland geht dabei davon aus, dass es sechs grundlegende Objektbereiche gibt, für die sich Menschen interessieren können. Dazu gehören die praktisch-technische, die intellektuell-forschende, die künstlerisch-sprachliche, die soziale, die unternehmerische und die konventionelle Orientierung (ebd.). Anhand der Angabe von drei Interessenbereichen lässt sich ein Mensch so „knapp und für viele Zwecke ausreichend ‚typisieren‘“(Mayr, 2014, S. 200). Das Modell geht davon aus, dass sich Interessen von Menschen durch ihre charakteristischen Anpassungen an die Umwelt entwickeln, weshalb das Modell auch mit den „Big Five“ korreliert (ebd.).

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

In Hinblick auf Lehrpersonen ließen sich plausible Zusammenhänge zwischen der Interessenrichtung und den Lernstrategien, dem Wohlbefinden im Studium und der pädagogischen Handlungskompetenz im Beruf nachweisen (Hanfstingl & Mayr, 2007, S. 53), wobei sich die soziale, die künstlerisch-sprachliche und die unternehmerische Orientierung am bedeutsamsten auf die jeweiligen Faktoren auswirkten (ebd.). Dabei bevorzugen Menschen, die hauptsächlich über soziale Interessen verfügen Tätigkeiten, in denen sie sich mit anderen Menschen befassen, beispielsweise in Form von Pflege oder Unterricht, während Menschen mit künstlerisch-sprachlichen Interessen vor allem unstrukturierte und offene Aktivitäten bevorzugen, die die Schaffung kreativer Produkte ermöglichen. Menschen mit unternehmerischer Orientierung suchen vor allem Aktivitäten, die andere Menschen beeinflussen, auch manipulieren, sie führen oder sie zu etwas bringen (Bergmann & Eder, 2005, S. 21ff.). Neben allgemeinen spielen darüber hinaus spezielle Personenmerkmale eine Rolle in der LehrerInnenforschung, (Mayr, 2014, S. 201f.). Diese werden heutzutage umfassend untersucht. Dazu zählen beispielsweise die Selbstwirksamkeitserwartung, Humor und lehrberufsspezifische Interessen einer Person (ebd.), wobei alle drei Merkmale hohe Korrelationen zur Berufszufriedenheit und pädagogischen Handlungskompetenz aufweisen (Hanfstingl & Mayr, 2007, S. 53). Bandura (1997, S. 220ff.) sieht Selbstwirksamkeit beispielsweise als eine bedeutsame Ressource im Lehrberuf mit der Lehrpersonen auch in herausfordernden pädagogischen Situationen zurechtkommen und zugleich langfristig ohne psychische Schädigung im Lehrberuf verbleiben können. Selbstwirksamkeit wird dabei definiert als „die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können.“ (Schwarzer & Warner, 2014, S. 662). Diese beeinflusst die Anstrengung, Ausdauer, Zeitmanagement und weitere Leistungskriterien, die für das Erreichen eines Ziels von Vorteil sind, und sind dabei unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten einer Person (ebd.). Eine Lehrkraft, die über eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung verfügt, setzt sich demnach höhere Ziele, verfolgt das Erreichen dieser Ziele engagierter und erzielt somit am Ende die besseren Ergebnisse (ebd.). Obgleich Selbstwirksamkeit zunächst von Bandura als individuelles Konstrukt aufgefasst wurde, wurde es später von ihm um kollektive Dimensionen ergänzt (Bandura, 1997, S. 476). Bei der kollektiven Selbstwirksamkeit liegt der Fokus auf der Einschätzung der Selbstwirksamkeit der Gruppe oder des Kollegiums, wobei dies daraus resultiert, wie viel Vertrauen die Mitglieder in die Teamressourcen haben (Schwarzer & Warner, 2014, S. 664).

2.2 Der Persönlichkeitsansatz

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Lehrkräfte, die über eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung verfügen, sind beruflich erfolgreicher, emotional stabiler und weniger von Burnout betroffen, wie Studien zeigen (Jennett, Harris & Mesibov, 2003; Schwerdtfeger, Konermann & Schönhofen, 2008). Im Unterricht verhalten sich Lehrpersonen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung innovativer und reflektierter, verwenden häufiger aktive Unterrichtstechniken und probieren eher neue Unterrichtsstrategien aus, sodass es nicht verwundert, dass diese Lehrkräfte auch bessere Leistungen bei den Lernenden erreichen (Schwarzer & Warner, 2014, S. 666). Lehrkräfte, die eine niedrige Erwartung an die eigene Selbstwirksamkeit haben, fühlen sich hingegen in fordernden Situationen überfordert und inkompetent, worauf sie verstärkt aggressiv reagieren, um sich selbst zu schützen (Lewis & Riley, 2009, S. 424; vgl. Kapitel 3.2.5.3). Deutschsprachige Forschungen kamen derweil zu dem Ergebnis, dass die Selbstwirksamkeitserwartung stärker aus vorangegangenen Erfahrungen im Unterricht resultiert, wobei es darauf ankommt, ob sich die Lehrpersonen in diesen als selbstwirksam erlebt haben oder nicht, und weniger die Selbstwirksamkeit umgekehrt eine höhere Handlungskompetenz nach sich zieht (Holzberger, Philipp & Kunter, 2013, S. 779ff.). Anders als die Theorie relativ stabiler Persönlichkeitsmerkmale, wie die fünf Persönlichkeitsfaktoren von Costa und McCrae, geht die Theorie der Selbstwirksamkeit davon aus, dass sie durch Lernen und Erfahrungen beeinflusst wird (ebd.), womit die Annahme von einer Variabilität des LehrerInnenhandelns unterstützt wird. In Hinblick auf die Stabilität bzw. Variabilität der Persönlichkeitsmerkmale weist eine Längsschnittstudie, die LehramtsanwärterInnen vom Beginn des Studiums bis hin zu drei Jahren nach dem Studium alle drei Jahre befragte (Mayr & Neuweg, 2006, S. 194), hingegen in eine andere Richtung. So kam es dabei im Verlauf der Zeit zu einer leichten Zunahme der Eigenschaften Stabilität und Selbstkontrolle sowie zu einer geringen Abnahme von Extraversion, wobei die Veränderungen jedoch sehr gering ausfallen und nur die Veränderung des Merkmals Selbstkontrolle die Standardabweichung um ein Drittel überstieg (Mayr & Neuweg, 2006, S. 193), was für die Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale sprechen kann. Die skizzierten Ergebnisse zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmale eingeschränkt Prognosen ermöglichen. „Allgemeine Persönlichkeitsmerkmale und Interessen bleiben über lange Zeiträume relativ stabil und erlauben daher Prognosen des späteren Verhaltens und Erlebens.“ (Mayr, 2014, S. 208). Mayr fordert daher, sie in Studienund Laufbahnwahl, Forschung und LehrerInnenbildung stärker zu berücksichtigen (ebd., Mayr & Neuweg, 2006, S. 17). Demnach können Persönlichkeitsmerkmale zum einen verändert werden, beispielsweise durch Coachings, Trainings oder spezielle Lehrveranstaltungen an Universitäten (Mayr & Neuweg, 2006, S. 98f.) Zum

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

anderen können die Merkmale als stabil akzeptiert werden. In diesem Fall würde sich die LehrerInnenausbildung vor allem auf dem Umgang mit den Stärken und Schwächen beziehen und die Möglichkeit zu einer persönlichkeitsreflexiven Begleitung schaffen (ebd.). Eine weitere von Mayr und Neuweg genannte Möglichkeit stellt das Auswählen der richtigen Laufbahn bzw. des richtigen Studiums dar, wobei sie Unterstützung in Form von Auswahlverfahren oder Beratungsgesprächen bei diesem Prozess fordern (ebd.; Mayr, 2014, S. 209). Insgesamt verweisen diese Ergebnisse eingeschränkt auf eine gewisse Kontinuität im Handeln von Lehrkräften auf Basis ihrer relativ stabilen Eigenschaften, wobei jedoch die Erlernbarkeit in einzelnen Bereichen, wie der Selbstwirksamkeit, berücksichtigt werden muss. Eine gute Lehrkraft ist nach dem Persönlichkeitsparadigma eine Person, die über bestimmte Eigenschaften, wie Offenheit und Extraversion, Humor oder eine hohe Erwartung an die eigene Selbstwirksamkeit verfügt.

2.3

Das Prozess-Produkt-Paradigma

In der historischen Entwicklung gewann das Prozess-Produkt-Paradigma an Bedeutung, welches versuchte, Kritikpunkte am Persönlichkeitsansatz aufzunehmen und zu berücksichtigen (Bromme & Haag, 2008, S. 804, Cochran-Smith & Fries, 2009, S. 1051). Als Produkt werden in diesem Modell in den meisten Fällen die Lernergebnisse der SchülerInnen im Unterricht verstanden, die sowohl kognitive und motivational-affektive als auch metakognitive Aspekte des Lernens umfassen (Seidel, 2014, S. 783). Als Prozess wird hingegen die Qualität von Unterrichtsbedingungen verstanden, die durch das Handeln der Lehrperson entsteht und sich in vielfältiger Weise zeigen kann (ebd.). Statt Persönlichkeitseigenschaften werden somit eher Handlungsweisen von Lehrenden zum Forschungsgegenstand. Damit sollten besonders für die Wissensvermittlung geeignete Verhaltensweisen von Lehrkräften identifiziert werden, die mit guten Leistungen der Lernenden verbunden sind (Thies, 2017, S. 76). Die Verhaltensweisen wurden dabei getrennt von der Lehrperson und Unterrichtssituation betrachtet. Da Unterrichtstechniken und -methoden erlernbar sind, wird in diesem Paradigma implizit von einem variablen LehrerInnenhandeln ausgegangen. Methodisch wurde zunächst versucht, statische Interaktionseffekte zwischen Lernenden und Lehrenden zu erschließen (ebd.). Zu diesem Zweck wurde das Verhalten der Lehrperson in viele beobachtbare Einzelteile zerlegt und untersucht (Bromme, 1997, S. 184). Weiterentwicklungen des Paradigmas berücksichtigten die individuellen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsprozessen sowie die angebo-

2.4 Der Expertise-Ansatz

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tene Lernzeit (Seidel, 2014, S. 784; Corno & Snow, 1986, S. 617ff.) und heben den interaktiven Charakter hervor (Seidel, 2014, S. 784). Empirische Studien, die auf dem Prozess-Produkt-Paradigma basieren, konnten zeigen, dass Unterschiede im Verhalten der Lehrkraft die Leistungsentwicklung der Lernenden beeinflussen. So konnten Verhaltensweisen identifiziert werden, die sich positiv auf das unterrichtliche Lernen auswirken. Dazu gehören beispielsweise eine übersichtliche Strukturierung des Unterrichtsinhalts, Transparenz der Unterrichtsziele (Reichhart, 2018, S. 13), Klarheit der LehrerInnensprache und die Qualität und Quantität der gestellten Fragen (Gruehn, 2000, S. 22; Bromme & Haag, 2004, S. 778). Weitere sich positiv auswirkende Merkmale sind die Berücksichtigung individueller Lernvoraussetzungen in Hinblick auf Aufgabenstellungen und Unterrichtszeit sowie verständliche und angemessene Rückmeldungen an die Lernenden (ebd.). Kritisiert wurde der Ansatz vor allem wegen seiner Einseitigkeit (Gruehn, 2000, S. 23). Zum einen wurde nur beobachtbares – und somit messbares – Verhalten auf der Prozessebene analysiert und zum anderen blieben die Voraussetzungen der Lernenden weitestgehend unbeachtet. Darüber hinaus wurde auf die Entkopplung des LehrerInnenhandelns von der jeweiligen Situation und die Fixierung auf Teilfertigkeiten verwiesen (Besser & Krauss, 2009, S. 72). Des Weiteren wird Lernerfolg sehr einseitig anhand von normorientierten Tests gemessen (Gruehn, 2000, S. 23), was daraus resultierte, dass Erhebungen in der hohen benötigten Anzahl sich ohnehin schwierig gestalteten (Borich & Klinzing, 1987, S. 99). Eine „gute“ Lehrperson ist nach diesem Ansatz die, die die effektivsten Unterrichtsmethoden anwendet, wobei diese erlern- und somit vermittelbar sind. LehrerInnenhandeln wird somit als veränderbar angesehen.

2.4

Der Expertise-Ansatz

Obgleich die Prozess-Produkt-Forschung bis heute wichtig ist, wird seit Beginn der 1980er Jahre der Lehrperson wieder mehr Bedeutung zugeschrieben (CochranSmith & Fries, 2009, S. 1052). Im Unterschied zum Persönlichkeitsansatz stellen nicht Persönlichkeitseigenschaften, sondern individuelles LehrerInnenwissen sowie Fertigkeiten und subjektive Theorien den Kern dieser Forschung dar (Bromme, 1997, S. 186; Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 241f.), womit es sich wiederum um teilweise erlernbare Dimensionen handelt, die auf die Variabilität des LehrerInnenhandelns verweisen. Der Expertise-Ansatz unterscheidet dabei zwei Konstrukte, mit denen der leistungs- und der wissensorientierte Expertisebegriff

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

einhergehen und die beide das Ziel verfolgen, herauszufinden, was eine gute Lehrperson ausmacht (Besser & Krauss, 2009, S. 77). Der leistungsorientierte Expertisebegriff wird vorrangig in der englischsprachigen Literatur verwendet, wobei sich Expertise wie folgt definiert: „‚Expertise‘ denotes the outstanding performance of an individual in a particular domain (e. g. medicine, physics, chess, musics). ‚Experts‘ thus are persons who, by objective standards and over time, consistently show superior performance in typical activities of a domain.“ (Gruber, 2001, S. 5146). Es handelt sich also um eine Person, die beim Problemlösen in ihren domänenspezifischen Bereich konstant hervorragende Leistungen erbringt. Überträgt man diese Vorstellung auf den Lehrberuf, werden nur diejenigen Lehrkräfte als expert teachers bezeichnet, die herausragende Leistungen vollbringen und demnach „Spitzenkönner“ (Bromme, 2008, S. 159) sind. Erst in Abgrenzung zu anderen Lehrkräften sind sie als ExpertInnen ihres Fachs zu identifizieren (Besser & Krauss, 2009, S. 77). ExpertInnen werden nach dieser Definition mithilfe des ExpertInnen-NovizInnen-Paradigmas erkannt, wobei eine für die Domäne repräsentative Aufgabe einem Experten bzw. einer Expertin und einem Anfänger bzw. einer Anfängerin gestellt wird und die unterschiedlichen Lösungen und Lösungsversuche systematisch untersucht werden (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 245). Zwar werden Informationen zu Persönlichkeit, Wissen und Kompetenzen der ExpertInnen bei den Studien erhoben, diese Informationen werden jedoch nicht genutzt, um ExpertInnen zu identifizieren, denn zu diesem Zweck werden lediglich die Leistungen der Personen auf ihrem jeweiligen Gebiet herangezogen (ebd.). Dabei wird deutlich, dass ExpertInnen nicht durch herausragende allgemeine kognitive Fähigkeiten hervorragende Leistungen erbringen, sondern durch ein gut organisiertes domänenspezifisches Wissen und Informationsverarbeitungsmethoden (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 244f.). Die hauptsächlich aus dem englischsprachigen Raum stammenden Ergebnisse zeigen: „[E]xpert teachers are more opportunistic and flexible in their teaching than are novices; expert teachers are more sensitive to the task demands and social situations surrounding them when solving problems; […] expert teachers have faster and more accurate patterns in the domain in which they are experienced…“ (Berliner, 2001, S. 472). Darüber hinaus entwickeln sie Automatisierungstechniken und können so Probleme schneller lösen (Reichhart, 2018, S. 15). Außerdem verfügen sie im Vergleich zu NovizInnen über ein elaboriertes Repertoire an Handlungszielen (ebd.). Grenzen zeigen sich im ExpertInnen-NovizInnen-Paradigma wenn es um die Einteilung der Gruppen geht. Für eine erfolgreiche Untersuchung müssen sowohl ExpertInnen als auch NovizInnen eindeutig vorher identifiziert und eingeordnet

2.4 Der Expertise-Ansatz

13

sein. Doch ist es schwer Kriterien zu finden, da diese eben erst mit der Untersuchung herausgefunden werden sollen (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 249). So muss bereits vor der Untersuchung die Frage nach der „guten Lehrkraft“ gestellt werden (ebd.). Zu diesem Zweck wurden verschiedene Kriterienkataloge erstellt. Bromme (1992) schlägt beispielsweise vor, bei der Vorabauswahl Ausbildungsstand, berufliche Erfolge, Urteile von KollegInnen und Vorgesetzten, Beurteilungen durch die Lernenden und die Messung der SchülerInnenleistungen zu berücksichtigen (ebd., S. 46). Obgleich die Kriterien für die Vorabauswahl je nach VerfasserIn sehr unterschiedlich sind, herrscht inzwischen ein Konsens darüber, dass die Anzahl der Berufsjahre kein Indikator für ExpertInnentum sind (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 250). Der wissensorientierte Expertisebegriff, der häufig in der deutschsprachigen Literatur verwendet wird, geht davon aus, dass ExpertInnen eher viel wissen als viel leisten müssen (Gruber, 1994, S. 9). Dabei sind ExpertInnen oft Mitglieder bestimmter Professionen, zum Beispiel ÄrztInnen, RichterInnen oder LehrerInnen, wobei der ExpertInnenstatus unabhängig davon ist, ob Höchstleistungen erbracht werden (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 247). Der ExpertInnenstatus wird also nicht im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Profession, sondern im Vergleich zu Mitgliedern ohne diesen Professionsstatus erzielt. Häufig findet sich der wissensorientierte Begriff bei schlecht zu definierenden Domänen, weil in diesen ein Leistungskriterium schwer zu definieren ist (ebd.), da ExpertInnen in diesen Bereichen häufig mit „komplexen Aufgaben konfrontiert [sind], die aus vielen kleinen Teilproblemen bestehen, für die es oft keine eindeutigen Lösungen gibt.“ (ebd.). Dies steht im Gegensatz zu wohldefinierten Domänen, wie beispielsweise Schach, in denen Ziele und Leistungen klar definiert sind (ebd.). Im wissensorientierten Ansatz wird jemand demnach als ExpertIn erkannt, wenn er bzw. sie eine spezialisierte, komplexe Aufgabe erfolgreich bewältigt (ebd.). Zu diesem Zweck werden die komplexen Aufgaben theoretisch analysiert und daraufhin Rückschlüsse auf das erforderliche Wissen gezogen (Krauss & Bruckmaier, 2014, S. 247f.). Somit werden diejenigen Merkmale identifiziert, die der Experte bzw. die Expertin zur erfolgreichen Bewältigung seiner bzw. ihrer Aufgabe benötigt (Baumert & Kunter, 2011, S. 29). In Bezug auf Lehrpersonen wird demzufolge untersucht, welche Lehrkompetenzen sich positiv auf den Schulerfolg der Lernenden auswirken, wobei Wissen, Überzeugungen und motivationale Orientierungen als wesentliche Einflussgrößen identifiziert wurden (Reichhart, 2018, S. 15f.). Der deutsche ExpertInnenbegriff ist somit eng mit dem Konzept professioneller Kompetenzen verwandt (vgl. Kapitel 2.7), wobei der Expertiseansatz noch stärker auf Wissen fokussiert ist (Reichhart, 2018, S. 16). „Gute“

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

Lehrpersonen zeichnen sich also durch domänenspezifisches Wissen und Fertigkeiten aus, sodass sie ihr Ziel im Vergleich zu BerufsanfängerInnen bzw. Laien besser und effektiver erreichen können, was wiederum die Annahme von variablen LehrerInnenhandeln unterstützt.

2.5

Der berufsbiografische Ansatz

Der berufsbiografische Ansatz wurde vor allem von Terhart und Bauer entwickelt, wobei Bauer (2000) annimmt, dass Menschen im Laufe ihres Lebens als Lehrkraft spezielle Phasen passieren, in denen sie bestimmte Entwicklungsaufgaben erwarten, denen sie mit gewissen Lösungsstrategien begegnen müssen (ebd., S. 62). Dabei geht er davon aus, dass sich die Lösungsstrategien als auch die verfügbaren Handlungsmuster und pädagogischen Theorien im Laufe der Berufsbiografie ändern können (ebd.). Es wird also von einem explizit variablen LehrerInnenhandeln ausgegangen, das sich immer wieder verändern kann. Wesentliche Handlungsmuster umfassen dabei soziale Strukturbildung, Kommunikation, Interaktion, Gestaltung und Hintergrundarbeit (Bauer, 2005, S. 81). Diese sind notwendig, um der pädagogischen Aufgabe nachzukommen, Lerngelegenheiten zu schaffen und kulturelle Ziele und Werte zu vermitteln (Bauer, 2000, S. 62f.). Nur in Zusammenhang mit diesen Zielen seien die Handlungsmuster als wirklich pädagogische Fähigkeit zu bewerten (ebd.). Die Handlungsmuster müssen dabei auf der stellvertretenden Deutung basieren, womit Bauer sich auf Oevermanns strukturtheoretischen Ansatz (vgl. Kapitel 2.6) bezieht. Pädagogisch professionell handelt nach ihm daher diejenige Lehrperson, „die gezielt ein berufliches Selbst aufbaut, das sich an berufstypischen Werten orientiert. Sie ist sich eines umfassenden pädagogischen Handlungsrepertoires zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben sicher“ (Bauer, 2005, S. 81). Unter dem Selbst soll dabei „… ein dem Bewusstsein teilweise zugänglicher stabiler Kern der Person verstanden werden, von dem aus diese ihre eigene Sicht der Dinge und ihre Entwicklung organisiert. Das Selbst entsteht in der Interaktion mit anderen und in der praktischen Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen […] Das professionelle Selbst ist von außen betrachtet der im Beruf sichtbar werdende Teil der Persönlichkeit“ (Bauer, Bohn, Kemna & Logemann, 2010, S. 134). Terhart (2011) beschreibt LehrerInnenprofessionalität als „berufsbiografisches Entwicklungsproblem“ (ebd., S. 208). Die Entwicklung der professionellen Identität wird demnach als Prozess betrachtet, wobei das LehrerInnenwerden bzw. LehrerInnensein als lebenslanger Entwicklungsprozess begriffen wird, der eng mit

2.6 Der strukturtheoretische Ansatz

15

dem privaten Lebenslauf bzw. persönlichen Ereignissen verknüpft betrachtet wird (ebd.). So stehen neben der Entwicklung eines beruflichen Habitus und der Kompetenzentwicklung auch stets die Verknüpfungen mit dem privaten Lebenslauf im Vordergrund (ebd.). Somit entsteht eine „stärker individualisierte, breiter kontextuierte und zugleich lebensgeschichtlich-dynamische Sichtweise“ (Terhart, 2011, S. 208). Typische Phasen einer LehrerInnenlaufbahn wurden dabei beispielsweise von Hubermann (1991, S. 249) erstellt. Seine Übersicht umfasst 1. den Berufseinstieg, der etwa das erste bis dritte Arbeitsjahr umfasst und durch Erkunden und Erkennen der Berufsrealität gekennzeichnet ist, 2. die Phase der Stabilisierung, die durch Bindung an den Beruf und eine Konsolidierung gekennzeichnet ist und etwa vom vierten bis zum sechsten Berufsjahr andauert. 3. kann sowohl die Phase der Veränderung als auch ein Sich-in-Frage-stellen umfassen, kann etwa vom 7. bis zum 25. Dienstjahr stattfinden und beinhaltet bei der erstgenannten Möglichkeit das Ausprobieren von Neuem (ebd.). Ein Sich-in-Frage-stellen ist hingegen durch ein Zweifeln am LehrerInnenberuf charakterisiert. Das 25. bis 35. Dienstjahr wird laut Hubermanns Typologie in Phase 4 beschrieben. Es zeichnet sich durch eine Entwicklung von Gelassenheit oder aber eine Grundhaltung der Zurückhaltung bis Ablehnung aus, wobei Gelassenheit aus der zunehmenden inneren Distanz zu den Lernenden und geringeren Anforderungen an sich selbst als Lehrperson hervorgerufen wird. Zurückhaltung und Ablehnung können hingegen durch Veränderungen in der Schule oder im Aufgabenfeld der Lehrperson erklärt werden (ebd.). Die empirische Forschung fokussiert in diesem Zusammenhang die produktive Lösung berufsbiografischer Entwicklungsaufgaben, wie beispielsweise Hirsch (1990) (vgl. Kapitel 4.2.2).

2.6

Der strukturtheoretische Ansatz

Einen anderen Ansatz verfolgen strukturtheoretische argumentierende Arbeiten. Diese beziehen sich zumeist auf Oevermanns (1996) Theorie des professionellen Handelns, in der das professionelle Handeln von Lehrpersonen nach dem Idealtypus der orthodoxen psychotherapeutischen Beziehung modelliert wird, die wie folgt analysiert wird (Baumert & Kunter, 2006, S. 470ff.; Helsper, 2014, S. 217): Das auf den Leidensdruck des Patienten bzw. der Patientin basierende Arbeitsbündnis zeichnet sich dadurch aus, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin die zu behandelnde Person in ihrer ganzen Persönlichkeit ohne Einschränkung annimmt und ihr gegenüber zu analytischer Distanz verpflichtet ist (Oevermann,

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

1996, S. 148). Die zu behandelnde Person ist hingegen dazu verpflichtet, sich in ihrer gesamten Persönlichkeit zu öffnen (Baumert & Kunter, 2006, S. 470; Helsper, 2014, S. 217). Es handelt sich also um eine diffuse Beziehungsdynamik, in die sich der Therapeut bzw. die Therapeutin nur unter Wahrung von Distanz einbeziehen lassen kann (Oevermann, 1996, S. 115ff.). Der bzw. die therapeutische Arbeitende erlebt dabei eine Spannung zwischen „der Subsumtionslogik der Psychopathologie und der psychoanalytischen Theorie einerseits und der fallverstehenden, lebensgeschichtlichen Rekonstruktion des Einzelschicksals andererseits“ (Baumert & Kunter, 2006, S. 470). Durch professionelles Handeln vereint der Therapeut bzw. die Therapeutin dabei Nähe und Distanz bzw. den konkreten Einzelfall und theoretisches Fachwissen (ebd.). Wird dieser Ansatz auf den Lehrberuf übertragen, ist Professionalisierbarkeit von Lehrpersonen von Vornherein begrenzt, wie Baumert und Kunter (2006) feststellen (ebd., S. 471). Wie die TherapeutInnen-PatientInnen-Beziehung ist auch die SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung diffus und durch emotionale Fürsorge gekennzeichnet (ebd., S. 470). Stehen auf der einen Seite die institutionellen Anforderungen der Schule mit universellen Vorgaben und Regeln, werden die Lernenden auf der anderen Seite mit ihrer gesamten Persönlichkeit thematisiert. Somit befindet sich die Lehrperson in einem Dilemma, da sie beide Seiten in Einklang bringen und praktizieren muss (ebd.). Nach Oevermann kann dieser Balanceakt nur gelingen, wenn das Arbeitsbündnis freiwillig geschlossen wird, wobei die vom Lernenden ausgehende Neugier den Antrieb darstellt. Dies ist jedoch durch die herrschende allgemeine Schulpflicht unmöglich (Baumert & Kunter, 2006, S. 470f.). An Oevermann anknüpfend generiert Helsper (2004) eine „strukturtheoretisch rekonstruktive Perspektive auf das Lehrerhandeln“, wobei er seine These der konstitutiven Antinomien im SchülerInnen-LehrerInnen-Verhältnis explizit herausarbeitet (Baumert & Kunter, 2006, S. 471). Demnach müssen Lehrpersonen mit einer bestimmen Ungewissheit Entscheidungen fällen und zeitgleich ihr Entscheiden professionell begründen. Dies ergibt sich aus unüberschaubaren Konfliktsituationen innerhalb der Klasse, in welchen sofort gehandelt werden muss, obgleich noch wesentliche Informationen fehlen (Helsper, 2014, S. 217). In dieser ersten Phase von zwei Phasen der Krisenbewältigung können sich Lehrende spontan nur auf ihr ingenieurales Wissen beziehen, also wissenschaftliche Theorien, die sie im Laufe ihrer LehrerInnenbildung erworben haben. Erst in der zweiten, darauf folgenden Phase kann die konkrete Situation rekonstruiert und nachträglich begründet werden. Nach und nach können so Erfahrungen über die Effizienz der angewandten Techniken entstehen (Diehl & Krüger, 2011, S. 5). Lehrpersonen bauen sich somit eine interventionspraktische Wissensbasis auf, die mit zunehmender Praxistätigkeit

2.6 Der strukturtheoretische Ansatz

17

anwächst (ebd.). Aus dieser rekonstruktiven Handlungslogik entsteht die Anfälligkeit professionellen Handelns für Fehler (Helsper, 2014, S. 217). Darüber hinaus müssen Lehrpersonen professionelle Vermittlungsversprechen abgeben, obgleich ein gewisses Erfolgsrisiko bei jeder pädagogischen Intervention vorhanden ist. Außerdem gibt es ein Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz zu den Lernenden sowie zwischen dem theoretisch erworbenen Wissen in der LehrerInnenausbildung und dem konkreten Fall, den es zu bearbeiten gilt (Oevermann, 1996, S. 77). Es besteht weiterhin eine Antinomie zwischen der intersubjektiv orientierten Sachlogik, die es den SchülerInnen zu vermitteln gilt und dem lebensweltlich und biografisch geprägtem Weltverstehen der Lernenden (Baumert & Kunter, 2006, S. 471). Obgleich Wissenschaft und Lebenswelt dabei mit konträren Anforderungen einhergehen, wobei die Wissenschaft durch die Suche nach Wahrheit und Wertfreiheit und die Lebenswelt wertend gekennzeichnet ist, sollen beide Welten im professionellen Handeln der Lehrperson vereint werden (Wagner, 1998, S. 58ff.; Oevermann, 1996, S. 80), womit Krisenhaftigkeit im Lehrberuf zum Normalfall wird (Oevermann, 1996, S. 75). Diese Spannungsfelder müssen immer wieder zwischen Lernenden und Lehrenden neu ausgehandelt werden bzw. können scheitern, was nach Helsper zur größten Belastung im Lehrberuf gehört (Helsper, 2004, S. 65). Diese beruflichen Belastungen können zu einem vermehrt verletzenden Verhalten gegenüber den Lernenden führen, wie auch Lewis und Riley (2009) feststellen (vgl. Kapitel 3.2.5.3), und erfordern darüber hinaus ein gewisses Maß an Selbstwirksamkeit (Bandura, 1997). Hat eine Lehrkraft sich eine stabile interventionspraktische Wissensbasis erarbeitet, ist es ihr möglich, auf verschiedene herausfordernde Situationen zielgerichtet zu reagieren und die Voraussetzungen für ein kontinuierliches, stabiles LehrerInnenhandeln sind geschaffen (Diehl & Krüger, 2011, S. 5) Die unweigerlich mit der strukturtheoretischen Sichtweise verbundene These vom strukturellen Technologiedefizit besagt, dass das Fallverstehen die Grundlage jeder pädagogischen Kompetenz ist und damit theoretisches Wissen nicht mehr in Vordergrund steht (Baumert & Kunter, 2006, S. 471; Helsper, 2014, S. 217). Obgleich auf der einen Seite Oevermanns Theorie viel beachtet und weiter bearbeitet wurde (Koring, 1989; Wagner, 1998), gibt es auch KritikerInnen. „In diesem Modell scheint Unterricht nur noch als Prophylaxe gegen Psychopathologien der Identität auf.“, konstatieren beispielsweise Baumert und Kunter (2006, S. 472). Sie sind der Ansicht, dass Oevermann mit seiner Theorie nicht dazu beiträgt, Antworten auf zentrale Fragen der Professionalisierungsdebatte zu finden, beispielsweise wie „systematisches und kumulatives Lernen über Kindheit und Jugend hin-

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

weg erreichbar und die kognitiven und motivationalen Voraussetzungen beruflicher, politischer, kultureller und zivilgesellschaftlicher Teilhabe für die gesamte nachwachsende Generation zu sichern sind und welche Anforderungen sich daraus für das Kompetenzprofil einer Lehrkraft ergeben.“ (ebd.). Tenorth (2006) stellt darüber hinaus fest, dass die Behauptung Oevermanns, Unterricht sei unmöglich, durch die Realität klar widerlegt werde (ebd., S. 583). Würden Oevermanns Behauptungen zutreffen, müsse durch die vielfältigen unaufhebbaren Antinomien eine stetige Krisenhaftigkeit oder gar ein stetiges Scheitern im Unterricht herrschen, was jedoch nicht zutreffe (ebd.). Der These vom strukturellen Technologiedefizit hält er entgegen, dass eine Technologie zwar vorhanden sei, diese jedoch schwierige Probleme zu lösen habe, wie „das Nicht-Planbare zu planen, einen festen Rahmen für offene Ereignisse zu geben, mit der Alltäglichkeit von Überraschungen zu rechnen und Überraschungsfähigkeit, zur Routine werden zu lassen.“ (ebd., S. 588). Des Weiteren grenzt er sich, wie Baumert und Kunter, von der therapeutischen Aufgabe der Lehrkraft ab (ebd., S. 585). Kolbe (2004) merkt des Weiteren an, dass Oevermann zwar die Beziehung einer Lehrperson zu einem bzw. einer Lernenden beschreibt, nicht aber zu einer Lerngruppe (ebd., S. 222). Er verweist darauf, dass die Lehrkraft zeitgleich mit vielen Individuen arbeiten müsse, wobei „eine kohärente Strukturierung von kollektiven Unterrichtsaktivitäten“ (ebd.) entstehe.

2.7

Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung

Eine andere Betrachtungsweise verfolgen Kompetenzmodelle. Um diese verstehen zu können, muss zunächst der Begriff der Kompetenz geklärt werden. Darunter versteht man „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ (Weinert, 2001b, S. 27f.). Standards hingegen beschreiben konkret gewünschte Verhaltensweisen von Lehrpersonen (Reichhart, 2018, S. 27; Terhart, 2002, S. 10). Nach Oser sind Standards „…komplexe, berufliche Kompetenzen, die zu theoriegeleitetem Handeln werden, dies weil ein Bezug zur Wissenschaft und Forschung einerseits besteht und weil andererseits eine analysierte und dadurch kritisch reflektierte Praxis dieser Praxis erst möglich ist.“ (Oser, 2001, S. 224f.). Da es sich explizit um erlernbare Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt, wird wiederum von einem variablen LehrerInnenhandeln ausgegangen.

2.7 Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung

19

Gemeinsam haben Standards und Kompetenzen, dass sie versuchen eine große Anzahl von Anforderungen zu bündeln und zu ordnen sowie zu bewerten, wobei die Merkmale möglichst wissenschaftlich fundiert sein sollten (Reichhart, 2018, S. 27). Je nachdem nach welchen Maßstäben Kompetenzmodelle erstellt wurden bzw. welche Ziele sie verfolgen, entstehen dabei vielfältige Variationen an Kompetenzen, wie beispielsweise Wissen, Effizienz und Qualität bei Sternberg und Horvath (1995) oder Integrität, Lernen, Organisation, Kommunikation und Humor bei Cullingford (1995) (Reichhart, 2018, S. 27f.). Oser (2001) beschreibt die Komplexität der Standardbildung wie folgt: „Ein professioneller Lehrerstandard ist eine komplexe, sich dauernd unter verschiedenen Kontexten und bezüglich verschiedener Inhalte adaptiv zu wiederholende Verhaltensweise, die sich aus verschiedenen Theorien speist, die auf der Folie verschiedener Forschungsergebnisse erhellt werden kann, die besser oder schlechter ausgeführt werden kann (Qualität), und die letztlich in der Tat kontextuell in verschiedensten Varianten erfolgreich ausgeführt wird.“ (ebd., S. 225 f.). Dabei geht der kompetenzorientierte Ansatz davon aus, dass es persönlicher Voraussetzungen bedarf, die erlern- und vermittelbar sind, um die Anforderungen des Lehrberufs zu bewältigen (Weinert, 2001b, S. 46; Hammerness, Darling-Hammond & Bransford, 2005, S. 390). Im deutschsprachigen Raum gelten die Modelle von Oser, Terhart und Baumert und Kunter für die Schullandschaft am bedeutendsten (Reichhart, 2018, S. 28), weshalb diese drei Modelle im Folgenden genauer betrachtet werden sollen. 2.7.1

Das pädagogisch-psychologische Kompetenzmodell von Oser

Pädagogische Standards sind bei Oser (2001) zugleich professionelle Kompetenz und deren optimale Erreichung, was er so erklärt, dass sie optimal ausführbar und optimal beherrschbar seien (ebd., S. 216). Damit geht für ihn einher, dass sie in unterschiedlicher Qualität erreichbar sind (ebd.), womit LehrerInnenhandeln als variabel erkennbar wird. Osers Kompetenzmodell besteht aus pädagogisch-psychologisch begründeten Kompetenzprofilen und sich daran anlehnenden Gütemaßstäben (Baumert & Kunter, 2006, S. 478). Voraussetzung für die Anwendung von Kompetenzmodellen für Bildungsstandards sind für ihn theoretische Fundierung, empirische Bewährung, Graduierbarkeit sowie praktische Relevanz, darin eingeschlossen Lehr- und Lernbarkeit (Oser, 2001, S. 218; Baumert & Kunter, 2006, S. 478). Theorien sieht Oser als „mehr oder weniger zutreffende Gesetzesaussagen über das Verhalten von Lehrern und Lehrerinnen oder von Schülern und Schülerinnen unter den gegebenen Zwängen“ (Oser, 2001, S. 220), die jede Lehrperson kennen sollte. Diese Theorien

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

sollten nach Oser durch mehrere empirische Untersuchungen gestützt werden bzw. sogar darüber hinausgehen (ebd.), da empirische Untersuchungen immer nur kleine Teilbereiche untersuchen könnten und so selten in der Lage sind, gesamte Theorien zu veri- oder falsifizieren (ebd.). Die Qualitätsmerkmale, durch die sich kompetente Lehrpersonen auszeichnen, werden erst im direkten Vergleich mit LehramtsanfängerInnen erkenntlich (Oser, 2001, S. 222f.). Dabei zeichnet sich die Qualität durch eine enge Verknüpfung von Theorie und Empirie im Denken der Lehrpersonen unter der Einbeziehung von Erfahrungen des schulischen Alltags aus (Oser, 2001, S. 221f.). Praktische Erfahrungen sammeln (angehende) Lehrkräfte nach seinem Modell in komplexen und zeitintensiven Schulsituationen in freier Erfahrung oder „kontaminiert durch Erziehungslehren“ (Oser, 2001, S. 224). In diesem Zusammenhang spricht Oser anschaulich von der „Emergency Room School“ (ebd.) und vergleicht in diesem Zusammenhang die Arbeit als Lehrkraft im Klassenraum mit der einer Fachkraft in der Notaufnahme, da beide ständig auf plötzliche Ereignisse reagieren müssten. „In a certain sense, a teacher can be compared to an expert in an emergency room: He or she must react constantly to the immediate events in the classroom.” (Oser & Baeriswyl, 2001, S. 1032). Somit stellt er Parallelen zum Expertiseansatz her (vgl. Kapitel 2.4). Methodisch ging Oser bei der Erstellung der Kompetenzen wie folgt vor: Mithilfe einer Befragung von (Fach-)DidaktikerInnen wurde ein Katalog von Kompetenzprofilen erstellt, der anschließend reduziert wurde in Hinsicht auf die Bedeutung für das praktische Handeln von Lehrpersonen (Oser, 2001, S. 227 f.; Baumert & Kunter, 2006, S. 478). Die Kompetenzprofile wurden in die folgenden 12 Standardgruppen unterteilt: allgemeindidaktische und fachdidaktische Kompetenzen, Aufbau und Förderung von sozialem Verhalten, Bewältigung von Disziplinproblemen und Schülerrisiken, Diagnose und Schüler unterstützendes Handeln, Gestaltung und Methoden des Unterrichts, Lehrer-Schüler-Beziehungen und fördernde Rückmeldung, Leistungsmessung, Lernstrategien vermitteln und Lernprozesse begleiten, Medien, Schule und Öffentlichkeit, Selbstorganisationskompetenz der Lehrkraft und Zusammenarbeit in der Schule (Oser, 2001, S. 228ff.). Kritik an Osers Modell Die induktiv erstellten, also aus dem konkreten Material und nicht aus einem theoretischen Konzept abgeleiteten, Kategorien ließen jedoch die Kritik der Beliebigkeit der Auswahl entstehen (Herzog, 2005). Da es sich um ein allgemeines Modell handelt, in dem auch die fachdidaktischen Kompetenzen allgemein formuliert wurden, ist das Modell auf der einen Seite für Lehrpersonen aller Fächer einsetz-

2.7 Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung

21

bar (Baumert & Kunter, 2006, S. 478). Auf der anderen Seite macht die Verknüpfung von Fachdidaktik und Fachwissen eine Grundlage für den Schulerfolg der Lernenden aus. Da Oser das Fachwissen nicht in seine hohe Anzahl von Standards aufnimmt (Terhart, 2002, S. 24; Reichhart, 2018, S. 23), kann das Modell als unvollständig angesehen werden (Reichhart, 2018, S. 23). Des Weiteren verwendet Oser Fachbegriffe unklar, wie Herzog bemerkt (Herzog, 2005, S. 253). So wird beispielsweise der von Oser gemachte Unterschied zwischen Theorie und Empirie nicht deutlich, da eine Theorie ohne empirische Überprüfung für ihn mit nicht falsifizierten Hypothesen gleichzusetzen ist (Oser, 1997, S. 29). Empirisch überprüfte Theorien hingegen sind jedoch keine Theorien, sondern Empirie, wie Herzog in seiner Kritik verdeutlicht (Herzog, 2005, S. 253). Darüber hinaus basiert das Modell nicht explizit auf einem theoretischen Rahmen (Tulodziecki & Grafe, 2006, S. 39). Allgemein betrachtet wird Osers Modell jedoch eine Vorreiterrolle im deutschsprachigen Raum eingeräumt, da es mit seiner hohen Anzahl an Standards wichtige Anforderungen einer gelungenen LehrerInnenausbildung darstellt (Reichhart, 2018, S. 23). 2.7.2

Das Modell der LehrerInnenbildungsstandards nach Terhart

Anders als Oser knüpft Terhart (2002) mit seinen Standards direkt an die Lehramtsausbildung in Deutschland an und berücksichtigt deren Struktur. So gliedert er zunächst seine Kompetenzen in zwei aufeinander aufbauende Phasen: Phase 1 findet während der universitären Ausbildung und Phase 2 während des Referendariats statt. Die erste Phase wird wiederum untergliedert in Standards für Unterrichtsfächer,2 Fachdidaktiken, Erziehungswissenschaften und schulpraktische Studien, wobei für jeden Unterpunkt zehn – zunächst fachunabhängige – Standards formuliert werden (ebd., S. 33). Insgesamt gilt für ihn, dass in Phase 1 ein „solides systematisch, methodisch und wissenschaftsgeschichtlich gestütztes Wissen in den und über die Unterrichtsfächer“ (ebd., S. 31) und im anschließenden Referendariat die Fähigkeiten zu Reflexion, Kommunikation und Urteilsfähigkeit erworben werden sollen (ebd., S. 30). Diese insgesamt vier Kompetenzbereiche werden anhand der 2

Terharts Standardbildung soll an dieser Stelle am Beispiel der Standards für die Unterrichtsfächer veranschaulicht werden: 1. Allgemeine Struktur und Disziplin, 2. Zentrale Konzepte und Inhalte der Disziplin, 3. Zusammenhänge und Querverbindungen der Inhalte, 4. Sich-bewegen-Können in den Strukturen und Inhalten der Disziplin, 5. Forschungsmethoden der Disziplin, 6. Ausgewählte Spezialisierungen und Vertiefungen, 7. Geschichte, Erkenntnisprobleme und Erkenntnisgrenzen der Disziplin, 8. Ausgewählte Themen und Probleme an der Forschungsfront der Disziplin, 9. Verbindungen zu anderen Disziplinen (Inter-/Transdisziplinarität) und 10. Bedeutung und Vermittlung der Disziplin für und an außerwissenschaftliche Kontexte (Terhart, 2002, S. 34).

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

Standards konkretisiert. Das Können bzw. die Expertise können nach seinem Modell erst nach dem Durchlaufen der beiden Phasen erreicht werden, also erst mit dem erfolgreichen Beenden des Referendariats. Des Weiteren entwickelt er Ideen für eine Evaluation der Wirksamkeit der LehrerInnenbildung in Bezug auf die Vermittlung von Standards (Terhart, 2002, S. 37). All diesen Entwicklungshilfen liegt dabei die Annahme eines variablen LehrerInnenhandelns zugrunde. Kritik an Terharts Modell Die direkte Orientierung an der LehrerInnenausbildung ermöglicht Terhart die Gliederung seines Modells in die zwei Ausbildungsphasen. Das hat den Vorteil, dass die jeweiligen Standards für den Lehramtsanwärter bzw. die Lehramtanwärterin erst dann zum Ziel gemacht werden, wenn diese auch erreicht werden können und sie somit nicht überfordern (Tulodziecki & Grafe, 2006, S. 39). Darüber hinaus berücksichtigt er die einzelnen Unterrichtsfächer, für welche die Standards ausdifferenziert werden sollen (Terhart, 2002, S. 34). Jedoch bleibt auch bei Terharts Modell der theoretische Rahmen unklar (Tulodziecki & Grafe, 2006, S. 39). 2.7.3

Das heuristische Modell professioneller Handlungskompetenz von Baumert und Kunter

Baumert und Kunter (2006) bauen ihr Modell explizit auf dem kompetenztheoretischen Ansatz Weinerts (2001b, vgl. Kapitel 2.7) auf und gehen bei ihrem Modell darüber hinaus von dem Professionsbegriff Shulmans und dem Kompetenzbegriff des National Board of Professional Teaching aus. Shulman (1998) beschreibt den Professionsbegriff dabei wie folgt: „All professions are characterized by the following attributes: – the obligations of service to others, as in a “calling”; – understanding of a scholarly or theoretical kind; – a domain of skilled performance or practice; – the exercise of judgment under conditions of unavoidable uncertainty; – the need for learning from experience as theory and practice interact; and – a professional community to monitor quality and aggregate knowledge.” (ebd., S. 516).

Demnach zeichnen sich Professionen dadurch aus, dass Pflichten als eine Art Berufung verstanden werden, ein Verständnis wissenschaftlicher und theoretischer Art vorliegt, man in seinem Gebiet über Erfahrung verfügt und aus dieser fortge-

2.7 Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung

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hend lernt sowie in der Lage ist, auch in Situationen nicht vermeidbarer Ungewissheit Entscheidungen zu fällen und darüber hinaus Theorie und Praxis in seinem Handeln zu vereinen. Außerdem soll über eine professionelle Gemeinschaft verfügt werden, die die Qualität des Wissens überwacht und dieses sammelt. Den Kompetenzbegriffen des US-amerikanischen National Board of Professional Teaching Standards und Weinerts liegt ein professionelles Handlungsmodell zugrunde. Das National Board of Professional Teaching Standards fasst seine Aussagen in fünf Punkten zusammen (National Board of Professional Teaching Standards, 2016): „1. Teachers are committed to students and their learning. 2. Teachers know the subjects they teach and how to teach those subjects to students. 3. Teachers are responsible for managing and monitoring student learning. 4. Teachers think systematically about their practice and learn from experience. 5. Teachers are members of learning communities.” (ebd., S. 1)

Dabei wird darauf eingegangen, dass Lehrkräfte den Lernenden und dem Lehren verpflichtet sind, sich in ihren Fächern und deren Vermittlung auskennen müssen, für die Organisation und Überwachung des Lernens verantwortlich sind, systematisch über ihre praktischen Erfahrungen nachdenken und aus ihnen lernen sowie Mitgliedern von Lerngemeinschaften sind. Diese Kernaussagen sind mit Weinerts Konzeption einer allgemeinen psychologischen Handlungskompetenz vereinbar (Baumert & Kunter, 2006, S. 480). Weinert schreibt (2001a): „The theoretical construct of action competence comprehensively combines those intellectual abilities, content-specific knowledge, cognitive skills, domain-specific strategies, routines and subroutines, motivational tendencies, volitional control systems, personal value orientations, and social behaviors into a complex system. Together, this system specifies the prerequisites required to fulfill the demands of a particular professional position.” (ebd., S. 51).

Er bezieht also ebenfalls kontextspezifisches Wissen, motivationale Orientierungen sowie persönliche Werte in die Handlungskompetenz ein. Beide Konzepte haben darüber hinaus gemeinsam, dass sie davon ausgehen, dass die Kompetenz von Lehrpersonen durch Erfahrungen veränderbar ist (Reichhart, 2018, S. 21), was Baumert und Kunter (2006) in ihrem Modell übernehmen. Baumert und Kunter betrachten also auch Überzeugungen (beliefs) und Wertehaltungen von Lehrpersonen als Teil der LehrerInnenkompetenz, wobei „Wert-

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

bindungen (value commitments), epistemologische Überzeugungen (epistemological beliefs, world views), subjektive Theorien über Lehren und Lernen sowie Zielsysteme unterschieden werden.“ (ebd., S. 497). Überzeugungen könnten dabei durchaus widersprüchlich sein. Allein der „individuelle Richtigkeitsglaube“ (ebd.) reiche aus, sie zu begründen. Empirische Studien belegen den Einfluss von individuellen Überzeugungen von Lehrpersonen auf das Handeln von Lehrpersonen und deren Wahrnehmung der Lernenden (Hartinger, Kleickmann & Hawelka, 2006, Peterson, Fennema, Carpenter & Loef, 1989) sowie auf die Leistungen der Lernenden (Brunner et al., 2006; Staub & Stern, 2002). In ihrem nichthierarchischen Modell professioneller Handlungskompetenzen vereinen Baumert und Kunter schließlich das Wissen und Können bzw. Professionswissen, Überzeugungen und Werte, motivationale Orientierungen und Fähigkeiten der Selbstregulation (ebd.), wobei alle vier Begriffe noch in Facetten unterteilt werden, wie die folgende Abbildung zeigt.3

3

Am Beispiel der Facetten für das Professionswissen sollen diese veranschaulicht werden: Beratungswissen, fachdidaktisches Wissen, Fachwissen, Organisationswissen und pädagogisches Wissen (Baumert & Kunter, 2006, S. 481ff.).

2.7 Kompetenzmodelle und Standards in der LehrerInnenbildung

Abbildung 1: Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert & Kunter, 2006, S. 482).

25

26

2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

Dabei gehen sie davon aus, dass sowohl die Erfahrungen in der LehrerInnenbildung als auch das berufliche Handeln zu Kompetenzen und diese dann wiederum zu Professionalität führen (Reichhart, 2018, S. 21). Kunter et al. (2017, S. 40) fassen es wie folgt zusammen: „Kompetentes Handeln von Lehrkräften manifestiert sich in der angemessenen Bewertung und Analyse von beruflichen Situationen, der überlegten Auswahl von Handlungsalternativen, der schnellen und situationsadäquaten Handlungsentscheidung und der anschließenden Bewertung und Reflexion.“. Mit ihrem Modell vereinen Baumert und Kunter somit Faktoren des Persönlichkeitsparadigmas, motivationale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten des Expertenparadigmas, Professionswissen und Überzeugungen (Krauss & Buckmaier, 2014, S. 255). Kritik am Modell von Baumert und Kunter Im Gegensatz zu Osers und Terharts Modellen liegt dem Modell von Baumert und Kunter mit dem kompetenztheoretischen Ansatz Weinerts (2001b) ein expliziter theoretischer Rahmen zugrunde (Tulodziecki & Grafe, 2006, S. 39; Herzog, 2005, S. 254; Köller, 2008, S. 163f.). Darüber hinaus werden im heuristischen Modell professioneller Handlungskompetenz Kompetenzen umfangreich integriert, sodass die Kompetenz von Lehrpersonen weitreichend beschrieben wird (Schaper, 2009, S. 169f.). Dies kann im Sinne der Uneinschränkbarkeit der Anwendung als positiv erachtet, jedoch auch als Nachteil betrachtet werden, berücksichtigt man die damit einhergehende Ungenauigkeit der Kompetenzfacetten (Reichhart, 2018, S. 25). Ihr Kompetenzmodell ist außerdem das einzige Modell, bei dem bereits ermittelt wurde, dass sich die entwickelten Standards und Kompetenzen auch in der Unterrichtswirklichkeit als wirksam erweisen und gut voneinander abgrenzbar sind (Baumert & Kunter, 2011, S. 159ff.; Reichhart, 2018, S. 25). Außerdem konnten Zusammenhänge zwischen dem Lern- und Leistungsverhalten der SchülerInnen und der Ausprägung der Kompetenzen der Lehrperson nachgewiesen werden (ebd.). 2.7.4

Fazit zu den Kompetenzmodellen

Obgleich Modelle insgesamt notwendigerweise das Problem der Normierung und des Reduktionismus beinhalten, können sie einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung der LehrerInnenbildung leisten (Reichhart, 2018, S. 25f.). Vergleicht man die drei vorgestellten Modelle, wird deutlich, dass das Modell von Baumert und Kunter (2006) verhältnismäßig viele Vorteile vereint.

2.8 Fazit zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrpersonen

27

Die Bedeutung des Modells wird außerdem deutlich, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche empirische Untersuchungen sich auf das Modell beziehen (Reichhart, 2018, S. 25) und es bereits als Grundlage für verschiedene Ausbildungsformen fungiert, wie seit 2004 in den Kompetenzen und Standards für die Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz (KMK, 2004, S. 3). Diese legen fest, über welche Kompetenzen und Standards die Lehrpersonen verfügen müssen und umfassen dabei beispielsweise Erziehen, Unterrichten und Beurteilen (ebd., S. 7ff.).

2.8

Fazit zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrpersonen

Die verschiedenen Ansätze zur LehrerInnenprofessionalität zeigen die Komplexität des Themas und lassen plausibel erscheinen, weshalb bis heute keine völlige Einigkeit über die Frage herrscht, was eine „gute“ Lehrperson ausmacht. Bei allen gezeigten Ansätzen wird jedoch deutlich, wie wichtig die einzelne Lehrperson für den Schulerfolg der Lernenden ist. So wurde wiederholt empirisch belegt, dass Kompetenzen und Expertise aber auch Persönlichkeitseigenschaften einen Einfluss auf das Lernen haben. Darüber hinaus wurden auf der einen Seite Hinweise erbracht, dass LehrerInnenhandeln relativ konstant und situationsunabhängig erfolgt, wie im Persönlichkeitsansatz beschrieben. Wie die Ausführungen zeigen, haben Persönlichkeitsmerkmale wie die Big Five, Big Six oder spezielle Eigenschaften einen nachweisbaren Effekt auf das LehrerInnenhandeln. Diese Merkmale gelten als relativ stabil und erlauben somit Prognosen über das LehrerInnenhandeln (Mayr, 2014, S. 208), wie gezeigt wurde. Betrachtet man das LehrerInnenhandeln aus dieser Perspektive, ist es als verhältnismäßig stabil einzuschätzen. Andere Ansätze gehen hingegen von erlernbarem und situationsabhängigem LehrerInnenhandeln aus, wie die Kompetenzmodelle und der Expertiseansatz, aber auch der strukturtheoretische Ansatz. Der strukturtheoretische Ansatz verweist auf die stetige Krisenhaftigkeit von Unterrichtssituationen und die damit einhergehende Überforderung der Lehrperson, die ihr Handeln erst nach und nach ausprobieren und anschließend reflektieren muss. Demnach kann auf Grundlage dieser Perspektive nicht von einem konstanten, sondern situationsabhängigen LehrerInnenhandeln gesprochen werden. Hat eine Lehrkraft jedoch zielführende Interventionsstrategien gefunden und wendet diese konstant auf die jeweiligen Herausforderungen an, sei auch ein konstantes Handeln möglich. Hervorgehoben wird

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2 LehrerInnenprofessionalität und –professionalisierung

dabei, dass es keinen idealen Weg des LehrerInnenhandelns gibt, was durch die vielfältigen Antinomien des Lehrberufs begründet wird (Helsper, 2004). Der kompetenzorientierte wie auch der Expertiseansatz gehen ebenfalls von einer Erlernbarkeit der Kompetenzen aus und beschreiben sogleich, dass diese durch Erfahrungen veränderbar sind. Je nachdem in welchem Stand ihrer Ausbildung sie sich befinden und wie erfolgreich sie einzelne Stufen erfüllt haben, können Lehrkräfte mehr oder weniger erfolgreich mit alltäglichen Unterrichtssituationen umgehen. Nach dieser Auffassung wäre davon auszugehen, dass eine Lehrperson in derselben Unterrichtssituation nicht immer dasselbe Handeln zeigt, sondern dieses variiert.

3

3.1 3.1.1

Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess Einleitung

Da die vorliegende Arbeit das individuelle interaktive Handeln von Lehrpersonen in den Fokus rückt, sollen die Relevanz dieses Handelns in diesem Kapitel verdeutlicht werden. Was versteht man nun aber unter einer SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung bzw. -Interaktion? Je nachdem, welcher theoretische Ansatz der Antwort dieser Frage zugrunde liegt, variiert die Antwort (Kluge, 1978; Lüders, 2014). So fokussiert die Sozialpsychologie die wechselseitige Beeinflussung in der Interaktion zwischen Lehrperson und Lernenden, wobei beispielsweise der Einfluss der Interaktionen auf die teilnehmenden Parteien oder Konfliktsituationen und deren Ursachen fokussiert werden (Kluge, 1978, S. 6; Nickel, 1985). Interaktionstheoretische Konzepte sehen die LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung eher als Form kommunikativen Handelns und untersuchen demnach bevorzugt Interaktionen, genauer LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen, Interaktionsstrategien und Interaktionsanalysen (Kluge, 1978, S. 7; Lüders, 2014, S. 823f.). Sozialwissenschaftliche anerkennungstheoretische Ansichten gehen hingegen davon aus, dass das Subjekt Selbstachtung nur in Interaktion mit anderen und durch damit einhergehende Anerkennung entwickeln kann (Honneth, 1990, S. 1048). Die Möglichkeit zu einer positiven Selbstbeziehung ist demnach auch in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion nur vorhanden, wenn Lehrende bzw. Lernende Anerkennung durch die anderen erfahren (ebd.), womit Anerkennung in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Des Weiteren ist der jeweilige Zeitgeist, in dem über die LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung geschrieben wird, von Bedeutung (Thies, 2017, S. 65). Die bis in die 1980er Jahre reichenden unidirektionalen Sichtweisen, nahmen tendenziell entweder die Lehrperson oder die SchülerInnen in den Fokus der Untersuchung (Nohl, 1933; Neill 1966, 1969). Nickel (1985) vereinte mit seinem transaktionalen Modell beide Perspektiven gleichermaßen und sieht die SchülerInnenLehrerInnen-Interaktion als wechselseitige Verhaltenssteuerung (ebd., S. 269). So wird zwar weiterhin davon ausgegangen, dass der Ablauf des Unterrichtsgesche© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_3

30

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

hens sowie der Ausgang des Bildungsprozesses im Wesentlichen durch die Lehrenden entschieden würden, diese würden jedoch ebenfalls durch Rückmeldungen der SchülerInnen in ihrem Handeln beeinflusst (Nickel, 1985, S. 156; Ittel & Raufelder, 2008). Sowohl das Verhalten der Lehrperson als auch das des Lernenden werden darüber hinaus durch soziokulturelle und Persönlichkeitsfaktoren beeinflusst. Dies unterscheidet das transaktionale Modell von eindimensionalen Modellen, die entweder den Lehrenden oder den Lernenden mit ihrem jeweiligen Verhalten fokussieren und dabei das komplexe Zusammenspiel der Interaktionen vernachlässigen. Insgesamt werden die Begriffe LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung und – interaktion fälschlicherweise weitestgehend synonym verwendet, obgleich mit dem Begriff Interaktion das wechselseitige Verhalten in konkreten Unterrichtssituationen und mit Beziehung vor allem die Qualität der Beziehung gemeint ist (Thies, 2017, S. 66; Wentzel, 2012). Nach Prengel (2013) bezeichnet die pädagogische Beziehung „eine Arbeitsbeziehung zwischen pädagogisch tätigen Erwachsenen und den Kindern beziehungsweise Jugendlichen […], die sie betreuen, unterrichten, erziehen, beraten […] Einzelne Interaktionen sind die Elemente, aus denen sich pädagogische Beziehungen formieren.“ (Prengel, 2013, S. 19). Leddin, Ostermann, Prengel, Tellisch und Wysujack (2019) konstatieren das Zusammenspiel zwischen Interaktion und Beziehung so, dass LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehungen mit hoher Qualität auf Grundlage von feinfühligen, anerkennenden und responsiven LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen entstehen (ebd., S. 87f.). Um die LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion in Hinblick auf die Thematik der vorliegenden Arbeit stärker in den Blick zu nehmen, wird in den kommenden Kapiteln darauf eingegangen, wie sich das Verhalten von Lehrkräften auf das Verhalten der Lernenden auswirkt, wodurch das Lehrkraftverhalten beeinflusst wird und inwiefern die Lernenden unterschiedliches Handeln wahrnehmen und ihrerseits darauf reagieren. 3.1.2

Das transaktionale Modell

Nachdem sich vorangegangene Forschungen zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion unidirektional auf die Perspektive der Lernenden (Nohl, 1933; Neill, 1966, 1969) bzw. der Lehrenden (Lewin, 1939; Tausch & Tausch, 1971, vgl. Kapitel 4.4) konzentrierten, berücksichtigt Nickel (1985) beide Perspektiven in seinem komplexen Modell der SchülerInnen-LehrerInnen-Interaktion gleichermaßen. Dabei wird die erzieherische Interaktion durch zwei übergreifende Variablengruppen – die intrapsychischen Bedingungsvariablen und das soziokulturelle Umfeld –

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

31

bestimmt, die auf SchülerInnen- und LehrerInnenseite wirksam sind (ebd., S. 258) sowie der ständigen Präsenz von gegenseitigen Rückmeldungen (ebd., S. 267f.). Nickel betont dabei den wechselseitigen Charakter und betrachtet die SchülerInnen nicht als passiv bzw. den Lehrenden nicht als einzigen aktiven Part (ebd., S. 267). Der Interaktionsprozess stellt sich nach Nickel (1985) als „…eine echte Wechselbeziehung dar, an der beide Seiten aktiven Anteil haben und durch die sie ihr Verhalten wechselseitig beeinflussen.“ (S. 267). Der transaktionale Charakter wird also so beschrieben, dass nicht nur die Lernenden in ihrem Verhalten durch die Lehrkraft beeinflusst werden, sondern dass auf der anderen Seite die Lehrperson ihr Verhalten ebenfalls an die Lernenden anpasst (ebd., S. 268). Die schematische Darstellung Nickels gestaltet sich wie in Abbildung 2 dargestellt, wobei Nickel die Vereinfachung in der Darstellung betont (ebd., S. 269). Im Folgenden sollen sowohl die intrapsychischen und soziokulturelle Variablen als auch die Rückmeldeprozesse kurz genauer betrachtet werden.

32

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Abbildung 2: Transaktionales Modell nach Horst Nickel (1985).

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

33

Das Verhalten der Lehrperson wird nach Nickel (1985) zunächst durch den soziokulturellen Bezugsrahmen bestimmt. Das bedeutet, dass die eigene Lernvergangenheit innerhalb und außerhalb der Familie sowie die eigene Berufserfahrung (vgl. Kapitel 2.5), aber auch aktuelle soziale Beziehungen, vor allem zu KollegInnen, und objektivierte Einflüsse, wie der Lehrplan oder Dienstanweisungen, zu bestimmten kognitiven Schemata bezüglich der Erziehungseinstellungen führen. Die Lehrkraft hat also durch diese Einflüsse konkrete Vorstellungen darüber, wie man sich in bestimmten erzieherischen Situationen verhalten sollte (ebd., S. 269ff.) und setzt diese um. Abgesehen von alltäglichen situationsbedingten Schwankungen verhält sich die Lehrkraft dabei relativ konstant und bildet einen verhältnismäßig stabilen Erziehungsstil aus (Tausch & Tausch, 1973; Nickel, 1985, S. 271). Dieses gezeigte Verhalten wird im Folgenden von den Lernenden durch den Filter der eigenen Erwartungshaltungen wahrgenommen (vgl. Kapitel 3.1.3). Wie die Lehrkraft wird der Schüler bzw. die Schülerin dabei durch den soziokulturellen Bezugsrahmen beeinflusst. Dabei handelt es sich auf SchülerInnenseite um aktuelle Beziehungen, vor allem die Zugehörigkeit zur eigenen Peergroup, aber auch vorangegangene Erfahrungen mit ErzieherInnen innerhalb und außerhalb der Familie sowie durch Medien vermittelte Erwartungen an Lehrkräfte, die zumeist bei den Lernenden ähnlich sind, da die SchülerInnen ähnliche Medien konsumieren (Nickel, 1985, S. 271). Nickel geht daher davon aus, dass die Lernenden trotz ihrer individuellen Unterschiede, Lehrende sehr ähnlich bewerten. Ausnahmen gibt es da, wo die bisherigen erzieherischen Erfahrungen sehr stark voneinander abweichen. In diesem Fall kann dieselbe Lehrkraft sehr unterschiedliche Reaktionen bei den Lernenden hervorrufen (ebd.). Dieses Verhalten der Lernenden wird von der Lehrkraft als Rückmeldung für den eigenen Unterricht wahrgenommen und wirkt entweder bestätigend oder korrigierend, womit sich lerntheoretisch die Wahrscheinlichkeit, das Verhalten wiederholt zu zeigen, erhöht oder vermindert. Somit modifizieren SchülerInnen mit ihrem Verhalten das LehrerInnenverhalten (ebd., S. 272). Nickel betont, dass eine Verhaltensmodifikation bereits vor der ersten verbalen Interaktion mit einer neu übernommenen Klasse stattfindet, etwa durch übermittelte Vorerfahrungen von KollegInnen mit dieser Klasse oder durch den ersten Eindruck der Klasse beim Betreten des Klassenraums (Nickel, 1985, S. 272). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Lehrperson das Verhalten der Lernenden nicht objektiv, sondern stets subjektiv verzerrt, wahrnimmt, da sie den intrapersonalen Bedingungsvariablen unterliegt (vgl. Kapitel 3.1.3). LehrerInnen können meist nur schwer einschätzen, wie ihr Verhalten auf die Lernenden wirkt (Schneider & Bodensohn, 2011; Schwertfeger, 2013). So zeigte

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Schwertfeger (2013), dass die Anzahl der von ihr befragten Lehrkräfte, die die Beziehung zu den Lernenden als vertrauensvoll-partnerschaftlich beschrieben, doppelt so hoch war wie der Anteil der SchülerInnen, die die Beziehung so einschätzten (ebd., S. 149). Diese Diskrepanz der Wahrnehmung kann sich im Interaktionsprozess als problematisch erweisen. Darüber hinaus besteht die Tendenz bei Lehrpersonen, die SchülerInnenreaktionen deutlich positiver einzuschätzen, als es objektive BeobachterInnen wahrnehmen (Wieczerkowski, 1970; Nickel, 1985, S. 272f.). Die eingeschränkte Wahrnehmung durch die Lehrkraft kann dabei zu Schwierigkeiten im Rückmeldeprozess führen. Kann eine Lehrperson die Reaktionen ihrer Schülerschaft nicht richtig einschätzen, kann sie demzufolge auch ihr eigenes Verhalten nicht mehr adäquat anpassen. Da die Lehrkraft jedoch unbedingt eine Rückmeldung braucht, orientiert sie sich verstärkt an ihren Erwartungshaltungen und impliziten Theorien (vgl. Kapitel 3.1.3), wodurch es zunehmend zu Wahrnehmungsverzerrungen kommt (Nickel, 1985, S. 273). Auf diese Weise erklärt Nickel LehrerInnen, die sich für erzieherisch sehr erfolgreich halten, jedoch für objektive BeobachterInnen einen völlig unangebrachten Lehrstil praktizieren (Nickel, 1985, S. 273). Er verweist an dieser Stelle auf die zentrale Rolle der LehrerInnenbildung, die über die Gefahr der verzerrten Wahrnehmung aufklären und dieser zugleich vorbeugen muss, beispielsweise durch objektive Rückmeldesysteme (Nickel, 1985, S. 273f.). Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Interaktion zwischen Lehrpersonen und Lernenden von vielfältigen Faktoren beeinflusst wird und sich komplex gestaltet, wie es in Nickels Modell deutlich wird. Dabei wird das Verhalten der Lehrkräfte nicht nur als Reaktion auf die konkrete Lerngruppe, sondern auch als Resultat vielfältiger außerschulischer Bedingungen gesehen (vgl. Abbildung 2). Es ist im Lichte dieser Erkenntnisse nicht verwunderlich, wenn sich individuelle Lehrpersonen in ähnlichen Situationen unterschiedlich verhalten. Die sozialen Wahrnehmungen nehmen dabei einen besonderen Platz ein und werden daher im folgenden Kapitel genauer betrachtet. Dabei soll geklärt werden, auf welche Weise soziale Wahrnehmungen im schulischen Kontext verlaufen, wodurch sie beeinflusst werden und inwiefern die Wahrnehmung von Lehrpersonen Effekte auf die Lernenden hat.

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

3.1.3

3.1.3.1

35

Soziale Wahrnehmung in der Schule: Einstellungen und Rollenerwartungen Allgemeines

In der Schule finden täglich Wahrnehmungsprozesse statt. Das gilt für die Wahrnehmung von Personen, die man neu kennenlernt, beispielsweise eine neue Lehrperson, als auch für Personen, die man schon länger kennt. Dabei kommt es bei neuen Personen relativ schnell zu einer Einschätzung, was eine schnelle Orientierung in der sozialen Umwelt ermöglicht (Rosemann & Bielski, 2001, S. 123). Anders als bei der Wahrnehmung von Objekten, werden Personen und deren Handlungen stets in Zusammenhang mit dem jeweiligen Kontext wahrgenommen, wobei aus der Wahrnehmung Überlegungen für das angemessene eigene Verhalten folgen (de Bruijn, Wiedemann & Rhodes, 2014, S. 653). „Solche Einschätzungen sind für das eigene Handeln von weitreichender Bedeutung. Das eigene Verhalten dem anderen gegenüber wird weitgehend vom wahrgenommenen Bild der anderen Person bestimmt.“ (Rosemann & Bielski, 2001, S. 123). So wird eine als angenehm und sympathisch wahrgenommene Person anders behandelt, als eine Person, die man ablehnt oder vor der man sich fürchtet (Rosemann & Bielski, 2001, S. 132). Die wahrgenommene Person reagiert wiederum auf das gezeigte Verhalten, indem sie ihrerseits ihr Verhalten modifiziert. So wird die soziale Situation wechselseitig strukturiert, wie Nickel es in seinem Modell darstellt (vgl. Kapitel 3.1.2). Dabei kann der individuelle Eindruck von derselben wahrgenommenen Person bei verschiedenen wahrnehmenden Personen sehr weit auseinandergehen (Clausen, 2002, S. 139f.), sodass ein Eindruck letztlich mehr über die wahrnehmende als über die wahrgenommene Person aussagt (Rosemann & Kerres, 1986, S. 35f.). „Die Mehrdeutigkeit der Ausdrucksmerkmale, die faktische Unmöglichkeit, die Genauigkeit der anderen Person überprüfen zu können, und die Reziprozität der Wahrnehmung lassen »Menschenkenntnis« als Fiktion erscheinen.“ (Rosemann & Bielski, 2001, S. 132). Explizit nennt Nickel in diesem Zuge in seinem transaktionalen Modell implizite Persönlichkeits- bzw. implizite Führungstheorien sowie Erwartungshaltungen, Einstellungen, Rollenerwartungen und Gewohnheiten (vgl. Abbildung 2), die die Wahrnehmung und damit das Handeln der Interagierenden beeinflussen und bei ihm in der intrapersonalen Bedingungsvariable gebündelt werden (Nickel, 1985, S. 285ff.). Im Folgenden sollen diese die Wahrnehmung beeinflussenden Faktoren daher genauer betrachtet werden.

36 3.1.3.2

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Normative und antizipatorische Erwartungen

Jede Lehrperson hat eine Vorstellung davon, wie ein Schüler oder eine Schülerin sein bzw. sich verhalten sollte. Andersherum haben SchülerInnen konkrete Vorstellungen darüber, wie eine „gute“ Lehrkraft sein sollte (Schweer, Thies & Lachner, 2017, S. 125f.). Diese normativen Erwartungen auf beiden Seiten führen dazu, dass bereits vor der ersten Begegnung spezifische Filtermechanismen wirksam sind. Die Rollenvorstellungen und Normen bestimmen, woran das Verhalten der Mitmenschen gemessen wird (Nickel, 1985, S. 259; Gleser, 2001, S. 162). Entwickelt haben sich Rollenvorstellungen dabei aus vorangegangenen eigenen Erfahrungen mit anderen Lernenden bzw. anderen Lehrenden oder durch die Verinnerlichung medial vermittelter Rollenvorstellungen (Nickel, 1985, S. 259). Aufseiten der Lehrkraft werden diese Vorstellungen darüber hinaus durch das berufliche Selbstverständnis bestimmt (Nickel, 1985, S. 259). Nimmt sie sich selbst beispielsweise als VermittlerIn von Lehrinhalten wahr, hat sie also andere Erwartungen an die Lernenden als wenn sie sich primär mit ihrer ErzieherInnenrolle identifiziert (Nickel, 1985, S. 260). Neben der Leistung der SchülerInnen spielt auch deren Anpassung an die in der Schule geltenden Normen, beispielsweise die Schulordnung, für die Lehrenden eine wichtige Rolle (ebd.). Da die Lehrkräfte in ihren vielfältigen Aufgaben, wie Qualifikation, Sozialisation und Selektion, von ihren SchülerInnen abhängig sind, richten sich ihre normativen Erwartungen jedoch insgesamt vor allem auf Leistung, aktive Mitarbeit und Anpassungsfähigkeit (Ulich, 2001, S. 89; Thies, 2010, S. 160) sowie Vertrauen und Freundlichkeit der Lernenden (Richey, 2016, S. 197). Vice versa fokussieren sich die normativen Erwartungen der SchülerInnen primär auf die emotionale Zuwendung und fachliche bzw. unterrichtliche Kompetenz der Lehrpersonen (Richey, 2016, S. 199; Fippinger, 1969, S. 138f.). Darüber hinaus bestehen normative Erwartungen an die charakterlichen Eigenschaften der Lehrkraft, wie beispielsweise Freundlichkeit, Humor, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft (Richey, 2016, S. 199). Rosemann (1978) hat den Prozess der ersten Wahrnehmung zwischen Lehrperson und Lernenden mit seinem klassischen Regulationsmodell beschrieben. Demnach wird das Verhalten der Lernenden durch die Lehrkraft danach beurteilt, ob es mit ihren normativen Vorstellungen übereinstimmt oder nicht (ebd., S. 42). In der ersten Interaktion fokussiert sich die Lehrkraft dabei vor allem auf die für sie subjektiv besonders bedeutsam erachteten Eigenschaften von SchülerInnen. Alle weiteren Verhaltensweisen werden zur ersten Eindrucksbildung zunächst nicht herangezogen (ebd., S. 44). Nach der ersten Begegnung tritt eine Erwartungskonkordanz bei Übereinstimmung bzw. eine Erwartungsdiskordanz bei Uneinigkeit ein,

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

37

wobei Erstgenanntes stets mit positiven und Zweitgenannten mit negativen Gefühlen aufseiten der Lehrkraft verbunden ist, beispielsweise Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Die Wahrnehmungsebene überträgt sich im nächsten Schritt sogleich auf das Handeln der Lehrperson. Bei Erwartungskonkordanz sieht sie beispielsweise keine Interaktionsschwierigkeiten mit dem bzw. der Lernenden und behandelt ihn bzw. sie freundlich und unterstützend (ebd., S. 45). Die normativen Erwartungen sind dabei sowohl in fachlichen als auch in sozialen Aspekten zu finden, obgleich beide nicht innerhalb kurzer Zeit adäquat eingeschätzt werden können. Obwohl die Bildung des ersten Eindrucks nur wenig Zeit, manchmal nur wenige Minuten dauert, ist die Bedeutung groß, da somit einige Verhaltensweisen wahrscheinlicher und andere weniger wahrscheinlich oder gar ausgeschlossen werden. Alle darauf folgenden Wahrnehmungen werden durch den Filter des ersten Eindrucks so modifiziert, dass sie diesen unterstützen, selbst wenn sie den ersten Erfahrungen widersprechen. Diese Annahmen werden auch durch aktuellere empirische Befunde unterstützt (Dünnebier, Gräsel & Krolak-Schwerdt, 2009, S. 193). Ein erster Eindruck ist somit relativ stabil (ebd.). Werden Lernende entsprechend dieses Eindrucks behandelt, modifizieren sie wiederum ihr Verhalten. So werden SchülerInnen, die sich unfreundlich oder ungerecht behandelt fühlen, wiederum negative Emotionen erleben und daraufhin ihr Verhalten anpassen. Ein Kreislauf setzt sich in Gang, in dem beide Seiten ihre Eindrücke bestätigt sehen (Rosemann, 1978, S. 45f.). Im Beziehungsverlauf nimmt die Bedeutung normativer Erwartungen zugunsten antizipatorischer Erwartungen ab (Petillon, 1982, S. 24). Letztere umfassen die Erwartungen, die eine Lehrkraft an einzelne SchülerInnen in der gemeinsamen Bekanntschaft auf Grundlage von Erfahrungen entwickelt hat. Die Lehrperson glaubt zu wissen, wie einzelne Lernende in konkreten Situationen reagieren werden, was sie tun bzw. nicht tun werden (Petillon, 1982, S. 71). So wird sie bei einem Schüler, der stets herausragende Leistungen erbringt, auch in der nächsten Leistungsüberprüfung eine ebensolche Leistung erwarten. Ebenso verhält es sich mit SchülerInnen, die schon mehrmals die Hausaufgaben vergessen oder im Test gemogelt haben. Die Lehrkraft entwickelt daraufhin Handlungsroutinen, die nicht immer förderlich sind und langfristig Auswirkungen auf die Lernenden haben können (ebd., S. 24f.).

38 3.1.3.3

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Unterschiedliches Lehrpersonenhandeln aufgrund antizipatorischer Erwartungen

Babad, Inbar und Rosenthal (1982) zeigten, dass Lehrkräfte, die von vorherigen Leistungen der Lernenden oder anderen Informationen über die SchülerInnen voreingenommener waren, die Lernenden auf Basis dieser Erwartungen unterschiedlicher behandelten (ebd., S. 469ff.). Eine von Babad (1995) durchgeführte Studie untersuchte außerdem das Teachers pet phenomenon, also das Phänomen von LehrerInnenlieblingen, und deren Einfluss auf das Klassenklima. Das Resultat ergab, dass in 49 Prozent der Klassenräume mehrere oder exklusive Lieblinge identifiziert wurden (ebd., S. 363). Die Studie untersuchte weiterhin das Ausmaß unterschiedlichen LehrerInnenverhaltens gegenüber leistungsstarken bzw. leistungsschwachen Lernenden in Klassenräumen mit und ohne LehrerInnenliebling. In Klassenräumen mit LehrerInnenliebling erhielten leistungsstarke SchülerInnen mehr emotionale und leistungsorientierte Unterstützung, während leistungsschwache SchülerInnen in beiden Bereichen deutlich weniger Unterstützung erhielten (ebd., S. 363f.). Lehrpersonen, die dazu neigen, LieblingsschülerInnen zu haben, tendieren also dazu, nach ihren Erwartungseffekten zu handeln. Diese unterschiedliche Behandlung resultierte in einer schlechteren Stimmung sowie einer niedrigeren Zufriedenheit vonseiten der Lernenden (ebd.). Lehrkräfte, die mit leistungsstarken SchülerInnen positiver agierten, wurden weniger von den Lernenden gemocht, als Lehrkräfte, die die leistungsschwachen Lernenden positiver behandelten (Babad, 1995, S. 372). 3.1.3.4

Auswirkungen erwartungsgeprägten Lehrpersonenhandelns auf die Lernenden

Auswirkungen auf Grundlage der selbsterfüllenden Prophezeiung Die Auswirkungen von antizipatorischen Erwartungseffekten auf die Lernenden können dabei verschiedene Formen annehmen. Besonders schwerwiegend sind Handlungsroutinen, wenn sie zum Effekt einer selbsterfüllenden Prophezeiung führen. Dabei handelt es sich um eine falsche Annahme über ein Verhalten oder eine Situation, die jedoch geglaubt wird und somit letztlich wirklich eintritt, wie Merton (1948) bereits beschrieb:

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

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“The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the original false conception come true. This specious validity of the self-fulfilling prophecy perpetuates a reign of error. For the prophet will cite the actual course of events as proof that he was right from the very beginning.”(ebd., S. 195)

Der Einfluss dieser Erwartungshaltungen wurde in der Pygmalion-Studie von Rosenthal und Jacobson (1971) untersucht, wobei ein Intelligenztest in 17 Klassen der unteren sechs Jahrgänge durchgeführt wurde. Den Lehrpersonen wurde nach diesem Test mitgeteilt, dass einige Kinder in nächster Zeit voraussichtlich starke Leistungsverbesserungen aufweisen werden, wobei die prognostizierten SchülerInnen jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden (ebd., S. 216). Nach vier Monaten wurde ein erneuter Intelligenztest durchgeführt, wobei die gemessene Intelligenzsteigerung der Experimentalgruppe die der Kontrollgruppe um ein beträchtliches Maß überstieg (ebd., S. 217ff.). Obgleich die Ergebnisse variierten und beispielsweise geringer ausfielen, wenn die Lehrkräfte die Lernenden bereits gut kannten und demnach ihre Erwartungen schon gefestigt hatten (ebd.), kann die grundsätzliche Schlussfolgerung erfolgen, dass die vom Lehrenden ausgehenden Signale, die durch seine bzw. ihre Erwartungshaltung entstehen, auf das Verhalten der Lernenden auswirken (Nickel, 1985, S. 260). Brophy und Good (1976, S. 64) beschrieben den Prozess der selbsterfüllenden Prophezeiung anhand eines aus sechs Phasen bestehenden Modells, das sich in folgende Bestandteile untergliedert (ebd.): Im ersten Schritt bilden sich zu Beginn des Schuljahres die Erwartungen der Lehrpersonen an die Leistungen und Persönlichkeiten der Lernenden durch Beobachtungen und Interaktionen im Klassenzimmer, wobei einige starr und veränderungsresistent sind, obgleich die Lernenden de facto ein anderes Verhalten zeigen. In Schritt 2 werden die Lernenden entsprechend dieser Erwartungen von der Lehrkraft behandelt. In Schritt 3 verhalten sich die Lernenden reziprok zur Lehrperson. Sie verhalten sich also bei verschiedenen Lehrkräften unterschiedlich, da sie von diesen auch unterschiedlich behandelt werden. In Schritt 4 verhalten sich die SchülerInnen, wie es die Lehrperson von ihnen erwartet. Somit werden die Erwartungen vonseiten der Lehrkraft positiv konditioniert und sie zeigt ihr Verhalten auch weiterhin. Im vorletzten Schritt 5 entspricht der Schüler bzw. die Schülerin den Erwartungen des bzw. der Lehrenden immer mehr. Das führt dazu, dass auch SchülerInnen, von denen die Lehrkraft unzutreffende, starre Erwartungen hat, diese mehr und mehr erfüllen. Daher beginnen sie, sich unnatürlich zu verhalten. Sind die Erwartungen jedoch nicht starr, kann die Lehrkraft sie nach und nach an die tatsächlich gezeigten Ver-

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

haltensweisen der Lernenden anpassen. Im letzten Schritt 6 kommt es zu messbaren Veränderungen der Produktwerte. Dies erfolgt, wenn die unterschiedliche Behandlung der Lernenden sich über einen längeren Zeitraum, beispielsweise ein ganzes Schuljahr, fortgesetzt hat. Eine vereinfachte Darstellung dieses Prozesses findet sich in Abbildung 3.

Abbildung 3: Prozess der selbsterfüllten Prophezeiung nach Brophy und Good (1976), vereinfachte Darstellung.

Die Erwartungshaltung der Lehrperson zeigt sich dabei durch die starke oder schwache emotionale Beziehung des Lehrenden zum Schüler bzw. zur Schülerin und dadurch, dass sie sich im Lehrverhalten mehr bzw. weniger um diese Lernenden bemüht (Ludwig, 2006, S. 135). Obgleich sich die Effekte auf die Intelligenz der Lernenden in Folgestudien nicht mehr replizieren ließ (Elashoff & Snow, 1971), konnten die weiteren gezeigten Effekte weiterhin nachgewiesen werden, wie beispielsweise bei Jussim und Eccles (1992), die zeigten, dass sich unterschiedliche Behandlungen durch die Lehrkräfte auf die Motivation und Leistungen der Lernenden auswirken können. Dazu untersuchten sie den Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung in einer Längsschnittstudie, der die Leistungserwartungen von MathematiklehrerInnen an ihre Lernenden zugrunde lag. Dabei konnten sie

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

41

ebendiesen Effekt bestätigen, indem sie nachwiesen, dass die erwarteten Leistungssteigerungen bei bestimmten SchülerInnen überdurchschnittlich oft eintraten, unabhängig von Motivation und Leistungsstand der ausgewählten Lernenden (ebd., S. 958ff.). Auch aktuellere Studien konnten Effekte auf den Leistungsstand und die Motivation der Lernenden nachweisen (Peterson, Rubie-Davies, Osborne & Sibley, 2016; Rubie-Davies, 2008; Rubie-Davies, Weinstein, Huang, Gregory, Cowan & Cowan, 2014). Andere verweisen hingegen auf eine geringe Bedeutung des Effekts der selbsterfüllenden Prophezeiung, konnten aber immerhin deutliche Auswirkungen hinsichtlich sozial stigmatisierter Gruppen nachweisen (Jussim & Harber, 2005, S. 143). Weitere Auswirkungen erwartungsgeprägten Lehrpersonenhandelns Auch wenn Erwartungen nicht immer als selbsterfüllende Prophezeiung wirken, können sie einen erheblichen Einfluss auf den Lernerfolg und dabei in positiver wie in negativer Richtung große Konsequenzen für die Lernenden mit sich bringen. Weinsteins Studien konnten beispielsweise zeigen, dass Klassen mit stark differentiell agierenden Lehrkräften eine stärkere Korrelation zwischen der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung und den schulischen Leistungen sowie den emotionalen und sozialen Entwicklungen der Lernenden aufwiesen (Kulinski & Weinstein, 2001, S. 1555). Bei Lerngruppen mit stark differentiell agierenden Lehrkräften konnten dabei neun bis 18 Prozent der Leistungsunterschiede auf die LehrerInnenerwartungen zurückgeführt werden, während es in Klassen mit einem niedrigen Level an differentiellen LehrerInnenhandeln nur ein bis fünf Prozent waren (Kuklinski & Weinstein, 2001, S. 1567ff.). Hohes differentielles Verhalten ging dabei mit hohen Erwartungen und mehr Partizipationsmöglichkeiten sowie mehr Aufgabenauswahl für leistungsstarke auf der einen und anweisende, negative und einschränkende Aufgaben für leistungsschwache Lernende auf der anderen Seite einher (Marshall & Weinstein, 1986, S. 445ff.). Insgesamt werden stark differentiell agierende Lehrkräfte von Weinstein so beschrieben, dass sie Lerngruppen tendenziell eher in homogene Gruppen – nach Leistung, Fähigkeiten, aber auch Herkunft – unterteilten und sich beim Unterrichten auf diese Unterschiede bezogen (Weinstein, 2002, S. 121). In Hinsicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten bezüglich Intelligenz und Leistung sahen sie Grenzen für die leistungsschwachen Lernenden (vgl. Kapitel 3.1.3.6) und waren daher nicht bereit, sich für Leistungsverbesserungen dieser SchülerInnen verantwortlich zu fühlen (Weinstein, 2002, S. 135). Sie neigten darüber hinaus mehr dazu, die Lernenden durch Belohnungen extrinsisch zu motivieren und eine von Konkurrenz geprägte Atmosphäre

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

im Klassenraum herzustellen (ebd.). Des Weiteren war der Unterricht stark lehrerInnenzentriert ausgerichtet, wobei die Lernenden immer wieder auf Anweisungen und Hilfe durch die Lehrkraft angewiesen waren. Methoden für die Durchsetzung waren dabei Zuschreibungen und Drohungen durch die Lehrkraft (Weinstein, 2002, S. 135). Im Allgemeinen wirken sich hohe Erwartungen und leichte Überschätzungen günstig auf die Motivation und die Leistung der Lernenden aus (Ritts, Patterson & Tubbs, 1992, S. 418f.; Ladd & Linderholm, 2008, S. 236f.), vor allem bei leistungsschwächeren SchülerInnen (Madon, Eccles & Jussim, 1997, S. 795f). Hingegen sind niedrigere Erwartungen und in Folge auch negative Konsequenzen für Lernende mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Milieus zu verzeichnen (Tenenbaum & Ruck, 2007, S. 261; Rubie-Davis, Hattie & Hamilton, 2006). Diese vielfältigen Auswirkungen zeigen, wie relevant qualitativ hochwertige LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen für das tägliche Unterrichtsgeschehen sind. 3.1.3.5

Wahrnehmung von unterschiedlichem Lehrpersonenhandeln durch die Lernenden

Weitere Studien konnten darüber hinaus zeigen, dass die Lernenden die unterschiedliche Behandlung durch die Lehrpersonen wahrnahmen und ihrerseits ihr Verhalten daraufhin modifizierten. Effekte auf die Selbstwahrnehmung konnten dabei bei SchülerInnen der fünften, nicht jedoch der ersten und dritten Klasse, nachgewiesen werden, wobei die ForscherInnen darauf hinwiesen, dass in den jüngeren Jahrgängen die Effekte direkter ausfielen und nicht durch eine veränderte Selbstwahrnehmung zum Ausdruck kommen (Kuklinski & Weinstein, 2001, S. 1567f.). Weinstein und ihre KollegInnen untersuchten Teachers‘ differential behavior, also das unterschiedliche Verhalten von Lehrkräften, und analysierten zu diesem Zweck, wie Lernende das Verhalten der Lehrpersonen, vor allem gegenüber verschiedenen SchülerInnen, interpretieren. Die Lernenden wurden dazu angehalten, die Unterschiede im LehrerInnenhandeln in Bezug auf hypothetisch leistungsschwache bzw. leistungsstarke Lernende zu beschreiben (Weinstein & Middlestadt, 1979, S. 422). Diese Wahrnehmungen über die Lehrkraft wurden verglichen, woraus zum einen Lehrpersonen klassifiziert werden konnten, die sich sehr unterschiedlich und zum anderen solche, die sich kaum oder gar nicht unterschiedlich gegenüber den Lernenden verhalten (Marshall & Weinstein, 1986, S. 443). Dabei konnten jedoch Altersunterschiede festgestellt werden. Während die jünge-

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

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ren angaben, dass leistungsstarke SchülerInnen mehr kritisiert wurden, kehrte sich dieses Verhältnis in den älteren Klassen um und Kritik wurde eher bei leistungsschwachen Personen festgestellt (Weinstein, Marshall, Sharp & Botkin, 1987, S. 1087f.). Babad, Bernieri und Rosenthal (1987) untersuchten in Hinblick auf die Wahrnehmung der antizipatorischen Erwartungshaltungen der Lehrpersonen durch die SchülerInnen außerdem, inwieweit bereits ViertklässlerInnen die Unterschiede im LehrerInnenverhalten wahrnahmen, indem er ihnen zehn Sekunden lange Videosequenzen zeigte, die Lehrkräfte in Interaktion mit leistungsstarken und schwachen Lernenden zeigten (ebd., S. 411ff.). Obgleich die Sequenzen nur die agierende Lehrkraft zeigten, konnten die ViertklässlerInnen sagen, ob diese mit leistungsstarken oder -schwachen SchülerInnen agierten (ebd.). In Hinblick auf die Wahrnehmung der Unterstützung der Lernenden durch die Lehrkraft konnte darüber hinaus von Babad (1995) gezeigt werden, dass diese bei Lehrenden und Lernenden sehr unterschiedlich ausfallen können. Befragte man Lehrkräfte und SchülerInnen separat, so wurden Übereinstimmungen in Hinblick auf die Wahrnehmung der differentiellen Lernunterstützung deutlich. Die Lernenden als auch die Lehrenden schätzten die Verhaltensweisen der Lehrkraft zwar übereinstimmend so ein, dass diese leistungsschwächere Lernende stärker unterstützte. Anders verhielt es sich jedoch bei der emotionalen Unterstützung. Während die Lernenden der Ansicht waren, die Lehrkräfte würden verstärkt die leistungsstärkeren SchülerInnen emotional unterstützen, waren die LehrerInnen der Meinung, sie würden emotional stärker auf die leistungsschwächeren SchülerInnen eingehen (Babad, 1995, S. 362). Wie Brophy und Good (1974) jedoch gezeigt haben, könnten sich die Lehrkräfte bei ihren Einschätzungen täuschen. 3.1.3.6

Individueller Umgang von Lehrpersonen mit ihren antizipatorischen Erwartungshaltungen

Obwohl die meisten einmal gefassten antizipatorischen Erwartungen vonseiten der Lehrkraft sehr stabil sind (Dubs, 2009, S. 450), wurde bereits deutlich, dass sich nicht alle Lehrpersonen in ihrem Handeln an ihren Erwartungshaltungen orientieren und es auch Lehrkräfte gibt, die die Lernenden gleich behandeln. Obgleich auch diese Lehrkräfte durch individuelle Erwartungshaltungen geprägt sind, sind sie in der Lage, ihr Verhalten nicht oder weniger an diesen auszurichten, wie Marshall und Weinstein (1985) zeigen konnten (ebd., S. 15f.). Nach Brophy und Good (1976, S. 160f.) können Lehrpersonen in diesem Zuge in drei Typen unterteilt werden, je nachdem, wie sie mit ungerechtfertigten

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Erwartungen an ihre SchülerInnen umgehen. Die proaktive Lehrkraft verfügt zumeist über individualisierte Erwartungen an die Lernenden, die sowohl zutreffend als auch flexibel sind. Sie registriert Veränderungen bei den Lernenden und passt ihre Unterrichtsgestaltung entsprechend an. Die reaktive oder passive Lehrkraft nimmt individuelle Unterschiede zwar wahr, passt ihre Unterrichtsgestaltung jedoch nicht daran an. Zu einer unflexiblen Stereotypisierung neigt schließlich die überreaktive Lehrkraft, die geringen Unterschieden zwischen den individuellen Lernenden eine ihr nicht zukommende Wichtigkeit zuschreibt und die SchülerInnenschaft letztlich als Zweigruppenschema von „guten“ und „schlechten“ Lernenden wahrnimmt. In Hinblick auf differentielles LehrerInnenhandeln schlug Babad (1993, S. 357) eine Konzeptualisierung vor, indem er drei Handlungsmuster unterschied. Das erste Muster umfasste Lehrpersonen, deren Feedback zumeist als relativ gerecht eingestuft wurde und das daher nicht mehr als differentielles LehrerInnenhandeln betrachtet werden konnte. Das zweite Handlungsmuster zeichnete sich dadurch aus, dass leistungsschwächere SchülerInnen tendenziell mehr Lernunterstützung erhielten, womit die Lehrperson versuchte, die Leistungsschwäche auszugleichen. Das dritte und letzte Muster umfasst Lehrpersonen, die eine warme, emotionale Beziehung vergleichsweise häufiger zu leistungsstarken Lernenden aufbauten. Während Babad die ersten beiden Muster als gerecht erachtete, bezeichnete er das letzte als unerwünscht, wobei gerade diese Lehrkräfte ihr eigenes Verhalten häufig anders wahrnahmen (S. 357f.). Es zeigt sich somit wiederum, wie individuell sich das Verhalten der Lehrpersonen gestaltet, selbst wenn ihrem Verhalten ähnliche Erwartungshaltungen zugrunde liegen. 3.1.3.7

Implizite Theorien

Eine weitere Modifizierung der Wahrnehmung entsteht durch implizite Persönlichkeitstheorien, womit „Annahmen über Eigenschaftszusammenhänge, die in die Wahrnehmung und Beurteilung anderer Personen einfließen“ (Nickel, 1985, S. 261) gemeint sind. Es handelt sich also um eine Vereinfachung im Rahmen sozialer Wahrnehmungsprozesse, wobei auf der Grundlage von einer beobachtbaren Eigenschaft einer Person (z. B. dem Tragen einer Brille) auf weitere bislang unbekannte Eigenschaften (z. B. deren Intelligenz) geschlossen wird (Cronbach, 1955, S. 184, Riemann, 2006, S. 19f.). Die Eigenschaften werden subjektiv als korrelierend wahrgenommen und führen somit zu einer holistischen und zügigen Eindrucksbildung (Schweer, Thies & Lachner, 2017, S. 124; Gleser, 2001, S. 161).

3.1 LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion als ko-konstruktiver Prozess

45

Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass auch das Geschlecht (She, 2000; Köpke & Harkins, 2008), das Alter, die Attraktivität (Dion, Berscheid & Walster, 1972; Dunkake, Kiechle, Klein & Rosar, 2012; Jackson, 1992; Rost, 2006) sowie der sozioökonomische Status (Murray & Murray, 2004; Pace, Mullins, Beesley, Hill & Carson, 1999) das Verhalten der Lehrpersonen beeinflussen können. So wurden Lernende aus der Mittelschicht beispielsweise in Untersuchungen im Unterricht von Lehrpersonen deutlich häufiger gelobt und bestärkt als Lernende aus der Unterschicht (Belschner & Hoffmann, 1972, S. 281f.). Außerdem waren Beziehungen der Lehrperson zu afroamerikanischen Lernenden aus der Unterschicht vergleichsweise konfliktreicher (Murray & Murray, 2004, S. 755ff.). In Hinblick auf das Geschlecht der Lernenden wurde festgestellt, dass Mädchen bei gleicher Leistung günstiger beurteilt und Jungen häufiger getadelt werden (Brophy & Good, 1976, S. 21). Außerdem wurde im Verhältnis der Lehrpersonen zu Jungen ein stärkeres Ausmaß an Konflikt und Distanz in der SchülerInnen-LehrerInnenBeziehung festgestellt (Köpke & Harkins, 2008, S. 850ff.). Weiterhin konnten schon geringe Altersunterschiede der SchülerInnen gewisse Erwartungen bei den Lehrkräften bewirken. So bestehen an jüngere Lernende meist geringere Erwartungshaltungen, auch innerhalb derselben Jahrgangsstufe (Nickel, 1985, S. 261). In Hinblick auf Intelligenz gibt es nach Dweck und Legett (1988) zwei unterschiedliche implizite Theorien: die entity theory, auch Nicht-Veränderbarkeitstheorie, und die incremental theory, Veränderbarkeitstheorie (ebd., S. 269). Die Nicht-Veränderbarkeitstheorie umfasst die Aussage, Intelligenz sei eine feste Größe, die durch das Individuum selbst nicht verändert werden könne. Die incremental theory besagt hingegen, dass Intelligenz veränderlich und durch Leistungsanstrengungen beeinflussbar ist (ebd.). In Untersuchungen wurde deutlich, dass VertreterInnen der unterschiedlichen Theorien andere Ziele verfolgen und demzufolge anders handeln. So führten Lehrpersonen, die der Nicht-Veränderbarkeitstheorie angehören, ungenügende Leistungen der Lernenden auf deren mangelnde Intelligenz zurück, während Lehrpersonen, die der Veränderbarkeitstheorie zugeordnet wurden, diese mit mangelnder Anstrengung begründeten (Schlangen & Stiensmeier-Pelster, 1997, S. 170f.). Folglich lag der Fokus bei den Rückmeldungen der Lernenden ebenfalls eher auf veränderlichen Aspekten bei den VertreterInnen der Veränderbarkeitstheorie oder auf festen Größen, wie beispielsweise Begabung, bei den VertreterInnen der Nicht-Veränderbarkeitstheorie (Ziegler, 1999). Dabei konnten je nach Rückmeldungen Veränderungen in den individuellen impliziten Theorien der Lernenden festgestellt werden. Darüber hinaus wurden Motivation und das allgemeine Verhalten der Lernenden in Lernsituationen beeinflusst (Spinath & Freiberger, 2011, S. 113). VertreterInnen der Nicht-Veränder-

46

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

barkeitstheorie neigten außerdem eher dazu, SchülerInnen zu beschuldigen oder zu bestrafen, wenn sie unerwünschtes Verhalten zeigten (Erdley & Dweck, 1993, S. 868ff.) und tendierten eher zu stärkeren Stereotypisierungen (Levy, Stroessner & Dweck, 1998, S. 1427ff.).

3.2

3.2.1

Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnenInteraktion Einleitung

Der Wunsch nach Anerkennung ist jedem Menschen – vom Säugling bis zum Greis – innewohnend (Hafeneger, 2002, S. 52; Moldenhauer, 2015, S. 50). Es verwundert also nicht, dass sich in der Geistesgeschichte viele bekannte Philosophen, wie Rousseau (1956, 1962) und Hegel (1807), eingehend mit Anerkennung auseinandergesetzt haben. Anerkennung ist für die menschliche Existenz von zentraler Bedeutung (Todorov, 1996, S. 95), was sich auch in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung zeigt. Ob und wie ausgeprägt Lehrpersonen mit den SchülerInnen vorwiegend anerkennend oder verletzend interagieren, kann vielfältige Konsequenzen für die Lernenden haben. Im Folgenden sollen daher die Anerkennungstheorie nach Honneth sowie die Besonderheiten von Anerkennung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung erläutert werden. Im Anschluss wird betrachtet, wie sich anerkennendes und verletzendes Verhalten der Lehrkraft im Schulkontext äußert und welchen Einfluss dieses Verhalten auf die Lernenden haben kann. 3.2.2

Sozialphilosophische Grundlagen nach Honneth (1992)

Vor allem auf Hegel Bezug nehmend (1807/2006), erkennt auch Honneth (1992) die gesellschaftlichen Bezüge eines Menschen als Voraussetzung für eine ungestörte Selbstbeziehung (ebd., S. 8). Seine Position gilt damit „als Begründungsfolie zur Etablierung von Anerkennung als einem normativen Postulat für die pädagogische Praxis“ (Balzer, 2007, S. 52). Honneth (1992) formuliert dabei drei Bereiche der Anerkennung: Liebe, Recht und Solidarität bzw. Wertschätzung (ebd., S. 8). Im Bereich der emotionalen Zuwendung bzw. Liebe erkennen die Individuen die emotionale Bedürftigkeit des anderen. Sie sind sich einig, in ihrer Bedürftigkeit voneinander abhängig zu sein (ebd., S. 153). Daher ist dieses Anerkennungsverhältnis „notwendigerweise an die leibhaftige Existenz konkreter Anderer gebunden, die

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

47

einander Gefühle besonderer Wertschätzung entgegenbringen.“ (ebd., S. 153f.). Üblicherweise findet diese Anerkennungsbeziehung zum ersten Mal zwischen einem Neugeborenen und seinen Eltern statt und setzt sich später in Freundschaften und Liebesverhältnissen fort (ebd., S. 154f.). Das Gelingen dieser Form schafft Selbstvertrauen, welches einen fundamentalen Bestandteil der Identitätsbildung darstellt und somit die Voraussetzung für die weiteren Anerkennungsformen bildet (ebd., S. 172). Wird die physische Integrität eines Individuums angegriffen, kann das Selbstvertrauen des Individuums zerstört werden (ebd., S. 211ff.). Die nächste Anerkennungsform der Rechtsverhältnisse hat die kognitive Achtung des anderen als gleichgestelltes Rechtssubjekt und gleichberechtigten Interaktionspartner zum Gegenstand. Dadurch, dass beide Interaktionspartner den gleichen Gesetzen gehorchen, gestehen sie sich gegenseitig die Fähigkeit zu, vernünftige Entscheidungen über moralische Fragen zu treffen und erkennen einander an (Honneth, 1992, S. 177). Dadurch erfährt das Subjekt Selbstachtung. Wird jedoch seine psychische Integrität durch Entrechtung oder Ausschließung verletzt und missachtet, kann die Selbstachtung nicht erlangt werden (ebd., S. 211ff.). Die dritte und letzte Form umfasst die soziale Wertschätzung, also die Anerkennung der Eigenschaften und Fähigkeiten eines Subjekts in Hinsicht auf die Aufrechterhaltung einer bestimmten Gemeinschaft (Honneth, 1992, S. 180; Micus-Loos, 2012, S. 309). Durch den Vergleich mit anderen erfährt das Subjekt, welche Fähigkeiten es auszeichnen. Dabei konzentriert sich das Individuum besonders auf die Eigenschaften, die es positiv von anderen unterscheidet. Es wird sich daraufhin seines einzigartigen Werts bewusst und entwickelt ein Selbstwertgefühl (Honneth, 1992, S. 139). Beleidigungen und Entwürdigungen können das Gelingen dieser Anerkennungsform verhindern und mit dem „Verlust persönlicher Wertschätzung und der Empfindung sozialer Scham“ (Micus-Loos, 2012, S. 309) verbunden sein. Hat ein Individuum in allen drei Bereichen Anerkennung erfahren, verfügt es demnach über Selbstvertrauen, Selbstachtung und ein Selbstwertgefühl und damit über alle Voraussetzungen für eine intakte Identitätsbildung und eine gelungene Selbstbeziehung (Honneth, 1992, S. 220ff.). Wird einem Individuum in seiner Entwicklung Anerkennung in einem der drei Bereiche vorenthalten oder erfährt es gar Missachtung, so schadet das dem Individuum, kann negative Gefühlsreaktionen wie Wut und Scham hervorrufen oder sogar „die Identität zum Einsturz bringen“ (ebd., S. 213).

48 3.2.3

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Die Besonderheiten von Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung

Nutzt man Honneths Theorie für die Analyse der SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung ergeben sich einige Einschränkungen und Besonderheiten. Die über die erste Form der emotionalen Zuwendung hinausgehenden Anerkennungsformen entwirft Honneth für die Beziehung erwachsener Menschen zueinander. Das zeigt sich darin, dass Honneth einen gewissen Bildungsgrad und Rechtskenntnisse bei den Subjekten voraussetzt (Honneth, 1992, S. 190; Helsper, Sandring & Wiezorek, 2005, S. 181). Im Unterschied zu anderen Anerkennungsbeziehungen handelt es sich bei der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung jedoch um eine asymmetrische Beziehungsstruktur, da sie kein Beziehungsverhältnis zweier erwachsener Menschen zum Gegenstand hat, sondern durch eine generative Differenz und darüber hinaus durch die Rahmenbedingungen der Institution Schule charakterisiert ist. Daraus resultiert eine Machtasymmetrie. Aus diesem Grund ist es beispielsweise üblich, dass die Lehrperson zwar das Verhalten der Lernenden anzweifeln kann, nicht aber andersherum (Helsper et al., 2005, S. 182). Faktisch werden die Leistungen des Schülers bzw. der Schülerin von der Lehrkraft bewertet und nicht umgekehrt. Diese Statusungleichheit beeinflusst das wechselseitige Anerkennungsverhältnis. Weiterhin sind die drei Formen von Anerkennung im schulischen Kontext eng miteinander verknüpft und nicht zweifelsfrei voneinander zu trennen. Die charakterlichen Besonderheiten der SchülerInnen – als noch nicht vollständig sozialisierte Individuen – sind nicht immer von der moralischen Zurechnungsfähigkeit zu unterscheiden (Kramer, Helsper & Busse, 2001, S. 194). Eine Missachtung im rechtlichen und sozial wertschätzenden Bereich oder eine negative Leistungsbewertung kann darüber hinaus zur Folge haben, dass der Schüler bzw. die Schülerin das Vertrauen zur Lehrperson auch auf der emotionalen Ebene verliert (ebd., S. 193) usw. Anerkennungsformen sind folglich zwar auf analytischer Ebene trennbar, greifen aber in der Praxis aufeinander über. Doch Honneths Anerkennungsbegriff birgt nicht nur die Schwierigkeit der nicht realisierbaren Unterscheidung der drei Anerkennungsformen im schulischen Alltag, sondern für einige Autoren auch eine inhärente begriffliche Ambivalenz zum pädagogischen Handeln. Lernenden werden von Lehrpersonen stets Formen von Anerkennung zuteil, beispielsweise in Form von Korrekturen, Bewertungen und Beurteilungen, aber auch in den täglichen Interaktionen im Unterricht. Dabei ist pädagogisches Handeln nicht immer bestätigend, sondern auch sanktionierend. Honneth meint jedoch, Anerkennung sei nur ebendiese, „wenn ihr primärer Zweck

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

49

affirmativ auf die Existenz der anderen Person oder Gruppe gerichtet ist.“ (Honneth, 2004, S. 56). Honneths Theorie muss also im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern modifiziert und erweitert werden, um Anerkennung in pädagogischen Modellen erfassen zu können. 3.2.4

Anpassung der Anerkennungstheorie für die SchülerInnen-LehrerInnenBeziehung

Zahlreiche Versuche wurden unternommen, den Begriff der Anerkennung auf die SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung zu transferieren. Im Folgenden soll eine Auswahl davon vorgestellt werden. Erst mit „Pädagogik der Vielfalt“ von Prengel (1993) erschien eine explizit pädagogische Anerkennungstheorie (Micus-Loos, 2012, S. 310), die sich als „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ (Prengel, 1993, S. 62) versteht. Demnach wird sowohl die Anerkennung von Gleichheit, aber auch von Verschiedenheit, gefordert (ebd.). Prengel bezieht sich dabei vor allem auf Honneths dritte Anerkennungsform – die soziale Wertschätzung. Anerkennung stellt in diesem Zusammenhang eine Art politische Maßnahme zur Durchsetzung der Rechte sozial benachteiligter Gruppen, wie Migranten, Frauen, Geflüchteter oder behinderter Menschen dar (Prengel 1993, 133f., S. 158f.). Darüber hinaus fördert eine Pädagogik der Vielfalt „…persönliche Bildungsprozesse, sowie Qualifikations- und Sozialisationsprozesse und wirkt den schädlichen Folgen des im Bildungssystem vorherrschenden Selektionsprinzips entgegen.“ (Prengel, 1993, S. 62). Dabei grenzt sich Prengel von der Vorstellung ab, dass Anerkennung nur Bestätigung und Lob für die Lernenden umfasst, und erklärt, dass diese ebenfalls in der Konfrontation mit Problemen, konstruktiver Kritik oder Grenzsetzungen zu finden ist (Prengel, Zapf, Klauder, Zschipke & Müller, 2012, S. 8f.; Prengel, 2002, S. 208f.). Zugleich warnt sie vor der Vorenthaltung von Anerkennung. „Wenn das Bedürfnis anerkannt zu werden, ungenügend beantwortet und der Mangel an Anerkennung zu groß wird, kann sich die Not darin äußern, dass ich mich über andere stelle und sie mir entwertend oder gewalttätig unterordne, um mir so eine Erfahrung anerkannt zu sein zu verschaffen.“ (Prengel, 2013, S. 31).

Gleichzeitig kritisiert sie, dass das „Problem seelischer Verletzungen durch Erwachsene, die Kinder nicht in der Familie, sondern in Schulen […] erleiden, […] wenig beachtet [wird].“ (Prengel & Winklhofer, 2014, S. 17, vgl. Kapitel 3.2.5.2).

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Die drei von Honneth aufgestellten Stufen emotionale Zuwendung und Liebe, rechtliche Achtung sowie soziale Wertschätzung überträgt sie wie folgt auf den pädagogischen Kontext (Prengel, 2013, S. 60ff.). Bezüglich der ersten Anerkennungsform der Liebe bzw. emotionalen Wertschätzung spricht Prengel im pädagogischen Kontext vom Prinzip der „Solidarität mit Fremden“ (ebd., S. 61ff.) und bedient sich dabei einer für den Arztberuf bzw. allgemein für die Arbeit am Menschen gedachten Beschreibung von Brunkhorst (1997), der sogenannten „Solidarität unter Fremden“. Diese bezieht sich jedoch auf eine wechselseitige Solidarität, sodass Prengel die Formulierung leicht zu einer „Solidarität mit Fremden“ abändert, sodass die der pädagogischen Beziehung innewohnende Hierarchie berücksichtigt wird (Prengel, 2013, S. 62). Als solidarisch werden dem Alter angemessene, anerkennenden pädagogische Beziehungen verstanden, die neben Unterstützung durch „entwicklungsförderliche Abgrenzungen und Zumutungen“ (ebd., S. 63) gekennzeichnet sind. In Hinblick auf die rechtliche Achtung kommt zum einen die Gleichheit der Lehrpersonen und Lernenden als TrägerInnen von Rechten zum Tragen, der ein durch einen Wissensvorsprung der Lehrkraft hierarchisch geordnetes Verhältnis gegenübersteht (Prengel, 2013, S. 82f.; Helsper, Sandring & Wiezorek, 2005, S. 184f.). Prengel spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der „gleichen Freiheit“ in pädagogischen Beziehungen (ebd.). Um den SchülerInnen eine demokratische Sozialisation und Menschenrechtsbildung zukommen zu lassen, sei es wichtig, diese Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden möglichst vertikal zu entwickeln (ebd., S. 83). Zu diesem Zweck könne, wie in der Erziehungsstilforschung (vgl. Kapitel 4.4), das Prinzip der Reversibilität als Leitsatz gelten, das danach fragt, inwiefern das Handeln der Lehrpersonen, beispielsweise die Art und Weise, sich zu äußern, umgekehrt auch von den SchülerInnen gegenüber der Lehrperson gezeigt werden könnte (Prengel, 2013, S. 83). Auch Transparenz derjenigen Bereiche, in denen Gleichheit bzw. Ungleichheit herrscht, beispielsweise in Form eines gemeinsam erarbeiteten Regelwerks, unterstützt das Prinzip der gleichen Freiheit (ebd., S. 84; Rump-Räuber, 2007, S. 114f.; Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V., 2018, S. 45) und kommt im Alltag zum Tragen, wenn Gleichheiten und Freiheiten der SchülerInnen ausgehandelt, festgelegt und zugleich begrenzt werden (Prengel, 2013, S. 84f.). Honneths dritte Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung wird bei Prengel in Hinblick auf die Leistungsbewertungen betrachtet, wobei durch die vielfältigen selektiven Maßnahmen des deutschen Schulsystems, wie das Sitzenbleiben oder die Zuordnung der Lernenden zu verschiedenen Schulformen, dem leistungsschwächeren Teil der Lernenden diese Form von Anerkennung vorent-

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

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halten wird (Prengel, 2013, S. 86ff.). Stereotypisierungen und negative Formulierungen, wie beispielsweise von „schlechten“ SchülerInnen, könnten schließlich mit Diskriminierungen, Entwicklungshemmungen und Lernblockaden bei den betroffenen SchülerInnen einhergehen, womit die Schule ihrer Aufgabe von Qualifikation und Sozialisation nicht mehr nachgehen könne (ebd.). Betont wird jedoch, dass jede Schule mit ihrer eigenen Schulkultur sowie jede individuelle Lehrperson innerhalb der vorgegebenen Strukturen über einen gewissen Handlungsspielraum verfügt (ebd., S. 88). Um allen Lernenden soziale Wertschätzung zu ermöglichen, nennt sie in dem Zuge eine Reihe von Maßnahmen, um die soziale Wertschätzung aller Lernenden zu fördern. Zu diesen Maßnahmen zählt beispielsweise das Arbeiten mit Kompetenzen, um jedes Kind von seiner individuellen Lernausgangslage aus zu fördern (ebd.). Betont wird dabei, dass der interpersonelle Leistungsvergleich nicht aufgehoben, jedoch weniger zentral für den alltäglichen Unterricht sowie behutsam begleitet werden soll (Prengel, 2013, S. 89f.). Honneths drei Stufen von Anerkennung müssen sich in der Schule nicht widersprechen, sondern können sich ergänzen, was Prengel (2002; S. 212ff.) damit zeigt, dass sie fünf Perspektiven schulischer Anerkennung beschreibt, die alle unentbehrlich und miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich zum einen um die Perspektive der schulischen Anerkennung der Menschenrechte, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Prinzipien des Grundgesetzes auch innerhalb der Schule gelten. So sind physische oder psychische Verletzungen untersagt und alle Kinder sind an Rechten gleichgestellt. Die Anerkennung der Mitgliedschaft umfasst, dass alle SchülerInnen, unabhängig von Leistungsstand oder Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer Schul- bzw. Klassengemeinschaft erfahren können. Zugleich sollen nach der dritten Perspektive die individuellen SchülerInnenpersönlichkeiten mit ihren eigenen Lernprofilen berücksichtigt und anerkannt werden. Diese drei Perspektiven bilden die Basis der Anerkennung, auf die die folgenden zwei Perspektiven aufbauen. Die vierte Perspektive beschreibt die Notwendigkeit einer fairen Konkurrenz, die beispielsweise durch Wettbewerbe von Lernenden mit ähnlichen Leistungsvoraussetzungen oder anderen Möglichkeiten, wie der Gewährung eines Vorsprungs, gewährleistet werden kann. Als nicht fair ausgetragene Wettbewerbe gelten dabei solche, bei denen SiegerInnen bzw. VerliererInnen von Vorherein feststehen, da Lernende sehr unterschiedlicher Leistungsniveaus gegeneinander antreten (ebd., S. 213). Die fünfte Perspektive beinhaltet die Anerkennung von Stärken und Schwächen durch Leistungsvergleiche mit einer Lehrplannorm. Die Lernenden sollen also darüber informiert werden, wie ihr Leistungsstand im Vergleich zur Lehrplannorm ist, was meist in Form von Notengebung erfolgt (ebd.).

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Prengel konstatiert dabei, dass mit dieser letzten Perspektive in Regel- und reformpädagogisch orientierten Schulen sehr unterschiedlich umgegangen wird (ebd., S. 214). Erstgenannte fokussieren sich auf diese Perspektive unter Vernachlässigung der Anerkennung der Menschrechte, der Mitgliedschaft und der individuellen Lernprofile, sodass sie drohen „zu gleichschaltenden, kulturell verarmenden, Angst machenden Lehranstalten“ (ebd.) zu werden. In manchen reformpädagogischen Schulen wird die fünfte Perspektive hingegen vernachlässigt und ausgeblendet oder gar als schülerInnenfeindlich abgelehnt (ebd., S. 213f.). Daher sollten individuelle Leistungsschwächen nach Prengel (2002) nicht beschönigt oder ignoriert werden und zugleich keinen Anlass für Bloßstellung und Demütigung darstellen, sondern wahrgenommen und anerkannt werden (ebd., S. 214f.). In seiner bildungsphilosophischen Anerkennungstheorie konzentriert sich Stojanov (2007) auf die dritte Anerkennungsform nach Honneth. Mit dem Ziel, Bildungsgerechtigkeit herbeizuführen, fordert er, dass neben einer gerechten Güterverteilung auch eine „bestimmte[…] Qualität von Sozialbeziehungen“ (ebd., S. 42) für Kinder und Jugendliche aller sozialen Schichten in Form der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung realisiert wird. Er fordert weiterhin, dass allen Lernenden das „Potenzial zur individuellen Autonomie unterstellt“ (Stojanov, 2008, S. 525; 2006, S. 164ff.) wird, was für ihn mit dem Vorgang der Selbstentwicklung einhergeht, die wiederum in der Schule durch soziale Wertschätzung in pädagogischen Beziehungen herbeigeführt werden soll (Stojanov, 2006, S. 33). Stigmatisierungen durch eine abweichende Herkunft bzw. durch eine kulturell abweichende Sozialisation lehnt er ab (Stojanov, 2008, S. 526) und fordert stattdessen, die „persönlichen und unverwechselbaren, biographisch eingebetteten Eigenschaften und Kompetenzen so zu artikulieren, dass sie als ein potentieller Beitrag und/oder eine Bereicherung für die Gesamtgesellschaft gelten können“ (Stojanov, 2007, S. 43). Daher seien weder methodische, noch didaktische Kenntnisse die Hauptaufgabe im LehrerInnenberuf, sondern die Fähigkeit zur interindividuellen Anerkennung (Stojanov, 2006, S. 168ff.). Anders als Prengel und Stojanov sehen Balzer und Ricken den Mangel an Anerkennung nicht als Ursache für mangelnde Bildungsgerechtigkeit (Ricken, 2006, S. 222). Darüber hinaus kritisieren sie eine einseitige Sicht auf Anerkennung als „ein wertschätzendes und unterstützendes Handeln des Akzeptierens oder Respektierens“ (Ricken, 2009, S. 88). Im schulischen Kontext unterscheiden sie zwischen zwei möglichen Verwendungen des Anerkennungsbegriffs. Zum einen sehen sie Anerkennung als Prinzip pädagogischen Handelns und zeitgleich als ethische Kategorie an, wobei Anerkennung grundsätzlich positiv konnotiert ist und die Lehrperson in den Blick ge-

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

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nommen wird (Balzer, 2014, S. 585). Dabei handelt es sich um die individuelle Wertschätzung aller Lernenden einer Klasse um ihretwillen, also ohne dabei deren Leistungen zu berücksichtigen (ebd.). Diese Verwendung des Begriffs umfasst darüber hinaus institutionelle Strukturen, die Anerkennung begünstigen oder verhindern, und Folgen der Anerkennung bzw. Verletzung. Sie fordert in diesem Zusammenhang, dass jedes pädagogische Handeln zugleich Anerkennungshandeln sein solle (Balzer, 2014, S. 585). Diese Verwendung ähnelt dem Begriffsverständnis von Prengel und Stojanov. Darüber hinaus verstehen sie Anerkennung als Form der Machtausübung, wobei diese die ausschließlich positive Konnotation verliert, da verdeutlicht wird, dass „Anerkennungspraxen […] immer in Machtverhältnisse und -ordnungen eingebettet“ (Balzer, 2007, S. 59) sind. Anerkennung wird in diesem Zuge zum einen als Mittel der Unterwerfung und Ausgrenzung und zum anderen als Mittel zur Ermöglichung und Produktion verstanden (ebd.; Honneth, 2018, S. 224ff.). Daher kann Anerkennung nicht ausschließlich positiv oder negativ sein, sondern ist stets ambivalent (Künkler, 2014, S. 39). In Hinblick auf Anerkennung als Mittel der Unterdrückung beziehen sie sich auf Butler (2003, S. 32) und stellen fest, dass Anerkennung erst auf Grundlage von gesellschaftlichen Kategorien stattfindet. Erst wenn sich das Individuum – oder im Kontext der Schule konkret die Lernenden – diesen gesellschaftlichen Normen unterwerfen, erhalten sie Anerkennung aufgrund ihrer dann gezeigten „anerkennungsfähigen sozialen Existenz“ (Butler, 2001, S. 24). So erhält beispielsweise ein Schüler vonseiten der Lehrkraft in der Regel erst Anerkennung, wenn er sich beispielsweise entschließt, fleißig mitzuarbeiten, sich höflich und hilfsbereit zu verhalten oder seine Hausaufgaben ordnungsgemäß zu erledigen. Es lastet daher Druck auf ihm, sich dementsprechend zu verhalten. Zugleich handelt es sich bei Anerkennung in dieser Lesart um ein „performatives Adressierungs- und Subjektivierungsgeschehen“ (Ricken, 2009, S. 78), womit zum Ausdruck gebracht wird, dass sich die Wahrnehmung des Individuums bzw. des Lernenden in just dem Moment ändert, in dem die sprachliche Äußerung vollzogen wird. Jaeggi (2006) geht davon aus, dass die Zuordnung bestimmter Identitäten, wie sie durch Anerkennungsprozesse vollzogen wird, zu einer Einschränkung von Freiheit führt. Sie schreibt dazu: „Freiheit ist dann nicht Abwesenheit von Bestimmtheit und unbestimmte Offenheit, sondern aneignende Transformation. Und die (soziale) Bestimmtheit ist nicht äußere Grenze, sondern umzuarbeitendes Material, ein zunächst gesetzter bzw. gegebener Ausgangspunkt, der gleichwohl (und nur dann) als unser "eigenes" aufgefasst werden kann.“ (Jaeggi, 2006, S. 16)

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Danach könnten also auch positive Zuschreibungen beschränkend und verletzend sein (ebd., S. 17). „Anerkennung ist hier nie reziprok, sie ist von einem Machtgefälle gezeichnet und stellt dieses Machtgefälle her. Anerkennung, so aufgefasst, ist konstitutiv asymmetrisch.“ (Jaeggi, 2006, S. 6). Insgesamt, konstatiert Balzer (2014, S. 578), ist Anerkennung also „nicht ein entweder negatives oder positives, sondern ein machtproduktives wie reproduktives Geschehen“. Kritisiert werden kann an diesem Anerkennungsverständnis, dass die destruktiven Formen von Missachtung mit ihren möglicherweise traumatisierenden Auswirkungen weitgehend aus dem Blick geraten. Auch Helsper und Lingkost (2002, S. 132) konkretisieren den Anerkennungsbegriff im Hinblick auf schulischen Kontext. Dabei unterscheiden sie drei Dimensionen. Die erste Dimension umfasst die emotionale Anerkennung und Vertrauen, was durch eine freundliche, interessierte und offene Haltung vonseiten der Lehrkraft gekennzeichnet ist, wodurch die Grundlage für ein professionelles Arbeitsbündnis erschaffen wird (ebd.). Moralische Anerkennung beschreibt die zweite Dimension. Die SchülerInnen sollen dabei gerecht behandelt werden und gleiche Rechte und Möglichkeiten erhalten (ebd., S. 133), beispielsweise durch die Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitbeteiligung innerhalb des Unterrichts und der Schule. Die letzte Dimension umfasst die Anerkennung der konkreten Individuen „aufgrund ihrer spezifischen Leistungen, Eigenschaften, ihres Lebensstils und ihrer Selbstdarstellung“ (ebd., S. 136). In diesem Zuge machen sie jedoch auch deutlich, dass die institutionellen Rahmenbedingungen die Durchführung der drei Dimensionen erschweren. Beispielsweise sind der Mitbestimmung der Lernenden im schulischen Alltag Grenzen gesetzt. Darüber hinaus steht der vorgeschriebene Umgang mit Leistungsunterschieden im Zuge der Selektionsfunktion der Schule der dritten Dimension entgegen (ebd., S. 133). Weiterhin ist die emotionale Anerkennung durch die Zuschreibung von Lehrpersonen zu bestimmten Klassen sowie der Schulpflicht allgemein erschwert (ebd.). Helsper, Sandring und Wiezorek (2005, S. 184) konstatieren, dass schulische Anerkennungsverhältnisse vor allem durch die zweite und dritte Form der Honnethschen Anerkennung zu beschreiben sind. Mit dem Schulbeginn würden die Lernenden erstmals zum Träger gesellschaftlicher Verpflichtungen bzw. gesellschaftlicher Rechte. Das Anerkennungsverhältnis des Rechts ist somit durch die gesetzliche Schulpflicht begründet (ebd.). In rechtlicher Hinsicht sind Lehrende und Lernende dabei gleichgestellt und ihre Beziehung wird als symmetrisch gekennzeichnet:

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

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„Insofern begrenzt die gesellschaftlich institutionelle Rahmung der Schule die Statusdifferenz zwischen dem Kind bzw. dem Heranwachsenden und dem Erwachsenen; die Schüler-Lehrer-Beziehung gründet basal auf einer über das Recht verlaufenden Anerkennungsform: Beide, Lehrer wie Schüler, stehen sich in der Institution Schule jeweils als Träger von Rechten und Verpflichtungen gegenüber.“ (ebd., S. 184).

Erst im Bereich der zweiten Honnethschen Anerkennungsform, der sozialen Wertschätzung, werde eine Asymmetrie deutlich. In Hinblick auf die Erwartung des Wissensaustauschs werde deutlich, dass die Lernenden sich gegenüber den Lehrkräften unterordnen müssen, wofür ihnen im Gegenzug Wissen vermittelt werde (ebd., S. 187). „Dass der Lehrer dem Schüler das Maß an kultureller Bildung zukommen lässt, welches ihm die Einsozialisation in die Gesellschaft und die Herauskristallisierung der Fähigkeit zur Rollenübernahme ermöglicht, ist also mit der Einbindung des Schülers in eine asymmetrische Beziehungsstruktur zum Lehrer verbunden.“ (Helsper, Sandring & Wiezorek, 2005, S. 186).

Zentrale Kriterien sozialer Wertschätzung im schulischen Rahmen seien dabei Noten in Hinblick auf fachliche Leistungen und mündliche Rückmeldungen in Form von Lob und Tadel in Hinblick auf erwünschtes Verhalten (ebd., S. 185ff.). Dabei liege das Hauptaugenmerk auf Verhaltensweisen, die die Lehrpersonen hinsichtlich gesellschaftlicher Kompetenz- und Wertevorstellungen für erstrebenswert halten (ebd.). Durch die gesetzten Erwartungen und dem damit einhergehenden stetigen Vergleich der Lernenden gebe es jedoch stets einen Anteil an SchülerInnen, der diesen Anforderungen nicht genügt und dem somit Anerkennung vorenthalten bleibt (ebd., S. 191). Darüber hinaus würden durch die verschiedenen Formen der Rückmeldung die Kategorien der rechtlichen Anerkennung und der sozialen Wertschätzung miteinander verbunden, sodass Helsper, Sandring und Wiezorek (2005) für diese Verflechtung die Kategorie der institutionellen Anerkennung entworfen haben (ebd., S. 191). Diese Kategorie liege demnach vor, wenn „Interaktionen in sozialen Anerkennungsverhältnissen einerseits immer an die in affektiven Primärbeziehungen angelegten Grunddispositionen des Selbstvertrauens, der Selbstachtung und Selbstschätzung anknüpfen und andererseits Anerkennung in schulischen Interaktionen besonders auf die Ebenen rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschatzung zugleich zielt.“ (ebd.).

Damit gehe einher, dass auch sachlich geäußerte Kritik auf die ganze Person der Lernenden ausstrahlen kann, sodass diese sich auch auf emotionaler Ebene abgelehnt fühlen (ebd., S. 192f.). Reflektiertes LehrerInnenhandeln kann diese Effekte

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

abmildern, beispielsweise durch die Offenlegung von Bewertungsmaßstäben. Verhalten sich Lehrkräfte hingegen verletzend, beispielsweise durch die Abwertung der Lernenden bzw. ihrer Leistungen, könnten die Effekte massiv verschärft werden (Hericks, 2007, S. 212f.), wie auch in Kapitel 3.2.5 deutlich wird. Empirische Untersuchungen zu anerkennendem Verhalten im schulischen Kontext haben derweil unterschiedliche Einsichten ermöglicht. Lussi und Huber (2015) konzentrierten sich in ihrer Studie hingegen auf die Wechselbeziehung von erlebter Anerkennung in der Schule und der Entwicklung individueller Werte (ebd., S. 5). Sie ermittelten mit ihrer Studie schulische Erlebnisse, die für die Entwicklung von Werten bei Lernenden bedeutsam waren und führten zu diesem Zweck 20 biografisch-narrative Interviews mit 19- bis 21-jährigen Personen aus der Schweiz durch. Bei allen Befragten stellten positive oder negative Anerkennungsmomente eine wichtige Kategorie schulischer Erfahrungen dar (ebd., S. 13). Es wurde deutlich, dass Anerkennung im Honnethschen Sinne eine zentrale Kategorie darstellte und eng verbunden mit der Ausprägung von Werten war. Fühlten sich die Versuchspersonen als Lernende wertgeschätzt, geliebt und respektiert, entwickelten sie neben Sicherheits- und Leistungswerten auch die Werte Offenheit, Altruismus oder Toleranz. War ihre Schulzeit von einem Anerkennungsmangel durchzogen, wurden Sicherheitswerte vorgezogen (ebd., S. 18f.). Lussi und Huber stellen weiterhin fest, dass die Wertigkeit der drei Honnethschen Anerkennungsformen bei den jungen Erwachsenen nicht gleichmäßig ausgeprägt sind. Während die rechtliche Anerkennung auf gesellschaftlicher Ebene weniger bedeutend für sie war, war in Hinblick auf die LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung vor allem die soziale Wertschätzung und bezüglich der Peer-Beziehungen sowohl die soziale Wertschätzung als auch die emotionale Anerkennung von Bedeutung (ebd., S. 25f.; Kammler, 2013). In diesem Zuge konstatieren sie, dass gerade in westlichen Gesellschaften, in denen die soziale Wertschätzung vor allem über die schulischen Leistungen erfolgt, leistungsschwache SchülerInnen davon kategorisch ausgeschlossen sind (ebd.; Kammler, 2013). In Hinblick auf verschiedene Fächer und genderbezogene Aspekte konnte anerkennendes und verletzendes Verhalten von Prengel und ihren KollegInnen untersucht werden. Auf Basis des „INTAKT“-Datensatzes, der die empirische Basis dieser Dissertation darstellt (vgl. Kapitel 6.1), wurden bereits mehrere empirische Studien zu den alltäglichen anerkennenden, neutralen, verletzenden sowie ambivalenten LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen durchgeführt. Prengel, Tellisch und Wohne (2016) werteten in Hinblick auf Anerkennung im Fachunterricht 10.704 Feldvignetten aus und verglichen die vier Schulfächer Mathematik, Deutsch, Sport und Musik miteinander in Hinblick auf anerkennende und verlet-

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

57

zende LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen (ebd., S. 11). Als anerkennende Interaktionen waren Szenen definiert, die besonders deutlich oder beiläufig anerkennend wahrgenommen wurden. Verletzende Szenen wurden hingegen als beiläufige oder heftige und eindeutige Verletzung beschrieben (Prengel et al., 2002, S. 8). Szenen, in denen starke Widersprüche wahrgenommen wurden, wurden als ambivalent und Szenen, in denen weder Anerkennung noch Ambivalenz oder Verletzung zum Tragen kam, als neutral eingestuft (ebd.). Dabei stellten sie zunächst insgesamt ein Verhältnis von etwa 70 Prozent anerkennenden und neutralen Interaktionsszenen fest, denen 30 Prozent verletzendes und ambivalentes Handeln gegenüberstanden (Prengel, Tellisch & Wohne, 2016, S. 11). Die Tendenz, dass es mehr anerkennende und neutrale Szenen gibt, blieb dabei über alle untersuchten Fächer hinweg gleich. Es konnten jedoch Unterschiede zwischen den Fächern festgestellt werden. So kam es im Fach Sport zu dem höchsten Anteil an anerkennendem und neutralem Verhalten von etwa 80 Prozent. Im Deutschunterricht lag der Prozentsatz leicht über- und im Mathematikunterricht leicht unterhalb der durchschnittlichen 70 Prozent des untersuchten Teildatensatzes (ebd., S. 11), während nur etwas über 60 Prozent im Musikunterricht festgestellt werden konnten, der somit die schlechteste Bilanz aufwies (ebd.). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte Tellisch (2015) in ihrer Analyse des Musikunterrichts in Hinblick auf anerkennendes und verletzendes Verhalten, die wiederum den „INTAKT“-Datensatz nutzte. In ihrer qualitativ-quantitativen Untersuchung konnte sie Beispiele aufzeigen, in denen Musikunterricht die Lernenden zu engagierter Innovationskraft ermutigte, aber auch solche, in denen es zu chaotischen, beinahe unkontrollierbaren Zuständen kam (ebd., S. 213ff.). Ob Jungen und Mädchen unterschiedlich häufig von anerkennenden und verletzenden Interaktionen im Unterricht betroffen sind, untersuchten Prengel, Tellisch, Wohne und Wysujack (2017), wobei sie etwa 12.000 Szenen des „INTAKT“-Datensatzes auswerteten. Anerkennende und neutrale Interaktionen wurden dabei zu einem größeren Anteil von 70 Prozent an Mädchen gerichtet, während der Anteil bei Jungen nur 65 Prozent umfasste (ebd., S. 126). Außerdem stellten sie bei 24 Prozent an Mädchen und 28 Prozent an Jungen gerichtete verletzende Interaktionen eine knappe Differenz fest. Verletzendes Verhalten von Lehrkräften wurde auch in deutschsprachigen und internationalen Studien beachtet, wenngleich noch in geringem Umfang, wie im folgenden Kapitel 3.2.5 deutlich wird.

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

3.2.5 3.2.5.1

Verletzungen in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung Begriffsklärung

Es gibt verschiedene Studien zu verletzendem LehrerInnenhandeln, die inhaltlich teilweise verschiedene Verhaltensweisen als verletzend ansehen und untersuchen und daher im Folgenden unterschieden werden müssen. In internationalen Untersuchungen, die die Grundlage für Kapitel 3.2.5.2 und 3.2.5.3 darstellen, werden neben verletzenden LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen auch den Unterricht betreffende Aspekte, die sich negativ auf das Lernen und die Lernenden auswirken, untersucht. Dazu gehören beispielsweise eine mangelnde Unterrichtsorganisation oder häufiges Zuspätkommen der Lehrkraft. Dabei sind Parallelen zur Definition negativen LehrerInnenhandelns nach Schmitz, Voreck, Hermann und Rutzinger (2006) zu erkennen, die meinen: „Die Bandbreite negativen Lehrerverhaltens ist breit und reicht von langweiligem Unterricht bis hin zur körperlichen Gewalt“ (Schmitz et al., 2006, S. 10). Davon abgrenzen kann man explizit verletzende LehrerInnen-SchülerInnenInteraktionen, in denen Lehrpersonen Gewalt gegenüber den Lernenden ausüben und die in Kapitel 5.2.5.3 dargestellt werden. Dabei wird von folgender umfassender Definition von Schubarth und Winter (2012) ausgegangen: „‚Lehrergewalt‘ ist demnach die von Schülerinnen und Schülern wahrgenommene Schädigung oder Verletzung durch Lehrpersonen. Diese Schädigung kann in physischer Form (durch Körperkraft oder Gegenstände) oder in psychischer Form (durch Abwertung und Ablehnung, durch Vorenthalten von Zuwendung und Vertrauen, durch seelisches Quälen und emotionales Erpressen) erfolgen. Unterformen der psychischen Gewalt sind die verbale Gewalt (Schädigung und Verletzung durch beleidigende, erniedrigende und entwürdigende Worte), die nonverbale Gewalt (durch Gesten, Mimiken, Blicke u.ä.) und die indirekte psychische Gewalt (durch Ignorieren, Ausgrenzen, Schlechtmachen u.ä.). Hinzu kommen lehrerspezifische psychische Gewaltformen wie Bloßstellen vor der Klasse, Demotivieren, Noten als Disziplinierungsmittel, ungerechte Strafen u.ä. Eine besondere Form ist die sexuelle Lehrergewalt in verbaler oder körperlicher Form.“ (ebd., S. 4, Hervorh. im Orig.).

3.2.5.2

Internationale Studien zum Fehlverhalten von Lehrpersonen

Während anerkennendes und wertschätzendes Verhalten in unterschiedlichen Forschungstraditionen im Zusammenhang mit der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung untersucht wurde, ist negatives Verhalten von Lehrkräften auch international ein weitgehend tabuisiertes Forschungsthema (Lewis & Riley, 2009, S. 417). Ei-

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

59

nige wenige internationale Forschungsarbeiten befassen sich mit dem Fehlverhalten von Lehrkräften, das auch verletzendes Verhalten von Lehrpersonen beinhaltet. Gemeint ist damit ein Verhalten der Lehrkräfte, das zu einem Rückzug der Lernenden führt (ebd.). Kearney, Plax, Hays und Ivey (1991) definieren Fehlverhalten von Lehrkräften dabei als Verhalten, das „interfere with instruction and thus, learning” (ebd., S. 310). Daher untersuchten sie das Fehlverhalten von Lehrkräften, indem sie Erwachsene baten, diejenigen Verhaltensweisen zu benennen, die sich negativ auf ihr Lernen in der Schulzeit ausgewirkt hatten (Kearney et al., 1991, S. 313; Goodboy & Myers, 2015, S. 136f.). Die Antworten umfassten Inkompetenz, schlechte Lehrpraktiken, seelische Verletzungen – wie beispielsweise durch Unhöflichkeit oder Sarkasmus – sowie Trägheit und Zuspätkommen vonseiten der Lehrperson (Kearney et al., 1991, S. 314ff.). Nachfolgende Studien ergaben darüber hinaus mangelnde Glaubwürdigkeit (Banfield, Richmond & McCroskey, 2006, S. 68f.), mangelnde Klarheit (Goodboy & Myers, 2015, S. 141), Zuschreibungen zu den SchülerInnen (Kelsey, Kearney, Plax, Allen & Ritter, 2004, S. 49f.) und die Unnahbarkeit von Lehrkräften (Thweatt & McCroskey, 1998, S. 348) als Indikatoren für das Fehlverhalten von Lehrkräften. Die Vielzahl der von den Lernenden genannten demotivierenden Verhaltensweisen, die beispielsweise bei Kearney und ihren KollegInnen 1.762 Beschreibungen der ehemaligen SchülerInnen umfassten (Kearney et al., 1991, S. 318ff.), wurde von verschiedenen ForscherInnen in Kategoriensystemen angeordnet, um die Übersichtlichkeit und somit Verwendbarkeit zu gewährleisten. Das Kategoriensystem von Goodboy und Myers (2015) umfasst beispielsweise die drei Kategorien Feindseligkeit, Unterricht und Artikulation (Goodboy & Myers, 2015, S. 145). Bolkan stellte im Jahr 2017 auf Grundlage von Kearney et al. (1991), Goodboy und Myers (2015) und Thweatt und McCroskey (1996) sechs Kategorien auf, in die sich die zahlreichen demotivierenden Verhaltensweisen gliedern lassen (Bolkan, 2017, S. 88ff.): Pünktlichkeit und Fehlzeiten (bspw. Zuspätkommen), Organisation und Strukturierung des Unterrichts (bspw. schlecht vorbereitete Stunden), unsensibler Umgang mit den Lernenden als Individuen (bspw. durch Anschreien), Nichtverfügbarkeit (bspw. genervte Reaktion auf Fragen der Lernenden), ungerechte Bewertung (bspw. Bevorzugung einzelner SchülerInnen) und schlechte Präsentation des Unterrichts (bspw. durch fehlenden Enthusiasmus). Hinsichtlich des Fehlverhaltens von Lehrkräften ist darüber hinaus zu beachten, dass es mit unterschiedlicher Häufigkeit auftritt. So berichten Kearney et al. (1991), dass vor allem langweiliger Unterricht, Abschweifen vom Unterrichtsinhalt, ungerechte Leistungsüberprüfungen und das späte Zurückgeben von Arbeiten besonders häufig von den ProbandInnen genannt werden (Kearney et al., 1991,

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

S. 318). Goodboy und Myers Ergebnisse stimmen in den ersten drei Punkten überein, ergänzen jedoch einen Mangel an Technologie und ein Übermaß an Informationen als am häufigsten genannte Kategorien (Goodboy & Myers, 2015, S. 142). Befragt man die Lernenden über verschiedene Kulturkreise hinweg zur Häufigkeit des Fehlverhaltens ihrer Lehrkräfte, erhält man ähnliche Ergebnisse (Zhang, 2007, S. 212f.): ein Übermaß an Informationen, langweiliger Unterricht, Abschweifen vom Unterrichtsinhalt, Lernende über die Unterrichtszeit hinaus in der Klasse behalten bzw. vorzeitige Entlassungen werden am häufigsten benannt. Die Konsequenzen, die das Fehlverhalten von Lehrkräften bei den Lernenden hervorrufen, sind dabei vielfältig (Kearney et al., 1991, S. 320). Es kann zu Demotivation (Zhang, 2007, S. 211), vermindertem Interesse (Broeckelman-Post, Tacconelli, Guzman, Rios, Calero & Latif, 2016, S. 206f.), geringer wahrgenommener Glaubwürdigkeit und Kompetenz (Banield, Richmond & McCroskey, 2006, S. 65) sowie geringerer Partizipation und Kommunikationszufriedenheit führen (Goodboy & Bolkan, 2009, S. 210). Insgesamt kann das Fehlverhalten also zu erheblichen Lernhemmnissen aufseiten der SchülerInnen führen. 3.2.5.3

Ursachen für das Fehlverhalten von Lehrkräften

Kelsey, Kearney, Plax, Allen und Ritter (2004) untersuchten darüber hinaus, wie SchülerInnen die Ursachen für das Fehlverhalten ihrer Lehrkräfte einschätzten. Dabei kam heraus, dass sie die Gründe vor allem bei der Lehrkraft sahen, nicht aber bei den Umständen der konkreten Unterrichtssituation (Kelsey et al., 2004, S. 43). Daher fragten sich die SchülerInnen beim Fehlverhalten der Lehrkraft, ob diese überhaupt imstande sei, zu unterrichten. Somit gingen die SchülerInnen implizit von einem stabilen Verhalten der Lehrkraft aus (vgl. Kapitel 0). Lernende fühlten sich beim Fehlverhalten von Lehrkräften außerdem häufig in ihrem Recht zu Lernen beschnitten, was sich beispielsweise in folgender Aussage äußert: „How can she expect me to learn when she’s not motivated to teach me?“ (Kelsey et al., 2004, S. 53). Lewis und Riley (2009) untersuchten die Faktoren, die das Fehlverhalten von Lehrkräften begünstigten und gingen dabei von drei möglichen Erklärungsansätzen aus (ebd., S. 423ff.): den Ursachenerklärungen, die Lehrpersonen für das Verhalten Lernender heranziehen, der Selbstwirksamkeitserwartung der Lehrpersonen und ihrem Bindungsstil. Basierend auf der Attributionstheorie kommt demnach Fehlverhalten von Lehrpersonen dann zustande, wenn diese unerwünschtes Verhalten der Lernenden vornehmlich auf internale und stabile Ursachen zurückführen (ebd., S. 423), was

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

61

mit negativen Zuschreibungen einhergeht. So wird ein Schüler beispielsweise destruktiv ermahnt, leise zu sein, da die Lehrerin die internale negative Zuschreibung hat, dieser sei ein Störenfried. Sie sieht die Ursache für das ihrer Meinung nach negative Verhalten des Schülers also in seiner Boshaftigkeit oder anderen unveränderbaren negativen Eigenschaften, die sie ihm zuschreibt. So wird über Zuschreibungen die Verantwortung für nicht gelingende Kommunikation auf den SchülerInnen übertragen, die, nach Ansicht der Lehrperson, das destruktive Verhalten der Lehrperson herausfordern und verdienen (ebd.). Teilweise betreffen solche Zuschreibungen ganze Klassen. Lehrpersonen können ihr Verhalten also damit rechtfertigen, dass sie ihr aggressives Handeln als den einzigen Weg sehen, mit den SchülerInnen solcher Klassen umzugehen (ebd.): „Consequently, when a student exhibits behaviour that teachers find confronting and challenging, some respond by giving the student what ‚kids of this kind‘ deserve” (ebd., S. 423). Somit sehen sich die Lehrkräfte entmutigt, sich anerkennend zu verhalten und fühlen sich gegenüber dem von ihnen wahrgenommenen Fehlverhalten der SchülerInnen ohnmächtig, was wiederum das individuelle Stressempfinden erhöht (ebd.). In der Konsequenz ist auf Attributionen zurückzuführendes verletzendes Verhalten relativ stabil. In diesem Zuge sind Parallelen zur Nichtveränderbarkeitstheorie (Dweck & Legett, 1988) festzustellen, bei denen AnhängerInnen davon ausgehen, Lernende könnten ihre Persönlichkeit und Intelligenz nicht beeinflussen und diese somit nicht individuell fördern (vgl. Kapitel 3.1.3.6) In Hinblick auf die Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Kapitel 2.2) kann die Erklärung für das Fehlverhalten von Lehrkräften darin liegen, dass diese sich inkompetent bzw. die schulischen Herausforderungen als nicht zu bewältigen empfinden. So handeln sie in stressreichen Unterrichtssituationen nicht so, dass es das Beste für die SchülerInnen ist, sondern konzentrieren sich auf ihre eigenen Bedürfnisse(ebd., S. 424). Sie könnten demnach beispielsweise aggressiv handeln, um sich selbst zu schützen, auch wenn sie damit den Lernenden schaden (vgl. Risikomuster B nach Schaarschmidt, 2013; Kapitel 4.2.1). Auch Lehrkräfte mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung können sich aggressiv gegenüber den Lernenden verhalten, wenn sie beispielsweise eine eher transmissive und auf Kontrolle ausgerichtete Lehr-Lerntheorie vertreten. In diesem Fall nehmen sie an, so die besten Effekte, beispielsweise hinsichtlich des Klassenmanagements, zu erzielen (Lewis & Riley, 2009, S. 424). Die Bindungstheorie (vgl. Kapitel 3.1.1) sucht Ursachen aggressiven LehrerInnenhandelns weniger in den Bereichen des Stresslevels der Lehrpersonen oder des provokativen Verhaltens seitens der SchülerInnen, sondern im Bereich der erworbenen Bindungsstile der Lehrpersonen. Nach Lewis und Riley können diese

62

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Stile die Methoden des Unterrichtsmanagements vorhersagen. Demnach handeln Lehrkräfte, die als Kind zu ihren primären Bezugspersonen unsicher vermeidend gebunden waren, beispielsweise aggressiver und können weniger gut mit ihren Emotionen umgehen als sicher gebundene Lehrpersonen (ebd., S. 425f.). Da die Bindungsstile relativ stabil sind, kann davon ausgegangen werden, dass das daraus resultierende LehrerInnenhandeln ebenfalls relativ gleichbleibend ist. Das folgende Kapitel geht in diesem Zuge ausführlicher auf die Bindungstheorie ein. Insgesamt zeigten Lewis und Riley, dass es Zusammenhänge zwischen Stresserleben und Fehlverhalten der Lehrkräfte gibt, was wiederum zu vielen kurz- und langfristigen negativen Konsequenzen für die Lernenden aber auch für die Lehrenden selbst führen kann (ebd., S. 428). Dabei wurde deutlich, dass obwohl das Fehlverhalten sowohl von den agierenden Lehrpersonen als auch von deren SchülerInnen wahrgenommen wurde, die Lernenden dieses etwa doppelt so häufig wahrnahmen wie die Lehrenden selbst (ebd.). Lewis und Riley fordern daher gezielte Interventionsstrategien für sich fehlverhaltende Lehrkräfte, die jedoch auf Basis der jeweiligen Theorie unterschiedlich ansetzen muss (ebd.). Sie zeigten darüber hinaus zahlreiche Aspekte, die auf ein kontinuierliches bzw. diskontinuierliches LehrerInnenhandeln schließen lassen. So verweisen die Bindungs- sowie die Attributionstheorie auf ein relativ stabiles LehrerInnenhandeln. Die Selbstwirksamkeitserwartung zeigt hingegen, dass Belastungen individuell unterschiedlich stark empfunden werden, je nachdem wie hoch die Erwartungen an die eigene Selbstwirksamkeit sind, und dieselbe Lehrperson somit in objektiv ähnlichen Unterrichtssituationen je nach subjektiv wahrgenommener Belastung unterschiedlich agieren kann. 3.2.5.4

Verletzungen in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Obgleich Gewalt an Schulen bereits lange untersucht wird, konzentrierten sich die Untersuchungen im deutschsprachigen Raum bis in die 1990er Jahren lediglich auf von SchülerInnen ausgehende Gewalt (Schubarth & Winter, 2012, S. 1; Klewin, Tillmann & Weingart, 2002, S. 1078). Auch in der aktuellen öffentlichen Wahrnehmung werden eher die Lernenden als „problematisch“ gesehen, sei es aufgrund ihrer Leistungen und Motivation oder gar aufgrund von Gewalt bis hin zu Amokläufen (ebd.). Aktuell gibt es immer noch wenige Studien zu verletzendem Verhalten von Lehrpersonen (Schubarth & Ulbricht, 2015, S. 281). Vor allem Verletzungen durch verbale Äußerungen sind bislang ein marginalisiertes Thema, das bisweilen sogar in seiner Existenz geleugnet wird (Herrmann, Krämer & Kuch, 2007, S. 9; Hirsch & Delhom, 2015, S. 196). Sprache

3.2 Anerkennung und Verletzung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

63

selbst sei jedoch ein „Medium der Gewaltausübung“, wie Herrmann, Krämer und Kuch (2007, S. 7) konstatieren und könne mit fatalen Folgen für die Lernenden einhergehen (Janssen, 2018, S. 42). Zudem sei diese Form der Gewaltausübung seit dem Ende der Prügelstrafe die häufigste Form der Gewaltausübung im schulischen Kontext (ebd.). In einer der ersten Untersuchungen befragten Krumm und Weiß (2000b) fast 3000 Studierende aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zu ihrer Schulzeit und stellten fest, dass die 1374 Studierenden aus Deutschland zu 29 Prozent über einmalige und zu 48 Prozent über mehrfache bzw. wiederholte Vorkommnisse von negativem LehrerInnenhandeln berichten konnten. Nur 23 Prozent konnten sich nicht an negatives Verhalten seitens der Lehrkräfte erinnern (ebd., S. 61). Weitere Studien weisen darauf hin, dass etwa 30 Prozent der Lernenden regelmäßig von verbalen Verletzungen durch Lehrkräfte betroffen sind, wobei die Angaben zur Anzahl der Betroffenen je nach Untersuchung und Alter der Lernenden leicht variieren (Baier, 2009, S. 57f.; Schubarth, 1997, S. 67; Krumm, Lamberger-Baumann & Haider, 1997). Dabei ist die Art und Weise, in der verbale Verletzungen vorkommen, nach Krumm & Weiß (2000b, S. 26) facettenreich und umfasst u. a. ungerechte Beurteilungen (79 Prozent), unfaire Behandlung (73 Prozent), Beleidigungen (58 Prozent), Bloßstellung (57 Prozent), Anschreien (49 Prozent) oder Übersehen bzw. Ignorieren (30 Prozent) durch die Lehrperson. 4 Zwischen 9 (Schubarth, 1997, S. 67) und 12 Prozent (Schmitz et al., 2006) berichten in Studien außerdem von körperlichen Übergriffen durch Lehrpersonen. Je nach Alter berichteten in einer Studie von Leithäuser und Meng (2013, S. 20) 2 bis 6 Prozent von verbalen oder körperlichen sexuellen Belästigungen durch Lehrpersonen, davon 0,6 Prozent in der Sekundarstufe I und 1,1 Prozent in der Sekundarstufe II sogar mehrmals wöchentlich (ebd.). Bei diesen Zahlen ist zu beachten, dass es sich ausschließlich um die direkt betroffenen Lernenden handelt. Die Zahl der SchülerInnen, die das Geschehen miterleben, ist in der Regel jedoch höher und auch auf diese kann das Erlebte verletzend wirken (Prengel, 2013, S. 79). Obgleich es bislang keine Studien zu vernachlässigendem bzw. ignorierendem LehrerInnenhandeln gibt, das sich beispielsweise in Form ungenügender Grenzsetzung zeigt, muss auch diese Form des Verhaltens als verletzend Beachtung finden (ebd.). Die Folgen verletzenden Verhalten sind gravierend. Krumm und Weiß (2000b, S. 28) stellten fest, dass das Verhalten der Lehrkraft Auswirkungen auf 4

Dabei handelt es sich um ausgewählte Antworthäufigkeiten von SchülerInnen auf die Frage, ob es schon einmal vorgekommen sei, dass sie von einer Lehrperson so behandelt worden seien (Krumm & Weiß, 2000b, S. 26).

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

die von den SchülerInnen wahrgenommene Konzentrationsfähigkeit, die Lernmotivation für das Fach sowie das Sympathieempfinden für die Lehrkraft haben kann und somit einen Einfluss auf den Lernerfolg der SchülerInnen nahelegt. Krumm und Eckstein (2003) wiesen seelische Folgen verletzenden LehrerInnenverhaltens, wie Schulangst oder psychosomatische Beschwerden, nach. Auch zwischen aggressivem Verhalten der Lehrkraft und gewaltförmigem Verhalten der Lernenden wurde ein Zusammenhang nachgewiesen (Schubarth & Ulbricht, 2015, S. 278; Melzer, 2011, S. 78ff.). So ermittelt Sitzer (2009) die „Bedeutung der Missachtung individueller Anerkennungsbedürfnisse und -ansprüche für das Gewalttätigwerden Jugendlicher.“ (ebd., S. 43) und stellt fest, dass die von ihm untersuchten männlichen, jugendlichen Straftätern häufig auf verletzendes Verhalten in Familie und Schule zurückblicken konnten. In einer vielzitierten Studie von Krüger, Fritzsche, Pfaff und Sandring (2003) wurden Zusammenhänge einer politisch rechten Orientierung und Gewaltbereitschaft der Lernenden und dem anerkennenden bzw. verletzenden Verhalten von Lehrkräften mithilfe einer Fragebogenstudie nachgewiesen, wobei sie beim Anerkennungsbegriff, wie Helsper, Sandring und Wiezorek (2005), von den drei Honnethschen Dimensionen zuzüglich einer institutionalisierten vierten Dimension ausgingen (ebd., S. 808). Dabei nutzten sie verschiedene Aussagen, die die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden charakterisierten und verdichteten diese anschließend mithilfe faktorenanalytischer Verfahren auf vier Faktoren: Achtung der SchülerInnenpersönlichkeit, Abwertung der SchülerInnenpersönlichkeit, Gleichgültigkeit gegenüber persönlichen Problemen der Lernenden und vertrauensvolle Nähe zu den Lehrpersonen (Krüger et al., 2003, S. 808), wobei diese empirisch erlangten Konstrukte die theoretischen Anerkennungsdimensionen Honneths „erwartungsgemäß nicht geradlinig abbilden.“ (ebd.). Als Ergebnis stellten sie für Jugendliche aus Familien ohne Migrationshintergrund fest, dass eine hohe Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen mit einem Mangel an Achtung sowie einer wahrgenommenen Abwertung der SchülerInnenpersönlichkeit durch die Lehrkräfte einherging (ebd., S. 810). AnhängerInnen rechter Jugendkulturen schätzten ihre Beziehung zu den Lehrkräften insgesamt schlechter ein (ebd.). Eine besondere Herausforderung stellt die Feststellung und Ahndung verletzenden LehrerInnenhandelns bzw. Fehlverhaltens von Lehrpersonen dar, da die Lernenden wenig Möglichkeiten haben, diesen entgegenzuwirken (Prengel, 2013, S. 81). SchülerInnenrückmeldungen über das eigene Verhalten einzuholen bleibt häufig der einzelnen Lehrkraft vorbehalten. Diese Möglichkeiten werden von Lehrpersonen (Barfknecht, von Saldern, 2010, S. 94) und selbst von in der Aus-

3.3 Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

65

bildung befindlichen LehramtsanwärterInnen bislang nur lückenhaft genutzt (Hascher, Baillod & Wehr, 2004, S. 231). So ist es möglich, dass einige Lehrkräfte verletzendes Verhalten im Schulalltag unbehelligt praktizieren und somit vielfältige negative Konsequenzen für die Lernenden auslösen können.

3.3 3.3.1

Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion Einleitung

Wie bereits in Kapitel 3.2.5.3 gezeigt, nehmen Lewis und Riley (2009) an, dass sich kindliche erworbene Bindungsstile der Lehrpersonen auf die Gestaltung der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung auswirken. Im diesem Kapitel sollen diese Bindungsstile daher inhaltlich kurz erklärt und anschließend in Hinblick auf den schulischen Kontext betrachtet werden. Der auf der Bindungstheorie basierende Teaching Through Interactions-Ansatz liefert ferner Hinweise darauf, dass vor allem anerkennende LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen der Schlüssel zur Unterstützung der Lernprozesse darstellen und wird in Abschnitt 3.1.3 vorgestellt. 3.3.2

Die Bindungstheorie

Schon Bowlby (1969) untersuchte, welche Auswirkungen die Trennung von Mutter und Kind auf die kindliche Psyche hat (Grossmann & Grossmann, 2012, S. 31). Die daraus hervorgegangene Bindungstheorie zeigt die große Bedeutung einer einfühlsamen Beziehung zwischen einem Kind und seiner Bezugsperson bzw. seinen Bezugspersonen. Ainsworth (1979) schloss an Bowlbys Arbeiten an und bestätigte diese empirisch. Sie erweiterte außerdem Bowlbys Vorstellung durch den Terminus der „sicheren Basis“ (ebd., S. 934; Bretherton, 2009, S. 27). Diese wird von der Bezugsperson gebildet, wenn sie dem Kind angemessene, zuverlässige Fürsorge entgegenbringt und somit ein Gefühl von Geborgenheit erschafft (Tenorth & Tippelt, 2012, S. 89f.). „Als sichere Basis fungiert ein Mensch, der in Notsituationen erreichbar ist und gleichzeitig ein einzigartiges Verständnis für den Hilfe Suchenden aufbringt“ (Holmes, 2012, S. 27), was nur durch Einfühlungsvermögen möglich ist (ebd.). Ihre Untersuchungen verdeutlichten, dass sich Eltern-Kind-Beziehungen qualitativ unterscheiden können (Bethke, Braukhane & Knobeloch, 2009, S. 17). Sie stellte große individuelle Unterschiede fest, in welchen Situationen Kinder Bindungs- bzw. in welchen sie Explorationsverhalten zeigten und entwickelte in

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3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Folgestudien drei Typen, die später von Main (Main, Solomon & Brazelton, 1986, S. 98ff.) um eine weiteren ergänzt wurden: die sichere, die unsicher vermeidende, unsicher ambivalente sowie die desorganisierte Bindung. Stabile Eltern-Kind-Beziehungen wirken sich nachweislich positiv auf die Entwicklung des Kindes aus. So entwickeln sicher gebundene Kinder beispielsweise Resilienzfaktoren (Aichinger, 2011, S. 29; Grossmann & Grossmann, 2012, S. 176ff.) und zeichnen sich in Kindertagesstätten durch eine höhere soziale und emotionale Intelligenz aus, was sich vor allem in ihren Konfliktlösestrategien zeigte (Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 34; Grossmann & Grossmann, 2012, S. 177). 3.3.3

Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

Bindungsbeziehungen im Schulalter haben den Charakter einer „zielkorrigierte[n] Partnerschaft“ (Grossmann & Grossmann, 2012, S. 314) und können frühere Bindungschemata verändern (Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 35). Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden wird von Jungmann und Reichenbach mit den Besonderheiten einer PatientIn-TherapeutIn-Beziehung verglichen (Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 36). So sind auch bei PädagogInnen Feinfühligkeit und Empathie nötig, um auf die Bindungswünsche und das Interaktionsverhalten des Kindes einzugehen (ebd.). Darüber hinaus sollte die Beziehung zwischen Lernendem und Lehrenden ebenfalls eine sichere Basis für das Explorations- und Lernverhalten des Kindes darstellen. Des Weiteren muss eine Lehrkraft, wie auch ein Therapeut bzw. eine Therapeutin, ihr Handeln so ausrichten, dass sie die Gefühle des Lernenden erkennt, versteht und in die pädagogische Arbeit aufnehmen kann (ebd.). Trotz dieser Übereinstimmungen, ergeben sich für die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden Besonderheiten, die im Gegensatz zur Eltern-KindBindung stehen. So muss sich eine Lehrkraft um eine Vielzahl von Lernenden kümmern, während Kinder zu Hause möglicherweise öfter die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern erfahren. Daher gestaltet sich der Beziehungsprozess in Gruppen und Klassen anders als es mit einem einzelnen Kind oder Jugendlichen der Fall wäre (Ahnert, 2004, S. 260ff.). Die Bindungsanforderungen eines Kindes ändern sich darüber hinaus mit zunehmendem Alter. Während im Kleinkindalter die Bindung vor allem dazu nützlich ist, Sicherheit zu geben und Stress zu reduzieren, erwerben die Kinder mit zunehmendem Alter eigene Bewältigungsstrategien und lösen sich daher stärker von den Lehrkräften (Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 36f.). Für alle Lernenden, besonders für SchulanfängerInnen sind sicherheitsgebende Vorkehrungen vonseiten der Lehrperson erforderlich, um eine optimale schulische und sozial-emotionale Entwicklung zu gewährleisten (Becker-

3.3 Bindung in der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

67

Stoll, 2018; Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 37). Garmezy, Masten und Tellegen (1984) hatten gezeigt, dass LehrerInnen eine besonders Rolle für Hochrisikokinder spielen können, da eine qualitativ hochwertige Beziehung zu ihnen sich positiv auf ihr Sicherheitsgefühl und ihren Selbstwert auswirken können (ebd., S. 98ff.). Auch Boyer zeigte 1983, dass eine unterstützende und beratende Lehrperson bei der Prävention von Schulabbrüchen eine entscheidende Rolle spielen kann (Jungmann & Reichenbach, 2009, S. 37). 3.3.4

Teaching through interactions-Ansatz

Anknüpfend an die Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth sieht auch Pianta die Bildung einer sicheren Basis auch innerhalb der LehrerInnen-SchülerInnenBeziehung als Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung des Kindes (Pianta & Niemetz, 1991, S. 380). Pädagogische Beziehungen sollen eine enge Bindung zur Lehrperson umfassen und so das Explorationsverhalten anregen (Hamre & Pianta, 2001, S. 625f.). Wie Ainsworth die Einfühlsamkeit und das Verständnis der Mutter für die Bedürfnisse ihres Kindes ins Zentrum einer sicheren Bindung stellte, überträgt Pianta diesen Aspekt auf die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Lehrkräfte sollten demnach empathisch und sensibel auf die Emotionen ihrer SchülerInnen reagieren und somit die Basis für eine gelungene SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung schaffen (Pianta & Niemetz, 1991, S. 388f.). Um diesen Aspekt in der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung zu untersuchen, erstellte Pianta (2001) erstmals ein Messinstrument zur Bestimmung der Beziehung der Lehrkraft zu einem bzw. einer Lernenden, die Student-Teacher-Relationship-Scale (STRS). Die Skala ist in die drei Teile Konflikt, emotionale Nähe und Abhängigkeit unterteilt und besteht insgesamt aus 16 Items, die an die ElternKind-Bindung angelehnt sind und sowohl Sicherheit5 als auch Unsicherheit6 in der Beziehung erfassen (ebd., S. 24f.). SchülerInnen, die im Bereich der emotionalen Nähe zur Lehrkraft besonders stark abgeschnitten hatten, wiesen zugleich auch eine sichere Bindung zu ihrer Mutter auf, während Kinder, die im Bereich Abhängigkeit besonders hohe Werte erzielten, in Bezug auf ihre Mutter dem ambivalentunsicheren Bindungstyp zuzuordnen waren (ebd., S. 30). Auf der theoretischen Basis der Bindungstheorie wurde der Teaching through Interactions-Ansatz (Hamre, Pianta, Downer, DeCoster & Mashburn, 2013) ent5

6

Zur Überprüfung von Sicherheit innerhalb der Bindung wird beispielsweise gefragt, ob der Schüler bzw. die Schülerin der Lehrkraft vertraut oder ihre Hilfe in Anspruch nimmt. Zur Überprüfung von Unsicherheit innerhalb der Bindung wird beispielsweise gefragt, ob der Schüler bzw. die Schülerin der Lehrkraft misstraut oder der Kontakt vermieden wird.

68

3 Zur LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktion

wickelt, in dem davon ausgegangen wird, dass nicht die Qualität des LehrerInnenwissens, die Kooperation oder ähnliches, sondern die Interaktionen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen im Klassenzimmer die Effektivität der Lernprozesse maßgeblich beeinflussen (Hamre et al., 2013, S. 466). Dieser Ansatz wurde anhand empirischer Untersuchungen in über 4000 Klassen mittels Beobachtungssystemen empirisch überprüft. Es zeigt sich, dass die drei Faktoren emotionale Unterstützung, Klassenführung und Lernunterstützung gut voneinander abgrenzbar sind. Hamre et al. (2013) nehmen dabei an, dass diese drei Faktoren die Lernprozesse maßgeblich beeinflussen. Emotionale Unterstützung umfasst dabei die Schaffung eines positiven bzw. negativen Klimas, die Sensibilität der Lehrkraft, das Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden und übermäßige Kontrolle, womit eine starre Strukturierung auf Kosten der Bedürfnisse der Lernenden gemeint ist. Klassenführung beinhalten Verhaltensmanagement, Produktivität, instruierende Lernformate und Chaos im Klassenzimmer. Der Bereich Lehrunterstützung schließt die Qualität des Feedbacks, Konzeptentwicklung, Sprachmodellierung und Methodenvielfalt ein. Deutlich wurden in dieser Studie darüber hinaus die hohen Korrelationen zwischen einem positiven Schulklima, der Sensibilität der Lehrkraft und dem Eingehen auf die Bedürfnisse der Lernenden (Hamre et al., 2013, S. 475). Verschiedene Studien verweisen darüber hinaus auf die Wichtigkeit der emotionalen Unterstützung für das allgemeine Lernen (vgl. Rudasill, Gallagher & White, 2010), vor allem von Lernenden mit sozialen bzw. Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Hamre & Pianta, 2005). An dieser Stelle gibt es Ähnlichkeiten zu den Basisdimensionen guten Unterrichts, wie sie in Deutschland aber auch international (z. B. im Kontext der PISA-Studien) häufig untersucht werden: Unterstützendes Sozialklima, Klassenführung und kognitive Aktivierung (u. a. Fauth, Decristan, Rieser, Klieme & Büttner, 2014; Klieme, Schümer & Knoll, 2001). Diese erweisen sich in verschiedenen Studien immer wieder als Prädiktoren positiver Entwicklung von Schulleistungen und Motivation (Klieme & Rakoczy, 2008). Sieht man sich die Entwicklung der Kompetenzen in den drei Bereichen von Lehramtsstudierenden bis zur Lehrkraft mit zweijähriger Berufserfahrung an, wird deutlich, dass diese sich im Bereich der Klassenführung kontinuierlich steigerten (Hamre et al., 2013, S. 479). Es handelt sich also um ein veränderliches Merkmal (vgl. Kapitel 2.4). Anders verhielt es sich bei der Entwicklung der emotionalen Unterstützung (ebd.). Obgleich es zunächst zu einer Steigerung kam, nahm diese alsbald wieder ab, sodass sich als Verlauf eine umgekehrte U-Kurve ergab. Mögliche Ursachen für diese Entwicklung sind der hohe Stresslevel sowie die hohen Anforderungen zu Beginn des Lehrberufs (ebd.; Lewis & Riley, 2009, vgl. Kapitel

3.4 Fazit zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen

69

3.2.5.3). Gezielte Fortbildungen für den jeweiligen Interaktionsbereich könnten dabei die Fähigkeiten der Lehrpersonen erheblich verbessern, wie verschiedene Studien zeigten (vgl. Brown, Jones, LaRusso & Aber, 2010; Hamre, Pianta, Burchinal, Field, Locasale-Crouch, Downer & Scott-Little, 2012).

3.4

Fazit zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen

In diesem Kapitel konnte herausgearbeitet werden, wie groß der Einfluss der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen auf das Lernen und die sozio-emotionale Entwicklung der Lernenden ist. Auf der einen Seite kann sich emotional zugewandtes und unterstützendes Handeln sehr positiv auf die Entfaltung der Lernenden auswirken, ihre Motivation fördern und effektives Lernen ermöglichen. Verletzendes Verhalten durch die Lehrperson kann hingegen starke negative Auswirkungen haben, wie Demotivation, vermindertes Interesse und mangelnde Partizipation aufseiten der SchülerInnen. Dennoch wurde verletzendes Verhalten in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen und kann dabei auf Erwartungen, Einstellungen und impliziten Persönlichkeitstheorien sowie konkreten Eigenschaften der Lehrkraft zurückgeführt werden, wobei auch situative Bedingungen, wie subjektiv wahrgenommener Stress, herangezogen werden können. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass das Verhalten der Lehrkräfte zu einem bestimmten Teil durch Fortbildungsmaßnahmen beeinflussbar ist. Die Ursachen für Fehlverhalten sind dabei so vielfältig wie der Umgang der Lehrkräfte mit den täglichen Herausforderungen. Der Fokus soll daher im folgenden Kapitel 0 auf dem individuellen Verhalten von Lehrpersonen liegen.

4

4.1

Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Einleitung und Begriffsklärung

Wie genau einzelne Lehrpersonen mit den Lernenden interagieren und welche Handlungsmuster sich daraus ergeben, stellt die zentrale Fragestellung dieser Arbeit dar und wird – vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des Theorieteils – im empirischen Teil dieser Arbeit untersucht. Zu diesem Zweck sollen in diesem Kapitel bereits bestehende LehrerInnentypologien und -handlungsmuster unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, inwieweit das Handeln von Lehrpersonen im Allgemeinen und in Hinblick auf LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen im Besonderen als Grundlage für die Entwicklung von Typen bzw. Handlungsmustern gewinnbringend sein können. Dabei wird im Wesentlichen zwischen typologisch und dimensioniert orientierten Konzepten unterschieden. Typologisch orientierte Konzepte erstellen aus einer Menge von Individuen (Stereo-)Typen, die gewisse Merkmalskombinationen repräsentieren und anhand derer eine Zuordnung erfolgt (Lukesch, 1975, S. 59). Möglich ist es auch, dass ein Individuum mehreren oder gar keinen Typen zugeordnet werden kann und dass sich die Typen inhaltlich überlappen (Weber, 1976, S. 65). Dabei werden „…bestimmte Merkmalskomplexe des Erzieherverhaltens zuerst unter globalen Bezeichnungen auf einer begrifflichen Ebene beschreibend voneinander abgegrenzt und dann in der Realität aufgesucht.“ (Lukesch, 1975, S. 50). Im Gegensatz zu typologischen ermitteln dimensionsorientierte Konzepte Handlungsmuster von Lehrpersonen, indem sie die Intensität von zwei oder mehr Skalen von Verhaltenseigenschaften miteinander kombinieren, sodass die verschiedenen Merkmalsausprägungen nicht von Vornherein miteinander verknüpft sind, sondern unabhängig voneinander erfasst werden (Tausch & Tausch, 1971). Im Folgenden sollen verschiedene Typologien in den Blick genommen werden. Zunächst werden die Gesundheitstypen von Schaarschmidt (2013) als eine der bekanntesten deutschen Lehrkräftetypologien betrachtet, woraufhin die auf den Berufsbiografieansatz (vgl. Kapitel 2.5) beruhenden Berufsbiografientypen nach Hirsch (1990) beleuchtet werden. Daraufhin werden spezifische Typologien nach dem Verhalten der Lehrkräfte im Unterricht und anschließend die Erziehungsstilforschung in den Blick genommen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_4

72 4.2 4.2.1

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Allgemeine Typologien von Lehrpersonen Die Gesundheitstypen nach Schaarschmidt (2013)

Da Schaarschmidt (2013) davon ausgeht, dass eine hohe Unterrichtsqualität dauerhaft nur von psychisch gesunden Lehrkräften erreicht werden kann, bildete er in der Potsdamer Lehrerstudie eine Typologie von Lehrkräften nach ihrem jeweiligen Gesundheitsverhalten. Zur Bildung seiner Gesundheitsmuster nutzte er das Verfahren AVEM – Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster – als diagnostisches Instrument (Schaarschmidt & Kieschke, 2013, S. 83), wobei es sich um einen Fragebogen handelt, der das subjektive Erleben des Probanden bzw. der Probandin in Hinblick auf seine bzw. ihre Arbeit misst (Schaarschmidt & Fischer, 2013, S. 12f.). Dabei wird das „arbeitsbezogene Verhalten und Erleben in 11 Merkmalen erfasst: 1. Bedeutsamkeit der Arbeit, 2. Beruflicher Ehrgeiz, 3. Verausgabungsbereitschaft, 4. Perfektionsstreben, 5. Distanzierungsfähigkeit, 6. Resignationstendenz bei Misserfolg, 7. Offensive Problembewältigung, 8. Innere Ruhe und Ausgeglichenheit, 9. Erfolgserleben im Beruf, 10. Lebenszufriedenheit und 11. Erleben sozialer Unterstützung.“ (Schaarschmidt & Kieschke, 2013, S. 83), womit die Bereiche Arbeitsengagement, Widerstandskraft und Emotionen in Hinblick auf die Arbeit umfasst werden. So resultieren positive Emotionen beispielsweise aus starken Ausprägungen der Merkmale 8 bis 11 (ebd.). Die aus einer Erhebung von 7693 Lehrkräften (Schaarschmidt & Kieschke, 2013, S. 82) stammenden Daten wurden clusteranalytisch (vgl. Kapitel 6.3.1) ausgewertet, wodurch vier Muster entstanden (ebd., S. 83), die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen (ebd., S. 84ff.; Schaarschmidt & Fischer, 2013, S. 15ff.): Muster G (das Gesundheitsmuster) vereint ein hohes berufliches Engagement mit einer gewissen Distanzierungsfähigkeit. Es zeichnet sich durch einen überdurchschnittlichen Ehrgeiz aus, wobei die subjektive Bedeutsamkeit und die Verausgabungsbereitschaft weiterhin im mittleren Bereich angesiedelt sind. Zuträgliche Werte sind darüber hinaus in der Widerstandskraft gegenüber Belastungen, also in den Merkmalen 5 bis 8, sowie im Bereich der positiven Emotionen zu finden. Muster S (das Schonungsmuster) ist durch das geringste Arbeitsengagement aller vier Muster charakterisiert. Sowohl Bedeutsamkeit der Arbeit als auch beruflicher Ehrgeiz, Verausgabungsbereitschaft und Perfektionsstreben bei diesem Muster sind am geringsten ausgeprägt. Des Weiteren verfügt dieses Muster über eine hohe Distanzierungsfähigkeit sowie ein hohes Ausmaß innerer Ruhe und Gelassenheit und einem positiven Lebensgefühl. Der Begriff Schonung bezieht

4.2 Allgemeine Typologien von Lehrpersonen

73

sich demnach auf die Einstellung zur Arbeit. Sowohl Muster G als auch Muster S haben dabei gute gesundheitliche Voraussetzungen für den LehrerInnenberuf. Anders verhält es sich bei den beiden Risikomustern A und B. Erstgenanntes zeichnet sich durch ein übermäßiges Engagement aus, dass sich durch die höchsten Werte bei den Merkmalen Perfektionsstreben, Verausgabungsbereitschaft und Bedeutsamkeit der Arbeit zeigt. Gemeinsam mit der niedrigsten Ausprägung im Bereich der Distanzierungsfähigkeit und einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen sowie einer geringen Ausprägung innerer Ruhe und Ausgeglichenheit ergibt sich für dieses Muster ein relatives Krankheitsrisiko. Schaarschmidt betont dabei, dass ein überhöhtes Engagement allein kein Krankheitsrisiko darstellt. Dieses ergibt sich erst in Kombination mit ausbleibender Anerkennung bzw. ausbleibenden positiven Emotionen. Risikomuster B zeichnet sich durch niedrige Werte im Bereich des Arbeitsengagements aus, die mit geringer Ausprägung in den Bereichen offensiver Problembewältigung sowie hoher Resignationstendenz und fehlenden positiven Emotionen einhergehen. Die Fähigkeit zur Distanzierung ist eingeschränkt. Somit sind die zentralen Symptome des Burnout-Syndroms beschrieben. Eine Zuordnung einzelner Lehrpersonen zu einem der vier Muster erfolgt nach Schaarschmidt über eine Diskriminanzanalyse (vgl. Kapitel 7.2), durch die eine jeweilige prozentuale Zugehörigkeit zu jeden Muster ausgedrückt wird, wobei sowohl die einzelnen Merkmale als auch die drei Oberbegriffe zum Vergleich herangezogen werden können. Schaarschmidt bemerkt dabei, dass es selten zu eindeutigen Zuordnungen einer Lehrperson zu einem bestimmten Muster kommt, sondern Musterkombinationen häufiger auftreten (ebd.). 4.2.2

Die Berufsbiografietypen nach Hirsch (1990)

Hirsch (1990) definierte in einer ersten Phase sechs Berufsbiografietypen, die sie anhand von Interviews in Hinblick auf deren charakteristische Berufsphase erstellte (ebd., S. 61ff.), womit die Typologie auf dem berufsbiografischen Ansatz (vgl. Kapitel 2.5) beruht. Die Aussagen wurden anschließend mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse und eines entwickelten Codesystems ausgewertet (ebd., S. 62f.), wobei sich daraus die Bereiche Bewältigungsstrategien, Verhältnis zu den Lernenden, interaktive Bedingungen, situative Bedingungen, Wohlbefinden, Selbstfindung und allgemeine Orientierung hervorgingen (ebd., S. 64). Bei der Erstellung der Berufsbiografiephasen orientierte sich Hirsch an Hubermanns Typologie der Phasen einer LehrerInnenlaufbahn (Hubermann, 1991, S. 249; vgl. Kapitel 2.5).

74

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Anlehnend an diese Phasen und anhand der Interviews ergeben sich bei Hirsch schließlich folgende sechs Typen: der Stabilisierungs-, der Entwicklungs-, der Diversifizierungs-, der Problem-, der Krisen- und der Resignationsbiografietyp (ebd., S. 13). Lehrkräfte, die dem Stabilisierungsbiografietyp zugeordnet wurden, berichteten neben einer Anfangszeit im Beruf nur von einer Phase der Stabilisierung und sparten somit alle anderen Phasen aus (Hirsch, 1990, S. 80). Dem Entwicklungsbiografietyp wurden Lehrpersonen zugeordnet, die in ihren Stegreiferzählungen neben der Anfangszeit lediglich von einer Zeit der Entwicklung und eventuell noch von einer Stabilisierungsphase berichteten. Ebenso verhält es sich mit den Lehrkräften, die dem Diversifizierungsbiografietyp zugeordnet wurden. Wiederum berichteten sie neben einer Anfangszeit nur von einer Phase der Diversifizierung und gelegentlich von einer Phase der Stabilisierung (ebd., S. 81f.). Der Problembiografietyp kann neben der Anfangsphase eine oder mehrere Phasen der Stabilisierung aufweisen, hat jedoch stets eine Problemphase vollzogen, ohne dass diese jedoch in einer Krise oder Resignation zu mündete (ebd., S. 83). Der Krisenbiografietyp hat neben der Anfangszeit eine Phase der Krise erlebt, wobei diese durch Phasen der Stabilisierung oder Probleme ergänzt werden kann (ebd., S. 84). Häufig sind bei diesem Typ berufliche Schwierigkeiten mit privaten Krisen verbunden (ebd.). Beim Resignationsbiografietyp ist hingegen prägnant, dass neben einer lange andauernden Anfangszeit die Phase der Resignation die einzige Phase ist. Zwar gehen der Resignation häufig Probleme voraus. Diese werden vom Erzähler jedoch nicht als Phase wahrgenommen und als solche dargestellt (ebd., S. 85). In einer zweiten Phase entwickelte Hirsch sechs an die Berufsbiografietypen angelehnte Lehreridentitätstypen, die sie als Idealtypen nach Weber konstruierte, bspw. den Stabilisierungs- oder Entwicklungstyp (Hirsch, 1990, S. 13). Dabei geht sie davon aus, dass die im Interview geforderten Stegreiferzählungen „als narrative Darstellung der Berufsidentität aufgefasst“ (ebd., S. 89) werden können. Somit wird der Berufsbiografietyp als Indikator für Berufsidentitätstyp verwendet und trägt auch dieselben Bezeichnungen, wie beispielsweise Entwicklungstyp (ebd.). Auf eine ausführliche Beschreibung der Idealtypen soll an dieser Stelle verzichtet werden, da diese zu umfassend ausfallen würde. Anhand des Stabilisierungstyps soll jedoch beispielhaft verdeutlicht werden, wie ein Idealtyp nach Hirsch beschrieben wird (Hirsch, 1990, S. 103ff.). Bei diesem handelt es sich um eine Lehrperson zwischen 40 und 50 Jahren, die etwa 20 Jahre Berufserfahrung aufweist und sich hinsichtlich seiner Selbsteinschätzung in Bezug auf seine Berufstätigkeit in der gesamten Berufszeit nicht verändert hat (ebd.). Jedoch hat sich seine Einstellung zum Beruf verändert. So kann er beispielsweise zu der Ansicht

4.3 Typologien zum Verhalten der Lehrpersonen im Unterricht

75

gekommen sein, ein hoher Aufwand bringe nicht unbedingt auch höhere Erfolge. Äußerlich fällt er durch überdurchschnittliches Engagement auf, bekleidet häufig besondere Ämter und bemüht sich intensiv um Fortbildungen (ebd., S. 104). Bei etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten in seiner Berufskarriere erhielt er privat durch soziale Beziehungen Unterstützung. Heute fühlt er sich jedoch kompetent (ebd., S. 105). Obwohl auch dieser Typ an berufliche Tiefpunkte gelangt, neigt er nicht dazu, in eine Sinnkrise zu geraten (ebd.). Insgesamt weist er also ein positives und zufriedenes Verhältnis zu seinem Beruf auf (ebd., S. 106). Alle diese Typologien verweisen darauf, dass das Handeln von Lehrpersonen stabil genug ist, um Handlungsmuster zu entwickeln. Ein möglicher Wechsel zwischen den verschiedenen Typen in einigen Typologien ist bisweilen möglich (Schaarschmidt, 2013), entwickelt sich jedoch nur über einen längeren Zeitraum hinweg (ebd.).

4.3 4.3.1

Typologien zum Verhalten der Lehrpersonen im Unterricht Typologie der Klassenführung nach Mayr, Eder und Fartacek (1991) und Mayr (2006)

Mayr, Eder und Fartacek (1991) untersuchten Lehrkräfte, in deren Unterricht die Lernenden den Unterricht wenig störten und gut mitarbeiteten und klassifizierten dabei vier erfolgreiche Handlungsstrategien von Lehrkräften. Zu diesem Zweck untersuchten sie 97 Hauptschullehrkräfte, bei denen die Lernenden gut mitarbeiteten und wenig störten, und befragten ihre SchülerInnen (ebd., S. 43f.). Diese sollten ihre Lehrpersonen anhand von 35 Disziplinen beurteilen, welche beispielsweise Möglichkeiten zur Verhaltenskontrolle, Beziehungs- und Unterrichtsqualität (ebd., S. 52) umfassen. Aus diesen Handlungsstrategien wurden der „Linzer Diagnosebogen Klassenführung“ (LDK) entwickelt. Dabei klassifizieren Mayr, Eder und Fartacek die Handlungen von Lehrpersonen in vier Handlungsmuster, die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Handlungsmuster A beschreibt kommunikativ-beziehungsorientiertes Handeln und zeichnet sich durch kompetentes Handeln in Hinblick auf die Unterrichtsqualität und die Verhaltenskontrolle der Lehrkraft aus (Mayr, Eder & Fartacek, 1991, S. 51). Am auffälligsten sind jedoch die hohen Werte im Bereich der Beziehungsförderung (ebd.). Die Lehrkraft bespricht relevante Inhalt in Bezug auf den Unterricht mit den Lernenden und versucht, empathisch und wertschätzend mit ihnen umzugehen. Aus diesem Grund kommt es bei diesem Handlungsmuster selten zu

76

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Unterrichtsstörungen. Darüber hinaus ist der Beliebtheitswert der Lehrkräfte bei den Lernenden von allen vier Mustern am höchsten (Mayr, 2004, S. 24). Handlungsmuster B beschreibt fachorientiertes Handeln, wobei die Lehrkraft besonders hohe Werte im Bereich der Unterrichtsqualität erreicht, was sich vor allem durch klare Arbeitsanweisungen, eine positive Erwartungshaltung und einen interessanten und strukturierten Unterricht zeigt (Mayr, Eder & Fartacek, 1991, S. 51f.). Bei Lehrkräften, die nach diesem Handlungsmuster agieren, zeigen sich die wenigsten Unterrichtsstörungen (Mayr, 2014, S. 24). Das dritte Handlungsmuster C beschreibt disziplinierendes Handeln und fällt vor allem durch die hohen Werte im Bereich der Verhaltenskontrolle auf, womit es das erste Handlungsmuster A kontrastiert. Das zeigt sich durch rasches Eingreifen bei Unterrichtsstörungen und eine genaue Kontrolle von Lernarbeiten. Folglich herrscht im Unterricht mehr Druck, Disziplinierung und Unterordnungsbereitschaft (Mayr, Eder & Fartacek, 1991, S. 52). In Hinblick auf Unterrichtsstörungen liegen Lehrkräfte, die dieses Handlungsmuster praktizieren, im Mittelfeld. Von den Lernenden werden sie häufig negativ bewertet (Mayr, 2014, S. 24). Das vierte Handlungsmuster D wird als arbeitsökonomisches Handeln bezeichnet und wird durch geringe Werte in der Verhaltenskontrolle sowie mittelmäßige Werte in der Unterrichts- und Beziehungsqualität beschrieben. Dies äußert sich beispielsweise dadurch, dass Lehrpersonen, die diesem Muster angehören, kaum bemerken, was in der Klasse vor sich geht und wenig eingreifen, wenn es zu Unterrichtsstörungen kommt (Mayr, Eder & Fartacek, 1991, S. 52). Insgesamt sind jedoch kaum markante Ausprägungen bei diesem Typ zu erkennen (ebd.). Diese Einteilung hat sich in Replikationsstudien bestätigt (ebd.). Zu bemerken ist, dass eine Lehrperson in Unterrichtssituationen zwischen den Handlungsmustern wechseln und so beispielsweise tendenziell meistens fachorientiert (Handlungsmuster B) handeln, in Situationen, die es ihrer Meinung nach erfordern, jedoch auch diszipliniert (Handlungsmuster C) agieren kann (Mayr, 2007, S. 8). Es gibt dabei einige Lehrpersonen, die einen persönlichen Stil aufweisen, den sie unabhängig von der Unterrichtssituation und anderen äußeren Umständen anwenden und andere, die ihren Stil an die jeweilige Situation anpassen (Mayr, 2006, S. 236). Eine Folgeuntersuchung von Mayr aus dem Jahr 2006 ergab ein ähnliches Bild. Dazu wurden 75 Lehrkräfte des Faches BWL an Handelsakademien sowie deren SchülerInnen untersucht (Mayr, 2006, S. 228). Da die Musterbildung anhand „erfolgreicher Lehrpersonen“ erfolgen sollte, wurde die Stichprobe in zwei Teile geteilt: Diejenigen, bei denen die Lernenden mangelnde Mitarbeit zeigten und diejenigen Lehrkräfte, die ihre SchülerInnen zur Mitarbeit bewegen konnten.

4.3 Typologien zum Verhalten der Lehrpersonen im Unterricht

77

Festgemacht wurde dies an den Items Abschalten und Unruhe des Linzer Fragebogens7 (ebd., S. 234). Um die Handlungsmuster der verbleibenden 37 LehrerInnen zu ermitteln, wurde eine hierarchische Clusteranalyse durchgeführt, die eine Klassifikation von vier Handlungsmustern ergab (ebd., S. 236). Muster A ist durch hohe Werte im Bereich der Unterrichtsgestaltung und der Verhaltenskontrolle sowie durch erhöhte Werte im Bereich der Beziehungsqualität gekennzeichnet und ähnelt somit dem fachorientierten Handlungsmuster in der vorangegangenen Studie, obgleich die Werte der Verhaltenskontrolle höher sind. Muster B ähnelt am meisten dem kommunikativ-beziehungsorientierten Handlungsmuster, da die Beziehungsförderung am stärksten sowie die Verhaltenskontrolle am wenigsten ausgeprägt ist. Muster C liegt überall im mittleren Bereich und wird von Mayr daher mit dem arbeitsökonomischen Handlungsmuster verglichen. Als Letztes wird Muster D beschrieben, das in Hinblick auf Unterrichts- und Beziehungsgestaltung deutlich hinter den anderen Mustern zurückliegt, sodass nur die Verhaltenskontrolle bleibt, um eine erfolgreiche Klassenführung zu ermöglichen. Dieses Muster ähnelt am meisten dem disziplinierenden Handlungsmuster der vorangegangenen Studie (Mayr, 2006, S. 237). Mayr betrachtet im Anschluss die Verhaltensweisen der Lernenden bei den jeweiligen Lehrpersonen. Dabei wird deutlich, dass diese sich bezüglich der Mitarbeit kaum unterscheiden. Da dieses Kriterium jedoch auch zur Klassifikation der Lehrpersonen genutzt wurde, war dieses Ergebnis nicht überraschend. In Bezug auf aggressives Verhalten gibt es jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Muster A und D, wobei sich Lehrende des Musters D aggressiver zeigten, was Mayr auf „die typenspezifischen Differenzen bei der Unterrichtsgestaltung und beim Fördern sozialer Beziehungen“ (ebd., S. 237) zurückführt. Auch die Lernstrategien der SchülerInnen außerhalb des Unterrichts unterscheiden sich signifikant. So sind beispielsweise bei Muster D Einprägestrategien deutlich häufiger zu finden als beim Muster B. Die Einstellung der Lernenden zur Lehrkraft korreliert deutlich mit dem jeweiligen Handlungsmuster. Muster A und B erfreuen sich hoher Beliebtheit, während die SchülerInnen gegenüber den Lehrpersonen bei den verbleibenden beiden Mustern neutral eingestellt sind (ebd.). Während Muster A vor allem in niedrigen Klassen angewandt wurde, wurde Muster B vor allem in höheren Klassen bzw. Abschlussklassen erhoben (ebd.). Klassengröße und Leistungsfähigkeit der Klassen hatten hingegen keinen Einfluss auf die angewandten Muster (Mayr, 2006, S. 237f.). Das verweist darauf, dass Lehrkräfte ihr Verhalten zum Teil an die konkreten Voraussetzungen der Lerngruppe anpassen und Lehre7

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78

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

rInnen-SchülerInnen-Interaktionen somit bei derselben Lehrkraft unterschiedlich ausgeprägt sein können. 4.3.2

Typologie zur Klassenführung nach Neuenschwander (2006)

Neuenschwander (2006) erstellt hingegen eine theoriegeleitete Typologie aus vier Verhaltensmustern, die sich an der Klassenführung der Lehrkräfte orientieren und die in Tabelle 1 dargestellt sind. Dabei unterteilt er Klassenführung in die beiden Merkmale Regelsetzen und Flexibilität bzw. Adaptivität und entwickelt aus den jeweiligen Ausprägungen vier Verhaltensmuster (ebd., S. 244f., vgl. Tabelle 1). Regelsetzen wird dabei als Steuerung sozialer Prozesse mit dem Ziel von Ordnung und einer lernförderlichen Umgebung betrachtet (Neuenschwander, 2006, S. 244). Flexibilität und Adaptivität werden hingegen als „spontane Verhaltensanpassungen“ (ebd.) definiert. Tabelle 1:

Typologie der Klassenführung nach Neuenschwander (2006).

Regelsetzen

kein oder kaum Regelsetzen

agiert flexibel und adaptiv

Muster A: souveräne Klassenführung

Muster C: situationsspezifische Klassenführung

agiert starr und unflexibel

Muster B: regelgeleitete Klassenführung

Muster D: desorganisierte Klassenführung

An einer anschließend durchgeführten Befragung mit einem standardisierten Fragebogen nahmen 25 Schulklassen der sechsten Klasse mit insgesamt 454 Lernenden und deren 25 KlassenlehrerInnen aus dem Kanton Bern teil (Neuenschwander, 2006, S. 247). Zusätzlich wurden weitere 183 Lehrpersonen aus weiteren Schulen mithilfe des Fragebogens zu ihrer Form des Regelsetzens und ihrer Flexibilität befragt (ebd.).8 Die Lernenden wurden hingegen zur Erklärungs- und Kommunikationskompetenz sowie zur Akzeptanz der Lehrkraft befragt9 (Neuenschwander, 8

9

Beispielitems lauten: „Ich kontrolliere sehr konsequent die Einhaltung der Regeln.“ oder „In der Unterrichtsplanung lasse ich verschiedene Möglichkeiten für den Unterrichtsverlauf offen.“ (Neuenschwander, 2016, S. 248) Beispielitems lauten: „Meine Klassenlehrperson ist für mich ein Vorbild.“ oder „Unsere Klassenlehrperson bleibt auch mit schwierigen Schülerinnen und Schülern im Gespräch.“ (Neuenschwander, 2016, S. 248)

4.3 Typologien zum Verhalten der Lehrpersonen im Unterricht

79

2016, S. 248). Darüber hinaus wurde ein standardisierter Mathematiktest durchgeführt (ebd., S. 249). Als Ergebnis wurde deutlich, dass die Lernenden von Lehrpersonen mit einer souveränen Klassenführung, ihren Lehrkräften eine höhere Kommunikations- und Erklärungskompetenz zuschrieben und sie außerdem eher akzeptierten (ebd., S. 251). Außerdem erbrachten sie im Mathematiktest die besten Leistungen (ebd., S. 553). 4.3.3

Modell zum interpersonalen LehrerInnenverhalten nach Wubbels und Brekelmans (2005)

Ein dimensionales Modell mit zwei Dimensionen entwarfen Wubbels und Brekelmans (2005), wobei sie die Dimensionen Lenkung („dominance-submission“) und Nähe bzw. Kooperation („opposition-cooperation“) verwendeten. Die Studie nutzte zur Erhebung von Daten einen Fragebogen zur LehrerInnen-SchülerInnenInteraktion (Questionnaire on Teacher Interaction, QTI), der die Wahrnehmung der SchülerInnen-LehrerInnen-Beziehung durch die SchülerInnen erfasste (ebd., S. 10). Aus den gewonnenen Daten ermittelten sie acht LehrerInnentypen (Wubbels & Brekelmans, 2005, S. 9ff.), die in Abbildung 4 veranschaulicht werden. Anders als bei typologisch orientierten Konzepten wurden Lehrpersonen also anhand der Kombination ihrer Ausprägung auf den Skalen verschiedener Eigenschaften ermittelt (vgl. Kapitel 4).

80

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Abbildung 4: Modell des interpersonalen LehrerInnenverhaltens (Wubbels & Brekelmans, 2005, S. 9)

4.4 Die Erziehungsstilforschung

81

Dabei halten sie einen Lehrertyp, der sich durch ein mittleres Ausmaß an Lenkung sowie viel Nähe auszeichnet, für besonders geeignet (Wubbels & Brekelmans, 2005, S. 9ff.). Sie halten fest, dass Lehrkräfte mit mehr Erfahrung ihre Handlungen an die jeweilige Situation anpassen, sodass beispielsweise das Ausmaß an Lenkung im Frontalunterricht höher ausgeprägt ist als bei offenen Lernformen (ebd.).

4.4 4.4.1

Die Erziehungsstilforschung Begriffsklärung

Als Erziehungsstil bezeichnet Lukesch „voneinander abgrenzbare, charakteristische Formen des Handelns, des Umgangs von Erziehern mit Kindern und Jugendlichen einschließlich der diesen Verhaltensweisen als zugrunde liegend gedachten Wertvorstellungen“ (Lukesch, 1992, S. 403). Dieses ErzieherInnenverhalten kann dabei „…gerichtet oder ungerichtet, in intendierter Weise oder unreflektiert, mittelbar oder unmittelbar auf Kinder oder Jugendliche (Edukanden) bezogen [sein]“ (ebd., S. 404). In der Erziehungsstilforschung wurden dabei sowohl professionelle Erziehungsstile, beispielsweise in der Erziehung des Schülers bzw. der Schülerin durch eine professionelle Lehrperson, als auch elterliche Erziehungsstile (Baumrind, 1971) untersucht, wobei sich diese Arbeit im Folgenden nur auf die erstgenannten beziehen wird. Darüber hinaus lassen sich in der Forschung zwei Strategiegruppen unterscheiden: induktiv-klassifikatorische Strategien, die auch als a-posterioriModelle bezeichnet werden und aus Beobachtungen hervorgehen und a-prioriModelle, die deduktiv vorgehen und theoriegeleitet sind (Krohne & Hock, 2006, S. 148). Des Weiteren wird zwischen typologischen und dimensionierten Klassifizierungen unterschieden, die beide im Folgenden genauer vorgestellt werden sollen.

82 4.4.2 4.4.2.1

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Typologische orientierte Konzepte Experimentelle Untersuchungen von typologisch orientierten Erziehungsstilen

Die Führungsstile nach Lewin, Lippit und White (1939) Der Beginn der Erziehungsstilforschung wurde mit Lewin, Lippit und White (1939) experimenteller Studie zu Führungsstilen und deren Auswirkungen auf die Gruppenteilnehmer gelegt (Einsiedler, 2000, S. 110). Die a-priori-Typologie, die demokratisches, autoritäres und laissez-faire-Verhalten umfasste, wurde durch die Gruppenleiter lebensecht gespielt und beim wöchentlichen Treffen zu Werk- und Bastelarbeiten der je fünf 10- bis 11-jährigen Jungen mit dem Gruppenleiter angewandt (Lewin, Lippitt & White, 1939, S. 271). Die Gruppen trafen sich über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten und wechselten den Gruppenleiter nach sechs Wochen. Lewin untersuchte die Auswirkungen auf die Teilnehmer und stellte sowohl Einflüsse auf das Leistungs- als auch auf das Sozialverhalten fest (ebd., S. 271f.). Die Forscher wählten die Beobachtung als Forschungsmethode, wobei sie zwischen Beobachtung während der Gruppenaktivitäten und Beobachtungen außerhalb der Aktivitäten unterschieden (Lewin, Lippitt & White, 1939, S. 274). Auf Basis von Beobachtungen und Interviews wurden Unterschiede zwischen den Gruppen erfasst. Dabei wurden die Führungsstile demokratisch, laissezfaire und autoritär untersucht, die anhand von vier Einzelmerkmalen unterschieden wurden (Entscheidungsstrukturen, Planungshorizont, Aufgabenverteilung und vom Gruppenleiter verwendete Verstärkungstechniken (Lewin, Lippitt & White, 1939, S. 273). So wurden die Regeln, Arbeitsschritte und -aufgaben beim autoritären Gruppenleiter allein durch diesen bestimmt. Es gab also nur einen richtigen Weg der Bearbeitung. Dieser wurde jeweils nur für den nächsten Arbeitsschritt bekannt gegeben, sodass das weitere Vorgehen für die Kinder nicht absehbar war. Lob und Tadel verteilte der autoritäre Gruppenleiter meist personen- und nicht sachbezogen. Darüber hinaus nahm er selbst nicht am Arbeitsprozess teil und verhielt sich allgemein distanziert und überlegen (ebd.). Insgesamt konnte bei diesem Führungsstil in Hinblick auf das Sozialverhalten der Kinder eine geringe Gruppenmoral, wenig Zusammenhalt und eine überwiegend gereizte, unfreundliche und feindselige Atmosphäre festgestellt werden (ebd., S. 277f.). Dieses Verhalten gipfelte im „Sündenbock-Mechanismus“, bei

4.4 Die Erziehungsstilforschung

83

dem die aufgestauten Aggressionen an einem Kind innerhalb der Gruppe ausgelassen wurden (ebd., S. 278). Das Verhältnis der Kinder zum Gruppenleiter war durch Unterwürfigkeit und teilweise Rebellion charakterisiert (ebd., S. 283). In Hinblick auf die Leistungsfähigkeit war eine höhere Quantität, jedoch geringere Qualität gegenüber der „demokratischen“ Gruppe zu erkennen. Sobald der Gruppenleiter den Raum verließ oder zu spät kam, sank die Leistungsbereitschaft bzw. wurde gar nicht mit der Arbeit begonnen (ebd.). Der demokratische Gruppenleiter ließ die Teilnehmer aktiv am Arbeitsprozess teilnehmen. Techniken und Verfahrensschritte wurden durch Diskussionen der Teilnehmer entschieden, wobei der Gruppenleiter die Kinder dazu ermunterte, ihre Meinung einzubringen (Lewin, Lippitt & White, 1939, S. 273). Nachdem er zunächst einen Überblick über das Projekt gab und somit Transparenz für die Teilnehmer schuf, agierte er als Lernbegleiter und gab Anregungen und Hinweise nur, wenn sie notwendig sind bzw. er danach gefragt wurde (ebd.). Lob und Kritik äußerte er unpersönlich und sachbezogen (ebd.), sodass diese sozial reversibel waren, also sich die Kinder ihm gegenüber in einer ebensolchen Weise hätten verhalten können. Das daraus resultierende Sozialverhalten war gemeinschaftlich und unterstützend. Freundliche und hilfsbereite Kontakte überwogen (ebd., S. 277f.). Das Streben nach dem gemeinsamen Ziel wirkte sich darüber hinaus positiv auf das Leistungsverhalten aus. Zwar war die produzierte Menge geringer als bei der Vergleichsgruppe mit dem autoritären Gruppenleiter, jedoch war eine deutlich höhere Qualität erkennbar. Verließ der Gruppenleiter den Raum oder kam zu spät, änderte sich die Arbeitsintensität kaum bzw. wurde schon ohne den Leiter mit dem Arbeiten begonnen (ebd., S. 283). Der Gruppenleiter, der den Laissez-faire-Stil vorspielen sollte, hielt sich weitestgehend aus der Arbeit zurück und kommentierte nur, wenn er danach gefragt wurde (Lewin, Lippitt & White, 1939, S. 273f.). Daraus folgte eine Freiheit der Kinder bezüglich Aufgabenverteilung, Arbeitsvorgang usw. Obwohl der Leiter sich freundschaftlich neutral gegenüber den Jugendlichen verhielt, führte die Situation zu großer Unzufriedenheit unter den Teilnehmern (ebd., S. 277ff.). Die Arbeitsatmosphäre war aggressiv und die Leistungsbereitschaft gering. Sowohl quantitativ als auch qualitativ fielen sie hinter den Ergebnissen der anderen beiden Gruppen weit zurück. Zwar machten die Teilnehmer Vorschläge zu Gruppenaktivitäten. Diesen wurde aber meist nicht übereinstimmend zugestimmt, sodass es nie zur Verwirklichung kam (ebd.). Verließ der Gruppenleiter den Raum wurde meist sogar effektiver gearbeitet, sobald ein Teilnehmer die Führung übernahm (ebd., S. 283). In den geführten Interviews wurde deutlich, dass die Kinder den autoritären Führungsstil dem Laissez-faire-Stil fast durchgehend vorzogen (ebd., S. 285).

84

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Da Lewins Untersuchungen in einem künstlich geschaffenen Umfeld entstanden, ist eine Verallgemeinbarkeit der Ergebnisse fragwürdig (Köhne, 2003, S. 259). Des Weiteren ist eine Unterscheidung in nur drei Typen ungenau und ein längerfristiger Effekt auf die Teilnehmenden kann nicht bestimmt werden (Weber, 1967, S. 240). Kritisiert wurden Lewins Arbeiten aber vor allem aus weltanschaulichen Gründen. Gerade die Bezeichnungen „demokratisch“ und „autoritär“ sind im Sprachgebrauch mit politischen Herrschaftsformen verbunden, sodass nach Meinung einiger Autoren eine neutrale, vorurteilsfreie Untersuchung erschwert wird. Daher wurden für spätere Untersuchungen Begriffe, wie „integrativ“ und „dominant“ verwendet (Weber, 1967, S. 240). Aber auch in Bezug auf die Darstellungsweise kann die Studie als ideologisch gefärbt angesehen werden. Kritische Fragen problematisieren, ob es in diesem Modell nur innerhalb des demokratischen Führungsstils überhaupt möglich sei, eine emotionale Beziehung zwischen den Teilnehmern und dem Gruppenleiter aufzubauen. Der Laissez-faire- sowie der autoritäre Typ könnten durch die Beachtung ihrer emotionalen Kälte bzw. ihrer Gleichgültigkeit von Vornherein benachteiligt sein (Thies, 2000, S. 42). Darüber hinaus wird das politische Umfeld außer Acht gelassen. Kritiker werfen ein, dass der demokratische Führungsstil in demokratisch regierten Ländern eher angenommen wird, als in totalitären Staaten. Gleiches gilt für den autoritären Führungsstil. Es ist daher nur möglich, die Reaktionen der Teilnehmer in Relation mit ihrem sozial-gesellschaftlichen Hintergrund zu erheben (Weber, 1967, S. 240). Lewins in den Vereinigten Staaten erhobenen Ergebnisse wurden jedoch auch in anderen sozio-kulturellen Umfeldern, beispielsweise 1959 in der DDR, bestätigt (Tausch & Tausch, 1971, S. 182). Darüber hinaus ließ Lewins Studie kaum Rückschluss auf die schulische Lernsituation zu, da die je fünf Teilnehmer der Studie freiwillig zum Basteln gekommen waren. Daher waren die Umstände sowohl in der Motivation als auch in der Gruppengröße recht verschieden, um für Schulen aussagekräftige Ergebnisse ableiten zu können (Weber, 1967, S. 240). Aus diesem Grund wurden später auf Lewins Studie aufbauende weitere Studien durchgeführt (vgl. nächster Abschnitt). Die Replikationsstudie nach Birth und Prillwitz (1959) Lewins Studie entfachte eine erhöhte wissenschaftliche Beschäftigung mit Erziehungsstilen und regte vielfache Folgeuntersuchungen an, wie im deutschsprachigen Raum von Birth und Prillwitz (1959). Diese Studie orientierte sich stark an Lewins Untersuchungen, womit ein Großteil der Kritikpunkte an seiner Forschung auch zu Birth und Prillwitz angeführt werden kann (Lukesch, 1975, S. 53). Sie

4.4 Die Erziehungsstilforschung

85

untersuchten 1959 acht Gruppen von je fünf zehn- und elfjährigen Jungen in der DDR, denen wiederum bei einer Freizeitaktivität ein Führungsstil präsentiert wurde (Birth & Prillwitz, 1959, S. 243). Zur Untersuchung nutzten sie Film- und Tonbandprotokolle der Sitzungen und unterschieden zwei Komponenten des Führungsstils: 1. die Führungsansprüche, Intentionen und Ziele des Versuchsleiters bzw. der Versuchsleiterin und 2. die Durchsetzungsformen dieser Ansprüche. Zu Punkt 1 gehören Fragen nach der Planung der Arbeitsschritte, nach Maßnahmen, nach der Steuerung der Kooperation der Teilnehmenden sowie nach der Bekanntgabe der Perspektiven und Ziele und danach, inwieweit der Versuchsleiter bzw. die Versuchsleiterin sich in den Mittelpunkt des Prozesses begibt bzw. sich zurückhält (Birth & Prillwitz, 1959, S. 243). Wiederum wurden die Versuchsleiter instruiert, bestimmte Führungsstile zu präsentieren, wobei diese im Vergleich zu Lewin verändert wurden, da Birth und Prillwitz meinten, in der Schulpraxis würde es selten reine Führungsstile, sondern häufig Mischformen, geben. So ergänzten sie den verdeckt-autoritären Stil, den Trainer- und den Kontrollstil. Während sich der Erstgenannte durch eine demokratische Durchsetzungsform bei autoritärer Führungsintention auszeichnet, ist der Trainerstil mit weniger demokratischer Durchsetzungsform und dem Motto „hart, aber herzlich“ zu charakterisieren (Zumkley-Münkel, 1984, S. 20). Die Versuchsleiter des Kontrollstils waren dazu angehalten, sich so zu verhalten, wie sie es in der konkreten Situation für wirkungsvoll hielten und konnten ihren Stil an die situativen Gegebenheiten anpassen (Zumkley-Münkel, 1984, S. 20f.). Ein Laissez-faire-Stil wurde von Birth und Prillwitz – wie von den meisten Folgeuntersuchungen – ausgespart, da „diese Variante [sich] als besonders ineffektiv erwies und in praktischen Lebenssituationen nur wenige Entsprechungen findet“ (Neubert & Tomczyk, 1986, S. 120). Die Gruppen trafen sich 11 Mal für je 50 Minuten. Die Prozesse wurden von Birth und Prillwitz untersucht. Zur Übersicht erstellten Birth und Prillwitz ein Koordinatensystem, das in Abbildung 5 zu sehen ist, wobei eine Skala den Ausprägungsgrad der Durchsetzungsformen in fünf Stufen von 1 - autoritär bis 5 - demokratisch und die andere die Führungsintentionen neunstufig von 1 - autoritär über 5 - demokratisch bis 9 laissez-faire kennzeichnet. Sie legten so fünf Führungsstile fest: demokratisch (demokratische Führungsintention und Durchsetzungsform), verdeckt-autoritär (demokratische Durchsetzungsform mit autoritärer Führungsintention), Trainer-Stil (autoritäre bis demokratisch Intention, fast demokratische Durchsetzungsform), Kontroll-Stil (Führung entsprechend der Persönlichkeit des Leiters ohne vorgegebene Merkmalskombination) und autoritär (autoritäre Führungsintentionen und Durchsetzungsformen) (Lukesch, 1975, S. 54).

86

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Abbildung 5: Darstellung der Erziehungsstile nach Prillwitz und Birth (Lukesch, 1975, S. 54).

Prillwitz und Birth grenzen sich mit ihrer Darstellungsweise von Lewins typologischen Modell ab und bilden einen Übergang zu dimensionsorientierten Konzepten (Lukesch, 1975, S. 54). Inhaltlich bestätigten sie Lewins Ergebnisse (ebd.). Die Replikationsstudie nach Walz und Dietrich Walz und Dietrich untersuchten die Modellvorstellungen Lewins in Hinblick auf Unterrichtssituationen. Sie setzten Unterrichtsformen mit Erziehungsstilen gleich und untersuchten eine Klasse, die ausschließlich in Gruppenarbeit arbeitete, um den demokratischen Erziehungsstil zu untersuchen, bzw. Frontalunterricht für den autoritären (Lukesch, 1975, S. 55). Walz (1964) untersuchte fünf Schulklassen, vier mit Gruppen- und eine mit Frontalunterricht. Die intuitive Beschreibung des Geschehens, die geringe Stichprobengröße und weitere Faktoren machen die Studie jedoch nach Lukesch (ebd.) wenig geeignet, um verwendbare Aussagen über die Auswirkungen des Erziehungsstils in Schulen machen zu können (ebd.).

4.4 Die Erziehungsstilforschung

87

Dietrich (1969) untersuchte vier Schulklassen, von denen eine in Gruppen und drei frontal unterrichtet wurden. Es stellte sich heraus, dass das LehrerInnenverhalten nicht immer mit der Unterrichtsform konform ging, wie vorab impliziert. So wurde der demokratische Führungsstil zwar vor allem, aber nicht ausschließlich, im Gruppenunterricht beobachtet. Daran wird sichtbar, dass die Führungsstile nicht mit den Unterrichtsformen gleichgesetzt werden können (Lukesch, 1975, S. 56f.). 4.4.2.2

Beobachtungsstudien zu typologisch orientierten Erziehungsstilen

Anderson, Brewer und Reed (1946) beobachteten Unterrichtssituationen in Kindergärten und Grundschulklassen und konnten dabei ähnliche Erkenntnisse gewinnen wie Lewin. Sie verwendeten „umfangreiche[…] Beobachtungsschemas und quantifizierbare[…] Beobachtungskategorien“ (Weber, 1976, S. 243), sodass die LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen „objektiv und systematisch“ (ebd.) dokumentiert werden konnten. Alle Interaktionen wurden in die Kategorien dominativ und integrativ eingeordnet, wodurch mit einer Formel der sogenannte Integrations-Dominations-Quotient10 errechnet wurde. Dominative Verhaltensweisen weisen dabei Analogien zu Lewins autoritärem Führungsstil auf. Charakteristisch sind Zurechtweisungen und Befehle durch die Lehrkraft. Die in der Klasse daraufhin gezeigten Verhaltensweisen waren durch Widerstand, Passivität oder dominatives Verhalten seitens der SchülerInnen gekennzeichnet (Einsiedler, 2000, S. 110). Der integrative Führungsstil ist mit Lewins demokratischem Stil zu vergleichen. Hier überwogen Anerkennung und Lob. Die Lernenden wurden angehört und ernstgenommen. In integrativen Klassen zeigten sie ein spontaneres, freundlicheres und hilfsbereiteres Verhalten (Einsiedler, 2000, S. 110f.). Die meisten von Anderson et al. untersuchten Lehrkräfte zeigten einen deutlichen Hang zum dominativen Erziehungsstil. Der höchste gemessene IDQ-Wert lag bei 190. Allerdings beruhen diese Erkenntnisse nur auf einer geringen Zahl von Lehrkräften (Weber, 1976, S. 243).

10

Der aus den Verhaltensweisen der Lehrperson erschlossene Integrations-Dominations-Quotient (IDQ) berechnet sich so, dass alle innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls gezeigten dominativen bzw. integrativen Verhaltensweisen einer Lehrperson addiert und schließlich die Summe der integrativen (SI) durch die Summe der dominativen Verhaltensweisen (SD) dividiert und anschließend mit 100 multipliziert wurde (Weber, 1976, S. 247). Daraus ergibt sich folgende Formel: IDQ= SD / SI * 100. Ist das Ergebnis größer als 100, überwiegen die integrativen und vice versa die dominanten Verhaltensweisen (ebd.).

88 4.4.2.3

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Rein theoriebasierte typologisch orientierte Erziehungsstile

Die Lehrertypologie nach Caselmann (1964 & 1967)11 Caselmann (1964 & 1967) geht in seiner Lehrertypologie anders als Lewin davon aus, dass das Verhalten des Lehrers bzw. der Lehrerin zum Lernstoff ebenso wichtig ist, wie das Verhältnis zum Lernenden und somit Berücksichtigung in der Lehrertypologie finden muss. Die erstellten Typen sind dabei „notwendige Hilfskonstruktionen, mit denen die unübersehbare Fülle der Einzelerscheinungen gegliedert und so gemeistert werden kann“ (Caselmann, 1964, S. 12). Ein erstes Unterscheidungsmerkmal seiner Typologie ist die Zugewandtheit der Lehrperson. Dabei unterscheidet er also diejenigen Lehrkräfte, die mehr dem Unterrichtsstoff zugewandt sind („logotrop“) von denjenigen, die mehr dem Kind zugewandt sind („paidotrop“) (Caselmann, 1967, S. 457). Der logotrope LehrerInnentyp, dem es vor allem um das Bildungsziel geht, lässt sich wiederum in zwei Unterkategorien aufteilen. Zunächst gibt es die philosophisch interessierte logotrope Lehrperson, die vor allem ideologisch an ihrem Fach interessiert ist. Darüber hinaus gibt es die fachwissenschaftlich interessierte logotrope Lehrperson, die gern viel über ihr Fach weiß und forscht. Beide Untertypen wissen laut Caselmann für ihr Fach zu begeistern, wobei es beim Erstgenannten vor allem durch seine einnehmende Persönlichkeit und beim Zweitgenannten durch die Begeisterungsfähigkeit für das Fach gelingt (Caselmann, 1967, S. 458). Die paidotropen LehrerInnentypen, die die Herausbildung eines reifen, jungen Menschen im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit sehen, werden ebenfalls in zwei Kategorien unterteilt. Während die individuell psychologisch Interessierten das einzelne Kind in den Fokus nehmen, ist für die generell psychologisch Interessierten die allgemeine Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Zentrum ihres Handelns (Caselmann, 1967, S. 459). Ausdrücklich betont Caselmann jedoch, dass sich die beiden vermeintlich komplementär angelegten Pole nicht ausschließen. Eine jede Lehrkraft vereine beide Typen in sich, nur mit je unterschiedlicher Ausprägung (Caselmann, 1967, S. 457). Im zweiten Schritt untersucht er die Lenkung durch die Lehrperson. Er bezeichnet diese als „autoritativ“ bzw. „mitmenschlich“ (Caselmann, 1964, S. 56). 11

Weitere typologische Konzepte gehen von Eduard Spranger, Johann Peter Ruppert und weiteren aus. Diese sollen an dieser Stelle jedoch aufgrund der geringen Bedeutung für die Erziehungsstilforschung nicht weiter ausgeführt werden (Lukesch, 1992, S. 403).

4.4 Die Erziehungsstilforschung

89

Lehrkräfte, die eher autoritativ unterrichten, versuchen den Unterricht bis ins Details zu kontrollieren, geben klare Befehle und verlangen strikten Gehorsam, während die mitmenschlichen Lehrertypen sich eher zurücknehmen und sich auf die Organisation des Unterrichts konzentrieren. Wiederum sind unterschiedliche Abstufungen der Ausprägung möglich (Caselmann, 1964, S. 57ff.). Das dritte Merkmal bezieht sich auf die didaktische Vorgehensweise. Dabei kann eine Lehrperson „wissenschaftlich-systematisch“, „künstlerisch-organisch“ oder „praktisch“ agieren. Wie bereits an der Bezeichnung auszumachen ist, entwickelt der wissenschaftlich-systematische Typ seinen Unterricht logisch und klar, womit erreicht wird, dass SchülerInnen aller Leistungsstärken dem Unterricht folgen können (Caselmann, 1964, S. 67). Der künstlerisch-organische Typ arbeitet anschaulich, modellhaft und plastisch, sodass auch komplexe Vorgänge gut vermittelt werden können (Caselmann, 1967, S. 461f.). Die letzte Gruppe der praktisch Agierenden charakterisiert vor allem ein Talent für die Organisation von Gruppenunterricht sowie die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte durch Faustregeln, Eselsbrücken etc. einprägsam zu gestalten (Caselmann, 1967, S. 462). 4.4.2.4

Kritik an typologischen Konzepten der Erziehungsstilforschung

Bei typologischen Konzepten handelt es sich „…meist um jeweils zwei bis drei gegensätzliche, extreme Typen, die auf Grund von Intuition und Einzelbeobachtungen entworfen wurden.“ (Tausch & Tausch, 1971, S. 170). Eine Einordnung von Individuen gestaltet sich daher oft schwierig. „Häufig beziehen sich Typen nur auf extreme Ausprägungen von Verhaltensweisen. Personen im Mittelbereich lassen sich nicht einordnen bzw. nur verzerrt charakterisieren. Auch ist eine quantitativ abgestufte Erfassung des Verhaltens unmöglich.“ (ebd.). Darüber hinaus kann es zu einer subjektiven Zuordnung der Eigenschaften der Typen ohne empirische Absicherung kommen (Tausch & Tausch, 1971, S. 170f.). Da diese meist nicht detailliert beschrieben werden, wird eine Vergleichbarkeit erschwert (ebd.). Neben den Nachteilen, sind jedoch auch die Vorteile zu beachten. So ermöglichen typologische Konzepte einen schnellen, wenn auch ungenauen, Austausch. Darüber hinaus sind gewisse Zusammengehörigkeiten einzelner Eigenschaften nicht zu bestreiten.

90 4.4.3

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Dimensionsorientierte Konzepte

Ryans (1960) identifizierte in den USA drei Dimensionen erzieherischen LehrerInnenverhaltens im Anschluss an eine Erhebung von über 3400 Schulklassen, davon etwa 1500 Grundschulklassen und 1900 höheren Klassen, im Jahre 1960 (ebd., S. 66). Dabei ließ er trainierte BeobachterInnen das Verhalten der Lehrenden und Lernenden anhand von 18 bipolaren Merkmalen einschätzen, die er anschließend mithilfe einer Faktorenanalyse untersuchte (ebd., S. 93ff.). Diese ergab, dass die wesentlichen Züge des LehrerInnenverhaltens in drei Dimensionen erfasst werden können (ebd., S. 87ff.). Die erste Dimension bestand aus distanziertem, reserviertem und egozentrischem Verhalten einerseits bzw. freundlichem, verstehendem und teilnehmendem Verhalten andererseits. Der Verantwortung ausweichendes, planloses und nachlässiges Verhalten auf der einen bzw. verantwortliches, systematisches und gewissenhaften pädagogisches Handeln auf der anderen Seite stellten die zweite Dimension dar. Die dritte Dimension wurde durch langweiliges und routinemäßiges bzw. anregendes, fantasievolles und originelles LehrerInnenverhalten beschrieben (ebd., S. 89). Dabei konnten Zusammenhänge zwischen gewissen positiven LehrerInneneigenschaften, wie planvolles, gewissenhaftes und freundliches Verhalten und positiven, produktiven Eigenschaften der Lernenden, wie aufgewecktes und selbstkontrollierendes Verhalten, festgestellt werden (ebd.). Bei diesen Zusammenhängen gab es jedoch schulformabhängige Differenzen. Während in Grundschulen alle drei Dimensionen stark mit dem produktiven Verhalten12 der Lernenden korrelierten, lagen diese Werte bei weiterführenden Schulen deutlich niedriger (Ryans, 1960, S. 345). Im deutschsprachigen Raum legten Tausch und Tausch (1971) ein Konzept mit zwei Dimensionen vor, das sich vorrangig auf die Äußerungen der Lehrkraft stützt. Die zwei Hauptdimensionen umfassen zum einen die emotionale Wärme und Wertschätzung bzw. emotionale Kälte und Geringschätzung und zum anderen das Ausmaß der Lenkung und der Kontrolle, wie man in Abbildung 6 sehen kann (Thies, 2000, S. 44). Untersucht wurden 1967 250 Erziehungsäußerungen von über 100 Lehrpersonen. Diese Äußerungen wurden anschließend von BeurteilerInnengruppen in vier Führungsstile eingeordnet. Dabei bestanden die BeurteilerInnengruppen aus 50 Studierenden ohne vorherige Instruktion sowie fünf ExpertInnen, die zuvor instruiert worden waren (Tausch & Tausch, 1971, S. 172). Beide Gruppen beurteil12

Produktives SchülerInnenverhalten wird anhand folgender Merkmale festgemacht: aktive Teilnahme im Unterricht, Aufgewecktheit und Sicherheit, Verantwortlichkeit und Selbstkontrolle, Ideenreichtum und Initiative (Weber, 1976, S. 301).

4.4 Die Erziehungsstilforschung

91

ten die Äußerungen der Lehrkräfte weitestgehend übereinstimmend. In einer neuen Beurteilungsrunde wurden dieselben Äußerungen einzeln nach 17 Merkmalen (bspw. Pessimismus, Unhöflichkeit) kategorisiert. So konnten die Einzelmerkmale anschließend den Typen zugeordnet werden (ebd.). Der autokratische Führungsstil zeichnet sich durch ein hohes Maß an Kontrolle sowie emotionaler Kälte bzw. Geringschätzung aus. Einzelmerkmale sind dabei u.a. Befehle und Unfreundlichkeit. Der einzige Unterschied zum sehr autokratischen Führungsstil ist, dass er in Bezug auf die emotionale Dimension noch kälter und zurückweisender ist als der autokratische (Tausch & Tausch, 1971, S. 172f.). Ergänzend zu den Einzelmerkmalen des autokratischen Stils weist der sehr autokratische u.a. folgende auf: Strafandrohung und -erteilung und als falsch beurteiltes Erzieherverhalten (ebd., S. 175). Lehrkräfte, die diesen Erziehungsstilen folgen haben einen 40- bis 50-mal höheren Redeanteil im Unterricht als ihre Lernenden. Erziehungsverhalten nach dem Stil laissez-faire kombiniert die Merkmale von minimaler Kontrolle sowie neutraler emotionaler Zuwendung, wobei als falsch beurteiltes ErzieherInnenverhalten und Höflichkeit zu den Einzelmerkmalen zählen (ebd., S. 173ff.). Eine moderate Lenkung und starke emotionale Zuwendung kennzeichnen den sozialintegrativen Erziehungsstil, der u.a. durch die Einzelmerkmale als richtig beurteiltes Erzieherverhalten, Ruhe und Freundlichkeit beschrieben wird (Tausch & Tausch, 1971, S. 173ff.). Eine Übersicht der Erziehungsstile findet sich in folgender Abbildung 6. Walker (2009) zeigt darüber hinaus basierend auf den elterlichen Erziehungsstilen von Baumrind (1967), dass ein bei Tausch und Tausch fehlender autoritativer Stil, der durch ein hohes Ausmaß an Lenkung und sozialer Wertschätzung gekennzeichnet ist, ebenfalls sehr gute Effekte im Klassenraum erzielen kann (Walker, 2009, S. 125f.).

92

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

Abbildung 6: Erziehungsstile nach Tausch und Tausch (1971, S. 172).

Die ausgelösten Vorgänge bei den Lernenden wurden ebenfalls versucht mit einer Befragung von BeurteilerInnengruppen zu erfassen. Dabei wurde festgestellt, dass das (sehr) autokratische Verhalten Unfreiheit und negative Gefühle initiiert. Genannte Einzelmerkmale lauten Verschlechterung der Beziehung zu den Erziehern; negative, gefühlsmäßige Erfahrungen und Hinderung der seelischen Reifung. Das sozialintegrative ErzieherInnenverhalten ist mit einem Ausmaß mittlerer Freiheit und eher positiven Gefühlsvorgängen verbunden, wobei angenehme Reaktionen und spätere Angepasstheit einige Einzelmerkmale beschreiben. Ein hohes Ausmaß an Freiheit empfinden Kinder nach Tausch und Tausch beim Laissezfaire-Stil, der gekoppelt ist mit moderaten Gefühlsvorgängen. Einzelmerkmale sind u.a. spätere Unangepasstheit und Verbesserung der Beziehung zu den Erziehern (Tausch & Tausch, 1971, S. 174f.). Tausch und Tauschs Modell wurde vielfältig bewertet und kritisiert. Das Buch „Erziehungspsychologie“ war sehr erfolgreich und hatte einen hochgradigen Einfluss auf die Lehrerausbildung im deutschsprachigen Raum (Einsiedler, 2000, S. 116). Den Grund dafür sieht Einsiedler (2000) im appellativen Charakter des Buches, womit die von Tausch und Tausch genannten zu bevorzugenden bzw. zu vernachlässigenden Handlungsweisen gemeint sind, die prägnant dargelegt und begründet werden. Er hält jedoch dagegen, dass wenig empirische Befunde ent-

4.4 Die Erziehungsstilforschung

93

halten seien (ebd., S. 116). Weiterhin bewertet er die Forschungsintention als ambivalent. Aus seiner Sicht erscheint es problematisch, dass diese von politisch- und pädagogisch-normativen Vorstellungen geprägt sei und den Abbau autokratischer sowie das Erstarken demokratischer Verhaltensweisen intendiere (ebd., S. 111). Nickel kritisiert die Dimension der Lenkung als nicht ausreichend, da nicht beschrieben wird, „welche Lehrerverhaltensweisen geeignet sind, Schüleraktivitäten zu initiieren“ (Einsiedler, 2000, S. 113). Weiterhin bezeichnet er autoritär und nicht autoritär als inhaltsleere Konzepte für die Erfassung von Lehrertätigkeiten. Tausch und Tausch (1971) selbst äußern sich später ebenfalls kritisch über ihr Modell. Die Beschreibung von Verhaltensweisen sei aus methodischer Sicht unzureichend zustande gekommen, da „die einzelnen Merkmale und Verhaltensweisen […] nicht auf Grund von beobachteten Häufigkeiten und statistischen Korrelationen gewonnen worden.“ (ebd., S. 175). Zugleich problematisieren auch sie ihre Kategorien demokratisch und autoritär als weltanschaulich geprägt (ebd.). 4.4.4

Kritik an der Erziehungsstilforschung

Kritisiert wurde die Erziehungsstilforschung vor allem mit dem Argument, dass sie sich stark auf die Lehrperson fokussiere und damit die Schülerperspektive vernachlässige (Reinhold, Pollak, Guido & Heim, 1999, S. 343). Die LehrerInnenSchülerInnen-Interaktion werde einseitig untersucht, wobei es fast ausschließlich um die LehrerInnenperspektive und die Auswirkungen auf den Schüler ging. Außerdem bleibe der soziokulturelle Kontext unbeachtet (ebd.). Modernere Interaktionstheorien, wie das transaktionale Modell von Nickel, betonen jedoch die wechselseitige Einflussnahme innerhalb der pädagogischen Interaktion und räumen sowohl Lehrperson als auch Lernendem Stellenwert ein. Beide reagieren aufeinander und modifizieren ihr Verhalten (vgl. Kapitel 3.1.2). Darüber hinaus blieb bei der Erziehungsstilforschung variables Verhalten der Lehrkräfte zu wenig berücksichtigt (Thies, 2000, S. 48). „Die Erziehungsstilforschung geht davon aus, dass jeder Erzieher einen situationsübergreifenden Erziehungsstil aufweist, also innerhalb der pädagogischen Beziehung über ein zeitlich konsistentes Verhaltensmuster verfügt“ (Thies, 2000, S. 41). „Es werden grundlegende Haltungen und Handlungsroutinen von Lehrern ermittelt. Empirische Befunde legen aber nun nahe, dass die Variabilität im Lehrerverhalten ebenfalls eine bedeutsame Komponente darstellt. So zeigen beispielsweise Lehrer, deren überdauernde Unterrichtsstile sich insbesondere hinsichtlich ihrer Direktivität (als eine

94

4 Typen von Lehrpersonen und Erziehungsstile

immer wieder gefundene Variable) unterscheiden, in schwierigen Situationen sehr ähnliche kontrollierende Verhaltensweisen“ (Thies, 2000, S. 47). Zusammenfassend ist zur Erziehungsstilforschung festzustellen, dass – trotz vielseitiger und produktiver Kritik an den Studien – aufschlussreiche Typen von Lehrpersonen in vielen verschiedenen Bereichen identifiziert werden können. Neben dem allgemeinen Handeln von Lehrpersonen sind Untersuchungen zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen im Besonderen dazu geeignet, Handlungsmuster aufzudecken, da Interaktionsweisen als relativ stabil angesehen werden. Darüber hinaus wurden vielfältige Methoden gezeigt, Befunde zu Interaktionen von Lehrpersonen zu strukturieren. So sind neben dimensionierten Modellen auch LehrerInnentypologien möglich, um Handlungsmuster zu ermitteln.

5

Fragestellung

Wie im ersten Teil der Arbeit gezeigt wurde, ist die Art und Weise, wie einzelne Lehrpersonen mit den Lernenden interagieren von zentraler Bedeutung für die Lernprozesse und die sozio-emotionale Entwicklung der SchülerInnen (vgl. Kapitel 0). Dabei gibt es sowohl Gründe zur Annahme, dass Lehrkräfte mit einer gewissen Kontinuität (vgl. Kapitel 2.2 und 4.4) als auch Hinweise darauf, dass sie situationsabhängig und variabel agieren (vgl. Kapitel 2.4 und 2.7). Dennoch mangelt es in der Schulforschung bislang an aktuellen Studien zu den interaktiven Handlungsweisen einzelner Lehrpersonen (vgl. Kapitel 1). Die vorliegende Studie versucht, diese Lücke zu verkleinern und wird prüfen, ob auf Basis der Anerkennungstheorie interaktive Handlungsmuster von Lehrpersonen ermittelt werden können. Dabei soll die Variabilität des LehrerInnenverhaltens so weit wie möglich berücksichtigt werden. Ziel ist daher eine Untersuchung, die bei der Analyse interaktiver Handlungsweisen einen Fokus auf die einzelnen Lehrpersonen legt und dabei die mögliche Kontinuität bzw. Diskontinuität der Handlungsweisen berücksichtigt. Zu diesem Zweck bedient sich die Studie des „INTAKT“-Datensatzes, der Beobachtungsprotokolle enthält, die sich auf LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen fokussieren, wobei in den Protokollen zum Teil anerkennendes bzw. verletzendes sowie in Hinblick auf Anerkennung auch neutrales oder ambivalentes Handeln unterschieden und kategorisiert. Die im Datensatz gesammelten Informationen zu LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen wurden bislang noch nicht systematisch auf mögliche wiederkehrende individuelle Handlungsweisen, also auf typische Profile von Lehrpersonen hin untersucht. In der vorliegenden Studie soll daher danach gefragt werden, ob anhand einer systematischen Analyse des Datensatzes typische Interaktionsprofile von Lehrpersonen gefunden werden können und wie häufig diese vorkommen. Basierend auf den im ersten Teil der Arbeit dargestellten theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnissen ergeben sich dabei die folgenden vier Teilfragen:

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_5

96 1. 2. 3. 4.

13

5 Fragestellung

Sind auf Basis der Beobachtungen von LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen in Unterrichtsstunden Handlungsmuster von Lehrpersonen identifizierbar? Wie unterscheiden sich diese Handlungsmuster hinsichtlich der Anerkennungsqualität13 und der Häufigkeit des Auftretens? Lassen sich Zusammenhänge zwischen bestimmten Handlungsmustern und ausgewählten Parametern, wie z. B. Geschlecht der Lehrkraft oder Schulform, erkennen? Welche Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten sind im individuellen LehrerInnenverhalten erkennbar?

Der Begriff Anerkennungsqualität umfasst anerkennendes, neutrales, verletzendes und ambivalentes Handeln von Lehrpersonen.

6

6.1 6.1.1

Methodisches Vorgehen

Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“ Das Forschungsnetzwerk „INTAKT“

Die Studie bedient sich der Quellen des „INTAKT“-Netzwerks (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern), in dem, unter Leitung von Prof. Dr. Annedore Prengel und Dr. Antje Zapf von der Universität Potsdam, interdisziplinär SoziologInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen und FachdidaktikerInnen (Prengel, 2013, S. 93f.) zusammenarbeiten und Beobachtungsprotokolle in Hinblick auf die Qualität pädagogischer Interaktionen erheben und analysieren. Dabei handelt es sich um qualitative Beobachtungsstudien zur Erforschung von LehrerInnenSchülerInnen-Interaktionen hinsichtlich der Kategorien „Anerkennung“, „Verletzung“ und „Ambivalenz“ in pädagogischen Beziehungen. Seit 2008 werden in diesem Projekt Daten mithilfe eines gemeinsamen Beobachtungsinstruments gesammelt und stetig erweitert. Die Interaktionsszenen sind im Zuge zahlreicher Seminare, Lehrforschungsprojekte und Abschlussarbeiten entstanden. Das Netzwerk nutzt die Methode der teilnehmenden, offenen Feldbeobachtung, wobei sowohl qualitative als auch quantitative Auswertungen der Daten vorgenommen werden. Um den Datensatz langfristig nutzen und erweitern zu können, wurde eine Handreichung geschrieben, in der die Erhebung der Daten schrittweise explizit erklärt wird, sodass auch neue Beobachtende die Möglichkeit haben, die Beobachtung adäquat durchzuführen. Insgesamt umfasst der in dieser Arbeit genutzte Teildatensatz 13.001 Szenen. 6.1.2

Die Erhebung der Feldvignetten

Die Clusteranalyse baut auf den Feldvignetten des „INTAKT“-Netzwerkes, also direkt beobachtbaren bzw. hörbaren LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionsszenen (Schulz, 2010), auf. Gewonnen werden diese durch die Methode der qualitativen, teilnehmenden, offenen Feldbeobachtung (vgl. Kapitel 6.1.1, Prengel et al., 2012, S. 2). Das Wort Feldvignette grenzt sich von der Fallvignette ab, indem sie Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/ 978-3-658-31256-5_6) enthalten. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_6

98

6 Methodisches Vorgehen

„das Erfassen kurzer Sequenzen im Beobachtungsfeld“ (Prengel, 2013, S. 97) beschreibt. Das teilstandardisierte Beobachtungsprotokoll setzt sich dabei aus den folgenden Spalten zusammen: Tabelle 2:

Zeit

Beobachtungsbogen, vgl. Prengel et al., 2012, S. 5.

UF14

Beschreibung der Interak- Intertionsszene pretation

Introspektion

A1

Nachdem die genaue Uhrzeit und die Unterrichtsform notiert wurden, wird die beobachtete Situation sowie deren Kontext nach Oswald (2008) genau beschrieben: „Der Beobachter bemüht sich, den Sinn der Sequenzen aus der Sicht der interagierenden Kinder zu verstehen. Das Aufschreiben dieses Verstandenen ist zwar so nahe wie möglich an den faktischen Abläufen auszurichten. Jedoch ist die Verwendung von qualifizierenden Verben, Adverbien und Adjektiven, die sich auf die emotionalen Zustände beziehen, unumgänglich. Nur die physischen Abläufe zu beschreiben, genügt keineswegs. Der Beobachter hat die Fähigkeit zu Sinn entnehmender Wahrnehmung und, gestützt auf diese Fähigkeit, muss er den wahrgenommenen Sinn so präzise und ausführlich wie möglich wiedergeben“ (S. 79f.)

Festgehalten werden direkt sicht- und hörbare LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen, also neben wörtlichen Äußerungen auch Mimik, Gestik und Körperhaltung der handelnden Personen. Die Spalte der Interpretation dient dazu, die Szene für die späteren RezipientInnen nachvollziehbarer zu beschreiben. Es werden kurze Kommentare und Erläuterungen formuliert, die zu einem besseren Verständnis beitragen. In der fünften Spalte „Introspektion“ werden die subjektiven Emotionen der Beobachtenden auf die jeweilige Szene in Ich-Form notiert, womit wiederum ein besseres Verständnis der emotionalen Qualität erzielt werden soll. Eine erste Kategorisierung der Szene hinsichtlich des Anerkennungsgrades wird in der letzten Spalte vorgenommen. Die Kategorienbildung erfolgt anhand der qualitativquantitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2015, S. 70, 85f.). Die fol-

14

Unterrichtsform

99

6.1 Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“

gende Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die Auswertungskategorien und verdeutlicht diese mithilfe von Ankerbeispielen. Tabelle 3:

Anerkennungsgrade mit Codierung, Beschreibung und Beispiel, vgl. Prengel et al., 2012, S. 8.

Kategorie

Codie- Beschreibung der rung Kategorie

Ankerbeispiel15

Sehr +2 anerkennend

Szenen, die besonders deutlich und sehr angemessen anerkennend wahrgenommen werden

Frau Müller sagt vor der gesamten Klasse über Tamaras Vortrag: „Ich fand es wahnsinnig toll, mutig, dass du vor der Klasse vorgelesen hast. Super!“

Leicht +1 anerkennend

Szenen, die ein wenig und eher beiläufig anerkennend empfunden werden

In Gruppe 2 macht Stefan eine besonders gute Annahme, daraufhin sagt Frau Petermann zu ihm: „Sehr schön!“.

Neutral

0

Szenen, in denen weder Anerkennung noch Verletzung durch Lehrpersonen vorkommen

Die Lehrerin fragt, warum die Kinder nicht pünktlich sind und weist nochmals daraufhin, dass sie nach der Pause pünktlich sein sollen.

Leicht verletzend

-1

Szenen, in denen eine Verletzung eher als einfach und beiläufig empfunden wird

Frau Schalitz unvermittelt zu Lena: „Dir ist aber schon klar, dass du mit dem Dialog vom letzten Dienstag deine Zwei verrissen hast.“ Lena reagiert mit gesenktem Kopf und Trotzhaltung.

Sehr verletzend

-2

Szenen, in denen eine Verletzung als heftig und eindeutig unzulässig empfunden wird

Frau Müller schließt die Tür auf, weil eine Schülerin zur Toilette muss. Tamara geht auch hinaus, kommt kurz danach wieder herein, holt sich Stifte und geht wieder heraus.

15

Die Namen der Lehrkräfte und der Lernenden wurden zum Zwecke der Anonymität in allen Beispielen geändert.

100 Kategorie

6 Methodisches Vorgehen

Codie- Beschreibung der rung Kategorie

Ankerbeispiel15 Frau Müller geht ihr hinterher: „Nein, du gehst nicht raus!“. Frau Müller nimmt Tamara die Stifte weg. Tamara: „Mama, Mama. Da drin ist es zu laut!“ Frau Müller: „Bist du ein Schulkind oder ein Weinkind?“ Frau Müller trägt Tamara an den Armen in die Klasse, Tamara schreit. Frau Müller schließt die Tür wieder zu, Tamara trommelt dagegen. Frau Müller: „Das bringt doch jetzt gar nichts. Komm, pack das Böckchen mal weg.“ Tamara schreit laut.

Ambivalent

99

Szenen, in denen starke Widersprüche oder Ambivalenzen wahrgenommen werden und die nicht eindeutig zugeordnet werden können

Eine Gruppe soll sich mit kranken und behinderten Menschen in der NS-Zeit beschäftigen. Um das Material der richtigen Gruppe zu geben, fragt Herr Mauermann mit spaßigem Unterton: „Wer sind die Kranken und Behinderten?“

Personenbezogene Daten wurden nicht erhoben, um einen breiteren Feldzugang zu gewährleisten. Aus diesem Grund konnte lediglich das sichtbar gemachte Geschlecht der Lehrperson sowie die jeweils unterrichteten Fächer protokolliert werden. Außerdem erhielten die Lehrpersonen individuelle Codenamen, die zwar keinen Rückschluss auf ihre Identität zulassen, sie jedoch innerhalb des Datensatzes eindeutig zuordnen lassen. Weitere Codierungen betreffen die Besonderheiten der Schule und der Lerngruppe und werden im folgenden Abschnitt 6.1.3 vorgestellt.

6.1 Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“

101

Informelle Gespräche und Beobachtungen, die außerhalb des Unterrichtsgeschehens, zum Beispiel in der Pause, stattfinden und für die Auswertung wertvoll sein könnten, wurden vom Beobachtenden in einem Memo-Bogen festgehalten. Diese Memos halten weitere Erkenntnisse fest, beispielsweise das allgemeine Klassenklima. Die Qualität der Daten wird durch Mitglieder des „INTAKT“-Teams mehrfach kontrolliert. Dazu dienen eine intensive Beobachtungsschulung in Vorbereitung der Feldphase sowie regelmäßige Treffen zur Diskussion schwer einzuordnender Beobachtungssequenzen, in denen die Feldvignetten anhand der Protokolle wiederholt diskutiert und überprüft werden. Nach der Protokollierung erfolgt die Phase des konsensuellen Codierens (Kuckartz, 2010, S. 88), wonach die erste Codierung durch die zwei BeobachterInnen getrennt voneinander vorgenommen wird und anschließend die Ergebnisse verglichen und diskutiert werden. Weiterhin überprüfen ein oder mehrere Mitglieder des „INTAKT“-Teams die vorgenommene Codierung. Werden Szenen als schwer einzuordnen codiert, werden sie im gesamten Team besprochen. Sollte das Team zu keinem Ergebnis kommen, wird die Szene als ambivalent eingeordnet. Die Computerprogramme MAXQDA und SPSS unterstützen die Auswertungsprozesse der Daten, wobei MAXQDA für die qualitative Datenanalyse und SPSS als Statistik- und Analysesoftware genutzt wird. 6.1.3

Vorstellung des Codesystems

Die Beobachtungsprotokolle werden in einen MAXQDA- und SPSS-Datensatz eingepflegt, wobei für jede Szene die agierenden oder betroffenen LehrerInnen und SchülerInnen sowie die InitiatorInnen und AdressatInnen der Szene codiert werden. Weiterhin werden sowohl der vergebene Anerkennungsgrad und die jeweilige Interaktionsform codiert. Zusätzlich zu den Beobachtungsprotokollen werden für jede Unterrichtsstunde Informationen zu Einzugsgebiet, Schulart, Unterrichtsfach, Klassenstufe, Geschlecht der Lehrkraft und des bzw. der adressierten Lernenden und Gruppengröße der Lernenden durch die Beobachtenden erhoben. Jeder transkribierten Szene wird in MAXQDA pro Code ein Subcode zugeordnet. Eine Ausnahme stellen die Interaktionsformen dar. Bei diesen wird eine dem Anerkennungsgrad entsprechende Interaktionsform zugeordnet, wobei in seltenen Fällen auch mehrere Interaktionsformen einer Szene zugeordnet wurden. Die agierenden Lehrkräfte werden mit ihrem individuellen Pseudonym ebenfalls der jeweiligen Szene zugeordnet. Es ist daher später möglich, gezielt Relationen unter den (Sub-)Codes bzw. zwischen den einzelnen Lehrpersonen und den (Sub)Codes zu untersuchen. Unvollständig codierte Szenen in Hinblick auf den Aner-

102

6 Methodisches Vorgehen

kennungsgrad und die Interaktionsformen kommen selten vor und wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt. Selten kommen fehlende Codierungen bei anderen Codes vor, die dann als solche gekennzeichnet sind. Die Codes wurden vom „INTAKT“-Team nach dem Konzept der Grounded Theory (Strübing, 2014, S. 3) in einem induktiv-deduktiven Verfahren entwickelt, wobei sowohl theoretische Grundlagen zur Codierung des Anerkennungsgrades herangezogen wurden, als auch induktiv anhand der ersten tausend Szenen Interaktionsformen festgelegt wurden. Das genaue Codesystem besteht aus den in Tabelle 4 dargestellten Codes und Subcodes. Tabelle 4:

Codesystem des „INTAKT“-Teams mit Subcodes.

Code

Mögliche Subcodes

Klassenstufe

Vorschule Jül Je ein Subcode für die Klassenstufen 1-13

Sozioökonomischer Status des Einzugsgebiets16

Bildungsnah / hoch Heterogen Niedrig

Schulform

Gymnasium Gesamtschule Schule der Sekundarstufe I17 Grundschule

Schulstufe

Sekundarstufe II Sekundarstufe I Primarstufe

Schultyp

Privat Staatlich

16

17

Die Einzugsgebiete, die in Hinblick auf ihren sozioökonomischen Status als „bildungsnah“ und „hoch“ kategorisiert wurden, sind vermutlich stark konfundiert. Es ist nicht klar, inwiefern die Beurteilenden diese Kategorien voneinander getrennt haben. Daher werden diese im Folgenden gemeinsam betrachtet. Dazu zählen in dieser Arbeit alle Schulformen, die an die Grundschule anschließen, jedoch nicht über eine gymnasiale Oberstufe verfügen. Aufgrund des in Deutschland herrschenden föderalen Bildungssystems und der damit einhergehenden unterschiedlichen Bezeichnungen wurden diese Schulformen unter „Schulen der Sekundarstufe I“ zusammengefasst.

6.1 Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“

Code

Mögliche Subcodes

Schulprofil

Katholisch Evangelisch Montessori Waldorf International Regulär

Unterrichtsfach

Andere Deutsch Englisch Fächerübergreifend Französisch Geschichte Geografie Kunst Lebenskunde / Lebensgestaltung-Ethik Mathematik Musik Religion Religion Russisch Sachunterricht Spanisch Sport Werken Wirtschaft-Arbeit-Technik

Pseudonym der pädagogischen Fachkraft

Angabe des jeweiligen Pseudonyms

Geschlecht der pädagogischen Fachkraft

Unbekannt Weiblich Männlich

Zusätzlich anwesende Erwachsene

Andere Lehrpersonen ErzieherInnen SonderpädagogInnen Andere

103

104

6 Methodisches Vorgehen

Code

Mögliche Subcodes

Gruppengröße

1 2-5 6-10 11-15 16-20 21-25 >25 Unbekannt

Szene

Angabe der jew. Szenenzahl des Protokolls

InitiatorIn der Szene

Pädagogische Fachkraft Kind/Kinder Andere

AdressatIn der Szene

1 Kind Kleingruppe (bis 5) Großgruppe/Klasse Andere

Pseudonym Kind

Angabe des jeweiligen Pseudonyms

Geschlecht Kind(er)

Weiblich Männlich Gemischt Unbekannt

Beteiligte

Keine weiteren Ein Kind Andere Kinder Eltern Andere pädagogische Fachkräfte Andere

Anerkennungsgrad

Sehr verletzend Leicht verletzend Neutral Leicht anerkennend Sehr anerkennend Ambivalent

6.1 Der Datensatz des Forschungsnetzwerks „INTAKT“

105

Code

Mögliche Subcodes

Situativer Anlass: Umgang mit...

Verhalten Leistung Aufforderung Lehren/Zeigen/Erklären Kindermaterial Zeit Außerschulischem im Unterricht Krankheit/Verletzung Weinen Vergessenem Essen/Trinken Toilettengang Andere

Anerkennende Interaktionsformen

Lob/Belohnungssysteme Freundlicher Kommentar Positive Zuschreibung Freundlicher Körperkontakt Freundliche Handlung Sinnvolle Hilfe Konstruktive Anweisung Selbstständigkeit, Kreativität fördern Trost Respektvolle Distanz Kooperation fördern Anerkennende Rituale Fairness Missachtung durch MitschülerInnen unterbinden Notwendige Grenzen setzen Konstruktive Ermahnung Sinnvoll Konsequenzen aufzeigen Konstruktive Strafe Andere

Verletzende Interaktionsformen

Destruktive Ermahnung Destruktiver Kommentar Negative Zuschreibung zu einem Kind Spott, Ironie, Sarkasmus

106

6 Methodisches Vorgehen

Code

Mögliche Subcodes Destruktive Anweisung Destruktive Hilfe Selbstständigkeit, Kreativität unterbinden Destruktive Strafe Ausgrenzung Aggressiver Körperkontakt Anbrüllen Drohung Missachtung durch MitschülerInnen tolerieren, initiieren Notwendige Grenzen nicht setzen Kooperation verhindern Ignorieren, nicht beachten Hilfsverweigerung Andere Sexualisierte Übergriffe

Ambivalente Interaktionsformen

6.2

Ambivalente Strafe Ambivalent Grenzen setzen Ambivalente Strenge, Ermahnung Ambivalentes Lob, Belohnung Ambivalenter Witz, Humor Ambivalente Zuschreibung Ambivalente Kritik Ambivalente Rücksichtnahme Ambivalente Hilfe Andere

Stichprobe und Datenmaterial der vorliegenden Untersuchung

Informationen zum Datensatz Ein Großteil des Datenmaterials wurde an Schulen aller Jahrgangsstufen in Deutschland generiert.18 Es gibt aber zusätzliche Beobachtungsprotokolle aus 18

Dazu zählen Grundschulen und Schulen, die die Sekundarstufe I und / oder II umfassen. Der hier verwendete Datensatz enthält keine Beobachtungen aus Berufs- und Förderschulen.

6.2 Stichprobe und Datenmaterial der vorliegenden Untersuchung

107

Kindertageseinrichtungen und weiteren außerschulischen pädagogischen Arbeitsfeldern sowie dem europäischen Ausland, die für die vorliegende Arbeit jedoch nicht berücksichtigt werden. Zum aktuellen Zeitpunkt liegen für diese Arbeit aus dem „INTAKT“-Datensatz 13.001 codierte Interaktionsszenen vor, die an verschiedenen Schulen und Einrichtungen zusammengetragen wurden. Folgende Protokolle wurden in diesen Teildatensatz nicht aufgenommen: a) Protokolle aus Kindertagesstätten bzw. von ErzieherInnen, da es bei der Studie ausschließlich um das Handeln von Lehrpersonen in der Schule gehen soll, b) Protokolle aus dem Ausland und c) Protokolle von Lehrkräften, die mit weniger als zehn Unterrichtsszenen beobachtet wurden, um eine gewisse Aussagekraft über den einzelnen Lehrenden gewährleisten zu können. Daraus ergibt sich ein Datensatz von 242 Lehrkräften und insgesamt 11.231 Szenen, die an 391 Tagen in 881 Unterrichtsstunden und 337 Lerngruppen19 erhoben wurden, wobei die Lehrpersonen mit mindestens zehn und maximal 394 Interaktionsszenen erfasst wurden. Von den 242 Lehrpersonen sind 202 (83,5 Prozent) weiblich und 40 männlich (16,5 Prozent). Darüber hinaus wurden 184 (76 Prozent) an Grundschulen und 58 (24 Prozent) an weiterführenden Schulen erfasst, wobei acht (3,3 Prozent) an Gesamtschulen, sechs (2,5 Prozent) an nichtgymnasialen Schulen der Sekundarstufe I und 44 (18,2 Prozent) an Gymnasien beobachtet wurden. 47 (19,4 Prozent) der beobachteten LehrerInnen arbeiteten an einer Schule mit einem besonderen Schulprofil, wobei sechs (2,5 Prozent) an einer Waldorfschule, vier (1,7 Prozent) an einer evangelischen, fünf (2,1 Prozent) an einer katholischen, sieben (2,9 Prozent) an einer internationalen und 25 (10,3 Prozent) an einer Montessori-Schule beobachtet wurden. Insgesamt arbeiteten 48 (19,8 Prozent) Lehrpersonen an Privat-, davon 12 (5 Prozent) an weiterführenden und 36 (14,9 Prozent) an Grundschulen, und 194 (80,2 Prozent) an staatlichen Schulen. Weiterhin unterscheiden sich die Schulen, in denen die Lehrkräfte beobachtet wurden, hinsichtlich ihrer Einzugsgebiete, die von den Beobachtenden notiert wurden. Im Datensatz finden sich 81 (33,9 Prozent) LehrerInnen aus Schulen in Einzugsgebieten mit bildungsnahem bzw. hohem, 108 (44,6 Prozent) mit heterogenem und 45 (18,6 Prozent) mit niedrigem sozioökonomischem Status. Bei Schulen von sieben (2,9 Pro19

Verschiedene Lerngruppen können sowohl unterschiedliche Klassen als auch verschiedene Zusammensetzungen einzelner Klassen sein, beispielsweise Unterrichtsstunden zur speziellen Förderung mit einer Kleingruppe oder die Zusammenlegung zweier Klassen im Sportunterricht.

108

6 Methodisches Vorgehen

zent) Lehrkräften ist das Einzugsgebiet unbekannt. Hinsichtlich der Kontinuität ist zu bemerken, dass 102 Lehrkräfte an mehreren Tagen hospitiert wurden, davon 80 mit mindestens zehn Szenen je Tag. 64 LehrerInnen wurden in verschiedenen Lerngruppen beobachtet, davon 33 mit mindestens zehn Szenen pro Lerngruppe. Die Tabelle A - 1 im Anhang gibt einen Überblick über alle Lehrenden, die mit mindestens zehn Szenen beobachtet wurden und macht Angaben zu Geschlecht, Anzahl der Szenen, Unterrichtsstunden und Lerngruppen. Darüber hinaus werden in der genannten Tabelle Informationen zu den Klassenstufen und Fächern, in denen die Lehrperson beobachtet wurde, sowie zu Schulart und Einzugsgebiet der Schule, gegeben. Deskriptive Statistik zu den Variablen Die folgende Tabelle 5 zeigt die deskriptive Statistik der Variablen des Gesamtdatensatzes mit Minimal-, Maximal- und Mittelwert sowie Standardabweichung20. Betrachtet man den Mittelwert der Anerkennungsgrade, wird deutlich, dass neutrales mit 33,4 und leicht anerkennendes Verhalten mit 28,7 Prozent den größten Anteil und sehr verletzendes und ambivalentes Verhalten mit 5,6 und 5,7 Prozent den geringsten Anteil innerhalb der Gesamtstichprobe ausmachen. Sehr anerkennendes Verhalten liegt bei einem Prozentsatz von 11,8. In Hinblick auf die Anerkennungsgrade sind bei den meisten Werten hohe Standardabweichungen festzustellen, sodass bereits deutlich wird, wie unterschiedlich die einzelnen Lehrpersonen agierten. Die geringste Standardabweichung ist mit 6,0 und 8,2 beim ambivalenten bzw. sehr verletzenden Anerkennungsgrad zu verzeichnen. Neutrales Verhalten weist hingegen mit 17,1 die höchste Standardabweichung auf. Zugleich ist die Spannbreite beim neutralen Anerkennungsgrad zwischen dem Maximalwert von 90,5 und dem Minimalwert von 0,0 sehr hoch. Bei den anerkennenden Interaktionsformen dominieren die positive Rückmeldung und die konstruktive Anleitung mit einem Mittelwert von 25,6 bzw. 13,5 Prozent, wohingegen die Variablen anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern und empathisches Vorgehen mit 3,8 bzw. 1,4 Prozent deutlich seltener in der Gesamtstichprobe beobachtet wurden. Wiederum variieren die Werte stark zwischen den einzelnen Lehrpersonen. Dies gilt vor allem für die positive Rückmeldung und die konstruktive Anleitung, bei denen die Standardabweichung 15,4 bzw. 12,7 beträgt. Eine deutlich geringere Standardabweichung von 2,6 bzw. 20

Die Standardabweichung gibt die Variabilität der einzelnen Werte an und kann als „repräsentative“ Abweichung vom Mittelwert der Verteilung interpretiert werden (Bortz & Schuster, 2010, S. 31).

109

6.2 Stichprobe und Datenmaterial der vorliegenden Untersuchung

5,4 findet sich bei den Variablen empathisches Vorgehen und anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern. Die verletzenden Interaktionsformen werden vor allem von destruktiven Rückmeldungen mit 11 Prozent geprägt, die mit 12,5 zugleich die höchste Standardabweichung aufweist. Die vier anderen verletzenden Interaktionsformen liegen mit Mittelwerten von unter 6 Prozent und geringeren Standardabweichungen deutlich dahinter. Die Werte der ambivalenten Interaktionsformen zeigen deutlich geringere Durchschnittswerte der Gesamtstichprobe von maximal 2 Prozent (ambivalente Konsequenz) als die vorangegangenen Interaktionsformen und variieren mit einer maximalen Standardabweichung von 3,6 (ebenfalls ambivalente Konsequenz) außerdem deutlich weniger. Zusammenfassend ist festzustellen, dass in der Gesamtstichprobe mit 73,9 Prozent durchschnittlich deutlich mehr neutrales und anerkennendes Verhalten beobachtet wurde. Dennoch sind mit 26,1 Prozent mehr als ein Viertel der Interaktionen als verletzend oder ambivalent codiert worden. Darüber hinaus beziehen sich sowohl die anerkennenden als auch die verletzenden Interaktionen am häufigsten auf Rückmeldungen an die Lernenden. Tabelle 5:

Deskriptive Statistik aller Variablen (Prozentangaben).

Minimum

Maximum Mittelwert Standardabweichung

Grad der Anerkennung Sehr anerkennend

0,0

60,0

11,8

11,2

Leicht anerkennend

0,0

78,6

28,7

15,9

Neutral

0,0

90,5

33,4

17,1

Leicht verletzend

0,0

56,3

14,8

12,8

Sehr verletzend

0,0

41,2

5,6

8,2

Ambivalent

0,0

31,6

5,7

6,0

52,4

8,6

10,2

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

110

6 Methodisches Vorgehen

Minimum

Maximum Mittelwert Standardabweichung

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

45,8

3,8

5,4

Empathisches Vorgehen

0,0

16,7

1,4

2,6

Konstruktive Anleitung

0,0

82,5

13,5

12,7

Positive Rückmeldung

0,0

92,3

25,6

15,4

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

25,8

2,8

4,4

Destruktive Konsequenz/Strafe

0,0

40,0

5,2

7,7

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

36,8

2,1

5,4

Passives Verhalten

0,0

26,8

3,7

5,3

Destruktive Rückmeldung

0,0

72,7

11,0

12,5

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

23,5

2,0

3,6

Ambivalente Rückmeldung

0,0

18,2

1,8

3,1

Ambivalente Hilfe / Rücksichtnahme

0,0

14,3

0,8

2,1

6.3 Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse

6.3 6.3.1

111

Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse Die Hierarchische Clusteranalyse

Um Handlungsmuster einzelner Lehrpersonen auf Grundlage ihrer LehrerInnenSchülerInnen-Interaktionen ermitteln zu können, wurde das Verfahren der hierarchischen Clusteranalyse gewählt. Unter einer Clusteranalyse versteht man ein heuristisches Verfahren, das zur systematischen Klassifizierung von Objekten geeignet ist (Bortz & Schuster, 2010, S. 453). Die angegebenen Variablen der Objekte werden je nach Ähnlichkeitsdefinition miteinander verglichen und in Cluster eingeteilt, die „intern möglichst homogen und extern möglichst heterogen voneinander separierbar sein sollen.“ (ebd.). Die Definition der Ähnlichkeit sowie die Wahl der Clustermethode sind dabei von zentraler Bedeutung. Man unterscheidet zwischen hierarchischen und nicht-hierarchischen bzw. partitionierenden Verfahren. Erstgenannte beginnen mit der feinsten Objektaufteilung, wobei jeder Lehrer bzw. jede Lehrerin ein eigenes Cluster bildet, und verbinden danach schrittweise je zwei Cluster miteinander bis sich schließlich alle Lehrpersonen in einem einzigen Cluster befinden (ebd., S. 459). Das partitionierende Verfahren beginnt hingegen bereits mit einer vorgegebenen Startpartition und gibt somit die Zugehörigkeit der Objekte vor. Im Anschluss wird versucht, die Startgruppierung durch schrittweises Verschieben von Objekten zu verbessern. Da damit enorme Rechenzeiten verbunden sind, muss der Verbesserungsprozess eingeschränkt werden, was bedeuten kann, dass die beste Lösung nicht erreicht wird (ebd., S. 461). Darüber hinaus wirkt sich die subjektiv festgelegte Startgruppierung auf das Verfahren aus (Backhaus et al., 2006, S. 514). In dieser Arbeit fällt die Wahl daher auf die hierarchische Clusteranalyse. Obwohl die Methoden und Möglichkeiten der Clusteranalyse im Verlaufe der Jahrzehnte seit dem Beginn im Jahr 1939 stetig verbessert wurden, gibt es bislang keine Clustermethode, die es erlaubt, die beste Clusterverteilung der Objekte herauszufinden (Bortz & Schuster, 2010, S. 453; Brosius, 2013, S. 719). 6.3.2

Vorbereitung der Daten und Auswahl der Variablen

Der Variablenauswahl kommt bei der Clusteranalyse eine zentrale Rolle zu, da die ausgewählten Variablen über die später generierten Cluster entscheiden (Bortz & Schuster, 2010, S. 454). Die Daten wurden für die Dissertation so aufbereitet, dass sie dichotom codiert wurden, um eine Clusteranalyse zu ermöglichen. Daher wird

112

6 Methodisches Vorgehen

bei den Anerkennungsgraden nicht mehr mit den originalen Codierungen von -2 bis +2 gearbeitet. Stattdessen werden alle sechs möglichen Anerkennungsgrade jeweils als einzelne Variable erfasst. Da mithilfe der Clusteranalyse das Handeln der einzelnen Lehrpersonen untersucht werden soll, gehen die verhaltensbeschreibenden Variablen des „INTAKT“-Netzwerkes in die Analyse ein. Dabei handelt es sich um die Anerkennungsgrade und die Interaktionsformen (vgl. Tabelle 4), womit insgesamt 54 Variablen umfasst wären, wie die dargestellte Rechnung in Abbildung 7 zeigt.

6 Anerkennungsgrade + 19 anerkennende Interaktionsformen + 19 verletzende Interaktionsformen + 10 ambivalente Interaktionsformen = 54 Variablen Abbildung 7: Addition der Anerkennungsgrade und Interaktionsformen des „INTAKT“-Datensatzes.

Die hohe Anzahl an Subcodes ermöglicht dem „INTAKT“-Team eine besonders präzise Erfassung des LehrerInnenhandelns bei der qualitativen Inhaltsanalyse. Für eine Clusteranalyse ist diese hohe Anzahl in der Kombination mit einer Objektanzahl von 242 Lehrenden jedoch hinderlich, da somit schwerlich homogene Cluster erzeugt werden könnten. Darüber hinaus führt die hohe Variablenanzahl dazu, dass viele Variablen bei den einzelnen Lehrpersonen nicht beobachtet wurden und somit mit „0“ codiert werden. In der Clusteranalyse würde jedoch jede parallele „0“-Codierung zweier Lehrkräfte als Übereinstimmung gezählt werden, womit die nicht beobachteten Interaktionsformen eine unverhältnismäßig hohe Bedeutung innerhalb der Analyse erhalten würden. Um die hohe Anzahl an Variablen sowie die „0“-Codierungen zu reduzieren, wurden die Variablen der Interaktionsformen in Tabelle 6 zusammengefasst, wobei in der ersten Spalte die Interaktionsformen des „INTAKT“-Teams und in der zweiten Spalte die reduzierte Anerkennungsform zu sehen ist. Die letzte Spalte gibt die Anzahl der damit beschriebenen Interaktionsszenen an.

113

6.3 Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse

Tabelle 6:

Übersicht über reduzierten Variablen.

Interaktionsformen des „INTAKT“-Teams

Reduzierte Formen für Anzahl der codie Clusteranalyse dierten Szenen

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Strafe Ambivalent Grenzen setzen

489 Ambivalente Konsequenz

206

Ambivalente Rückmeldung

205

Ambivalente Hilfe / Rücksichtnahme

78

Entfernt

-

Ambivalente Strenge, Ermahnung Ambivalentes Lob, Belohnung Ambivalenter Witz, Humor Ambivalente Zuschreibung Ambivalente Kritik Ambivalente Rücksichtnahme Ambivalente Hilfe Andere

Folglich ergibt sich eine Summe von 19 Variablen aus 13 Interaktionsformen und sechs Anerkennungsgraden. Die einzelnen codierten Szenen wurden in SPSS so umstrukturiert, dass das Verhalten der einzelnen Lehrperson als „Fall“ je in einer Zeile dargestellt wurde. Um dabei die variierende Anzahl von beobachteten Szenen (maximal: 394, minimal: 10) nicht in die Analyse eingehen zu lassen und eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden die gezeigten Verhaltensweisen anhand der Szenenanzahl relativiert und in Prozentwerte umgewandelt. Bei der Betrachtung der Häufigkeit der jeweils codierten Szenen wird deutlich, dass es mit 5848 deutlich mehr Szenen gibt, die mit anerkennenden als mit verletzenden (2864 Szenen) oder ambivalenten Interaktionsformen (489 Szenen) codiert wurden. Vor allem die Variablen positive Rückmeldung mit 2791 und konstruktive Anleitung mit 1569 codierten Szenen kommen besonders häufig vor, wohingegen empathisches Vorgehen mit 147 codierten Szenen verhältnismäßig selten codiert wurde. Die Variable destruktive Rückmeldung wurde im Bereich der verletzenden Interaktionsformen mit 1368 codierten Szenen am häufigsten co-

114

6 Methodisches Vorgehen

diert. Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern21 bildet das Schlusslicht mit 212 codierten Szenen. Die insgesamt 489 Szenen, die mit einer ambivalenten Interaktionsform codiert wurden, verteilen sich vor allem auf die beiden Variablen ambivalente Konsequenz und ambivalente Rückmeldung. Die Variable ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme kommt mit 78 codierten Szenen im Vergleich seltener vor. 6.3.3

Wahl des Ähnlichkeitsmaßes, der Clustermethode und der Standardisierung

Da es sich bei den vorbereiteten Daten um Prozentwerte handelt, wird ein Ähnlichkeitsmaß genutzt, das intervallskalierte Daten unterstützt. Bei intervallskalierten Daten wird üblicherweise das euklidische Distanzmaß genutzt (Bortz & Schuster, 2010, S. 456; Brosius, 2013, S. 697), wobei die Quadratwurzel von der Summe der quadrierten Differenzen gezogen wird. Im Gegensatz zum verwandten BlockDistanz-Verfahren, bei dem die Summe der quadrierten Differenzen gebildet wird und sich somit die absolute Differenz ergibt, berücksichtigt die quadrierte euklidische Distanz große Differenzen zwischen den Merkmalen stärker als kleine (Bortz & Schuster, 2010, S. 456; Brosius, 2013, S. 697), was im Sinne der angestrebten externen Heterogenität der Cluster ist. Die Gleichbehandlung aller Unterschiede käme vor allem einem Datensatz mit Ausreißern zugute (Bortz & Schuster, 2010, S. 458). Da der vorliegende Datensatz jedoch zunächst von Ausreißern bereinigt wird, wie es im folgenden Abschnitt dargestellt wird, fällt die Wahl auf die quadrierte euklidische Distanz. Als Clustermethode wurde das Ward-Verfahren gewählt, das auch als Minimum-Varianz- oder Fehlerquadratsummenmethode bekannt ist (ebd., S. 462). Hierbei werden Cluster so fusioniert, dass die Erhöhung der Fehlerquadratsumme möglichst gering ausfällt. Ausgegangen wird dabei von den Variablenmittelwerten. In der 1981 veröffentlichten Dissertation von Siegfried Bergs hebt sich das Ward-Verfahren als hervorragender Fusionierungsalgorithmus hervor, der sehr gute Partitionen findet und Objekte den richtigen Clustern zuordnet (Bergs, 1981, S. 96f.). Voraussetzung ist jedoch, dass Ausreißer zuvor aus dem Datensatz entfernt werden. Dies erfolgt durch die Anwendung des Single-Linkage-Verfahrens, das Cluster mit dem am nächsten liegenden Objekt fusioniert und als kontrahierendes Verfahren dazu geeignet ist, Ausreißer ausfindig zu machen (Bortz & 21

Aufgrund der langen Bezeichnung der Variable wird diese im Folgenden auch durch Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… abgekürzt.

115

6.3 Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse

Schuster, 2010, S. 460; Backhaus et al., 2006, S. 527). Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Arbeit der Fusionierung mit dem Ward-Verfahren ein SingleLinkage-Verfahren vorangestellt. Die Ergebnisse dieses Verfahrens sind im Folgenden in Tabelle 7 dargestellt. In der zweiten Spalte sieht man unter Cluster 2 die durch das Verfahren als am ähnlichsten betrachtete Lehrperson, die in diesem Schritt mit Cluster 1 fusioniert. In der dritten Spalte wird der Koeffizient verzeichnet, der die Distanzwerte innerhalb des neu gebildeten Clusters angibt und somit die interne Heterogenität beschreibt. Die Höhe des Anstiegs wird in der letzten Spalte deutlich. Tabelle 7:

Zuordnungsübersicht der hierarchischen Clusteranalyse der 242 Objekte unter Nutzung des Distanzmaßes der quadrierten euklidischen Distanz und des Single-Linkage-Verfahrens als Clusteralgorithmus zur Ausreißerermittlung.

Zuordnungsübersicht Schritt

Zusammengeführte Cluster Cluster 1

Koeffizient

Cluster 2

Anstieg des Koeffizienten

234

1

175

24,659

0,065

235

1

118

28,240

3,581

236

1

220

35,608

7,368

237

1

57

37,492

1,884

238

1

171

39,773

2,281

239

1

29

57,945

18,172

240

1

102

80,303

22,358

241

1

88

83,059

2,756

Wie in der Tabelle 7 ersichtlich ist, steigt der Koeffizient im Vergleich zu den vorangegangenen Schritten, ab Schritt 239 stark an und beschreibt somit zunehmend unähnliche Cluster (Brosius, 2013, S. 726). Als Ergebnis werden die Objekte 29, 88 und 102 als Ausreißer identifiziert und aus der Objektmenge entfernt (Schäfer, 2009, S. 11ff.).

116

6 Methodisches Vorgehen

Nach Entfernung der Ausreißer sind die Voraussetzungen für die Clusteranalyse mittels des Ward-Verfahrens gegeben. Vor Ausführung dieses Schrittes wurde eine z-Standardisierung vorgenommen. Dabei wird von jedem Wert der Variablenmittelwert subtrahiert und durch die jeweilige Standardabweichung dividiert. Somit ist es möglich, die verschiedenen Variablen mit ihren unterschiedlichen Mittelwerten und Standardabweichungen vergleichbar zu machen. Nach der z-Transformation weist der Mittelwert den Betrag 0 und die Standardabweichung den Betrag 1 auf (Brosius, 2013, S. 708). 6.3.4

Entscheidung für die „richtige“ Lösung

Als Ergebnis der Überlegungen wird eine hierarchische Clusteranalyse mit 239 Lehrenden (ohne die drei Ausreißer) mithilfe der quadrierten euklidischen Distanz und des Ward-Algorithmus durchgeführt, nachdem die Werte z-transformiert wurden. Eine Möglichkeit, die endgültige Lösung der Clusteranalyse zu bestimmen, ist das Elbow-Kriterium. Hierbei wird der Anstieg der Fehlerquadratsumme, als Indikator für die wachsende Heterogenität innerhalb der Cluster, als Ausgangspunkt genommen. Ein starker Anstieg im Vergleich zu den vorangegangenen Fusionierungsstufen ist hierbei das Anzeichen für die Beendigung der Fusionierungen (vgl. Tabelle 8). Tabelle 8:

Verlauf der Fehlerquadratsumme (FQS) mit zunehmender Fusionierung der letzten 15 Cluster.

Clusteranzahl

FQS

Anstieg der FQS

15

2294,602

57,037

14

2352,881

58,279

13

2415,620

62,738

12

2478,652

63,032

11

2545,104

66,452

10

2619,067

73,963

9

2696,139

77,072

8

2801,503

105,364

117

6.3 Auswertungsmethode: Hierarchische Clusteranalyse

Clusteranzahl

FQS

Anstieg der FQS

7

2913,215

111,711

6

3046,826

133,611

5

3186,917

140,091

4

3385,790

198,873

3

3587,968

202,178

2

3895,145

307,177

1

4522,000

626,855

Stellt man diese Anstiege grafisch in einem Struktogramm dar, entstehen bei stärkeren Anstiegen sogenannte „Ellbogen“. Dies ist im folgenden Diagramm bei der Clusteranzahl neun, sieben, fünf und drei der Fall (vgl. Abbildung 8).

Abbildung 8: Lösungen nach dem Elbow-Kriterium.

118

6 Methodisches Vorgehen

Eine weitere Möglichkeit stellt die Überprüfung des Dendrogramms dar (vgl. Abbildung A - 1 im Anhang). Wiederum wird der Anstieg der Fehlerquadratsumme nach Fusionierung zweier Cluster angezeigt. Zu bemerken ist, dass nicht die absoluten, sondern die relativen Distanzwerte angezeigt werden (Brosius, 2013, S. 730). Es fällt auf, dass der Anstieg der Fehlerquadratsumme bis zur ersten Hilfslinie 5 moderat verläuft und dann stetig in immer größeren Schritten ansteigt. Legt man diese Lösung zugrunde, ergeben sich sieben Cluster. Bei der Erstellung der Lösungen mit den verschiedenen Clusteranzahlen fallen Unterschiede bezüglich der internen Homogenität der Gruppen und der Interpretierbarkeit auf. Da eine Lösung mit nur drei Clustern die 19 Variablen nur sehr grob strukturieren kann, würde sich eine Kategorisierung ergeben, die nur den Grad der Anerkennung, nicht aber die Interaktionsformen berücksichtigt. Somit wird diese Möglichkeit verworfen. Es bleiben die Lösungen mit neun, sieben und fünf Clustern. Während die Lösung mit der Clusteranzahl neun zu kleinen, teilweise intern sehr heterogenen Clustern führt, die zum Teil nur drei Lehrpersonen beinhalten, bilden die verbleibenden beiden Lösungen intern homogenere Gruppen. Da eine möglichst ausdifferenzierte und dabei gut zu interpretierende Lösung angestrebt wird, wird die Lösung mit den sieben Clustern als finale Lösung ausgewählt. Sie vereint homogene Gruppen mit der besten Interpretierbarkeit, was nicht nur den Anerkennungsgrad, sondern auch die Interaktionsformen betrifft. Darüber hinaus wird diese Lösung sowohl nach dem Elbowkriterium, als auch nach dem Dendrogramm als mögliche Lösung angezeigt, was für keine der anderen Möglichkeiten gilt.

7

7.1

Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Die Cluster im Überblick

Aufgrund der im vorangegangenen Kapitel 6.3.4 beschriebenen Ergebnisse wurde eine Lösung von sieben Clustern gewählt: die Verletzenden (Cluster 1), die sehr Verletzenden (Cluster 2), die Netten (Cluster 3), die Anerkennenden (Cluster 4), die fordernd Anerkennenden (Cluster 5), die Ambivalenten (Cluster 6) und die Laissez-faire-Lehrerinnen (Cluster 7) (vgl. Tabelle 8). Um diese Cluster beschreiben und miteinander vergleichen zu können, wurde jeweils ein Profil errechnet, das aus den Mittelwerten aller im Cluster befindlichen Lehrkräfte besteht und zur besseren Anschaulichkeit nicht z-standardisiert wurde. Eine tabellarische Übersicht findet sich in der untenstehenden Tabelle 9. Die Bezeichnungen der einzelnen Cluster erfolgte aufgrund der für das Cluster charakteristischen Verteilung der Mittelwerte, die – ebenso wie die Variation der Variablen innerhalb der Cluster sowie eine Beschreibung der jeweils beinhaltenden Lehrpersonen – in den folgenden Kapiteln 7.3.2 bis 7.3.8 ausführlicher behandelt wird. Die letzte Spalte von Tabelle 9 stellt den Mittelwert aller 239 Lehrpersonen dar.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/ 978-3-658-31256-5_7) enthalten. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Wysujack, Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5_7

120 Tabelle 9:

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Clusterübersicht mit Mittelwerten der Prozentangaben von Anerkennungsgrad und Interaktions-formen.

4

5

6

7

Mittelwert

45

11

239

9,4 11,1

16,2 25,3

15,9

6,4

11,8

15,4

13,3 30,3

53,6 40,7

27,6

26,8

28,7

Neutral

42,7

18,5 42,2

24,1 22,8

28,2

31,1

33,4

Leicht verletzend

24,2

29,5 10,8

4,4 10,2

11,0

26,6

14,8

Die Netten

11

Die sehr Verletzenden

26

Die Verletzenden

Der Laissez-faireLehrerinnen

3

Die Ambivalenten

2

Die fordernd Anerkennenden

1

Die Anerkennenden

Clusternummer

30

29

87

3,1

Leicht anerkennend

Bezeichnung

Anzahl der Lehrkräfte Grad der Anerkennung Sehr anerkennend

Sehr verletzend

7,4

21,7

2,4

0,4

0,6

4,1

6,0

5,6

Ambivalent

7,2

7,7

3,1

1,2

0,4

13,1

3,1

5,7

12,0

9,7

12,5

10,4

8,6

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

1,9

3,4

9,3

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,9

3,1

4,4

2,1 17,3

3,4

1,6

3,8

Empathisches Vorgehen

0,3

0,5

1,0

1,6

8,9

1,4

2,7

1,4

Konstruktive Anleitung

5,7

5,2 14,0

26,5 29,3

12,0

11,9

13,5

121

6

7

30

29

87

12,7

16,9 24,9

Mittelwert

Der Laissez-faireLehrerinnen

5

Die Ambivalenten

4

Die fordernd Anerkennenden

Positive Rückmeldung

3

Die Anerkennenden

Anzahl der Lehrkräfte

2

Die Netten

Bezeichnung

1

Die sehr Verletzenden

Clusternummer

Die Verletzenden

7.1 Die Cluster im Überblick

26

11

45

11

239

43,3 43,7

28,1

17,8

25,6

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

3,5

7,3

1,6

0,7

2,1

3,2

3,6

2,8

11,7

12,9

2,8

0,9

5,9

3,4

2,1

5,2

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern

1,1

3,2

0,7

0,4

1,7

1,0

21,5

2,1

Passives Verhalten

5,7

9,6

2,4

0,5

0,2

1,9

11,0

3,7

16,7

32,1

7,9

2,9

6,3

7,0

5,9

11,0

Destruktive Konsequenz/Strafe

Destruktive Rückmeldung

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

2,5

2,0

1,0

0,0

0,4

5,6

0,6

2,0

Ambivalente Rückmeldung

1,8

3,0

0,8

0,6

0,0

4,5

0,6

1,8

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,8

0,3

0,2

0,4

0,0

2,8

1,0

0,8

122

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Zum Zwecke der Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit sollen darüber hinaus folgende Diagramme herangezogen werden. Die Abbildung 9 zeigt die verschiedenen Ausprägungen der einzelnen Clusterprofile in Bezug auf den Anerkennungsgrad, während die Abbildung 10 bis Abbildung 12 die unterschiedlichen Ausprägungen für jede einzelne Interaktionsform darstellen. Es handelt sich dabei um z-standardisierte Werte, sodass erkennbar ist, inwieweit die Mittelwerte der einzelnen Cluster vom Mittelwert der Stichprobe positiv oder negativ abweichen. Der Mittelwert der Gesamtstichprobe beträgt stets 0 und die Standardabweichung 1. Die Abbildungen sollen einen ersten Überblick ermöglichen. Eine detaillierte Auswertung der einzelnen Cluster folgt anschließend in Kapitel 7.3.

Abbildung 9: Die Ausprägung der Anerkennungsgrade bei den einzelnen Clustern.

In der Abbildung 9 wird die unterschiedliche Verteilung der einzelnen Cluster in Hinblick auf die Anerkennungsgrade deutlich. Auf den ersten Blick fallen Cluster 2 (die sehr Verletzenden), mit einem vergleichsweise sehr hohen Anteil an verletzendem verbunden mit vergleichsweise wenig anerkennendem Verhalten, und Cluster 4 (die Anerkennenden), mit einem sehr hohen Anteil leicht anerkennenden verknüpft mit dem niedrigsten Anteil leicht verletzenden Verhaltens, auf. Darüber hinaus wird deutlich, dass Cluster 6 (die Ambivalenten) den höchsten Anteil am-

7.1 Die Cluster im Überblick

123

bivalenten Verhaltens aufweist. Das erste Cluster (die Verletzenden) zeigt mit überdurchschnittlich viel verletzendem und unterdurchschnittlich viel anerkennendem Verhalten ähnliche Tendenzen wie das zweite Cluster (die sehr Verletzenden), wenngleich sehr verletzendes Verhalten beim zweiten Cluster stärker ausgeprägt ist. Die Werte des dritten und siebten Clusters – die Netten und die Laissez-faire-Lehrerinnen – liegen hingegen relativ nah an den Durchschnittswerten, wobei Letzteres im Bereich des leicht verletzenden Verhaltens überdurchschnittliche Werte aufweist.

Abbildung 10: Die Ausprägung der anerkennenden Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern.

Betrachtet man die Clusterverläufe hinsichtlich der anerkennenden Interaktionsformen in Abbildung 10, fällt sogleich Cluster 5 (die fordernd Anerkennenden) auf, das einen überproportional hohen Anteil an anerkennenden Interaktionsformen aufweist. Vor allem die Werte der Variablen anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern und empathisches Vorgehen liegen um mehr als das Doppelte höher als die Standardabweichung der Gesamtstichprobe. Cluster 1 und 2 – die Verletzenden und die sehr Verletzenden – zeigen hingegen verhältnismäßig wenig anerkennende Interaktionsformen. Während die Werte der Cluster 3 und 6 – die Netten und die Ambivalenten – sich nahe dem Mittelwert bewegen, sind die Werte von Cluster 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen) im Bereich des em-

124

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

pathischen Vorgehens über- und bei der Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern und positive Rückmeldung unterdurchschnittlich ausgeprägt.

Abbildung 11: Die Ausprägung der verletzenden Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern.

In Hinblick auf die verletzenden Interaktionsformen, die in Abbildung 11 dargestellt sind, ist Clusters 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen) sehr präsent, da es bei der Variablen anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern um 3,5 vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht und sich somit deutlich von den anderen Clustern abhebt. Das zweite Cluster (die sehr Verletzenden) fällt bei allen verletzenden Interaktionsformen durch relativ hohe Werte auf. Ähnlich verhält es sich wiederum mit dem ersten Cluster (die Verletzenden), obgleich der Wert der Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern in diesem Cluster unterhalb des Durchschnitts liegt. Die Werte der Cluster 3 und 4 – die Netten und die Anerkennenden – bewegen sich hingegen durchgehend im unterdurchschnittlichen Be-

7.1 Die Cluster im Überblick

125

reich. Nahe dem Mittelwert sind die Werte der übrigen Cluster 5, 6 und 7, also die fordernd Anerkennenden, die Ambivalenten und die Laissez-faire-Lehrerinnen.

Abbildung 12: Die Ausprägung der ambivalenten Interaktionsformen bei den einzelnen Clustern.

Abbildung 12 zeigt die Profile der einzelnen Cluster in Hinblick auf die ambivalenten Interaktionsformen, wobei Cluster 6 (die Ambivalenten) bei allen Variablen die höchsten Werte aufweist und dabei jeweils um etwa eine Standardabweichung vom Mittelwert abweicht. Bei Cluster 5 (die fordernd Anerkennenden) wurden hingegen insgesamt am wenigsten ambivalente Interaktionsformen beobachtet. Deutlich unterdurchschnittliche Werte sind auch bei den Clustern 3, 4 und 7 – die Netten, die Anerkennenden und die Laissez-faire-Lehrerinnen – zu sehen, wenngleich das siebte Cluster im Bereich der ambivalenten Hilfe/Rücksichtnahme leicht überdurchschnittliche Werte aufweist. Die Werte von Cluster 1 (die Verletzenden) liegen hingegen sehr nahe am Mittelwert. Cluster 2 (die sehr Verletzenden) weist sowohl überdurchschnittliche Werte im Bereich der ambivalenten Rückmeldung als auch unterdurchschnittliche Werte im Bereich der ambivalenten Hilfe/Rücksichtnahme auf. Des Weiteren soll die Kontinuität der Lehrkräfte der jeweiligen Cluster analysiert werden. Aus diesem Grund wurden alle Lehrpersonen, die mit mehr als je

126

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

zehn Szenen an mindestens zwei Tagen (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang) oder in mindestens zwei Lerngruppen (vgl. Tabelle A - 3 im Anhang) hospitiert wurden, erfasst. Dabei sind die Lehrkräfte nach Clusterzugehörigkeit geordnet und jeweils mit ihren durchschnittlichen Interaktionswerten pro Tag oder Lerngruppe angegeben.

7.2

Evaluation der Clusteranalyse

Diskriminanzanalyse Mithilfe einer Diskriminanzanalyse soll die Güte der Clusterlösung evaluiert werden. Im Unterschied zur Clusteranalyse handelt es sich bei der Diskriminanzanalyse um ein konfirmatorisches Verfahren, das keine neuen Cluster erstellt, sondern diese ausschließlich untersucht (Bortz & Schuster, 2010, S. 498). Sie ermittelt anhand der vorgegebenen Clusterlösungen und der dazugehörigen Lehrkräfte Diskriminanzfunktionen,22 die die Cluster voneinander trennen. Analyse der Gruppenmittelwerte Die Diskriminanzanalyse kann untersuchen, ob die Merkmale, nach denen die Cluster gebildet wurden, signifikante Unterschiede zwischen den Clustern aufweisen. Der Signifikanztest für die Gruppenmittelwerte der einzelnen Cluster gibt dabei mithilfe des Wilks-Lamba-Werts23 an, welche Variablen einen besonderen Erklärungsgehalt für die jeweiligen Cluster bieten (Brosius, 2013, S. 667) bzw. bei welchen Variablen sich die Cluster signifikant unterscheiden (Backhaus et al., 2006, S. 185).

22

23

Die Koeffizienten der Diskriminanzfunktionen werden so gewählt, dass der Quotient der folgenden Gleichung maximal wird und so die Scores (Funktionswerte der Diskriminanzfunktion) der den unterschiedlichen Clustern angehörigen Lehrkräfte möglichst weit auseinanderliegen: Quadratsumme der Funktionswerte zwischen den Gruppen / Quadratsumme der Funktionswerte innerhalb der Gruppen (Brosius, 2013, S. 651). Wilks‘ Lambda ist der Quotient aus der Quadratsumme innerhalb der Gruppen und der gesamten Quadratsumme. Je näher der Wert bei 1 liegt, desto weniger lassen sich die Cluster anhand dieser Variable zuverlässig trennen. Niedrige Werte deuten hingegen darauf hin, dass die Variable über eine hohe Trennkraft verfügt (Brosius, 2013, S. 672).

127

7.2 Evaluation der Clusteranalyse

Tabelle 10: Gleichheitstest der Gruppenmittelwerte: Test auf signifikante Mittelwertunterschiede.

WilksLambda Anerkennungsgrade

WilksLambda Verletzende Interaktionsformen

Sehr anerkennend

,795

Destruktive Hilfeanleitung

,809

Leicht anerkennend

,497

Destruktive Konsequenz/Strafe

,700

Neutral

,704

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

,352

Leicht verletzend

,600

Passives Verhalten

,643

Sehr verletzend

,406

Destruktive Rückmeldung

,521

Ambivalent

,515

Anerkennende Interaktionsformen

Ambivalente Interaktionsformen

Konstruktive Konsequenz

,870

Ambivalente Konsequenz

,733

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

,649

Ambivalente Rückmeldung

,768

Empathisches Vorgehen

,555

Ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme

,769

Konstruktive Anleitung

,708

Positive Rückmeldung

,648

128

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Bei der Analyse der Tabelle 10 wird deutlich, wie unterschiedlich hoch die Trennkraft der Variablen ist. Über eine sehr hohe Trennkraft verfügen die Variablen leicht anerkennend mit 0,497, sehr verletzend mit 0,406 und anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… mit einem Wert von 0,352. Höhere Werte weisen die Variablen konstruktive Konsequenz mit 0,870 und destruktive Hilfeanleitung mit 0,809 auf. Die beiden Variablen sind für die Trennung der Cluster folglich weniger aussagekräftig. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die meisten Variablen einen hohen Erklärungsgehalt für die Cluster haben und mit einer hohen Trennkraft einhergehen, was ein zufriedenstellendes Ergebnis darstellt. Bei einer nächsten Clusteranalyse könnte jedoch erwogen werden, die wenigen Variablen mit einem Wert über 0,8 zu modifizieren, da diese Variablen eine niedrige Trennkraft haben und so ein höherer Erklärungsgehalt erhalten werden könnte. Die beiden betroffenen Variablen könnten dann beispielsweise mit ihren ursprünglichen „INTAKT“-Variablen in die Analyse eingehen. Klassifizierungsergebnisse und Zuordnungsrate Mithilfe der Klassifikation einer Diskriminanzanalyse soll untersucht werden, wie gut die Lehrpersonen in das jeweilige Cluster passen, dem sie zugeordnet sind (Bortz & Schuster, 2010, S. 498). Zu diesem Zweck wird das individuelle Merkmalsprofil einer Lehrkraft mit den Mittelwerten eines Clusters verglichen. Die Übereinstimmung der Zuordnung der Diskriminanzanalyse mit den Ergebnissen der Clusteranalyse kann so als Indikator für die Güte der Clusterlösung fungieren (ebd., S. 469).

129

7.2 Evaluation der Clusteranalyse

Tabelle 11: Klassifizierungsergebnisse: Zuordnungsergebnisse und tatsächliche Zugehörigkeiten der Cluster.

Klassifizierungsergebnisse

Original

Anzahl %

Vorhergesagte Gruppenzugehörigkeit 1

2

3

4

5

6

Gesamt

Clusterzugehörigkeit

7

1

30

0

0

0

0

0

0

30

2

2

26

1

0

0

0

0

29

3

4

2

76

5

0

0

0

87

4

0

0

1

25

0

0

0

26

5

0

0

0

0

11

0

0

11

6

0

0

2

1

0

42

0

45

7

0

0

0

0

0

0

11

11

1

100,0

,0

,0

,0

,0

,0

,0

100,0

2

6,9

89,7

3,4

,0

,0

,0

,0

100,0

3

4,6

2,3

87,4

5,7

,0

,0

,0

100,0

4

,0

,0

3,8

96,2

,0

,0

,0

100,0

5

,0

,0

,0

,0

100,0

,0

,0

100,0

6

,0

,0

4,4

2,2

,0

93,3

,0

100,0

7

,0

,0

,0

,0

,0

,0

100,0

100,0

Die obenstehende Tabelle 11 zeigt die Anzahl der Lehrpersonen, die dem jeweiligen Cluster zugeordnet wurden, in der letzten Spalte. Dabei sind zunächst die absoluten und danach die relativen Zahlen dargestellt. Die vorangegangenen Spalten stellen die vorhergesagte Clusterzugehörigkeit durch die Diskriminanzanalyse dar. Wiederum werden diese Werte zunächst in absoluten und anschließend in relativen Zahlen dargestellt. Demnach wurden im ersten Cluster (die Verletzenden) alle Lehrkräfte richtig zugeordnet. Die Übereinstimmung liegt demnach bei 100 Prozent. Das zweite Cluster (die sehr Verletzenden) weist mit 89,7 Prozent richtiger Zuordnungsrate

130

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

den zweitniedrigsten Prozentsatz aller sieben Cluster auf, wenngleich es sich immer noch um einen hohen Wert handelt. Zwei Lehrkräfte – Lehrer 206 und Lehrerin 122 – wären laut Diskriminanzanalyse besser dem ersten und Lehrerin 130 dem dritten Cluster zuzuordnen gewesen.24 Cluster 3 (die Netten), das größte Cluster, weist den geringsten Übereinstimmungsprozentsatz von 87,4 Prozent auf. Laut der Diskriminanzanalyse hätten die vier Lehrerinnen 70, 86 155, und 173 Cluster 1, die Lehrerinnen 7 und 137 Cluster 2 und die Lehrerinnen 92 und 105 sowie die Lehrer 156, 182 und 200 Cluster 4 zugeordnet werden müssen. Von den 26 Lehrkräften des vierten Clusters (die Anerkennenden) würde laut Diskriminanzfunktion Lehrerin 26 besser in Cluster 3 passen. Die errechnete Übereinstimmungsrate ist mit 96,2 Prozent wiederum sehr hoch. Cluster 5 (die fordernd Anerkennenden) und 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen) weisen wie das erste Cluster eine vollständige Übereinstimmung mit der Zuordnungsrate der Diskriminanzfunktion auf. In Cluster 6 (die Ambivalenten) werden drei von 45 Lehrkräften anders zugeordnet. Lehrerin 103 und 191 wurden von der Diskriminanzfunktion dem dritten und Lehrerin 179 dem vierten Cluster zugeordnet. Insgesamt wurden 92,5 Prozent der Lehrpersonen korrekt klassifiziert, was ein sehr gutes Ergebnis darstellt. Die Zuordnungsraten sagen zum einen etwas über die Angaben zur Treffsicherheit der Clusterzuordnungen (Brosius, 2013, S. 664) aus. Diese ist in Cluster 1, 5 und 7 mit 100 Prozent korrekter Zuordnungsrate sehr hoch, aber auch die anderen Cluster erreichen mit einer Zuordnungsrate von jeweils über 85 Prozent einen zufriedenstellenden Wert. Darüber hinaus wird die externe Heterogenität bzw. Homogenität der Cluster deutlich. So sind die Cluster 1, 2, 3 und 4 nicht so trennscharf voneinander abzugrenzen wie die anderen Cluster. Zwischen diesen Clustern kommt es zu anders prognostizierten Clusterzuordnungen durch die Diskriminanzanalyse, obgleich diese immer noch selten sind. Inhaltlich überschneiden sich diese Cluster mehr als andere. Dies wird grafisch durch das Streudiagramm25 der Diskriminanzanalyse verdeutlicht, das in der folgenden Abbildung 13 dargestellt wird. Darin sieht man die verhältnismäßig hohe Distanz der Clustermittelpunkte 5 und 7 voneinander und zu den restlichen Clustern. Die anderen Clustermittelpunkte liegen deutlich näher beieinander, sodass sich die farblich gekennzeichneten Lehrkräfte überschneiden. Die Cluster 2, 6 und 7 beinhalten dar24

25

Auf eine genauere Untersuchung der Lehrkräfte und ihrer Clusterzugehörigkeit wird an dieser Stelle verzichtet, da die Analyse von 18 Lehrkräften mit den Durchschnittwerten der Cluster den Rahmen sprengen würde. Die ersten beiden Diskriminanzfunktionen fungieren als Achsen, sodass auf der Diagrammfläche für jede Lehrkraft ein farblich zum Cluster passender Punkt eingezeichnet wird, dessen Lage von den Diskriminanzfunktionswerten abhängig ist. Die Gruppenmittelpunkte sind als Quadrat verzeichnet (Brosius, 2013, S. 674ff.).

7.2 Evaluation der Clusteranalyse

131

über hinaus auch Lehrpersonen, die sich relativ weit von den jeweiligen Gruppenmittelpunkten entfernen, ohne sich jedoch mit den Lehrenden anderer Cluster zu überschneiden. Inhaltlich liegen also vereinzelte Lehrpersonen dieser Cluster weiter vom Profilmittelpunkt des Clusters entfernt als in den anderen Clustern ohne jedoch durch ein anderes Cluster besser beschreibbar zu sein.

Abbildung 13: Streudiagramm der Cluster mit Mittelwert und Lehrkräften.

Zusammenfassung der Clusterevaluation Insgesamt ergibt die Evaluation der Clusteranalyse durch die Diskriminanzanalyse eine hohe Güte der Clusterlösung, die durch die hohe Trennkraft der meisten Variablen gezeigt wird. Eine genauere Angabe der Variablen, zum Beispiel in Form der ursprünglichen „INTAKT“-Variablen, könnte einzelne Variablen zwar noch treffsicherer machen. Jedoch birgt eine sehr hohe Anzahl von Variablen auch die Gefahr der Unübersichtlichkeit. Darüber hinaus würde eine erwünschte interne

132

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Homogenität der Cluster durch eine höhere Variablenanzahl unnötig erschwert werden. Die Treffsicherheit der Clusterzuordnungen liegt insgesamt bei 92,5 Prozent und weist somit einen sehr guten Wert auf. Durch die inhaltlich nahe beieinanderliegenden Cluster sind jedoch nicht alle Lehrkräfte zweifelsfrei zuzuordnen, wie das Streudiagramm und die Klassifizierungsergebnisse zeigen. Zu vermerken ist dabei, dass es nur in seltenen Fällen möglich ist, eine perfekte Zuordnung zu erreichen (Brosius, 2013, S. 657f.). Wenn alle laut Diskriminanzanalyse falsch zugeordneten Lehrkräfte den laut Diskriminanzanalyse „richtigen“ Cluster zugeordnet werden würden, wäre wiederum keine vollständige Übereinstimmung erreicht, da sich mit den neu zugeordneten Lehrkräften auch die Clusterzentroide verändern würden. Somit würden sich die Zuordnungen der Lehrpersonen verschieben und neue „Falschzuordnungen“ würden entstehen. Daher ist mit einer Treffsicherheit von über 90 Prozent ein sehr gutes Ergebnis erreicht.

7.3 7.3.1

Analyse der einzelnen Cluster Allgemeine Erklärungen

Untersuchung der einzelnen Variablen des Clusters Im Folgenden werden alle sieben Cluster ausführlich vorgestellt. Dazu wird zunächst ein Überblick über die Homogenität der einzelnen Variablen gegeben. Das Ausmaß an Homogenität wird in jedem Cluster durch eine Tabelle verdeutlicht. Sie besteht aus Angaben zum Minimal- bzw. Maximalwert der Lehrkräfte bezüglich aller 19 Variablen, womit die Spannweite der Variablen deutlich wird. Darüber hinaus werden die Standardabweichung26 und der Variationskoeffizient27 angegeben. Insgesamt ist aus diesen drei Werten also zu erkennen, welche Variablen pro Cluster als besonders homogen bzw. heterogen zu verzeichnen sind. Da sich die Angaben aller Variablen auf Prozentwerte beziehen, sind sie miteinander vergleich26

27

Die Standardabweichung gibt die Variabilität der einzelnen Werte an und kann als „repräsentative“ Abweichung vom Mittelwert der Verteilung interpretiert werden (Bortz & Schuster, 2010, S.31). Der Variationskoeffizient ist der Quotient aus der Standardabweichung und dem Mittelwert und wird auch als „relative Standardabweichung“ bezeichnet. Die Standardabweichung wird also am Mittelwert relativiert und berücksichtigt den Fakt, dass Variablen mit einem höheren Wert eine höhere Standardabweichung aufweisen (Gehring & Weins, 2009, S. 138).

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

133

bar. Nach der vergleichenden Betrachtung der Variationskoeffizienten aller Cluster hat sich herausgestellt, dass eine moderate Erhöhung ab einem Wert von 2,0 sowie ein erhöhter Wert ab 3,0 vorliegt. Variablen mit einer mindestens moderaten Erhöhung des Variationskoeffizienten werden im Folgenden besonders betrachtet, vor allem, wenn sie von besonderer Bedeutung für das Cluster sind oder es sich um einen Anerkennungsgrad handelt. Dabei kann festgestellt werden, ob die Heterogenität einer Variable von einzelnen Ausreißern verursacht wird oder ob sich tatsächlich eine konsequente Heterogenität in Bezug auf die Variable über alle Lehrkräfte erstreckt. Dies ist für die Auswertung und Interpretation der Clusterergebnisse von Bedeutung, da so die innere Homogenität des Clusters deutlich wird. Darüber hinaus sollen der T-Wert28 sowie das Signifikanzniveau p der jeweiligen Variable des Clusters untersucht werden, um Aufschluss darüber zu geben, ob die Werte signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweichen. Beide Werte ergeben sich aus einem Einstichproben-t-Test.29 Weist eine Variable dabei ein Signifikanzniveau von p < .05 auf, weicht der Variablenmittelwert signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab. Analyse des Handlungsmusters Im Anschluss daran werden die Merkmale des Handlungsmusters ausführlich erklärt. Dabei wird auf die Besonderheiten im Vergleich zu den Mittelwerten der Gesamtstichprobe und den anderen Clustern eingegangen. Einzelne, für das Cluster besonders prägende Variablen, werden genauer anhand der ursprünglichen „INTAKT“-Variablen nach Tabelle 6 betrachtet. Zur Veranschaulichung des Handlungsmusters wird je eine Beispielszene von einer dem Cluster zugeordneten Lehrkraft dargestellt und kurz interpretiert.

28

29

Der t-Wert lässt sich aus Stichprobenbeobachtungen errechnen und folgt einer t-Verteilung. Somit wird ein Vergleich des t-Werts für die konkrete Stichprobe mit Werten, die nach der t-Verteilung unter bestimmten Annahmen (beispielsweise der Nullhypothese) zu erwarten gewesen wären, Rückschlüsse auf die Gültigkeit der Annahmen zulassen (Brosius, 2013, S. 482). Der t-Test bei einer Stichprobe überprüft, ob der Mittelwert einer Stichprobe signifikant von dem bekannten Erwartungswert der Nullhypothese abweicht (Bortz & Schuster, 2010, S. 118). Es wird also analysiert, ob der Mittelwert des jeweiligen Clusters signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht. Um statistisch signifikante Ergebnisse zu erhalten, wird dafür ein Signifikanzniveau von fünf Prozent festgelegt (Brosius, 2013, S. 493).

134

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Die Beschreibung der Lehrkräfte und Kontinuität des Handelns Des Weiteren werden die im Cluster befindlichen Lehrpersonen beschrieben, wobei auf Schulart, Geschlecht der Lehrkraft und Einzugsgebiet eingegangen wird. Diese Angaben werden anschließend mit den Durchschnittswerten des Datensatzes verglichen. Daraufhin werden die Lehrpersonen, die an mehreren Tagen bzw. in mehreren Lerngruppen erfasst wurden, in Hinblick auf die Kontinuität ihres Handelns untersucht. Gezeigt hat sich clusterübergreifend beim Vergleich der Werte, dass eine Differenz von mindestens zehn Prozent zwischen einer Variablen an verschiedenen Tagen oder in verschiedenen Lerngruppen erreicht sein muss, um eine Variable als diskontinuierlich beschreiben zu können. Differenzen darunter werden aufgrund des flächendeckenden Vorkommens vernachlässigt. Weist eine Lehrkraft mindestens sechs diskontinuierliche Variablen auf, gilt sie als diskontinuierlich. Alle LehrerInnen mit weniger diskontinuierlichen Variablen werden folglich als kontinuierlich beschrieben. Dabei werden je Cluster zwei Lehrkräfte exemplarisch ausgewählt, die möglichst sowohl in verschiedenen Lerngruppen als auch an verschiedenen Tagen erfasst wurden sowie nach Möglichkeit je einmal kontinuierlich und einmal diskontinuierlich eingeordnet sind. Es wird hierbei darauf geachtet, dass die Tage und Lerngruppen der exemplarisch ausgewählten Lehrpersonen nicht konfundiert sind. Zum Schluss erfolgt eine kurze Zusammenfassung der Clusterergebnisse. 7.3.2

Cluster 1: Die Verletzenden

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 1 (Die Verletzenden) Insgesamt 30 Lehrpersonen (12,4 Prozent des Datensatzes, vgl. Tabelle 9) wurden dem ersten Cluster zugeordnet. Die meisten Variablen sind als relativ homogen zu bezeichnen, wie Tabelle 12 zeigt. Betrachtet man die Variationskoeffizienten der einzelnen Variablen, sind alle Werte niedrig oder moderat, liegen also unter einem Wert von 3,0 (vgl. Kapitel 7.3.1). Die höchsten Variationskoeffizienten weisen die Variablen ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme mit 2,5 sowie anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… mit 2,1 auf.

135

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Signifikanzniveau (2-seitig)

T-Wert

Variationskoeffizient

Standardabweichung

Mittelwert

Maximum

Minimum

Tabelle 12: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 1.

Grad der Anerkennung Sehr anerkennend

0,0

13,3

3,1

3,7

1,2

-12,894 0,00

Leicht anerkennend 0,0

30,5

15,4

7,8

0,5

-9,293

0,00

Neutral

9,0

81,8

42,7

14,8

0,3

3,452

0,00

Leicht verletzend

0,0

43,8

24,2

11,0

0,5

4,659

0,00

Sehr verletzend

0,0

30,0

7,4

6,2

0,8

1,595

0,12

Ambivalent

0,0

20,0

7,2

5,3

0,7

1,519

0,14

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

12,0

1,9

3,3

1,8

-11,138 0,00

Anerkennendes 0,0 Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

5,1

0,9

1,4

1,7

-11,124 0,00

Empathisches Vorgehen

0,0

1,7

0,3

0,5

1,7

-12,325 0,00

Konstruktive Anleitung

0,0

16,8

5,7

4,6

0,8

-9,215

0,00

Positive Rückmeldung

0,0

36,4

12,7

7,3

0,6

-9,606

0,00

3,5

3,4

1,0

1,135

0,27

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

9,6

136

Signifikanzniveau (2-seitig)

Variationskoeffizient

11,7

10,8

0,9

3,287

0,00

Anerkennendes 0,0 Verhalten der Lernenden verhindern…

8,0

1,1

2,3

2,1

-2,508

0,02

Passives Verhalten 0,0

20,0

5,7

5,1

0,9

2,149

0,04

Destruktive Rückmeldung

41,0

16,7

11,5

0,7

2,710

0,01

Destruktive Konsequenz/ Strafe

0,0

0,0

T-Wert

Mittelwert

40,0

Minimum

Maximum

Standardabweichung

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

10,0

2,5

3,2

1,3

0,923

0,36

Ambivalente Rückmeldung

0,0

8,3

1,8

2,2

1,2

-0,083

0,94

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

10,0

0,8

1,9

2,5

-0,100

0,92

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die Verletzenden) Das Handlungsmuster des ersten Clusters zeichnet sich durch ein verhältnismäßig hohes Ausmaß verletzenden Verhaltens aus (vgl. Abbildung 10). Durchschnittlich 31,6 Prozent des LehrerInnenhandelns wird als verletzend beschrieben, womit es sich um fast ein Drittel der Interaktionen handelt. Davon wurde der Großteil als leicht verletzend (24,2 Prozent) eingestuft. Zu beachten ist dabei, dass der Anerkennungsgrad sehr verletzend mit einem Wert von 7,4 Prozent zwar tendenziell über dem Mittelwert der Gesamtstichprobe liegt, von diesem jedoch nicht signifi-

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

137

kant abweicht (vgl. Tabelle 12). Zugleich wird mit insgesamt 18,5 Prozent von allem Clustern am wenigsten anerkennendes Verhalten gezeigt, wobei sehr anerkennendes Verhalten marginal mit drei Prozent zu verzeichnen ist. Das neutrale LehrerInnenverhalten macht mit 42,7 Prozent den Großteil der Handlungen des Clusters aus und ist damit überdurchschnittlich präsent (vgl. Abbildung 9). Beide anerkennenden sowie der neutrale Anerkennungsgrad erreichen dabei das Signifikanzniveau (vgl. Tabelle 12). Darüber hinaus ist der Wert des ambivalenten Anerkennungsgrads bei etwa sieben Prozent tendenziell überdurchschnittlich ausgeprägt, wobei er jedoch nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 12). Wie bereits auf Grundlage der unterdurchschnittlich präsenten Anerkennungsgrade leicht und sehr anerkennend vermutet werden kann, liegen auch die Werte der anerkennenden Interaktionsformen des ersten Clusters deutlich unterhalb der jeweiligen Mittelwerte der Gesamtstichprobe und weichen dabei alle signifikant von diesen ab (vgl. Abbildung 10). Im Vergleich mit den anderen Clustern wird deutlich, dass das erste Handlungsmuster, mit Ausnahme der Variable konstruktive Anleitung, sogar bei allen anerkennenden Interaktionsformen die niedrigsten Werte aufweist (vgl. Tabelle 9). Betrachtet man die Lehrpersonen des Clusters genauer, wird deutlich, dass es sogar eine Lehrkraft beinhaltet, von der gar keine anerkennenden Interaktionen erfasst wurden.30 Die Variable positive Rückmeldung ist mit 12,7 Prozent noch am stärksten ausgeprägt ist, gefolgt von der konstruktiven Anleitung mit 5,7 Prozent. In Hinblick auf die verletzenden Interaktionsformen kehrt sich das Verhältnis um. Bis auf die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… sind diese beim ersten Cluster alle überdurchschnittlich ausgeprägt und weichen, bis auf die Variable destruktive Hilfeanleitung, signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 12). Vor allem die Interaktionsformen destruktive Konsequenz/Strafe mit 11,7 und destruktive Rückmeldung mit 16,7 Prozent sind besonders stark ausgebildet. Betrachtet man diese beiden Variablen genauer (vgl. Tabelle 6), ergeben sich neun ursprüngliche „INTAKT“-Variablen. Die destruktiven Konsequenzen werden im ersten Cluster deutlich durch die ursprüngliche Variable Anbrüllen mit drei Prozent charakterisiert, gefolgt von Drohung, Ausgrenzung und destruktive Strafe, die zwischen 1,2 und 1,6 Prozent liegen. Aggressiver Körperkontakt wurde mit 0,7 Prozent vergleichsweise wenig beobachtet. Der destruktive Kommentar macht mit 9,2 Prozent den Hauptanteil der Variable destruk30

Dabei handelt es sich um Lehrerin 113, die an einer staatlichen Grundschule beobachtet wurde (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

138

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

tive Rückmeldung aus, gefolgt von den Variablen destruktive Ermahnung mit 6,3 und negative Zuschreibung mit 4,1 Prozent. Spott, Ironie und Sarkasmus bilden mit 2,2 Prozent das Schlusslicht. Leicht erhöht ist auch das passive Verhalten mit 5,7 Prozent. Auffällig ist, dass trotz des verhältnismäßig hohen Anteils verletzenden Verhaltens, die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… mit 1,1 Prozent im Vergleich zum Stichprobendurchschnitt signifikant unterdurchschnittlich präsent ist. Alle ambivalenten Interaktionsformen liegen nah am Mittelwert und erreichen das Signifikanzniveau nicht (vgl. Tabelle 12). Beispielszene des ersten Clusters (Die Verletzenden) Die in Tabelle 13 dargestellte Beispielsszene soll das erste Handlungsmuster veranschaulichen (vgl. Kapitel 7.3.1). Tabelle 13: Feldvignette, Lehrerin 71, Szene 1505, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule aus einem Einzugsgebiet mit bildungsnahem bzw. hohem sozioökomischen Status.

Beschreibung der Szene

Interpretation

Die Lehrerin unterhält sich mit eiUngeschickte nem Schüler über sein Wochenende. Äußerung der Robert möchte auch etwas von sei- Lehrerin nem Wochenende erzählen. Lehrerin: „Nein, ich will jetzt nicht von jedem wissen, was er am Wochenende gemacht hat.“

Introspektion

A1

Ich fühle mich unwohl.

-1

Die Lehrerin ist in einer angeregten Unterhaltung mit einem Schüler über dessen Wochenende und fühlt sich durch Roberts versuchte Teilnahme am Gespräch gestört. Sie befürchtet, dass nun mehrere SchülerInnen ihre Geschichten erzählen wollen, was der Teilsatz „von jedem“ vermuten lässt. Robert wollte, wie sein Mitschüler, von seinem Wochenende erzählen. Vermuten kann man, dass er sich durch die Äußerung der Lehrerin zurückgewiesen oder ungerecht behandelt fühlt. Auf die restliche Klasse könnte die Szene eine ähnliche Wirkung haben. Möglicherweise werden die SchülerInnen in Zukunft zurückhaltender von ihrer Freizeit berichten. Die vorliegende Feldvignette veran-

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

139

schaulicht eine als leicht verletzend eingestufte Interaktionsszene und wurde mit dem Code destruktive Rückmeldung (vgl. Tabelle 6) codiert. Beschreibung der Lehrkräfte des ersten Clusters (Die Verletzenden) Das erste Cluster besteht aus 30 Lehrkräften, die durch insgesamt 2095 Szenen beschrieben werden.31 Von den drei Lehrern und 27 Lehrerinnen arbeitet eine Person an einer Gesamtschule, 25 Lehrkräfte (83,3 statt 76,1 Prozent in der Gesamtstichprobe) arbeiten an Grundschulen und vier (13,3 statt 18,2 Prozent) an Gymnasien. Lehrpersonen von Schulen der Sekundarstufe I sind nicht vertreten. Es ist also festzustellen, dass – gemessen am Gesamtdatensatz – etwas mehr weibliche Lehrkräfte (90 statt 83,5 Prozent) sowie mehr GrundschullehrerInnen zu finden sind. Die Anzahl der GesamtschullehrerInnen liegt genau im Durchschnitt der Gesamtstichprobe. Außerdem arbeitete keiner der Lehrkräfte an einer Schule mit besonderem Schulprofil, womit diese Schulen, die knapp 20 Prozent des Gesamtdatensatzes ausmachen, auffallend unterrepräsentiert sind. Der Anteil an Privatschulen entspricht mit 19,8 Prozent dem Durchschnittswert des Datensatzes. Hinsichtlich der Einzugsgebiete arbeiteten 15 Lehrpersonen an Schulen in einem Einzugsgebiet mit bildungsnahem bzw. hohem, zehn mit heterogenem und vier mit niedrigem sozioökonomischen Status.32 Bemerkenswert ist, dass die Lehrpersonen dieses Clusters gemessen am Gesamtdatensatz überdurchschnittlich häufig an Schulen in Gebieten mit bildungsnahem bzw. hohem sozioökonomischen Status (50 statt 33,9 Prozent) zu finden sind. Anders verhält es sich in den Einzugsgebieten mit einem heterogenen (33,3 statt 44,6 Prozent) bzw. einem niedrigen (13,3 statt 18,6 Prozent) sozioökonomischen Status, in denen sie unterdurchschnittlich präsent sind. Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die Verletzenden) 13 Lehrpersonen des ersten Clusters wurden an mehreren Tagen beobachtet, drei davon in mehreren Lerngruppen (vgl. Tabelle A - 2 und A - 3 im Anhang). Im Folgenden werden zwei Lehrpersonen exemplarisch für das Cluster beschrieben, die sowohl in verschiedenen Lerngruppen als auch an verschiedenen Tagen erfasst 31

32

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 1 zugeordnet: 11, 14, 17, 23, 62, 63, 66, 67, 71, 73, 91, 100, 111, 113, 115, 131, 135, 149, 160, 166, 181, 186, 195, 202, 208, 209, 230, 231, 232 und 233 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Ein Gebiet ist unbekannt.

140

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

wurden sowie einmal als kontinuierlich und einmal als diskontinuierlich eingeordnet sind. Lehrerin 100 wurde an einer staatlichen Grundschule in den Fächern Sport, Mathe und Deutsch in zwei ersten Klassen beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Bei ihr wurde an drei Tagen hospitiert. Dabei weist sie 12 diskontinuierliche Variablen auf, also Variablen, die an den verschiedenen Tagen mindestens zehn Prozent Differenz aufweisen (vgl. Kapitel 7.3.1). Dazu gehören alle Anerkennungsgrade bis auf ambivalent mit einer Differenz von 8,7 Prozent. Die Anerkennungsgrade sehr (14,3 Prozent an Tag C und 0,0 Prozent an Tag A33) und leicht anerkennend (50 und 4,8 Prozent), sehr (5 und 16,7 Prozent) und leicht verletzend (5 und 28,6 Prozent) sowie neutrales Verhalten (44,4 und 19 Prozent) sind jedoch als diskontinuierlich einzuordnen. Gleiches gilt für die Interaktionsformen konstruktive Konsequenz (25 und 0,0 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (0,0 und 25 Prozent), konstruktive Anleitung (0,0 und 31,3 Prozent), positive Rückmeldung (0,0 und 25 Prozent), destruktive Konsequenz (37,5 und 6,3 Prozent), passives Verhalten (0,0 und 12,5 Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 18,8 Prozent). Diesen 12 diskontinuierlichen Variablen stehen nur fünf relativ kontinuierliche Variablen mit einer Differenz von weniger als zehn Prozent gegenüber. Alles in allem ist also deutlich erkennbar, dass Lehrerin 100 an verschiedenen Tagen ein unterschiedliches Verhalten zeigt. Während sie an Tag B ein deutlich anerkennenderes Verhalten zeigt, mit insgesamt 60 Prozent anerkennendem Verhalten und gar keinem sehr verletzendem Verhalten, entspricht sie an anderen Tagen dem typischen Clusterdurchschnitt (vgl. Tabelle 9). Vergleicht man ihr Verhalten in den drei verschiedenen Lerngruppen, zeigt sich ein vergleichbares Bild (vgl. Tabelle A - 3 im Anhang). Wieder sind zwölf Variablen als diskontinuierlich einzustufen. Dazu zählen die Anerkennungsgrade leicht anerkennend (43,5 und 4,5 Prozent), leicht verletzend (8,7 und 27,3 Prozent), sehr verletzend (0,0 und 22,7 Prozent) und ambivalent (21,4 und 4,5 Prozent) sowie die Interaktionsformen anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (20 und 0,0 Prozent), ambivalente Konsequenz (20 und 0,0 Prozent), konstruktive Anleitung (0,0 und 26,3 Prozent), positive Rückmeldung (21,1 und 5,6 Prozent), destruktive Konsequenz (10 und 55,6 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern (0,0 und zehn Prozent), passives Verhalten und destruktive Rückmeldung (je 0,0 und 11,1 Prozent). Die diskontinuierlichen Variablen haben sich also verschoben 33

In den folgenden Vergleichen werden die konkreten Tage bzw. Lerngruppen aus Gründen der Übersichtlichkeit weggelassen. Es werden nur die Prozentzahlen angegeben. Die konkreten Tage und Lerngruppen können in Tabelle A - 2 und Tabelle A - 3 im Anhang eingesehen werden.

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

141

und sind beim Vergleich verschiedener Lerngruppen weniger in den Anerkennungsgraden und mehr in den Interaktionsformen zu finden als beim Vergleich verschiedener Tage. Während in Lerngruppe B mit 50 Prozent ein extrem hoher Anteil verletzenden Verhaltens zu bemerken ist, wird in Lerngruppe A mit 14,3 und C mit 13 Prozent deutlich weniger verletzendes Verhalten gezeigt. In diesen beiden Lerngruppen überwiegt anerkennendes Verhalten mit 35,7 Prozent in Lerngruppe A und sogar 52,2 Prozent in Lerngruppe C. Lehrerin 100 stellt in Cluster 1 die Lehrperson mit den meisten diskontinuierlichen Variablen dar. Ihr Verhalten variiert sowohl an verschiedenen Beobachtungstagen als auch zwischen verschiedenen Lerngruppen. Weitere Lehrpersonen mit einer höheren Anzahl an diskontinuierlichen Variablen sind Lehrerin 11134 und Lehrerin 149.35 Alle anderen zehn Lehrpersonen, die an mehreren Tagen beobachtet wurden, zeigen ein relativ kontinuierliches Verhalten. Ein Beispiel dafür sind die Lehrerinnen 181 und 186,36 die keine diskontinuierlichen Variablen an den verschiedenen Tagen aufweisen. Es lässt sich also erkennen, dass es sich bei Lehrerin 100 um einen Ausnahmefall im ersten Cluster handelt. Anders verhält es sich bei der Kontinuität nach Lerngruppen. Neben Lehrerin 100 wurden zwei weitere Lehrerinnen erfasst, von denen Lehrerin 111 ebenfalls einen erhöhten Wert an diskontinuierlichen Variablen zwischen den Lerngruppen aufweist. Zusammenfassung des ersten Clusters (Die Verletzenden) Das 30 von 239 Lehrpersonen umfassende Cluster 1 zeigt sich mit vier leicht heterogenen Variablen insgesamt homogen und zeichnet sich im Handeln durch ein geringes Maß an anerkennendem verbunden mit einem erhöhten Maß an verletzendem und neutralem Verhalten im Vergleich zum Mittelwert der Gesamtstichprobe aus. Bei der Verteilung der Lehrkräfte innerhalb des Datensatzes fällt auf, 34

35

36

Lehrerin 111 wurde an einer staatlichen Grundschule im Fach Sport in einer jahrgangsübergreifenden sowie einer dritten Klasse beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Zu beachten ist, dass die Kontinuitätsdaten von Lehrerin 111 konfundiert sind, sodass verschiedene Lerngruppen teilweise auch an unterschiedlichen Tagen erhoben wurden (vgl. Tabelle A - 2 und Tabelle A - 3 im Anhang). Lehrerin 49 unterrichtet Musik an einer staatlichen Gesamtschule. Bei ihr wurde in zwei achten Klassen hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Lehrerin 181 wurde an einer staatlichen Grundschule in den Fächern Sachkunde, Mathe und Deutsch in einer zweiten Klasse beobachtet. Bei Lehrerin 186 wurde an einer staatlichen Grundschule in den Fächern Mathe und Deutsch sowie fächerübergreifendem Unterricht in einer zweiten Klasse hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

142

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

dass Lehrpersonen dieses Clusters nicht an Privatschulen, aber bevorzugt in Einzugsgebieten mit bildungsnahem bzw. hohem sozioökonomischen Status erfasst wurden. In Hinblick auf die Kontinuität zeigen die an mehreren Tagen erhobenen Lehrkräfte in zehn von 13 Fällen ein kontinuierliches Verhalten. Von den drei Lehrpersonen, die in verschiedenen Lerngruppen untersucht wurden, handelt eine kontinuierlich. 7.3.3

Cluster 2: Die sehr Verletzenden

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 2 (Die sehr Verletzenden) Dem zweiten Cluster wurden insgesamt 29 Lehrpersonen (12 Prozent des Gesamtstichprobe, vgl. Tabelle 9) zugeordnet. Betrachtet man die Variablen des zweiten Clusters bemerkt man wieder die hohe Anzahl homogener Variablen, wie es in der obenstehenden Tabelle 14 abzulesen ist. Hinsichtlich des Variationskoeffizienten gibt es kaum höhere Werte. Lediglich die Variablen konstruktive Konsequenz und empathisches Vorgehen liegen mit den 2,5 bzw. 2,6 im moderaten Bereich (vgl. Kapitel 7.1). Die Variable ambivalente Hilfe / Rücksichtnahme verzeichnet zwar mit 3,8 einen erhöhten Wert, da sich die Werte dieser Variable jedoch von 0,0 als Minimum bis 4,5 Prozent als Maximum erstrecken, verbunden mit einem Mittelwert von marginalen 0,3 Prozent, ist diese Variable wenig beschreibend für das zweite Cluster. Dennoch muss der erhöhte Variationskoeffizient in der Interpretation berücksichtigt werden. Insgesamt ist zu bemerken, dass kein erhöhter Variationskoeffizient bei einer für das Cluster bedeutsamen Variablen festzustellen ist.

143

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

Sehr anerkennend

0,0

33,3

9,4

8,7

0,9

-1,514

0,14

Leicht anerkennend

0,0

41,9

13,3

10,7

0,8

-7,710

0,00

Neutral

4,5

42,9

18,5

10,6

0,6

-7,523

0,00

Leicht verletzend

8,3

56,3

29,5

14,2

0,5

5,549

0,00

Sehr verletzend

3,6

41,2

21,7

9,9

0,5

8,753

0,00

Ambivalent

0,0

18,2

7,7

6,3

0,8

1,685

0,10

Minimum

Maximum

Tabelle 14: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 2.

Grad der Anerkennung

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

41,8

3,4

8,7

2,6

-3,227

0,00

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

10,7

3,1

3,9

1,3

-1,023

0,32

Empathisches Vorgehen

0,0

4,5

0,5

1,1

2,5

-4,540

0,00

Konstruktive Anleitung

0,0

30,8

5,2

7,4

1,4

-6,032

0,00

Positive Rückmeldung

0,0

41,7

16,9

11,3

0,7

-4,144

0,00

7,3

6,9

0,9

3,502

0,02

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

25,8

144

Standardabweichung

Variationskoeffizient

0,0

36,4

12,9

11,1

0,9

4,892

0,00

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

19,5

3,2

5,4

1,7

1,112

0,28

Passives Verhalten

0,0

25,0

9,6

7,5

0,8

4,218

0,00

Destruktive Rückmeldung

6,3

72,7

32,1

14,1

0,4

8,047

0,00

T-Wert

Mittelwert

Destruktive Konsequenz/ Strafe

Minimum

Maximum

Signifikanzniveau (2-seitig)

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

8,2

2,0

2,8

1,4

-0,034

0,97

Ambivalente Rückmeldung

0,0

18,2

3,0

4,4

1,4

1,517

0,14

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

4,5

0,3

1,0

3,8

-2,816

0,01

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die sehr Verletzenden) Das zweite Cluster zeichnet sich durch die meisten verletzenden Interaktionen aus, die wiederum mit einer geringen Anzahl von anerkennendem Verhalten kombiniert sind, wobei alle Anerkennungsgrade, außer sehr anerkennend und ambivalent, signifikant von den Mittelwerten der Gesamtstichprobe abweichen (vgl. Abbildung 9, Tabelle 14). Es ist dem ersten Cluster inhaltlich ähnlich, sodass es vergleichend zu diesem beschrieben wird, um die Unterschiede deutlich zu machen. Mit durchschnittlich 51,2 Prozent sind mehr als die Hälfte aller Interaktionen ver-

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

145

letzend, wobei über 20 Prozent als sehr verletzend eingestuft sind. Im Vergleich liegt der Anteil sehr verletzenden Verhaltens bei Cluster 1 bei „nur“ 7,4 Prozent (vgl. Tabelle 9). Anders als das erste Cluster neigt die typische Lehrperson in Cluster 2 zu einer stärkeren Ausprägung des verletzenden, aber auch des anerkennenden Verhaltens. So ist die Anzahl anerkennenden Verhaltens mit einem Wert von 22,7 Prozent im Vergleich zu Cluster 1 mit 18,5 etwas höher. Das Ausmaß sehr anerkennenden Verhaltens ist im zweiten Cluster sogar dreimal höher als in Cluster 1, wenngleich der Wert nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 14). Der Anteil neutralen Verhaltens ist mit nur 18,5 Prozent der niedrigste aller Cluster, während sehr anerkennendes und sehr verletzendes Verhalten zusammen über 30 Prozent der Interaktionen bestimmen, so viel wie bei keinem anderen Cluster. Somit lassen sich Tendenzen zu einem „Zuckerbrot und Peitsche“-Motiv erkennen, wenngleich die Verletzungen deutlich überwiegen. Bei allen Lehrpersonen dieses Clusters ist also eine Tendenz zu einem niedrigen Anteil neutralen Verhaltens gepaart mit extrem viel leicht und sehr verletzendem Verhalten sowie wenig anerkennendem Verhalten zu erkennen. Durch die clusterinterne Heterogenität sind auch Lehrpersonen mit einem höheren Anteil neutralen Verhaltens eingeschlossen, die aber auffällig hohe Werte im Bereich verletzenden Verhaltens allgemein oder des sehr verletzenden Verhaltens aufweisen. Mit knapp acht Prozent wird darüber hinaus ein tendenziell leicht überdurchschnittliches ambivalentes Verhalten gezeigt, das jedoch nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 14). Ähnlich wie im ersten Cluster sind fast alle anerkennenden Interaktionsformen deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägt und weichen, außer der Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern, dabei signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 9 und Tabelle 14). Es scheint, als legten diese Lehrkräfte trotz aller verletzenden Interaktionen ihrerseits, Wert auf ein respektvolles Verhalten der Lernenden untereinander. Betrachtet man diese Variable detaillierter (vgl. Tabelle 6) wird deutlich, dass vor allem die ursprünglichen „INTAKT“-Variablen Kooperation fördern mit 1,1 und Fairness mit 0,9 Prozent einen großen Teil ausmachen, während Missachtung durch MitschülerInnen unterbinden und anerkennende Rituale mit je etwa 0,5 Prozent geringer ausfallen. Von allen anerkennenden Interaktionsformen ist jedoch positive Rückmeldung am stärksten ausgeprägt, die fast 17 Prozent des gesamten Verhaltens ausmacht und somit deutlich häufiger auftritt als in Cluster 1 (vgl. Abbildung 10). Die verletzenden Interaktionsformen sind alle erwartungsgemäß überdurchschnittlich ausgeprägt und heben sich teilweise noch einmal deutlich von Cluster 1

146

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

ab, das bereits überdurchschnittliche Ausprägungen verzeichnete (vgl. Abbildung 11). Bis auf die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern, die als einzige das Signifikanzniveau nicht erreicht (vgl. Tabelle 14), sind alle Werte der verletzenden Interaktionsformen mehr als doppelt so häufig wie der Mittelwert der Gesamtstichprobe verzeichnet. Zwar erreicht ebendiese Variable mit 3,2 Prozent das zweitstärkste Ergebnis von allen Clustern, dennoch ist die Ausprägung noch verhältnismäßig nah am Mittelwert. Wiederum scheinen die im Cluster beschriebenen Lehrpersonen einen Unterschied zwischen verletzendem Verhalten vonseiten der Lehrenden und vonseiten der SchülerInnen zu machen. Etwa ein Drittel der Interaktionen bestehen aus destruktiven Rückmeldungen, die vor vor allem aus destruktiven Kommentaren mit 12,4 bestehen, gefolgt von negativen Zuschreibungen mit 8,9 und destruktiven Ermahnungen mit 7,7 Prozent (vgl. Tabelle 6). Wiederum bilden Spott, Ironie und Sarkasmus mit 3,5 Prozent das Schlusslicht, weisen dabei aber immer noch deutlich höhere Werte auf als in Cluster 1 oder der Gesamtstichprobe. Die destruktiven Hilfeanleitungen bestehen vor allem aus destruktiven Anweisungen mit 6,1 Prozent, während sich die Variable destruktive Konsequenz wie in Cluster 1 in erster Linie durch Anbrüllen mit 4,5 zeigt, gefolgt von Ausgrenzung mit 2,4 Prozent. Die drei weiteren ursprünglichen „INTAKT“-Variablen liegen je zwischen 1,4 und 1,7 Prozent. Das passive Verhalten besteht fast ausschließlich aus der ursprünglichen Variable Ignorieren, nicht beachten mit neun Prozent. Die verletzenden Verhaltensweisen in Cluster 2 werden also durch destruktive Äußerungen (Kommentare, Ermahnungen und Anweisungen) sowie Anbrüllen und Ignorieren gezeigt. Diese ursprünglichen „INTAKT“-Variablen machen insgesamt knapp 41 Prozent des LehrerInnenverhaltens aus. Beispielszene des zweiten Clusters (Die sehr Verletzenden) Um das zweite Handlungsmuster mit seinen Charakteristika zu veranschaulichen, wurde die in Tabelle 15 dargestellte Beispielszene von Lehrerin 6 ausgewählt.

147

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Tabelle 15: Feldvignette, Lehrerin 6, Szene 10, Mathematikunterricht, Klasse 3, staatliche Grundschule, unbekanntes Einzugsgebiet.

Beschreibung der Szene

Interpretation Introspektion

A1

Frau Schulz beschwert sich, dass der Gruppentisch der Mädchen so laut ist: „Das geht so nicht mehr. Immer muss ich euch ermahnen, langsam reicht es!“ Sie nimmt den Stuhl von Sophia (sie sitzt noch drauf) und zieht an ihm. „Komm, Du sitzt jetzt an einem Einzeltisch!“ Sophia wehrt sich und fragt, warum immer sie diejenige ist, die sich wegsetzen muss. Frau Schulz: „Weil Du immer am lautesten bist und alle anderen ablenkst. Jetzt setz Dich weg!“ Die komplette Klasse ist während dieser Konfrontation mucksmäuschenstill. Sophia lässt beschämt ihren Kopf hängen und läuft zum Einzeltisch. Sie stützt den Kopf auf die Hände und schmollt. Ihre Aufgabe macht sie nicht mehr weiter.

Frau Schulz will die Klasse ruhig stellen, aber merkt dabei nicht, wie unpassend und verletzend ihre Reaktion gegenüber Sophia ist.

-2

Ich bin sehr verunsichert und würde Sophia am liebsten in Schutz nehmen.

Die Lehrerin fühlt sich durch die Gruppenarbeit der Mädchen gestört und möchte für Ruhe und eine effektive Arbeitsatmosphäre sorgen. Nach Meinung der Lehrerin handelt es sich bei ihrer Ermahnung nicht um die erste, da sie „Immer muss ich euch ermahnen…“ sagt. Sophia wird zugeschrieben, der Ursprung der Unruhe zu sein und so will sie diese von den anderen Schülerinnen separieren. Dabei verhält sich die Lehrerin aggressiv und zieht an Sophias Stuhl, obwohl diese noch darauf sitzt. Letztlich bringt sie die Schülerin dazu, sich an einen Einzeltisch zu setzen. Möglicherweise möchte Frau Schulz an Sophia ein Exempel statuieren, da sich die Klasse im Allgemeinen während der Gruppenarbeitsphase ihrer Meinung nach zu laut verhält. Sophia fühlt sich durch die negative Zuschreibung der Lehrerin vermutlich ungerecht behandelt und versucht, sich mit Worten zu wehren. Es scheint nicht das erste Mal zu sein, dass sie sich wegsetzen muss. Offenbar ist sie emotional aufgewühlt, vielleicht beschämt oder wütend, denn sie lässt den Kopf hängen.

148

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Ihr Unmut kommt in sichtbarem Kummer und Arbeitsunfähigkeit zum Ausdruck. Auf die restliche Klasse übt die Beobachtung der Szene vermutlich Druck aus, sich leise zu verhalten. Die SchülerInnen wirken verängstigt und es herrscht eine bedrückte Atmosphäre, die Lernen beeinträchtigt. Die Szene liefert ein Beispiel für als sehr verletzend eingestuftes Lehrerinnenverhalten und wurde mit den verletzenden Interaktionsformen negative Zuschreibung, aggressiver Körperkontakt, destruktive Ermahnung und Ausgrenzung codiert. Beschreibung der Lehrkräfte des zweiten Clusters (Die sehr Verletzenden) Das zweite Cluster umfasst 29 von 239 Lehrenden,37 wobei fünf (17,2 Prozent) Männer und 24 (82,8 Prozent) Frauen mit insgesamt 925 Szenen zu verzeichnen sind. Damit liegt die Geschlechterverteilung im Durchschnitt der Stichprobe. Je eine Lehrperson arbeitete an einer Schule der Sekundarstufe I bzw. Gesamtschule, fünf an einem Gymnasium sowie 22 an einer Grundschule. Damit liegt die Verteilung der 29 Lehrpersonen ebenfalls im Stichprobendurchschnitt. Fünf Lehrkräfte arbeiteten an einer Privatschule, was mit etwa 17 Prozent nur knapp unter dem Durchschnitt liegt. Neun (31 Prozent) der beobachteten Lehrpersonen arbeiteten an einer Schule mit besonderem Schulprofil, davon fünf (17,2 Prozent) an einer Montessori-, je einer an einer (3,5 Prozent) katholischen bzw. Waldorfschule sowie zwei (6,9 Prozent) an einer internationalen Grundschule. Der Anteil an LehrerInnen an Montessori-Schulen ist dabei tendenziell erhöht (17,2 statt 10,3 Prozent im Gesamtdatensatz). Insgesamt ist der Anteil an Lehrkräften an Schulen mit besonderem Schulprofil um über zehn Prozent höher als im Gesamtdatensatz (19,4 Prozent). Hinsichtlich der Einzugsgebiete wurden elf Lehrpersonen (37,9 Prozent) in einem Einzugsgebiet mit einem hohen bzw. bildungsnahen, 13 (44,8 Prozent) mit einem heterogenen und vier (13,8 Prozent) mit einem niedrigen sozioökonomischen Status beobachtet.38 Wie bereits im ersten Cluster ist damit die Anzahl von Lehrpersonen in Einzugsgebieten mit einem bildungsnahen bzw. hohen sozioökonomischen Status leicht erhöht (37,9 statt 33,9 Prozent), während sie in Gebieten mit sozioökonomisch niedrigerem (13,7 statt 18,6 Prozent) Status verhältnismäßig seltener vorkommen. 37

38

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 2 zugeordnet: 5, 6, 16, 19, 43, 50, 51, 75, 79, 80, 82, 90, 98, 104, 106, 118, 121, 122, 123, 125, 126, 130, 144, 153, 199, 206, 218, 219 und 238 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Ein Einzugsgebiet ist unbekannt.

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

149

Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die sehr Verletzenden) Neun LehrerInnen wurden im zweiten Cluster an mehreren Tagen und fünf in mehreren Lerngruppen erhoben, wobei vier davon in beiden Gruppen vorkommen (vgl. Tabelle A - 2 und Tabelle A - 3). Lehrerin 50 wurde an einer privaten Gesamtschule mit Montessoriprofil in drei Lerngruppen (Klasse 8 und 10 sowie einer jahrgangsübergreifende Lerngruppe) im Fach Musik beobachtet (vgl. Tabelle A 1 im Anhang). Sie weist insgesamt sowohl an verschiedenen Tagen mit neun als auch in verschiedenen Lerngruppen mit je zehn diskontinuierlichen Variablen einen erhöhten Anteil auf (vgl. Kapitel 7.3.1). An verschiedenen Tagen betrifft dies die Anerkennungsgrade sehr (18,8 und 0,0 Prozent) und leicht anerkennend (28,6 und 0,0 Prozent) sowie sehr verletzend (14,3 und 66,7 Prozent). Die Interaktionsformen konstruktive Anleitung (22,2 und 0,0 Prozent), positive Rückmeldung (0,0 und 40 Prozent), destruktive Hilfeanleitung (0,0 und 26,3 Prozent), destruktive Konsequenz (0,0 und 15,8 Prozent), passives Verhalten (16,7 und 30 Prozent) und destruktive Rückmeldung (38,9 und zehn Prozent) gehören ebenfalls zu den diskontinuierlichen Variablen. Auffällig ist, dass Lehrerin 50 an Tag C mit 85,7 Prozent besonders verletzend agiert und keinerlei anerkennende Interaktionen zu verzeichnen sind, während an den beiden Tagen A und B mit etwa 43 Prozent deutlich häufiger anerkennend gehandelt wird. Betrachtet man die verschiedenen Lerngruppen, so erhöht sich die Anzahl der diskontinuierlichen Variablen bei Lehrerin 50 auf zehn, wobei etwa die gleichen Variablen betroffen sind, wie an verschiedenen Tagen. Hinzu kommt der Anerkennungsgrad leicht verletzend (16,7 und 28,6 Prozent). Zu bemerken ist, dass in Lerngruppe A ein besonders verletzendes Verhalten gezeigt wird. Die Lehrerin verzeichnet in dieser Lerngruppe gar keine anerkennenden Interaktionen und zeigt 89,5 Prozent verletzendes Verhalten. In Lerngruppe B hingegen zeigt sie mit 42,9 Prozent zwar immer noch extrem viel, aber deutlich weniger verletzendes Verhalten als in der anderen Lerngruppe A. Zugleich weist sie mit 42,8 Prozent deutlich mehr anerkennendes Verhalten auf. Zu den diskontinuierlichen Lehrpersonen mit mindestens sechs diskontinuierlichen Variablen gehören in diesem Cluster in Hinblick auf die verschiedenen Tage fünf von neun Lehrkräften und in Hinblick auf die verschiedenen Lerngruppen drei von fünf Lehrkräften, inklusive Lehrerin 50. Im Gegensatz dazu zeigt Lehrerin 218 ein relativ kontinuierliches Verhalten an den verschiedenen Tagen. Sie wurde in vier Lerngruppen in den Klassen 8, 10 und 13 im Fach Sport an einem staatlichen Gymnasium beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang), wobei sie nur drei diskontinuierliche Variablen aufweist. Zu diesen gehören konstruktive Konsequenz (0,0 und 14,8 Prozent), passives Verhal-

150

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

ten (18,5 und 36 Prozent) und destruktive Rückmeldung (28 und 40,7 Prozent). Alle Anerkennungsgrade sind kontinuierlich ausgeprägt. In den verschiedenen Lerngruppen reduziert sich die Anzahl an diskontinuierlichen Variablen auf die zwei folgenden: leicht anerkennendes Verhalten (30 und 12,8 Prozent) und konstruktive Anleitung (22,2 und 0,0 Prozent). Zusammenfassung des zweiten Clusters (Die sehr Verletzenden) Beim zweiten Cluster handelt es sich insgesamt um ein 29 Lehrkräfte umfassendes sehr verletzendes Handlungsmuster, das durch seinen hohen Anteil an destruktiven Rückmeldungen und destruktiven Konsequenzen/Strafen auffällt. Durch seine Tendenz zu den Extremen, also zu (sehr) anerkennendem und (sehr) verletzendem Verhalten, verbunden mit einem geringen Anteil an neutralem Verhalten, kommt es einem „Zuckerbrot und Peitsche“-Motiv nahe, wenngleich das verletzende Verhalten deutlich überwiegt. In der Stichprobe sind Lehrkräfte dieses Clusters überdurchschnittlich oft an Schulen mit besonderem Schulprofil sowie Schulen in Einzugsgebieten mit hohem bzw. bildungsnahem sozioökonomischem Status zu finden. Über die Hälfte der erfassten Lehrpersonen zeigt ein diskontinuierliches Verhalten, während die Homogenität der Variablen mit sechs leicht heterogenen Variablen als relativ homogen beschrieben werden kann, wie im ersten Abschnitt zu diesem Cluster gezeigt wurde. 7.3.4

Cluster 3: Die Netten

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 3 (Die Netten) Das dritte Cluster umfasst mit 87 die meisten Lehrpersonen alles Cluster (36 Prozent der Gesamtstichprobe, vgl. Tabelle 9). In Hinblick auf den Variationskoeffizienten verzeichnen fast alle Variablen sehr niedrige Werte unter 2,0 (vgl. Kapitel 7.1). Ausnahmen bilden die Variablen anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… mit einem moderaten Wert von 2,2 sowie die Variable ambivalente Hilfe / Rücksichtnahme mit einem erhöhten Wert von 3,9 (vgl. Tabelle 16, vgl. Kapitel 7.3.1). Wie schon im zweiten Cluster ist die Bedeutung der zweitgenannten Variable für die Beschreibung der Handlungsstruktur des Clusters gering, da lediglich ein Mittelwert von 0,2 zu verzeichnen ist und der Maximalwert bei einem Prozentsatz von lediglich 4,8 liegt. Aus diesem Grund ist der erhöhte Wert zwar in der Interpretation zu berücksichtigen, für eine Analyse der Verteilung der Variable ergibt sich jedoch keine Notwendigkeit.

151

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Mittelwert

Standard-abweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

Sehr anerkennend

0,0

59,1

11,1

9,8

0,9

-0,648

0,52

Leicht anerkennend

4,8

53,6

30,3

11,3

0,4

1,348

0,18

10,0

90,5

42,2

15,3

0,4

5,398

0,00

Leicht verletzend

0,0

40,0

10,8

9,3

0,9

-4,018

0,00

Sehr verletzend

0,0

18,7

2,4

3,6

1,5

-8,245

0,00

Ambivalent

0,0

12,5

3,1

3,3

1,1

-7,431

0,00

Minimum

Maximum

Tabelle 16: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 3.

Grad der Anerkennung

Neutral

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

52,4

9,3

8,8

0,9

0,773

0,44

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

18,9

4,4

4,4

1,0

1,309

0,19

Empathisches Vorgehen

0,0

7,1

1,0

1,8

1,7

-1,901

0,06

Konstruktive Anleitung

0,0

38,5

14,0

8,5

0,6

0,515

0,61

Positive Rückmeldung

0,0

60,0

24,9

10,3

0,4

-0,608

0,55

1,6

2,5

1,6

-4,548

0,00

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

11,1

152

Minimum

Maximum

Mittelwert

Standard-abweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Destruktive Konsequenz/Strafe

0,0

17,6

2,8

4,1

1,5

-5,424

0,00

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

7,8

0,7

1,5

2,2

-8,775

0,00

Passives Verhalten

0,0

11,8

2,4

3,2

1,4

-3,892

0,00

Destruktive Rückmeldung

0,0

40,0

7,9

8,3

1,1

-3,549

0,00

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

7,4

1,0

1,7

1,7

-5,656

0,00

Ambivalente Rückmeldung

0,0

5,3

0,8

1,4

1,7

-6,175

0,00

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

4,8

0,2

0,6

3,9

-9,198

0,00

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die Netten) Mit einem Anteil von 41,4 Prozent anerkennenden Verhaltens, wobei etwa 30,3 Prozent leicht anerkennend und 11,1 Prozent sehr anerkennend sind, weicht das dritte Cluster nicht signifikant von Mittelwert der Gesamtstichprobe ab. Anders verhält es sich bei den anderen Anerkennungsgraden, bei denen das Signifikanzniveau erreicht wurde (vgl. Tabelle 16). Der Anteil verletzenden Verhaltens ist im Vergleich zur Gesamtstichprobe niedriger angesiedelt. Insgesamt macht es 13,2 Prozent des Verhaltens im dritten Cluster aus, dem 20,4 Prozent beim Mittelwert

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

153

der Gesamtstichprobe gegenüberstehen. Als sehr verletzend werden dabei im dritten Cluster nur etwa 2,4 Prozent der Handlungen beschrieben. Beim neutralen Verhalten verzeichnen die Lehrkräfte des Clusters durchschnittlich 42,2 Prozent, was deutlich über dem Mittelwert der Gesamtstichprobe liegt (vgl. Tabelle 9). Nur Cluster 1 kommt auf einen ähnlich hohen Wert. Es handelt sich also um Lehrende, die mit insgesamt 72,5 Prozent zu einem Großteil neutral und leicht anerkennend handeln. Eine Tendenz zur Mitte zeichnet sich ab, da vor allem leicht anerkennende und leicht verletzende Handlungsweisen sowie neutrales Verhalten im Mittelpunkt stehen, während sehr verletzendes und sehr anerkennendes Verhalten vergleichsweise gering ausfallen (vgl. Abbildung 9). Somit bildet dieses Handlungsmuster ein Gegengewicht zum zweiten Cluster, das tendenziell zu einem extremen Verhalten mit sehr verletzenden, sehr anerkennenden und wenig neutralen Interaktionen tendiert (vgl. Kapitel 7.3.3). Trotz der verhältnismäßig hohen Heterogenität bezüglich des neutralen Anerkennungsgrads, zeichnet ebendiese Tendenz zum gemäßigten Verhalten alle Lehrpersonen dieses Clusters aus. Haben Lehrkräfte nur einen geringen Anteil neutralen Verhaltens, gleichen sie dies durch sehr niedrige Werte in den Extremen und einen hohen Anteil leicht anerkennenden Verhaltens aus und andersherum. Der Anteil ambivalenten Verhaltens ist niedriger als der Durchschnitt der Gesamtstichprobe und die ambivalenten Interaktionsformen sind mit je unter einem Prozent nur marginal vorhanden, wobei sie ausnahmslos signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweichen. Wie schon die Anerkennungsgrade sehr und leicht anerkennend, weichen auch die anerkennenden Interaktionsformen nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 16). Man kann das Muster in dieser Hinsicht also als „auffällig durchschnittlich“ bezeichnen. Die am häufigsten gezeigten Anerkennungsformen sind die positive Rückmeldung mit 24,9 und die konstruktive Anleitung mit 14 Prozent, während empathisches Verhalten mit einem Prozent nur sehr selten gezeigt wird. Alle verletzenden Interaktionsformen sind hingegen unterdurchschnittlich präsent und weichen dabei signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab. Den größten Anteil verletzenden Verhaltens beschreibt die Variable destruktive Rückmeldung, die 7,9 Prozent des Verhaltens ausmacht. Den niedrigsten Wert erzielt das Cluster im Bereich anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…, das mit 0,7 Prozent nur marginal vorkommt.

154

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Beispielszene des dritten Clusters (Die Netten) Die in Tabelle 17 dargestellte Beispielszene soll das typische Handlungsmuster des Clusters veranschaulichen. Tabelle 17: Feldvignette, Lehrerin 34, Szene 110, Deutschunterricht, jahrgangsübergreifender Unterricht der Klassen 1-3, staatliche Grundschule in Einzugsgebiet mit niedrigem sozioökonomischem Status.

Beschreibung der Szene Frau Kural kündigt freundlich an: „Kommt mal alle nach vorn, wir lesen eine Geschichte. Los, wir brauchen einen Kreis. Ihr kennt das ja schon.“ Die SchülerInnen fangen an die Tische beiseite zu schieben.

Interpretation Introspektion Die SchülerInnen befolgen die Anweisungen von Frau Kural.

Ich bin entspannt.

A1 0

Frau Kural fordert die Lernenden auf, einen Sitzkreis zu bilden, um gemeinsam eine Geschichte zu lesen, woraufhin diese selbstständig mit den Vorbereitungen beginnen. Die SchülerInnen kennen diesen Ablauf vermutlich als Routine im Deutschunterricht und wissen daher, was zu tun ist. Frau Kural versucht, sie in die Vorbereitung einzubinden, was zum einen den Gemeinschaftssinn fördern kann als auch die Vorbereitungszeit erheblich verkürzt, da alle helfen. Die Lernenden fühlen sich einbezogen. Diese Szene veranschaulicht eine als neutral eingestufte Interaktionsszene. Beschreibung der Lehrkräfte des dritten Clusters (Die Netten) Mit insgesamt 87 Lehrpersonen39 beinhaltet das dritte Cluster die meisten Lehrenden und umfasst dabei über ein Drittel (36 Prozent) des Datensatzes. Die 14 Männer und 73 Frauen sind dabei genau durchschnittlich verteilt und durch 4903 Szenen beschrieben. Die Lehrkräfte verteilen sich auf zwei Schulen der Sekundar39

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 3 zugeordnet: 4, 7, 9, 10, 12, 15, 21, 22, 24, 25, 28, 31, 32, 34, 35, 36, 38, 40, 42, 45, 47, 54, 55, 58, 61, 64, 68, 69, 70, 72, 74, 77, 78, 81, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 92, 94, 96, 99, 105, 108, 109, 116, 117, 124, 127, 132, 137, 138, 142, 146, 150, 152, 154, 155, 156, 157, 163, 168, 169, 173, 174, 176, 177, 178, 180, 182, 188, 189, 190, 192, 194, 200, 203, 204, 205, 216, 217, 225, 226, 229 und 239 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

155

stufe I, sieben Gesamt- und 69 Grundschulen sowie neun Gymnasien. Somit ist der ohnehin schon hohe Anteil an Grundschulen innerhalb der Stichprobe von etwa 76 Prozent im dritten Cluster mit 79,3 Prozent noch einmal leicht erhöht. Ähnlich verhält es sich mit den Gesamtschulen, die etwa acht Prozent des Clusters, aber nur 3,3 Prozent der Gesamtstichprobe ausmachen. GymnasiallehrerInnen sind mit nur zehn Prozent in diesem Cluster deutlich weniger präsent als in der Gesamtstichprobe von 18 Prozent. Der Anteil an Schulen der Sekundarstufe I entspricht hingegen dem Durchschnitt. 18 Lehrende wurden an Privatschulen hospitiert, was dem Durchschnitt der Gesamtstichprobe entspricht. Ebenso verhält es sich mit den 19 Lehrpersonen des Clusters an Schulen mit einem besonderen Schulprofil, die nur knapp über dem Durchschnitt (21,8 statt 19,4 Prozent) liegen. Davon sind zehn Lehrpersonen (11,5 Prozent) an Schulen mit Montessori-, je drei (3,5 Prozent) mit Waldorf- bzw. internationaler, zwei (2,3 Prozent) mit katholischer und eine (1,1 Prozent) mit evangelischer Ausrichtung beobachtet worden. Damit sind alle Ausrichtungen etwa durchschnittlich vertreten. Hinsichtlich des Einzugsgebiets, in dem die Lehrkräfte des Clusters arbeiten, sind keine Auffälligkeiten zu beobachten. 26 Lehrpersonen (29,8 Prozent) arbeiten an Schulen in Einzugsgebieten mit bildungsnahem bzw. hohem, 41 (47,1 Prozent) mit heterogenem und 16 (18,4 Prozent) mit niedrigem sozioökonomischem Status.40 Damit liegen alle Werte nah am Durchschnitt der Gesamtstichprobe, wobei jedoch der Anteil an LehrerInnen aus Einzugsgebieten mit hohem bzw. bildungsnahem sozioökonomischem Status mit 29,8 Prozent etwas geringer ist als 33,9 Prozent im Gesamtdatensatz sowie der Anteil aus Einzugsgebieten mit heterogenem sozioökonomischem Status mit 47,1 Prozent den Durchschnitt um etwa drei Prozentpunkte überschreitet. Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die Netten) Im dritten Cluster wurden 38 Lehrkräfte an verschiedenen Tagen und 17 in verschiedenen Lerngruppen beobachtet. Lehrerin 64 wurde in drei Lerngruppen (jahrgangsübergreifend und Klasse 2) in fächerübergreifendem Unterricht sowie Sachkunde an einer staatlichen Grundschule beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang) und ist beispielhaft für ein diskontinuierliches Verhalten. Sie weist an den zwei verschiedenen Hospitationstagen sechs diskontinuierliche Variablen auf (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang). Zu diesen gehören die Anerkennungsgrade sehr (30 und 40

Vier Einzugsgebiete sind unbekannt.

156

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

11,1 Prozent) und leicht anerkennend (35 und 0,0 Prozent), neutral (15 und 50 Prozent) und leicht verletzend (20 und 38,9 Prozent). Hinzu kommen die beiden Interaktionsformen positive (36,4 und 13,3 Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 20 Prozent). Während sie sich also an Tag A mit insgesamt 65 Prozent zu einem hohen Anteil anerkennend verhält, sind es an Tag B nur 11,1 Prozent. Darüber hinaus ist Tag B durch einen verhältnismäßig hohen Anteil verletzenden Verhaltens in Höhe von 38,9 Prozent gekennzeichnet. In Cluster 3 zeigen 14 von 38 Lehrkräften einen erhöhten Anteil von mindestens sechs diskontinuierlichen Variablen an verschiedenen Tagen – ähnlich wie Lehrerin 64. Analysiert man das Verhalten der Lehrerin 64 in den drei erfassten Lerngruppen, erhöht sich die Anzahl der diskontinuierlichen Variablen auf neun (vgl. Tabelle A - 3 im Anhang). Das gilt für die Anerkennungsgrade leicht anerkennend (40 und zehn Prozent), neutral (zehn und 45 Prozent) und leicht verletzend (25 und 37,5 Prozent) sowie für die Interaktionsformen konstruktive Konsequenz (7,1 und 50 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (0,0 und 12,5 Prozent), konstruktive Anleitung (18,2 und 0,0 Prozent), positive Rückmeldung (25 und 35,7 Prozent), destruktive Konsequenz (0,0 und 28,6 Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 14,3 Prozent). Dabei wird in Lerngruppe C mit je 37,5 Prozent anerkennendem bzw. verletzendem Verhalten im Vergleich zu Lerngruppe A und B verhältnismäßig häufig verletzend interagiert. Neun von 17 Lehrkräften des dritten Clusters zeigen eine erhöhte Diskontinuität in Hinblick auf ihr Verhalten in unterschiedlichen Lerngruppen. Auf der anderen Seite kann Lehrerin 188 ein Beispiel für eine kontinuierlich agierende Lehrkraft geben. Sie wurde in zwei zweiten Klassen an einer staatlichen Grundschule in den Fächern Kunst und Sport beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). In Hinblick auf verschiedene Unterrichtstage weist sie drei diskontinuierliche Variablen auf, von denen alle drei in den anerkennenden Interaktionsformen liegen: konstruktive Konsequenz (3,7 und 14 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (18,5 und 2,0 Prozent) und konstruktive Anleitung (25,9 und 44 Prozent). Wie sie agieren 23 weitere Lehrkräfte des dritten Clusters relativ kontinuierlich, weisen also fünf diskontinuierliche Variablen oder weniger an unterschiedlichen Tagen auf. In Bezug auf die Beobachtung in verschiedenen Lerngruppen ist bei Lehrerin 188 gar keine diskontinuierliche Variable festzustellen. Damit ist sie eine von acht Lehrpersonen, die im dritten Cluster in unterschiedlichen Lerngruppen relativ kontinuierlich agieren, also fünf oder weniger diskontinuierliche Variablen aufweisen.

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

157

Zusammenfassung des dritten Clusters (Die Netten) Das dritte Handlungsmuster umfasst mit 87 die meisten Lehrpersonen aller Cluster und zeichnet sich durch eine Tendenz zur Mitte aus, die mit wenig extremen Handlungsweisen, wie sehr verletzendem oder sehr anerkennendem Verhalten, sowie viel neutralem Verhalten charakterisiert ist. Im Allgemeinen liegt das Verhalten der Lehrpersonen nahe dem Stichprobendurchschnitt, obgleich insgesamt weniger verletzend und ambivalent agiert wird. Besonders häufig sind Lehrkräfte dieses Clusters in Grundschulen und in sozial heterogenen Gebieten zu finden. Knapp die Hälfte der Lehrpersonen wurde in ihrem Verhalten als diskontinuierlich beschrieben, während bei der Untersuchung der Homogenität der Variablen erstmals eine heterogene Variable auffällt, die jedoch mit einem Mittelwert von 0,2 Prozent keine zentrale Rolle bei der Charakterisierung des Handlungsmuster spielt. 7.3.5

Cluster 4: Die Anerkennenden

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 4 (Die Anerkennenden) Dem vierten Cluster wurden 26 Lehrpersonen (10,7 Prozent der Gesamtstichprobe, vgl. Tabelle 9) zugeordnet. Berücksichtigt man die Variationskoeffizienten (vgl. Tabelle 18), erhält man acht Variablen, die mit einem Wert zwischen 2,0 und 2,9 moderat erhöht sind (vgl. Kapitel 7.3.1). Dabei handelt es sich um die Variablen ambivalente Rückmeldung, anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…, destruktive Hilfeanleitung, destruktive Konsequenz/Strafe und den Anerkennungsgrad sehr verletzend. Mit einem Wert zwischen 3,0 und 3,9 liegen die Variablen ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme und passives Verhalten im relativ erhöhten Bereich (vgl. Kapitel 7.3.1). Beide Variablen beschreiben das vierte Cluster mit einem Mittelwert von 0,4 bzw. 0,5 Prozent und einem Maximalwert von 6,3 bzw. 6,1 nur gering und sind somit nicht von besonderer Bedeutung für die Charakterisierung des Handlungsmusters. Eine Analyse der Variablenverteilung ist somit nicht notwendig. Auffällig ist der Variationskoeffizient der Variable ambivalente Konsequenz, der mit einem Wert von 5,1 relativ hoch ist. Berücksichtigt man jedoch den Maximalwert von 0,9 Prozent und den Mittelwert von 0,0 Prozent, wird deutlich, wie marginal diese Variable wiederum für die Beschreibung des Clusters ist. Alles in allem hat keine für das Cluster bedeutsame Variable einen erhöhten Variationskoeffizienten.

158

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Minimum

Maximum

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

Tabelle 18: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 4.

0,0

39,8

16,2

9,3

0,6

2,421

0,02

23,6

78,6

53,6

12,7

0,2

9,986

0,00

Neutral

0,0

46,7

24,1

13,3

0,5

-3,560

0,02

Leicht verletzend

0,0

18,2

4,4

4,8

1,1

-11,034

0,00

Sehr verletzend

0,0

3,9

0,4

1,1

2,6

-23,013

0,00

Ambivalent

0,0

6,3

1,2

2,2

1,8

-10,408

0,00

Grad der Anerkennung Sehr anerkennend Leicht anerkennend

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

44,4

12,0

11,1

0,9

1,549

0,13

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

9,3

2,1

3,0

1,4

-2,830

0,01

Empathisches Vorgehen

0,0

6,3

1,6

2,2

1,4

0,463

0,65

Konstruktive Anleitung

0,0

82,5

26,5

20,6

0,8

3,220

0,00

Positive Rückmeldung

19,2

78,6

43,3

13,4

0,3

6,749

0,00

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

7,4

0,7

1,8

2,8

-5,977

0,00

Destruktive Konsequenz/ Strafe

0,0

7,4

0,9

2,0

2,2

-11,173

0,00

159

Minimum

Maximum

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

6,1

0,4

1,3

2,9

-6,375

0,00

Passives Verhalten

0,0

6,1

0,5

1,6

3,2

-9,970

0,00

Destruktive Rückmeldung

0,0

11,1

2,9

3,2

1,1

-12,868

0,00

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

0,9

0,0

0,2

5,1

-55,160

0,00

Ambivalente Rückmeldung

0,0

5,6

0,6

1,4

2,4

-4,258

0,00

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

6,3

0,4

1,3

3,8

-1,685

0,10

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die Anerkennenden) Das Handlungsmuster wird durch einen sehr hohen Anteil anerkennenden Verhaltens von fast 70 Prozent verbunden mit einem marginalen Anteil verletzenden Verhaltens von unter fünf Prozent charakterisiert. Lehrkräfte, die diesem Cluster zugeordnet sind, verletzen also beinahe nie bzw. „nur“ beiläufig, da fast alle Verletzungen (4,4 Prozent) als leicht verletzend eingestuft sind (vgl. Tabelle 9). Bei zehn von 26 Lehrpersonen, die dieses Cluster beinhaltet, wurden überhaupt keine verletzenden Interaktionen erfasst.41 Die Werte der verletzenden Anerkennungsgrade liegen also weit unterhalb der Durchschnittswerte der Gesamtstichprobe, während 41

Dabei handelt es sich um die Lehrkräfte 59, 129, 164, 167, 193, 197, 198, 221, 224 und 242 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

160

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

das Ausmaß anerkennenden Verhaltens, vor allem das leicht anerkennende Verhalten mit 53,6 Prozent, weit darüber liegt (vgl. Abbildung 9). Neutrales Verhalten wird weniger als im Durchschnitt gezeigt und macht mit einem Wert von 24,1 Prozent knapp ein Viertel der Interaktionen aus. Ambivalentes Verhalten ist mit nur 1,2 Prozent ebenfalls unterdurchschnittlich ausgeprägt und ist somit von geringer Bedeutung für das Cluster. Alle Anerkennungsgrade weichen dabei signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 18). Aufschlussreich ist die Tatsache, dass nicht alle anerkennenden Interaktionsformen überdurchschnittlich ausgeprägt sind, wie man erwarten könnte, sondern sich auf ausgewählte Formen konzentrieren. So weichen die Variablen konstruktive Konsequenz und empathisches Vorgehen nicht – wie die anderen anerkennenden Interaktionsformen – signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 18). Die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern ist mit 2,1 Prozent sogar leicht unterdurchschnittlich ausgeprägt. Hingegen weichen die Variablen konstruktive Anleitung mit 26,5 und positive Rückmeldung mit 43,3 Prozent sehr stark nach oben vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab. Diese Durchschnittswerte sind beachtlich und lassen eine deutliche Tendenz erkennen. Betrachtet man die ursprünglichen „INTAKT“-Variablen (vgl. Tabelle 6) ergeben sich etwa neun Prozent für sinnvolle Hilfe, knapp 15 Prozent für konstruktive Anweisung und drei Prozent für Selbstständigkeit, Kreativität fördern. Der bemerkenswerte Anteil an positiven Rückmeldungen von insgesamt 43 Prozent verteilt sich hauptsächlich auf 15 Prozent freundliche Kommentare und knapp 20 Prozent Lob und Belohnungssysteme, während positive Zuschreibungen mit etwas mehr als einem Prozent, freundliche Handlungen mit knapp sechs und freundlicher Körperkontakt mit etwa zwei Prozent einen deutlich geringeren Anteil ausmachen. Die Tatsache, dass kaum verletzendes Verhalten gezeigt wird, zeigt sich auch in den verletzenden Interaktionsformen, die ausnahmslos das Signifikanzniveau erreichen und dabei im Vergleich zum Mittelwert der Gesamtstichprobe ausnahmslos unterdurchschnittlich ausgeprägt. Mit 2,9 Prozent machen destruktive Rückmeldungen den größten Anteil aus, obgleich sie immer noch stark unterdurchschnittlich ausgeprägt sind (vgl. Abbildung 11). Die ambivalenten Interaktionsformen sind mit je unter einem Prozent Ausprägung nicht zentral beschreibend für das Cluster.

161

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Beispielszene des vierten Clusters (Die Anerkennenden) Wiederum soll die folgende Beispielszene das Handlungsmuster veranschaulichen. Diese findet sich in der folgenden Tabelle 19. Tabelle 19: Feldvignette, Lehrerin 26, Szene 316, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule mit Einzugsgebiet mit niedrigem sozioökonomischem Status.

Beschreibung der Szene

Interpretation

Introspektion

A1

Frau Fischer schaut zu Schülerin Saskia und fragt freundlich: „Willst du kurz erzählen, was du am Sonntag bei deiner Kommunion gemacht hast?“ Saskia schaut auf den Boden und reagiert nicht. Frau Fischer sagt freundlich: „Die Schüler wissen nicht, was eine Kommunion ist und würden sich freuen, wenn du es ihnen erzählst!“ Da Saskia weiterhin keine Reaktion zeigt, sagt Frau Fischer freundlich: „Vielleicht erzählst du es uns dann morgen, ja!“ Saskia schaut auf den Boden.

Frau Fischer zeigt Ich bin überviel Verständnis der fordert und erSchülerin Saskia ge- freut. genüber. Sie motiviert Saskia zu einer Antwort, leider ohne Erfolg. Als die Schülerin immer noch nichts sagen will, stellt sie Frau Fischer nicht bloß, sondern gibt ihr die Möglichkeit das nächste Mal darüber zu sprechen.

+1

Zunächst ermutigt Frau Fischer die Lernende, von ihrer Kommunion zu berichten. Da dies ein besonderes Ereignis darstellt, möchte sie auch Saskia, deren Schüchternheit sie vermutlich kennt, darüber berichten lassen. Als Saskia zurückhaltend auf den Boden sieht, versucht sie ein zweites Mal, sie zu ermutigen, bleibt jedoch erfolgslos. Saskia bleibt stumm. Anstatt sie zu bedrängen, lässt die Lehrerin daher von ihr ab und eröffnet Saskia die Möglichkeit, sich ein anderes Mal dazu zu äußern. Frau Fischer ermutigt Saskia zwar, zwingt sie aber nicht, sondern respektiert ihre Grenzen, ohne sie vor den anderen SchülerInnen in Verlegenheit zu bringen. Saskia möchte sich nicht vor der gesamten Klasse äußern, was sich durch einen Blick auf den Boden sowie das scheinbare Unvermögen, sich verbal zu äußern, zeigt. Auch nach wiederholter Anregung durch die Lehrerin zeigt sie nur

162

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

schüchterne Reaktionen. Vermutlich ist ihr die Situation unangenehm. Als die Lehrerin von ihr ablässt, fühlt sie sich vermutlich erleichtert, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Für die SchülerInnen, die diese Situation beobachten, gestaltet sich diese vermutlich wertschätzend. Eine angenehme Arbeitsatmosphäre wird geschaffen, in der die persönlichen Befindlichkeiten der Lernenden durch die Lehrkraft berücksichtigt werden. Die SchülerInnen können Vertrauen zur Lehrerin fassen, sich darauf verlassen, auch in Momenten schwachen Selbstbewusstseins und schwacher Leistungen, Unterstützung zu erhalten. Die vorgestellte Feldvignette veranschaulicht ein als leicht anerkennend eingestufte Interaktion und wurde als freundliche Handlung codiert. Beschreibung der Lehrkräfte des vierten Clusters (Die Anerkennenden) Dem vierten Cluster werden insgesamt 26 Lehrkräfte42 zugeordnet, wobei acht (30,8 Prozent) männlich und 18 (69,2 Prozent) weiblich sind. Damit ist der Anteil von Lehrern in diesem Cluster etwa doppelt so hoch wie im Stichprobendurchschnitt. Die Lehrpersonen werden durch insgesamt 935 Feldvignetten beschrieben und wurden nur an zwei Schulformen beobachtet: 18 (69,2 Prozent) unterrichteten an Grundschulen und acht (30,8 Prozent) an Gymnasien. Somit ist der Anteil an GymnasiallehrerInnen mit knapp 31 statt 18,2 Prozent deutlich höher als in der Gesamtstichprobe, während der Anteil an GrundschullehrerInnen um etwa sieben Prozent geringer ist als im Durchschnitt. Sieben Lehrkräfte (26,9 Prozent) des Clusters arbeiten an einer Privatschule, womit das vierte Cluster im Durchschnitt liegt. Dies gilt ebenso für den Anteil an Schulen mit besonderem Schulprofil, der mit fünf Lehrpersonen bei 19 Prozent liegt. Zwei (7,7 statt 10,3 Prozent) LehrerInnen arbeiteten an einer Montessorisowie je einer (3,9 Prozent) an einer Waldorf-, einer katholischen und einer internationalen Schule, womit die Prozentwerte der drei letztgenannten Ausprägungen etwas höher sind als im Stichprobendurchschnitt, wenngleich die geringe Anzahl der Lehrpersonen zu beachten ist. Hinsichtlich des Einzugsgebiets ist festzuhalten, dass zwölf (46,1 Prozent) Lehrkräfte in einem Gebiet mit einem bildungsnahen bzw. hohen sozioökonomischen Status arbeiteten, zehn (38,5 Prozent) in einem Einzugsgebiet mit einem 42

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 4 zugeordnet: 26, 27, 30, 59, 76, 107, 129, 136, 147, 151, 162, 164, 167, 193, 196, 197, 198, 201, 212, 214, 215, 221, 222, 224, 227 und 242 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

163

heterogenen und vier (15,4 Prozent) mit einem niedrigen sozioökonomischem Status. Somit sind die Lehrenden des vierten Clusters vermehrt in Einzugsgebieten mit bildungsnahem bzw. hohem und vermindert in Gebieten mit heterogenem und niedrigem sozioökonomischem Status zu verzeichnen. Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die Anerkennenden) Sechs Lehrkräfte des Clusters wurden an verschiedenen Tagen und zwei in verschiedenen Lerngruppen beobachtet, wobei Lehrerin 107 in beiden Fällen erfasst wurde. Sie wurde an einer staatlichen Grundschule in den Fächern Mathematik, Musik, Deutsch, Sport, Religion und Kunst sowie fächerübergreifendem Unterricht und anderen Fächern in zwei zweiten Klassen beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang), wurde an vier Tagen hospitiert und weist sechs diskontinuierliche Variablen auf. Dabei handelt es sich um die Anerkennungsgrade sehr (37,1 und 66,7 Prozent) und leicht anerkennend (16,7 und 34,6 Prozent) sowie neutral (8,3 und 32,9 Prozent) und die anerkennenden Interaktionsformen konstruktive Konsequenz (5,3 und 16,4 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (26,3 und 3,8 Prozent) und positive Rückmeldung (33,3 und 44,2 Prozent) (vgl. Tabelle A – 2 im Anhang). Anders als in vorangegangenen Clustern kann bei Lehrerin 107 jedoch keine Tendenz an einem bestimmten Tag festgelegt werden. Sie ist die einzige Lehrkraft, die in diesem Cluster als diskontinuierlich eingeordnet werden kann, also die einzige, die mindestens sechs diskontinuierliche Variablen an verschiedenen Tagen aufweist. Lehrerin 221 weist hingegen ausschließlich kontinuierliche Variablen auf und gehört damit zu den insgesamt fünf kontinuierlichen Lehrkräften des Clusters in Hinblick auf verschiedene Tage. Sie wurde im Fach Deutsch an einer staatlichen Grundschule mit Montessoriprofil in einer ersten Klasse an zwei verschiedenen Tagen beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Betrachtet man wiederum Lehrerin 107 in Bezug auf die vier verschiedenen Lerngruppen, in denen sie erfasst wurde, erhöht sich die Anzahl der diskontinuierlichen Variablen auf acht. Davon betroffen sind vier von sechs Anerkennungsgraden: sehr (54,1 und 24,6 Prozent) und leicht anerkennend (13 und 40 Prozent), neutral (zehn und 42 Prozent) und leicht verletzend (0,0 und 13 Prozent) sowie die Interaktionsformen konstruktive Konsequenz (12,3 und 26,3), konstruktive Anleitung (20,5 und 47,4 Prozent), positive (26,3 und 42,6 Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 13,7 Prozent). Vor allem die Interaktion mit Lerngruppe D fällt dabei ins Auge, da Lehrerin 107 bei dieser mit 37,6 Prozent verhältnismäßig selten anerkennt und mit 15,9 Prozent häufig verletzt (vgl. Tabelle A - 3 im An-

164

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

hang). Lehrer 196,43 der auch in mehreren Lerngruppen erfasst wurde, weist mit sieben diskontinuierlichen Variablen ebenfalls einen hohen Anteil auf. Zusammenfassung des vierten Clusters (Die Anerkennenden) Das vierte Cluster umfasst 26 Lehrkräfte und ist durch ein hohes Maß an Anerkennung gemeinsam mit fast vollständig fehlender Verletzung charakterisiert. Verteilt auf den Stichprobendurchschnitt fällt dabei der hohe Anteil an Lehrern sowie der hohe Anteil an Gymnasiallehrkräften und Lehrpersonen aus Einzugsgebieten mit hohem sozioökonomischem Status auf. Mit insgesamt acht relativ heterogenen Variablen bezüglich des Variationskoeffizienten sind die Variablen weniger homogen als in den vorangegangenen Clustern. Die Kontinuität der Lehrkräfte ist an den verschiedenen Tagen mit einer Anzahl von insgesamt sechs Lehrpersonen (davon eine diskontinuierlich) relativ stark. Beide in verschiedenen Lerngruppen erfassten Lehrkräfte zeigen hingegen ein diskontinuierliches Verhalten. 7.3.6

Cluster 5: Die fordernd Anerkennenden

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 5 (Die fordernd Anerkennenden) Dem fünften Cluster wurden 11 Lehrpersonen (4,5 Prozent des Datensatzes, vgl. Tabelle 9) zugeordnet. Sechs Variablen weisen einen Variationskoeffizienten von mindestens 2,0 auf (vgl. Tabelle 20). Dabei sind die Variablen destruktive Hilfeanleitung, anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… und passives Verhalten mit Werten zwischen 2,1 und 2,4 dem moderaten Bereich zuzuordnen (vgl. Kapitel 7.1). Die Anerkennungsgrade sehr verletzend und ambivalent sowie die Interaktionsform ambivalente Konsequenz liegen mit einem Wert von 3,3 im leicht erhöhten Bereich. Alle drei Variablen sind mit einem sehr niedrigen Mittelwert zwischen 0,4 und 0,6 Prozent sowie Maximalwerten zwischen 4,2 und 6,6 Prozent von nur marginaler Bedeutung für das Cluster und müssen aus diesem Grund nicht eingehender analysiert werden. Insgesamt ist also festzustellen, dass keine für das Cluster bedeutsame Variable einen erhöhten Variationskoeffizienten aufweist.

43

Lehrer 196 wurde in zwei zwölften Klassen im Fach Politische Bildung an einem staatlichen Gymnasium beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

165

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Standardabweichung

Variationskoeffizient

11,8

43,8

25,3

9,7

0,4

4,586

0,00

Leicht anerkennend

17,7

56,4

40,7

12,6

0,3

3,153

0,01

Neutral

7,7

70,6

22,8

18,5

0,8

-1,896

0,09

Leicht verletzend

0,0

24,2

10,2

10,9

1,1

-1,389

0,20

Sehr verletzend

0,0

6,6

0,6

2,0

3,3

-8,343

0,00

Ambivalent

0,0

4,2

0,4

1,3

3,3

-14,048

0,00

T-Wert

Mittelwert

Sehr anerkennend

Minimum

Maximum

Signifikanzniveau (2-seitig)

Tabelle 20: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 5.

Grad der Anerkennung

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

25,6

9,7

9,2

0,9

0,406

0,69

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

2,6

45,8

17,3

10,9

0,6

4,093

0,00

Empathisches Vorgehen

3,3

16,7

8,9

3,9

0,4

6,368

0,00

Konstruktive Anleitung

6,7

62,5

29,3

16,3

0,6

6,368

0,01

Positive Rückmeldung

23,1

92,3

43,7

18,5

0,4

3,250

0,01

2,1

5,0

2,4

-0,468

0,65

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

15,4

166

Maximum

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

Destruktive Konsequenz/ Strafe

0,0

20,0

5,9

8,4

1,4

0,283

0,78

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

10,0

1,7

3,6

2,1

-0,363

0,72

Passives Verhalten

0,0

1,3

0,2

0,5

2,2

-23,714

0,00

Destruktive Rückmeldung

0,0

34,1

6,3

10,3

1,6

-1,506

0,16

T-Wert

Minimum

Signifikanzniveau (2-seitig)

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

4,2

0,4

1,3

3,3

-4,280

0,00

Ambivalente Rückmeldung

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

--

--44

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

--

--

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die fordernd Anerkennenden) Wie das vierte fällt auch das fünfte Cluster durch überdurchschnittlich anerkennendes sowie unterdurchschnittlich verletzendes Verhalten auf (vgl. Abbildung 9). Es ähnelt dem vierten Cluster also inhaltlich und wird daher im Folgenden zum Zweck der Abgrenzung teilweise vergleichend zu diesem beschrieben. 44

Der T-Wert kann nicht berechnet werden, da die Standardabweichung gleich 0 ist bzw. alle Fälle den gleichen Wert annehmen (Brosius, 2013, S. 485).

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

167

Anerkennendes Verhalten umfasst beim fünften Handlungsmuster 66 Prozent der Interaktionen und kommt damit den Werten des vierten Clusters nah (69,7 Prozent). Allerdings ist eine unterschiedliche Zusammensetzung anerkennenden Verhaltens festzustellen, da mit über 25 Prozent etwa jede vierte Interaktion in Cluster 5 als sehr anerkennend codiert wurde, wohingegen sehr anerkennendes Verhalten im vierten Cluster mit 16,2 Prozent deutlich weniger ausgeprägt ist (vgl. Tabelle 9). Ähnlich wie bei Cluster 4 sind das neutrale und das ambivalente Verhalten unterdurchschnittlich ausgeprägt, wenngleich der Anerkennungsgrad neutral nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 20). Das ambivalente Verhalten wird im fünften Handlungsmuster mit 0,4 Prozent sogar von allen Clustern am wenigsten gezeigt. Leicht verletzendes Verhalten wird mit 10,2 Prozent deutlich häufiger gezeigt als in Cluster 4 (4,4 Prozent), ist aber im Vergleich zum Mittelwert der Gesamtstichprobe immer noch tendenziell unterdurchschnittlich ausgeprägt, wenngleich es nicht signifikant von diesem abweicht (vgl. Tabelle 20). Sehr verletzendes Verhalten wird mit 0,6 Prozent wie bei Cluster 4 beinahe nie gezeigt. Unterschiede zwischen den beiden überdurchschnittlich anerkennenden Clustern 4 und 5 zeigen sich darüber hinaus in den Interaktionsformen. Zwar sind positive Rückmeldungen mit etwa 43,5 und konstruktive Anleitungen mit 29,3 Prozent bei beiden Clustern deutlich stärker ausgeprägt als im Durchschnitt, jedoch ist in Cluster 5 die Variable konstruktive Konsequenz um zwei Prozentpunkte weniger ausgeprägt und weicht als einzige anerkennende Interaktionsform nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab (vgl. Tabelle 20). Des Weiteren ist die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern mit 17,3 (statt 2,1 Prozent im vierten Cluster) deutlich stärker ausgeprägt. Diese Variable weist in Cluster 5 den mit Abstand höchsten Wert aller Handlungsmuster auf. Gleiches gilt für empathisches Vorgehen mit 8,9 Prozent. Beide Variablen umfassen verstärkt anerkennendes Verhalten, das über das Ziel der Wissensvermittlung hinausgeht und primär die Förderung des Sozialverhaltens und des Klassenklimas bzw. persönliche Unterstützung beinhaltet. Analysiert man die ursprünglichen „INTAKT“-Variablen lässt sich erkennen, dass sich die Variable aus etwa 5,5 Prozent in respektvolle Distanz und 3,4 Prozent Trost zusammensetzt (vgl. Tabelle 6). Die Förderung anerkennenden Verhaltens durch die Lernenden erfolgt in erster Linie durch die Förderung von Kooperation mit 8,9 und Fairness mit fünf Prozent. Die beiden anderen ursprünglichen „INTAKT“-Variablen anerkennende Rituale und Missachtung durch MitschülerInnen unterbinden machen nur einen marginalen Anteil mit je unter drei Prozent aus. Untersucht man die Variablen positive Rückmeldung und konstruktive Anleitung nach Tabelle 6, erhält

168

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

man folgende Werte: Positive Rückmeldungen bestehen bei diesem Cluster hauptsächlich aus Lob und Belohnungssystemen mit 15,8 und freundlichen Kommentaren mit 18,5 Prozent sowie freundlichen Handlungen mit 7,3 Prozent. Die ursprünglichen „INTAKT“-Variablen freundlicher Körperkontakt mit 2,1 und positive Zuschreibungen zu einem Kind mit 0,9 sind hingegen weniger ausgeprägt. Sinnvolle Hilfe mit 15,2 und konstruktive Anleitungen mit 13,8 Prozent bilden den größten Anteil der Variablen konstruktive Anweisungen, während die Förderung von Selbstständigkeit mit 2,9 Prozent nur einen geringen Anteil ausmacht. Bei den verletzenden Interaktionsformen ist zu bemerken, dass, obwohl dieses Cluster insgesamt deutlich weniger verletzendes Verhalten aufweist als der Mittelwert der Gesamtstichprobe, die Variable destruktive Konsequenz mit 5,9 Prozent dennoch überdurchschnittlich ausgeprägt ist, wenngleich sie – wie alle verletzenden Interaktionsformen mit Ausnahme von passivem Verhalten – das Signifikanzniveau nicht erreicht (vgl. Tabelle 20). Darüber hinaus wird verletzendes Verhalten vor allem durch destruktive Rückmeldungen mit 6,3 Prozent gezeigt. Alle anderen Variablen sind mit einem Wert unter drei Prozent sehr gering und stets tendenziell unterdurchschnittlich ausgeprägt. Beispielszene des fünften Clusters (Die fordernd Anerkennenden) In der folgenden Tabelle 21 soll wiederum eine Beispielszene den Charakter des Clusters verdeutlichen. Tabelle 21: Feldvignette, Lehrerin 133, Szene 100, Mathematikunterricht, Klasse 2, private Grundschule mit internationalem Schulprofil und Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status.

Beschreibung der Szene

Interpretation Introspektion A1

Frau Vierk befindet sich mit einigen Kindern schon im Raum. Conny weint. Frau Vierk: „Hat dich jemand geärgert?“ Conny schüttelt den Kopf. Frau Vierk: „Tut dir was weh?“ Conny schüttelt den Kopf.

Frau Vierk Ich würde hockt sich dazu gerne helfen und beruhigt sie, ist dabei ruhig, freundlich und liebevoll.

+2

169

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Beschreibung der Szene

Interpretation Introspektion A1

Frau Vierk: „Ist was Schlimmes zu Hause passiert?“ Conny schüttelt den Kopf. Frau Vierk: „Ist was mit deinem Fahrrad?“ Conny nickt. Frau Vierk: „Darfst du nicht mehr fahren?“ Conny schnieft: „Die Kette ist ab.“ Frau Vierk: „Ich mach sie dir in der Pause wieder rauf. Jetzt beruhige dich erstmal wieder. Constantin ist das auch schon passiert. Da kannst du ihn fragen.“

Die Lehrerin ist sichtlich bemüht, die Ursache für Connys Weinen herauszufinden, hockt sich sogleich neben sie und erfragt verschiedene Möglichkeiten bis sie die richtige Antwort gefunden hat. Sofort bietet sie Conny Hilfe an, indem sie zunächst ankündigt, die Kette eigenhändig wieder zu befestigen und zugleich auf Constantin verweist, der bereits Erfahrungen mit abgesprungenen Ketten hat. Dabei verzichtet Frau Vierk auf bagatellisierende Aussagen und nimmt Conny mit ihrem Anliegen sehr ernst. Durch das starke Bemühen der Lehrerin wird klar, dass ihr die Schülerin sichtlich am Herzen liegt und sie über den Unterricht hinaus bereit ist, den SchülerInnen unterstützend zur Seite zu stehen. Für Conny gestaltet sich die Situation somit liebevoll und unterstützend. Sie bemerkt vermutlich, wie stark Frau Vierk um ihr Wohlergehen bemüht ist und freut sich über die angebotene Unterstützung. Die restliche Klasse beobachtet eine unterstützende Situation und erlebt die Lehrerin nicht nur als Wissensvermittlerin, sondern auch als Trösterin und Helferin. Somit wird das Klassenklima positiv beeinflusst. Die Szene veranschaulicht eine als sehr anerkennend kategorisierte Interaktionsszene und wurde mit den anerkennenden Interaktionsformen freundliche Handlung und sinnvolle Hilfe codiert.

170

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Beschreibung der Lehrkräfte des fünften Clusters (Die fordernd Anerkennenden) Die 11 Lehrkräfte45 des Clusters werden durch insgesamt 341 Szenen beschrieben. Drei Männer (27,3 Prozent) und acht Frauen (72,7 Prozent) sind in diesem Cluster beschrieben, wobei der Anteil an Männern um zehn Prozent höher bzw. der Anteil an Frauen um zehn Prozent niedriger ist als im Durchschnitt der Gesamtstichprobe. Wiederum wurden die Lehrenden an nur zwei Schulformen beobachtet. Sieben (63,3 Prozent) arbeiteten an einer Grundschule und vier (36,4 Prozent) an einem Gymnasium. Damit ist der Anteil an Grundschulen geringer, während der Anteil an Gymnasien höher ist als im Stichprobendurchschnitt. Von den elf Schulen waren fünf Privat- (45,5 Prozent) und sechs (54,5 Prozent) staatliche Schulen. Damit ist der Durchschnittsanteil an Privatschulen von knapp 20 Prozent im fünften Cluster mehr als doppelt so hoch. Ähnlich verhält es sich mit dem Anteil an Schulen mit besonderem Schulprofil. Von vier Schulen sind zwei (18,2 statt 2,9 Prozent) mit internationaler und je eine (9,1 Prozent) mit katholischer bzw. evangelischer Ausrichtung. Damit ist der Anteil wiederum von 19,4 auf 36,4 Prozent beinahe verdoppelt. Obgleich der Anteil an Schulen mit besonderem Schulprofil besonders hoch ist, ist die Montessori-Ausrichtung als am meisten vertretenes Profil in diesem Cluster gar nicht präsent. Fünf (45,5 statt 44,6 Prozent) Lehrpersonen wurden in einem Einzugsgebiet mit heterogenem, vier (36,4 statt 18,6 Prozent) mit einem niedrigen und zwei (18,2 statt 28,5 Prozent) in einem Gebiet mit hohem sozioökonomischem Status beobachtet. Festzustellen ist also, dass hinsichtlich der Einzugsgebiete die Lehrenden des Clusters 5 tendenziell in Gebieten mit niedrigerem sozioökonomischem Status beobachtet wurden. Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die fordernd Anerkennenden) Hinsichtlich der Kontinuität wurden drei Lehrkräfte an mehreren Tagen und zwei in verschiedenen Lerngruppen beobachtet, wobei Lehrerin 165 und Lehrer 183 in beiden Kontinuitätstabellen zu finden sind (vgl. Tabelle A - 2 und A - 3 im Anhang). Insgesamt wurden also drei Lehrkräfte erfasst. Bei Lehrerin 165 wurde in zwei jahrgangsübergreifenden Klassen im Fach Sport an einer privaten Grundschule hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Sie verhält sich an verschiedenen Tagen zwar tendenziell kontinuierlich, weist aber 45

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 5 zugeordnet: 20, 110, 133, 140, 143, 161, 165, 171, 183, 184 und 240 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

171

fünf diskontinuierliche Variablen auf. Sehr und leicht anerkennendes Verhalten schwanken zwischen 21,7 und 50 bzw. 65,2 und 43,8 Prozent, während alle anderen Anerkennungsgrade um weniger als zehn Prozent voneinander abweichen (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang). Auch in Bezug auf die Interaktionsformen zeigt sie weiterhin tendenziell kontinuierliches Verhalten. Die Variablen konstruktive Konsequenz (26,3 und 50 Prozent), empathisches Vorgehen (10,5 und 20 Prozent) und konstruktive Anleitung (21,1 und 0,0 Prozent) sind allerdings als diskontinuierlich einzuordnen. Lehrer 183 wurde in einer achten und einer elften Klasse in den Fächern Sport und Geschichte an einem staatlichen Gymnasium beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Er verhält sich in Hinblick auf die Anerkennungsgrade und Interaktionsformen an verschiedenen Tagen ebenfalls relativ kontinuierlich. Lediglich die Variable positive Rückmeldung schwankt zwischen 33,3 und 42,3 Prozent um neun Prozentpunkte, liegt dabei aber immer noch unter zehn Prozent Differenz (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang). Insgesamt zeigen drei von drei Lehrkräften ein verhältnismäßig kontinuierliches Verhalten, wobei zwei Lehrpersonen allerdings fünf diskontinuierliche Variablen aufweisen wie Lehrerin 165. Obgleich Lehrer 183 an mehreren Tagen ein relativ kontinuierliches Verhalten zeigt, werden Schwankungen deutlich, betrachtet man sein Handeln in unterschiedlichen Lerngruppen. Differenzen von mehr als zehn Prozentpunkten weisen die Variablen sehr und leicht anerkennendes (30,2 und 15,8 bzw. 39,6 und 26,3 Prozent), sehr und leicht verletzendes (18,9 und 31,6 bzw. 1,9 und 13,2 Prozent) Handeln sowie destruktive Rückmeldungen (9,1 und 40,4 Prozent) und konstruktive Anleitungen (23,9 und 3,5 Prozent) auf. In der Lerngruppe A ist bei ihm insgesamt ein anerkennenderes Verhalten zu beobachten, das in allen Variablengruppen deutlich wird (vgl. Tabelle A - 3 im Anhang), Lehrerin 165 zeigt wie Lehrer 183 in verschiedenen Lerngruppen ein diskontinuierliches Verhalten. Anders als bei Lehrer 183 ist jedoch nicht zu sehen, dass eine Lerngruppe insgesamt anerkennender behandelt wird. Differenzen von über zehn Prozent finden sich in fast allen Variablen. Ausnahmen bilden die Variablen neutrales Verhalten (14,3 und 5,6 Prozent) und anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (3,6 und 6,3 Prozent). Insgesamt zeigen sich also zwei von zwei Lehrkräften in Bezug auf verschiedene Lerngruppen diskontinuierlich.

172

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Zusammenfassung des fünften Clusters (Die fordernd Anerkennenden) Zusammenfassend handelt es sich bei dem elf Lehrpersonen umfassenden Cluster 5 um ein Cluster mit sechs heterogenen Variablen, wobei drei mit einer moderaten und drei mit einer leicht erhöhten Heterogenität festgestellt wurden, wobei Letztgenannte keine Aussagekraft für die Charakterisierung des Handlungsmusters haben. Das Cluster zeichnet sich durch einen hohen Anteil sehr anerkennenden Verhaltens aus sowie durch anerkennende Interaktionsformen, die das allgemeine Sozialverhalten der Lernenden im Vergleich zu anderen Clustern verstärkt fördern. Das Verhalten der Lehrkräfte basiert dabei zu einem relativ hohen Anteil auf Respekt, Fairness und Kooperation innerhalb der Klasse. Die Lehrenden des Clusters sind tendenziell eher männlich und arbeiten an Gymnasien sowie an Privatschulen und Schulen mit besonderem Schulprofil. In Bezug auf die Kontinuität zeigt sich das Cluster hinsichtlich der verschiedenen Lerngruppen diskontinuierlich, während das Verhalten an verschiedenen Tagen relativ kontinuierlich ist. Mit nur elf zugewiesenen Lehrpersonen ist es zusammen mit dem siebten Handlungsmuster das kleinste Cluster. 7.3.7

Cluster 6: Die Ambivalenten

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 6 (Die Ambivalenten) Insgesamt umfasst das sechste Cluster 45 Lehrpersonen (18,6 Prozent der Gesamtstichprobe, vgl. Tabelle 9). Wie man in Tabelle 22 sieht, ist in Hinblick auf den Variationskoeffizienten die erhöhte Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern… mit einem Wert von 3,0 festzustellen. Mit einem Mittelwert von 1,0 Prozent beschreibt diese Variable das Cluster jedoch nicht zentral und muss daher nicht näher untersucht werden (vgl. Kapitel 7.3.1). Der Maximumwert von 18,2 Prozent deutet auf einen Ausreißer hin. Wiederum weist keine der für das Cluster bedeutsamen Variablen einen erhöhten Variationskoeffizienten auf.

173

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

Mittelwert

Sehr anerkennend

0,0

60,0

15,9

14,3

0,9

1,944

0,06

Leicht anerkennend

6,7

50,0

27,6

10,4

0,4 -0,719

0,48

Neutral

0,0

71,4

28,2

14,9

0,5 -2,330

0,02

Leicht verletzend

0,0

30,8

11,0

7,9

0,7 -3,201

0,00

Sehr verletzend

0,0

23,5

4,1

5,2

1,3 -1,990

0,05

Ambivalent

0,0

31,6

13,1

5,5

0,4

9,059

0,00

1,1

1,962

0,06

Minimum

Maximum

Standardabweichung

Tabelle 22: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 6.

Grad der Anerkennung

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

50,0

12,5

13,4

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

20,0

3,4

4,4

1,3 -0,646

0,52

Empathisches Vorgehen

0,0

7,1

1,4

2,1

1,5 -0,012

0,99

Konstruktive Anleitung

0,0

41,7

12,0

9,6

0,8 -1,048

0,30

Positive Rückmeldung

0,0

78,6

28,1

16,8

0,6

1,012

0,32

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

15,4

3,2

4,7

1,5

0,545

0,59

Destruktive Konsequenz/Strafe

0,0

11,1

3,4

3,9

1,1 -3,068

0,00

174

Signifikanzniveau (2-seitig)

T-Wert

Variationskoeffizient

Standardabweichung

Mittelwert

Maximum

Minimum

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

0,0

18,2

1,0

3,1

3,0 -2,368

0,02

Passives Verhalten

0,0

9,1

1,9

2,8

1,4 -4,286

0,00

Destruktive Rückmeldung

0,0

28,6

7,0

6,7

1,0 -3,958

0,00

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

23,5

5,6

5,8

1,0

4,164

0,00

Ambivalente Rückmeldung

0,0

14,3

4,5

4,4

1,0

4,075

0,00

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

14,3

2,8

3,6

1,3

3,808

0,00

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die Ambivalenten) Im Bereich der Anerkennungsgrade weist Cluster 6 meistens Werte auf, die nahe an den Durchschnittswerten der Gesamtstichprobe liegen, wobei die Variablen sehr und leicht anerkennend sowie sehr verletzend das Signifikanzniveau – teilweise knapp – verfehlen (vgl. Tabelle 22). Sehr anerkennendes Verhalten zeigt mit 15,9 Prozent jedoch eine Tendenz zu leicht überdurchschnittlicher Ausprägung (vgl. Tabelle 9). Leicht verletzendes und neutrales Verhalten ist hingegen unterdurchschnittlich ausgeprägt. Auffallend ist der Anerkennungsgrad ambivalent, der mit 13,1 Prozent mehr als doppelt so hoch wie der Mittelwert der Gesamtstichprobe ist und das Cluster 6 damit von allen anderen Clustern abhebt (vgl. Abbildung 9). Anlehnend an den überdurchschnittlich ausgeprägten Anerkennungsgrad ambivalent sind auch alle ambivalenten Interaktionsformen deutlich überdurch-

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

175

schnittlich ausgeprägt und erreichen dabei ausnahmslos das Signifikanzniveau (vgl. Tabelle 22). Alle drei Variablen sind gegenüber dem Durchschnitt mehr als verdoppelt, wie man in Abbildung 12 sieht, wobei ambivalente Konsequenzen mit 5,6 Prozent den größten Anteil ausmachen, gefolgt von ambivalenten Rückmeldungen mit 4,5 und ambivalenter Rücksichtnahme mit 2,9 Prozent. Betrachtet man diese Variablen in Hinblick auf ihre ursprüngliche „INTAKT“-Variablen, erhält man folgende Aufteilungen: Ambivalente Konsequenzen basieren auf 2,9 Prozent ambivalente Strenge und 2,3 Prozent ambivalentes Grenzensetzen. Ambivalente Strafen weisen einen Wert von nur 0,5 Prozent auf. Aus den Variablen ambivalente Rücksichtnahme mit 0,7 Prozent und ambivalente Hilfe mit 1,6 Prozent setzt sich die Variable ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme zusammen. Die Variable ambivalente Rückmeldung setzt sich aus insgesamt vier ursprünglichen „INTAKT“Variablen zusammen: 0,9 Prozent ambivalentes Lob/Belohnung, 0,9 Prozent ambivalenter Witz, Humor, 0,5 Prozent ambivalente Kritik sowie 1,9 Prozent ambivalente Zuschreibung (vgl. Tabelle 6). Insgesamt lässt sich also festhalten, dass der hohe Anteil an ambivalentem Verhalten vor allem auf die ursprünglichen „INTAKT“-Variablen ambivalente Strenge, ambivalentes Grenzensetzen und ambivalente Zuschreibung zurückzuführen ist. Obwohl die ambivalenten Interaktionen vergleichsweise hoch ausfallen, dominieren die anderen Interaktionsformen das LehrerInnenhandeln, wie auch bei den anderen Clustern. Alle fünf anerkennenden Interaktionsformen sind tendenziell durchschnittlich ausgeprägt und erreichen das Signifikanzniveau nicht (vgl. Tabelle 22). Ins Auge fällt der Wert der konstruktiven Konsequenz, der mit etwa 12,5 Prozent tendenziell über dem Durchschnitt liegt und im Vergleich zu allen Clustern in Cluster 6 den höchsten Wert annimmt, dabei das Signifikanzniveau jedoch knapp verfehlt. Nimmt man die verletzende Interaktionsform destruktive Konsequenz von knapp 3,5 Prozent sowie die ambivalente Konsequenz hinzu, besteht das LehrerInnenhandeln des sechsten Clusters zu etwa 21,5 Prozent aus durch Konsequenzen geprägtes Handeln. Die dominierende Variable konstruktive Konsequenz besteht dabei aus insgesamt vier ursprünglichen „INTAKT“-Variablen (vgl. Tabelle 6). Es dominieren konstruktives Grenzensetzen mit 4,6 sowie konstruktive Ermahnungen mit 6 Prozent. Auf sinnvolles Aufzeigen von Konsequenzen als ursprüngliche „INTAKT“-Variable entfallen 1,4 Prozent. Vergleicht man diese Analyse mit der vorherigen Untersuchung der ambivalenten Konsequenzen, handelt es sich bei den Konsequenzen also meistens um ein Grenzensetzen ohne Strafen. Der Bereich der verletzenden Interaktionsformen ist fast durchgängig unterdurchschnittlich ausgeprägt, was die Variable destruktive Konsequenzen ein-

176

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

schließt. Eine Ausnahme bildet die Variable destruktive Hilfeanleitung, die mit 3,2 Prozent etwas über dem Durchschnitt liegt, jedoch als einzige verletzende Interaktionsform nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 22). Beispielszene des sechsten Clusters (Die Ambivalenten) Die in der folgenden Tabelle 23 dargestellte Beispielszene soll das eben beschriebene Handlungsmuster veranschaulichen. Tabelle 23: Feldvignette, Lehrerin 1, Szene 7, Deutschunterricht, Klasse 1, staatliche Grundschule, unbekanntes Einzugsgebiet.

Beschreibung der Szene

Interpretation Introspektion

Nach andauernder Unruhe sagt Frau Prävention zur Ribbe: „Ab der nächsten Woche Unruhe wird gibt es eine neue Sitzordnung. Obangesprochen. wohl, eigentlich bräuchte ich nur fünf Einzeltische. Manche Kinder sind mir hier einfach zu laut und reden mir zu viel dazwischen oder mit dem Nachbarn. Leider habe ich hier nicht genügend Platz für Einzeltische. Deswegen muss ich andere Kinder, die immer leise waren, umsetzen. Sei bitte nicht traurig, wenn du eines dieser Kinder bist.“

Ich bin traurig für die SchülerInnen, die alles richtig gemacht haben.

A1 99

Frau Ribbe reagiert mit der Ankündigung einer neuen Sitzordnung auf die vielen Unterrichtsstörungen, die aus ihrer Sicht von einzelnen SchülerInnen ausgingen. Damit zieht sie auf der einen Seite die in ihren Augen notwendigen Konsequenzen für diese Kinder und kommt ihrer Aufgabe nach, für eine ruhige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre für alle Lernenden zu sorgen. Auf der anderen Seite bestraft sie alle Kinder, auch diejenigen, die aus ihrer Sicht immer aufmerksam waren und stets konzentriert gearbeitet haben. Diese Tatsache ist ihr auch bewusst und sie entschuldigt sich dafür mit der Begründung, nicht genügend Platz für Einzeltische

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

177

zu haben. Nichtsdestotrotz werden alle SchülerInnen umgesetzt. Aus der vermuteten Kinderperspektive kann diese Maßnahme sowohl als gerecht für die sich kontraproduktiv verhaltenden als auch als ungerecht für die sich vorbildlich verhaltenden SchülerInnen bewertet werden. Im besten Fall verstehen die Kinder die schwierige Situation der Lehrerin. Möglich ist aber auch, dass sich die vorbildlich verhaltenden Kinder nicht wertgeschätzt und nicht angemessen behandelt fühlen. Zugleich werden die fünf direkt angesprochenen SchülerInnen vor der Klasse fokussiert und man kann davon ausgehen, dass alle Lernenden wissen, wer damit gemeint ist. Auch sie können sich ungerecht behandelt fühlen. Somit könnte das Verhalten der Lehrerin Unmut innerhalb des Klassenverbandes schüren und ein negatives Klassenklima erzeugen. Die Feldvignette veranschaulicht eine als ambivalent eingestufte Interaktion und wurde mit der ambivalenten Interaktionsform ambivalente Strenge/Ermahnung codiert. Beschreibung der Lehrkräfte des sechsten Clusters (Die Ambivalenten) Cluster 6 umfasst 45 Lehrkräfte,46 von denen sechs männlich (13,3 Prozent) und 39 (etwa 86,7 Prozent) weiblich sind, mit insgesamt 1617 Szenen. Damit ist der ohnehin schon geringe Männeranteil innerhalb des Datensatzes in diesem Cluster um weitere drei Prozent geringer. 32 Lehrpersonen (71,1 Prozent) wurden an einer Grundschule und vier Lehrkräfte bzw. 8,9 Prozent an einer Schule der Sekundarstufe I beobachtet, womit der Anteil an Grundschulen geringer und der Anteil an Schulen der Sekundarstufe I deutlich höher ausfällt. Der Anteil an Gesamtschulen mit einer und an Gymnasien mit acht Lehrenden entspricht etwa dem Durchschnitt der Gesamtstichprobe. Sechs Lehrpersonen unterrichteten an einer Privatschule, womit diese mit 13,3 Prozent in diesem Cluster unterdurchschnittlich präsent sind. Ein besonderes Schulprofil weisen sieben Schulen auf, womit mit 15,6 Prozent wiederum eine unterdurchschnittliche Verteilung vorliegt. Vier Montessorischulen (8,9 Prozent), eine Waldorfschule (2,2 Prozent) und zwei evangelische (4,4 Prozent) Schulen sind in Cluster 6 vorhanden, womit die Erstgenannten leicht unterdurchschnittlich und die evangelischen Schulen etwas stärker vertreten sind als im Stichprobendurchschnitt.

46

Folgende Lehrpersonen sind dem Cluster 6 zugeordnet: 1, 2, 3, 8, 13, 18, 37, 39, 41, 44, 46, 48, 49, 52, 53, 56, 57, 60, 65, 93, 97, 101, 103, 112, 114, 119, 120, 128, 134, 139, 141, 145, 148, 159, 179, 185, 187, 191, 211, 213, 220, 228, 234, 235 und 236 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

178

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

In Hinblick auf den sozioökonomischen Status der Einzugsgebiete kommen folgende Zahlen zum Tragen: 11 Schulen (24,4 Prozent) liegen in Gebieten mit einem bildungsnahen bzw. hohen, 20 (44,4 Prozent) mit einem heterogenen, 13 (28,9 Prozent) mit einem niedrigen sozioökonomischem Status.47 Zu bemerken ist dabei das verhältnismäßig geringe Vorkommen von Lehrenden aus einem Gebiet mit bildungsnahem bzw. hohem sowie die deutlich erhöhte Präsenz von Schulen aus Gebieten mit niedrigem sozioökonomischem Status. Das Vorkommen von Schulen in Einzugsgebieten mit heterogenem sozioökonomischem Status liegt dagegen im Durchschnitt. Die Kontinuität des LehrerInnenhandelns (Die Ambivalenten) Im Folgenden sollen die Lehrkräfte in Hinblick auf die Kontinuität des Handelns untersucht werden. Neun Lehrpersonen wurden an verschiedenen Tagen und vier in verschiedenen Lerngruppen erfasst, wobei drei in beiden Tabellen zu finden sind (vgl. Tabelle A - 2 und A - 3 im Anhang). Bei Lehrerin 139 wurde in zwei ersten Klassen in den Fächern Mathe, Deutsch, Sport und einem anderen Unterrichtsfach an einer staatlichen Grundschule hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Sie weist mit acht diskontinuierlichen Variablen an verschiedenen Tagen einen hohen Anteil auf, wobei alle Anerkennungsgrade betroffen sind: sehr (11,5 und 26,9 Prozent) und leicht anerkennend (19,2 und 30,8 Prozent), neutral (11,5 und 23,1 Prozent) sowie leicht (19,2 und 3,8 Prozent) und sehr verletzend (19,2 und 3,8 Prozent) und ambivalent (3,8 und 23,1 Prozent). Darüber hinaus sind die Interaktionsformen konstruktive Konsequenz (0,0 und 10,2 Prozent) und destruktive Hilfeanleitung (23,3 und 0,0 Prozent) betroffen. Es fällt auf, dass an Tag A mit 38,4 Prozent deutlich häufiger verletzend interagiert wurde als an Tag B mit 11,5 Prozent, wobei sich der Anteil anerkennenden Verhaltens insgesamt nur unmerklich – von 46,1 an Tag A zu 42,3 Prozent an Tag B – verändert. Außerdem ist der Anteil ambivalenten Verhaltens an Tag B deutlich erhöht. Von den neun Lehrkräften aus dem sechsten Cluster, die an mehreren Tagen erfasst wurden, weisen fünf ein diskontinuierliches Verhalten wie Lehrerin 139 auf. Die anderen vier Lehrkräfte weisen weniger als sechs diskontinuierliche Variablen auf, wie beispielsweise Lehrerin 49 mit den zwei diskontinuierlichen Variablen leicht anerkennend (39,4 und 50,9 Prozent) und ambivalente Konsequenz (17,4 und 2,4 Prozent) (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang).

47

Ein Einzugsgebiet ist unbekannt.

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

179

Fokussiert man bei Lehrerin 139 hingegen die verschiedenen Lerngruppen erhöht sich die Anzahl diskontinuierlicher Variablen von acht auf 14. Obgleich mit leicht anerkennend als kontinuierlicher Variable ein diskontinuierlicher Anerkennungsgrad weniger vorhanden ist, kommen zahlreiche diskontinuierliche Interaktionsformen hinzu, darunter ambivalente Konsequenz (7,6 und 11,1 Prozent), ambivalente Rückmeldung (0,0 und 22,2 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern (0,0 und 13 Prozent), konstruktive Anleitung (0,0 und 11,1 Prozent), positive Rückmeldung (18,8 und 33,3 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern und passives Verhalten (je 0,0 und 11,1 Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 25 Prozent). Insgesamt ist ein relativ anerkennendes Verhalten von 52,8 Prozent mit einem verhältnismäßig geringen Anteil verletzenden Verhaltens von 11,3 Prozent in Lerngruppe C zu verzeichnen, während es sich in Lerngruppe B andersherum verhält. Drei von vier erfassten Lehrern des Clusters, die in mehreren Lerngruppen erfasst wurden, zeigen ein diskontinuierliches Verhalten. Dies gilt auch für Lehrerin 49, die in Bezug auf die verschiedenen Tage kontinuierlich eingeordnet wurde. Lehrerin 49 wurde in sieben Lerngruppen, darunter jahrgangsübergreifende Klassen sowie eine vierte, sechste und siebte Klasse, im Fach Musik an einem privaten Gymnasium mit Waldorfprofil beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang), wurde in vier Lerngruppen mit mehr als zehn Szenen hospitiert und weist in diesen unterschiedlichen Lerngruppen neun diskontinuierliche Variablen auf: leicht anerkennend (40,9 und 66,7 Prozent), neutral (16,7 und 33,3 Prozent), leicht verletzend (0,0 und 13,6 Prozent) und ambivalent (0,0 und 15,8 Prozent) sowie die Interaktionsformen ambivalente Konsequenz (0,0 und 23,1 Prozent), konstruktive Anleitung (11,1 und 30,8 Prozent), positive Rückmeldung (77,8 und 30,3 Prozent), passives Verhalten (0,0 und zehn Prozent) und destruktive Rückmeldung (0,0 und 12,1 Prozent). Die Unterschiede zwischen den Lerngruppen sind groß. In Lerngruppe A agiert Lehrerin 49 mit 75 Prozent zu einem sehr hohen Anteil anerkennend und zu „nur“ 8,3 Prozent verletzend, während in den Lerngruppen C und D mit je etwa 46 Prozent anerkennendem und 13,3 bzw. 18,1 Prozent verletzendem Verhalten eine deutlich andere Verteilung vorliegt.

180

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Zusammenfassung des sechsten Cluster (Die Ambivalenten) Ein in Bezug auf die Anerkennungsgrade etwa durchschnittliches, jedoch hinsichtlich des ambivalenten Verhaltens überdurchschnittliches Verhalten zeichnet das Handlungsmuster des Clusters aus, das insgesamt 45 Lehrkräfte umfasst und somit das zweitgrößte Cluster ist. Darüber hinaus ist vor allem der hohe Anteil des durch Konsequenzen geprägten Handelns in Höhe von 21,5 Prozent zu bemerken, das sowohl verletzend, anerkennend als auch ambivalent sein kann. Insgesamt sind die Lehrenden dieses Clusters tendenziell eher an Schulen der Sekundarstufe I und in Einzugsgebieten mit niedrigem sozioökonomischem Status zu finden und weniger an Privatschulen oder Schulen mit besonderem Schulprofil. Etwa die Hälfte der LehrerInnen, die an verschiedenen Tagen und drei von vier Lehrpersonen, die in verschiedenen Lerngruppen erfasst wurden, zeigen ein diskontinuierliches Verhalten, was einen verhältnismäßig hohen Anteil darstellt. Hinsichtlich der Homogenität der Variablen sind fünf leicht und eine sehr heterogenen Variable festzustellen. 7.3.8

Cluster 7: Die Laissez-faire-Lehrerinnen

Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 7 (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) Das siebte Cluster umfasst 11 Lehrpersonen (4,5 Prozent der Gesamtstichprobe, vgl. Tabelle 9). In Hinblick auf den Variationskoeffizienten handelt es sich um das Cluster mit den homogensten Variablen, wie Tabelle 24 zeigt. Lediglich die Variable ambivalente Konsequenz liegt mit einem Wert von 2,4 im moderaten Bereich (vgl. Kapitel 7.3.1). Da diese ambivalente Interaktionsform mit einem Mittelwert von 0,6 und einem Maximalwert von 4,9 Prozent das Cluster nur marginal beschreibt, ist eine weitere Untersuchung der Verteilung der Variable nicht notwendig. Es gibt also zusammenfassend keine erhöhte oder gar hohe Variable hinsichtlich des Variationskoeffizienten im siebten Cluster.

181

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

Sehr anerkennend

0,0

25,0

6,4

8,3

1,3

-2,154

0,06

Leicht anerkennend

6,7

56,1

26,8

18,2

0,7

-0,353

0,73

10,5

46,7

31,1

12,9

0,4

-0,588

0,57

Leicht verletzend

2,4

48,7

26,6

14,5

0,5

2,705

0,02

Sehr verletzend

0,0

16,7

6,0

5,8

1,0

0,244

0,81

Ambivalent

0,0

9,8

3,1

3,2

1,0

-2,675

0,02

Minimum

Maximum

Tabelle 24: Untersuchung der einzelnen Variablen von Cluster 7.

Grad der Anerkennung

Neutral

Anerkennende Interaktionsformen Konstruktive Konsequenz

0,0

26,7

10,4

8,1

0,8

0,727

0,48

Anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern

0,0

7,7

1,6

3,0

1,9

-2,471

0,03

Empathisches Vorgehen

0,0

8,3

2,7

3,3

1,2

1,296

0,22

Konstruktive Anleitung

0,0

31,6

11,9

10,9

0,9

-0,492

0,63

Positive Rückmeldung

0,0

37,5

17,8

14,3

0,8

-1,820

0,10

3,6

4,1

1,1

0,670

0,52

Verletzende Interaktionsformen Destruktive Hilfeanleitung

0,0

10,0

182

Minimum

Maximum

Mittelwert

Standardabweichung

Variationskoeffizient

T-Wert

Signifikanzniveau (2-seitig)

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Destruktive Konsequenz/ Strafe

0,0

6,3

2,1

2,3

1,1

-4,448

0,00

Anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern…

8,3

36,8

21,5

8,4

0,4

7,699

0,00

Passives Verhalten

0,0

26,8

11,0

8,4

0,8

2,901

0,02

Destruktive Rückmeldung

0,0

21,3

5,9

8,0

1,4

-2,117

0,06

Ambivalente Interaktionsformen Ambivalente Konsequenz

0,0

4,9

0,6

1,5

2,4

-2,927

0,02

Ambivalente Rückmeldung

0,0

2,6

0,6

1,0

1,8

-3,980

0,00

Ambivalente Hilfe/ Rücksichtnahme

0,0

3,8

1,0

1,5

1,4

0,490

0,63

T-Wert und Signifikanzniveau beziehen sich auf die Abweichung vom Mittelwert der Gesamtstichprobe

Analyse des Handlungsmusters (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) In Hinblick auf die Anerkennungsgrade handeln die Lehrkräfte dieses Clusters je zu etwa einem Drittel anerkennend, neutral und verletzend, wobei die meisten Werte nah am Mittelwert der Gesamtstichprobe liegen und das Signifikanzniveau nicht erreichen (vgl. Tabelle 9, Tabelle 24). Lediglich die Variablen leicht verletzend und ambivalent weichen signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab, wobei die Erstgenannte unter- und die Zweitgenannte überdurchschnittlich

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

183

ausgeprägt ist. Sehr anerkennendes Verhalten ist tendenziell unterdurchschnittlich präsent, verpasst dabei das Signifikanzniveau jedoch knapp (vgl. Tabelle 24). Die Werte der anerkennenden Interaktionsformen sind beinahe durchgängig tendenziell unterdurchschnittlich präsent, wobei nur die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern das Signifikanzniveau erreicht. Die positive Rückmeldung ist dabei, wie bei allen anderen Clustern, die Interaktionsform mit dem höchsten Wert (vgl. Tabelle 9). Eine Ausnahme bildet die Variable konstruktive Konsequenz, die in Cluster 7 mit einem Wert von 10,4 tendenziell oberhalb des Mittelwertes von 8,6 Prozent liegt. Im Hinblick auf die verletzenden Interaktionsformen fallen vor allem zwei Variablen ins Auge, die bemerkenswert hohe Werte aufweisen (vgl. Abbildung 11). Die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern mit einem Wert von 21,5 (statt 2,1) Prozent und passives Verhalten mit einem Wert von 11 (statt 3,7) Prozent übersteigen den Mittelwert der Gesamtstichprobe um ein Vielfaches und heben sich damit deutlich von den anderen Clustern ab. Die erstgenannte Variable besteht aus drei ursprünglichen „INTAKT“-Variablen (vgl. Tabelle 6). Während die ursprüngliche Variable Kooperation verhindern mit 0,8 und Missachtung durch MitschülerInnen tolerieren, initiieren mit 3,4 verhältnismäßig gering ausfallen, beträgt der Wert der ursprünglichen Variable notwendige Grenzen nicht setzen 17,3 Prozent und macht somit den größten Anteil der Variable aus. Es ist jedoch zu beachten, dass bereits der Wert von 3,4 Prozent der zweitgenannten ursprünglichen Variable über dem Stichprobendurchschnitt der zusammengefassten Variable liegt und somit bemerkenswert ist. Die Dominanz der letzten ursprünglichen Variable deutet weiterhin darauf hin, dass die Lehrkräfte dieses Clusters allgemein weniger in das Unterrichtsgeschehen eingreifen. Diese Vermutung wird bestätigt, untersucht man die zweite Variable passives Verhalten, die aus zwei ursprünglichen „INTAKT“-Variablen besteht, wobei eine wiederum deutlich dominiert. Die Variable Ignorieren, nicht beachten ist mit einem Wert von 9,7 Prozent zu verzeichnen, während Hilfsverweigerung mit einem Wert von 1,4 Prozent eher marginal erscheint. Addiert man notwendige Grenzen nicht setzen mit 17,3 und Missachtung durch MitschülerInnen tolerieren, initiieren mit 3,4 sowie passives Verhalten mit 11 Prozent kommt man zu dem Ergebnis, dass die Lehrkräfte des siebten Clusters zu 31,7 Prozent ein Laissez-faire-Verhalten zeigen, also in fast jeder dritten Interaktion. Alle anderen verletzenden Interaktionsformen fallen deutlich geringer aus. Lediglich die destruktive Rückmeldung weist einen Betrag von 5,9 Prozent auf, weicht jedoch nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe ab, während alle weiteren Interaktionsformen mit Werten unter vier Prozent marginal erscheinen.

184

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Sieht man sich die Mittelwerte der ambivalenten Interaktionsformen an, wird deutlich, dass die Variablen ambivalente Konsequenz und ambivalente Rückmeldung unter- und die Variable ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme tendenziell überdurchschnittlich präsent sind, wobei Letztere nicht signifikant vom Mittelwert der Gesamtstichprobe abweicht (vgl. Tabelle 24). Alle Abweichungen liegen jedoch stets unter zwei Prozent und sind damit von geringer Bedeutung für das Cluster. Beispielszene des siebten Clusters (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) Die in Tabelle 25 dargestellte Beispielsszene soll das siebte Handlungsmuster veranschaulichen. Tabelle 25: Feldvignette, Lehrerin 170, Szene 569, Englischunterricht, Klasse 2, staatliche Grundschule aus Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status.

Beschreibung der Szene

Interpretation

Introspektion A1

Frau Schwarz beginnt, Fragen zu einer an der Tafel angebrachten Bildergeschichte zu stellen. Der Großteil der Klasse ist dabei unaufmerksam und unruhig. Lara und Daria beispielsweise ärgern den vor ihnen sitzenden Jonas, indem sie ihn mit einem Stift in den Rücken piken, wodurch sich der Junge gestört fühlt und sich bei den beiden beschwert.

Die Klasse 2b scheint wie ausgewechselt. Nur einige wenige beteiligen sich am Unterrichtsgespräch, die meisten beschäftigen sich anderweitig, wie zum Beispiel Lara und Daria. Dass Frau Schwarz nicht eingreift und eine entsprechende Arbeitsatmosphäre einfordert, ist kaum nachvollziehbar und absolut kontraproduktiv. Von Unterricht kann keine Rede sein.

Ich kann nicht -1 glauben, was hier los ist. Ist das die Klasse 2b?

Frau Schwarz scheint mit der Unterrichtssituation überfordert zu sein. Obwohl der Großteil der Klasse nicht arbeitet, ergreift sie keine Maßnahmen, um eine konstruktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Selbst als Kinder sich gegenseitig ärgern, greift sie nicht ein. Somit verhält sie sich im doppelten Sinn verletzend. Die Aussage der Protokollantin, sie erkenne die Klasse nicht wieder, macht klar, dass sich die Klasse

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

185

zuvor bei einer anderen Lehrkraft disziplinierter verhalten hat. Es handelt sich demnach vermutlich nicht um eine besonders herausfordernde Klasse. Das verletzende Verhalten der Schülerinnen gegen ihren Mitschüler ignoriert die Lehrerin. Aus der vermuteten Perspektive des Schülers Jonas stellt sich die Situation so dar, dass er von seinen Mitschülerinnen unangebracht behandelt wird und er von der Lehrerin keine Hilfe erwarten kann. Er ist auf sich allein gestellt und muss das Problem in der direkten Konfrontation mit den Mädchen klären oder es ignorieren. Die üblichen Umgangsregeln gelten in dieser konkreten Unterrichtsstunde nicht mehr. Das bemerken auch die anderen Kinder. Sie ärgern ihre MitschülerInnen zu ärgern oder befassen sich mit etwas anderem als dem Unterricht. Für die wenigen Kinder, die dem Unterricht noch folgen, kann die Situation frustrierend sein. Aufgrund der hohen Lautstärke ist ein konstruktives Arbeiten nicht möglich. Vermutlich fühlen sie sich durch ihre MitschülerInnen gestört und wünschen sich von der Lehrerin mehr Konsequenzen. Die Feldvignette stellt ein Beispiel für eine als leicht verletzend eingestufte Interaktion statt und wurde mit der verletzenden Interaktionsform Missachtung durch MitschülerInnen tolerieren / initiieren codiert. Beschreibung der Lehrkräfte des siebten Clusters (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) Das Cluster 7 besteht aus elf Lehrerinnen48 mit insgesamt 366 Szenen, womit es das einzige geschlechtseinheitliche Cluster ist. Zugleich ist es eines der beiden kleinsten Cluster. Acht Lehrkräfte (72,7 Prozent) arbeiten an einer Grundschule und drei (27,3 Prozent) an einem Gymnasium, womit der Mittelwert der Gesamtstichprobe vom Anteil an Grundschullehrerinnen über- und von der Anzahl an Gymnasiallehrerinnen unterschritten wird. Zwei (18,2 Prozent) der Lehrkräfte wurden an Privat- und die restlichen an staatlichen Schulen erfasst, womit das Cluster etwa im Durchschnitt liegt. Eine Schule (9,1 Prozent) weist ein Montessori-Profil auf, womit Schulen mit besonderen pädagogischen Profilen allgemein, aber auch Montessori-Schulen speziell tendenziell unterrepräsentiert sind. In Hinblick auf das Einzugsgebiet ist festzustellen, dass sieben (63,6 Prozent) in einem Gebiet mit heterogenem und vier (36,4 Prozent) in einem Gebiet mit bildungsstarkem bzw. hohem sozioökonomischem Status beobachtet wurden, womit das heterogene Einzugsgebiet beinahe doppelt so stark präsent ist wie im Stichprobendurchschnitt und das Verhältnis von Schulen in Gebieten mit bildungsstar48

Folgende Lehrerinnen sind dem Cluster 7 zugeordnet: 33, 95, 158, 170, 172, 175, 207, 210, 223, 237 und 241 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

186

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

kem bzw. hohem sozioökonomischem Status leicht erhöht ist. Bemerkenswert ist, dass dieses Cluster als einziges keine Lehrkraft aus Schulen in Gebieten mit niedrigem sozioökonomischem Status aufweist. Die Kontinuität des Lehrerinnenhandelns (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) Nur die zwei Lehrerinnen 172 und 223 wurden in diesem Cluster an mehreren Tagen beobachtet. Lehrerin 172 wurde an einer privaten Grundschule in einer ersten Klasse im Mathematikunterricht beobachtet und bei Lehrerin 223 wurde in einer jahrgangsübergreifenden, einer ersten und einer zweiten Klasse in den Fächern Mathe, Deutsch und Sport an einer staatlichen Grundschule mit Montessoriprofil hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Beide weisen eine relativ hohe Anzahl an diskontinuierlichen Variablen auf. Lehrerin 172 wurde an drei Tagen beobachtet (vgl. Tabelle A - 2 im Anhang). Bei den Variablen leicht anerkennendes (9,1 und 24,3 Prozent), neutrales (21,6 und 34,4 Prozent), leicht verletzendes (63,6 und 27 Prozent) als auch beim ambivalenten Verhalten (0,0 und 16,2 Prozent) ist eine Differenz von mindestens zehn Prozent zu verzeichnen (vgl. Kapitel 7.3.1). Bei den Interaktionsformen setzt sich ihr diskontinuierliches Verhalten fort. Konstruktive Anleitungen (0,0 und 15 Prozent) und positive Rückmeldungen (0,0 und 14,3 Prozent) als auch destruktive Hilfeanleitungen (0,0 und zehn Prozent), passives Verhalten (0,0 und 33,3 Prozent) und destruktive Rückmeldungen (0,0 und 11,1 Prozent) sind als diskontinuierlich einzuordnen. Somit weist Lehrerin 172 insgesamt zehn diskontinuierliche Variablen auf. Lehrerin 223 weist acht diskontinuierliche Variablen auf. Dazu gehören leicht anerkennendes (10,5 und 0,0 Prozent) und leicht verletzendes (26,3 und 54,5 Prozent) sowie neutrales Lehrerhandeln (42,1 und 27,3 Prozent). Darüber hinaus sind alle vier gezeigten verletzenden Interaktionsformen diskontinuierlich: destruktive Hilfeanleitung (25 und 11, Prozent), destruktive Konsequenz (0,0 und 11,1 Prozent), anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern (37,5 und 22,2 Prozent) und destruktive Rückmeldung (12,5 statt 55,6 Prozent). Zusammenfassung des siebten Clusters (Die Laissez-faire-Lehrerinnen) Beim 11 Lehrerinnen umfassenden siebten Cluster handelt es sich in Hinblick auf die Homogenität der Variablen um ein sehr homogenes Cluster, was sich am Fehlen von bezüglich des Variationskoeffizienten heterogenen Variablen zeigt. Das Handlungsmuster wird durch den Laissez-faire-Stil beschrieben, der durchschnitt-

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

187

lich in fast jeder dritten Interaktion zu finden ist und sich auch in einer hohen Anzahl leicht verletzender Interaktionen zeigt. Die Lehrpersonen dieses Clusters sind ausschließlich weiblich und vor allem in Gebieten mit heterogenem sozioökonomischem Status und an Grundschulen zu finden. An Schulen mit besonderem Schulprofil sowie in Gebieten mit niedrigem sozioökonomischem Status kommen sie hingegen selten bzw. gar nicht vor. In Hinblick auf die Kontinuität des Handelns wurden beide untersuchten Lehrerinnen als diskontinuierlich eingeordnet. 7.3.9

Die drei Lehrkräfte, die keinem Cluster zugeordnet werden konnten

Bei den Lehrpersonen, die innerhalb der Clusteranalyse keinem Cluster zugeordnet wurden, handelt es sich um drei Lehrerinnen,49 die mit insgesamt 49 Szenen beschrieben sind (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Lehrerin 2950 zeigt eine außergewöhnliche Verteilung bezüglich der Anerkennungsgrade. Zu einem extrem hohen Anteil verletzt sie in den Interaktionen die SchülerInnen. 40 Prozent ihrer Interaktionen wurden als sehr und 48 Prozent als leicht verletzend eingestuft. Insgesamt sind also 88 Prozent ihres Verhaltens verletzend. Diesem hohen Anteil steht ein kleiner Prozentsatz von vier Prozent leicht anerkennendem Verhalten gegenüber. Sehr anerkennend oder neutral agiert sie gar nicht. Die verbleibenden acht Prozent wurden als ambivalent eingestuft. In Hinblick auf die Anerkennungsgrade ist das beobachtete Verhalten der Lehrerin am ehesten dem zweiten Cluster (die sehr Verletzenden) zuzuordnen. Das ambivalente Verhalten beschränkt sich auf ambivalente Rückmeldungen und die wenigen anerkennenden Interaktionsformen auf konstruktive Anleitungen. Mit knapp 36,1 Prozent macht die Variable anerkennendes Verhalten der Lernenden verhindern bzw. verletzendes Verhalten fördern den Großteil ihrer Interaktionen aus, gefolgt von destruktiven Konsequenzen mit 22,2 sowie passivem Verhalten mit 19,4 Prozent. In Hinblick auf ihre Interaktionsformen könnte diese Lehrerin daher am ehesten Cluster 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen) zugeordnet werden. Lehrerin 8851 zeigt mit 25 Prozent sehr anerkennendem Verhalten Ähnlichkeiten mit Cluster 5 (die fordernd Anerkennenden). Allerdings ist mit 41,7 Prozent 49

50

51

Folgende Lehrerinnen sind den Ausreißern zugeordnet: 29, 88 und 102 (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Lehrerin 29 wurde an einer staatlichen Grundschule in einem Einzugsgebiet mit hohem bzw. bildungsnahem sozioökonomischem Status im Fach Englisch in einer zweiten Klasse beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang). Bei Lehrerin 88 wurde im Fach LER an einem staatlichen Gymnasium in einem Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status in der Sekundarstufe I hospitiert (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

188

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

vor allem der Anteil ambivalenten Verhaltens besonders auffällig. Obgleich Cluster 6 (die Ambivalenten) einen geringeren Anteil von etwa 13,1 Prozent ambivalenten Verhaltens aufweist, ist es das Cluster mit dem höchsten ambivalenten Anerkennungsgrad, womit Lehrerin 88 auch diesem zugeordnet werden könnte (vgl. Tabelle 9). Der Wert leicht anerkennenden und neutralen Verhaltens liegt bei je 8,3, das leicht verletzende Verhalten bei 16,7 Prozent. Sehr verletzendes Verhalten wurde nicht beobachtet. Die ambivalenten Interaktionsformen teilen sich in je 16,7 Prozent ambivalente Konsequenzen und ambivalente Hilfe/Rücksichtnahme auf. Zum gleichen Prozentsatz sind Empathie sowie positive Rückmeldungen bei den anerkennenden Interaktionsformen zu verzeichnen. Die verletzenden Interaktionsformen bestehen zu je gleichen Teilen aus destruktiver Hilfe, passivem Verhalten sowie destruktiven Rückmeldungen. Mit einem sehr hohen Anteil sehr anerkennenden Verhaltens von 41,7 Prozent sowie 16,7 Prozent leicht anerkennenden Verhaltens könnte man Lehrerin 10252 dem fünften Cluster (die fordernd Anerkennenden) zuordnen. Die sehr niedrigen Werte verletzenden Verhaltens von insgesamt nur 8,3 Prozent verstärken diese Zuordnung. Mit je 16,7 Prozent ist das neutrale Verhalten sehr gering und das ambivalente sehr hoch ausgeprägt. Letzteres beschränkt sich bei den Interaktionsformen ausschließlich auf ambivalente Konsequenzen. Das anerkennende Verhalten wird mit 33,3 Prozent positive Rückmeldungen und 25 Prozent anerkennendes Verhalten der Lernenden motivieren, einfordern charakterisiert. Konstruktive Konsequenzen und konstruktive Anleitungen kommen zu je 8,3 Prozent vor. Somit handelt Lehrerin 102 in Hinblick auf die Interaktionsformen ähnlich wie Cluster 4 (die Anerkennenden), 5 (die fordernd Anerkennenden) oder 6 (die Ambivalenten) (vgl. Tabelle 9). 7.3.10

Zusammenfassung der Ergebnisse

Insgesamt ist zu sagen, dass die sieben gefundenen Cluster (vgl. Tabelle 9, Abbildung 14) bedeutsame Handlungsmuster von Lehrkräften darstellen. Das Spektrum reicht von sehr anerkennenden Mustern, wie Cluster 4 (die Anerkennenden) und 5 (die fordernd Anerkennenden), bis hin zu sehr verletzenden Mustern, wie Cluster 1 (die Verletzenden) und 2 (die sehr Verletzenden). Darüber hinaus finden sich 52

Lehrerin 102 wurde in einer ersten Klasse im Fach Französisch an einer staatlichen Grundschule mit einem Einzugsgebiet mit heterogenem sozioökonomischem Status beobachtet (vgl. Tabelle A - 1 im Anhang).

189

7.3 Analyse der einzelnen Cluster

Cluster, die besonders durch ausgewählte Interaktionsformen beschrieben werden. Dazu zählen Cluster 6 (die Ambivalenten), das ambivalente Lehrkräfte beschreibt, und Cluster 7 (die Laissez-faire-Lehrerinnen), das durch einen Laissez-faire-Stil charakterisiert ist. Ein durchschnittliches Handlungsmuster wird am ehesten durch Cluster 3 (die Netten) beschrieben, das mit 87 Lehrkräften auch den größten Teil der Stichprobe umfasst. Mit 45 Lehrpersonen umfasst das sechste Handlungsmuster die zweitgrößte Anzahl an Lehrpersonen, wie man in Abbildung 14 erkennt. Die Cluster 1, 2 und 4 liegen in Hinblick auf die Anzahl der ihnen zugeordneten Lehrpersonen, die zwischen 26 und 30 Personen liegt, im Vergleich zu den anderen Clustern etwa im mittleren Bereich. Die Schlusslichter bilden Cluster 5 und 7 mit je 11 Lehrpersonen. 3 der 242 Lehrkräfte wurden vor der Clusteranalyse als sogenannte „Ausreißer“ identifiziert und daher keinem Handlungsmuster zugeordnet (vgl. Kapitel 6.3.3 und 7.3.9).

Verteilung der untersuchten 242 Lehrpersonen 11

3

1: Die Verletzenden

30

2: Die sehr Verletzenden

29

45

3: Die Netten 4: Die Anerkennenden

11

5: Die fordernd Anerkennenden

26

6: Die Ambivalenten

87

7: Die Laissez-faire-Lehrerinnen "Ausreißer"

Abbildung 14: Verteilung der 242 Lehrpersonen auf Cluster bzw. "Ausreißer".

In Hinblick auf die ersten beiden Forschungsfragen ist daher festzustellen, dass Handlungsmuster auf Grundlage der Beobachtungen von LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen identifizierbar waren (Forschungsfrage 1) und diese sich dar-

190

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

über hinaus hinsichtlich der Anerkennungsqualität und der Häufigkeit des Auftretens unterscheiden (Forschungsfrage 2). Eine ausführliche Auswertung der Forschungsfragen erfolgt in Kapitel 8.1.

7.4

7.4.1

Signifikante Zusammenhänge zwischen Handlungsmustern und ausgewählten Parametern Zusammenhänge zwischen den Hintergrundvariablen53

Wie Kapitel 7.3 zeigt, ist die Identifizierung einer stabilen Clusterlösung möglich. Dabei zeichnen sich die Cluster zum einen durch ihre besonderen interaktiven Handlungsmuster und zum anderen durch ihre Zusammensetzung von Lehrpersonen aus, welche sich in Hinblick auf die Hintergrundvariablen Geschlecht, Schulform und -profil sowie sozioökonomischen Status des Einzugsgebiets unterscheiden. Um die dritte Forschungsfrage nach den Zusammenhängen einzelner Hintergrundmerkmale und den Handlungsmustern der LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen beantworten zu können, müssen zunächst die innerhalb der Stichprobe auftretenden Zusammenhänge der Hintergrundvariablen untereinander untersucht werden, um Konfundierungen aufzudecken und diese in der Interpretation berücksichtigen zu können. Um den Zusammenhang zweier nominal skalierter Variablen zu ermitteln, wird das Zusammenhangsmaß Cramer‘s V verwendet. Die Stärke des Zusammenhangs wird dabei mithilfe eines Werts zwischen 0,0 und 1,0 angegeben, wobei der Zusammenhang umso stärker ist, je höher sich der Wert bemisst (Brosius, 2013, S. 432f.). Das bedeutet, dass der Wert 0,0 annimmt, sollte keine Assoziation vorliegen bzw. 1,0, wenn es sich um eine vollständige Abhängigkeit handelt (Backhaus et al., 2006, S. 245). Zu bemerken ist jedoch, dass ein Wert nahe 1,0 nur sehr selten erreicht wird (Brosius, 2013, S. 434). Cramer’s V-Werte werden üblicherweise wie folgt interpretiert: ▪ Cramer’s V bis 0,1: kein Zusammenhang, ▪ Cramer’s V bis 0,3: schwacher Zusammenhang, ▪ Cramer’s V bis 0,6: mittlerer Zusammenhang und ▪ Cramer’s V bis 1,0: starker Zusammenhang (Cleff, 2011, S. 92).

53

An dieser Stelle soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass der zugrundeliegende Datensatz zwar umfangreich ist, jedoch nicht systematisch gezogen wurde. Alle Ergebnisse sind daher ausdrücklich nicht repräsentativ (vgl. Kapitel 6.1 und 8.2).

7.4 Signifikante Zusammenhänge zwischen Handlungsmustern und ausgewählten Parametern

Tabelle 26: Überblick über Zusammenhänge zwischen den Hintergrundvariablen.

191

192

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Um signifikante Ergebnisse zu erhalten, kommt darüber hinaus die statistische Signifikanz zum Tragen, wobei das Signifikanzniveau auf fünf Prozent bzw. p < .05 festgelegt wird (Brosius, 2013, S. 493). Zusammenhänge zwischen den Hintergrundvariablen werden im Folgenden daher berücksichtigt, wenn ein Signifikanzniveau mit p < .05 und ein mindestens schwacher Zusammenhang bezüglich der Cramer’s V-Variable vorliegt. Anhand von Kreuztabellen kann festgestellt werden, ob die in einem Cluster gefundene Häufigkeit einer bestimmten Hintergrundvariable signifikant von der erwarteten Häufigkeit abweicht. Tabelle 26 zeigt spaltenweise jeweils links die Cramer’s V-Variable und rechts das Signifikanzniveau. Werte mit entsprechendem Zusammenhang oder Signifikanzniveau wurden dabei durch einen stärkeren Druck hervorgehoben. Der erste Zusammenhang wird zwischen der Schulform und dem Geschlecht der Lehrkraft deutlich, wobei Cramer’s V mit einem Wert von 0,343 einen mittleren Zusammenhang anzeigt. Das Signifikanzniveau liegt bei p = .00, womit das Ergebnis als hoch signifikant einzuordnen ist. In der folgenden Tabelle 27 sieht man die erwarteten und realen Verteilungen im Vergleich. Dabei wird deutlich, dass die Anzahl von Lehrerinnen in Grundschulen über- und an Gymnasien unterrepräsentiert ist. Umgekehrt verhält es sich bei der Verteilung der Lehrer. Das Verhältnis an Schulen der Sekundarstufe I weicht nur unwesentlich von den erwarteten Werten ab.

7.4 Signifikante Zusammenhänge zwischen Handlungsmustern und ausgewählten Parametern

193

Tabelle 27: Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen den Variablen Schulform und Geschlecht der Lehrperson.

Kreuztabelle: Schulform und Geschlecht der Lehrperson Geschlecht

Gesamt

weiblich männlich Schul- Grundschule form

Anzahl

161

20

181

151,5

29,5

181,0

Gymnasium

Anzahl

23

18

41

34,3

6,7

41,0

7

0

7

5,9

1,1

7,0

9

1

10

Erwartete Anzahl

8,4

1,6

10,0

Anzahl

200

39

239

Erwartete Anzahl

Erwartete Anzahl Schule der Sek. I Anzahl Erwartete Anzahl Gesamtschule

Gesamt

Anzahl

In Hinblick auf das Geschlecht der Lehrkraft werden keine weiteren signifikanten Zusammenhänge deutlich. Ein signifikanter Zusammenhang, der mit einem Cramer’s V-Wert von 0,172 als schwach einzuordnen ist, ergibt sich bezüglich der Schulform und des Einzugsgebiets (vgl. Tabelle 26). Die folgende Tabelle 28 zeigt, wo sich Diskrepanzen zwischen der erwarteten und realen Anzahl zeigen. Obwohl die erwartete und die reale Anzahl meistens sehr nah beieinander liegen, gibt es Ausnahmen. Grundschulen sind in der Stichprobe in Einzugsgebieten mit heterogenem sozioökonomischem Status unter- und in Einzugsgebieten mit niedrigem sozioökonomischem Status überrepräsentiert. Andersherum verhält es sich mit den Gymnasien. Darüber hinaus sind Gesamtschulen in Einzugsgebieten mit heterogenem sozioökonomischem Status leicht überrepräsentiert.

194

7 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse

Tabelle 28: Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen den Variablen Schulform und Einzugsgebiet.

Kreuztabelle: Schulform und Einzugsgebiet

heterogen

niedrig

58

71

45

174

58,6

79,5

36,0

174,0

16

25

0

41

13,8

18,7

8,5

41,0

3

2

2

7

2,4

3,2

1,4

7,0

1

8

1

10

Erwartete Anzahl

3,4

4,6

2,1

10,0

Anzahl

78

106

48

232

Schul- Grundschule form

Anzahl

Gymnasium

Anzahl

Erwartete Anzahl Erwartete Anzahl

Schule der Sek. I Anzahl Erwartete Anzahl Gesamtschule Gesamt

Gesamt

bildungsnah bzw. hoch

Sozioökonomischer Status im Einzugsgebiet

Anzahl

Ein nächster Zusammenhang kann zwischen Privatschulen und Schulen mit besonderen Schulprofilen festgestellt werden, wobei das Signifikanzniveau mit p = .00 hoch ist und der Zusammenhang mit 0,304 knapp über einem schwachen bei einem mittleren Zusammenhang liegt (vgl. Tabelle 26). Die Tabelle 29 zeigt, dass Schulen mit besonderem Schulprofil häufig gleichzeitig Privatschulen sind und vice versa.

7.4 Signifikante Zusammenhänge zwischen Handlungsmustern und ausgewählten Parametern

195

Tabelle 29: Erwartete und reale Häufigkeiten zwischen privaten bzw. staatlichen Schulen und Schulen mit einem besonderen Schulprofil.

Kreuztabelle: Private bzw. staatliche Schulen und Schulen mit besonderem Schulprofil Schulen mit beson- Gesamt derem Schulprofil ohne Profil Private bzw. staatliche Schulen

staatlich Anzahl

165

26

191

153,4

37,6

191,0

27

21

48

Erwartete Anzahl

38,6

9,4

48,0

Anzahl

192

47

239

Erwartete Anzahl privat

Gesamt

mit Profil

Anzahl

Bezüglich der staatlichen bzw. privaten Schulen ist darüber hinaus ein Zusammenhang mit den Einzugsgebieten zu erkennen, wobei es sich um ein hoch signifikantes Ergebnis mit p